Chesed von Rakushina (Herzensgüte) ================================================================================ Kapitel 1: Herzensgut --------------------- Thema des Tages: Das Leben schreibt die besten Geschichten Ich war etwas sentimental, als ich das schrieb. Ich habe mich an die Worte erinnert und war wie Mathilda hier den Tränen nahe. Ich fand, ich war oder bin ihr sehr ähnlich, ihre Rolle gefiel mir (heute bin ich durch den Einfluss eher so ein verrücktes Huhn wie Schwester Erika hier geworden xD). Und Voltaire hielt ich schon immer für Schizophren. Ich weiß nicht wieso, er war's für mich. Die Hauptveränderung zur wahren Geschichte sind wohl, dass ich die Enkelin von dem Mann damals nicht kannte und daher auch kaum mit ihr sprach, und das Ende. Aber ich denke, dass ist nichtig. Der wahre Grundstein ist da... - Herzensgut „Mathilda, hilf uns mal! Wir haben einen Neuzugang.“ Ich hörte diesen Satz nicht allzu gerne. Neuzugang bedeutete immer, dass sofort die ganze Station auf den Kopf stand. Das Zimmer musste eingeteilt werden, der Person alles gezeigt und erklärt werden und in neun von zehn Fällen waren die Papiere nie vollständig da. So war es zumindest im offenen Bereich dieses Heimes. Wie dass dann erst hier im geschlossenen Bereich war, in einem, wo ich mich zudem überhaupt nicht auskannte und daher ziemlich nutzlos war? Mein Praktikum als Altenpflegerin hatte bereits vor zwei Monaten begonnen, als Einstieg für die Lehre, die ich im nächsten Jahr beginnen wollte. Bisher hatte ich aber nur im offenen Bereich gearbeitet, wo meist einfach alte Leute wohnten, die allerhöchstens etwas verwirrt und sehr alt waren, in seltenen Fällen hatten sie irgendeine Psychose. In den geschlossenen Bereich, wo es Suizidgefährdete und Schizophrene gab, bin ich nur gekommen, weil nun im Winter viele Leute krank wurden und überall Personalmangel herrschte. Ausgerechnet ich, die doch überhaupt keine Ahnung hatte. Aber beschweren war sinnlos, besonders am Wochenende, wo niemand von der Pflegeleitung anwesend war. Ich war allein mit einem Heilerziehungspfleger auf der Station Zwölf des Heimes. Normalerweise zählte er nicht als richtiger Alten- beziehungsweise Krankenpfleger, da man aber eine Praktikantin nicht alleine lassen konnte und durfte, übernahm er alles und blieb bis um sieben Uhr abends, statt nur bis vier. Er unterhielt sich mit der Sanitäterin, die unseren Neuzugang hergebracht hatte, bei dem ich schon von der ersten Sekunde auf ein merkwürdiges Gefühl hatte. Normalerweise dachte ich von niemanden gleich zu Anfang etwas Schlechtes, aber hier war das irgendwie anders. Er war ein Mann Mitte oder Ende 60 und sein grimmiger Blick ließ ihn alles andere als sympathisch wirken. Seinen Körper stütze er mit einer Krüge, vermutlich war er gestürzt und hatte sich was gebrochen. Aber müsste er dann nicht auf unsere Reha-Klinik…? „Mathilda, sei so gut und bring Herr Hiwatari ist das Einzelzimmer. Ich muss noch die Unterlagen durchchecken.“ „In Ordnung, Haruki“, antwortete ich und bekam von meinem Kollegen den Koffer des Mannes in die Hände gedrückt. „Wir werden noch keine Einzelheiten besprechen, Herr Hiwatari. Die junge Schwester wird Sie in ihr Zimmer bringen und alles erklären.“ Er gab keine Antwort, sondern wandte sich einfach von meinen Kollegen ab um mich zu fixieren. Sein Ausdruck war unberührt. Ich gab ihm auf den kurzen Weg keine Antwort, einerseits weil ich nicht wollte, andererseits auch weil ich doch zu sehr mit seinem Gepäck zu kämpfen hatte. Schnaufend setzte ich den Koffer auf dem Boden ab, Herr Hiwatari stand im Türrahmen und sah sich schweigend das Zimmer an. Ich fragte mich, ob er vielleicht doch irgendeine Psychose hatte. Schizophrenie war der Klassiker hier, Autismus, gespaltene Persönlichkeit, angeborener Schwachsinn, Borderline, ich hatte hier schon alles gesehen. Mit so etwas wäre er für die Reha-Klinik nicht geeignet, sie hatten nicht die selben Schutzvorrichtungen und Gerichtsbeschlüsse wie die geschlossene Abteilung. „Sie brauchen nicht da stehen zu bleiben, sie wohnen jetzt eine Weile hier, also fühlen Sie sich wie zu Hause“, sagte ich höflich, das Beste was man in so einer Situation eigentlich tun konnte. Er baute zwar für einen Moment Augenkontakt auf, schien aber eher uninteressiert. „Na ja, dann eben nicht. Vielleicht wollen Sie sich ja etwas umsehen. Mittagessen gibt es erst in zwei Stunden im Speisesaal, aber wenn sie wollen bring ich es Ihnen gern ins Zimmer. In der Zwischenzeit räume ich Ihre Sachen in den Schrank.“ „Lass, Kindchen. Das mach ich selbst“, sagte er ziemlich grob zu mir, öffnete seinen Koffer und begann seine Klamotten einzuräumen, ebenso die Bücher, die den Koffer wohl so schwer gemacht hatten. „A-Aber Herr Hiwatari, Sie…“ „Und sag nicht, »Herr Hiwatari«, Mädchen. Herr Hiwatari ist mein Vater. Sag Voltaire zu mir oder sag gar nichts.