Zwischen Tag und Nacht von abgemeldet (Schwerelos) ================================================================================ Kapitel 1: Zwischen Tag und Nacht --------------------------------- Das Geräusch ihrer rhythmischen Flügelschläge riss ihn aus seinen Gedanken. Instinktiv drehte er den Kopf in ihre Richtung, um ihr entgegen zu sehen. Dass bei seinen leicht ungelenken Bewegungen keine Steinchen in die Tiefe stürzten, kümmerte ihn in diesem Moment nur wenig. Er war froh sie zu sehen und diese Freude konnte ihm niemand nehmen. Wie lange er hier schon gestanden und gewartet hatte, konnte er nicht mehr sagen. Es musste eine halbe Ewigkeit vergangen sein, in der er sich an den kalten, nackten Fels in seinem Rücken gepresst hatte. Und gebetet hatte der Sims, auf dem er stand, möge nicht nachgeben. Aber jetzt war sie da und er hoffte von ganzem Herzen, dass sie ihm helfen möge. Er sah nicht viel von ihr, als er da so stand und ihr entgegensah. Sie hob sich nur als schwarze, leicht verschwommene Silhouette von der Sonne ab, die grell in ihrem Rücken stand und im Begriff war hinter dem Horizont hervor zu kriechen. Rotes Licht strömte über den Himmel, fing sich in den wenigen Wolken, die ihrer Wege zogen und warf Reflexe auf das helle Gefieder eines Vogels, der es sich irgendwann innerhalb der letzten halben Stunde auf einem winzigen Vorsprung oberhalb seines Kopfes bequem gemacht hatte. Und sie… sie erschien ihm schwerelos in der aufziehenden Dämmerung. Schwerelos und leicht. Mit einem leichten Flattern ihrer starken Flügel, blieb sie vor ihm in der Luft stehen. Er konnte förmlich spüren, wie sie ihn aus ihren tiefen, dunklen Augen musterte und er konnte beinahe sehen, wie sie innerlich den Kopf schüttelte. „Hilf mir…“, sagte er leise. Es war kaum mehr als ein Flüstern und wahrscheinlich erahnte sie seine Worte mehr, als dass sie hörte was er sprach. Oder sie konnte sich ohnehin denken, was er von ihr wollte. Den kleinen Talisman, den sie ihm damals, als sie sich das erste Mal getroffen hatten, gegeben hatte, hielt er fest in der Hand und die filigranen, silbernen Verzierungen bohrten sich schmerzhaft in seine Haut, als sich sein Griff darum erneut verstärkte. „Ich kann dir nicht helfen.“ Wie die unzähligen Male zuvor, so lief ihm auch jetzt ein eisiger Schauder über den Rücken, wenn er ihre Stimme hörte. Unwillkürlich richteten sich die feinen Härchen auf seinen Armen und im Nacken auf, schrieen förmlich danach davonzulaufen. Und einen Augenblick lang dachte er an nichts anderes als Flucht. Doch der Augenblick verflog mit dem nächsten Windhauch. Ihre Stimme strahlte eine unglaubliche Kälte aus. Und Grausamkeit. Hass auf alles, das lebte gepaart mit Neid auf dieses Leben. Ihre Stimme. Und der seltsame Ton, der bei ihren Worten darin mitschwang, schlug tief in seinem Innersten eine Saite an, von der er früher nie gedacht hätte, dass sie jemals in ihm klingen würde. Es war ein dunkler, böser Ton, den ihre Stimme in ihm verursachte. Und dennoch machte er ihr keinen Vorwurf. Nein, im Gegenteil. Sie tat ihm Leid. Sein Blick glitt über ihren schlanken Körper, die dunkle, beinahe schwarze Haut, huschte zu ihren schmalen Händen und den rötlich-schwarzen, ledernen Flügeln, die sie so sicher in der Luft hielten. „Meine Zeit ist beinahe um, Gabriel“, sagte sie leise. Immer noch schlug ihre Stimme diesen seltsamen Ton in ihm an. Immer noch jagte sie ihm Schauder über den Rücken. Aber jetzt hörte er auch den leisen Schmerz darin und die stumme Bitte sie gehen zu lassen. Er wusste, die Sonne bedeutete ihren Tod. Sie war ein Wesen der Dunkelheit. Der Nacht. Ein Dämon der Grausamkeit. „Ich kann dir nicht helfen.