Unforgivable Sinner von xRajani (Remake) ================================================================================ Kapitel 3: Falsches Herz, treues Herz ------------------------------------- Als Haruka die Lider über ihren blauen Augen aufschlug, stieg grauer, nebelartiger Dunst in die Lüfte, der sich, wie von Geisterhand geführt, wabernd vorwärts bewegte. Einige Herzschläge lang starrte das Mädchen in die Dunkelheit und nahm bloß die Kälte wahr, die wie tausend Nadeln in ihre Haut schnitt. Es war die Furcht, die Haruka wie einen Dorn in ihrem Herzen spürte, als sie zaghaft ihren Blick schweifen ließ, aber der dichte Nebel hielt sie in seinen kalten Krallen gefangen. Haruka fühlte sich blind, so als hätte man ihr das Augenlicht genommen. Dem Nebel zum Trotz machte sie einen vorsichtigen Schritt vorwärts, verzog jedoch das Gesicht, als sie spürte, dass der knirschende Kies unter ihren nackten Füßen in die Haut schnitt. Trotzdem setzte sie ihren Weg fort und ignorierte den Schmerz. Etwas trieb sie unablässig voran, erlaubte ihr, nicht inne zu halten. Jäh lichtete sich der Nebel, und Haruka erschrak, als sie merkte, dass der Boden unter ihren Füßen nachließ und bröckelte. Entsetzt sah sie in die Tiefe eines gähnenden Abgrundes und erahnte in der schäumenden Gischt eines schwarzen Meeres schroffe Felsklippen, die wie Reißzähne wirkten und darauf warteten sie aufzuschlitzen. Ihr Herz schlug panisch gegen ihren Brustkorb, so als wollte es sie zerreißen. Vor Schreck stolperte Haruka zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den sandigen Schotter. Mit geweiteten Augen starrte sie auf das Meer hinaus, welches von tiefer Finsternis erfüllt war. Scharfe Steinsplitter bohrten sich in ihre Haut, aber der aufflammende Schmerz erschien auf einmal so bedeutungslos. Auf einmal ertönte aus den Untiefen des Meeres ein seltsamer Laut, der zu einem rauen Grollen heran schwoll und die Erde erzittern ließ. Im schwarzen Gewässer bildete sich jäh ein dahinschnellender Schemen, welcher mit dem Kopf die Oberfläche durchbrach und in die Höhe stieß. Gischt umhüllte den silbern glänzenden Leib des Wesens, das seinen langen Hals krümmte und Haruka aus tief schwarzen Augen anstarrte, die vor Angst gelähmt den Atem anhielt. Panik kroch durch ihre Gliedmaßen, als die Kreatur den schweren Kopf senkte. Es öffnete den Fang, während sich die Stacheln, die sich entlang seiner Wirbelsäule zogen, aufstellten, entblößte scharfe Reißzähne und stimmte ein lang gezogenes Brüllen an. Und Haruka schrie. Sie kniff die Augen zusammen und schützte ihren Kopf mit den Armen. Unversehens durchflutete grelles, warmes Licht die Trostlosigkeit und blendete das Mädchen so sehr, dass ihr die Helligkeit selbst mit geschlossenen Augen noch Schmerzen zufügte. Gleichsam zerbarst etwas in ihrem Inneren, als sich das Geschöpf zum Himmel empor reckte. Aus seinem geöffneten Maul ertönte ein Wehklagen, das sich mit Harukas gellendem Laut vereinte. Ihr Leib zuckte krampfhaft, als eine unerwartet heftige Pein sie ergriff. Kraftlos sank sie in sich zusammen. Ein weiterer Schrei versuchte aus Harukas Kehle zu entkommen, doch kein Ton entwich ihr. War es ein Traum? Nein, es konnte kein Traum sein. Er lähmte ihren Geist, vergiftete ihn und brachte sie beinahe um den Verstand. Er war gewiss die Realität! So rasch wie die Pein gekommen war verließ der grausame Schmerz das Mädchen. Noch immer kniete sie am Boden. Ihre Glieder fühlten sich schwer und gleichsam taub an. Ihr Körper zitterte und Haruka hoffte, nein betete, aus diesem wahr gewordenen Albtraum aufzuwachen. Geschwächt hob sie ihren Kopf. Das helle Licht, welches sie zuvor geblendet hatte, war verschwunden. Auch das tiefe Brüllen der Kreatur war verstummt. Doch sie glaubte noch immer, dass die durchdringenden Augen jenes Wesens auf ihr ruhten, so als erforschte ihr Blick die tiefgründigsten Ebenen ihrer Seele. All ihre Geheimnisse, tief gehegten Wünsche und Gefühle… Sie fühlte sich plötzlich seltsam enttarnt. Verraten! Als sich der Nebel um ihren Geist legte, klärte sich auch ihr Blick. Stille umgab das Mädchen, so als wäre jegliches Geräusch aus ihrem Leben geschieden, wie das Licht, welches Menschen am Leben hielt. Blind tastete Haruka sich vorwärts und fühlte unter ihren Fingerspitzen kaltes Gestein. Sie raffte sich kraftlos auf ihre schwankenden Füße, stolperte zur schroffen Felswand, die ihrem unsicheren Stand das Wissen von Halt gab. Eng an das Gestein geschmiegt bewegte sich Haruka langsam vorwärts, doch immer wieder musste das Mädchen Halt machen und zu Atem kommen. Obwohl sich ihr entkräfteter Körper nach Ruhe sehnte, drängte ein fremdartiges Gefühl Haruka weiter fortzuschreiten und keine Pause zu machen. Es war, als ob ein Instinkt das Mädchen hetzte. Und wie durch ein Wunder wurde der schier endlose Tunnel unerwartet von Licht durchflutet, liebkoste Harukas geschundenen Leib und gab ihren Beinen die Kraft aufrecht zu stehen. Sie senkte die Lider, schützte ihr Gesicht mit der Hand, sodass das tiefe Blau ihrer Augen abgeschirmt wurde. Kaum hatte sich Haruka ins Licht begeben, gewöhnten sich ihre Augen rascher als gewöhnlich an die neue Helligkeit. Haruka hob ihren Blick, ließ ihn über die Felswände empor schweifen und sah, dass sich Tageslicht wie fließendes Gold durch zahlreiche Spalten in die Höhlen ergoss und die Wände funkeln ließ. Sie fand diesen Anblick atemberaubend, doch gleichzeitig kam eine Erkenntnis, welche erneut die Panik in ihr weckte: Wo war sie? Viel hatte sie bereits gesehen, aber diesen Ort, diese Höhlen, kannte sie nicht, waren ihr fremd. Plötzlich fuhr Haruka herum, als ein tiefes Grollen, schmerzverzerrt und voller Qual, ertönte. Und