“ Ich nickte. Nun stand ich eingeschüchtert daneben, während er weiter seiner Tätigkeit nachging und traute mich nicht mehr etwas zu sagen, geschweige denn zu fragen. Da sprach er mit mir und dann so etwas. Vermutlich hatte ich wirklich Recht, was dies mit der Unsympathie betraf… „Großvater, was soll das?! Der Arzt sagt, du sollst dich schonen! Wenn du wieder einen Schwindelanfall bekommst und die Treppe runterstürzt brauchst du überhaupt nicht zu mir gekrochen zu kommen“, bebte die Stimme eines jungen Mannes, der den Raum betrat. Die Stimme schien mir vertraut, aber konnte ich sie niemanden sofort zuordnen. Erst als ich dass Gesicht sah, fiel es mir wieder ein. Es war Kai, der Teamleader der Bladebreakers. Natürlich, er hieß ja auch Hiwatari, dass mir der Gedanke nicht gleich gekommen war. Also war dieser Voltaire sein Großvater… „Ach, bist du auch endlich dazugekommen? Und diesmal ohne dich zu verfahren.“ „Deine Witze über meinen Fahrstil solltest du unterstehen… Sag noch mal, wie lang hat man deinen Führerschein gesperrt?“ „Zumindest habe ich einen Sinn für Pünktlichkeit und Anstand. Kaum bin ich aus dem Krankenhaus entlassen, werde ich hierher verschleppt und muss mich von kleinen Mädchen herumkommandieren lassen.“ Seine letzten Worte taten in der Brust weh. Hatte ich denn wirklich so versagt, dass er so empfand? War er deswegen wohlmöglich so grob zu mir? Nur Kai ergriff Partei für mich. „Jetzt lass die Schwester da raus. Die machen ihren Job mit Bravour, du allerdings meinst nur auf den kleinen Leuten rumhacken zu müssen, obwohl sie nichts damit zutun haben.“ „Das halte ich für ein Gerücht.“ „Ahr, denk doch was du willst. Du bleibst hier, bis du wieder richtig laufen kannst. Ich komm Morgen wieder, hoffentlich hast du dann bessere Laune“, schnaufte er und verließ eilig den Raum und da ich nicht wusste, was ich tun sollte ging ich ihm einfach nach. „So typisch… Manchmal übertrifft er sich wirklich selbst“, brummte Kai, während er mitten im Gang stand und verschränkte die Arme vor der Brust, dann drehte er sich zu mir und öffnete den Mund, vermutlich für eine Entschuldigung oder etwas Ähnlichem. Doch sagte er stattdessen, nachdem er erst einmal schwieg und mich musterte etwas ganz anderes, was mich dennoch freute. „Sag mal, wir kennen uns nicht zufällig?“ „Oh, doch, doch, aber das ist schon lange her. Ich bin‘s, Mathilda. Ich war bei den Barthez Battalion.“ „Ah, stimmt… Ich erinnere mich“, sagte er etwas nüchtern, aber nicht abgeneigt. Er schien sich sogar etwas zu freuen, was ich kaum glaubte. Kai hatte ich etwas, nun ja, unfreundlich in Erinnerung. „Ich habe dich lang nicht mehr gesehen. Um ehrlich zu sein, habe ich viele Beyblader schon lange nicht mehr gesehen. Aber hier, damit hatte ich nicht gerechnet.“ „Mein Vater hat mich seinem Chef vorgestellt. Ich mache jetzt ein Jahr ein Praktikum und fange im August die Lehre an. Normalerweise bin ich hier in der geschlossenen Abteilung nicht, aber es sind viele krank geworden und mein Vater hat Urlaub.“ „Sieh an… Was für eine Ironie.“ „Wohl eher Schicksal. Aber sag, was ist denn mit deinem Großvater passiert?“ „Weißt du…“, begann er, und sah während seiner Erklärung zurück zu dem Raum, in dem sich sein Großvater nun befand. „Er hatte einen Schwindelanfall, während er die Treppen hochlief. Er stürzte und brach sich Bein und Hüfte. Eigentlich sollte er nach seinem Krankenhausaufenthalt in die Reha-Klinik, aber seine Psychose machte dies etwas schwierig. Also kam er hierher.“ „Und was hat er für eine psychologische Störung?“ „Abgesehen davon, dass er es nicht lassen kann mir das Leben schwer zu machen?“, sagte er gereizt, lachte aber dann doch selbst darüber. „Er ist hoch schizophren. Man merkt das im Grunde nicht, aber er hat ab und zu an Phasen… In seinem Zustand will ich ihn damit nicht alleine lassen. Bisher ist nichts Schlimmes passiert, aber bei den Brüchen kann sich das schnell ändern.“ Verständlich, hier war es sicherer und wir hatten die nötigen Vorkehrungen. Und Schizophrenie, klar, hier ein Klassiker, wenn ich mich auch fragte wie genau die Diagnose war. Er schien überaus selbstbewusst und sicher. Etwas untypisch wie ich fand. Aber wie Kai schon betonte, man bemerkte es kaum und es geschah eher in unregelmäßigen Zeitabständen. Kai unterhielt sich noch lange mit Haruki, informierte sich genau über unseren Tagesablauf, während wir noch Angaben über seinen Großvater bekamen. Irgendwie war es beeindruckend und erheiternd, dass er sich so um seinen Großvater kümmerte. Ich hätte das von ihm damals nicht geglaubt, dass er so sein konnte. Richtig fürsorglich. Er war erst am Abend wieder gegangen, als wir schon mit unserer Arbeit fast fertig waren. Da die Leute im geschlossenen Bereich selbstständiger waren und nicht in ihre Betten getragen werden mussten, war schon kurz nach sechs unsere Arbeit im Großen und Ganzen erledigt. Für mich ungewohnt und gelangweilt sah ich Haruki dabei zu, wie er die Computerarbeit verrichtete und Pflegeplanungen durchcheckte. „He, Mathilda, sind dir die Leute von unserem Neuzugang bekannt?“, fragte er mich recht spontan und ich wurde geistig wieder wach. „Ähm, mehr oder weniger. Du weißt doch, ich habe früher gebladet. Ich kenne Kai noch von Turnieren.“ „Ach so… Ich dachte schon er wäre dein Exfreund oder ähnliches…“, sagte er und lachte, als er mir ins Gesicht sah. „N-Nein, ist er nicht…“ „Schon okay, bleib ruhig. Er scheint ganz okay zu sein… Aber sein Großvater, meine Güte.