Erlösung von abgemeldet ================================================================================ Prolog: PROLOG -------------- Leben? Tod? Spielt das noch eine Rolle? Es wird niemanden geben, der auf mich wartet. „Amanda? Amanda, bitte antworte mir Liebling“. Seine Rufe klangen schwach, fast bemitleidenswert. Er wanderte ziellos durch diesen fensterlosen Tunnel. War es ein Abwasserkanal? Oder eine Autobahnunterführung? Der Geruch von rostenden Metall war überall: An den Wänden, in der Luft, sogar an seiner Kleidung. „Amanda!“ Ein großer Kraftaufwand war von Nöten, um seine Stimme auf diesen Lautstärkepegel zu heben. Der schmale Lichtkegel der Taschenlampe zeigte geradewegs in die Dunkelheit. Schwarz war die einzige Farbe, die ihn ringsherum umgab und wie in einem Käfig einschloss. „...Daddy?“ Er begann zu laufen, zu rennen. Das schwache Stimmchen seiner Amanda musste ganz aus der Nähe kommen. Tatsächlich konnte er sie finden, mit schmutzigen Kleidern auf den Grund sitzend. Dicke Streben aus Stahl trennten ihn von seinem Mädchen. Er nahm ihre kleinen Hände in seine eigenen. „Amanda Schatz, mach dir keine Sorgen, Daddy holt dich hier raus“. Mit roher Gewalt konnte er das massive Gitter nicht öffnen. Schläge, Tritte, sich hindurchzwängen - keine dieser Möglichkeiten ließ ihn die letzte Hürde überwinden, um seine Tochter in die Arme schließen zu können. „Liebling, gibt es auf deiner Seite einen anderen Weg nach draußen?“ Amanda ließ die Hände ihres Vater fallen und sah in die umgekehrte Richtung. „Ich weiß nicht Daddy... es ist so dunkel“. Entschlossen übergab er seiner Tochter die einzige Lichtquelle - die einzige Sicherheit, die er besaß. „Nimm das und lauf so schnell wie du kannst zurück. Wenn du keinen anderen Weg findest, komm´zu mir zurück... okay?“ Amanda nickte eifrig und eilte mit hastigen Schritten davon. Der Schein der Taschenlampe war bald verschwunden und er musste sich nun alleine in der Dunkelheit zurecht finden. Um nicht komplett die Orientierung zu verlieren, umklammerten seine schweißnassen Finger das Gitter. Die Stille beunruhigte den Mann. Sein eigener Atem kam ihn ungewöhnlich leise vor, obwohl sein Herz auf doppelter Frequenz Blut in die Adern pumpte. Ein dumpfes krachen alarmierte die Sinne des jungen Mannes. Er spürte seine sich anspannenden Muskeln. Wirbelsäule und Knie waren leicht nach vorne gebeugt - er konnte weglaufen, wenn er denn musste. „Ahh Daddy!“ Sämtliche Vorsichtsmaßnahmen waren wie weggeblasen, als er die erschrockene Stimme seiner Tochter hörte. „Amanda! Amanda, was ist passiert?“ Er warf sein ganzes Gesicht gegen das Stahlgitter, aber verletzte sich damit nur selbst. „Amanda! Versuch wegzulaufen, komm zu mir zurück!“ Sein Kopf knallte unsanft gegen die Streben, dann auf den Boden. Der kupferne Geschmack frischen Blutes füllte seine Mundhöhle. „Was, nein!“ Er wurde mit den Beinen voran über den dreckigen Fußboden geschliffen. Wilde Befreiungsversuche hatten keinen Sinn, er wusste nicht wer oder was ihn in die Dunkelheit zog. Angst überschwemmte seinen Verstand. Amanda war in Gefahr, vielleicht tot. Ein Adrenalinstoß ließ seine Hände in die Höhe schnellen und urkoordiniert ins nichts greifen. Mittlerweile wurde die rostige Luft mit einer anderen, viel giftigeren Substanz erfüllt. Sein Hals brannte wie Feuer und löste einen heftigen Würgereiz aus. Seine Lunge weigerte sich noch mehr von diesem Rauch aufzunehmen und zog sich zusammen. Er spürte es deutlich, sein Körper begann zu ersticken, langsam, qualvoll. Weit aufgerissene, tränende Augen versuchten noch einen Ausgang zu finden. Der Griff an Jacks Beinen löste sich, stattdessen legten sich riesige Pranken um seine Kehle. Der letzte Gedanke galt seiner Amanda, bevor ihn die Dunkelheit endgültig zu ihn holte. „Und... das war nicht der einzige Vorfall. Letzte Nacht dachte ich etwas in der Küche gehört zu haben. Sie stand am Fenster, lächelte mich an... und sprang dann in die Tiefe. Ich konnte es... einfach nicht verhindern. Dr. Albert musterte das verwirrte Gesicht seines Patienten genau, bevor er sprach. „In Träumen, Mr. Potter, verarbeitet der Mensch bereits erlebte Tatsachen in seinem Unterbewusstsein. Jeder Traum, von dem Sie mir berichtet haben handelt vom Tode oder der Entführung Ihrer Tochter. Sie schauen jedes mal hilflos zu und können nicht eingreifen. Das Stichwort ist „Schuldgefühl“ Mr. Potter. Sie fühlen sich verantwortlich für das, was der kleinen Amanda vor zwei Jahren zugestoßen ist. Diese immense Last ist so schwer, dass sie sogar tagsüber von ihr träumen... in Form von Halluzinationen“. Jack starrte betroffen auf den blauen Teppichboden. Dr. Albert erklärte ihm offensichtlich, dass er kurz davor stand, verrückt zu werden. Er konnte es selbst wenn er wollte nicht leugnen. Amanda war überall, sie hatte seinen Verstand übernommen. Sobald Jack in den Spiegel sah war sie da, stand neben ihm und schrie Vorwürfe: „Daddy, du hast mich zurückgelassen! Du hast nicht gut genug aufgepasst!