Flashing Thoughts von Saedy ================================================================================ Prolog: -------- Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit flog sie mit dem Gleiter über die Stadt und wich dabei vom Leitsignal ab, was ohne Genehmigung ein Verkehrsverbrechen ersten Grades darstellte. Doch das, was sie erwartete, wenn sie es nicht tat, war weitaus schlimmer. Sie schwitzte am ganzen Körper und doch war ihr so eiskalt wie selten zuvor in ihrem Leben. Es schien, als wolle die Angst selbst sie töten, bevor ihre Verfolger dazu kamen. Links unter sich konnte sie nun im, nur von den Lichtern der Stadt erleuchteten Dunkel, das Glitzern des Flusses erkennen. Sie war auf dem richtigen Weg. Ob sie es noch schaffen würde, war eine andere Frage. Vielleicht wollte sie das auch gar nicht mehr, nun, da sie ziemlich sicher war, dass ihr Mann getötet worden war. Doch es gab noch einen Grund weiterzuleben und deswegen durfte sie nicht so schnell aufgeben. „Landen Sie und ergeben Sie sich, dann wird Ihnen nichts passieren“, klang jetzt eine Stimme aus dem Funkempfänger und ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus. Sie war also entdeckt worden. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, zu entkommen, selbst wenn sie noch ein Versteck gekannt hätte, denn ihre Verfolger besaßen mehr als nur die gewöhnlichen Hilfsmittel, sie überall aufzuspüren. Solange ihr Verstand arbeitete, solange sie dachte, sandte er Signale aus, die erst dann erlöschen würden, wenn sie starb. Dagegen half die beste Abschirmung nichts. Sie hätte höchstens unter anderen Menschen untertauchen können, doch dafür war es nun zu spät, die Verfolger schon zu nahe. Die junge Frau setzte zur Landung an, denn in der Luft konnte man sie einfach abschießen, doch sie dachte nicht daran, sich zu ergeben. Sie kam auf der breiten Hafenstraße auf, nachdem sie sichergegangen war, dass kein Passant ihr im Weg war. Nun stieg sie aus dem Gleiter, ließ ihn einfach zurück und flüchtete durch die Straßen bis in einige dunkle Seitengassen. Außer Atem blieb die junge Asiatin stehen und fuhr sich durch die langen, schweißnassen Haare. Sie konnte ihre Verfolger nicht mehr spüren. War das ein gutes Zeichen? Hatten sie sie verloren? Oder war das nur ein weiterer Trick, um sie in Sicherheit zu wiegen? Mit starkem Seitenstechen lief sie so schnell sie konnte weiter, bog in die nächste Straße ein und fragte sich, ob das nun ihr Ende wäre. Solche Angst hatte sie noch nie verspürt, Todesangst. Oder gab es doch noch Hoffnung auf ein Entkommen, auf ein Versteck, in dem sie ewig würde ausharren müssen, in ständiger Furcht entdeckt zu werden? Und ohne Kontakt zu ihrer Familie und ihren Freunden? „Halt, stehen bleiben!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr. Sie zuckte zusammen. Jetzt war es also soweit. „Nehmen Sie die Hände hoch und drehen Sie sich langsam um!“ Sie spürte ein Ziehen und Zupfen an ihrem Geist. Der Telepath versuchte, in ihr Bewusstsein vorzudringen. Und sie wusste, wenn er und sein Kollege es nicht jetzt schaffen würden, dann auf jeden Fall später. Denn gegen eine Übermacht hatte sie keine Chance. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, ihr Geheimnis zu wahren... „Wo ist dein Kind?“, wollte der zweite Mann wissen, der nun ebenfalls hinzugekommen war. „Sag es mir!“ Auch er versuchte, in ihren Geist einzudringen, um es herauszufinden. Er war noch stärker als der andere und gemeinsam... Sie konnte dem nicht widerstehen. Sie musste... Es gab einen hellen Blitz, so dass die beiden Männer kurz die Augen schließen mussten. Als sie endlich wieder sehen konnten, blickten sie erschrocken auf das, was von der Frau übrig war. „Ihr Kopf...“, brachte der Jüngere mit einem Blick auf die Leiche entsetzt hervor. „Ja, sie musste sichergehen, dass sie sofort tot ist, damit wir ihr Geheimnis nicht noch in den letzten Sekunden erfahren“, stellte der Ältere fest. „Aber wir werden es auch so herausfinden. Es wird uns nur mehr Mühe und Zeit kosten.“ Kapitel 1: ----------- Seiji stand am Fenster und blickte nach draußen auf die von Bäumen beschattete Allee, durch deren Blätter einzelne Streifen von Sonne fielen. Vor dem schmalen Gehsteig, der wie ein Balkon um die Fenster des Gebäudes verlief, rankten sich Pflanzen, die gerade so viel Licht hereinließen, dass es angenehm war. Die Stille schien geradezu zu atmen wie die leichte Brise, die durch die Blätter wehte. Doch in Seijis Kopf war es nicht still, niemals. Selbst hier nicht, wo er sich allein in diesem Raum befand. Die Stimmen in seinem Inneren waren immer da. Mal lauter, mal leiser. Doch meistens zu laut. Der junge Mann atmete tief durch, versuchte, sich zu entspannen und die Stimmen zu ignorieren. Warum er, warum ausgerechnet er? Das fragte er sich jetzt schon seit zwei Jahren, seit dem Tag, als er zum ersten Mal die Stimmen gehört hatte. Dabei wäre er so gerne normal gewesen, würde gerne einfach in der Menge verschwinden und von allen ignoriert werden, außer von seinen besten Freunden natürlich. Bisher war ihm das auch ganz gut gelungen, denn noch hatte niemand von seinem Geheimnis erfahren. Und das musste unter allen Umständen so bleiben. Seiji seufzte und schaltete geistig einfach ab, einfach nur mal entspannen. Doch wieder wollte es ihm nicht gelingen, denn sobald er losließ, seinen Geist schweifen ließ, übermannten ihn die Stimmen und es schien, als wollten sie sein Bewusstsein hinwegfegen, seine Persönlichkeit auslöschen und ihn zu einem Teil ihrer selbst machen. Seiji wehrte sich instinktiv dagegen und bekam sogleich Kopfschmerzen. „Das hat man also davon, wenn man versucht, sich zu entspannen“, seufzte er und massierte sich die Schläfen. Er angelte sich den Streifen mit Aspirintabletten aus der Hosentasche und schluckte gleich zwei davon hinunter, ohne mit Wasser nachzuspülen, so sehr hatte er sich daran gewöhnt. Denn er wusste, dass die Kopfschmerzen von jetzt an nur noch schlimmer werden würden, bevor er ins Bett gehen und schlafen konnte. Nur dann war es ihm möglich, wirklich zu entspannen. Das Aspirin vertrieb zwar nicht die Stimmen, aber es half wenigstens gegen die Kopfschmerzen. Er zuckte zusammen, als eine Stimme in seinem Kopf plötzlich besonders laut wurde. „Alex“, seufzte er. Im nächsten Moment ging auch schon die Tür hinter ihm auf und sein Freund betrat den Raum. „Ah, hier steckst du also. Wo bleibst du denn?“, wollte der junge Mann ungeduldig wissen und fuhr sich durch die langen blonden Haarsträhnen, die an der Seite ganz lang und glatt waren, im Gegensatz zu seiner restlichen Frisur, die kurz war und sich an den Enden zu ringeln begann, was wohl am feucht-warmen Klima lag. „Wieso? Es ist doch egal, wo ich auf dich warte. Oder bist du schon fertig?“, Seiji fragte rein aus Routine, obwohl er schon genau wusste, dass die Antwort nein lautete. Er hatte es sich angewöhnt, damit seine außergewöhnliche Fähigkeit nicht auffiel. „Nein, aber... Wozu habe ich dich denn mitgenommen? Damit du mich moralisch unterstützt! Wenn du dann einfach abhaust, hätte ich dich auch zu Hause lassen können.“ „Kann es nicht sein, dass du in diesem Moment aufgerufen wirst und dann bist du nicht da?“, wandte sich Seiji seinem Freund zu und lehnte sich scheinbar ganz entspannt gegen den Fensterrahmen. „Du musst doch eh alleine reingehen.“ „Ja, schon, aber wieso bist du denn einfach verschwunden?“, ärgerte sich Alex und zog dabei seine Augenbrauen zusammen. „Ach, ich hatte nur Kopfschmerzen und wollte ein bisschen Ruhe haben. Außerdem gefällt mir das Gebäude und ich wollte mich mal ein bisschen umsehen.“ „Ach, das glaubt dir doch kein Mensch. Du und deine Kopfschmerzen immer. Vielleicht solltest du endlich mal zu einem Arzt damit.“ „Nein, so schlimm ist es nicht“, protestierte Seiji. Ein Arzt wäre das letzte, was er gebrauchen könnte, außerdem wusste er auch so, was mit ihm los war. Aber dieses Gebäude gefiel ihm wirklich. Er schmunzelte. „Du solltest dich wirklich beeilen“, empfahl er, als er eine Stimme in seinem Kopf spürte, die nach einem Alexander Crane verlangte und sich wunderte, dass sich keiner meldete. „Na schön“, grummelte Alex. „Kommst du nun?“ Seiji nickte bloß und folgte seinem Freund, der nun doch noch warten musste, da ein anderer Bewerber statt seiner vorgelassen worden war. „Mist“, ärgerte sich Alex. „Hoffentlich gibt das keinen allzu großen Minuspunkt.“ „Na ja, du warst doch schon vorher da und jetzt nur mal auf Toilette“, erfand Seiji eine Ausrede für seinen Freund. „Ja, gute Idee“, strahlte der. Zwar war er sonst nicht auf den Kopf gefallen, aber wenn es um die Bewerbung um eine Ausbildungsstelle ging, schaffte er es, in jedes nur erdenkliche Fettnäpfchen zu tappen. Letztens hatte er zum Beispiel im letzten Moment seinen Anzug mit Kaffee bekleckert. Oder er ließ irgendwelche dämlichen Sprüche los, um die Atmosphäre zu entspannen, doch leider kam dabei immer das Gegenteil heraus. Zudem war er sehr von sich selbst überzeugt und übertrieb gerne mit seinen Leistungen und wenn dann herauskam, dass er längst nicht so gut war, wie er tat... Doch Seiji störte sich nicht an der großspurigen Art seines Freundes. Er wusste, dass dieser sein Herz am rechten Fleck hatte und das genügte ihm. Im Gegenteil, er mochte es sogar, dass dieser die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog, das hatte den Vorteil, dass er selbst meistens übersehen wurde, mit seiner schmalen Statur und den zerzausten, schwarzen Haaren, durch die sich ein paar rote Strähnen zogen. Für viele Leute mochte es seltsam klingen, dass jemand gerne nicht auffiel, wollten die meisten doch am liebsten im Mittelpunkt stehen. Doch Seiji wünschte sich eher, unsichtbar zu sein. Einerseits, weil dann weniger die Gefahr bestand, dass man sein Geheimnis aufdeckte und andererseits mochte er anderen Menschen nicht so nahe sein, denn je näher sie waren, desto lauter waren auch deren Stimmen in seinem Kopf. Und er brauchte ja nicht die Nähe zu anderen Menschen, um deren Gedanken zu kennen. Deshalb war er ganz froh, wenn er mal seine Ruhe hatte. Aber auch so war er von Natur aus sehr zurückhaltend. Seltsamerweise schien er gerade damit eine gewisse Art von Leuten anzuziehen. Besonders Mädchen. Die schienen irgendwie auf geheimnisvolle Typen zu stehen. Und außerdem hatte er zu seiner Verwunderung festgestellt, dass ihn auch viele sehr attraktiv fanden. Als er mit 16 Jahren zum erstem Mal Gedanken lesen konnte, hatte ihn wirklich überrascht, wie anders ihn andere Leute sahen. Am ehesten konnte man es vielleicht damit vergleichen, wie man sich zum ersten Mal selbst in einem Film sah. Als wäre das ein ganz anderer Mensch. Aber am meisten assoziierte er mit dem ersten Ausbruch seiner telepathischen Fähigkeiten den brennenden Schmerz. Wie ein Feuer hatten sich die Stimmen und Bilder durch seine Nervenbahnen gezogen und tagelang hatte er wie im Fieber im Bett gelegen, bis es ihm endlich gelungen war – mehr unbewusst, als bewusst - die Stimmen auf ein erträgliches Maß zurückzudrängen und wieder zu sich selbst zu finden. Er war sehr überrascht gewesen, dass er so spät noch telepathische Fähigkeiten entwickelt hatte. Vorher hatte er geglaubt, dass so etwas spätestens mit 12 bis 14 Jahren zum Vorschein kam. Und nur dieser Tatsache hatte er es auch zu verdanken, dass er noch nicht von der SAT (Staatliche Aufsichtsbehörde für Telepathie) entdeckt worden war. Die führten an den Schulen nämlich nur Kontrollen bis zum 14. Lebensjahr durch. „Hey, du bist ja mal wieder in deinen Träumereien versunken!“, stellte Alex fest, der von seinem Vorstellungsgespräch zurück war. „Und wie ist es gelaufen?“, erkundigte sich Seiji, aus seinen Gedanken gerissen. Alex grinste zuversichtlich und meinte: „Diesmal wird es bestimmt was.“ Wenn er gewusst hätte, dass Seiji genau merkte, dass er gar nicht so optimistisch war! Zusammen gingen sie wieder nach Hause in ihre WG, in der auch Chris lebte, der das Haus mitsamt der Werkstatt von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte und seine Freunde für eine geringe Miete hier wohnen ließ. Seiji arbeitete zudem neben seinem Abitur in der Werkstatt mit, um sich seinen Lebensunterhalt leisten zu können. Chris kannte er schon, seit er ein kleines Kind war, denn dieser hatte auch im Waisenhaus gelebt. Alex hatte er auch dort kennengelernt, aber erst als sie beide 12 Jahre alt gewesen waren. Wieder daheim, ließ sich Alex auf die Couch fallen und machte es sich gemütlich. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich wegen seines Vorstellungsgespräches sorgte, doch für Seiji waren seine Gedanken wie immer ein offenes Buch. Er hatte schon so oft versucht, die Gedanken der Menschen um sich herum abzublocken, doch es wollte ihm selten gelingen und wenn, dann eher aus Zufall, weil er gerade mit anderen Dingen beschäftigt war. So war es ihm jedes Mal peinlich, wenn er ungewollt in die Privatsphäre anderer eindrang, besonders, wenn es sich um seine Freunde handelte. Ganz schlimm war es, wenn Chris mal wieder eine Freundin mitbrachte, die über Nacht blieb. Seiji bekam alles hautnah mit und ergriff dann jedes Mal die Flucht. Nur um dann am nächsten Morgen total gerädert von der durchwachten Nacht in der Schule zu erscheinen, falls er nicht gerade Glück hatte, und es Wochenende war. Manchmal passierte es auch, wenn er schon schlief, was ihm ganz „nette“ Träume bescherte. „Oh, man, Telepathie muss was tolles sein“, riss Alex ihn aus seinen Gedanken. Seiji blickte überrascht auf. Seit wann konnte sein Freund auch Gedanken lesen? „Was?“, machte er erschrocken. „Ja, oder einen Telepathen finden, die Kohle könnte ich gebrauchen.“ „W-wie meinst du das?“, erwiderte Seiji unsicher. War Alex ihm auf die Schliche gekommen? Vor lauter Schreck „vergaß“ er einem Moment sogar, dass er die Antwort eigentlich schon aus dessen Gedanken kennen müsste, doch wenn ihn heftige Gefühle bewegten, schien seine Fähigkeit kurzzeitig auszusetzen, oder wurde einfach durch die eigenen Emotionen überdeckt. Wie auch immer, er wusste nicht, was Alex meinte, bis dieser sagte: „Na, hast du nicht die Anzeige im Fernsehen eben gesehen? Die bieten einem 10.000 Globals, wenn man einen Telepathen findet. Und wenn man selbst einer ist, kann man Mitglied bei der SAT werden und bekommt alles bezahlt: Unterkunft, Essen, Ausbildung und was man sonst noch so braucht. Und dafür muss man nur ein bisschen in anderer Leute Gedanken herumschnüffeln. Tja, Telepath müsste man sein, was?“, lachte Alex und dachte daran, dass er dann nicht diese Scheiß Probleme hätte, eine Ausbildungsstelle zu finden. Seiji lachte gekünstelt mit und meinte dann: „Aber was ist mit den Gerüchten davon, dass sie Experimente mit Telepathen gegen deren Willen anstellen?“ „Ach, glaubst du das wirklich? Und wohl auch noch das Märchen, dass sie ihnen bei lebendigem Leib das Gehirn aufschneiden, um es zu untersuchen? Ich sag dir, das ist Quatsch. Wenn so etwas herauskäme – und das würde es ganz bestimmt – hätten sie riesige Probleme. Das könnten sie sich nicht erlauben, selbst wenn sie es wollten.“ „Aber die SAT ist doch eine staatliche Institution. Es könnte doch sein, dass die Regierung das vertuscht.“ „Du bist wirklich zu ängstlich. Warum machst du dir überhaupt solche Gedanken darüber? Eigentlich kann es uns doch egal sein. Aber das wäre doch einfach verdientes Geld, wenn man einen Telepathen finden würde, oder?“ „Ja, aber erstmal musst du einen finden“, stellte Seiji fest, stand auf und verließ das Zimmer. „Hey, warum bist du denn jetzt beleidigt?“, rief ihm Alex verständnislos hinterher. Seiji legte sich auf sein Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Wie konnte Alex nur manchmal so gefühllos sein. Gut, er wusste nicht, dass er Telepath war, aber trotzdem. Seiji drehte sich auf die Seite und presste die Lippen fest aufeinander. Verdammt, warum konnten die Stimmen nicht einfach wieder verschwinden und sein Leben so normal wie vorher sein? Unruhig kam er wieder auf die Füße, verließ sein Zimmer und ging nach draußen. Es war ein heller, sehr warmer Sommertag und die Sonne brannte auf Seijis schwarzer Kleidung. Kurze Zeit später war er schon durchgeschwitzt und setzte sich an den Brunnenrand auf dem Platz, wo einmal in der Woche Markt war. Sobald ich mein Abitur und das Studium beendet habe, werde ich mir eine Arbeit irgendwo auf dem Land suchen, weit, weit weg von den Menschenmassen, dachte sich Seiji und starrte mit leerem Blick auf das Wasser neben sich. Dann stand er auf und lief ein Stückchen weiter, ignorierte die Leute um sich herum so weit, dass er nicht mal ihre Gedanken mehr bewusst wahr nahm – natürlich waren sie immer noch da, aber wie ein stetiges Geräusch, dass man irgendwann nicht mehr bemerkt. So bekam er auch nicht mit, dass er einem Mann mittleren Alters direkt vor die Füße lief und mit diesem zusammen stieß. „Jetzt passen Sie doch mal auf, junger Mann!