“ „Wieso?“, fragte ich, ich war den Rest des Tages nicht mehr bei Voltaire gewesen, Haruki hatte das alles übernommen. „Der gute Mann ich ziemlich bestimmend und gereizt. Ist für die ersten Tage normal, aber wenn er weiter so frech zu mir ist, lass ich mir das nicht mehr gefallen. Ich bin eine Pflegekraft, kein Butler oder was.“ „Aber was willst du machen, Haruki?“ „Ihm klar machen, dass er so nicht mit uns umspringen kann. Mir müssen uns um die Leute kümmern und das geht nur auf friedlicher Basis. Und wenn das nicht funktioniert, dann müssen wir ihm zeigen, dass er mit uns nicht so umspringen kann. Das nennt man Machtkampf.“ Seufzend, aber erleichtert schaltete er den Computer aus und warf sich in den Stuhl. „Außerdem haben wir einen Vorteil - Er ist Raucher!“ „Und… Weiter?“ „Wir haben somit ein Druckmittel, sollte er versuchen uns auf der Nase rumzutanzen“, grinste er überzeugt und zufrieden, während mir ein groteskes Bild vor Augen erschien, der seinen Spruch wortwörtlich wiedergab. „Aber ist das nicht Erpressung?“ „Moralisch gesehen, schon… Aber damit musst du in diesem Bereich rechnen, manche Leute sind einfach unberechenbar, sei es an den Psychosen oder an ihrem Charakter. Wenn diskutieren nicht hilft ist Zigarettenverbot ein Mittel zum Ruhigstellen, ohne dass man Gewalt oder Medikamente anwenden muss. Das gehört zum Machtkampf. Es ist nicht nett, aber darum geht es nicht. Wenn sie merken, dass wir nicht alles mit uns machen lassen, ist dass auch für unsere und ihre Sicherheit besser.“ So gesehen hatte er wohlmöglich Recht. Ich kannte Geschichten von meinem Vater, wo es schon zu Schlägereien und Morddrohungen unter den Leuten gekommen war. Unberechenbar traf es da wirklich gut, aber man wollte das ja friedlich lösen. Dann lieber so als gar nicht, wenn es mir nicht in den Kopf wollte. Es war eben nicht freundlich den Leuten gegenüber, immerhin waren sie krank… Oder vielleicht gerade deswegen sollte man so handeln, weil sie eben krank sind? Von der offenen Station kannte ich das natürlich nicht. Hinter den Leuten hier steckte sehr oft viel mehr, als man glaubte, so unscheinbar sie wirkten… Als Haruki und ich am Sonntagmorgen wieder an unserem Arbeitsplatz kamen und unsere Sachen in unserem Stationszimmer ablegen wollten, waren wir überrascht dass, A, dieses offen war und, B, die Arbeitskittel, die hier für die anderen Arbeiter aufgewahrt wurden überall auf dem Boden verteilt waren. Allerdings hatten wir uns nicht viel dabei gedacht und gaben uns mit der plumpen Idee zufrieden, dass wir die Tür vergessen hatten abzuschließen und die Klamotten einfach aus dem Schrank gefallen waren. Wir machten uns keine Gedanken darum mehr. Als Haruki aber die Medikamente richtete und ich die Sachen für das Frühstück, kam unsere Stationshilfe, die Schwestern, die beim Frühstück und ähnlichem halfen aufgebracht zu uns gerannt. „Haruki! Haruki! Herr Hiwatari ist nicht mehr auf Station.“ „Bitte?!“, platzte es aus uns beiden heraus. „Kann gar nicht sein, wie soll er weggekommen sein?“ „Weiß ich nicht, aber ich hab schon die ganze Station abgesucht und auf den Anderen nachgefragt.“ „Scheiße. Bestimmt ist er abgehauen“, fluchte mein Kollege und blickte ganz überraschend gleich zu mir. „Ich sag am Eingang Bescheid, die sollen niemanden rauslassen. Und, Mathilda, du schaust draußen, vielleicht ist er noch auf dem Gelände.“ „I-In Ordnung.“ Mit meiner Weste über den Schultern eilte ich nach draußen in unseren eigenen, kleinen Park. Viel zu sehen war davon allerdings nicht, es waren keine Blumen und Blätter mehr da, der Himmel war grau und noch dunkel. Ob er wenigstens daran gedacht hatte sich eine Jacke anzuziehen? Ich hatte schon von Leuten hier gehört, die bei so einem Wetter nur in Unterwäsche draußen rumspazierten. Ich zitterte heftig, als mir ein kalter Wind entgegenkam und knöpfte die Weste zu, ehe ich mich auf den Weg machte. Ich ging einmal um das Gebäude, dann zum Teich, zum Eingangstor, zu dem Gehege, in dem im Sommer die Kaninchen waren, doch nirgends eine Spur von ihm. Doch ich gab nicht auf und fand ihn schließlich… Auf einer Bank in unserer Gartenanlage, höchstzufrieden und mit einer Zigarette im Mund. „Na, auch endlich da? Aber alle Achtung, ich hätte dich erst in sieben Minuten erwartet“, lachte er zynisch und blies den Rauch seiner Zigarette in die Luft. „W-Wie sind Sie hierhergekommen? Ohne Begleitung dürfen Sie nicht raus, dass hat Ihr Enkel so bestimmt.“ „Ich weiß. Aber ich hatte keine Lust auf euch Transusen zu warten. Also hab ich die Tür eures Raumes aufgebrochen, mir einen Kittel geliehen und den Nächstbesten darum gebeten die Tür aufzuschließen, weil ich meinen Schlüssel verloren hätte.“ Ich musste gestehen, dumm war das wirklich nicht. Vermutlich hatte der Nachtdienst oder ein verspäteter Besucher ihn rausgelassen, die kannten ihn ja nicht. Und es würde auch erklären, warum unsere Arbeitskleidung auf dem Boden lag. „Wirklich clever…“ „Kinderspiel, darauf wäre jeder Idiot gekommen“, sagte er triumphierend und zog noch einmal an seiner Zigarette. „Nicht unbedingt, nicht jeder kann eine Tür aufbrechen. Aber nun kommen Sie. Rauchen Sie die Zigarette fertig, dann gehen wir wieder rein.