“ Dr. Albert wandte sich von ihm ab. „Vielleicht sollten Sie einen Strich unter die Vergangenheit ziehen, reinen Tisch machen“. Jacks Kopf bewegte sich leicht in die Richtung des ergrauten Psychologen. „Besuchen Sie Ihr altes Haus, Ihren ehemaligen Arbeitsplatz, Orte, an denen Sie gerne Zeit mit der Familie verbrachten. Innerliche Selbstvergebung ist stärker als jedes Medikament, das ich Ihnen verschreiben kann, Mr. Potter“. Kapitel 1: Vergangenheit ------------------------ Längst verblasste Fotos lagen neben der zerknitterten Karte von „Silent Hill Touristics“, die Jack nach langer Suche unter einem Stapel Zeitungen fand. Sie zeigten bessere Zeiten, in denen es sich noch lohnte, jeden Tag aus dem Bett zu steigen. Zittrige Hände hielten das Bild von seiner Frau Judy und Amanda fest: Sie lachten und winkten fröhlich in die Kamera, ganz so wie Jack sie in Erinnerung hatte. Ein kräftiger Schluck Kaffeebrandy befeuchtete die ausgetrocknete Kehle. Ohne ordentlichen Alkohol würde Jack wahrscheinlich bald wie ein kleiner Junge wimmernd zusammenbrechen - da war er sicher. Dr. Alberts Worte schwirrten dem jungen Mann im Kopf herum. Seit dem Vorfall verschwendete er kaum noch Gedanken an die alte Heimat, er Jack versuchte einfach zu vergessen. Doch die Flucht nach vorne machte die letzten zwei Jahre nur noch schlimmer. Es begann mit den Albträumen - Amanda wurde stets brutal aus seiner Obhut gerissen. Es raubte ihm den Schlaf. Manchmal versuchte er wach zu bleiben, doch Müdigkeit und Erschöpfung stießen ihn bald wieder in diese grausame Alternativrealität. Auf den Träumen folgten dann Wahnvorstellungen, Halluzinationen. Geisterhafte Silhouetten seiner Tochter tauchten in unregelmäßigen Abständen auf und zeigten mit ihren Fingern auf Jack. Eigentlich war es ein Wunder, dass er noch nicht auf den nächsten Bahnsteig gesprungen war, um das Elend zu beenden. Mit einem roten Filzstift zeichnete er vier Wegpunkte auf der Stadtkarte ein, die sowohl den neuen, als auch die alten Bezirke Silent Hills zeigte. Zuerst die Bachman Road: Er fragte sich, ob mittlerweile neuer Mieter in dem alten Haus wohnten. Als zweites das Seeufer in der Nähe des Leuchtturms. Jack vermietete damals Boote an Touristen und verdiente immer ein nettes Trinkgeld. Dann der Lakeside Amusement Park. Amanda wollte dort jedes Wochenende Achterbahn fahren. Zuletzt machte Jack einen krakeligen Kreis um den Friedhof, der abseits der Stadt lag. Damals wurde dort ein Sarg ohne Körper begraben... Ein plötzliches Gefühl der Angst überstieg Jacks Verstand. Der Stift fiel aus der linken Hand, während die rechte reflexartig seinen Hals umklammerte. Kalter Schweiß trat aus seiner Haute und lief langsam an Stirn und Rücken hinunter. Keuchend schleppte sich Jack in das Bad, riss das Medizinschränkchen auf und griff nach einem weißen Döschen. Mehrere Filmtabletten wirkten ihren Zauber in seinem Körper und beruhigte die zum zerreissen gespannten Nerven. Jack sah zu seinem Spiegelbild auf. Er starrte in die tränenden Augen eines innerlich zerstörten Mannes. Rötliche Bartstoppeln säumten das ungepflegte Gesicht, das einst durchaus attraktiv war. Die Angst wurde soweit unterdrückt, dass er wieder normal durchatmen konnte. „Eine heftige Reaktion auf unterdrückte Gefühle, so genannte „Angstzustände“. Lassen Sie der Angst bloß keinen Raum, Mr. Potter“. Dr. Albert wusste gar nicht wie es war, echte Angst zu haben. „Es geht mir gut... ich schaffe das. Ich schaffe das!“ Jack wollte den Mann im Spiegel anschreien, formte jedoch nur ein vages flüstern mit seinen Lippen. Resigniert kehrte er zu seinem Couchtisch zurück und beäugte die Kare erneut. „Gut... nur 15 Meilen von Brahms bis nach Silent Hill“. Vorsichtig würdigte Jack seinen Autoschlüsseln eines Blickes. Der Wagen wurde erst heute morgen vollgetankt. Das weiße Tablettendöschen lag ausgestreckt in seiner Hand. „So kann das nicht weitergehen. Der innerliche Entschluss stand fest und war stark genug. Jack faltete die Stadtkarte sorgsam zusammen und stopfte sie in die Jackentasche. Er war der einzige, der den ewigen Teufelskreis durchbrechen konnte. Kein Psychologe, keine pharmazeutischen Drogen, nur eigener Wille und Entschlossenheit führten zu einem Ausweg. Kapitel 2: Alles nur Einbildung ------------------------------- My lovin´ daddy left his baby again, said he´d come back but he forgot to say when. Night after night I´m cryin´daddy won´t you please come home? Das Autoradio war die einzige Begleitung für Jack, als er seinen klapprigen Cadillac über die löchrige Landstraße jagte. Die Bäume am Wegrand warfen seltsame Schatten, als das helle Paar Scheinwerfer auf sie traf. War diese spontane Entscheidung, die Entschlossenheit zu überstürzt? Niemand wollte gerne mit einer schlechten Vergangenheit konfrontiert werden, denn man wusste nie, wie so etwas ausgehen könnte. Einige mochten gut mit der Situation klar kommen: Sie würden ihr restliches Leben mit Erleichterung und einem reinen Gewissen fortführen. Andere wiederum zerbrachen unter der seelischen Last aus Trauer, Schmerz und Schuld. Jacks Verstand war in etlichen Widersprüchen geteilt. „Es wird mir helfen, über den Berg zu kommen. Vielleicht... vielleicht kann ich dann bald wieder ein normales Leben führen“, sagte die Entschlossene Seite. „In wiefern wird mir die Vergangenheit weiterhelfen? Diese elende Stadt ist für alles verantwortlich und wird mich schlimmstenfalls in den Tod stürzen“, sagte die verunsicherte, instabile Seite. „Gleich im Studio von Blue FM: Anne Mc Kenzie fühlt Familien auf den Zahn: Sind Sie gute Eltern? Erica Dawson, Hausfrau und Mutter einer sechsköpfigen Rasselbande erzählt über den Alltag einer Großfamilie, die Verantwortung der Eltern und gibt natürlich wertvolle Erziehungstips für alle Lebenslagen! Verpass...“. Ein Schwall von Statik unterbrach die Radioübertragung. Jack drehte an dem Frequenzrädchen, bis das große, hölzerne Schild auftauchte, dass er so verachtete: „Willkommen in Silent Hill“. Die symbolische Grenze zur Vergangenheit war damit überschritten. Doch ein nervöser Fuße trat auf das Bremspedal und hinderte den Cadillac daran, die Reise fortzuführen. Jack öffnete hastig das Handschuhfach. Er schüttelte aus dem selben weißem Röhrchen, das auch im Apartment daheim lag drei runde Tabletten in seine schwitzende Handfläche. „Nicht schon wieder... nein nicht schon wieder...