da wurde ihr bewusst, dass das golden schimmernde Licht, das die Felsen herab floss, sich auf einen Punkt fixierte. Haruka, die erneut die Helligkeit mit vorgehaltener Hand abschirmte, trat zögernd an das silberne Wesen heran, das die Augen flehend zum Himmel empor gerichtet hatte. Unter schweren Atemzügen hob und senkte sich sein Leib. Gleichsam zuckten die dunklen Stacheln, die sich an der Wirbelsäule entlang zogen, endeten jedoch, als der Körper in einen langen Schwanz überging, an dem an seiner Spitze zwei seitliche Dornen sprossen. Tiefe Furchen hatten sie bereits in den Erdboden geschlagen, nachdem das Geschöpf sich unter schrecklicher Pein gewunden hatte. Sie konnte dem Drang nicht widerstehen - war es Neugierde? - der sie zu jener Stelle trieb, bis sie unter ihren nackten Füßen etwas Feuchtes, Dickflüssiges fühlte. Voller Abscheu schreckte Haruka zurück, als sie realisierte, was diese Flüssigkeit war. Sie fühlte sich warm, klebrig und zäh an. Und sie fand eine Assoziation für diese Flüssigkeit in ihren Gedanken: Blut! Über den Steinboden ergoss sich ein Meer aus Blut, das im Licht wie ein strahlender Rubin glitzerte und sich unter dem bizarr verrenkten Körper der Gestalt rasch ausbreitete. Ihr Kopf schnellte in die Höhe und sie blickte das Geschöpf an. Das letzte Lebenslicht war aus ihm gewichen, wanderte zu den göttlichen Eltern empor. „Wer bist du?“, riss unerwartet eine weibliche Stimme Haruka ins Hier und Jetzt zurück. Sie klang brüchig vor Schmerz und Kummer, als hätte man die Trauernde in ihrer Ruhe gestört. Saphirblaue Augen starrten Haruka vorwurfsvoll und anklagend an, während ihr das braune Haar, bewegt von einem sanften Luftzug, ins Gesicht fiel. Ein Ebenbild ihrer selbst! Und sie schrie. Aufgebracht rannte Haruka durch die Straßen Olivanias. Zur Mittagsstunde, als sich die Sonne dem Zenit näherte, hatte sie das Pokémon Center verlassen. Nachdem die Trainerin ihre Habeseligkeiten zusammengeklaubt und sich vergewissert hatte, dass nichts in ihrer einstigen Unterkunft zurückbliebe, rannte die Koordinatorin nun in überstürzter Hast die Hauptstraße der Hafenstadt entlang, ließ das Gebäude des Pokémon Centers und der nah gelegenen Wettbewerbshalle hinter sich zurück. Rege Betriebsamkeit herrschte auf den Straßen Olivanias. Meist waren es Mütter mit ihren Kindern, die auf den Weg zum Marktplatz waren, der sich in der Nähe des Hafens befand. Haruka hörte bereits aus der Ferne das Dröhnen eines Schiffes, das kurz vor dem Ablegen war. „Verdammt!“, murmelte das Mädchen, als es das Geräusch wahrgenommen hatte, und beschleunigte ihren Lauf, obwohl die müden Beine protestierend rebellierten. Dennoch untersagte Haruka das Bedürfnis sich an eine Straßenlaterne zu lehnen, um zu Atem zu kommen. Sie fluchte, als die Straßen, je näher sie dem Küstenstreifen kam, immer schmaler wurden und sich rascher mit Menschen füllte. Unsanft drängelte sich Haruka durch die Massen, ignorierte die Beschimpfungen und kam nur mühsam voran, mit dem Blick auf den Schornstein eines Schiffes gerichtet. Der Hafen war nicht mehr weit. Nur noch ein Stückchen… „Heh! Kannst du nicht aufpassen?“, pöbelte ein junger Mann sie an, als Haruka gegen seine Brust gelaufen war. Durch den Stoß prallte sie ab und kam hart auf dem Steinboden auf. Benommen sah sie zu dem Fremden empor, der sie wütend anstarrte und keine Anstalten machte, ihr aufzuhelfen. Mit gesenktem Kopf rappelte sich Haruka wieder auf die schmerzenden Beine und stammelte eine leise Entschuldigung. Sie spürte plötzlich die Blicke der Passanten auf sich ruhen, fühlte, wie ein unangenehmes Prickeln über ihren Rücken rann. Gewiss würden die Menschen sie als das Mädchen erkennen, dem das Privileg, am großen Festival teilzunehmen, verwehrt blieb, nachdem es am gestrigen Tag eine herbe Niederlage gegen den besten Freund eingesteckt hatte. Nun beugte sich der dunkelhaarige Mann zu ihr herab, starrte ihr in das Gesicht und verzog mürrisch seine Mundwinkel. „Wie bitte? Ich kann dich nicht hören! Was sagt man noch?“ Haruka glaubte im Erdboden versinken zu müssen. In diesem Moment hegte sie nur einen Wunsch: Den Blicken der Menschen entfliehen. Das Einzige, was man ihr nicht anmerken durfte, war ihre Verlegenheit. Daher reckte sie ihr Kinn vor und begegnete dem Blick des Mannes herausfordernd. „Entschuldigen Sie, Sir, dass ist mir furchtbar unangenehm“, sagte die Koordinatorin, dieses Mal mit lauter und selbstbewusst klingender Stimme. Zur Antwort erntete Haruka nur ein entrüstetes Schnauben, aber ehe sich der Fremde doch zu einer Erwiderung entschloss, fügte das Mädchen rasch hinzu: „Tut mir Leid, ich muss weiter - tschüss!“ Haruka vollführte einen schnellen Sternschritt, wich den entgegen kommenden Personen aus und rannte die Promenade hinab, ohne den Protestrufen Beachtung zu schenken. Die Händler hatten ihre Lager auf der Allee, die an der Küste entlang führte, aufgeschlagen. Die Wagengruppen und Stände wirkten wie wahllos über die Straße verstreute Farbtupfer. Ein steter Menschenstrom zog sich an der Promenade entlang, doch trotz der Enge war die Luft erfüllt von den lauten Rufen und dem Gelächter heiterer Menschen, die sich an die Marktstände drängelten und somit die Straßen verstopften. Der Schnee war platt getrampelt, was ihm eine nahezu glasige Oberfläche verlieh. An anderen Stellen war er durch Reifenspuren geschmolzen. Einerseits überwältigt, andererseits genervt, hielt Haruka inne, als sie die Betriebsamkeit sah, und zögerte, verunsichert, ob sie an ihrem Ziel noch rechtzeitig ankäme. Dass am heutigen Tag Markt war, hatte das Mädchen vollkommen vergessen. Aus ihren Gedanken wurde das Mädchen gerissen, als sie jemand anrempelte. Verärgert