“ „Warum sollte ich?“, fragte er uninteressiert und sah mich auch nicht an. Meine Hand, die ich ihm freundlich entgegenstreckte ließ er unberührt. „Ähm, weil Sie nur mit Begleitung raus gehen dürfen?“ „Und weiter? Du bist doch jetzt hier, da ist das doch kein Problem.“ „Aber ich muss wieder rein. Haruki ist ganz alleine auf der Station.“ „Soll ihm jemand anders helfen.“ „Aber es ist niemand anders da, der ihm helfen kann. Ich wurde doch extra gerufen, um ihn das Wochenende über zu unterstützen. Kommen Sie schon.“ „… Nö.“ Erneut nahm er einen kräftigen Zug und blies den Rauch so, dass er sich in der Luft zu Ringen formte. Es war offensichtlich, er nahm mich nicht ernst. Aber natürlich, ich war keine Fachkraft, nur eine junge, unerfahrene Praktikantin, mich konnte man so behandeln. Vor so jemanden hatte jemand wie er keinen Respekt. Aber ohne ihn gehen konnte ich auch nicht. „Dann… Dann kriegen Sie keine Zigaretten heute mehr“, sagte ich zu ihm und versuchte dabei ernst zu klingen und ebenso ernst zu schauen. Tatsächlich wirkte Voltaire überrascht, doch ganz anders wie erwartet brach er darauf in schallendes Gelächter aus. In lautes Gelächter und er hörte gar nicht mehr damit auf. „Lieber Gott, du bist ja richtig lustig. So gut habe ich mich schon lange nicht mehr amüsiert“, lachte er, gleichzeitig nach Luft schnappend und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sein Lachen wurde leiser, aber hörte nicht auf und ich kam mir noch lächerlicher vor. Haruki's Tipp war wohl doch nicht so hilfreich… Ich wusste, ich hätte es sein lassen sollen. „Zu komisch. Na gut, ich komme mit dir. Als Belohnung für diesen wunderbaren Scherz.“ „Das ist zu freundlich von Ihnen“, stöhnte ich nur enttäuscht. Ich hatte zwar das erreicht was ich wollte, aber wie ich es erreicht hatte war nur beschämend. Ihn in die Augen zu sehen war nur noch peinlich und auch auf Station versuchte ich ihm, ob direkt oder nicht, aus dem Weg zu gehen. Sein schadenfrohes Grinsen wollte ich mir nicht auch noch antun, am liebsten wollte ich gar nicht mehr an ihn denken. An ihn denken wusste ich an diesem Sonntag dennoch wieder. Während meiner alleinigen Mittagsschicht von halb Eins bis Vierzehn Uhr, kam Kai zu Besuch. Für seine Verhältnisse, die ich noch in Erinnerung hatte, schien er ganz gut gelaunt. Allerdings hatte sich diese Gemüt sicherlich verzogen, als er zu seinem Großvater kam. Das Geschrei wollte gar nicht mehr aufhören. „Das du es über WAGST mir unter die Augen zu kommen!!! So einer wie du will die Firma leiten?! Jeder Idiot könnte das besser als du! DU BIST EINE SCHANDE FÜR DIE FAMILIE, KAI!“, hallte es schon zum dritten Mal an diesem Mittag durch die Flur bis hin zum Speiseraum, wo ich gerade das Geschirr vom Mittagessen wegräumte. Mit zehn Teller im Arm stand ich unter dem Türrahmen und blickte eingeschüchtert in die Richtung, wo sich Voltaire Hiwatari's Zimmer befand. Er wiederholte seine Sätze immer wieder, vermutlich hing dies aber mit seiner Schizophrenie zusammen. „Sagen Sie, Schwester, was ist denn da los?“, fragte ich einer der älteren Herren, der in seinem Rollstuhl saß und zu mir aufschaute. „Ich weiß nicht. Scheinbar verstehen sich Herr Hiwatari und sein Enkel nicht so gut.“ „Der sollte froh sein, dass er noch einen Enkel hat“, sagte eine ältere Dame verärgert und trank den Rest Tee aus ihrer Tasse. „Ich wäre froh, wenn meine Enkelkinder mich besuchen kommen würden. Und er, er schreit ihn auch noch an. Unverschämt ist das.“ „Na ja… Recht haben Sie schon…“, murmelte ich nachdenklich und hörte mir das Geschrei weiter an, wobei ich nur Voltaire's Stimme vernahm. Kai schien zumindest noch einen normalen Ton zu haben. Was da wohl zwischen ihnen war? Schon am ersten Tag schien die Beziehung zwischen ihnen kritisch. „VERSCHWINDE BLOß, GENAU WIE ES DEIN VERSAGER VON VATER GETAN HAT!!! ICH WILL DICH NICHT MEHR SEHEN!!!“, hallte es noch ein letztes Mal und dann kam Kai um die Ecke gelaufen. Er schien kaum berührt, aber doch etwas gestresst. Er stoppt sofort, als er meinen entsetzten Blick sah. „Nun schau nicht so. Dieses Verhalten ist ganz alltäglich“, antwortete er, zu meiner Fassungslosigkeit sehr gelassen. „Alltäglich? Heißt das, dass ist immer so bei euch?“ „Och, du armer Bub“, klagte die Dame mit der Teetasse mitleidig. „Du tust mir Leid.“ „Ich habe mich daran gewöhnt. Es ist nicht sehr verletzend, was er sagt. Aber die Lautstärke könnte etwas niedriger sein. So sind die Besuche nur Quälerei. Im Krankenhaus allerdings war er schlimmer.“ „Aber… Wieso besuchst du ihn, wenn er so zu dir ist?“, fragte ich ihn ohne jedes Verständnis. Nachdenklich schaute er von mir weg und verschanzte die Hände in den Hosentaschen. „Er ist mein Großvater… Mein Vater verschwand und meine Mutter starb. Er war alles, was ich hatte. Er hat mich großgezogen. Nicht immer vorbildlich, aber bevor seine Schizophrenie wieder ausbrach, hatten wir viele schöne Momente. Er ist ein Ekelpaket… Aber ich liebe ihn nun einmal. Von mir aus kann er mich weiter anschreien, mir macht das nichts aus.