“ Qualvolle Minuten lang klammerte sich Jack an das Lenkrad und hoffte auf das erlösende Gefühl der Unterdrückung. Die sich im Wind wiegenden Bäume gaben den Rhythmus seiner Herzschlags an. Regen klatschte auf das Autoblechdach. Durch die ausgeschalteten Scheibenwischer wurde die Sicht nach draußen dunkel - verschwommen. Die Wirkung der lebenswichtigen Medikamente setzte endlich ein, wohlige Taubheit überkam den Körper. Ein markerschütternder Schrei trieb Jacks Puls allerdings erneut ans Limit. So ein Geräusch konnte nur von jemandem stammen, der sich furchtbar verletzt haben musste. Er drückte den Knopf für die Scheibenwischer, bekam aber nur einen begrenzt freien Ausblick. Stürmender Regen fegte über den Asphalt, machte das sehen über wenige Meter hinaus unmöglich. Die Windschutzscheibe zersplitterte in Tausend Stücke. Erschrocken rutschte Jack vom Sitz und kauerte sich im Fußraum zusammen. Erneutes kreischen, dieses mal viel bösartiger, kündigte großes Unheil an. Ruppige Kräfte zogen den verwirrten Mann wieder auf den Fahrersitz. Die Silhouette einer scheinbar nackten Person hockte auf dem Armaturenbrett. Jack konnte zu seiner rechten, knorrige, ungewöhnlich Lange Finger erkennen, die sich eisern um seine Schulter schlossen. Stechender Schmerz schoss durch sein Nervensystem. Messerscharfe Krallen durchdrangen das Futter der Lederjacke mit Leichtigkeit und bohren sich unaufhaltsam ins Fleisch. Mit Gewalt stieß er die Fahrertür auf und knallte mit dem Kopf zuerst auf den nassen Zement. Warmes Blut platzte aus seiner Stirn und wurde sofort vom Regenwasser weggespült. Orientierung war zweitrangig, Jack stolperte so weit wie möglich vom Cadillac weg. Der Motor lief nach wie vor, der Angreifer könnte ihn einfach überfahren. Ein Blick nach hinten - der Cadillac stand weiterhin auf der Stelle, vom Angreifer keine Spur. Jacks Lungen wurden ausgepresst, als er auf den Asphalt prallte. Der Versuch, sich mit dem Ellenbogen abzustützen endete mit dem eindeutigem Geräusch gebrochener Knochen. Er schrie, fuchtelte wild mit den Armen umher. Das, was sich bedrohlich über ihn beugte, konnte bestenfalls mit einem gehäutetem Tier verglichen werden. Das innere war nach außen gekehrt: Bunte Äderchen durchzogen die Gliedmaßen. Das Gesicht konnte keinesfalls als solches bezeichnet werden - die angeschwollene Masse überdeckte sämtliche menschlichen Züge. Schiere Gewalt traf auf Jacks wehrlosen Körper. Tritte, Schläge, Kratzer - er gab sein bestes, der wilden Raserei zu entgehen. Eine plötzliche Reaktion gab ihm die rettende Idee. Wie in einer Fitnessübung winkelte Jack seine Knie an. Er atmete tief ein, bevor seine Füße gegen den weichen Bauch der entstellten Kreatur schossen. Entsetzlich kreischend strauchelte das Biest zurück und verlor das Gleichgewicht. Jack rannte um sein Leben, nach Silent Hill, den einzigen Ort an dem er eventuell Sicherheit finden konnte. Ängstliche Augen wanderten von links nach rechts. Das ovale Werbeschild von „Neely´s Bar“ war wie eine Einladung - eine Oase der Sicherheit. Er betete zu Gott, das die Türen nicht verschlossen waren und tatsächlich leistete der gläserne Eingang keinen Widerstand. Die schicken 50er Jahre Bänke dienten als spontanes Versteck. Mit angehaltenem Atem spitzte Jack die Ohren nach jedem einzelnen Geräusch. Regen klatschte gegen die Fensterscheibe. Die erste Minute verging... nichts. Die zweite... nichts. Mit sämtlichen Mut, den man in solch einer Situation aufbringen konnte, verließ Jack den sicheren Hafen und lugte mit größter Obacht über den Fensterrand... nichts. Erleichtert sank der Mann auf die komfortable Ledersitzbank. Sein Kopf pochte ähnlich stark wie der Schmerz des gebrochenen Armes, der nun reglos auf dem Tisch ausgebreitet war. Was war das? Wie konnte so etwas existieren? Vielleicht existierte es gar nicht... nein, es war einfach zu Verrückt! Ein simples Produkt der eigenen, kaputten Fantasie, die Wahnvorstellung eines labilen Verstandes. Jack wurde schwindelig. Nelly´s Bar verschwamm in einen Strudel bunter Farben - dann wurde alles schwarz. Kapitel 3: Unerwartete Hilfe ---------------------------- Ein bekanntes Gefühl. Müdigkeit. Lähmende Müdigkeit. Sie war immer da, wenn er die Augen schloss, sie öffnete - das spielte keine Rolle. Dr. Albert erklärte einst, dass massiver Schlafmangel vielerlei emotionale Störungen hervorrufen konnte: Aggressionen, Unkontrollierte Gefühle, Angstzustände... und auch Halluzinationen. Wahrscheinlich war diese elende Müdigkeit daran Schuld, das Jack plötzlich von Monstern gejagt wurde. Es war zugegeben etwas seltsam, die eigene geistige Gesundheit in Frage zu stellen, doch leugnen konnte er es nun auch nicht. Nebenbei fiel ihm auf, dass sich der wütende Regen in eisige, flauschige Flocken verwandelt hatte. Eine beachtliche Menge Schnee säumte die Straßen Silent Hills und ließ die Scheiben von Neely´s Bar beschlagen. Aber solches Wetter Mitte September? Die voranschreitende Klimaerwärmung musste bereits einiges Durcheinander gebracht haben. Doch die Umwelt war Jacks geringeres Problem. Was sollte jetzt getan werden? Den ganzen Weg nach Brahms zu Fuß und verletzt zurückzulegen klang verrückt... es war besser für ihn in der Stadt das nächste Krankenhaus zu besuchen und von dort aus in Ruhe den Plan überdenken. Er hatte Angst, seinen rechten Arm von der Tischkante zu heben - noch zu frisch waren die unangenehmen Erinnerungen an pochenden Schmerz. Auf Hilfe konnte er jedenfalls nicht hoffen. Obwohl Neely´s Bar offensichtlich geöffnet war, stand keine Bedienung hinter der Theke. Auch Kellner, geschweige denn Gäste wurden vergeblich gesucht. Aber Jack entschied sich dafür, diese Details erstmal zu ignorieren. Der zertrümmerte Ellenbogen übte heftigsten Protest aus, als er aus seiner Ruheposition gerissen wurde. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er zur verlassenen Theke hinüber und entdeckte ein langes Geschirrhandtuch, dass locker über einer Mikrowelle lag. Vorsichtig griff Jack nach dem Fetzen und versuchte mit beiden Händen vorsichtig eine geräumige Schlinge daraus zu formen. Die Tatsache, Linkshänder zu sein, sparte ihn einige Zeit, als er mit seinem intakten Arm das fest verknotete Tuch um sein Genick legte. Die self-made Verarztung funktionierte erstaunlich gut und legte den in zwei geteilten Knochen still. Als nächstes musste er herausfinden, wo er war. Auf der alten „Silent Hill Touristics“ Karte waren sämtliche Orte sauber verzeichnet, auch Neely´s Bar. Richtig, die Namensgebende Neely Street führte direkt zur kleinen Landstraße, die wiederum der einzige Weg nach Brahms war. Das Brookhaven Hospital lag gute drei Blocks entfernt. Jack faltete die Karte erneut weniger sorgsam zusammen und schubste die Flügeltüren der Bar auseinander. Eisige Kälte kroch sofort unter die Haut. Der weiße Flockenteppich verlieh Silent Hill eine gewisse Unberührtheit... In den zahlreichen Geschäften brannte kein Licht, die rechteckigen „Closed“ Kärtchen hingen bei den meisten gut sichtbar im Schaufenster. Niemand schippte mit der Schaufel die Gehwege frei und es waren auch keine Kinder draußen, um Schneemänner zu bauen. Schleichende Einsamkeit vermischte sich mit der Luft und legte einen nebligen Schleier über die Stadt. „Seltsam...“ Durch die absolute Stille ertönte Jacks Stimme doppelt so laut. In seiner Erinnerung war Silent Hill eine belebte Kleinstadt: Jeder kannte jeden. Er fand immer ein oder zwei Gesprächspartner, wenn er am Wochenende Besorgungen für Judy oder die Arbeit machte. Sicherlich konnte sich eine Stadt in den letzten zwei Jahren verändern, doch dieser Ort war wie ausgestorben. Der Schnee wurde zunehmend von dicken Nebelschwaden überlagert. Amanda liebte neblige Tage... er war sich nie sicher warum, aber sie bestand dann immer darauf, zu solchen Zeiten draußen spielen zu dürfen... mit ihrem Daddy... Für einen Moment lang konnte Jack ihre verblasste Stimme im Ohr hören: „Der Wald steht schwarz und schweiget, und den Wiesen steiget, der weiße Nebel wunderbar“. Judy brachte ihr dieses Gedicht bei. Ehe er sich versah, machten seine Knie Kontakt mit dem Boden - alle Erinnerungen auf einen Schlag verflogen. Offensichtlich brachte ein Stein oder ähnliches den Mann aus dem Gleichgewicht. Mit dem gesunden Arm griff er nach dem im Schnee vergrabenen Gegenstand - und hörte zugleich eine süße Melodie. Es war kein Stein, sondern eine Spieluhr, die trotz der kalten Nässe fröhlich ihr kleines Lied spielte. Jack starrte für einen Moment auf das Holzkästchen, die Musik ließ mit hypnotisierender Qualität alles um sich herum vergessen... eine beruhigende Wirkung. Er schoss erst wieder in die Realität zurück, als Scheinwerfer den Nebel durchbrachen. Ein bläulicher Wagen mit den Lettern „SHDP“ kam neben dem auf den Grund sitzenden Mann zu stehen.Eine blondhaarige Frau stieg aus der Fahrertür. Auf ihrem hellblauen Hemd, dessen Ende in eine knallenge Lederhose gestopft war, prangerten die selben Buchstaben. „Geht es Ihnen gut Sir?“. Sie streckte eine Hand nach Jack aus. Dieser erwiderte die hilfreiche Geste. Wieder auf den Beinen musterte er kurz die attraktive junge Frau. Sie war tatsächlich das erste lebendige Wesen, dass ihm in dieser Stadt begegnete. Ein amüsierter Blick traf auf das geblümte Geschirrhandtuch, das Jack zur improvisierten Schlinge umgearbeitet hatte. „...Was ist mit ihrem Arm passiert?“ Er durfte ihr unter keinen Umständen die Wahrheit erzählen... nicht wenn er sie auch noch selbst anzweifelte. „Ich hatte einen Autounfall auf der Landstraße. Ich bin mir nicht sicher was passiert ist... aber meine Windschutzscheibe ist zersprungen und... dann war ich bewusstlos“. Die Polizistin nickte langsam, trotzdem war ein Hauch von Skepsis in ihrem glatten Gesicht erkennbar. „Und jetzt wollten Sie sicher das nächste Krankenhaus aufsuchen. Wir werden am besten gemeinsam zum Brookhaven fahren und wenn die Ärzte den Arm zusammengeflickt haben, nehme ich Ihre Personalien auf“. Dankbar nahm Jack den Platz des Beifahrers ein. Er konnte währenddessen einen Blick auf das Namensschild des Officers erhaschen - Cybil Bennett. Als sich die Reifen des Streifenwagens in Bewegung setzten, füllte sich sein Herz mit neuer Hoffnung. Nach einem so schlechten Start in die eigene Vergangenheit konnte es doch nur besser werden, richtig? Die Fahrt durch Silent Hill war gespenstisch. Da war der Nebel, der Schnee, aber keine Menschenseele. Cybil konnte den verdutzten Ausdruck ihres Beifahrers sehen. „Jüngst ereignete... Vorfälle haben unsere Stadt in das verwandelt, das sie hier sehen. Die meisten Leute zogen einfach weg und der Rest... traut sich nicht mehr aus ihren Häusern“. Jack entschied sich dazu, nicht weiter nachzuhaken, denn Cybils Augen nach zu urteilen, wollte sie es dabei belassen. Sicher würde er noch früh genug erfahren, was seiner alten Heimat widerfahren war. Der SHDP Wagen bog in die Nathan Avenue ein, die langläufigste Schnellstraße der Stadt, die unter anderem zur Nachbarstadt Shepherd´s Glen führte. Jack