“, beschwerte sich dieser empört. Man merkte ihm sogleich ein, dass er einer von der Sorte Mensch war, die sich für etwas besseres hielten und eine Aura der Arroganz um sich herum verstrahlten. Aber nicht das war es, was Seiji so erschreckte, sondern, dass der Mann und sein jüngerer Begleiter das Abzeichen der SAT trugen. Verfolgte ihn das Pech, oder was? Doch die Tatsache, dass Seiji so erschrocken war – dieses Gefühl überlagerte seine Gedanken - und dass die Männer von der SAT sich nicht für ihn interessierten, rettete ihn vor einer Entdeckung. So kam er mit dem Schrecken davon und starrte ihnen noch hinterher, als sie schon längst außer Sichtweite waren. Seiji fiel auf, dass die Leute einen großen, sehr großen Bogen um die SAT-Männer gemacht hatten und dies war ein weiterer Grund, warum er auf keinen Fall als Telepath entdeckt werden wollte. Denn jeder, der diese Psi-Kraft besaß, konnte nicht nur, sondern war sogar dazu verpflichtet, der SAT beizutreten und deren Abzeichen zu tragen, damit „normale“ Menschen wussten, dass sie einen Telepathen vor sich hatten und so davor geschützt waren, ausspioniert zu werden. Und man musste einen Beruf ausüben, der der SAT entgegen kam. Ingenieurwissenschaften – was Seiji studieren wollte - gehörten nicht dazu. Erleichtert, dass er nicht weiter aufgefallen war, machte er sich auf den Weg nach Hause. Derweil waren die beiden SAT-Aufseher weitergegangen und der jüngere meinte: „Ich frage mich, wie lange wir noch hier herumlaufen sollen. Hätte Katja sich nicht etwas genauer ausdrücken können?“ „Ach, Sie wissen doch, wie das mit der Hellseherei ist. Alles bleibt schwammig und unklar.“ „Na ja, so genau weiß ich das eigentlich nicht. Immerhin ist Katja unsere einzige Hellseherin.“ „Ja, leider. Doch es gibt Aufzeichnungen von früheren Hellsehern. Die sind sehr aufschlussreich – manchmal.“ Sein jüngerer Begleiter lachte. „Da sagen Sie was. Trotzdem, ich frage mich, warum Katja so schadenfroh gegrinst hat, als sie sagte: 'Er wird ihnen über den Weg laufen.'“ imitierte er ihre Stimme. „'Buchstäblich.' Er dachte einen Moment darüber nach und schlug sich dann mit der Hand gegen den Kopf. Im selben Moment kam sein älterer Kollege ebenfalls darauf, auch ohne seine Gedanken lesen zu müssen. „Oh, nein, wir waren ja so dumm“, stellte er fest. „Hinterher!“, rief er und schon rannten die Beiden los. Nach einer Weile blieben sie atemlos stehen und wussten nicht mehr weiter. „Mist, er ist uns entkommen.“ „Ja, aber da wir jetzt wissen, wie er aussieht, können wir ein Phantombild anfertigen lassen. Ich weiß auch noch ganz genau, wie er aussieht. Da werden wir ihn sicher bald finden“, meinte der Jüngere optimistisch. „Das hoffe ich für Sie“, zischte sein Kollege, als wäre der andere Schuld, dass sie den Gesuchten nicht gleich geschnappt hatten. Zuhause stellte sich Seiji erstmal unter die Dusche, da er total verschwitzt war. Das kühle Nass tat unglaublich gut. Anschließend schlang er sich nur ein Badetuch um die Hüften und ignorierte seine nassen Haare – wer wollte bei der Hitze schon einen Föhn benutzen? Auf dem Gang begegnete er Alex, der ihm gerade entgegen kam und ihn dabei mit einem Blick bedachte, der dafür sorgte, dass ihm heiß und kalt zugleich wurde. Besonders, wenn man wie Seiji in der Lage war, die Gedanken dazu wahrzunehmen, die ungefähr lauteten: Wow, ich wusste gar nicht, dass Seiji so heiß aussieht. Dabei kenn ich ihn doch schon so lange. Scheiße, was denk ich denn da eigentlich? Das ist mein bester Freund aus Kindertagen. Ausgerechnet von ihm sollte ich am wenigsten so denken. Und wenn ich ihn weiter so anstarre, dann bemerkt er noch, dass ich schwul bin. Das darf auf keinen Fall irgendjemand erfahren. Hoffentlich hat er noch nichts bemerkt. Alex schüttelte den Kopf und versuchte krampfhaft, den Blick abzuwenden. Seiji lief rot an, nicht nur dieser Gedanken wegen, sondern auch der Gefühle dahinter, die er ebenfalls wahrnehmen konnte und die fast wie eine körperliche Berührung anmuteten. Er war total schockiert, da sein Freund bisher nicht mal in der Richtung gedacht hatte. Wie hatte ihm das entgehen können? Er hätte doch wenigstens merken müssen, dass dieser auf Männer stand. Nun ja, dann war es eben so. Schließlich ging es ihm selbst da nicht anders. Er war nur total überrascht, dass ausgerechnet Alex so empfand und das er gar nichts mitbekommen hatte. „Was ist denn?“, fragte er vorsichtig, da er ja nicht zugeben wollte, dass er Telepath war und daher schon Bescheid wusste. Außerdem wollte er jetzt wissen, was Alex sagen würde. „Was meinst du?“, versuchte der, ahnungslos zu tun. „Na ja, warum starrst du mich so an?“ „Hab ich das? Ah, ja! Ich war ganz in Gedanken. Ich habe dich gar nicht angestarrt, sondern nur dabei in deine Richtung geguckt“, redete Alex sich raus und dachte dabei: Oh, scheiße, der darf auf keinen Fall merken, dass ich ihn scharf finde. Wieder lief Seiji rot an. „Ach ja? Mir kam es nämlich gerade so vor, als hättest du mich aus einem ganz anderen Grund angestarrt“, stellte Seiji fest. „Und was soll das wohl für ein Grund sein?“, erwiderte Alex, äußerlich gelassen, innerlich total außer sich. „Kann es sein, dass du auf Männer stehst?“, sprach Seiji es mal direkt aus und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Was? Du spinnst ja wohl!“, regte sich sein Freund auf, der total schockiert war. Er hat es wirklich bemerkt. Was mach ich denn jetzt nur?, fragte er sich verzweifelt. „Das bildest du dir doch bloß ein. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, nur weil ich zufällig mal in deine Richtung schaue“, ließ er herablassend vernehmen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du brauchst dich deswegen nicht zu schämen“, versicherte Seiji. „Ich stehe ja auch auf Männer.“ Auf dieses Geständnis hin guckte ihn Alex an, als wäre er das siebte Weltwunder. Was, er auch? Das kann doch nicht sein! Wieso habe ich nie was davon bemerkt? Das fragte sich Seiji umgekehrt allerdings auch. „D-das ist ja schön für dich. Aber ich stehe wirklich nicht auf Männer. Also versuch bloß nicht, mich anzumachen“, tat Alex geekelt. Was ist denn jetzt los?, fragte sich Seiji verwirrt. Wieso wollte sein Freund es nicht zugeben? Schließlich hatte er keinen Grund dafür. Als er jedoch genauer auf Alex Gedanken achtete, erfuhr er, dass dieser bloß Angst hatte, Angst davor, sich mit seinem alten Freund auf etwas einzulassen und damit ihre Freundschaft zu zerstören und Angst vor dem Schwul sein an sich. Irgendwie hatte er es wohl noch nicht geschafft, das wirklich für sich zu akzeptieren. Er war sich zwar klar darüber, aber es gefiel ihm nicht, dass er anders war. „D-das hatte ich nicht vor“, erwiderte Seiji verunsichert. „Ich wollte bloß sagen, dass du keine Angst haben brauchst, es zuzugeben.“ „Tja, wie ich schon sagte, da gibt es nichts zuzugeben“, erwiderte Alex verkrampft und floh im nächsten Moment geradezu auf sein Zimmer. Seiji kam es allerdings vor, als stünde sein Freund immer noch bei ihm, da dessen Gedanken durch ein paar Meter Abstand und eine Zimmertür nicht gedämpft wurden. Im Gegenteil, da dessen Emotionen ziemlich stark waren, dachte er sogar noch „lauter“ als sonst. Seiji wollte es nicht, aber er konnte nicht verhindern, dass die Gefühle seines Freundes zu ihm durchdrangen – und die waren hochgradig verwirrt und verzweifelt. „Oh, man, dass Alex schwul ist und Angst davor hat, hätte ich nie gedacht. Dabei ist er sonst immer so stark“, seufzte Seiji, der einerseits zu müde war, um noch etwas zu unternehmen, andererseits aber nicht zu Hause bleiben und die Gedanken seines Freundes mitbekommen wollte. Also ging er, nachdem er sich angezogen hatte, erneut nach draußen, diesmal zum nahegelegenen Fluss hinunter, setzte sich auf eine Bank und starrte nachdenklich auf das Wasser. Immer noch brannte die Sonne gnadenlos vom Himmel herab, was so gar nicht zu Seijis Stimmung und der Tatsache passen wollte, dass er sich schon reif für' s Bett fühlte, obwohl es erst später Nachmittag war. Doch immer wenn er starke Gefühle und Gedanken auffing, oder sich zum Beispiel in einer großen Menschenmenge aufhielt, machte ihn das ziemlich fertig. Als wären die ständigen Kopfschmerzen nicht schon genug. Hallo liebe Leser, dies ist mein erster Versuch, eine Geschichte zu schreiben, die keine Fanfiction ist. Daher würde ich mich über eure Meinung und besonders über Tipps sehr freuen. Vielen Dank. Saedy Kapitel 2: ----------- Es freut mich, dass sich doch ein paar Leser gefunden haben und wünsche euch viel Spaß mit dem nächsten Kapitel! Saedy Am nächsten Abend saßen Seiji, Alex und Chris gemeinsam vor dem Fernseher, hatten ein paar Snacks bereitgestellt und schauten gerade die Abendnachrichten, bevor der Film begann, den sie gucken wollten. Alex hatte sich offenbar wieder eingekriegt, denn seine Gedanken drehten sich wieder um alltägliche Dinge, wie zum Beispiel die Chilichips, die er ganz alleine zu verdrücken gedachte. „Oh, die sehen ja lecker aus“, bemerkte Seiji und griff in die Tüte, nur um Alex ein bisschen zu ärgern. Der strafte ihn auch gleich mit einem bösen Blick. „Das sind meine Chips“, verkündete er und zog die Tüte weg. Alex ließ sich aber auch zu leicht ärgern und sah dabei immer so süß aus, so dass Seiji nicht widerstehen konnte. „Ach ja, wenn ich mich recht erinnere, hab ich die bezahlt“, stellte Chris fest. „Also, die Chips sind für alle da, Leute, jetzt fangt nicht deswegen an zu streiten. Das sieht dir mal wieder ähnlich, dass du nichts abgeben willst“, meinte der Rothaarige mit einem missbilligenden Blick auf Alex. „Pft“, machte der unbeeindruckt, stellte die Tüte aber großzügigerweise auf den Tisch zurück – nicht ohne sich noch eine ordentliche Portion auf die Hand zu nehmen. „Und jetzt kommen wir zu einer Suchmeldung“, verkündete die Nachrichtensprecherin gerade. „Die SAT – die staatliche Aufsichtsbehörde für Telepathie – sucht einen Telepathen, der sich bisher nicht hat registrieren lassen. Für einen entscheidenden Hinweis beträgt die Belohnung wie immer 10.000 Globals*. Bitte beachten Sie das Phantombild. Der Telepath ist 18 Jahre alt, ca. 1,70 m groß, schlank, schwarzhaarig mit auffälligen roten Strähnen im Haar und halb englischer, halb japanischer Abstammung. Für einen Hinweis wären wir Ihnen sehr dankbar. Und nun kommen wir zur Wettervorhersage.“ Seiji starrte fassungslos auf den Bildschirm. Woher wussten die von ihm? Das gestrige Zusammentreffen mit den SAT-Aufsehern fiel ihm plötzlich wieder ein. Aber die hatten seine Psi-Kraft doch gar nicht bemerkt, sonst hätten sie ihn schon gestern angesprochen. Wie hatte man ihn also entdecken können? Alex hatte sich bei der Meldung an seinen Chips verschluckt und hustete wie verrückt. Chris starrte abwechselnd auf den Bildschirm und dann wieder zu Seiji. „Die meinen doch dich, oder?“, stellte er fest. „S-sieht so aus“, erwiderte Seiji immer noch fassungslos, woraufhin Alex noch mal heftiger zu husten begann und die Chips schließlich ausspuckte. „Willst du uns damit etwa sagen, dass du Telepath bist? Dass du jeden unserer Gedanken lesen kannst und die ganze Zeit über hast du... du...“, stotterte er und schaute ihn entsetzt an. „J-ja, es tut mir leid, aber ich kann das nicht abstellen. Es ist nicht so, dass ich eure Gedanken lesen will, aber... es passiert einfach“, versuchte er, zu erklären. „Ich wusste nicht, wie ihr damit klarkommen würdet, deswegen habe ich nichts gesagt und na ja, weil ich nicht von der SAT entdeckt werden wollte.“ Oh, man, deshalb wusste er auch gleich, dass ich auf Männer stehe und wie ich ihn gestern angestarrt habe, als er halbnackt aus der Dusche kam. Das hat er alles mitbekommen, alle meine Gedanken! Alex war total entsetzt. Seiji tat so, als bekäme er diese Gedanken nicht mit und erklärte: „Es hat erst angefangen, als ich 16 war, deshalb hat niemand etwas bemerkt. Das war, als ich dieses Fieber hatte. Also, das war gar kein richtiges Fieber, sondern... all die Gedanken, die plötzlich in meinem Kopf waren und es hat fürchterlich weh getan, bis ich mich daran gewöhnt hatte.“ „Verstehe, die Kontrollen auf Telepathie finden ja nur bis zur 8. Klasse statt“, bemerkte Chris. „Sag mal, wie ist das eigentlich, wenn man Gedanken lesen kann? Weißt du, was ich jetzt gerade denke? Ich denke mir eine Zahl und du musst sagen, welche es ist!“ „26“, erwiderte Seiji und seufzte. Das Chris sich gleichzeitig fragte, wie viel er wohl von den Besuchen seiner Freundin mitbekommen hatte, erwähnte er lieber nicht. Das gäbe nur Ärger. „Hey, das ist ja krass. Das stimmt! So und jetzt denk du mal was, Alex!“ „Ach, lasst mich da raus!“, fauchte der. „Ich finde das nicht lustig. Du liest ständig in unseren Gedanken und spionierst uns aus und das sollen wir wohl noch toll finden? Wie oft machst du das eigentlich?“ „Wie gesagt, ich kann es einfach nicht abstellen. Ich hab es wirklich versucht, aber... meistens klappt es nicht. Es ist so ähnlich wie mit dem Hören. Man kann seine Ohren nicht verschließen, sondern nur versuchen, nicht hinzuhören. Es tut mir leid, ich wollte euch wirklich nicht ausspionieren“, versicherte Seiji. „Das wissen wir doch“, erwiderte Chris. „So was würdest du nie absichtlich tun. Nicht wahr, Alex?“, trat er diesem auf den Fuß. „J-ja, klar“, grummelte der. Er wusste ja, dass Seiji kein übler Kerl war, immerhin war dieser sein bester Freund. Trotzdem behagte ihm der Gedanke, dass er buchstäblich alles über ihn wusste, überhaupt nicht. „Tja, ich frage mich nur, wie die SAT von mir erfahren konnte“, wunderte sich Seiji. „Jetzt, wo sie dieses Phantombild mit dieser Beschreibung von mir gebracht haben, dauert es bestimmt nicht mehr lange, bis sie mich gefunden haben werden“, bemerkte er traurig. „Ich verstehe dich nicht, warum willst du da eigentlich nicht hin?“, wunderte sich Alex. „Telepathen werden für ihre Dienste doch megamäßig bezahlt, weil es so wenige von ihnen gibt und jeder ihre Fähigkeiten für sich in Anspruch nehmen will. Mit dem Einkommen könntest du dir 'ne Villa mit 'nem riesen Grundstück leisten und ein tolles Auto und...“ „Ja, ich weiß. Aber... der Preis dafür ist mir zu hoch. Die meisten Leute verabscheuen Telepathen. Sie gehen ihnen aus dem Weg und da man das SAT-Abzeichen tragen muss, wissen sie auch gleich Bescheid, was man ist. Außerdem muss man einen Beruf ausüben, bei dem man seine telepathischen Fähigkeiten einsetzen kann. Und ich wollte doch Ingenieurwissenschaften studieren. Und da gibt es noch diese Gerüchte, dass sie mit Telepathen experimentieren, um herauszufinden, wie man diese Fähigkeit künstlich erzeugen oder verstärken kann. Oder um noch andere Paragaben hervorzurufen.“ „Also, ich würde ja nicht allzu viel auf diese Gerüchte geben“, bemerkte Chris. „Das sind doch nur Hirngespinste von den Leuten, die Angst vor der SAT und dem Haufen Telepathen haben. Bestimmt erforschen sie telepathische Fähigkeiten, aber sicher werden sie dir nicht gegen deinen Willen an deinem Gehirn rumpfuschen.“ „Ich hoffe es“, erwiderte Seiji. „Was ich aber komisch finde, ist, dass die genau wissen, wie alt du bist und dass du Halbjapaner bist. Hätte ja auch sein können, dass du Halbchinese oder Koreaner oder sonst was bist. Ich frage mich, woher die das so genau wissen, aber trotzdem deine Adresse und deinen Namen nicht kennen.“ „Ich weiß es nicht“, wunderte sich auch Seiji. „Haben die vielleicht zufällig deine Gedanken aufgefangen und du hast gerade an dein Alter und deine Herkunft gedacht, oder so? Und dann haben sie dich aus den Augen verloren und suchen deshalb jetzt nach dir“, überlegte Chris. „Ich glaube nicht. Wenn jemand meine Gedanken gelesen hätte, dann hätte ich das doch bemerkt“, erwiderte er. Aber andererseits – woher sollte er das so genau wissen? Schließlich war er noch nie einem anderen Telepathen begegnet, außer diesen beiden SAT-Aufsehern gestern und die hatten definitiv keinen gedanklichen Kontakt zu ihm aufgenommen. Vielleicht war er nur in dem Moment, als er aufgefallen war, so stark abgelenkt gewesen, dass er den anderen Telepathen nicht bemerkt hatte. „Nun ja, es ist wie es ist. Ich kann nicht mehr verhindern, dass sie mich finden, wahrscheinlich eher früher als später. Sicher rufen in dem Moment schon unsere Nachbarn oder so bei denen an. Deshalb solltest du dich lieber beeilen und mich bei der SAT melden, du kannst das Geld doch für deine Werkstatt gebrauchen, Chris.“ „Aber... Ja, sag mal, spinnst du? Ich verrate doch keinen Freund. Geld hin oder her“, protestierte der. „Ich weiß, aber wenn sie den Hinweis nicht von dir bekommen, dann werden das, wie gesagt, andere sicher ganz schnell erledigen. Da ist es mir lieber, wenn es wenigstens zu etwas nütze ist und du das Geld bekommst.“ „Aber, das kannst du doch nicht wissen. Vielleicht hast du ja Glück und es verrät dich keiner oder keiner unserer Nachbarn hat die Nachrichten gesehen.“ „Glaubst du das wirklich?“ „Nein“, erwiderte Chris und ließ resigniert den Kopf hängen. „Gut, dann mach ich' s“, verkündete Alex nun, der in dieser Beziehung weniger empfindlich war. „Und dann teilen wir das Geld durch drei. Also?“ Chris warf ihm glühende Blick zu. „Da mach ich nicht mit! Ich will nichts von dem Scheißgeld und wenn Seiji noch so sehr darauf besteht. Und du wirst da auch nicht anrufen!“ „Ich weiß gar nicht, was du hast! Er ist doch selbst damit einverstanden. Und finden werden sie ihn ja so oder so. Ich geh jetzt“, verkündete Alex und stand auf. Chris sprang auf und wollte ihn aufhalten, doch Seiji hielt ihn zurück. „Es ist schon gut“, beschwor er ihn. „Wirklich.“ Dabei blickte er ihm versichernd in die Augen. „Na gut“, beruhigte sich Chris nun. „Aber du machst einen Fehler.“ „Vielleicht. Aber, nun ja, ich schätze, ich kann nicht ewig davonlaufen. Ich werde dann mal meine Sachen packen.