“ „Ich verstehe…“, sagte ich, wenn ich es auch nicht wirklich tat. Vielleicht hing dieses Verhalten mit seiner Schizophrenie zusammen, aber wenn ich mir so etwas, tagein, tagaus immer wieder anhören müsste von einem geliebten Menschen, würde mein Herz zerbrechen. Es überraschte mich, dass Kai so gelassen blieb, sogar mit einem Lächeln ging und versprach bald wiederzukommen. Haruki erzählte ich nichts davon, ich wollte mir alleine darum Gedanken machen. Ich nahm mir vor Voltaire selbst zu fragen, hatte aber zu viel Angst. Er schien schlecht gelaunt, als ich abends in sein Zimmer kam. Also gab ich ihm einfach seine Abendedizin und verschwand wieder in unser Stationszimmer. Vielleicht sollte ich mich da einfach raushalten. Es ging mich absolut nichts an. Und der Mann war psychischkrank. Selbst wenn ich alles wüsste, erreichen könnte ich nichts. Schizophrene Menschen beharren auf ihren Glauben, ihre Theorien und ihren Vorstellungen. Das Einzige zudem ich mich an diesem Abend noch aufraffen konnte war Voltaire's Krankenakte zu lesen, mit ein paar persönlichen Angaben zur Person. Während ich las, blieb ich nach kurzer Zeit an etwas hängen, dass zwischen dem Geburtsort und der Konfession stand… Familienstand, verwitwet. Das »verwitwet< stach mir hierbei besonders ins Auge, wieso auch immer. Es gab viele Leute in unseren offenen Stationen, die verwitwet waren. Zwar las ich alle anderen Angaben mit derselben Begeisterung, allerdings blieb gerade diese Angabe im meinem Gedächtnis hängen. Wieso ich mich im nachhinein näher darüber informierte war mir selbst nicht ganz klar. Aber ich tat es und wurde auch fündig. Die Frau von Voltaire Hiwatari starb im Alter von 36 Jahren an Krebs. Dazu die Tochter, Kai's Mutter, die mit 36 Jahren bei einem Autounfall umkam… Nach diesem Wochenende hatte ich erst einmal drei Tage frei. So war das Arbeitsverhältnis bei uns. Man war zwölf Stunden im Geschäft, zwei bis drei Tage und bekam schließlich ein paar Tage frei. Ich hatte die Erholung auch ehrlich gesagt etwas nötig, nach diesem stressigen Abenteuer auf der geschlossenen Station, an die ich, und ganz besonders an Voltaire, nicht mehr denken wollte. So schnell würde ich dort auch als ungelernte Kraft auch nicht mehr hinkommen. Und obwohl ich nicht so denken sollte, ich war froh darum. Donnerstags kam ich wieder ins Geschäft und traf auf den Weg zur Umkleide die Putzfrauen, aber auch Leute von der Betriebsleitung, die lautstark von Voltaire Hiwatari redeten. Kai war die letzten drei Tage immer gekommen und immer wieder kam es zum Streit. Ich war erleichtert, dass ich dies nicht miterleben musste und dass ich wieder auf der offenen Station war. Leute mit Demenz waren auch nicht einfach, aber sie waren oftmals freundlicher. Und auch amüsanter, wenn es auch in vielen Fällen schwerer war, sie morgens zu waschen und einzukleiden. Meine Tante betonte nur immer wieder zu gern, dass sie den Hut vor mir zog, dass ich diesen Beruf lernen wollte. Doch manchmal fehlte selbst einem geduldigen Menschen wie mir die Nerven zum durchhalten. Dass hatte ich auf der geschlossenen Station gemerkt. „Wie war es überhaupt auf der geschlossenen Abteilung? Ich war da noch nie“, fragte mich eine meiner beiden Kolleginnen, als wir am Frühstückstisch saßen. Haruna und Mitsuki waren die Ersten gewesen, mit denen ich hier zusammen gearbeitet hatte und die mir auch am meisten beigebracht hatten. Unser Verhältnis zueinander war bestens und ich war immer froh, wenn ich mit ihnen am Tisch saß. Bei ihnen fiel es mir auch leichter, ein wenig gelassener zu sein. Wenn auch nur ein wenig. „Ach, da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen, Haruna. Ähnlich wie hier, nur das die Leute jünger sind. Aber ich bin froh, wenn ich die nächste Zeit nicht mehr dorthin muss“, seufzte ich schwer, meine Kolleginnen belächelten mich dabei nur. Nun gut, sie waren auch schon länger hier und waren schon in jeder Abteilung tätig. Kaum dass ich in mein Brötchen gebissen und einen Schluck Kaffee genommen hatte, ging die Tür unseres Schwesternzimmers auf und mein Chef kam grinsend herein. „Guten Morgen, meine Damen.“ „Morgen“, grüßten wir zurück und dann sah er auch schon gleich zu mir. „Ich muss euch leider sagen, dass mein Besuch nicht ohne Hintergedanken ist. Wir haben jemand von der geschlossenen Abteilung in den Nachdienst schicken müssen. Mathilda, du gehst nach dem Frühstück dann auf die Zwölf.“ Ein wenig schockiert ließ ich mein Brötchen auf den Teller fallen. Das konnte doch nicht wahr sein. Nein, ich wollte nicht auf die Station Zwölf! Nicht die Zwölf!!! Nicht solange Voltaire Hiwatari dort war! „Mathilda? Geht es dir nicht gut?“ „Doch, doch, blendend“, sagte ich mit einem gezwungenen Lächeln und die beiden merkten, dass ich über diese Entscheidung nicht erfreut war. Mitsuki klopfte mir sogar noch aufmunternd auf die Schultern, als ich nach meinem ungenießbar gewordenen Frühstück aufstand und mich auf den Weg auf die geschlossene Station machte. Bevor ich aber ganz die Station betrat, schaute ich durch die Glastür. Kein Voltaire, weit und breit. Zögernd trat ich ein und wurde von den Bewohnern herzlichst begrüßt. Ich erwiderte schüchtern, auch als mein Kollege kam, zu meinem Glück wieder Haruki und mit noch einer Pflegekraft. „Hi, Mathilda. Haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.