sah sich die Koordinatorin um und blickte aufgeregt kreischenden Kindern hinterher, die quer über die Straßen tollten. Schließlich seufzte sie ergeben, und Haruka begann sich in das Getümmel des Wochenmarktes zu stürzen, der über den gesamten Globus den Status einer Berühmtheit genoss. Ganz gleich ob Stadtbewohner oder Touristen, sie besuchten gerade aus diesem Grund den Markt und erfreuten sich stets, besonders in den Wintermonaten, seiner Schönheit, dann wenn Weihnachten – das Fest der Liebe - vor der Tür stand. Hier wurde frisches Gemüse und Obst feilgeboten, dort Brot, und neben Sense, Spitzhacke und Schaufel waren provisorische Ställe aufgebaut, in denen Pokémon standen, die für die Landarbeit sehr beliebt waren. Frauen kauften Stoffe, während nebenan die Ehemänner Tauros und Miltank begutachteten. Bloß einen kurzen Moment streiften Harukas Blicke die zahlreich dargebotenen Waren, dann richteten sich ihre Augen auf den an der Promenade nah liegenden Hafen. Die Fähre, an der im Wind flatternden Fahne erkennbar, auf der ein wellenähnliches Gebilde mit einem Lapras gestickt war, befand sich noch immer am Dock und war noch nicht ausgelaufen; ein Grund, der Haruka erleichtert ausatmen ließ. Etwas Zeit, die Hoffnung, dass sie noch nicht zu spät war, blieb ihr also noch. „Entschuldigung“, murmelte sie, während sie sich vorwärts durch die Menschenmasse schob und missachtete die Blicke, die ihr zuteil wurden, als sie sich in entgegen gesetzter Richtung ihren Weg bahnte, stets darauf bedacht, sich nie grob oder unfreundlich durch den Strom zu bewegen. Plötzlich aber schreckte Haruka ein Dröhnen auf und veranlasste, dass sie ihren Kopf hob und zum Hafen sah, hoffend, dass die blaue Fahne noch immer im Wind schlug. Diese wurde aber im ausgestoßenen Rauch des Schornsteins vollkommen verhüllt, ein Zeichen, dass die Fähre in wenigen Augenblicken den Hafen verließ. Zuerst vor Schreck versteinert, riss sich die Koordinatorin aus ihrer Starre und setzte ihren Kampf durch die Menschen weiterhin fort, hoffend und betend, dass sie nicht zu spät war. Noch einmal stieß der Schornstein der Fähre dichten Smog in die Luft, als die beängstigende Enge schließlich wich, und Haruka die angedockten Schiffe und Boote im Hafen Liegen sah. „Halt!“, rief die Koordinatorin heiser, während ihre Stimme vor Verzweiflung zittrig klang, und gönnte ihren schmerzenden Gliedern nicht die geringste Erholung. Unentwegt rannte sie auf die Anlegestelle der Fähre zu, auch wenn ihr bereits bewusst war, dass sie – wieder ein Mal – zu spät war; das Schiff war schon zu weit vom Land entfernt, als dass sie unversehrt und mit trockener Kleidung an Deck gelangen konnte. Ihr Lauf nahm daher ein abruptes Ende, als sie am Rande des Docks angelangt war. Um ihrer Enttäuschung Luft zu machen, fluchte Haruka laut, ignorierte, dass jemand ihren üblen Verwünschungen, die man dem offenherzigen und freundlichen Mädchen niemals zugetraut hätte, sein Ohr schenkte. Mehr über sich selbst als auf die Pünktlichkeit des Fährschiffes, schimpfte die Koordinatorin und fühlte sich matt und erschöpft, als ihr Atem zuneige ging. Mit einem kläglichen Seufzer sank sie zu Boden, während ihre Beine, die nun protestierend nach Ruhe verlangten, unter ihr fort schlafften. Sie harrte einen Moment aus und starrte mit regungslosem Blick zu den Schiffen, dann schweiften ihre Augen in die Ferne, auf einen Punkt, der nur für sie sichtbar war. Besinnend schloss Haruka die Augen, um ihren aufgewühlten Gedanken Herrin zu werden, doch dann begegnete sie einem anderen beängstigendem Gefühl. Jenes Gefühl, das sie wie ein dunkler Schatten begleitete, wollte nicht weichen. Stets drängten sie sich in den Vordergrund, bestimmten ihren Alltag und verwirrten ihre Gedanken. Unentwegt kehrten die Bilder, die Erinnerungen ihres Traumes, zurück; die Angst vor dem schwarzen Meer, welches durch ihre Angst genährt wurde, das im Sterben liegende Geschöpf und das Mädchen, dessen Gesicht ihrem so täuschend ähnlich war… Haruka fasste sich an die Brust und krallte ihre Finger in den Stoff. Ihr Herz, schon durch den Lauf zum Hafen zum Rasen gebracht, pochte so laut, dass sie fürchtete, ihre Brust würde zerspringen. Dann aber löste sich aus ihrem tiefen Ärger und Enttäuschung ein unkontrollierter Tränenfluss, den sie nicht zu bändigen wusste. Sie beschwor sich, stark zu sein, und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, um sich den lästigen, salzigen Tränen loszuwerden. Schließlich begann sie aber hemmungslos zu weinen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Haruka fühlte, wie sich durch den Tränenstrom all ihr Kummer löste, wie er mehr und mehr bedeutungslos wurde. All ihre Gedanken an das große Festival, an das Versprechen zu Kouki und an Shuus gestrigen Abschiedsworten wurden ihr gleichgültig, besaßen kein Gewicht mehr. Ihr kam es vor, als war sie bislang einem Pfad gefolgt, den sie nicht hätte wählen sollen, so als wollte das Schicksal ihr einen üblen Streich spielen. Ebenso jäh wie sie von ihren Gefühlen überwältigt worden war, verspürte Haruka keine Kraft mehr, um ihrer endgültigen Ausscheidung aus dem Festival zu betrauern. Regungslos saß sie da, ihren Kopf der geschwächten Wintersonne zugewandt. Ihre getrübte Wahrnehmung hatte noch nicht Mal gemerkt, wie sich Psiana, die den Gefühlsausbruch ihrer Trainerin bemerkt hatte, aus ihrem Pokéball befreit hatte. Nun schmiegte sich die Lichtkatze mit ihrem Körper liebevoll an Harukas Seite. Ihr geteilter Schweif strich sanft und tröstend über den Rücken, während der Kopf sich an ihren Arm drückte. Als Haruka die tröstenden Versuche schließlich bemerkte, zuckte das Mädchen leicht zusammen und