“ Mit diesen Worten wandte sich Seiji ab und ging auf sein Zimmer. Schweren Herzens fing er an, das nötigste in eine Reisetasche zu packen, wobei ihm erst so richtig bewusst wurde, dass sich nun alles ändern würde. Er müsste fort, aus dieser wunderbaren WG, in der er eine so gute und lustige Zeit mit seinen Freunden verbracht hatte, konnte nicht mehr zusammen mit Chris in der Werkstatt arbeiten, würde nicht mehr Alex morgendliches Gejammer mitbekommen, die lustigen Momente verpassen, wenn dieser in seiner Selbstüberschätzung mal wieder in jedes Fettnäpfchen trat und wie sein Freund versuchte, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ja, er würde die Beiden definitiv vermissen. Aber Alex noch ein ganz kleines bisschen mehr. Seiji ließ sich auf das Bett sinken, während seine Gedanken abgeschweift waren. Schließlich erhob er sich wieder und sagte sich, dass es ja nicht anders ging. Er war gerade mit dem Packen fertig geworden, als es wie auf' s Stichwort an der Tür klingelte. Das können sie doch nicht schon sein, oder? Seiji fröstelte. Noch ehe er sich auf den Weg zur Tür machen konnte, bekam er seine Antwort, denn in diesem Moment fühlte er eine fremde Präsenz, die sein Bewusstsein berührte. Es war anders, als sonst, wenn er die Gedanken von Menschen ohne telepathische Begabung las. Das hier fühlte sich viel näher und direkter an und es hinterließ eine Gänsehaut. „Ah, du bist also wirklich hier“, ließ sich die Präsenz vernehmen. Seiji glaubte, dass es ein Mann war und er fühlte sich so... selbstsicher an, wie er es nicht oft erlebt hatte. Die Stimme lachte. Offenbar hatte er diesen Gedanken wahrgenommen. Dann zog er sich freundlicherweise zurück. Seiji ließ sich geschockt, aber auch fasziniert, auf das Bett zurück sinken. Wenige Augenblicke später klopfte es an seiner Zimmertür. Nun war es also so weit. „Ja?“, brachte er hervor, doch es war nicht mehr als ein Krächzen. Aber das machte nichts, denn der Mann vor der Tür nahm diesen Gedanken wahr und trat ein. Es war der ältere der beiden SAT-Aufseher, dem er bereits gestern begegnet war, als er ihn beinahe über den Haufen gerannt hätte. Er war von durchschnittlicher Größe, schlank, hatte mittelbraunes Haar und kohlschwarze Augen, die alles zu durchdringen schienen. Jetzt lächelte er, aber Seiji hätte nicht zu sagen vermocht, ob es ein rein förmliches Lächeln war oder die Freude darüber, dass er einen Telepathen entdeckt hatte. Zum ersten Mal, seit seine Psi-Kräfte ausgebrochen waren, passierte es ihm, dass er die Gedanken seines Gegenübers nicht wahrnahm. Der SAT-Aufseher musste eine Methode kennen, sich abzuschirmen – natürlich. Seiji konnte lediglich dessen Präsenz wahrnehmen, weswegen er wusste, dass er es gewesen war, der eben Kontakt zu ihm auf genommen hatte und nicht etwa sein jüngerer Kollege, der hinter ihm durch die Tür getreten war. Dieser schien Mitte/Ende Zwanzig zu sein, war einen Kopf größer, als der Ältere, hatte kurze blonde Haare und blaue Augen. Auf den ersten Blick machte er einen durchaus sympathischen und klugen, aber etwas schusseligen Eindruck. Wie Seiji auf letzteres kam, wusste er nicht, denn der Mann hatte bisher noch nichts schusseliges getan, aber irgendwie sah er so aus. Auch er schirmte seine Gedanken ab, doch nicht so vollständig, manchmal kamen Bruchstücke hindurch, die Seiji entgegen fielen wie Wortfetzen aus einem weit entfernten Gespräch. Vielleicht kam daher sein Eindruck? „Du bist klug“, stellte der ältere Telepath fest und lächelte wieder. Offenbar hatte er es irgendwie geschafft, Seijis Gedanken zu lesen, ohne dass dieser es mitbekam. „Tja, mein junger Freund hier“, mit diesen Worten legte er eine Hand auf dessen Schulter, „muss noch lernen, sich besser abzuschirmen. Und das wirst du auch. Ich darf doch du sagen, oder?“ „K-klar“, erwiderte Seiji verdutzt. „Ah, wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt, wie unhöflich von mir. Das hier ist mein Kollege Stephen Mitchell und mein Name ist Greg Lorane. Wir beide sind Aufseher der SAT, wie man ja sehen kann“, damit deutete er auf sein Abzeichen, welches einen goldenen Schmetterling mit blitzförmigem, silbernen Körper darstellte, das er auf der linken Brustseite trug. Dieser Schmetterling stand, soviel Seiji wusste, für den sogenannten „Butterfy Effect“, womit die SAT ausdrücken wollte, dass schon ein einziger Gedanke eine große Wirkung erzielen konnte. Genauso wie ein Schmetterling, der irgendwo mit den Flügeln schlägt und anderswo einen Sturm entfacht. „Sicher kannst du dir denken, weshalb wir hier sind.“ Seiji nickte. „Du heißt also Seiji...“ runzelte Lorane die Stirn. „Seiji Connor“, half er ihm aus. „Gut. Also dann, du wirst uns begleiten. Du bekommst eine Ausbildung für deine telepathischen Fähigkeiten bei der SAT, kannst nebenher dein Abitur“, das wusste er also auch schon, „beenden und anschließend einen Beruf wählen, bei dem du deine Fähigkeiten einsetzen kannst. Welcher am besten für dich geeignet ist, hängt natürlich von der Stärke deiner telepathischen- oder sonstigen parapsychischen Fähigkeiten ab.“ Mit der es ja nicht weit her sein kann, wenn man bedenkt, wie schlecht, bzw. gar nicht, ich mich vor anderer Leute Gedanken abschirmen kann, dachte Seiji niedergeschlagen. „Wenn deine hyperfrequente Bewusstseinsausstrahlung besonders stark ist, könntest du sogar SAT-Aufseher werden“, lächelte Lorane wieder, als würde es ihn persönlich freuen, wenn dem so wäre. „Während du dich in der Ausbildung befindest, bekommst du Essen und Unterkunft umsonst und ein kleines Taschengeld. Und wenn du diese erstmal abgeschlossen hast, kannst du, wie du ja sicher schon gehört hast, sehr gut bei der SAT verdienen.“ „Was er damit sagen will: Unsere Behörde ist gar nicht so übel, wie man immer denkt“, grinste Mitchell, woraufhin ihm Lorane einen bösen Blick zuwarf, so nach dem Motto: spar dir deine dummen Kommentare. Es wäre sinnlos gewesen, zu fragen, ob er mitgehen musste, also ließ Seiji es lieber bleiben und fügte sich in sein Schicksal. Nun, immerhin hatte er schon gepackt. *Global = globale Währung Kapitel 3: ----------- Hallo, tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, aber manchmal bin ich eben eine lahme Schnecke. Ich hoffe, euch gefällt das Kapitel^^. Am Abend von Seijis Ankunft im Wohngebäude der SAT war noch nicht viel passiert. Da es schon spät gewesen war, hatte man lediglich seinen Personalausweis eingescannt und ihm ein Zimmer zugewiesen mit dem Hinweis, dass er dort auch einen Plan des Gebäudes auf dem dort angeschlossenen Computer vorfinden würde und Frühstück ab 07:00 Uhr begänne. Alles weitere würde er danach erfahren. Zwar war er total aufgeregt, aber trotzdem fiel Seiji gegen Mitternacht in einen tiefen Schlaf, da ihn die Sache ganz schön mitgenommen hatte. Am Morgen holte ihn Stephen Mitchell zum Frühstück ab, was ihm ganz recht war, denn dieser war ihm lieber als dieser mysteriöse, aalglatte Lorane. Mitchell führte ihn zur Kantine und plapperte auf dem Weg dahin wie ein Wasserfall, während er ihm alles erklärte. Beim Essen vertilgte er erst mal eine Riesenportion, bei der man sich fragte, wo er die bei seinem schlanken Körperbau hin steckte, nahm einen großen Schluck Limo und meinte dann: „Puh, ich frage mich, was für eine Droge man Lorane verabreicht hat.“ „Was meinst du?“, fragte Seiji irritiert, der mit Stephen auch schon per du war. „Na ja, gestern war er total crazy. Oder sollte ich lieber sagen: ausnahmsweise mal normal und umgänglich? Du solltest ihn sonst erleben. Er ist die Furie in Person. Eine Bestie, ein Scharlatan. Ups, bloß nicht zu laut denken, sonst kriegt es noch jemand mit. Nun ja, jedenfalls war er zu dir so nett, so hab ich ihn noch nie erlebt. Was hast du angestellt und krieg ich das auch hin?“ „Ich habe keine Ahnung. Ist er wirklich so schlimm?“ „Nein – noch viel schlimmer.“ „Ts! Lästern Sie wieder über mich?“, erklang plötzlich eine Stimme in ihren Gedanken. Stephen zuckte erschrocken zusammen und wurde ganz bleich im Gesicht. Er sah so aus, als würde er gleich vom Stuhl kippen. „Ich dachte, Sie wären auf einer wichtigen Mission“, kam ein erschrockener Gedanke von Mitchell zurück. „Nun, dachten Sie, da haben Sie wohl falsch gedacht. Was anderes kann man von Ihnen wohl auch nicht erwarten“, stellte Lorane fest und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass Mitchell noch mal zusammenzuckte. „Seien Sie froh, dass Ihre HyB (hyperfrequente Bewusstseinsausstrahlung) so stark ist, sonst wären Sie schon längst zum Kloputzer degradiert worden. An denen mangelt es bei uns nämlich auch, weil kaum ein Normaler unter Telepathen arbeiten möchte“, wandte er sich erklärend an Seiji. „Tut mir leid, Sir“, entschuldigte sich Mitchell, wobei sich seine Gedanken um die Frage drehten, was Lorane später wohl mit ihm anstellen würde. Dabei vergaß er vor lauter Furcht kurzzeitig seine Abschirmung. „Und, wie gefällt es dir hier?“, lächelte Lorane Seiji an, wobei er plötzlich so nett war, als hätte man einen Schalter umgeknipst. „D-danke. Bisher ganz gut“, stotterte Seiji. „Schön“, klatschte Lorane in die Hände. „Ich hab Hunger, was gibt' s zu Essen?“ Nachdem sie mit dem Frühstück fertig waren, verkündete Lorane, dass nun erst mal Seijis HyB-Wert gemessen werden sollte. Mitchell wunderte sich, dass er den Neuen dabei persönlich begleitete. Aus irgendeinem Grund musste er ein besonderes Interesse an ihm haben. Und wo er schon mal dabei war, kam er ebenfalls mit. „Was ist das eigentlich genau, diese HyB?“, erkundigte sich Seiji auf dem Weg zum Untersuchungszimmer. „Das ist die sogenannte Hyperfrequente Bewusstseinsausstrahlung, die jedes Lebewesen ausstrahlt. Bei Tieren ist sie kaum vorhanden und bei normalen Menschen nur schwach. Aber bei parapsychisch Begabten ist sie besonders ausgeprägt. Ab einem Wert von ca. 5 beginnt man von einem Psi-Begabten zu sprechen. Am meisten erforscht ist dabei die Telepathie. Andere Gaben kommen äußerst selten vor. Wie zum Beispiel Hellseherei. Allerdings kann man den Unterschied bei dieser Messung nicht feststellen, sondern bloß über Auffälligkeiten wie Abweichungen vom üblichen Bild spekulieren und auch sonst gibt es leider noch viel zu wenige wissenschaftliche Erkenntnisse über andere Talente. Nun ja, jedenfalls liegt der höchste, je gemessene Wert bei 30. Ab 25 kann man SAT-Aufseher werden und der Durchschnitt liegt so bei kapp 10, da sehr viele Telepathen leider nur schwach ausgeprägte Fähigkeiten besitzen“, erklärte Lorane. „Aha“, machte Seiji, der zwar schon gehört hatte, dass man die Stärke der Psi-Kraft messen konnte, aber sonst nichts weiter darüber gewusst hatte. Im Grunde genommen war es ihm egal, wie stark seine telepathischen Fähigkeiten waren, Hauptsache, sie waren nicht so stark, dass er auch noch unter anderen Telepathen auffiel und nicht nur unter nicht Psi-Begabten. Denn nach wie vor gefiel es ihm nicht, irgendwo im Mittelpunkt zu stehen. „Ach ja, und einen wichtigen Punkt gibt es noch zur Hyperfrequenten Bewusstseinsausstrahlung“, fuhr Lorane fort. „Sie ist nämlich keineswegs konstant. Bei Nichttelepathen variiert sie zwar so gut wie gar nicht, doch wir können sie beeinflussen, entweder bewusst oder unbewusst. Und zwar durch unsere Abschirmung. Viele Telepathen bauen, wenn ihre Fähigkeiten mit der Pubertät plötzlich ausbrechen, unbewusst eine mentale Barriere auf, um sich vor dem Wahnsinn zu schützen. Bei manchen ist sie stärker, bei anderen schwächer. Das kommt natürlich auch auf die Stärke der HyB an. Jedenfalls beeinflusst diese Barriere die Messung. Deshalb ist es wichtig, dass du deine Abschirmung so gut es geht, senkst. Da das auf Anhieb meistens nicht möglich ist, wird dein HyB-Wert nach deiner Ausbildung noch einmal gemessen, wenn du gelernt hast, wie du deine mentale Abschirmung bewusst steuern kannst. Zuvor ist diese Messung lediglich ein Anhaltspunkt. Trotzdem wird sie durchgeführt, um wenigstens grob festzustellen, wie stark deine Psi-Kraft ist oder ob es Abweichungen vom üblichen Muster gibt, sprich, du vielleicht noch über andere Talente außer Telepathie verfügen könntest.“ Seiji nickte nur und fragte sich, wie sein Ergebnis dann wohl aussehen würde. Allerdings interessierte ihn mehr die Technik und Wissenschaft dahinter, als sein eigener HyB-Wert. Wenn er schon nicht Ingenieurwissenschaften studieren konnte, vielleicht dann etwas in dieser Richtung? Oder überließ man diese Forschung nur Nichttelepathen und setzte Telepathen ausschließlich in Bereichen ein, wo sie ihre Fähigkeiten direkt anwenden konnten, da es ihrer viel zu wenige gab? Seiji hielt sich mit seiner Frage allerdings zurück, das würde er alles später noch herausfinden können. Sie waren auch schon beim Untersuchungszimmer angekommen und nachdem Mitchell geklingelt hatte, wurden sie nun eingelassen. Drinnen erwartete sie ein Mann Mitte Dreißig, mit lockigem braunem Haar, der auf einem aus der Entfernung undefinierbaren Stäbchen kaute und und etwas schmuddelig wirkte. Er stellte sich als Eliah Cyrus vor und schien irgendwie nicht in diese saubere Einrichtung zu passen. „Na, mal wieder eine HyB-Messung, was?“, es klang eher wie eine Feststellung als eine Frage. „Und dazu noch bei einem Neuling. Und ich dachte schon, diesen Monat könnte ich abhaken.“ Der Mann spielte darauf an, dass es nicht besonders viele neue Telepathen gab, an denen er seine Messung durchführen konnte. „Wenn ich allein damit mein Geld verdienen würde, wäre ich dauerpleite“, verkündete er und holte ein Formular aus seiner Schublade. „Name?“, wollte er wissen. „Seiji Connor“, antwortete er. Mehr Angaben musste er nicht machen, da man ja am Tag zuvor seinen Personalausweis eingescannt hatte. „Gut, setz dich da hin“, zeigte der Mann auf einen gepolsterten Stuhl. Dort wurde Seiji mit einigen Sensoren ausgestattet, die an seinem Kopf befestigt wurden. Neben diesen, wurden noch sein Puls- und Herzschlag gemessen. Vor ihm war ein großer Monitor an der Wand befestigt, der nun eingeschaltet wurde. „Jetzt erst mal die Grundmessung“, wurde ihm erklärt. Auf dem Monitor erschien eine Wellenline mit mehreren, annähernd gleichen Wölbungen, mit einigen Zacken darin. „HyB 15“, stellte Cyrus fest. „Gut, und jetzt entspanne dich und versuche, deinen Geist schweifen zu lassen. Denk am besten an irgendetwas, schönes, ruhiges, zum Beispiel an einen Strand, eine grüne Wiese oder so was. Was dir am besten hilft. Versuche, einfach los- und dich treiben zu lassen. Und wenn du soweit bist, dann machst du einfach deine telepathischen 'Augen' auf und siehst hinaus in die schöne weite Welt“, wurde er angewiesen. So sollte er also seine Barriere senken, wenn denn überhaupt eine solche vorhanden war, was Seiji bezweifelte. Denn er nahm ja immer noch ständig anderer Leute Gedanken war, sofern sie keine Telepathen waren und sich abschirmten. Mal davon abgesehen: Wie zum Teufel, sollte man sich entspannen, wenn jemand wie Lorane einen mit Luchsaugen anstarrte, als hoffte er, fette Beute gemacht zu haben? Zu seinem Glück bemerkte Cyrus sein Unbehagen und warf die beiden Aufseher kurzerhand raus. Lorane warf ihm dabei noch einen bösen Blick zu, fügte sich aber. „Und die telepathischen Lauscher bleiben auch draußen“, fügte Cyrus noch hinzu, da er Lorane nur zu gut kannte. Seiji atmete tief durch und wurde tatsächlich etwas ruhiger, als die Beiden draußen waren. Jetzt waren da nur noch er und Cyrus. Zwar konnte er noch die Präsenz einiger Leute im Nebenraum spüren und auch die Anwesenheit der Aufseher draußen, doch das war nicht so schlimm, als wenn sie neben ihm standen und ihn anstarrten. Er schloss die Augen und tat, wie ihm geheißen. So wirklich glaubte er zwar nicht daran, dass das etwas ändern würde, aber versuchen wollte er es wenigstens. Was er dabei nicht bemerkte war, dass Cyrus neben ihm einen Generator einstellte, der Hypnosestrahlung aussandte, damit er sich nicht nur entspannen konnte, sondern auch wirklich seine mentale Barriere weiter abbauen. Eine Garantie brachte das zwar auch nicht, aber es war besser als ohne diese unterstützenden Strahlen. Cyrus verriet seinen „Patienten“ nichts von dem Generator, damit diese sich nicht innerlich dagegen wehrten und die Wirkung damit zunichte machten. Noch besser wäre natürlich ein echter Hypnotiseur gewesen, aber von denen gab es leider noch viel weniger als Telepathen und keiner von den wenigen war für eine Arbeit wie diese abkömmlich. Seiji begann zu zittern, als die Hypnosestrahlung auf sein Bewusstsein wirksam wurde. Dieses seltsame Gefühl, das sich seiner plötzlich bemächtigte, gefiel ihm gar nicht. Er wusste nicht, was es war, wusste nicht mal, dass dieses Gefühl von außen erzeugt wurde, doch es fühlte sich schrecklich an, oder vielmehr das, zu was es ihn veranlasste. Plötzlich waren die Stimmen, die er hier unter Telepathen wegen deren Abschirmung fast gar nicht mehr wahrgenommen hatte, wieder in seinem Kopf und noch schlimmer, sie brannten wie Feuer in seinem Gehirn. Fast wie damals, als seine telepathischen Fähigkeiten ausgebrochen waren. Seiji ächzte und wandt sich schmerzerfüllt. Was ist mit ihm?, vernahm er die verwunderten Gedanken von Cyrus, sah sich selbst mit dessen Augen, hörte die Stimmen der Leute nebenan, als würden sie laut reden, aber direkt in seinem Kopf und gleichzeitig eine ätzende Spur in sein Gehirn brennen. Draußen auf dem Korridor nahm er Mitchells Angst wahr, die er fast zu riechen glaubte, da Lorane ihm wegen der Beleidigungen beim Frühstück auf die Pelle gerückt war. Jener dagegen wandte sich ihm sofort telepathisch zu und Seiji spürte dessen Überraschung. Auch Loranes Präsenz schmerzte ihn, doch im Gegensatz zu den anderen, nur ein wenig. Ob es an dessen besserer Abschirmung lag? Als er seinen Schmerz spürte, stürzte er in den Untersuchungsraum, um zu sehen, was los war. Als ob man in seinem Gehirn ein Feuer angezündet hätte, so fühlte sich Seijis Kopf an. Es schien, als wollten die Stimmen sein Bewusstsein übernehmen oder es zerstören. „Schalten Sie das aus!