“ „Ja, viel zu lange“, lachte ich ihn an, seine ältere Kollegin schüttelte mir die Hand. „Hallo, Schwester Erika mein Name. Ich hab es schon gehört, du bist die Tochter von Takeshi, diesem verrückten Hund, richtig?“ „Ähm, ja…“, antwortete ich viel zu leise. Ich vergass immer wieder, dass mein Vater eine regelrechte Berühmtheit im Heim war. Er arbeitete schon seit beinah dreißig Jahren hier, daher auch die gute Beziehung zu seinem Chef. „Aber gut, dass wir dich hier jetzt haben, da geht der Tag uns leichter von der Hand. Haruki, du richtest die Medikamente, ich seh nach, ob wir Getränke oder Material bestellen müssen. Außerdem ist heute Blutabnahme angesagt, ich muss jetzt den Arzt anrufen, der braucht schließlich fünf Stunden um überhaupt hierher zu finden. Mathilda, du bist so lieb und schaust, dass die Leute viel trinken. Ist zwar Winter, aber im Alter kann man nie genug davon haben. Also los!“, rief sie voller Elan und zog schon die ganzen Ordner mit den Akten aus den Regalen. Ein unheimlicher Tatendrang, den ich doch etwas beneide. Ich konnte das nicht so einfach. Ich käme mir dabei lächerlich vor. „Ich weiß, Erika ist etwas verrückt“, lachte Haruki mich an, scheinbar merkte er, dass mich ihr Verhalten eingeschüchtert hatte. „Aber sie ist eine echt gute Krankenpflegerin. Und mit ihr zu arbeiten macht richtig Spaß. Also machen wir, dass wir zum schaffen kommen, sonst wird sie noch böse und schlägt uns.“ „Aber Haruki, was unterstellen Sie der Schwester Erika?“, fragte ein Bewohner ihn ganz empört, der die ganze Zeit Zeitung gelesen hatte. „Schwester Erika schlägt uns schließlich immer.“ „Stimmt, ha, ha!“ „Hey, ihr zwei, Klappe zu oder ich hol den Rohrstock raus!“, schrie sie den beiden Männern zu, die sich immer noch lustig darüber machten. Ich stand zwischen den beiden und ich hatte Schweißausbrüche, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich entschied mich schließlich zu keinerlei Kommentar und ging meiner Arbeit nach. Scheinbar waren sie genauso verrückt wie unten auf den offenen Station, was nicht unbedingt schlecht war. Aber für mich war das einfach nichts. Ich ging einfach meiner Arbeit nach und glaubte damit genug getan zu haben, wenn es auch nicht viel war. Bei Blut abnehmen zum Beispiel, mir fehlte das Wissen (witzigerweise hatte Erika Recht gehalten, zwischen dem Anruf und des Auftauchen des Arztes waren tatsächlich fast fünf Stunden vergangen). Außerdem durfte ich als Praktikantin auch nicht, wie so manches. Aber scheinbar wussten das die Bewohner nicht. „Schwester!“, rief mich ein Herr mittleren Alters, als ich dabei war die angekommene Wäsche in die Schränke zu räumen. Erika war noch mit der Blutabnahme beschäftigt, Haruki in seiner Pause. „Ja? Kann ich etwas für Sie tun?“ „Schwester, mir geht es nicht so gut. Könnten sie mir meine Medizin geben?“, fragte er wehleidig, ich schluckte aber. Ich wusste, Bewohner hatten eine Standard- und eine Bedarfsmedizin. Allerdings ist bei beiden die Menge genau vorgeschrieben und nur gelernte Kräfte durften die verteilen. Einfach rausrücken dürfte ich nicht. Zumal dann auch noch der Punkt kam, dass einige Bewohner gerne Unwissende anlogen, weil bei ihnen Suchtgefahr bestand, wie bei diesem Herrn. „I-ich darf aber nicht einfach so Medikamente verteilen. Ich bin Praktikantin, ich bekomme Ärger.“ „Muss doch keiner Wissen, hol einfach welche, ich verrate nichts.“ „Hören Sie, ich darf nicht.“ Aus seinem gequälten Blick wurden schnell ein finsteres Funkeln und ich bekam tatsächlich etwas Angst vor ihm. Ich glaubte nicht mehr, dass es ihm wirklich schlecht ging, doch wollte ich ihm absolut nicht den Rücken zuwenden. Was dann kommen würde... Ein Stuhl flog plötzlich an uns vorbei, genau zwischen den Mann und mir und landete laut knallend auf dem Boden. Seitlich von uns saß Voltaire am Tisch und nippte am Tee, den er vor einer Stunde bekommen hatte und angeblich nicht trinken wollte. „Such dir ein anderes Hobby. Kleinen Mädchen Angst einjagen, wie erbärmlich“, keifte er den Bewohner an und tatsächlich ging dieser sofort. Also hatte er den Stuhl nach ihm geworfen? War das etwa ein Beschützungsversuch? Ich sah ihn ganz überrascht an und traute mich tatsächlich direkt zu ihm zu gehen. „Danke sehr. Das war sehr nett von Ihnen.“ „Hatte ich eine andere Wahl? Bei deinem mangelnden Selbstbewusstsein konnte einem nur schlecht werden. Mit so Leuten braucht man nicht zu diskutieren, sie können und wollen das nicht kapieren. Ihnen einfach den Rücken zu kehren ist das Vernünftigste“, erklärte er. Es traf mich zwar innerlich, erleichtert blieb ich trotzdem. „Sie kennen sich gut aus…“ „Verständlich. Ich gehöre schließlich ebenfalls du diesen Spinnern.