blickte Psiana überrascht an, die sich nun auf die Hinterpfoten setzte und ebenso starr ihre Trainerin taxierte. Schließlich hob Haruka Hand, um Psiana dankbar über den Kopf zu streichen, die das Haupt der Berührung regelrecht entgegen reckte und ein wohltuendes Geräusch anstimmte. Es war jenes vertraute Schnurren, das Haruka stets in die Realität zurückholte, sie beruhigte und ihr ein Lächeln schenkte. Nachdem Haruka Psiana ausgiebig unter dem Kinn gekrault hatte, tasteten ihre Finger anschließend nach ihrem Rucksack, fühlte den kleinen, rauen Beutel, den Kouki ihr bei seinem Abschied gegeben hatte. Was würde er wohl sagen, wenn sie nicht zum Festival erschiene, ganz gleich ob sie Teilnehmerin war oder sich als Zuschauerin unter das Publikum mischte? Würde Kouki ihre Entscheidung verstehen? Dann flammte ein brennender Schmerz in ihrem Daumen auf, als sie sich an etwas schnitt. Leise fluchend sah Haruka sich das dünne Rinnsal an, das ihrem Finger herab floss, und saugte beherzt das Blut von dem Einstich ab. Behutsam griff sie schließlich nach der Rose, die bereits zu welken begann, aber noch immer verströmte sie einen bezaubernden Geruch, der Haruka unmissverständlich an Shuu erinnerte, der sie wegen ihres Versagens wohl tadeln würde, wenn er diese Nacht noch in Olivania City verbracht hätte, anstatt bereits nach Anemoia voraus zu fliegen. Gewiss wäre ihr Rivale sehr enttäuscht von Haruka, und dieser Gedanke schmerzte sie mehr als die Tatsache, dass sie nicht am Festival teilnehmen konnte. Er sollte Haruka als junge Frau sehen, nicht als Versagerin. Sie wollte ihm imponieren! Plötzlich wurde das Mädchen durch das Zetern einiger am Himmel kreisenden Vogelpokémon aufgeschreckt und blickte zu der sich nähernden Schar der Wingull und Pelipper. Neugierig wie Wingull eben waren, wagte eines von ihnen sich nahe an Haruka heranzukommen. Zunächst argwöhnisch musterte es die Zweibeinerin, achtete auf jeden ihrer Bewegungen, aber als sich Haruka nicht zu bewegen schien, zupfte es an ihrer Kleidung. Als Haruka jedoch genervt den Arm zurückzog, und Psiana den Vogel mit einem barschen Fauchen verscheuchte, flog Wingull protestierend auf; die Schar stimmte mit lautem Geschrei in seine Panik ein. Das fliederfarbene Fell der Lichtkatze sträubte sich verärgert, als sie die dreisten Vögel grollend taxierte. Als die Wingull durch Psianas Drohungen sich nicht beeindruckt zeigten, griff Haruka gereizt nach kleinen Steinen und schleuderte diese auf die Vögel, die nun mit einem empörten Kreischen auseinander stoben. „Ich nehme an, du hast die Fähre verpasst“ ertönte plötzlich eine männliche Stimme, die Haruka alarmiert zusammenzucken ließ. Zunächst glaubte sie, es wäre die spöttisch arrogante Stimme von Shuu, aber als sie sich umwandte, sah sie in das zerfurchte Gesicht eines alten Herrn, der sie mit einem breiten Grinsen anblickte. „Ach ja, die Vögel tragen keine Schuld daran, dass du die Fähre verpasst hast.“ Schweigsam warf sie dem Schwarm, der sich allmählich entfernte, verstohlene Blicke zu, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, als er überraschend fragte: „Ich nehme doch mal an, dass du zum Wettbewerb willst, der in übermorgen in Anemonia stattfindet?“ Während Haruka durch die unerwartete Gesellschaft wortlos nickte, schlich die Lichtkatze um ihre Beine und warf dem Fremden misstrauische Blicke zu. Psiana kräuselte leicht die Lefzen, dennoch drang kein Laut aus ihrer Kehle. Sie traute den Unbekannten nicht, der ihrer Trainerin ungehobelt gegenübertrat. Nervös wich Haruka dem Blick des Mannes aus, der sie eindringlich musterte, und fühlte sich unwohl bei Gedanken, dass er ihren Heulkrampf miterlebt haben könnte. Ihre Unsicherheit überspielend, schnippte sich die Koordinatorin eine Strähne, die ihr durch den frischen Seewind ins Gesicht geblasen wurde, weg. „Ich wollte zum Wettbewerb“, korrigierte Haruka den Fremden. „Jetzt nicht mehr.“ Während der Mann Haruka prüfend ansah, brach er in schallendes Gelächter aus. Die Koordinatorin verzog missmutig die Lippen, wandte den Blick wieder ab und fühlte sich lächerlich gemacht. „Lachen Sie mich aus?“ „Auslachen? Ganz und gar nicht!“, verteidigte sich der Fremde, aber seine Antwort stellte Haruka nicht zufrieden. So schnell wie er auch erheiternd wurde, wurde der Mann auch wieder ernst. „Ich will dir helfen. Das ist alles.“ Zweifelnd sah Haruka den Mann an, glaubte seinen Worten nicht zu trauen, aber irgendetwas sagte ihr, dass er es ehrlich meinte. Dennoch tat sie ihrem Argwohn kund: „Helfen? Ich kenne Sie doch gar nicht!“ „Eben darum! Vertrau mir.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem herzlichen Lächeln, während er ihr aufheiternd zu zwinkerte. Haruka wusste nicht, was es war, dass sie dem Fremden Glauben schenkte, ohne nach seinem Namen zu fragen. Das Seltsame war sogar, dass ihr der Name unbedeutend vorkam, sondern vielmehr neugierig war zu erfahren, wohin der Mann sie brachte. Als sie eben diesen Gedanken an ihn richtete, schwieg er bloß. Nicht wissend, ob sie ihm wahrhaftig Glauben schenkten durfte, war sie ihm erst zögernd gefolgt. Psiana gefiel diese Entscheidung ganz und gar nicht. In Katzenmanier stellten sich ihre Schnurrhaare nach vorne und fauchte scharf. Um ihren Willen durchzusetzen, ließ sich die Katze an Ort und Stelle auf die Hinterpfoten sinken, während ihre funkelnden Blicke sich auf ihre Trainerin richteten. Dass Haruka ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, verstörte und entsetzte Psiana zugleich. Verunsichert zischte sie ein weiteres Mal, doch das Mädchen gedachte nicht sich erneut zu ihrer Prinzessin umzudrehen. Fassungslos sprang Psiana mit gesträubtem Fell auf die Pfoten