“, befahl Lorane, mit einem Blick auf den Hypnosegenerator, dem verdutzten Cyrus, der so eine Reaktion noch nicht erlebt hatte. Doch bevor er der Anweisung Folge leisten konnte, brannte das Gerät plötzlich mit einem unschönen Geräusch aus und sandte durch die Lüftungsschlitze kleine Rauchwölkchen aus. Seiji sackte ächzend in seinem Stuhl zusammen. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte eine Horde Fußballspieler damit trainiert. Schwarze Schlieren tanzten vor seinen Augen und er bemühte sich, das Bewusstsein zu behalten. „Alles in Ordnung?“, fragte Lorane und nahm ihn bei den Schultern. „Geht es wieder?“ Seine Präsenz strahlte für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft. Vielleicht war er ja gar nicht so schlimm, wie Stephen behauptete, dachte Seiji und wunderte sich, dass dieser ihn sogar in den Arm nahm, als er weder eine akustische noch gedankliche Antwort bekam. Denn Seiji wahr so fertig, dass er nicht mal in der Lage war, weiter zu denken. Ob er letztlich das Bewusstsein verlor oder nur in einen unglaublich tiefen Schlaf fiel, wusste er später nicht zu sagen. Als Seiji wieder zu sich kam, pochte sein Kopf immer noch, doch es ging ihm schon viel besser. Er strich sich durch die Haare und blinzelte gegen das Licht. Als er sich daran erinnerte, was vorhin passiert war, stöhnte er. Aber nicht wegen der Schmerzen, sondern weil es ihm furchtbar peinlich war, dass er den Bewusstseinen anderer Leute in so aufdringlicher Weise nahe gekommen war. Hoffentlich nahmen die ihm das nicht übel. „Na wie geht es dir, junger Mann?“, erkundigte sich jemand neben ihm. Seiji schrak zusammen, weil er ihn erst jetzt bemerkte. Irgendwie fühlte sich sein Kopf trotz des Pochens wie in Watte gepackt. Alles war so dumpf, so... leer. Er guckte den Mann neben sich verwundert an. Wieso hatte er ihn nicht bemerkt? War er so abgelenkt gewesen? „G-geht so“, erwiderte er stockend. „Was ist passiert?“ „Oh, als du ohnmächtig wurdest, hat man dich hier in den Krankentrakt gebracht. Falls du dich wunderst, dass du nichts mehr wahrnimmst: Ich habe dir ein Mittel verabreicht, das Psi-Kräfte unterdrückt. Weil du so angeschlagen warst, hielt ich das für besser.“ „Es gibt ein Mittel dagegen?“, wunderte sich Seiji und seine Augen weiteten sich. Wenn das so war, dann könnte er ja seine telepathischen Fähigkeiten für immer abstellen... Aber nein, so einfach war das nicht, so leicht würde ihn die SAT nicht gehen lassen. „Ja, normalerweise empfehle ich die Anwendung nicht, wegen der Nebenwirkungen, aber in Fällen wie diesen und bei einmaliger Einnahme, überwiegen die Vorteile die Nachteile.“ „Nebenwirkungen?“ „Ja, abgesehen davon, dass es bei längerer Einnahme süchtig machen kann, ist es eigentlich ein Medikament, das gegen Schizophrenie entwickelt wurde. Es bei einem Gesunden anzuwenden, würde auf Dauer nur den Geist verwirren.“ „Schade“, flüsterte Seiji. „Du kannst deine telepathischen Fähigkeiten wohl nicht leiden, was? Da bist du aber in der Minderheit. Die meisten Telepathen bilden sich etwas darauf ein und würden alles dafür tun, wenn sie einen so hohen HyB-Wert hätten, wie du.“ Auch das noch, stöhnte Seiji innerlich. Ich will keinen hohen HyB-Wert, ich will überhaupt kein Telepath sein, sondern nur zurück nach Hause, zu Chris und... Alex. Was sie jetzt wohl machen? „Fünfundzwanzig“, erwiderte Eliah Cyrus, als würde das alles sagen. „Das kann nicht sein. Er hat den Generator zum Explodieren gebracht. So etwas könnte nicht mal ich Zustande bringen“, stellte Lorane fest und schaute auf das verschmorte Gerät, das immer noch an seinem Platz vor sich hin stank. „Stimmt, aber überlegen Sie doch mal, wenn wir ihm jetzt sagen, dass sein HyB-Wert in der Spitze bis auf Fünfunddreißig angestiegen ist. Er bekäme nur Schwierigkeiten mit den anderen Schülern, die ihn entweder aus Neid auf den Kieker nehmen würden, oder ihm angstvoll ausweichen. Außerdem könnte er sich auf den hohen Wert etwas einbilden. Zwar macht er mir nicht den Eindruck, aber Macht korrumpiert bekanntlicherweise. Sie könnten ihm eine Menge ersparen, wenn Sie ihm sagen, dass sein HyB-Wert nur bei Fünfundzwanzig liegt. Das ist immer noch sehr hoch und damit wird er schon genug Schwierigkeiten bekommen, aber es ihm stünde trotzdem jede Laufbahn innerhalb der SAT offen, die er gehen möchte. Sie müssten doch am Besten wissen, wie es ist, von anderen aus Neid fertig gemacht zu werden. Nach seiner Ausbildung können wir ihm immer noch den richtigen Wert nennen.“ Lorane starrte ihn auf diese Erklärung hin finster an. Seiji machte ihm keinen so schwachen Eindruck, dass er geschützt werden müsste. Und doch, Cyrus hatte Recht, junge Leute konnten wirklich schlimm sein, wenn sie neidisch waren. Und Telepathen waren meistens ziemlich sensibel. „Seine Kräfte könnten außer Kontrolle geraten,“ fügte Cyrus als weiteres Argument hinzu, „wenn man ihn zu sehr reizt.“ „Na gut. Es kann ja nicht schaden“, gab Lorane nach. Vielleicht war es wirklich besser so. Er zupfte in Gedanken versunken am Kragen seines schwarzen Pullovers, bevor er sich ohne Abschiedsworte abwandte. „Ach, noch etwas“, hielt ihn Cyrus zurück. „Warum machen Sie sich eigentlich solche Sorgen um ihn? Gibt es dafür einen besonderen Grund?“ Lorane zögerte. „Er ist ein sehr starker Telepath“, sagte er dann, als erkläre das alles. „Wer' s glaubt“, flüsterte Cyrus, nachdem sich die Tür hinter dem Anderen geschlossen hatte. Wie lange wohl die Wirkung des Medikaments anhalten würde, fragte sich Seiji. Er lag in seinem Zimmer mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett und starrte an die Decke. Abgesehen von diesem Watte ähnlichen Gefühl, war es erleichternd, mal nicht die Gedanken anderer Leute wahrnehmen zu müssen. Er war ziemlich müde, obwohl es erst Mittag war und schlief deshalb eine Weile, bis er gegen Abend von aufdringlichen Geräuschen gestört wurde. Er hoffte im Halbschlaf, dass sie aufhören würden, doch im Gegenteil, es wurde immer lauter. Schließlich fing es neben ihm auch noch an zu Schreien, so dass Seiji nun kerzengerade und noch immer benebelt, im Bett saß. Erschrocken guckte er auf eine Meute Kinder und Teenager, die sich um einen Jungen mit hellblau gefärbten Haaren scharrte und lauthals am Plappern war. Was machten die in seinem Zimmer? Ach ja: Seiji hatte sich schon gewundert, dass ein zweites Bett im Raum stand. Bekam er jetzt etwa einen Zimmergenossen? Oder doch eher eine ganze Meute davon? Wollten die dann auf dem Boden schlafen? Aber es ging wohl doch nur um den blauhaarigen Jungen, der zwei große Koffer neben sich stehen hatte und geräuschvoll von seinen Freunden Abschied nahm. Seiji guckte verschlafen auf die Meute und wusste nicht so recht, was er tun sollte. An weiter schlafen war nicht zu denken, aber andererseits war er viel zu müde, um an diesem Tag noch mal aufzustehen. Doch als er sich schon einfach wieder hinlegen und die Bettdecke über den Kopf ziehen wollte, bemerkte ihn eines der Kinder. „Da, guck mal, dein Zimmergenosse ist aufgewacht. Der sieht aber lustig aus“, lachte der Eine, woraufhin alle zu kichern anfingen. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Haare in alle Richtungen abstanden und er so verschlafen aussah, überlegte Seiji. „Hy“, gab er von sich. Selbst Kindern gegenüber war er ziemlich schüchtern. Die störten sich aber nicht daran. „Wie heißt du?“, wollte der Blauhaarige wissen. Seiji antwortete ihm und bekam nun seinerseits zu hören, dass der Junge tatsächlich hier einziehen würde und Derik Gordon hieß. „Aber jeder nennt ihn nur Flash“, grinste ein anderer Junge. „Ich bin 14 Jahre alt. Und du? Du siehst irgendwie so alt aus, als müsstest du schon mit deiner Ausbildung fertig sein. Aber dann bekommt man doch ein Einzelzimmer, oder?“ Deriks Worte hörten sich so an, als gehörte Seiji mit seinen achtzehn Jahren schon zum alten Eisen. Das war aber sicher nicht so gemeint, sagte der sich und beantwortete dessen Frage. „Ich bin erst gestern von der SAT entdeckt worden, deshalb fängt meine Ausbildung erst jetzt an“, erklärte er. „Ach so“, machte Derik ein verwundertes Gesicht. „Hast du dich denn nicht freiwillig bei der SAT gemeldet?“ „Nein.“ „Das verstehe ich nicht, ist doch super hier. Hier kann man seine Fähigkeiten trainieren, ist mit anderen Psi-Begabten zusammen und bekommt umsonst Essen und eine Unterkunft. Und die Berufschancen sind auch viel besser.“ „Ja“, erwiderte Seiji nur. „Das sind übrigens meine Freunde aus dem Waisenheim, das meine Eltern leiten“, erklärte er. Seiji guckte überrascht auf die Kindermeute. Er war ja selbst auch im Waisenhaus aufgewachsen, hatte daran aber keine so guten Erinnerungen, beziehungsweise, die meisten verdrängt. „Ich hoffe, wir werden auch Freunde.“ Das schien ja ein ganz netter Junge zu sein, dachte Seiji. „Ja“, stimmte er zu. „Redest du immer so wenig?“ „Was soll ich denn sonst noch sagen?“, wunderte sich Seiji, woraufhin Derik bloß kicherte. Irgendwie war ihm die Situation unangenehm. Also stand er auf und ging erst Mal ins Bad, um sich frisch zu machen, wenn er schon nicht weiterschlafen konnte. Als er wieder zurückkam, sah er gerade noch, wie jetzt auch Deriks Eltern sich von ihm verabschiedeten, bis er schließlich allein zurückblieb und nun gar nicht mehr so fröhlich aussah. Anscheinend wurde ihm erst jetzt klar, dass er von nun an ziemlich alleine und für lange Zeit von zu Hause fort sein würde. Da blickte er auf und bemerkte Seiji im Türrahmen. „Dass wir Freunde werden könnten, hab ich ernst gemeint“, versicherte er. „Und ich hab es ernst gemeint, als ich ja sagte“, schmunzelte Seiji. „Gut, dann... hilfst du mir beim Auspacken?“ Na ja, auf jeden Fall wusste Derik, wie man die Leute für sich einspannte. Dabei musste Seiji selbst noch die meisten seiner Sachen auspacken, weil er bisher nicht dazu gekommen war. „Bist du Telepath oder hast du irgendeine andere Psi-Kraft?“, wollte Derik während des Auspackens neugierig wissen. „Die meisten hier sind ja Telepathen, oder?“ Seiji nickte. „Ja, bin ich.“ „Ich nicht, schade eigentlich. Es wäre mir viel lieber, wenn ich Gedanken lesen könnte. Das ist viel spannender, als das, was ich kann.“ „Was kannst du denn?“ Als hätte Derik nur auf diesen Moment gewartet, begannen seine blauen Augen zu funkeln und straften seine Worte Lügen, dass er seine eigene Fähigkeit nicht so spannend fand. „Ich zeig es dir.“ Der Junge holte aus einer seiner Reisetaschen eine silberne Kugel mit Ständer hervor. Wollte er jetzt wahrsagen? Er stellte die Kugel auf dem Nachttisch ab und fixierte sie mit seinem Blick. Daraufhin begannen kleine, blauweiße Blitze auf der Oberfläche zu zucken. „Wow“, machte Seiji, der ehrlich erstaunt war. „Also, deshalb nennt man dich Flash“, stellte er fest. „Ja“, erwiderte Derik stolz. „Und du, kannst du mir auch mal deine Fähigkeit zeigen und mir sagen, was ich denke?“ Seiji schüttelte den Kopf. „Es gab da... einen Zwischenfall. Deswegen hat mir der Arzt hier ein Medikament gegeben, das meine Psi-Kraft unterdrückt.“ „Einen Zwischenfall?“, Deriks Augen blitzten neugierig. Oh, man ich hätte es wohl weniger mysteriös ausdrücken sollen, seufzte Seiji innerlich. Jetzt ist er erst recht neugierig. „Nun ja, nichts Dramatisches. Bei der Messung meines HyB-Wertes sollte ich meine mentale Barriere senken und dabei...“ Man, das war ganz schön peinlich. Dass er vor Schwäche zusammen gebrochen war, nur weil so viele Gedanken in ihn eingedrungen waren. Wie hörte sich das denn an? „Hast du was kaputt gemacht?“, wollte Derik wissen, wobei seine Augen leuchteten, als wäre es etwas Erstrebenswertes, Dinge mit den eigenen Psi-Kräften zu zerstören. „Nein“, erwiderte Seiji, der nichts davon mitbekommen hatte, was mit dem Hypnosegenerator passiert war. „Es ist nur... Weißt du, wenn anderer Leute Gedanken in übermäßiger Stärke... in deinen Kopf eindringen, dann tut das ganz schön weh. So als würde man in deinem Gehirn ein Feuer anzünden.“ „Oh, das hört sich ja unangenehm an“, nickte Derik verständnisvoll. Er ist süß, obwohl er viel älter ist als ich. Seiji guckte ihn erschrocken an. Offenbar ließ das Medikament langsam nach und er nahm wieder vereinzelte Gedanken wahr. Aber erst nur solche, die besonders stark waren. Er lief rot an. Es war so peinlich. Ein Vierzehnjähriger fand ihn süß! Warum konnte er bloß nicht selbstbewusster und stärker sein? Etwas später klopfte es an der Tür und Seiji bekam in einem Briefumschlag das Ergebnis der HyB-Messung und einen Stundenplan zugestellt. Auch Derik bekam einen Stundenplan, doch seine HyB-Messung stand noch aus. „Wie hoch ist denn dein Wert?“, wollte Derik neugierig wissen und stellte sich auf Zehenspitzen, damit er vielleicht einen Blick auf den Brief erhaschen konnte. „Darf ich' s sehen?“ „Hier“, seufzte Seiji geschlagen und überließ der kleinen Nervensäge das Papier, ohne selbst einen Blick darauf geworfen zu haben. „Wow, HyB 25! Ist ja krass! Das ist doch total selten, oder?“, staunte Derik. „Was?“, wunderte sich Seiji. Das konnte doch nicht sein. Schließlich war bei der Grundmessung Fünfzehn herausgekommen. Gut, nachdem er seine mentale Barriere gesenkt hatte, war es schon klar, dass der Wert höher sein musste, aber doch nicht so viel höher! „Hast du dich auch nicht verlesen?“ „Ich bin doch nicht blöd. Da, guck selbst!“, hielt ihm sein kleiner Zimmergenosse den Brief unter die Nase. Tatsächlich, da stand es schwarz auf weiß. Mit einer Grafik wie er sie auf dem Monitor bei der Messung gesehen hatte. Komisch, die sah genauso aus, wie die bei der Grundmessung. Derik grinste ihn an, als wäre er derjenige, der Seijis Psi-Kräfte zuerst entdeckt und damit ein Anrecht auf sie hatte. Ganz schön besitzergreifend, dieser Junge. Kapitel 4: ----------- So, wieder ein Kapitel meiner total unbeliebten Story. Na ja, bin mal optimistisch und gehe davon aus, dass es an der unpopulären Genre-Mischung liegt und nicht daran, dass sie so schlecht ist. Hab übrigens keine Kursiv-Sachen formatiert, da mir das hier zu umständlich ist. Ich hoffe, man kann die Stellen trotzdem gut verstehen. So und nun viel Spaß mit dem neuen Kapitel. Mitten in der Nacht wachte Seiji auf, da er gestern so viel am Tag geschlafen hatte. Nun konnte er einfach nicht mehr einschlafen, fühlte sich aber trotzdem komisch. Vielleicht gerade weil er so viel geschlafen hatte? Was sollte er denn jetzt mitten in der Nacht machen? Zum Lesen hatte er keine Lust und was anderes kam nicht in Frage. In der Dunkelheit konnte er nur ein paar Streifen Mondlicht an der Decke des Zimmers sehen, die durch die geöffneten Rollo-Schlitze fielen. Während er seine Gedanken so schweifen ließ, bemerkte er, dass das Medikament zur Unterdrückung von Psi-Kräften offenbar endgültig seine Wirkung verloren hatte, denn er nahm wieder leises Murmeln und einige lautere Gedankenfetzen wahr von Leuten, die Nachts arbeiteten oder heftig träumten. Selbst Telepathen hatten ihre Abschirmung nicht immer im Griff, besonders nicht im Schlaf. Außerdem, erinnerte er sich, hatte er gestern ja auch plötzlich durch die Abschirmung einiger anderer Telepathen hindurch „sehen“ können, als er seine mentale Barriere gesenkt hatte. Und nachdem dies nun geschehen war, bedeutete das, dass er nicht mehr in der Lage war, sie wieder so „hochzufahren“ wie zuvor? Es war schon seltsam, er hatte geglaubt, da wäre überhaupt keine Barriere gewesen, weil er doch ständig die Gedanken anderer Leute wahrnahm, ohne es verhindern zu können. Aber jetzt schien es, dass sie zwar vorhanden gewesen war, aber nur dafür gesorgt hatte, dass die Stimmen leiser gewesen waren. Und nicht wie Feuer in seinem Kopf brannten. Es schien endlos zu dauern, bis der Morgen endlich anbrach, aber Seiji blieb trotzdem im Bett liegen. Es gab einfach so vieles, was ihm im Kopf herum schwirrte. Zum Beispiel wusste er immer noch nicht, wie die SAT ihn hatte entdecken können. Oder, warum dieser Lorane so nett zu ihm war, obwohl das sonst nicht seine Art zu sein schien. Und was ihn hier überhaupt erwartete. Schließlich schlich sich der erste Sonnenstrahl – da es Sommer war, schon gegen 05:00 Uhr – durch die Schlitze des Rollos. Also stand Seiji erleichtert und gespannt darauf, wie dieser Unterricht für Psi-Kräfte wohl aussah und wie seine Mitschüler sein würden, auf. Der blauhaarige Wirbelwind schlief noch tief und fest, worüber er ganz froh war. Am Morgen hatte er gerne seine Ruhe – und auch sonst, wenn er ehrlich war. Im Frühstückssaal merkte Seiji erst, was für großen Hunger er hatte. Und der Kaffee hier war auch nicht schlecht. „Hi!