konnte die Parkplätze des Rosewater Parks an sich vorbei rauschen sehen. Der Park war mit Abstand Judys Lieblingsort gewesen. Dort, am Ufer des Toluca Lakes machte er seiner wunderschönen Muse damals den Heiratsantrag und überreichte ihr eine einzelne weiße Rose... ein wirklich kitschiger Liebesbeweis. Jack musste ein lächeln über die Lippen fahren lassen. Silent Hill barg doch weit mehr als schmerzliche Erinnerungen. In der Carroll Street fand die Reise ein jähes Ende. Das Aschgraue Gebäude des Brookhaven Hospitals strahlte noch die selbe, unheimliche Aura aus. Die Tatsache, das hinter diesen Mauern im 19. Jahrhundert Pest- und Kriegsopfer behandelt wurden, sandte unerklärlicherweise Schauer an Jacks Rücken hinunter. Mit einem freundlichen „Nach Ihnen“, lotste ihn Officer Bennett durch den Eingang. In Brookhaven musste sich seit den 50er Jahren nicht mehr viel geändert haben. Milchige Wände wiesen zahlreiche Altersflecken und dunkle Spritzer von Gott weiß welchen Flüssigkeiten auf. Wartezimmer existierten nie im Brookhaven, die im Frontbereich aufgereihten Klappstühle mussten reichen. Cybil lugte durch die gläserne Trennwand der Rezeption - Jack war nur mäßig überrascht, dass sie von keiner Schwester begrüßt wurde. „Hmm, eigentlich müsste hier jemand Dienst haben... Wissen Sie was? Ich werde Ihnen jemanden suchen. Ruhen Sie sich doch solange im Cafe´aus, links den Flur runter“. Officer Bennett bewies wirklich, dass die Polizei dein Freund und Helfer war. Das hauseigene Krankenhauscafe´für Besucher und Patienten schaute optisch weitaus freundlicher aus, als das restliche Hospital. Gelbe Tapeten, sowie Himmelblaue Sitzreihen gaben immerhin eine halbwegs sonnige Atmosphäre zum Vorschein. Wie erwartet hatte Jack absolut freie Platzwahl und war erleichtert, wieder von den Füßen zu sein. der gebrochene Arm beanspruchte wohl mehr Energie als angenommen. Das erste Mal seit seiner Ankunft konnte er ruhig durchatmen. Die Ärzte würden die Verletzung fachmännisch behandeln und er könne bald endlich das alte Familienhaus besuchen. Das plötzliche Aufheulen einer Sirene trübte die flüchtige Hochstimmung gewaltig. Das eindeutige Warngeräusch dröhnte durch den Raum und versetzte Jack in Aufregung. Probealarm? Ein Hausbrand? Vielleicht wurde das Krankenhaus schon längst evakuiert... Mit klopfenden Herzen stolperte er zum Ausgang, öffnete die Tür und wurde schlagartig kreidebleich. Kapitel 4: Hölle ---------------- „Stricke des Todes hatten mich umfangen, und Ängste der Hölle hatten mich getroffen; ich kam in Jammer und Not“. Psalm 116, Lutherbibel 1912. Jacks Vater war ein gläubiger Christ der immer darauf Bedacht war, seinen Sohn Gottes Worte mit eiserner Disziplin beizubringen. „Vermeide Untaten und schlechtes Benehmen, dann wirst du nie in die Tiefen der Hölle geworfen“, pflegte er stets zu sagen. Jack musste fast schmunzeln... Wie falsch er doch damit lag. Inmitten dieses Krankenhauses war die Unterwelt aus den Tiefen gebrochen und zeigte ihr hässliches, furchterregendes Gesicht. Jack klammerte sich am Türrahmen des Cafes´ fest, Schwindel und Übelkeit kündigten nahe Ohnmacht an. Die Luft war mit purem Benzingeruch verseucht, als ob ein Tanklaster ausgelaufen wäre. Die einst Eierschalen Weißen Wände des Brookhavens waren durch rostige, gitterartige Strukturen ersetzt worden, an denen eine nur allzu bekannte, rote Flüssigkeit klebte. Dahinter schlängelten sich ein Gewirr aus kaputten Eisenrohren und dampfenden Ventilen hoch bis zur Decke. Die Temperatur stieg schlagartig auf eine schwellende Hitze an, Schweißperlen formten winzige, transparente Kugeln auf Jacks Stirn. Er löste den Griff von der Holzverkleidung, die nun nicht mehr aus Holz bestand, sondern aus alten, mit Öl und teilweise Blut verschmierten Metallplatten. Tagträumerei? Halluzinationen? Er wollte nur schnell wieder aufwachen. „D.... ddy?“. Die weit entfernte Stimme trieb Jack ein paar Schritte weiter auf den düsteren Flur, der auf unheimliche Art und Weise an eine ausrangierte Fabrikhalle erinnerte. Hier und da hingen schwach leuchtende Glühbirnen an einem gräulichen Kabel von oben herab. „Da.. y!“ Das ohrenbetäubende knattern von Maschinen, die wie reparaturbedürftige Traktor Motoren klangen, stürzte alles in ein akustisches Chaos. Jack versuchte, nach der Stimme zu lauschen, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Tatsächlich glaubte er einen kleinen Schatten vorbei huschen zu sehen. „Halt, warte!“ Sein Ruf wurde vom Lärm verschluckt. Trotzdem kam eine deutliche Antwort zurück. „Daddy, schnell!“ Braune Zöpfe, blaues Kleid, der Schatten nahm eine Form an... Amanda. Jack jagte dem Mädchen hinterher. Obgleich dies nur eine weitere Wahnvorstellung war, von der er Dr. Albert berichten konnte, er wollte sie wieder sehen. Nur ein einziges Mal. Väterliche Instinkte siegten über Logik und Vernunft. Amanda bog zur linken Seite ab und verschwand hinter einer halb geöffneten Fahrstuhltür. Jack presste sich durch den schmalen Spalt. Von hier aus konnte sie nicht mehr weglaufen oder? Doch der Schatten seiner geliebten Tochter hatte sich wie in Rauch aufgelöst. Das passierte immer... in seinen Träumen. Er tat wirklich alles Menschenmögliche um wieder mit ihr vereint zu werden... doch letztendlich blieb er allein zurück und Amanda wurde getötet, entführt, oder wie in diesem Fall vom Erdboden verschluckt. Mit einem Knall verschloss sich die Automatiktür. Jack fiel auf, das der quadratische Aufzug auf der unteren Seite mit groben Metallmaschen versehen war, durch die er das schier endlose Loch unter seinen Füßen erkennen konnte. Ein