und stieß ein bedrohliches Fauchen aus, entschied schließlich widerwillig Haruka zu folgen. Diese bescheuerten Zweibeiner! Zunächst ließen sie den Hafen hinter sich und anschließend folgten sie der Promenade, an denen sich ungepflegte Häuser säumten, und kehrten Olivania City den Rücken. Sie hatten den Strand erreicht und staksten nun durch den feuchten Sand, kamen aber dennoch bloß mühsam voran. Angewidert ließ Psiana ein Brummen ertönen, als sie die ersten feinen Körner zwischen ihren Ballen spürte, die unangenehm an diesen empfindlichen Stellen rieben. Dem Missfallen der Gefährtin zollte Haruka keine Beachtung, sondern bemühte sich vielmehr den Schritten des Mannes mitzuhalten, der sich beinahe mühelos durch den Sand bewegte. Die seichteren Ebenen, die durch die Flut aufgeweicht waren, erleichterten das Vorwärtskommen ungemein, obwohl an manchen Stellen die Feuchtigkeit stand und kleine und große Pfützen bildete. Schließlich blieb der Unbekannte so abrupt stehen, dass Haruka beinahe gegen seinen Rücken geprallt wäre, wenn sie den unerwarteten Halt nicht rechtzeitig wahrgenommen hätte. „Wir sind da“, verkündete der Mann knapp und warf dem Mädchen einen flüchtigen Blick zu. Irritiert glitten Harukas Augen über die Umgebung, sahen die schäumenden Wellen in der Ferne und nahmen den tristen Wolken verhangenden Himmel über dem Horizont wahr, der bittere Kälte versprach. Jener Ort, der zu dieser Jahreszeit von Menschen gemieden wurde, sollte ihr Hilfe versprechen? Und welchen Grund mochte der Fremde haben, um ihr, ein ihm ebenso unbekanntem Mädchen zu helfen? „Warum wollen Sie mir helfen?“, wollte das Mädchen daher wissen, aber als sich Haruka zu dem Mann umwandte, war er nicht mehr zu sehen, stand nicht hinter Haruka, so wie sie es angenommen hatte. Zunächst ließ sie ihre Blicke über den Sand schweifen, sah die Spuren, doch jene verloren sich, je näher sie den ausrollenden Wellen kamen. Schließlich hob Haruka den Kopf, sah, wie sich der Fremde allmählich von ihr entfernte. „Warten Sie!“, rief Haruka dem Mann hinterher, aber er schien ihre Worte nicht mehr zu vernehmen. Ungestört setzte er seinen Weg fort, ohne sich ein weiteres Mal zu der Koordinatorin umzusehen, die nicht wusste, was sie nun tun sollte. Einen kurzen Moment besann sich Haruka auf das Gespräch, was sie mit dem anscheinend namenlosen Mann wenige Minuten zuvor geführt hatte. Lapras! Hatte er nicht etwas von einer Herde Lapras gesprochen, die am Strand von Olivania City ruhten? „Zu dieser Zeit kommen jedes Jahr eine Schule von Lapras um gen Süden zu wandern. Eigentlich sind sie sehr friedlich gestimmte Pokémon, aber die Menschheit hat ihre Herzen misstrauisch gemacht… Wenn du sie überzeugen kannst, werden sie sicherlich eine Gestrandete wie dich zu deinem Ziel bringen. Immerhin liegt Anemonia City auf ihrer Reiseroute!“ Doch als sich Haruka umdrehte und hinaus aufs Wasser blickte, sah sie keine Pokémon im Meer rasten. Vielleicht hatte sich der Mann ja geirrt…? Nein, irgendetwas rührte sich im Inneren des Mädchens, während es hinaus starrte, sagte Haruka, dass dort draußen im Meer etwas war – etwas, dass sie beobachtete. Haruka schritt nahe ans Wasser heran, bis sie merkte, dass das kühle Nass an ihre Füße schwappte und ihre Socken feucht wurden. Sie blickte herab, hob etwas ihren linken Fuß und betrachtete ihr durchnässtes Schuhwerk. Dann legte sie unerwartet ein Summen ins Ohr, das nicht an das Sirren von Bibor erinnerte, sondern ein Melodie und von tiefer Friedlichkeit sprach. Obwohl ihr Herz in Aufruhr gewesen war, schien es sich zu beruhigen und begann in einem sanfteren Takt zu schlagen. Haruka hob wieder ihren Kopf, als sie den Gesang vernahm und sah in den tieferen Regionen des Meeres graue Schatten. Sich an ihren Traum erinnernd, schrak das Mädchen zurück und glaubte sich erneut der Panik gegenüberzustehen, die es verspürt hatte, als es aufgewacht war. Doch in Wahrheit war es keine Angst, bloß Neugierde und der Frieden, den sie beim Klang des fremden Liedes gefühlt hatte. Trotz dieser Tatsache ertappte sich Haruka, als sich ihr Herz erneut beschleunigte, während Gebilde die Oberfläche durchstießen und einen lang gezogenen Laut ausstießen. Es war kein Leidesklagen, vielmehr war es ein ruhiger Gesang, die in Harukas tiefstem Inneren widerhallte. Haruka wagte es kaum zu atmen und mit den Augen zu zwinkern, als sie begriff, was dort aus dem Tiefen des Meeres kam, und da wusste sie, dass der Mann, dem sie zuvor misstraut hatte, die Wahrheit gesprochen hatte. Feine Tropfen, die im Licht sanft glitzerten, stoben umher, als das Pokémon die Oberfläche mit der Schnauze durchstieß und nun seinen langen Hals reckte. Nässe perlte an der blauen Schuppenhaut ab, und der Panzer, der robuster als Diamant war, schützte den Plesiosaurier. Zögerlich tauchten weitere Lapras vereinzelt auf, die sich scheu ihrer Umgebung besahen, hoben dann jedoch gleichsam ihre Köpfe und ließen einen auf- und abschwellenden Gesang erklingen. Kaum trug der Wind jene Töne fort, begriff Haruka, wie groß die Gruppe der Lapras in Wirklichkeit war. Sie vermochte sie nicht zu zählen, bloß schätzen konnte sie ihre Zahl – vielleicht waren es zwanzig oder sogar mehr? Das erste Lapras wandte sein Haupt und sah Haruka aus klugen Augen entgegen, die leicht zurück schrak, als sie den Blick des gealterten Pokémon auf sich spürte. Abschätzend und kühl betrachtete der Plesiosaurier das Mädchen, das glaubte in den Seelenspiegeln des Lapras das inne wohnende Misstrauen zu erblicken. Scheu wich sie den Augen aus und ließ sie stattdessen über den kräftigen Leib gleiten, der zahlreiche Narben und Risse am Panzer aufwies. Zweifel beschlichen Haruka, die