“, winkte ihm Stephen zu, bevor er sich an einen Tisch zu seinen Kollegen am anderen Ende des Raumes setzte. Seiji grüßte zurück. Lorane war heute nicht zu sehen. Dafür konnte er Cyrus in der Menschenmenge ausmachen. Ansonsten kannte er hier niemanden. „Hey! Du musst Seiji sein“, begrüßte ihn überraschend eine Frau um die Dreißig mit strahlenden blauen Augen und schulterlangen, blonden Haaren, die ein voll beladenes Frühstückstablett vor sich hertrug und eine Handtasche über der Schulter. Sie lachte ihn an und schien dabei von innen heraus zu strahlen. Damit war sie Seiji auf Anhieb sympathisch. „Ich bin Katja Livingstone und du wunderst dich jetzt bestimmt, woher ich deinen Namen kenne.“ „Ähm, ja. Guten Morgen“, erwiderte Seiji etwas steif. „Nun ja, ich bin gewissermaßen diejenige, die Schuld ist, dass du jetzt hier bist. Ich hoffe, du bist mir deswegen nicht allzu böse. Ich habe dich nämlich in einer Vision gesehen. Ja, ich bin die Hellseherin, von der du wahrscheinlich noch einige Gerüchte hören wirst, aber hör nicht drauf, die meisten sind nur Märchen. Jedenfalls finde ich es immer toll, wenn ich diejenigen, die ich nur aus einer Vision kenne, dann in Wirklichkeit treffe. Denn es ist immer anders, als ich erwartet habe. Visionen sind nämlich selten besonders klar.“ „Ah, deshalb wussten Sie also mein Alter und meine Abstammung, aber nicht meinen Namen oder die Adresse?“, ging Seiji ein Licht auf, den langsam gar nichts mehr wunderte. „Ja, ich wusste nicht mal genau, wie du aussiehst, nur, dass du Lorane über den Haufen rennen würdest. Ist das nicht lustig? Ich konnte ihn einfach nicht vorwarnen, die Vorstellung war zu komisch. Schade, dass ich nicht in Real dabei war. Hat er ein genauso finsteres Gesicht gemacht, wie in meiner Vision?“ „Noch finsterer“, schmunzelte Seiji. Irgendwie konnte er der Frau nicht böse sein, dass sie quasi Schuld war, dass er jetzt hier war. Dafür machte sie einfach einen zu netten Eindruck und wirkte nicht so, als hätte sie in böser Absicht gehandelt. Außerdem machte sie ja auch nur ihren Job. „Was tun Sie denn so, wenn Sie nicht gerade nicht registrierte Telepathen aufspüren?“, wollte Seiji wissen. Die Frage nahm sie offenbar als Einladung und setzte sich zu ihm an den Tisch, während sie antwortete: „Ich helfe der Polizei, Verbrechen aufzuklären. Man lässt mir Dinge von Tatorten zukommen oder führt mich direkt dort hin und dann hoffe ich, eine Vision zu haben. Manchmal helfen mir auch meine Tarotkarten, wenn ich so nicht weiterkomme. Diese Visionen sind nämlich leider nicht so einfach abzurufen, wie andere Psi-Kräfte. Die kommen und gehen wie sie gerade wollen“, lachte sie. „Das ist interessant“, erwiderte Seiji und schob sich eine Gabel Rührei in den Mund. Katja erzählte noch weiter über ihre Arbeit und er freute sich, dass sie von sich aus so aufgeweckt war und mit ihm redete, denn er selbst war eher wortkarg und kam nur schwer mit Leuten zurecht, die weniger redselig waren. Das endete dann meist in peinlichem Schweigen. Nach dem Frühstück war Seiji ganz aufgeregt, da nun die erste Stunde in telepathischer Kontrolle stattfand, was immer man sich genau darunter vorzustellen hatte. Vor dem Klassenraum blieb er stehen und stellte fest, dass außer ihm noch niemand da war, da er ziemlich früh dran war. Etwas später kam eine Gruppe Mädchen, die alle um die vierzehn bis sechzehn Jahre alt aussahen und kicherten ihn von der Seite an, wobei sie versuchten, ihn telepathisch zu „begrüßen“, was Seiji so vorkam, als würden sie ihn abtatschen. Ihm lief eine Gänsehaut über den Körper und er erinnerte sich mit Unbehagen daran, dass viele Mädchen ihn süß fanden. „Ich bin Elly“, stellte sich ein niedliches Mädchen, mit roten Locken und Sommersprossen auf dem Gesicht, vor. „Du musst einer der Neuen sein. Da du schon älter bist, nehme ich an, Seiji und nicht Derik, was?“ Aus der Nähe und als Einzelperson betrachtet, wirkte sie gar nicht mehr so unsympathisch, wie die ganze Gruppe Mädchen. Und obwohl sie eine der Jüngeren war, gehörte sie anscheinend zu den Mutigeren, die ihn nun zuerst angesprochen hatte. „Ja, richtig. Freut mich“, brachte Seiji etwas unbeholfen hervor. „Mich auch“, zwinkerte die Kleine ihm frech-freundlich zu und ging wieder zu ihrer Gruppe. Er guckte ihr gerade so hinterher, als ihn plötzlich ein telepathischer Schlag traf, der ihn taumeln ließ. Es war, als hätte jemand direkt sein Gehirn angefasst. „Ah, da ist also der Schwächling, der gleich bei der HyB-Messung zusammengebrochen ist?“, stellte eine Stimme hinter ihm fest. Woher wusste der das? Seiji wandte sich um und sah vor sich einen Jungen um die sechzehn Jahre alt, der ihn so herablassend musterte, als wäre er der Ältere und zudem der Anführer hier. Er hatte lange, dunkelblonde Haare, die hinten zu einem Zopf zusammengebunden waren und grüne Augen, die verächtlich blitzten. „Sieht so aus“, erwiderte Seiji, der nicht gerade zu den Kampflustigen gehörte. Derartige Streitigkeiten an der Schule hatte er schon immer gehasst und war heilfroh gewesen, als er in die elfte Klasse gekommen war, wo es nicht mehr so zuging wie bei den Jüngeren. Doch hier war er ja vorwiegend mit Jüngeren zusammen, da bei den meisten Leuten die Psi-Kräfte spätestens mit Anfang der Pubertät ausbrachen. Es gab auch nicht wenige, bei denen das schon als Kind der Fall war. Nur er, Seiji, schien so ein Spätzünder zu sein. „Sieht so aus“, schnaubte der Junge und war offenbar verblüfft über die mangelnde Gegenwehr. Das hielt ihn aber nicht davon ab, noch eins nachzusetzen. „Hör mal, falls dir das noch nicht klar sein sollte, ich bin der Klassenbeste und mein HyB-Wert ist fünfundzwanzig und ich werde später SAT-Aufseher. Das heißt, wenn du keinen Ärger kriegen willst, musst du dich mir unterordnen, auch wenn du älter bist. Du tust, was ich dir sage, oder du wirst dein blaues Wunder erleben.“ Seiji guckte ihn verblüfft an, dieser Kleine war ja ganz schön frech. Und auch wenn er sonst so schüchtern war - wenn es um das Thema Gerechtigkeit ging, ließ er sich nicht so leicht unterkriegen. In dem Fall besaß er auch einen außerordentlichen Dickkopf und er sah nicht ein, dass er sich von so einem kleinen Rüpel niedermachen ließ. „Nein“, erwiderte er scheinbar gelassen. „Nein?! Sagt er?!“, der Junge holte tief Luft und schien kurz vor der Explosion zu stehen. Nach dem schüchternen Anfang hatte er offenbar kein Nein erwartet. Der Rest der Klasse schaute nun mit angehaltenem Atem zu den Beiden hinüber. „Ha, das wollen wir doch mal sehen!“ Mit diesen Worten griff eine Art telepathische Klammer nach Seijis Gehirn, und es fühlte sich an, wie wenn man einem die Luft abdrückt. Er taumelte und hielt sich den Kopf. „Hey, was machst du mit meinem Freund?“, wollte da eine empörte Stimme wissen. Der blonde Junge wandte sich um und entdeckte einen kleinen, blauhaarigen Jungen mit böse funkelnden Augen. „Lass das, oder ich koche dich!“ Derik formte zur Demonstration ein paar Blitze, die nun zwischen seinen Händen zuckten. „Ha!“, machte Angesprochener und entließ Seiji tatsächlich aus seinem telepathischen Klammergriff, der erleichtert ausatmete. „So ist das also, du bist so eine Memme, dass du dich von dem Kleinen da beschützen lassen musst. Wie erbärmlich.“ Der blonde Junge wandte sich, die Nase in der Luft, ab, als hätte er gerochen, dass gerade der Lehrer ankam. Wahrscheinlich hatte er es tatsächlich telepathisch wahrgenommen. „Na dann, Guten Morgen, allerseits“, eröffnete der Lehrer die Stunde, als endlich alle ruhig im Klassenraum saßen. „Für die Neuen unter uns: Ich bin Samuel Lessner und euer Lehrer für telepathische Kontrolle. Das schließt alles ein, angefangen davon, wie man sich vor anderer Leute Gedanken bis hin zu telepathischen Attacken abschirmt und wie man selbst solche ausführt, sowie wie man seine eigenen Psi-Kräfte mit denen anderer verbinden kann.“ Derik reckte seinen Arm in die Höhe. „Ja, junger Mann?“ „Aber ich bin doch gar kein Telepath, ich kann Blitze erzeugen, bin ich hier dann nicht falsch?“ „Nun, das Grundsätzliche, wie man seine Psi-Kräfte kontrollieren kann, wirst du auch hier lernen. Und auch, wenn du kein Telepath bist, wirst du trotzdem lernen können, deine Gedanken abzuschirmen, das kann man auch mittels anderer Psi-Kräfte. Außerdem ist es schlicht und einfach so, dass es viel zu wenige Menschen mit anderen Talenten gibt, als dass es sich lohnen würde, dafür Klassen zu bilden. Also wirst du dich mit dieser hier begnügen müssen.“ „Verstehe.“ „Gut. Nun, wir haben zwei Neuzugänge, wo wir schon mal dabei sind, stell dich doch gleich vor“, forderte er den Jungen auf. Anschließend tat es Seiji ihm nach und war froh, als er damit fertig war und die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf ihm lag, als der blonde Junge von vorhin sich meldete. „Ja, Jason, was gibt es?“, fragte Mr. Lessner. „Ich möchte noch etwas von Seiji wissen. Wie hoch ist denn dein HyB-Wert?“ Jetzt starrten ihn alle erwartungsvoll an. Seiji lief rot an und brachte kein Wort hervor. „Was, traust du dich nicht, es zu sagen, weil er so niedrig ist? Vielleicht mickrige Fünf?“, provozierte ihn Jason. „Oh, ich brech gleich zusammen, weil mein geringer HyB-Wert gemessen wird, Dornröschen?“, höhnte er. „Jetzt reicht es aber!“, schimpfte Mr. Lessner. „Jason, beleidige deine Klassenkameraden nicht!“ Jason brummelte verärgert. „Wenn Seiji seinen HyB-Wert nicht verraten will, dann ist das sein gutes Recht. Und jetzt fangen wir mit dem Unterricht an.“ Na, von wegen, den werde ich schon noch herausfinden und wenn sein HyB-Wert wirklich nur bei Fünf liegt, dann wird sich die ganze Klasse über ihn schlapplachen, fing Seiji den beleidigten Gedanken Jasons auf. Doch der hatte den unfreiwilligen Gedankenkontakt offenbar bemerkt und blitzte ihn nun zwischen den Tischen hindurch böse an. Warte nur, bis der Unterricht vorbei und dein kleiner Leibwächter nicht mehr da ist!, verkündete er. Dann wirst du dafür bezahlen, dass du es gewagt hast, einfach meine Gedanken zu lesen! Dafür kann er ja nichts, wenn du so blöd bist, deine Gedanken so laut hinauszuschreien, stellte eine andere Stimme fest. „E-elly“, brachte Jason ganz kleinlaut hervor. Offenbar lag ihm etwas an dem Mädchen. „JASON EDWARDS!“, fuhr Mr. Lessner laut dazwischen und alle zuckten zusammen. „Jetzt reicht es aber! Von nun an herrscht Ruhe! Und das gilt auch für eure Gedanken! Und du sitzt heute nach!“ „Och, nö“, stöhnte Jason. „Also“, begann Mr. Lessner an Seiji und Derik gewandt. „Ihr beide könnt eure Bücher nach dem Unterricht in meinem Büro abholen. Bis dahin schaut bitte bei euren Nachbarn rein. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass ihr einigen Stoff nachholen müsst, da ihr mitten im Jahr zu uns gestoßen seid.“ Die Beiden versicherten brav, dass sie das tun würden. „Fangen wir also damit an, noch mal unsere Abschirmung zu verbessern.“ „Nicht schon wieder dieses langweilige Thema“, stöhnte Jason halblaut. „Hast du etwas gesagt, Jason?“, mahnte Mr. Lessner. „Ich frage mich nur, warum wir das schon wieder machen müssen. Wir wissen inzwischen wie man sich abschirmt. Nur wegen dieser beiden Neuen gehen wir das Thema noch mal durch. Haben Sie nicht gerade gesagt, dass die das außerhalb des Unterrichts nachholen sollen?“ „Oh, da verstehst du was falsch. Diese Wiederholung ist für euch. Eine Wiederholung für Fortgeschrittene, sozusagen. Denn sich gut abzuschirmen ist keineswegs so leicht wie manche von euch glauben. Eigentlich ist es das schwierigste überhaupt. Sogar manche ausgebildete SAT-Aufseher haben damit noch Probleme.“ „Wen er damit wohl meint?“, flüsterte es ironisch hinter Seiji, der unwillkürlich an Stephen Mitchell denken musste. Dessen Abschirmung war auch nicht ganz wasserdicht. In dieser Stunde lernte Seiji, dass es zwei wesentliche Methoden gab, sich abzuschirmen. Im Grunde bestanden aber beide aus Ablenkung. Eine direkte Möglichkeit, die Gedanken anderer Leute abzublocken, gab es nicht. Entweder konnte man sich etwas vorstellen, ein bestimmtes Gedankenbild, ein Gedicht oder eine Melodie, was immer einem am leichtesten fiel und sich darauf so stark konzentrieren, dass alle anderen Gedanken nicht mehr wahrgenommen wurden und auch umgekehrt, andere Telepathen nur noch dieses Gedankenbild wahrnahmen. Dies war allerdings eine Methode, die sich schwer ständig aufrechterhalten ließ, da man sich schlecht gleichzeitig auf etwas anderes konzentrieren konnte. Sie war eigentlich nur für Anfänger gedacht, bis man die zweite, schwierigere Methode erlernte, die dafür aber viel effektiver war: Nämlich musste man statt eines Gedankenbildes Emotionen simulieren. Man musste sich auf ein bestimmtes Gefühl konzentrieren und dieses tatsächlich in dem Moment spüren. So wie ein Schauspieler, der auf Kommando weinen sollte. Auf dem Weg dahin halfen auch Gedankenbilder und deswegen war das die erste Stufe. Mann nannte dies „Emotio-Block“. Jetzt wurde Seiji auch klar, warum er manchmal, wenn ihn besonders starke Emotionen bewegt hatten, kurzzeitig mal keine Gedanken wahrgenommen hatte. Es durfte allerdings keine Emotion wie Liebe sein, denn diese rief eher das Gegenteil hervor. Es musste etwas sein wie Wut, Eifer oder Hass. Auch kein berauschender Gedanke. Etwas ganz anderes war dagegen eine unterbewusste mentale Barriere. Man wusste nicht wie sie eigentlich funktionierte und wie man diese Art von Abschirmung bewusst selbst erzeugen konnte. Man war lediglich in der Lage, sie mit Hilfe eines Hypnotiseurs oder eines Hypnosegenerators zu errichten. Aber das war unsinnig, denn wenn diese Barriere erst mal da war, war es nicht so einfach, sie nach Belieben wieder zu senken, wenn man seine telepathischen Fähigkeiten einsetzen wollte. Auf Kommando irgendetwas fühlen und mich so abzuschirmen, das lerne ich nie, seufzte Seiji. Es ist ja schon schwierig genug, sich auf irgendein Gedankenbild zu konzentrieren. Man kann sich zwar leicht etwas vorstellen, aber wie leicht wird man dann abgelenkt und dann kommen doch Gedanken durch. Oder man konzentriert sich so stark auf die Vorstellung, dass man auch alles andere ausblendet. Doch nun hatte Seiji keine Zeit mehr, sich weitere Gedanken zu machen, denn in der nächsten Doppelstunde hatte er weiteren Unterricht zur Telepathie, aber diesmal nur rein theoretisch. Die Grundlagen, die sie hier lernten, würden erst im nächsten Jahr praktisch geübt werden, da es dabei um die gefährlicheren Sachen ging, wie zum Beispiel, mit Hilfe seiner eigenen Kräfte bei anderen Menschen Illusionen zu erzeugen. Das ging so weit, dass ein starker und ausgebildeter Telepath in der Lage war, jemandem zu suggerieren, dass er gerade getötet wurde, wodurch dieser Mensch so stark daran glaubte, dass er einen Hirnschlag oder einen Herzinfarkt erlitt. Oder einfach wahnsinnig wurde. Seiji hatte gar nicht gewusst, dass telepathische Kräfte so gefährlich sein konnten. Dass man damit bloß Gedanken lesen konnte, war wohl eine Wunschvorstellung. Im Anschluss an den Unterricht für Psi-Kräfte konnte Seiji sein Abitur direkt in der Schule der SAT fortsetzen. Gegen Abend war Seiji fix und fertig. Die ganzen neuen Eindrücke, die bewusste Anwendung seiner telepathischen Fähigkeiten, das war ganz schön viel auf einmal. Nachdem er kurz auf dem Bett gelegen hatte, raffte er sich aber noch einmal auf, da er unbedingt mit Alex telefonieren wollte. Der hatte ja schon seit zwei Tagen nichts von ihm gehört und fragte sich sicher auch, wie es ihm bei der SAT ergangen war. Hoffentlich war Alex nicht mehr sauer, weil er ihm seine Psi-Kräfte verschwiegen hatte. Seiji suchte den nächsten Computerraum auf, da er kein Handy mit Bildübertragung hatte und Alex gern sehen wollte, wenn er mit ihm sprach. „Du bist es“, machte sein blonder Freund überrascht, als er dann auf dem Monitor erschien. „Ja, wie geht es dir?“, lächelte Seiji und strich sich verlegen durch die Haare. „Gut. Alles bestens“, erwiderte Alex knapp, was sonst nicht seine Art war. „B-bist du noch sauer?“, wollte Seiji wissen. „Nein, nein, es ist nur... Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Auf einmal erfahre ich, dass du ein Telepath bist und zur SAT musst. Und ich hab auch noch dort angerufen und man... Wahrscheinlich hatte Chris Recht, das hätte ich nicht machen sollen. Du kriegst auch das ganze Geld, ich überweise es dir, sobald ich es habe. Es tut mir leid.“ „Nein, schon gut. Ich habe ja zugestimmt. So schlimm ist es hier auch gar nicht. Und wir teilen das Geld durch drei, wie abgemacht“, versicherte Seiji. „Gut, also dann...“, seufzte Alex erleichtert. „Aber Chris ist immer noch sauer auf mich. Der wird gar nichts von dem Geld annehmen, du kennst ihn doch, den Sturkopf.“ „Ja, so ist er“, schmunzelte Seiji. „Sehen wir uns vielleicht am Sonntag?