“ Dann stand er auf, ich behaupte sogar etwas geknickt und ging von mir weg. Ich sah ihm nach und fragte mich, ob Kai überhaupt bei ihm war. Vielleicht in meiner Pause, aber dann hätte ich ihr Geschrei sicherlich mitbekommen, schließlich hatte ich die Station nicht verlassen. Ich hatte allerdings ganz nebenbei von Erika gehört, dass Kai sich entschuldigt hatte, er hatte für die Uni zutun und noch Termine. Ob Voltaire deswegen so geknickt schien? Aber es passte nicht mit ihren Streitereien zusammen. Er sagte doch immer, er wollte Kai nicht wiedersehen. Aber mir hat er geholfen, obwohl ich überzeugt war, dass er mich nicht besonders mochte und es auch nicht zu übersehen war. Oder war er mittlerweile doch so verwirrt durch seine Krankheit? Es war komplex. „So ihr Lieben“, seufzte Erika am Abend zufrieden und streckte sich. „Ich geh schon mal runter zum duschen. Ich freu mich schon den ganzen Tag drauf.“ „Wir haben aber noch kein Feierabend“, sagte Haruki, eingeschnappt, dass er wieder an den Computer sitzen musste. „Na eben, wenn ich jetzt gehe bin ich rechtzeitig vor Feierabend fertig. Es ist ja ruhig und Mathilda ist auch noch da. Bis gleich dann!“ „Bis gleich“, winkte ich ihr schmunzelnd nach, als sie aus der Tür ging. Haruki schreckte dann plötzlich auf. „Hey, haben wir Herrn Hiwatari seine Medikamente gegeben?“ „Ich glaube… Nein“, antwortete ich, als ich genau vor mir den kleinen, blauen Becher mit den Tabletten stehen sah. „Sei so lieb und gib sie ihm grad, dann kannst du auch gehen.“ Ohne weiter zu fragen schnappte ich mir den Becher und ging zu ihm. Kai war den ganzen Tag nicht gekommen, vermutlich war Voltaire immer noch traurig. Aber dann würden sicherlich auch keine bissigen Kommentare kommen. Vor seinem Zimmer blieb ich aber stehen, die Tür war auf, alles war aber dunkel. Ich hatte schon damit gerechnet, dass er wieder abgehauen sei. „Herr Hiwatari?“, rief ich und durch das Licht im Flur, dass in das Zimmer fiel sah ich ihn auch gleich auf dem Boden sitzen. „Oh Gott!! Herr Hiwatari, geht er Ihnen nicht gut?“, fragte ich ihn, als ich mich zum ihm runter kniete, doch ich glaubte kaum was ich sah… Er weinte. Die Augen waren leer, dass Gesicht besaß keinen Ausdruck, doch dicke Tränen liefen aus den Augen. „Herr Hiwatari, ist Ihnen schlecht? Soll ich mal lüften?“, fragte ich, stand aber trotzdem auf, obwohl keine Antwort kam. Die Luft war auch schlecht, und es roch nach Qualm. Bestimmt hatte er im Zimmer geraucht. Ich hatte noch nicht einmal das Fenster berührt, da fing er plötzlich an zu schreien. „NICHT! LASS ZU, SONST KANN ER HIER REIN!!!“ Ich zuckte heftig zusammen und durch den Schreck raste mein Herz. Sogar zu zittern hatte ich angefangen. Ohne darüber nachzudenken was für einen Bedeutung sein Satz hatte, half ich ihm hoch und setzte ihn auf sein Bett. Doch das Weinen und Jammern hörte nicht auf und ich war vollkommen überfordert. Ich wusste nicht, was ich in so einer Situation tun sollte. Und vielleicht hatte er wirklich körperliche Schmerzen oder einen Anfall. Es war eine reine Stresssituation für mich gewesen, ich bekam schon Schweißausbrüche. Am besten war es, ich holte Haruki, alleine könnte ich mit meinem mangelnden Wissen und der Erfahrung nichts unternehmen… „Kommt mein Enkel morgen?“ Ich blieb stehen, ich hatte den Raum kaum verlassen und sah Voltaire wieder an. Er saß aufrecht, die Augen wieder klar, nichts hinterließ den Anschein, dass er eben einen Gefühlsausbruch hatte. Gar nichts. Es war zwar ein Element der Schizophrenie, aber es zu sehen erstaunte mich. Ich war leicht neben mir, fing mich aber wieder und tat, als sei nichts gewesen. „Ich weiß nicht, ob er kommt. Aber bestimmt.“ „Schade… Ich hoffe, er kommt nicht mehr.“ „Wie können Sie das sagen? Er ist ihr Enkel, er hat sie lieb und er macht sich Sorgen“, schimpfte ich, überrascht von mir selbst. Aber Kai gegenüber war das nicht fair und so etwas sagte man nicht. Unbeeindruckt nahm Voltaire die Tabletten, die ich auf den Nachttisch abgestellt hatte und redete weiter. „Mädchen, du weißt bestimmt, dass meine Frau schon lange tot ist. Ihr Pflegekräfte wisst ja immer sehr viel durch eure tollen Unterlagen.“ „Ja…“, antwortete ich und dachte wieder an meine Recherchen. Ich wollte schon die Todesursache seiner Frau nennen, doch er fiel mir ins Wort. „Weißt du, wie sie gestorben ist? Der Alte da…“ Er verstummte kurz, er hob seine Hand und deutete mit dem Finger zum Fenster. „Mein Vater hat sie mir weggenommen. Er hat sie geholt. Die Ärzte meinen sie wäre krank gewesen, aber es war er. Er konnte mich noch nie leiden, weil ich kein Wunschkind war. Als Kind hat er mich immer mit den Gürtel verschlagen.“ Mein Hals wurde trocken und mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte gehen, konnte aber nicht. Wieso erzählte er mir das? „Ich war rebellisch, ich habe nie gemacht, was er sagte. Und weil ich nach seinem Tod nicht das tat, was er wollte hat er mir meine geliebte Frau weggenommen. Doch ich gehorchte immer noch nicht… Und dann, ja, dann holte er meine Tochter, kaum dass sie 36 wurde… Wie meine Frau…“ „Aber…“, fing ich an, hielt aber den Mund. Es machte keinen Sinn, aber ich verstand es. Durch die Schizophrenie glaubte er wohl, sein Vater würde ihn verfolgen und weiter bestrafen. Auch keine ungewöhnliche Diagnose. Und für den Tod seiner Frau und seiner Tochter machte er sich verantwortlich… „Und jetzt wartet er auf Kai. Er will ihn auch holen, weil er weiß, dass Kai alles für mich ist. Es dauert nicht lange, dann ist auch Kai 36 und dann wird mein Vater ihn holen. Er will ihn, um mich zu quälen. Nur wegen mir! Er steht vor dem Fenster und wartet darauf, dass er kommt.