die Forschungen über jenes Meeresgeschöpf in Frage stellten, und sie fragte sich, ob Lapras wahrhaftig die Menschensprache verstehen konnten oder waren dies bloße Einbildungen törichter Menschen, die vom Glauben befallen waren, dass sie die Pokémon verstehen? Haruka wusste es nicht, zögerte aber ihren Wunsch an die Lapras zu äußern; aus Angst, dass die Worte der Wissenschaftler nicht der Wahrheit entsprachen. Ungeduldig stellte Psiana ihre Ohren und Schnurrhaare nach vorne, zog die Lefzen zurück und ließ ein gereiztes Fauchen erklingen, das Haruka gänzlich aus ihrem Gedanken wach rüttelte. Sie sah zu Psiana herab, deren Augen die Zweibeinerin finster anfunkelten, so als würde Psiana jeden Moment ihre Krallen in ihr Bein versenkten, wenn sie nicht ihr Anliegen endlich schilderte. So hob die Koordinatorin ihr Haupt, suchte fieberhaft nach Worten, die nicht allzu frivol klangen. Wie sollte sie einem Pokémon ihre missliche Lage erklären? Ein weiteres, warnendes Fauchen drängte das Mädchen zu einer Entscheidung, die es rasch treffen sollte. Entweder würde sie ihr Anliegen äußern oder die Lichtkatze wetzte ihre Krallen an ihrem Bein… Ihr Entschluss auf die erste Möglichkeit. Letzteres empfand sie doch als sehr schmerzvoll. „Ich… Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, aber“, begann Haruka verunsichert, als sie die Augen des Anführer mit fester Bestimmtheit auf ihr ruhen fühlte, „ich brauche deine Hilfe.“ Ihre Blicke wanderten zwischen den anderen misstrauischen Lapras umher. Aufgewühlt sah sie dem Lapras in die Augen, die einen Moment, so glaubte die Koordinatorin, viel sagend aufflackerten. Ob ihre Worte zu dem alten Geschöpf durchdrangen? Schließlich hob der Plesiosaurier anmutig seinen Kopf, öffnete das Maul, und es begann ein tiefes Summen. Warum sollten wir dir helfen, Menschenkind?, wisperte eine eindringliche Stimme, die geradewegs Harukas Gedanken durchzogen. Sie hallte in ihrem Kopf wider, begleitet vom leisen Singsang, der den Wortlauten eine eigenartige Resonanz gab. Sie war tief und ernst, aber dennoch vernahm Haruka sie deutlich, während ein kühler Schauder ihren Geist durchfuhr. Wie erstarrt blickte sie Lapras an, das nun bekümmert die Augen niederschlug. Sieh, was euresgleichen mit uns gemacht haben, forderte das Geschöpf rau. Wir sind Gejagte. Trophäen wir ihr uns nennt. Nun frage ich dich, warum sollten wir dir helfen? Erneut wurde Haruka von Unruhe ergriffen, als ihre Augen auf die argwöhnischen, gar scheuen, Lapras verweilten, die hinter ihrem Anführer zu suchen gedachten. Sie waren gezeichnet von Angst, Verachtung und Tod. Es war ein Trauerspiel mit anzusehen, wie sehr die Pokémon unter der Habgier der Menschen litten. Die Regierung versuchte zwar gegen die Lapras-Jagd vorzugehen, aber was sollten sie gegen Jäger tun, die Pokémon als Sammelobjekt oder als Delikatesse ansahen? Bei dem Gedanken wandelte sich ihr Unbehagen in Wut. Mühsam konnte sie jenen Zorn auf Menschen, die Pokémon zu ihren eigenen, egoistischen Zwecken missbrauchten, zügeln. Sie war nicht wie alle anderen Menschen! „Nein! Nicht alle Menschen sind böse!“, widersprach Haruka vehement, voller Leidenschaft, sodass manche Lapras ihre Lefzen kräuselten, bereit das Mädchen zurecht zu weisen, sollte es etwas Unkluges vorhaben. Doch der Anführer neigte seinen Hals seinen Vertrauten zu, bedeutete sie mit einem kurzen Klang zur Ruhe und wandte sich hernach dem Mädchen zu, dessen Gemütswechsel Lapras deutlich spüren konnte – diesen Zorn und zugleich diese Zuneigung. Während Lapras sein Haupt absenkte, funkelten seine dunklen Augen dem Mädchen geheimnisvoll entgegen. Ach wirklich? Warum sollten wir gerade dir helfen? Anmutig hob das Leittier sein Haupt und starrte Psiana, die Lapras mit starrem Blick taxierte, an. Du gehörst zu jenen, die Pokémon zu ihren Sklaven machen. Drohend zog die Lichtkatze die Lefzen hoch und fauchte scharf. Ihre Schweife peitschten durch die Luft. Zu jeder Zeit war Psiana bereit die Krallen auszufahren und sie über Lapras’ ungeschützte Haut zu ziehen. All ihren Mut zusammen nehmend, wagte Haruka zu widersprechen: „Nein, die Pokémon sind Freunde! Psiana und alle meine Pokémon sind gerne bei mir, wir sind Kameraden!“ Psiana drehte den Kopf und sah zu dem Mädchen auf, während sie zwar die Drohgebärden verstummen ließ, aber dennoch nicht davon absah, den Schweif bedrohlich hin und her zucken zu lassen. Während sich das Männchen in Bewegung setzte und geradewegs auf Haruka zu schwamm, schwappten sanfte Wellen an ihre Füße. Zunächst schreckte sie zurück, als sich die weise Kreatur ihr näherte. Doch seine dunklen Seelenspiegel zogen sie in den Bann. Ihnen wohnte eine Sanftmut inne, die Haruka überraschte und faszinierte. Wie zu einem Angriff – so mutmaßte Psiana, die Lapras warnend angrollte – öffnete das Meerestier das Maul. Du hast ein ehrliches und starkes Herz, sprach Lapras ruhig, und dein Mitgefühl an das Leid, das ihr Zweibeiner uns angetan habt, schätze ich sehr. Sein stolzes Haupt empor hebend, drang ein sanftes Lied in das tiefste Empfinden ihres inneren Bewusstseins ein, versprach Haruka Ruhe und Geborgenheit, die sie vergessene Erinnerungen ihrer Kindheit wachriefen. Jene, von denen sie stets geglaubt hatte, dass sie zu jung war, um sich an diese Momente erinnern zu können. In diesem Augenblick aber wurde die Koordinatorin von jenen Gefühlen überrollt, deren Heftigkeit sie zu überwältigen drohte. Bereits nach wenigen Herzschlägen aber nahm das Schwindelgefühl ab und zog sich wie seichte, ausrollende Wellen wieder vollends zurück. Alles was blieb, war bloß der beschleunigte Takt ihres Herzens in ihrer Brust, und das Empfinden von Zugehörigkeit. Deine Gedanken verraten, dass du zu jenem stinkenden Dorf möchtest, das ihr Anemonia nennt. Ist dem so? Wie gelähmt blickte Haruka den Plesiosaurier an und schwieg, da kein Wort ihre Lippen verließ. Ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie einen drei, vier Herzschläge lang ihre Augen schloss um mit den vielfältigen Sinneseindrücken zu recht zu kommen. Der Verstand verbot ihr den vergangenen Minuten Glauben zu schenken. Als Psiana jedoch energisch am Stoff der Socken zerrte, schlug das Mädchen die Lider auf. Beherzt maunzte die Lichtkatze, drängte sie zu einer Erwiderung. „In Anemonia City findet ein Wettbewerb, der mir sehr wichtig ist“, bejahte Haruka und glaubte erneut nicht, ob Lapras die Bedeutung ihrer Wünsche richtig einzuschätzen vermochte. „Ich darf ihn nicht verpassen“, fügte sie zerknirscht hinzu und ballte die Faust. Recht hatte sie. Diese Chance durfte sie nicht verstreichen lassen, wenn sie wirklich am Festival teilnehmen, gar zur Top-Koordinatorin aufstreben wollte. Vor allem aber wollte sie ihrem Rivalen Shuu diesen Triumph nicht gönnen. „Kannst du – oder ihr – mich mitnehmen?“ Wie ein gespanntes Stahlseil zuckte der lange Hals des Plesiosauriers umher, ehe sein Blick wieder auf der Koordinatorin ruhte, die noch immer unruhig in seine Augen schaute. Lapras vermochte Harukas Nervosität zu riechen. Wie der bleierne Geschmack von Meeressalz lag die Anspannung auf seiner Zunge. Das Mädchen war bewegt von wahren Hintergründen ihres Tuns und erfüllt von einer Leidenschaft, was Lapras zunehmend faszinierte. Sie war anders, als jene gefühllosen Menschen, die ihm zuvor begegnet waren. Daher senkte Lapras seinen Kopf und schlug die Augen nieder, nachdem er seine Wahl getroffen hatte. Dann möchten wir dir helfen. Es waren bescheidene Worte, die Harukas Herz schneller schlagen ließen. Zunächst konnte sie nicht glauben, welches Vertrauen der Plesiosaurier ihr entgegen brachte. Dann war es so, als fiele eine schwere Last von ihren Schultern; eine Last, die ihr zuvor als eine unüberwindbare Bürde erschienen war. Binnen weniger Sekunden war dieser erdrückende Kummer gewichen, so als bräche ein Wirbelsturm über ihre Gefühle herein. Lachend streckte Haruka ihre Hände in den Himmel und sprang ausgelassen in die Höhe, während ihr ein kehliger Freudenjauchzer entkam. Wasser und Matsch spritzten dem Mädchen entgegen, als ihre Füße wieder den schlammigen Untergrund berührten, und besudelten alle Kleidung und Schuhe. Doch Haruka scherte sich nicht darum. Ihre Klamotten würden auf offenem Meer ohnehin vor Feuchtigkeit klamm werden. Warum sollte sie sich also um ihren Zustand kümmern? Als Haruka ihren Übermut und Freude gestillt hatte, wandte sie sich Lapras entgegen, welches die Lefzen leicht kräuselte. Es schien, als lächelte das Pokémon sie gutmütig an. Sie erwiderte das Lächeln. „Danke!“ Bis an die seichten Stellen bewegte sich Lapras an das Ufer heran und näherte sich somit Haruka, die erwartungsvoll der Reise entgegen fieberte. Steige auf meinem Rücken. Die Reise wird andauern, bis sich die Sonne dem Wasser zuneigt. Der Gedanken bis zum Anbruch der Nacht auf dem offenen Meer zu sein, bereitete Haruka doch Furcht, und sie zögerte trotz Lapras energischer Aufforderung. Als sie jedoch das ungeduldige Schnauben des Plesiosauriers vernahm, trat sie zaghaft an das Pokémon heran, legte die flache Hand auf die kühlen Haut und fuhr mit den Fingerspitzen über die kleinen Schuppen, die von feiner Beschaffenheit waren. An manchen Stellen war die Oberfläche rau, an anderen glänzte sie matt. Schließlich umfassten Harukas Finger einen längeren Hornauswuchs des Panzers und zog sich behutsam auf Lapras Rücken. Sie ließ sich zwischen zwei Auswucherungen nieder und hielt sich mit einer Hand, die um den vorderen Fortsatz geklammert war, fest. „Psiana, komm her“, forderte Haruka schließlich die Lichtkatze auf, die unruhig in Sicherheit vor der Nässe auf und ab schritt. Psiana fauchte gereizt, sträubte ihr Fell und weigerte sich näher zu kommen. Leicht lächelnd hob Haruka den Pokéball des katzenhaften Pokémons, sodass der rote Lichtstrahl die Konturen des Psianas einfing, damit sie einen trockenen Ort hatte, während ihre Trainerin das Meer durchkreuzte. Halte dich gut fest, vernahm sie Lapras Geiststimme in ihren Gedanken, und die Koordinatorin bejahte knapp. So erhob Lapras majestätisch sein Haupt, öffnete das Maul und stimmte, gleichsam mit seinen Kameraden, ein uraltes Reiselied an. Graue, dichte Nebelschleier hielten die Gruppe in ihren Fängen und tilgten jedes Licht und Geräusch, welches noch so zart versuchte durch das Gewölk hindurch zu dringen. Wie eine sanfte, trügerische Decke kroch sie dahin und schien als nähme sie kein Ende, gerade so als tasteten dürre Finger sich vorwärts, um alles, was sich ihnen in den Weg stellte, zu verschlingen. Ungewöhnliche Kälte umwehte Harukas Gesicht, die in einen wohltuenden Schlummer gefallen war, als sie sich bewusst wurde, dass ihr nichts auf Lapras Rücken geschähe, wenn sie die Augen schloss. Nun aber schreckte die Koordinatorin hoch und glaubte sich in einem Albtraum zu befinden. Schon lange war das angenehme Reiselied verklungen, und jetzt spürte Haruka wie die Anspannung wie Unheil bringende Wolken über ihren Gefährten lag. Vorsicht war geboten, denn die Lufttrübung verwehrte jeden Blick auf das, was vor ihnen lag. Bloß ein leises Plätschern nahm Haruka wahr, die furchtsam ihre Hand um den Hornauswuchs spannte, während über ihre Lippen ein flacher Atem kam. Geisterhafte Schattengebilde tauchten unerwartet in der Ferne auf; schroffe Felsklippen, die wie Fangzähne aus dem trüben Wasser ragten, als stammten sie von einem uralten