“ „Äh, ja klar“, stimmte Alex zu, aber irgendwie hatte er leicht gezögert. Seiji hätte zu gerne gewusst, warum. Es war komisch, weil es nicht mehr gewohnt war, dessen Gedanken nicht zu kennen. Über die Entfernung funktionierte das natürlich nicht. Vielleicht bereitete ihm immer noch Unbehagen, dass Seiji seine Gedanken lesen konnte. „Ich freue mich“, lächelte Seiji und verabschiedete sich mit einem Gruß an Chris. Kapitel 5: ----------- Hallo liebe Leser, nach einer längeren Pause - die wirklich nicht geplant war - melde ich mich zurück mit dem nächsten Kapitel. Ich habe auch vor, die Geschichte weiter fortzusetzen, ich muss mich nur mal selbst treten. Das dürft ihr aber auch gern tun^^. So und jetzt viel Spaß mit dem neuen Kapitel. Am Sonntag freute sich Seiji sehr, dass er wieder vom SAT-Gelände herunter kam. Er war zwar erst seit kurzem dort, aber es kam ihm viel länger vor, so viele Veränderungen hatten stattgefunden. Außerdem freute er sich, Alex und Chris wiederzusehen. Chris hatte ihn auch mal angerufen und verkündet, dass sie mit ein paar Freunden eine Grillparty veranstalten würden. Flash (so nannte Seiji Derik mittlerweile auch) hatte er kurzerhand eingeladen mitzukommen. Der war begeistert gewesen, da seine Eltern diesen Sonntag keine Zeit hatten. Nachdem die Beiden aus der Magnet-Bahn ausgestiegen waren und den Rest des Weges durch die Stadt schlenderten – wobei Flash sich begeistert hier und dort umschaute, da er hier noch nie gewesen war – fiel Seiji auf, dass die meisten Leute, sobald sie ihre SAT-Abzeichen sahen, einen riesigen Bogen um sie machten, oder sie gar mit verächtlichen oder ängstlichen Blicken bedachten. Seiji versuchte, dem entgegenzusteuern, indem er ein freundliches Gesicht machte und lächelte, wenn die Leute ihn verstohlen von der Seite musterten, doch es schien nichts zu helfen. „Ach, mach dir nichts draus. Ignorier die Idioten einfach“, meinte Flash. „Ich hol mir ein Eis, willst du auch eins?“ Seiji stimmte zu und gemeinsam gingen sie zu der Eisdiele an der Ecke. Als Flash ihr Eis bestellte, warf die Bedienung ihnen einen so frostigen Blick zu, dass sie einen Moment lang befürchteten, er würde sie nicht bedienen, sondern eher selbst zu Eis verarbeiten. Doch der Mann überwand sich und enthielt sich eines Kommentars, wobei er innigst hoffte, dass niemand in seinem Kopf rumschnüffeln würde. Anschließend gingen sie, mit den Eistüten in der Hand, weiter. „Hey, sei nicht traurig“, versuchte Flash Seiji aufzumuntern. „Wer gleich solche Vorurteile hat, ohne uns zu kennen, der ist es sowieso nicht wert, dass wir uns mit ihm abgeben.“ „Aber... die Leute haben doch nur Angst. Bestimmt würde es mir auch so gehen, wenn ich kein Telepath wäre. Sie sind nicht schlecht.“ „Wenn du meinst.“ Flash kickte einen Stein weg. Schon von Ferne nahmen sie den verführerischen Duft von gegrilltem Fleisch wahr und als die Beiden um die Ecke von Chris Haus bogen und den Garten vor sich hatten, sahen sie ihn und Alex mit einer dicken Rauchwolke kämpfen. Von den anderen Gästen war noch nichts zu sehen, da sie ziemlich früh dran waren. „Hallo!“, rief Seiji und Chris winkte erfreut zurück, passte aber weiter auf den Grill auf. „Das ist Derik Gordon. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass ich ihn mitgebracht habe?“ „Nein, je mehr Leute, desto besser, sag ich immer“, lachte Chris und begrüßte ihn per Handschlag. „Hi“, gab Alex etwas kleinlaut von sich, was sonst eigentlich nicht seine Art war. Seiji musterte ihn mit offenem Blick. „Freut mich, dich zu sehen, Alex“, lächelte er. „Du tust ja gerade so, als hätten wir uns ewig nicht gesehen.“ „So, tu ich das? Na ja, es kommt mir aber auch wie eine Ewigkeit vor.“ „Was ist, wieso starrst du mich so an?“ Will er jetzt etwa meine Gedanken durchforsten?, fragte sich Alex. „Ich frage mich nur...“ „Was?“ „Nichts“, schüttelte Seiji den Kopf. Er wollte jetzt nicht vor den anderen darüber reden. Alex kam ihm komisch vor und obwohl dessen Gedanken wie ein offenes Buch vor ihm lagen, konnte er daraus doch nicht erkennen, was mit seinem Freund eigentlich los war. Vielleicht weil der es selbst nicht so recht wusste? Jedenfalls lag es nicht nur daran, dass er sich unbehaglich fühlte, weil Seiji seine Gedanken lesen konnte. Nein, da war noch irgendetwas anderes. Später am Tag fragte sich Seiji, ob er nicht einfach gegen das Gesetz, immer das Abzeichen der SAT zu tragen, hätte verstoßen sollen, denn Chris Freunde wichen ihm ebenfalls aus, nachdem sie erfahren hatten, dass er Telepath war. Sie versuchten zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber für Seiji war es, als würden ihre Ängste und Unsicherheiten wie eine Mauer zwischen ihnen stehen. Manche versuchten immerhin, das mit Small-Talk zu kaschieren oder waren ehrlich interessiert, schreckten aber innerlich trotzdem zurück. Nun ja, wer sollte es ihnen verdenken? Schließlich wollte niemand gern seine Gedanken preis geben. Das Sprichwort: Nur die Gedanken sind frei, gehörte in der heutigen Zeit der Vergangenheit an. Flash schaffte es dagegen, mit einer Blitz-Show zu begeistern, die er mit Hilfe einiger silberner Kugeln vorführte und versuchte auch noch, ein Steak zu garen. Leider wurde daraus ein Stück Kohle. Die Leute lachten über sein verdutztes Gesicht, als er den schwarzen Klumpen betrachtete. Seiji beschloss, die Sache ebenfalls locker zu nehmen, egal wie man auf ihn reagierte. Anders ging es wohl auch gar nicht. Als die Gäste gegangen waren, fand Seiji endlich eine Möglichkeit mit Alex allein zu reden, als er half, das schmutzige Geschirr reinzubringen. „Also, was ist eigentlich los, Alex?“, wollte er wissen. „Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte er steif. „Außerdem, wieso fragst du überhaupt noch, hast du nicht schon längst meine Gedanken gelesen?“ „Ich versuche, das nicht zu tun.“ Außerdem sind deine Gedanken zu verwirrend, stellte er für sich fest, denn leider schaffte er es nur manchmal, sich abzuschirmen. Doch dann kam plötzlich ein Gefühl von Alex durch, als dieser ihn von der Seite musterte, das eindeutig war und Seiji wie magisch anzog. Endlich wusste er, was los war. Er konnte einfach nicht widerstehen, lächelte seinen Freund an und ging auf ihn zu, reckte sich, da dieser etwas größer war und küsste ihn kurzerhand auf den Mund. Alex konnte kaum reagieren, so schnell hatte Seiji sich wieder abgewandt und war durch die Tür verschwunden. Er starrte ihm fassungslos hinterher und war dabei rot angelaufen. „Hey, du kannst mich doch nicht einfach küssen und dann abhauen!“, schrie er hinter ihm her. „Was sollte das überhaupt?“ Seiji musste erst mal um ein paar Häuserblocks laufen, um sich zu beruhigen. Was hatte er da gerade angestellt? Wie hatte er seinen besten Freund küssen können? War er wahnsinnig geworden? Außerdem erkannte er sich selbst nicht wieder, da er sich bisher nicht hatte vorstellen können, einen anderen Mann zuerst zu küssen, egal um wen es sich handelte. Wieso, zum Henker, hatte er sich nicht beherrschen können? Woher kamen auf einmal diese Gefühle? Er hatte zwar gespürt, dass Alex genauso empfand, doch es fühlte sich einfach falsch an. Immerhin war Alex wie ein Bruder für ihn, da er ihn schon seit Kindertagen kannte. Wie konnte es sein, dass sie sich plötzlich ineinander verliebten? Außer Atem ließ Seiji sich auf einer Bank nieder. Eigentlich fühlte es sich gar nicht übel an, in Alex verliebt zu sein. Aber die Tatsache machte ihm Angst. Er war noch nie verliebt gewesen und wusste nicht, auf was er sich da einließ. Und außerdem bedeutete das, dass sich alles zwischen ihnen verändern würde. Ob das gut ausgehen konnte? Wenn sie jetzt etwas miteinander anfangen würden und es dann schiefgehen würde, dann könnten sie nie wieder so unverfangen miteinander umgehen wie früher. Aber das ganze Grübeln half auch nicht, er musste wieder zurück und mit Alex reden. „Da bist du ja wieder“, stellte Alex fest. „Also... was hatte das eben zu bedeuten?“ Seiji schluckte. „D-das ich dich sehr mag. Und du empfindest doch auch so, nicht wahr?“ „Hey, das ist fies. Lies nicht meine Gedanken!“ Alex wurde wieder rot. Das war ja so was von peinlich. „Entschuldige, es ist nicht leicht, deine Gedanken auszublenden. Besonders, wenn du so etwas denkst.“ Auf diese Worte hin wurde Alex Gesichtsfarbe noch eine Nuance dunkler. „I-ich hab mir das nicht ausgesucht!“, fauchte er. „Ich... da versuche ich gerade, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich... irgendwie schwul bin und dann... dann fühle ich mich auch noch ausgerechnet zu dir hingezogen. Glaubst du, das gefällt mir?“ „Für mich ist das auch merkwürdig. Glaub mir, das ist für mich auch das erste Mal, dass ich so für dich empfinde. Es tut mir leid. Wahrscheinlich ist es das Beste, wir vergessen die Sache und tun so, als wäre nichts passiert.“ „Ja, genau. Das ist eine gute Idee“, stimmte Alex zu und beide blickten sich im Einverständnis in die Augen, wobei Seiji so ein Kribbeln in sich spürte, das er nie zuvor in Alex' Gegenwart empfunden hatte. Die Nacht hatten Seiji und Derik in der WG verbracht, wobei Derik auf dem Sofa schlief. Am nächsten Morgen raffte Seiji sich auf, um sich anzuziehen, wobei ihm siedendheiß einfiel, dass ja mittlerweile Montag war und ein Blick auf den Wecker belehrte ihn darüber, dass die Hälfte des Morgens schon vorbei war. Aus lauter Verwirrung über die neuen Gefühle seinem alten Freund gegenüber, hatte er glatt vergessen, den Wecker zu stellen. Das würde wahrscheinlich mächtig Ärger geben. Als er im Eiltempo geduscht und sich angezogen hatte, schaltete er sein Handy ein, das auch sofort sturmklingelte. Er nahm ab und hörte erst mal die kreischende Stimme Stephen Mitchells, der total außer sich war, weil er angenommen hatte, Seiji wäre auf nimmer Wiedersehen geflüchtet und zwar zusammen mit Derik, denn der war auch noch nicht wieder aufgetaucht. „Entschuldige bitte, ich hatte nicht vor zu fliehen, ich habe nur total verschlafen.“ „Dann heb deinen Hintern hoch und mach, dass du zusammen mit Derik hier her kommst und ich blase schnell die Suchaktion ab“, erwiderte er ziemlich verärgert und legte auf. Seiji schaute schuldbewusst auf das Handy. So etwas passierte ihm normalerweise nie. Sonst war er immer die Pünktlichkeit in Person. Dass die SAT aber auch gleich so ein Aufhebens machen und eine Suchaktion starten musste. Das kam Seiji seltsam übertrieben vor. In der Schule angekommen, bekamen sie gerade noch den Rest des Unterrichts für Psi-Kräfte mit und damit blieb nur noch der normale Unterricht am Nachmittag übrig. In der Mittagspause suchte sich Seiji mit einem Sandwich ein ruhiges Plätzchen auf dem Hof, der ein bisschen wie ein Park aussah. Er hatte gerade zwei Mal abgebissen, als ein Mädchen mit blonden, langen, etwas welligen Haaren und grünen Augen, auf ihn zukam. Sie war schlank und sah ziemlich gut aus, in ihrem weißen, enganliegenden Anzug. „Hallo!“, grüßte sie. „Bist du einer der Neuen?“, fragte sie, was offensichtlich war. „Seiji, nicht wahr? Na ja, wenn selten Neulinge dazukommen, verbreiten sich die Nachrichten darüber mit Lichtgeschwindigkeit, erst recht, wenn man unter Telepathen ist“, lachte sie. „Ich bin Sharon und aus der Psi-Klasse über dir.“ „Freut mich, dich kennenzulernen“, erwiderte Seiji. „Darf ich mich setzen?“ „Klar.“ „Hm. Also, ich will später mal SAT-Aufseherin werden. Zum Glück ist mein HyB-Wert 25, so dass es möglich ist. Und du?“, wollte sie wissen. „Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, was ich beruflich machen will. Das heißt, eigentlich wollte ich Ingenieurwissenschaften studieren, bevor ich zur SAT kam, aber das geht hier ja nicht.“ „Oh, das tut mir leid. Aber hier gibt es auch jede Menge klasse Berufe. Überhaupt ist es toll, Telepath zu sein, finde ich, und dafür verzichte ich auch gerne auf Berufe, die wir nicht machen dürfen“, schaute sie glücklich auf einen Punkt irgendwo in der Ferne. „Das freut mich für dich, dass du es so toll findest. Mir gefällt es nicht so gut. Ich wünschte, ich wäre kein Telepath“, erklärte Seiji. „Was, wieso denn das?“ Sharon schaute ihn total überrascht an. Offenbar konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, das irgendjemand es nicht supertoll finden könnte, Telepath zu sein. „Es ist doch cool, immer die Gedanken der anderen Menschen zu kennen. Niemand kann uns belügen – na ja, außer anderen Telepathen, die sich abschirmen. So kann uns niemand hintergehen oder Geheimnisse vor uns haben. Dadurch gibt es auch weniger Missverständnisse. Und wir können bei einem Konflikt einfach die Gegner beeinflussen, so dass sie aufhören zu kämpfen, ohne dass wir Waffen einsetzen müssen“, zählte sie weiter auf. „Und nicht zuletzt“, hier kicherte sie verlegen, „können wir damit einander so nahe sein wie sonst kein Mensch.“ „Ja, das ist schon schön“, gab Seiji zu. „Aber ich finde es unangenehm, immer die Gedanken anderer Menschen wahrzunehmen, auch dann, wenn ich es nicht will. Ich hoffe, ich lerne möglichst schnell, mich abzuschirmen. Leider ist es ganz schön schwierig.“ „Da sagst du was.“ „Ach, ich finde, du schirmst dich sehr gut ab.“ „Ach ja?“, freute sich Sharon über das Kompliment. „Was soll das werden?“, baute sich plötzlich ein bedrohlicher Schatten hinter ihnen auf. Seiji guckte sich um und entdeckte zu seinem Leidwesen Jason Edwards, der mit wütend funkelnden Augen auf ihn herabblickte. „Wie kommst du dazu, dich an meine Schwester heranzumachen, du Looser!“ „D-deine Schwester?“ „Ja, ganz genau. Das wusstest du wohl nicht? Dann weißt du' s jetzt. Und ich sag dir eins, wenn du ihr noch mal nahe kommst, oder ihr auch nur einen schiefen Blick zuwirfst, dann...“ „Jason!“, fuhr Sharon dazwischen. „Was soll das? Lass ihn in Ruhe! Es geht dich überhaupt nichts an, mit wem ich rede, klar! Außerdem bist du mein kleiner Bruder und eigentlich müsste ich eher auf dich aufpassen und nicht umgekehrt.“ Jason guckte seine Schwester schuldbewusst an und wirkte auf einmal, als sei sein Ego um vier Nummern geschrumpft. „A-aber, hat er dich nicht belästigt?“, versuchte er einen Einwand. „Nein. Und damit du' s weißt, ich habe ihn zuerst angesprochen. Du, Seiji, mach dir nichts draus, mein kleiner Bruder ist immer so fies. Das liegt nicht an dir.“ „S-schon gut“, erwiderte Seiji. Aus diesem Konflikt wollte er sich lieber heraushalten. „Willst du dich wirklich mit diesem Schwächling einlassen?“, erkundigte sich Jason mit verächtlichem Blick. „Und sein HyB-Wert ist so niedrig, dass er sich nicht mal getraut hat, ihn zu sagen. So einer ist nichts für dich“, stellte er fest. „Ach ja? Mal abgesehen davon, dass ich nur mit ihm geredet habe, ich betone, geredet und nicht mehr, ist es meine Sache, mit wem ich mich einlasse, klar. Du hast mir nichts zu sagen“, stand Sharon mit böse funkelnden Augen auf. „Pft. Wenn du unbedingt willst... Ich habe dich ja nur gewarnt. Du solltest dir einen Besseren suchen.“ Mit diesen Worten wandte sich Jason ab und wirkte dabei wie die Arroganz in Person. Wir sind noch nicht fertig, sandte er noch einen Gedanken an Seiji. Doch das war nicht der einzige Ärger an diesem Tag. Nach dem Unterricht wurde Seiji auch noch zum Schuldirektor gerufen, der ihm ordentlich den Kopf wusch, von wegen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit und dass er den Rest des Monats Ausgehverbot habe. Auch Derik blieb nicht verschont. Kapitel 6: ----------- Mal abgesehen von den ständigen Sticheleien Jasons, lief es für Seiji eigentlich ganz gut in der Schule der SAT. Seine übrigen Klassenkameraden waren nett und er war gut im Unterricht, sowohl bei den Psi-Kräften, als auch was sein Abitur betraf. Sogar das Abschirmen, das ihm die meisten Schwierigkeiten bereitete, lernte er langsam aber sicher. Doch bis er es würde richtig können, war es noch ein weiter Weg. Die Tage vergingen wie im Flug und wenn Seiji nicht lernte, war er bei und Chris und Alex, wobei zwischen den beiden seit dem letzten Vorfall ein seltsames Verhältnis herrschte. Einerseits versuchten sie, sich zu benehmen wie früher, auf der anderen Seite war es ihnen aber doch seltsam peinlich, miteinander umzugehen. So konnte es wirklich nicht weitergehen, befand Seiji, hatte aber keine Zeit, sich näher mit dem Problem zu befassen. Außerdem wusste er auch nicht, was er überhaupt machen konnte, um ihr Verhältnis zu entspannen. Wollte er das überhaupt? Eines Abends wurde Seiji überraschend in Gregory Loranes Büro gerufen. Er fragte sich, was der SAT-Aufseher von ihm wollte. Er hatte ihn schon längere Zeit nicht mehr gesehen, weil dieser natürlich mit sehr vielen Aufträgen beschäftigt war, da es so wenige Aufseher gab. 'Herein', forderte Lorane ihn telepathisch auf, als er ihn vor der Tür bemerkte. Seiji zuckte zusammen. So „angesprochen“ zu werden, daran musste er sich noch gewöhnen. Die Tür glitt mit einem leisen Summen beiseite und er trat ein. Kurz darauf blieb er stehen und sah Lorane hinter seinem Schreibtisch stehen, wo er gerade einige Dinge sortierte. „Immer dieses Chaos“, bemerkte er dabei. „Ich bin so selten hier, dass ich jedes Mal, wenn ich hier raus gehe, alles nur auf einen Haufen schmeiße und mir denke: das zu sortieren, kann ich auch später noch machen, das ist nicht so wichtig. Aber dann komme ich eines Tages hier rein und blicke auf einen Berg von Papieren und Akten und was weiß ich nicht noch alles. Und ich denke mir, ach du meine Güte, wie sieht es denn hier aus? Wie soll ich in diesem Chaos noch etwas finden?“, lächelte er. „Der Idiot, der vor ein paar Jahrzehnten meinte, das Papier würde abgeschafft werden, hat sich jedenfalls gründlich geiirt. Trotz all unserer Computer müssen wir uns immer noch damit herumschlagen.“ Seiji fühlte sich gleich etwas entspannter, auch wenn er immer noch nicht wusste, warum er hier war. „Aber, setz dich doch“, wurde er mit einem Deut auf den Sessel vor dem Schreibtisch aufgefordert. Seiji ließ sich nieder und blickte Lorane neugierig an. „Du bist nicht gerade der Redseligste, was?“, stellte dieser fest. „Tut mir leid, ich...