kräftiger Ruck brachte die Kabine in Bewegung. Mit rasender Geschwindigkeit ging es nach unten - in tiefstes Schwarz. Jack knallte durch die Wucht auf den Rücken. Das kurzfristige, flaue Gefühl, dass man bei Aufzugfahrten üblicherweise erfuhr, wurde zu unerträglichen Qual. Eingeweide drückten sich zusammen, das Gehirn schleuderte ungehindert im Schädel, machte den Kopf seltsam leicht. Scharfer Wind säuselte an Jacks Ohren vorbei, er konnte nur erahnen, wann der Fahrstuhl am Boden zerschellen würde. Doch Kontakt zum steinharten Grund blieb aus. Eiskalte Nässe durchdrang die Kleidung, gelangte zur Haut. Ein gewaltiger Stoß tauchte seinen gesamten Körper unter Wasser. Reflexartig holte Jack tief nach Luft, als der unerträgliche Druck nachließ und er musste zugleich aufstoßen, als nur Wasser seinen Hals herunterlief. Der nicht gebrochene Arm schoss nach oben, versuchte irgend einen Halt zu finden. Die Aufzugwände waren das einzige, dass er blind ertastete. Wie ein Käfig, ein Sarg, aus dem es kein Entkommen gab. Die Lunge schrie nach Sauerstoff, signalisierte einen zunehmend kritischen Zustand. Jack stieß sich mit den Beinen von den Metallmaschen ab und dockte an die Aufzugdecke an. Akribisch schlug die linke Hand gegen die glatte Fläche, um eine Lücke, einen Ausweg zu finden. Tatsächlich stand Jack unverschämtes Glück zur Seite, als er gegen eine kleine Luke trommelte, die nach oben hinweg aufklappte. Mit dem Kopf zuerst verließ er das elende Gefängnis und tauchte an der Wasseroberfläche auf. Schwer keuchend rang er nach der Benzingefüllten Luft, die gerade dazu ausreichte, um einen drohenden Kollaps zu vermeiden. Dunkelheit verschleierte die Sicht. Nach dem Trial and Error Prinzip erwischte Jack einen niedrigen Vorsprung, an dem er sich hochhieven konnte. Vollkommen kraftlos brach der Mann auf den erneut festen Boden zusammen. Erbrochenes bahnte sich den Weg durch zusammengebissene Zähne. Zitternde Finger streiften das durchnässte Haar zurück. Ein Schrei hallte durch das schwarze Nichts, in dem er sich befand. Sein eigener Schrei. Frust, Angst, Verwirrung, Trauer, die Emotionen kochten über. Eine geballte Faust traf den Grund. „Wach auf, wach auf, wach auf!“ Jack wiederholte die zwei einfachen Wort wieder und wieder. Wie einen Zauberspruch, der beim aufwachen aus diesen höllischen Albtraum helfen würde. Die Situation war unbegreiflich, unwahrscheinlich, unmöglich. Kein halbwegs denkender Mensch würde diese Geschichte für real halten. Jack war verrückt geworden, ein Fall für die Zwangsjacke... Kapitel 5: Schatten ------------------- Kapitel 5: Schatten Minuten zuvor verfiel er in pure Hysterie, geriet in Panik, schrie sich die Lunge aus dem Hals. Doch alle Verzweiflung verhallte in den schwarzen Gängen... ungehört, unbeachtet, schlicht weg ignoriert. Jack schloss die Augen, öffnete sie erneut, machte sie wieder zu. Die ständige Wiederholung war lästig aber notwendig, um nahender Bewusstlosigkeit zu entgehen. Man konnte die eigene Hand kaum vor Augen sehen, es roch nach stechendem Schweiß und verbrannten Kadavern. Doch das schlimmste war die unerträgliche Hitze, die Jacks Kopf beinahe zerbersten ließ. Fleißige Gleisarbeiter rammten glühende Eisenstäbe durch sein Hirn, bis hinter die Augenhöhlen. Es pochte, schmerzte, machte klare Gedanken unmöglich. In der Ferne knatterten weiterhin Maschinengeräusche mit unerbittlicher Intensität. Die Angst, dass hungrige Mäuler und geschärfte Krallen unerwartet aus den Schatten preschen konnten, kroch wie ein ungewollter Parasit Jacks Rücken hinauf und brachte die feinen Nackenhärchen dazu, sich kerzengerade aufzustellen. Es mochte ihn nicht weiterbringen, einfach hier dicht an der Wand gepresst zu sitzen, aber verletzen konnte es ihn auch nicht. Doch einige Armlängen entfernt, heimlich und unauffällig lauerte bereits eine Unheilvolle Überraschung. Er beobachtete sein Opfer mit behäbiger Geduld seit dem Moment, als es keuchend aus dem Wasser gestiegen war. Mit der Geschmeidigkeit einer Spinne huschte die zum jagen geformte Kreatur senkrecht den engen, stickigen Gang entlang, die muskulösen Beine wie Saugnäpfe an der Wand klebend. Reptilienartige Augen durchblicken klar die schaurige Dunkelheit, die seinem Opfer so zu schaffen machte. Seine Atemwege schürten sich bemerkbar zu. Jack konnte schwören, dass sich etwas in den verschleierten Schatten bewegte. Mit jeder einzelnen Sekunde stieg die zuvor unterdrückte Ohnmachtsangst an. Der Blutdruck schwoll schrittweise an, pumpte bald doppelt so viel Blut durch Venen und Adern, sodass auch das Herz seine Leistung erhöhen musste. Der Jäger besaß eine kühle Intelligenz: Hinterlistig, gerissen. Ein Wolf der das Schaf reißen wollte, bevor es sich überhaupt zu wehren versuchte. Das böswillige Biest wechselte seine Position, verharrte nun kopfüber im neuen Versteck. Weißliche Speichelfäden liefen ihm über die vernarbte Fratze, das offene Maul entblößte Messerscharfe Reißer die begierig danach lechzten, sich in frisches Fleisch zu bohren. Das Opfer hob bedächtig den Kopf, wollte vergeblich etwas in der Finsternis erkennen... Jack blinzelte mehrere Male, damit die ohnehin beeinträchtigte Sicht nicht weiter verschwamm. Rhythmisches Ein- und Ausatmen half ihm, seinen Körper unter Kontrolle zu bringen. Er sah es nicht kommen. Lange, bewegliche Finger auf die jeder Piano Spieler neidisch gewesen wäre, lösten sich zuerst von der Wanddecke, der Jäger war in der Lage, sein gesamtes Gewicht lediglich mit den kräftigen Beinen zu halten. Eine zähflüssige Masse tropfte auf Jacks Schulter. Als er die Situation verstand, war es bereits zu spät. Ein derangiertes kreischen dröhnte in seinem Trommelfell, als ein mächtiger schwarzer Schatten von oben herabstürzte. Auf allen Vieren landete das furchterregende Biest boshaft fauchend auf den dreckigen Boden. Hinter ihm kam ein aus Knochen und dicken Knorpeln bestehender Schweif zum Vorschein, der mit der deutlich sichtbaren Wirbelsäule verbunden war. Der Jäger machte mit präziser Sicherheit einen Satz nach vorne - gierig auf den verletzlichen Nacken des Opfers fixiert. „Natürlicher Instinkt bewahrte den Menschen vor Fehltritten und Gefahren. Wenn Sie ihre Angst spüren, wie sie Ihre Sinne benebelt, Sie zum aufgeben zwingen will, handeln Sie einfach nach Instinkt Mr. Potter. Sie wissen schon, das Bauchgefühl, die kleine innere Stimme, die einem im letzten Moment ins Gewissen reden kann.