Seeungeheuer. Unruhig wanderten Harukas Augen umher, suchten das Übel, schienen es aber nicht ergreifen zu können. Beruhige dein Herz. Eine Stimme aus weiter Ferne klang in ihren Gedanken wider, die Haruka ob des Schreckens, den sie im ersten Augenblick empfand, nicht einzuordnen vermochte. Es sind bloß Felsen, rollten Lapras amüsierte Worte durch ihren Geist. Ihre Augen schließend und Lungen mit kühler Luft füllend, atmete die Koordinatorin tief ein, um ihr rasch schlagendes Herz zu besänftigen. Schließlich hob sie den Kopf und versuchte im grauen Nichts etwas zu entdecken. Oder eine Ahnung zu erhalten, wo sie sich befanden. War Anemonia City bereits nahe, und sie sahen es bloß nicht? Aber nein, sonst wären die Felsriffe der umliegenden Inseln, den Strudelinseln, nicht so nahe. Plötzlich schreckte Lapras hoch, und auch Haruka riss unerwartet den Kopf herum. Ein Schrei! Panisch. Furchtsam. Schmerzerfüllt. „Was ist los?“, fragte die Koordinatorin verängstigt, erhielt aber keine Antwort. Und da vernahm Haruka ein lautes Tosen, und sie spürte, wie Lapras Bewegungen unkontrollierter, angestrengter, wurden, als schwömme es verbissen gegen eine starke Anziehung an. Der Nebel, der nun lichter wurde, gab nun willentlich Preis, was vor ihnen lag: Ein gewaltiger Mahlstrom, dessen Durchmesser Haruka nicht zu schätzen vermochte, geschweige gelang es ihr einen klaren Gedanken zu fassen. Schäumende Gischt sammelte sich spiralenförmig um einen Punkt, dem Zentrum, welches alles, was um ihn lag, sich einverleiben wollte. Während das Mädchen in die tiefe Schwärze des wirbelnden Wassers blickte, fühlte es die nahende Panik in ihren Gliedmaßen, die es beinahe zu lähmen schienen. „Kehr um“, flüsterte Haruka leise zu Lapras, das in grimmiger Entschlossenheit gegen den Strudel kämpfte. Doch während quälende Sekunden verstrichen, rückte ihr Schicksal näher und näher, bis Haruka spürte, wie ihr Angsttränen über die Wangen flossen. „Lapras, kehr um!“, schrie sie den Plesiosauriern aufgewühlt an, dessen Widerstand allmählich nachgab. Sein Bewusstsein fühlte sich erschöpft und matt an, kraftlos. Haruka wandte panisch den Oberkörper um, sah die anderen Lapras, die ebenfalls den Strudel gesichtet hatten, gegen den Sog ankämpften. Noch konnten sie der Gefahr entrinnen, aber stattdessen folgten sie ihrem Anführer treu. Die Arme hochreißend fuchtelte sie wild mit ihnen umher. „Verschwindet!“, schrie das Mädchen aus Leibeskräften gegen das Tosen der Wassermassen an, und es erhoffte sich, dass die Lapras auf die Worte eines Menschenkindes hörten. Manche ließen sich von ihren Rufen von ihrem Vorhaben ihrem Herrn zu folgen, nicht abbringen. Andere hielten verwirrt, beinahe orientierungslos, inne und sahen sich unentschlossen an. Dann wandte sich Haruka von ihnen ab und spürte, wie der Sog Lapras erfasste und, trotz seiner Bemühungen, ihn zum Inneren brachte. Schließlich erstarb die Gegenwehr. Ich kann nicht, kam die gewisperte Antwort, leise und ausgelaugt. Etwas hält mich zurück… Ich kann nicht. Es tut mir Leid, Menschentochter. Während Haruka sich verzweifelt an Lapras Hals klammerte, starrte sie ohnmächtig in das schäumende Wasser, weinte stumme Tränen und wartete darauf, dass der Strudel sie verschluckte, und die Todesqual rasch endete. Wie war es so zu sterben, wenn man nicht mehr atmen konnte? Als das Getöse beinahe unerträglich wurde, löste Haruka ihre Hände von Lapras, da es ohnehin nichts brachte sich festzuhalten, und presste sie auf ihre Ohren. Dann, mit voller Wucht, wurde die Koordinatorin unter das eisige Wasser gedrückt, so sehr, dass ihr einen Augenblick der Atem ausblieb, als sich die Eiseskälte um sie legte, die binnen weniger Sekunden seine Gliedmaßen taub werden ließ, vollkommen in Schock erstarrt. Hilflos konnte Haruka nur hinnehmen, dass sie, wie ein wehrloser Spielball in den Krallen eines Snobilikats, fortgerissen wurde. Bereits nach wenigen Sekunden war ihr Sauerstoff verbraucht. Wilde Panik brach über sie herein, als sie merkte, dass sie zunehmend in Luftnot geriet, und kämpfte eines Verzweiflungsaktes gleich ironischerweise gegen den machtvollen Sog des Strudels an. Doch ihr Widerstand erstarb so rasch wie er aufgekommen war. Das ist das Ende, raste ihr durch die aufgewühlten Gedanken und schloss die Lider, beschwor ihre Erinnerungen. Man sagte, dass im Anblick des nahenden Todes das gesamte Leben wie ein Film sich erneut abspielte. Nun kamen Bilder in Haruka auf, die ein tiefes Gefühl von Trauer wach riefen; Erinnerungen an ihre Familie; ihre Eltern und ihren Bruder, schöne und schlechte Momente. Sie dachte an ihre Pokémon und Freunde, die ihr in guten und schlechten Tagen zur Seite gestanden hatten. Zuletzt erblickte sie aber Shuu, der den Rücken zu ihr gewandt hatte, sich schließlich zu ihr umdrehte. Schwach erkannte die Koordinatorin ein Lächeln auf seinen Lippen, und sein Auftauchen wühlte das Mädchen innerlich auf, ließ Haruka jäh verzweifeln. Aus tiefstem Herzen wünschte sich Haruka, dass sie ihm jemals gesagt hätte, was sie für ihn empfand. Noch so viel wollte sie ihm beweisen und vor allem sagen. Nun aber war es zu spät, konnte ihm nicht mehr sagen, was sie fühlte. Als Haruka mit jenem letzten Gedanken die Augen schloss, vermochte sie bloß einen flüchtigen Blick auf einen düsteren Schatten zu erhaschen, der sich ihr rasend schnell näherte. Ihr geschwächtes Herz machte einen angstvollen Sprung, als das silberne Schimmern des Leibes in ihre Augen stach und als das Geschöpf mit dunklen Augen in die ihren starrte, die Lefzen gekräuselt und die Zähne gebleckt. Doch in diesem kurzen Moment ergab sich Haruka der Bewusstlosigkeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)