“ Während er sprach, bebte sein ganzer Körper. Ich wollte schon wieder nach Haruki rufen, doch er beruhigte sich schnell wieder. „Kai kommt, weil er mich lieb hat, aber wenn er mich nicht mehr liebt, kommt er auch nicht mehr und mein Vater kann ihn nicht holen. Dann schaut mein alter Herr dumm. Ich muss mich nur weiter anstrengen. Ich bin ein ekelhafter Mensch und dass sollen alle, besonders Kai sehen. Dann wird er sich auch von mir abwenden, ehe er 36 ist und ist in Sicherheit, dann kann ihn mein alter Herr nicht finden. Meinst du das klappt, Mädchen?" Ich antwortete erst nicht, ein dicker Kloß im Hals erstickte meine Stimme. Und wenn es vermutlich das Aufopfernste war, dass ich jemals gehört hatte, war es einfach traurig. Todtraurig. „Be… Bestimmt…” Und genauso wie er noch vor einigen Minuten in diesem Raum geweint hatte, stand ich vor ihm, mit dem Gesicht voller Tränen und es wollte nicht mehr aufhören. Ich bemitleidete ihn. Er wollte nur seinem Enkel retten, obwohl es nichts zu retten gab. Und machen konnte niemand was dagegen. Diese verdammte Krankheit hatte ihm das eingeredet und bis zu seinem Tod würde er darauf beharren. Oder bis er ganz einsam war. Und die Vorstellung, wie er allein zu Hause saß und schizophren wie er war, noch zufrieden sei, zerriss mir das Herz immer wieder. Voltaire war ein herzensguter Mensch… Und ich bereute es, dass ich so schlecht von ihm gedacht hatte… „Meine Güte, was heulst du denn jetzt wieder rum?“, sagte er streng zu mir. „Kein Wunder, dass die Leute dich nicht ernst nehmen. Sei etwas tapfer und steht gerade. Wenn du so verbissen bleibst und nicht etwas lockerer wirst, wird nichts aus dir. So was darf dich nicht gleich aus der Bahn werfen.“ „Okay… Ich strenge mich an… Gute Nacht, Voltaire…“ Schlurzend verließ ich sein Zimmer wieder, immer noch mit Tränen im Gesicht. Voltaire sagte nichts mehr, aber er hatte mich sachte angelächelt. Ich stand lange im Flur und versuchte mich zu beruhigend, was mir einfach schwer viel. Dieses Bild wollte nicht aus meinem Kopf. „Guten Abend” „Abend. Doch noch geschafft?“, erklang Haruki's Stimme von weitem und Kai kam mir entgegen gelaufen. Er sah mich zum Glück nicht sofort und ich hatte noch Gelegenheit, meine verheulte Fassade aus dem Gesicht zu bekommen. „Guten Abend, Kai.“ „Hallo. Entschuldigung, aber die Termine hatten sich etwas gezogen, deswegen komme ich so spät.“ „Ach, dass macht nichts“, lächelte ich ihm entgegen und merkte, wie Kai den Flur hinunterschaute. „Und, wie war mein Großvater so die letzten Tage? Hat er viel Ärger gemacht?“ „Nun…“, begann ich und wollte ihm eigentlich sofort sagen, was vor einigen Minuten passiert war. Aber ich zögerte. Auch wenn ich nicht wollte, dass dieser arme Mensch wohlmöglich den Rest seines Lebens alleine blieb, als Gefangener seines eigenen Verstandes… Ich konnte nicht. Ich konnte seine Arbeit und Mühen nicht einfach zu Nichte machen, auch wenn sie nur Ergebnisse eines kranken Kopfes waren… „Ja… Er war fast unerträglich. Er hat uns das Leben zur Hölle gemacht…“ „Das dachte ich mir“, sagte er und lächelte, aber nur ein wenig. „Aber du nimmst dir dass nicht mehr zu Herzen, oder? Er ist einfach so und ändert sich nicht, aber du musst dagegen halten, Mathilda. Dass konntest du beim Beybladen immer ganz gut.“ „Du hast darauf geachtet?“, fragte ich ihn verblüfft. „Wenn es um die Taktik meiner Gegner geht... Aber die Technik musst du auch im Beruf anwenden. Nicht zu ernst nehmen und mit Selbstbewusstsein und der richtigen Haltung entgegentreten. Dann wirst du auch mit so einem wie meinem Großvater fertig.“ „Ich werde mich daran halten.“ Komisch… Nicht genau ausdrückt wie er, aber im Grunde hatte Voltaire das Gleiche zu mir gesagt… „Ich werde kurz zu ihm gehen. Vielleicht ist er zum Rumbrüllen zu müde.“ „N-NEIN!“, rief ich ihm hinterher und versperrte ihm den weg. Er war nicht erfreut darüber, aber ich wisch nicht. Ich hielt stand. „Ihm geht es nicht so gut… Wir haben ihn Medizin gegeben, er schläft tief und fest. Es wäre unklug, ihn zu wecken.“ „Hm… Wohlmöglich… Wohlmöglich ist es so oder so besser, wenn ich nicht so oft komme. Dann wird er ruhiger, ist für euch auch besser.“ „Und für dich, Kai?“ „Dass ist nicht unbedingt wichtig. Die Gesundheit meines Großvaters geht vor.“ Wieder zerriss es fast mein Herz, aber ich wollte die Wahrheit nicht aussprechen. Ich ließ zu, dass er ging und ich fühlte mich elend. Bevor ich die geschlossene Abteilung verließ, sah ich noch einmal Voltaire im Türrahmen seines Zimmers stehen. Er winkte leicht mit der Hand und lächelte zufrieden. Ob er das Gespräch mitbekommen hatte? Und dass er realisiert hatte, was er mir erzählt und ich getan hatte? In allen Fällen wohl ein klares Ja. Und ob er auch wusste, wie unheimlich Leid er mir tat? Ich nickte, anscheinend fröhlich zu ihm zurück und ging. Vielleicht fanden ihn alle widerwärtig und er wollte es auch so. Ich konnte ihn nicht davon abbringen, so sehr ich es mir wünschte… Ich bemitleidete und schätze doch diese abstrakte, aber reine Form der Güte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)