“ „Nein, schon gut. Solange du deine Arbeit gut machst, ist das in Ordnung. Und außerdem spielt sich das Wichtigste bei uns ja sowieso in den Gedanken ab, nicht wahr?“, grinste er. Seiji atmete etwas erleichtert aus. So lange er denken konnte, war es nämlich schon immer so gewesen, dass andere Leute ihn nicht mochten oder missverstanden, weil er so wenig redete. Dabei war es bloß so, dass er einfach nicht so viel zu sagen hatte. „Apropos: hast du dich schon entschieden, welchen Beruf du wählen willst?“, blickte Lorane ihn erwartungsvoll an. „Äh, ehrlich gesagt, weiß ich das noch nicht. Das, was ich eigentlich machen wollte, ist hier ja nicht möglich und bis jetzt konnte ich mich einfach noch nicht für etwas anderes entscheiden.“ „Verstehe. Aber siehst du, genau deswegen wollte ich mal mit dir sprechen“, setzte sich Lorane. „Du weißt sicher, wie wenige SAT-Aufseher es gibt, da es einfach zu wenige Telepathen mit einem HyB-Wert von 25, von höheren gar nicht zu reden, gibt. Fast hat man sich schon überlegt, den Grenzwert für diesen Beruf auf 20 zu senken, bis die beiden Edwards-Geschwister und du aufgetaucht seid. Deshalb wollte ich dir nahelegen, diesen Beruf zu ergreifen. Du wärst einfach... prädestiniert dafür.“ Seiji war erst mal sprachlos. Er hatte nicht damit gerechnet, dass man ihm einen solchen Vorschlag einfach aufgrund seines hohen HyB-Wertes machen würde. Herrschte wirklich ein so großer Mangel an starken Telepathen, dass man selbst nach dem letzten Strohhalm griff? Oder hatte einfach noch niemand in dieser Einrichtung bemerkt, dass Seiji viel zu schüchtern war und außerdem keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, als dass er sich auch nur ansatzweise als SAT-Aufseher eignen würde? „Danke, das ist sicher sehr großzügig von Ihnen, mir das anzubieten, aber ich denke nicht, dass dieser Beruf etwas für mich ist.“ „Warum denn nicht?“, wunderte sich Lorane. „Dieser Beruf bietet großartige Aufstiegsmöglichkeiten und außerdem ein sehr gutes Gehalt. Mal ganz davon abgesehen, dass du anderen Telepathen damit helfen könntest. Du solltest wirklich noch einmal darüber nachdenken, bevor du ablehnst.“ „Das kling alles... großartig, aber ich denke nicht, dass ich dafür geeignet bin. Abgesehen von meinem HyB-Wert, passt dieser Beruf überhaupt nicht zu mir.“ Lorane schlug mit beiden flachen Händen auf den Tisch. „Wieso glaubst du, nicht geeignet dafür zu sein? Glaub mir, auch wenn du dich jetzt noch nicht bereit dafür fühlst und es sicher auch noch nicht bist, nach deiner Ausbildung wirst du es sein. Dafür werden wir schon sorgen. Und bei deinen Fähigkeiten brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn alles andere kann man lernen, ob du es jetzt glaubst oder nicht“, blickte er ihn intensiv an, wobei seine schwarzen Augen zu funkeln schienen. Seiji schluckte. Fast hätte er allem zugestimmt, nur um dieser erdrückenden Präsenz zu entgehen, aber viel schlimmer war ihm der Gedanke, SAT-Aufseher zu werden. Mal abgesehen davon, dass er nicht dafür geeignet war, würden dann die Leute noch viel mehr Angst vor ihm haben, als jetzt schon. „Es tut mir leid, aber ich kann das wirklich nicht.“ Für einen Augenblick schien es, als wolle Lorane ihn für diese Antwort auffressen, doch dann streifte er seinen Ärger ab, wie einen alten Mantel, entspannte sich und lächelte – zumindest oberflächlich. „Nun ja, du hast ja noch viel Zeit, darüber nachzudenken. Glaub mir, du kannst mehr erreichen, als du dir zutraust. Also dann, ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung“, gab er ihm zum Abschied die Hand. Obwohl er dabei lächelte und seinen Tonfall auch nicht änderte, schaffte er es dennoch, diese Aussage wie eine Drohung klingen zu lassen. Seiji wusste nicht wie er das anstellte, oder konnte er das nur wahrnehmen, weil er trotz Loranes fast perfekter Abschirmung doch eine kleine gedankliche „Reststrahlung“ spürte? Er schluckte und verabschiedete sich höflich. Als er vor der Tür und von der erdrückenden Präsenz Loranes befreit war, atmete er erleichtert aus und merkte erst jetzt wie sehr ihn die Begegnung belastet hatte. Er wusste nicht so recht, was er von Lorane halten sollte, denn einerseits wirkte dieser durchaus sympathisch, doch andererseits hatte er so etwas an sich, das, wenn man sich einmal umwandte und ihm den Rücken zukehrte, unvermittelt zuschlagen könnte. Oder wenn man sich gegen ihn wandte. Jedenfalls wirkte er so auf Seiji, der sich an Mitchells Worte erinnerte. Was ihn wiederum zu der Frage führte, wieso Lorane so nett mit ihm umging, obwohl er doch angeblich so ein Monster sein sollte. War es etwa nur, weil er ihn wegen seines hohen HyB-Wertes überzeugen wollte, SAT-Aufseher zu werden? Oder gab es noch einen anderen Grund? Am nächsten Morgen wollte es das „Schicksal“, oder genauer gesagt, ihr Lehrer, Mr. Lessner, dass Seiji und Jason in einem wichtigen „Block-Test“, bei dem es darum ging, sich so gut und so lange wie möglich abzuschirmen, gegeneinander antreten sollten. Dabei griff einer der Partner den anderen telepathisch an, während der andere abblocken musste und dann wieder umgekehrt. „Was, ich soll gegen DEN antreten?“, verschränkte Jason empört die Arme vor der Brust. „Der spielt doch nicht mal annähernd in meiner Liga. Da kann ich Ihnen gleich sagen, wie das Ergebnis aussehen wird: Er wird platt sein, sobald ich ihn auch nur anstupse.“ „Ich glaube, du unterschätzt Seiji. Ich habe natürlich bei der Auswahl darauf geachtet, dass ihr alle gegen jemanden mit gleichem HyB-Wert antretet. Da ihr mit HyB 25 aber nur zu dritt seid, wird Seiji morgen, wenn er sich von dem heutigen Test erholt haben wird, gegen deine Schwester antreten, damit sie auch eine gerechte Bewertung bekommt.“ „WAS?“, Jason war von seinem Stuhl aufgesprungen, der nun nach hinten umkippte. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. „DER DA...“, damit zeigte er auf Seiji, „soll einen HyB-Wert von 25 haben? Nie im Leben! Dafür ist er doch viel zu schwach!“ „Setz dich bitte wieder, Jason und beruhige dich. Entweder du führst den Test nach Vorgabe durch und das heißt, auch mit dem Partner, den ich dir zugeteilt habe, oder ich trage dir ein „nicht Bestanden“ ein. Also, du kannst dir aussuchen, was dir lieber ist, ist das klar?“ Jason rang sich widerwillig ein „Ja“ ab, da er keine schlechte Note kassieren wollte. Jason setzte sich also Seiji gegenüber und war fest entschlossen, diesen fertig zu machen, HyB 25 hin oder her. Der konnte eh nicht so gut sein, wie er selbst. Das hatte er ja schon zu Anfang gemerkt. Seiji holte tief Luft und wappnete sich gegen die Attacke, denn Jason sollte als erstes angreifen. Er konzentrierte sich dabei auf das Gedankenbild, das er trainiert hatte: Einen wunderschönen Fluss, mit dem grünen und von Steinen umgebenen Ufer, wie er ihn von zu Hause her kannte. Er hatte seine Konzentration noch gar nicht richtig gefestigt, da schien auch schon etwas, oder besser gesagt, Jason, seinen Verstand herum zu drehen. Dieser ging wirklich mit dem Holzhammer vor und verursachte ihm stechende Kopfschmerzen. 'Das soll deine Abschirmung sein?', höhnte er. 'Ich wusste doch, du bist ein Schwächling!' Wie flüssiges Feuer brannte sich Jasons Präsenz durch Seijis Geist, drohte seine Nervenbahnen zu verbrennen. Sein Gedankenbild war längst verschwunden und er konnte es auch nicht mehr zurückholen. Er erkannte Jasons Geist und das war noch schlimmer, als die Schmerzen. Denn dieser war innerlich so voller Wut und Verachtung. Und er hatte Spaß daran, andere zu quälen. Wie konnte ein Mensch nur so gemein sein? Das würde Seiji nie verstehen. Wieso gab es immer wieder Menschen, die Freude hatten, anderen Schmerzen zuzufügen? Wie konnte man so etwas toll finden? Aber war da nicht hinter der Wut und dem Sadismus noch etwas anderes? Schmerz? Er spürte, dass Jasons Freude noch mehr in Wut umschlug, als dieser merkte, dass Seiji während seiner Attacke gleichzeitig noch seinen Geist „durchdrang“. Natürlich, er konnte nur angreifen, indem er die Gedanken des anderen berührte und durcheinander brachte, aber was ihm nicht gefiel, war, dass er nicht die vollständige Kontrolle hatte und von sich selbst auch etwas preisgeben musste. Das machte ihn so wütend, dass er noch eins drauf setzte und Seiji noch stärkere Kopfschmerzen verursachte. 'Pass auf, gleich gehörst du mir!', verkündete Jason. Er wollte doch tatsächlich die Kontrolle über seinen Geist übernehmen. Aber das war verboten, denn es könnte das Bewusstsein eines anderen für immer zerstören. Doch Jason schien keine Regeln zu kennen. „Hör auf, das reicht jetzt, Jason!“, rief Mr. Lessner, der genau aufgepasst hatte. Doch den Jungen interessierte das gar nicht. Der Lehrer wollte schon eingreifen, als das Duell eine plötzliche Wende nahm. Seiji, der einfach nicht verstehen konnte, wie jemand Spaß daran haben konnte, anderen Schmerzen zuzufügen, fragte sich, wie es wohl wäre, wenn Jason diesen Schmerz selbst spüren würde. Würde er dann anders darüber denken? Seiji versuchte, ihm dieses Gefühl zu vermitteln. Erstaunlicherweise ging das leichter als gedacht und er fühlte sich sogar seltsam befreit. Doch dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte - von einer Sekunde auf die andere lag Jason schreiend auf dem Boden und hielt sich verkrampft den Kopf. Seiji war selbst überrascht, was er da angerichtet hatte und blickte erschrocken auf dem sich am Boden windenden Jungen. Dieser hatte zwar inzwischen aufgehört zu schreien, aber wimmerte immer noch vor sich hin. „I-ich wollte das nicht, ich...“ „Für Erklärungen ist später Zeit. Jetzt müssen wir uns erst mal um den Jungen kümmern“, bestimmte Mr. Lessner und half diesem auf die Beine. „Jason, hörst du mich? Wie geht es dir?“ Der Junge zuckte nur zusammen und schien immer noch von Schmerzen erfüllt. „Ich bringe ihn auf die Krankenstation und ihr könnt für heute Schluss machen“, erklärte er an die Klasse gewandt. „Und du, Seiji, triffst mich in einer halben Stunde in meinem Büro.“ Seiji sank das Herz in die Hose. Was hatte er da nur angerichtet? Wie hatte das passieren können? Er hatte sich doch nur verteidigen wollen. Er hatte gar nicht angegriffen! Wie konnte es dann sein, dass Jason trotzdem so starke Schmerzen hatte? Besagte halbe Stunde später stand Seiji ganz nervös und hibbelig vor Mr. Lessners Büro. Dieser verspätete sich offenbar etwas. Ob er ihm glauben würde, dass dieser Angriff keine Absicht gewesen war? Nun ja, zur Not könnte er ihn auch seine Gedanken lesen lassen, dann wüsste er Bescheid, auch wenn das unangenehm wäre. „Na, Seiji? Dann komm mal rein!“, kam ihr Lehrer schließlich um die Ecke. In dessen Büro stützte er sich mit den Händen auf den Schreibtisch und blickte ihn eingehend an. Seiji guckte entschuldigend zurück. „Was hast du da gemacht?“, wollte er wissen. „Ich weiß es ehrlich nicht“, zuckte Seiji hilflos die Schultern. „Ich wollte bloß, dass Jason aufhört – es tat so furchtbar weh und dann, ich weiß nicht, aber irgendetwas in mir hat sich herum gedreht – ich habe das nicht bewusst getan. Aber dann hat sich dieser Schmerz auf Jason übertragen. Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte.“ „Hm, merkwürdig“, stellte Mr. Lessner nachdenklich fest. „Das kann eigentlich gar nicht sein. Wenn ein Telepath in den Geist eines anderen erst mal so weit vorgedrungen ist, die Abschirmung durchbrochen wurde und er so viel Kontrolle erlangt hat, wie Jason bei dir, dann kann er sich nicht mehr dagegen wehren. Es sei denn ...“ Der Lehrer schüttelte den Kopf. „Aber das kann nicht sein.“ „W-was meinen Sie?“, wollte Seiji wissen. „Ach, vergiss es einfach. Es ist nicht relevant. Mach dir keine Sorgen deswegen. Ich habe den Vorfall ja beobachtet und mir ist klar, dass du dich nur verteidigen wolltest. Nur solltest du für die Zukunft lernen, deine Kräfte besser zu kontrollieren, bevor du noch jemandem ernsthaften Schaden zufügst.“ „Verstehe“, erwiderte Seiji traurig. „Wird sich Jason denn wieder erholen?“ „Ja, er braucht nur etwas Ruhe. Es werden keine dauerhaften Schäden bleiben. Andernfalls wärst du nicht so glimpflich davon gekommen, auch wenn du ihn nicht absichtlich angegriffen hast. Denn Telepathen, die außer Kontrolle geraten, sind noch gefährlicher als solche, die ihre Attacken gezielt gegen andere anwenden, um ihnen zu schaden. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt?“ „Ja, Mr. Lessner. Danke für Ihre Offenheit.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Seiji von seinem Lehrer. Er wusste wirklich nicht, was eben mit ihm passiert war, dass sich seine Schmerzen plötzlich so stark auf Jason übertragen hatten. Er hatte ihm doch nur zeigen wollen, wie sich das anfühlte, was er ihm antat. Doch es kam ihm auf eine seltsame Art natürlich vor. In seinem Zimmer schien Derik nur auf ihn gewartet zu haben, denn er sprang mit einem: „Hey, super gemacht!“, vom Bett auf und funkelte Seiji begeistert an. „Diesem Bastard hast du' s aber gegeben.“ Der guckte aber nur traurig zurück und meinte: „So glücklich bin ich darüber gar nicht. Auch wenn er nicht nett zu mir war, ich hätte ihm nicht weh tun dürfen. Außerdem hätte es schlimme Folgen haben können.“ „Ach was, der hat dir doch auch weh getan, selbst Schuld, würde ich sagen.“ „Ich bin mir nicht so sicher.“ Seiji musste an Alex denken. Er sehnte sich nach seinem Freund. Und erschrak über dieses Gefühl. Kapitel 7: ----------- Die Wochen vergingen wie im Flug, während Seiji sich mehr mit seinen Klassenkameraden anfreundete – auch wenn er immer der stille und zurückhaltende Typ blieb. Sogar mit Sharon verstand er sich gut, obwohl deren Bruder immer noch mit Argusaugen über sie wachte. Apropos Bruder – dieser ging Seiji seit dem Vorfall beim Block-Test merklich aus dem Weg. Allerdings warf er ihm immer wieder glühende Blicke zu und deutete damit an, dass sie Sache längst noch nicht gegessen war. Irgendwann würde seine Gelegenheit kommen zurückzuschlagen. Eines Tages verkündete Mr. Lessner fast feierlich, dass sie demnächst ihre vierwöchigen Praktika antreten würden. Nur, im Gegensatz zur normalen Schule, dürften sie sich ihre Praktikumsplätze nicht selbst suchen, sondern wurden einer Abteilung der SAT oder einer Firma, in der auch Telepathen arbeiteten, zugeteilt, und zwar entsprechend ihren Fähigkeiten und Leistungen im Unterricht. Seiji stöhnte unwillkürlich, nachdem er den Brief mit der Praktikumszuteilung gelesen hatte. Man steckte ihn doch glatt ins Büro der SAT-Aufseher. Dafür konnte eigentlich nur Lorane verantwortlich sein, der für die vier Wochen seine Ausbildung übernehmen sollte, wie der Brief ebenfalls feierlich verkündete. Auch Jason und Sharon würden ihr Praktikum im SAT-Büro absolvieren, waren jedoch anderen Teams zugeteilt. Jason ärgerte sich, dass er nicht Lorane zugeteilt war, da er offenbar ein Fan des SAT-Aufsehers war. „Man, freu dich doch mal!“, forderte Derik Seiji auf. „Das ist doch eine prima Gelegenheit!“ „Wenn man SAT-Aufseher werden möchte, wahrscheinlich“, seufzte Seiji. „Aber das ist absolut nichts für mich“, erklärte er zum wiederholten Male. Warum verstand das denn niemand hier? Derik gab es auf – er hatte schon oft genug versucht, Seiji seine positive Einstellung zu den Dingen zu vermitteln, aber das wollte einfach nicht klappen. Seiji biss sich auf die Lippe. Dieses Praktikum gefiel ihm schon jetzt nicht. Er stand zusammen mit Lorane und Mitchell vor einem großen Bürogebäude und kurz vor dem ersten Einsatz, den er miterleben dürfte. Nur als Zuschauer, um zu sehen, wie die SAT-Aufseher ihre Arbeit erledigten und doch war ihm nicht wohl bei der Sache. Denn er hatte gehört, dass ein nicht registrierter Telepath durchgedreht war und sich jetzt in seinem Büro verschanzt hatte, zusammen mit der Teamassistentin als Geisel. Also alles andere als ungefährlich. Trotzdem hatte Lorane ihn kurzerhand mitgeschleppt, frei nach dem Motto: „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“ - was übrigens seine Lebenseinstellung zu sein schien – und Seiji war nichts anderes übrig geblieben, als ihm zu folgen. „Halte dich nur im Hintergrund und pass gut auf, dann kann dir nichts passieren“, hatte er zuversichtlich gemeint. Lorane wandte sich an einen der Polizisten, die vor dem Gebäude postiert waren. „Erzählen Sie mir noch mal genau wie es dazu gekommen ist.“, verlangte er. Der Kommissar versuchte, sich seine Verärgerung darüber, dass Lorane sich einfach einmischte, ohne sich vorzustellen, nicht anmerken zu lassen, was gegenüber einem Telepathen natürlich ein nutzloser Versuch war. Dennoch verlangte er, die Ausweise zu sehen – da konnte schließlich jeder mit einem kopierten oder gestohlenen Abzeichen der SAT daherkommen und behaupten, ein Aufseher zu sein. Da die Polizei bei der SAT kurz zuvor ein Team angefordert hatte, war das zwar unwahrscheinlich, aber sicher war sicher. Nachdem er sich von der Echtheit der Ausweise überzeugt hatte, erklärte der Kommissar nun: „Ein Angestellter der Firma Telensis, Ruko Allandor“, er deutete auf das Bürogebäude „ist, wie man uns berichtete, plötzlich durchgedreht, hat seine Kollegen angeschrien, sobald sie ihm zu nahe kamen, verrückte Sachen gesagt und die anderen Angestellten haben bemerkt, dass er ihre Gedanken lesen kann. Außerdem leidet er angeblich unter starken Kopfschmerzen. Daraufhin hat man uns gerufen, damit wir ihn der SAT übergeben. Das hat ihm wohl aber gar nicht gefallen, denn anschließend hat er seine Waffe, die er im Schreibtisch versteckt hatte, herausgeholt und die Teamassistentin als Geisel genommen. Er hat keine Geldforderung gestellt, sondern verlangt nur einen schnellen Gleiter, mit dem er einfach flüchten will, wie es aussieht. Dass er als Telepath zur SAT muss, scheint ihn in panische Angst zu versetzten“, erklärte der Beamte. „Den Gleiter haben wir schon angefordert. Natürlich mit einem versteckten Peilsender ausgerüstet. Wenn er dann flieht, können wir ihn auf dem Weg hoffentlich überwältigen, ohne die Geisel zu gefährden.