“ Der Schlag ihrer Flügel wurde unregelmäßiger. Schneller. Sie verlor an Kraft und er sah es. Er sah die kleinen Schweißperlen, die sich auf ihrer Stirn bildeten und sich ihre Wege über ihren Körper suchten. Feine, nasse Spuren hinterließen. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, strich ihm vorsichtig über das Gesicht. Ihre Haut war kalt. Nicht so kalt wie ihre Stimme, aber kalt genug, um ihn erbeben zu lassen. Oder waren es seine Gefühle, die ihn erbeben ließen? Er wagte es nicht darüber nachzudenken. Als sie die Hand wieder zurückzog, machte sich eine unglaubliche Leere in seinem Inneren breit. Seinerseits streckte er die Hand nach ihr aus, umklammerte ihr Handgelenk und ignorierte den dumpfen Schmerz, den ihre körpereigene Kälte ihm verursachte. Wie feine Nadeln stach ihre Kälte in seine Hand. Und dennoch ließ er sie nicht los. „Bleib. Bleib und hilf mir.“ Beinahe etwas Flehendes hatten seine Worte. Er sah ihren Körper erbeben, spürte die Regungen ihrer starken Muskeln unter seinen Fingern und er sah das leichte Zittern, das ihre Flügel erfasst hatte. Sie verlor Kraft. Immer mehr. Mit jedem weiteren Sonnenstrahl, der es schaffte die Dämmerung zu durchdringen und langsam in den aufkeimenden Tag zu verwandeln. Den Ausdruck in ihren Augen zu lesen viel ihm immer noch schwer. Obwohl er sie nun so lange Zeit gekannt hatte. Aber ihre Augen blieben ihm ein ewiges Rätsel. Schmerz, Trauer, Wut, Verzweiflung. Er konnte es nicht sagen, welches dieser Gefühle in ihrem Blick dominierte. Schmerz wahrscheinlich, denn sie stieß schwer die Luft aus, als die Sonne noch weiter den Himmel hoch wanderte. Ihr blieben nur noch wenige Minuten sich in die rettende Dunkelheit zurückzuziehen. Wenige Minuten und dennoch hielt er sie fest. „Gabriel…“ Von der Grausamkeit in ihrer Stimme war wenig geblieben. Nun schien sie ihm ein Aufbäumen des Schmerzes der Welt selbst, ein fast lautloser Schrei nach Hilfe, die ihr nun niemand mehr geben konnte. Und immer noch hielt seine Hand sie fest. Und schließlich erschien die Sonne in ihrer ganzen Pracht am Himmel und schickte ihre Strahlen in unglaublicher Stärke über die noch fast schlafende Welt. Und als diese kraftvollen Strahlen sie erfassten, da lief ein weiteres Beben durch ihren Körper und nun endlich ließ er sie los. „Es tut mir Leid“, sagte er, während er ihr nachsah, als sie in die Tiefe stürzte. Wie er ihren leblosen Körper beobachtete, der irgendwo in der Unendlichkeit versank. Armer, gefallener Engel… „Verzeih...“ Er öffnete die Hand und betrachtete den kleinen Talisman kurz, bevor er auch ihn in die Tiefe fallen ließ. Dann stieß er sich von der Felswand ab, sprang, und an seinen Schultern brachen mächtige, weiß gefiederte Flügel hervor, die ihn sicher durch die Luft trugen. Dorthin zurück, wo er hingehörte. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)