“ Dr. Alberts Stimme säuselte wie ein entferntes flüstern um seinen leeren Kopf herum. Eine reine Impulshandlung, eine unterbewusste Reaktion verhinderte unerwartet das drohende Ende. Der verletzte Arm schnellte hoch, blockierte den direkten Weg zur pochenden Halsschlagader. Für Jack verlief der ganze Vorgang in Zeitlupe, wie ein zu langsam abgespielter Film. Der Jäger versenkte die Zentimeterlangen Zähne, seine effektivsten Tötungswerkzeuge in das vom Ellenbogenknochen zerstörte Gewebe. In Sekundenschnelle war das untere Ende des Armes erreicht - plötzlich eintretender Schmerz spülte die stumpfe Taubheit hinweg. Kapitel 6: Licht am Ende des Tunnels ------------------------------------ Kapitel 6: Licht am Ende des Tunnels Wünschst du dir nicht auch manchmal tot zu sein? Das alte Geschirrhandtuch, dass seine letzten Tage als provisorische Kopfschlinge verbringen durfte wurde gnadenlos in Fetzen gerissen. Die kitschigen Blumenmuster tränkten sich Faser für Faser mit der warmen Flüssigkeit, die den Jäger so wild machte. Er machte krank, er machte besinnungslos er machte wahnsinnig. Schmerz. Er Raste wie ein besonders gefährliches Gift durch den Körper, stellte jeden einzelnen Nervenstrang auf die Zerreißprobe. Unsortierte Gedanken schweiften kaum greifbar durch Jacks Schädel, machten das immer stärker werdende pochen des aufgestauten Blutes nur noch schlimmer. Ich will sterben Hoffnungslosigkeit ist der Erste Schritt in die Depression. Vielleicht werde ich sie im Himmel wieder sehen. Ein greller Lichtstoß zerriss das Dunkle Reich des Jägers. Anfänglich weiße, schwammige Flecken formten sich in Jacks Augen zu der Visage seiner Nemesis. Grausam, hässlich, gnadenlos... unzählige Adjektive dieser Natur blieben ihm im Hals stecken, bildeten einen dicken Klumpen. Nichts und niemand bewegte sich jemals unentdeckt durch sein Jagdrevier. Umso irritierender war der helle Strahl, der seine für die Nacht geschaffenen Augen verbrannte. Böse zischend schreckte das Ungetüm vom Opfer zurück. Jack jaulte wie ein getretener Hund auf, als sich die Sichelartige Klaue von seinem Fleisch trennte. „Geh in das Licht!“ Wer war das? Ein Engel? Sie hatte die Stimme eines Engels. Die Prozedur des Aufstehens brachte Jacks letzte Kräfte gewaltig ins schwanken. Zitternde Knie wollten das Gewicht des Torsos partout nicht halten und brachen wie ein Kartenhaus zusammen. Unsicher stützte er seinen zusammensackenden Körper auf den noch gesunden Arm ab, der von der plötzlichen Anstrengung ins beben geriet. Der Jäger war nach wie vor erzürnt von der unangenehmen Unterbrechung und achtete glücklicherweise kaum auf den tollpatschigen Fluchtversuch seines Opfers. Jack erinnerte an ein Kleinkind, das gerade seine ersten Laufversuche unternahm. Stolpernd und staksend bewegte er sich weiter auf das sprichwörtliche „Licht am Ende des Tunnels“ zu. Eine Hitzewelle durchflutete ihn. Für einen kurzen Moment verschwamm das Licht zu einem gräulichen Strudel. Jack drehte sich der Magen um. Scharfe Galle drückte gegen seine Zunge, die er aber schnell wieder herunterschluckte. Konzentrier dich... konzentrier dich... Der Gedanke kitzelte zuerst in seinem Hinterkopf, formte dann aber ein imaginäres Geflecht, dass sich wie ein Teppich über alle Sinne legte. Fokus und Ruhe waren der Schlüssel. Panik und Angst die Vorbereitung auf einen schmerzhaften Tod. Sicherlich glich es einer wahren Meisterleistung, das fauchende, wütende, nach Blut lechzende Ungetüm schlicht weg zu ignorieren, aber Jack versuchte sein Bestes, den Blick nicht nach hinten zu werfen. Schleimige Speichelfäden tropften von den gefletschten Zähnen des Jägers. An Dunkelheit gewöhnte Augen scannten die Umgebung nach dem verlorenem Opfer. Als er den stark blutenden Mann von seinem ehemaligen Standpunkt wegschwanken sah, stieß er ein Schreckliches Kreischen aus. Jack zuckte bei dem Ohrenbetäubenden Geräusch zusammen. Der einstige Plan das nahende Ende zu vergessen drohte in sich zusammenzubrechen. Jack konnte seine innere Hektik nicht verstecken geschweige denn komplett ausblenden. Er stolperte. Der Jäger fand einen sicheren Weg, dem gleißenden Lichtkegel zu entgehen. Dicht an der Decke gepresst setzte die Kreatur ein drahtiges Bein vor das andere. Jack drehte den Hals in die entgegengesetzte Richtung und sah wie sein Verfolger das störende Hindernis überwand. Wie würde er wohl töten? Das schmackhafte Fleisch seines Opfers in Stücke reißen, während es seinen Pein aus der Lunge schrie? Vielleicht durchbohrte das Monster auch zuerst seinen Hals, damit er Ruhe gab. Etliche Möglichkeiten zu sterben. Aber nur eine einzige die zum Überleben führte... eventuell. Es konnte eine weitere Falle sein, ein Raum, der sich von selbst verriegelte und zum ewigen Gefängnis wurde, ein