“ „Gut“, nickte Lorane verstehend. „Dass ein Telepath durchdreht, weil er die vielen fremden Gedanken, die auf ihn einströmen, nicht mehr erträgt, kommt leider viel zu oft vor“, erklärte er. Seiji wollte fragen, warum ein Erwachsener, der schon einige Jahre mit seinen telepathischen Fähigkeiten leben musste, erst viel später durchdrehte, ließ es aber bleiben, weil er bei dieser wichtigen Aktion nicht stören wollte. „Wir gehen rein“, verkündete Lorane und zog seine Waffe. Mitchell und die Truppe Polizisten folgten ihm dicht auf und zum Schluss kam Seiji – natürlich als einziger unbewaffnet. Er war nervös, ja, hatte aber nicht so große Angst wie befürchtet, vielleicht kam das noch – oder es lag daran, dass er irgendwie neben sich stand. In schnellem Tempo ging es mit den Fahrstühlen die Etagen hinauf, bis sie bei dem entsprechenden Büro ankamen und sich vorsichtig anschlichen. Nachdem Lorane und Mitchell sich neben der geschlossenen Tür postiert hatten, rief Lorane: „Hallo, Mr. Allandor! Können Sie mich hören?“ „Ich bin ja nicht taub!“, kam es verärgert zurück. „Verschwinden Sie! Ich will nur, dass meine Forderung erfüllt wird und Sie mir einen schnellen Gleiter besorgen, mit dem ich fliehen kann!“ „Wir haben verstanden. Ihr Gleiter wird bald da sein. Es dauert nur noch ein bisschen. Wollen wir uns derweilen nicht ein wenig unterhalten? Zum Beispiel über die fremden Gedanken, die Ihnen zu schaffen machen? Ich bin sicher, wir können Ihnen helfen“, rief er durch die Tür hindurch. „Was? Was geht Sie das an? Wer sind Sie überhaupt?“ „Mein Name ist Gregory Lorane und ich bin hier mit meinem Kollegen Stephen Mitchell. Wir sind von der SAT und kennen uns mit den Problemen aus, die Sie momentan beschäftigen. Wir können Ihnen helfen“, wiederholte er. „NEIN! Verschwinden Sie!“, schrie Allandor außer sich. „Ich werde nicht mit Ihnen kommen. Lieber sterbe ich. Machen Sie mir nur den Weg frei und verschaffen Sie mir den Gleiter. Oder ich werde die Frau hier erschießen, das können Sie mir glauben!“ „Gut, gut, sicher. Ihr Gleiter ist ja schon unterwegs. Geben Sie uns ein paar Minuten Zeit.“ „Beeilen Sie sich bloß, sonst kann ich für nichts garantieren!“, schrie es von der anderen Seite zurück. „Verstehe“, nickte Lorane. Er machte den Eindruck, als wäre dieser Fall nichts Außergewöhnliches. „Er ist ja nicht gerade gut auf Sie zu sprechen“, stellte der Kommissar ohne Überraschung fest, dessen Name Daniel Koro war, wie Seiji aus seinen Gedanken, die trotz Blockade Training nach wie vor ständig auf ihn einströmten, erfahren hatte. Sich abschirmen konnte er nur, wenn er sich vollständig konzentrierte und auch dann nicht zu 100 Prozent. „Was haben Sie jetzt vor?“ „Hm, momentan können wir nichts anderes tun, als abzuwarten, da er sonst möglicherweise die Geisel erschießt. Besser ist, wir warten, bis er mit der Frau in dem Gleiter sitzt und sich auf die Flucht begibt. Dann verfolgen wir ihn und warten einfach ab, bis er irgendwann müde wird und nicht mehr weiter kann. In dem Moment schlagen wir zu.“ „Sicher“, erwiderte der Kommissar nur. Und dafür mussten wir die SAT benachrichtigen, dachte er abfällig. Das hätten wir auch alleine hinbekommen. Besser, man hält sie aus der Polizeiarbeit heraus und übergibt die Telepathen einfach der SAT, nachdem wir sie geschnappt haben, das wäre wesentlich weniger umständlich, wenn die uns nicht ins Handwerk fuschen würden. „Nun ja“, meinte Lorane lächelnd. „Nur, dass es im Fall eines Telepathen passieren kann, dass er Sie und Ihre Leute beeinflusst und dazu bringt, Dinge zu tun, die Sie gar nicht wollen. Noch gefährlicher wird es, wenn dieser Telepath seine Fähigkeiten nicht richtig kontrollieren kann. Deshalb ist es besser, wenn wir da sind, um darauf aufzupassen, dass so etwas nicht passieren kann. Meinen Sie nicht auch?“ Kommissar Koro schluckte und guckte dann verärgert zurück. „Das mag ja sein, doch unterstehen Sie sich, meine Gedanken zu lesen!“ „Oh, das, das war keine Absicht. Manchmal kommt es eben vor, dass wir irgendwelche Gedanken auffangen, besonders, wenn sie so... stark emotional hinterlegt sind“, erklärte Lorane. „Aber nun wenden wir uns besser wieder unserer Arbeit zu.“ Somit zogen sie sich wieder aus dem Gebäude zurück, in dem sich inzwischen auch keine Angestellten mehr aufhielten, da die Polizei es hatte räumen lassen. Der angeforderte Gleiter wurde geliefert. „Weit wird er nicht kommen“, meinte Lorane, scheinbar völlig entspannt in ihrem eigenen Gleiter sitzend. Sie warteten wie besprochen darauf, dass der Geiselnehmer fliehen würde, um ihn dann leichter stellen zu können, wenn er müde würde, oder schlicht mal auf Toilette müsste. So ein langer Flug unter Verfolgung konnte nämlich sehr anstrengend werden und im Gegensatz zur Polizei, hatte der Flüchtige niemanden, mit dem er sich beim Fliegen abwechseln konnte. Und auf das Leitsystem für den Autopiloten konnte er aus nachvollziehbaren Gründen natürlich nicht zurückgreifen. „Wenn er keine Geisel hätte, könnten wir natürlich auch versuchen, ihn telepathisch zu beeinflussen, sobald er in Sichtweite wäre – da wir zu zweit sind, stellt das kein Problem dar. Nur leider dauert das ein bisschen und bis dahin könnte er in Panik geraten und die Frau erschießen. Deswegen fällt diese Möglichkeit leider aus“, wandte sich Lorane erklärend an Seiji. Der nickte verstehend und fragte sich, ob man ihn bei der Verfolgung wirklich mitnehmen wollte. Ging das nicht alles ein bisschen schnell, wo er doch gerade als Praktikant angefangen hatte? „Keine Sorge, da kann gar nichts passieren“, versicherte Lorane, der den Gedanken offenbar aufgeschnappt hatte. „Derweil kannst du ja üben, deine Abschirmung zu verbessern.“ Seiji biss sich auf die Lippen. Es gefiel ihm gar nicht, dass er immer noch ein mehr oder weniger offenes Buch für seine Umgebung war, anscheinend besonders für Lorane. Nun ja, da er schon mal hier war, würde er das beste daraus machen. Kurze Zeit später kam der Geiselnehmer aus dem Firmengebäude, die Waffe an die Schläfe seiner Teamassistentin gepresst. Offensichtlich in Panik, schubste er die Frau in den bereitstehenden Gleiter, auf die Rückbank und sprang dann selbst auf den Fahrersitz. „Keine Sorge“, wandte er sich nach hinten. „Ich tue Ihnen nichts. Ich will nur von hier verschwinden. Sobald wir die Polizei abgehängt haben, setze ich Sie irgendwo aus. Mir blieb einfach keine andere Wahl, als Sie mitzunehmen. Das verstehen Sie doch, oder?“ Die Frau nickte nur mit weit aufgerissenen Augen. Ihre Haare klebten an der verschwitzten Haut und man sah ihr an, dass die Worte sie nicht wirklich beruhigten. Trotzdem sagte sie: „Mr. Allandor, wir kennen uns doch nun schon so lange. Sie sind doch sonst nicht so. Wieso tun Sie das? Wieso können Sie nicht einfach zur SAT gehen? So schlimm kann das doch nicht sein.“ „Oh, Sie haben ja keine Ahnung.“ Mehr sagte Allandor nicht, da er damit beschäftigt war, abzuheben und möglichst schnell Tempo aufzunehmen. Als er erst mal in der Luft war und seinen Weg gefunden hatte, fuhr er fort: „Diese verfluchte SAT. Die haben meine Cousine auf dem Gewissen. Lieber sterbe ich, als bei denen mitzumischen.“ „W-was ist denn mit Ihrer Cousine passiert?“, wollte die Assistentin wissen. „Nun, sie wollte mit dem ganzen Telepathie-Kram nichts zu tun haben. Sie wollte einfach nicht in anderer Leute Gedanken eindringen, das war ihr zuwider. Rana meinte immer, es wäre eine ganz private Sache, jemandem seine intimsten Gedanken zu öffnen, das wäre nur für Liebende bestimmt. Das ginge sonst niemanden etwas an. Womit sie übrigens vollkommen recht hatte. Doch die SAT ließ es natürlich nicht zu, dass sie sich verweigerte. Es gibt so wenige Telepathen, dass sie sie unbedingt haben wollten. Zuerst versuchten sie, sie mit Geld zu locken, mit Macht. Als das nicht funktionierte, haben sie sie bedroht, erst subtil, aber dann immer offener. Schließlich zwangen sie Rana, ihre telepathischen Kräfte einzusetzen, indem sie in ihr Bewusstsein eindrangen, so dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich zu wehren. Sie meinten, wenn meine Cousine erst mal merkte, dass der Einsatz dieser Kräfte nichts schlimmes wäre, dass es ihr im Gegenteil sogar half, sich zu verteidigen und wenn sie sie nur weiter bedrängten, dann würde sie schon irgendwann aufgeben. Doch sie gab nicht auf. Und dann muss irgendetwas passiert sein, dass sie so sehr verletzte, dass sie... „ Allandor unterbrach sich, immer noch im Schrecken der Erinnerung gefangen. In diesem Moment wich er einer Reihe von Gleitern aus, die er um ein Haar gerammt hätte. Er fluchte. Ohne Leitsignal und mit Höchstgeschwindigkeit über die Stadt zu fliegen, war wirklich lebensgefährlich. „Wenn Sie so weiterfliegen, werden Sie uns noch umbringen“, stellte die Teamassistentin fest und klammerte sich am Sitz fest, obwohl das kaum besser helfen konnte, als der Gurt. In diesem Moment kam ihnen eine weitere Reihe von Gleitern entgegen. „Sie fliegen ja gegen den Verkehr!“ Im Sturzflug lenkte Allandor den Gleiter nach unten. „Sind sie wahnsinnig?“, schrie die Frau, der jetzt wirklich schlecht wurde. Ihr Magen schien noch weiter oben festzuhängen, während der Rest von ihr bereits nach unten stürzte. „Nur so können wir sie abhängen. Halten Sie sich gut fest, Miss Johnson“, empfahl der Flüchtige. Immer weiter ging es nach unten, bis sie meinte, dass sie Häuser schon viel zu nahe waren, um sich noch rechtzeitig abzufangen. War das jetzt das Ende? Doch im letzten Moment zog Allandor den Gleiter wieder hoch. Alina Johnson meinte, ihr Herz wäre soeben stehen geblieben. „Was haben Sie jetzt vor? Glauben Sie wirklich, Sie können sie irgendwann abhängen? Und wenn sie Sie schnappen, was werden Sie dann tun? Lassen Sie mich dann frei?“ „Ja, ja, ich lasse Sie frei. Aber sie werden uns nicht kriegen.“ „Mist, der ist wirklich ziemlich hartnäckig“, stellte Lorane fest, nachdem er ihren Gleiter in halsbrecherischem Tempo hinter dem Flüchtigen hergelenkt hatte. Inzwischen zweifelte Seiji erst recht an der Aussage, dass dies hier überhaupt nicht gefährlich wäre. Denn im Moment fühlte es sich so an, als würde sein Magen Achterbahn fahren. Und er wusste nicht, ob er sein Frühstück bei sich behalten können würde. „Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir abstürzen. Im Gegensatz zu ihm, sind wir an das Leitsystem gebunden, das uns und den Gegenverkehr im Notfall umlenkt. Aufgrund des Notfallcodes haben wir natürlich Priorität und können uns entgegen aller Verkehrsregeln Vorfahrt verschaffen. Ist doch spannend, oder nicht?“, lachte Lorane. Seiji fragte sich, wie man so was auch noch toll finden konnte. Während er hier Todesängste ausstand. „Wer träumt denn nicht davon, mal so durch den Luftraum zu fliegen, wie es einem gefällt?“ „Ich jedenfalls nicht. Ich glaub, ich muss mich gleich übergeben“, stellte Mitchell fest, der ganz grün im Gesicht geworden war. „Nun reißen Sie sich aber mal zusammen. Dass dem Jungen schlecht ist, kann ich ja noch verstehen. Aber sind Sie nicht auch im Gleiterfliegen ausgebildet?“ „Ja, schon, aber nicht in Selbstmordflügen.“ „Pft, sogar die dämlichen Polizisten kommen hinterher. Wenn die das schaffen, schaffen Sie das auch. Außerdem müssen Sie ja nicht mal selbst fliegen.“ Stephen war trotzdem schlecht, aber er sagte nichts mehr. Es hatte eh keinen Sinn. Außerdem schien es ihm zu riskant, jetzt den Mund zu öffnen, sonst würde er sich wirklich noch übergeben. „Erzählen Sie mir, was mit Ihrer Cousine passiert ist?“, wollte Miss Johnson wissen, als ihr Flug wieder etwas ruhiger wurde. „Sie hat sich umgebracht“, brachte es Allandor auf den Punkt. „Aber ich bin sicher, dass das nicht ihre Schuld war. Sie sah einfach keinen anderen Ausweg mehr. Ich weiß nicht, was die ihr angetan haben, aber von selbst wäre sie sicher nie auf den Gedanken gekommen. Sie hat das Leben immer geliebt und hätte sich nie einfach so umgebracht. Nach dem, was sie mir vorher erzählt hat, war die SAT an ihrem Tod schuld. Sie haben sie dahin getrieben, so dass sie keinen anderen Ausweg mehr wusste. Da bin ich mir sicher.“ „Das tut mir leid“, erklärte Alina Johnson. „Der Tod Ihrer Cousine muss Ihnen sehr wehtun. Aber so machen Sie es auch nicht wieder besser. Wenn Sie uns hier umbringen – das hätte Ihre Cousine doch bestimmt auch nicht gewollt, oder?“ „Hm, jetzt sind wir nah genug dran“, stellte Lorane fest, nachdem er zuvor einige Male vergeblich versucht hatte, Ruko Allandor zum Aufgeben zu bringen. „Nah genug für was?“, wagte Seiji zu fragen. Statt einer Antwort wandte sich Lorane an seinen Kollegen: „Da ich fliege, müssen Sie ran und ich werde Sie nur mit meiner Kraft unterstützen. Sind Sie bereit?“ „Ja, aber, sollten wir es nicht anders zu klären versuchen? Ich meine, der Mann könnte zusammen mit der Assistentin einen Unfall bauen, wenn wir jetzt auf diese Weise eingreifen.“ „Und was wird passieren, wenn er so weiterfliegt? Genau, wahrscheinlich ebenfalls ein Unfall. Oder er wird uns glatt entkommen. Das wollen Sie doch nicht, oder? Kommen Sie, Mr. Mitchell, das klappt schon. Oder haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre Fähigkeiten? Der Kerl ist doch bestenfalls ein HyB 10.“ „Na schön“, fügte sich Mitchell, denn der Ältere war nicht nur sein Kollege, sondern auch sein Vorgesetzter. Er fasste in Richtung von Loranes Schulter und legte seine Fingerspitzen auf die nackte Haut seines Nackens. Seiji zuckte gleichzeitig mit Mitchell zusammen, als er den intensiven telepathischen Kontakt spürte, der plötzlich entstand. Das geschah immer, wenn sich zwei Telepathen direkt berührten. Damit verstärkten sie ihre Fähigkeiten nicht nur um das doppelte, sondern mindestens um das vierfache, da sich das Psi-Potential nicht einfach addierte, sondern mehr als die Summe seiner Teile bildete. Seiji fragte sich, was sie vorhatten, als er es schon spürte: Mitchell spähte hinaus und erfasste zusammen mit Lorane die Bewusstseine der Insassen des verfolgten Gleiters. Dabei bekam er mit, dass Allandors Assistentin diesen bereits zum Zweifeln gebracht hatte. Doch als Allandor spürte, dass er telepathisch berührt wurde, flammte der Hass wieder in ihm auf und er erhöhte sein Tempo noch, so dass die Maschine schon zu protestieren begann. Wir könnten ihn doch noch überreden..., ließ Mitchell gedanklich vernehmen. Nein, dazu ist es jetzt zu spät, da er bemerkt hat, was wir versuchen, sind seine Skrupel verschwunden. Los, schlagen wir endlich zu, bestimmte Lorane. Die beiden fassten mit ihren telepathischen Kräften zu, mit einer Gewalt, die Seiji, der nur zuschaute, erzittern ließ. Jetzt hatten sie Allandor in ihrem Griff, der das Steuer verriss und gefährlich nah an die Bahn eines anderen Gleiters kam. Schneller!, forderte Lorane, womit er aber nicht die Geschwindigkeit des Gleiters meinte, sondern den telepathischen Zugriff. Irgendetwas schien zu brechen und Seiji erkannte mit Schrecken, dass es der Geist von Allandor war und dies innerhalb von wenigen Sekunden! Die Stärke der vereinten Kräfte von zwei SAT-Aufsehern war einfach zu extrem, als das ein einfacher, nicht ausgebildeter Telepath dem widerstehen konnte. Seiji war schockiert. Mit dieser Gewalt hatte er nicht gerechnet. Wieso? Wieso haben Sie...?, wollte auch Mitchell wissen, denn es war Lorane gewesen, der den Anstoß dazu gegeben und die „Grenze“ überschritten hatte. Das besprechen wir später. Jetzt müssen wir erst mal den Gleiter sicher zu Boden bringen, bestimmte Lorane. Mitchell nickte. Sie lenkten den Gleiter des anderen, indem sie auf dessen Geist zugriffen und den Körper die Bewegungen ausführen ließen. Dabei übernahm Mitchell die Hauptarbeit, da Lorane noch den eigenen Gleiter steuern musste. Seiji erhaschte, ohne es zu wollen, einen Blick darauf, was der blonde SAT-Aufseher tat: Es schien, als stecke dieser plötzlich im Körper dieses Allandor und sehe durch dessen Augen, bewegte dessen Hände. Als alle sicher gelandet waren, erklärte Lorane: „Es ging nicht anders, er wäre sonst mit der Frau abgestürzt, das haben Sie doch bemerkt. Außerdem hätte er sich nie der SAT untergeordnet. Er hätte immer eine Gefahr für die normalen Menschen dargestellt. Sehen Sie es positiv, Mitchell“, klopfte er diesem auf die Schulter. „Wir haben ein Leben gerettet.“ Und ein anderes zerstört, fügte Mitchell in Gedanken traurig hinzu, aber das schien Lorane schon nicht mehr mitzubekommen, denn er marschierte zu dem anderen Gleiter und riss die Tür auf. Auf dem Fahrersitz starrte Allandor mit leerem Blick vor sich hin. Lorane zog ihn am Arm heraus. „Ich würde Ihnen ja Ihre Rechte vortragen, aber ich befürchte, dass Sie sie sowieso nicht mehr verstehen würden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)