weiteres Biest, dass intelligent genug war, um seinen Rivalen mithilfe von Lichtquellen auszuspielen. Alles war möglich, denn das Brookhaven Hospital hatte die Tiefen der Hölle entfesselt. Mit aufgeriebenen Knien stemmte sich Jack erneut hoch. Um an das nächste Elend zu denken, musste er erstmal dem jetzigen entkommen. Das heftige rascheln an der Decke war Nervenzermahlend. Der Jäger wurde ungewöhnlich leise in Anbetracht seiner vorherigen schäumenden Wut. Still verschwand er endlich in die geliebten Schatten. Ein schlimmeres Gefühl als der Tod selbst war das Unwissen wann es Geschah. Das Paar quietschender Lederschuhe und das Keuchen einer gequälten Lunge gaben die einzigen lauten Geräusche von sich. Wie viele Meter waren es noch? Die Quelle des Lichts schien unendlich weit entfernt zu sein. Lediglich ein ferner, unerreichbarer Hoffnungsschimmer. Für einen kurzen Moment lang dachte Jack daran, ob sich die Schmerzen überhaupt lohnten. Er konnte einfach stehen bleiben und das vom Schicksal gedrungene Ende über sich ergehen lassen. Amanda war nicht hier... zumindest nicht in ihrer fleischlichen Form. Sie war nur noch ein Geist, eine vage Erinnerung, die Jacks Gedanken folterte und malträtierte. Allerdings könnte er ihr im Himmel begegnen... Ein Kampfschrei. Er konnte die Klaue schon durch den Luftzug spüren, bevor sie um Haaresbreite an ihm vorbei surrte. Reflexartig und erschrocken schlug Jack beide Arme über den Kopf, wobei der rechte Arm schmerzhaft protestierte. „Lass mich in Ruhe!“ Schreien war die einzige Verteidigung, die er sich selbst bieten könnte. Ein grausames Monster anschreien, als ob es ein Muskelbepackter Hüne war, der ihn wegen seines Pausengelds verprügelte. Gedämmtes Licht spiegelte sich in den milchigen Augen wider, die ihn für einige Sekunden anstarrten. Dann verschwand die Kreatur mit einem mächtigen Satz erneut in den Schatten. „Was... soll das?“ Hatte es etwa Angst bekommen? Diese Vorstellung war geradezu lächerlich. Lachhaft. Die darauf folgende Erkenntnis ließ seine Gedanken rasen. Es spielt nur mit mir. Der Jäger beäugte aufgeregt sein zappelndes Opfer. Man möge ihn für ein primitives Wesen halten, aber er war durchaus dazu in der Lage Taktiken zu wechseln und oberflächliche Emotionen zu empfinden. Das gleißende Licht verbrannte seine empfindlichen Augen und reizte sein Gemüt, doch nun war der Jäger wieder voll und ganz auf das Ziel fixiert. Die lange fleischige Zunge kitzelte seinen Rachen, der sehr bald mit frischen, warmen Blut gefüllt sein sollte. Doch zuerst vergnügte er sich ein wenig mit der Angst des Opfers. Er spürte die Angst, konnte sie wie ein Hund riechen. Sie erregte den Jäger, sodass er nicht mehr vom Opfer ablassen konnte. Den Spaß wollte und konnte er dem Monster nicht lassen. Das bisschen Würde, das sich tief in Jacks inneren verkrochen hatte, drückte gegen seinen Brustkorb. So durfte es nicht enden. Nein. Er verdoppelte das Tempo, mit dem er über den rostigen, verbrannten Boden schlurfte. Ab und zu gab der Knöchel oder die Kniescheibe nach und knickte leicht ein, doch solche Unannehmlichkeiten spürte er nicht mehr. Auf der Wand zur Rechten Seite drückte sich eine lange Kerbe ins Metall. Ein aggressives fauchen dröhnte in Jacks Ohren. Wollte es angreifen oder verunsichern? Jack hetzte seine Augen von links nach rechts, nach oben und nach unten, immer wartend auf den nächsten Schlag. Aber er kam einfach nicht. Das Licht rückte weiter in seine Nähe. Eventuell würde er das erste Mal, seit er in Silent Hill angekommen war, so was wie Glück haben. Plötzlich wurde ihm der Sauerstoff aus den Lungen gepresst. Die Schwerkraft ließ ihre gnadenlosen Kräfte wirken und Jack knallte auf alle Viere. Der Schmerz trieb ihn Tränen in die Augen, die die Sicht verschwimmen ließen. Glück war an einem Ort wie diesen zu viel verlangt. Trotz neu eingetretener Verletzungen und einem erdrückendem Gewicht auf der Wirbelsäule robbte Jack tapfer nach vorne. Bestimmt ist es einfacher zu sterben. Böse Stimmen flüsterten ihm ins Gewissen. Es hat keinen Sinn, es wird dich fressen. Er spürte die hoch erhobene Kralle, die wie eine Guillotine über seinen Kopf schwebte. Amanda wird sich bestimmt freuen, dich wieder zu sehen. Jack sank weiter in sich zusammen, mit der Wange fast den Boden berührend. Du wirst in dieser Welt ohnehin nicht gebraucht! Die stille Wahrheit breitete sich wie ein starkes Gift in ihm aus. Arme und Beine erschlafften. Die Motivation, der kurzzeitige Überlebenswille... verflogen. Jack vermochte nur noch zu hoffen, dass es nicht zu lange dauern würde. Dann ein Schlag. Kein finaler Schlag, sondern ein dumpfer Gegenstand, der mit großer Gewalt gegen den Kopf des Jägers geschleudert wurde. Eben genannter stieß einen kehligen Grunzer aus und verlor das Gleichgewicht. Das gesamte Gewicht löste sich mit einem mal vom Rücken des Opfers. Zunächst blieb er stocksteif liegen. Entkommen war unmöglich, sich wehren war töricht und weiterleben war unnötig. Wahrscheinlich blieb man ohnehin auf ewig in dieser Hölle gefangen, bis man dem Tod endlich ins hässliche Antlitz sah. Doch ein kleiner Teil in Jacks Verstand fragte sich, wer den Jäger vertrieben hatte. Diese Frage schien sich von alleine zu beantworten. Schlappe Schultern wurden von kräftigen Händen umfasst. Wie eine Strohpuppe wurde der niedergeschlagene Mann über den dreckigen Boden geschleift, hinein in das Licht. Das wunderschöne, beruhigende Licht. Wollten die Engel ihn etwa zu sich holen? Er wurde gegen die Wand gelehnt. Dann schloss sich eine Tür. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)