Anders ist verrückt von Caro-kun ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel Eins ----------------------- *°* Sie stand in einem Wald. Ganz plötzlich. Und ihr Körper fühlte sich merkwürdig leicht an. ´Fast so, als würde ich schweben! `, dachte Alice, während sie sich einmal um die eigene Achse drehte und nach oben sah, wo die Sonne durch die dunkelgrünen Blätter schien. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Alice hatte keine Ahnung, wo sie hinwollte. Lediglich dieses köstliche Gefühl der Unbeschwertheit, wollte sie noch etwas weiter genießen. Ein leichter Wind kam auf. Nicht mehr als ein Hauch, der ihr über die Wange strich und die Grashalme, welche am Wegesrand wuchsen, zum Erzittern brachte. Zuerst beachtete die Blonde ihn nicht sonderlich, doch dann kam es ihr plötzlich so vor, als würde der Wind ihr etwas ins Ohr flüstern. Sie blieb abrupt stehen, runzelte die Stirn und lauschte. Nichts. Nur Einbildung! Alice schüttelte den Kopf und schickte sich an weiterzugehen. Doch Halt! Da war es wieder! „Sie sind alle so grausam. So herzlos und … kalt!“ Jetzt war Alice sich sicher: In dem leisen Rauschen schwangen eindeutig Worte mit. Gewisperte Worte, zu tief für die einer Frau. „Sie beurteilen, ohne richtig hinzusehen. Sie verurteilen, ohne zu kennen!“ Alice sah sich suchend um, drehte sich dabei sogar mehrmals im Kreis, doch es war ihr unmöglich, zu sagen, wo die Stimme herkam. Die Stimme dieses Mannes, die so traurig klang, wie sie noch nie jemanden hatte sprechen hören. „Sie wollen mich nicht kennenlernen, weil sie mich nicht verstehen. Ich glaube, … sie haben Angst. Vor mir. Weil ich anders bin. Weil ich nicht normal bin. Verstehst du, was ich meine? Verstehst du es … nicht wenigstens ein kleines bisschen?“ Zu gerne hätte die Blonde jetzt geantwortet, doch ihr Mund weigerte sich aufzugehen. Sie brachte keinen Ton heraus. „Alice … hörst du mich denn nicht? Alice …“ *°* „Alice! Hörst du denn nicht? Alice!“, die Stimme ihrer Mutter und ein heftiges Rütteln an ihrem Arm. Das Mädchen blinzelte noch einige Male verwirrt, bis es wieder wusste, wo es sich befand. „Wie kann man nur zu einer solchen Tageszeit schlafen?“, die Frau neben ihrem Bett seufzte bekümmert und stemmte die Hände in die Hüften. „Tut mir Leid, Mutter!“, entschuldigte sich Alice, „Ich war nur auf einmal so müde nach den Schularbeiten …“ „Nicht so wichtig, Kind!“, wurde sie unterbrochen, „Zieh dir deine Schuhe an und komm dann runter in den Garten. Es gibt Tee, mit Doris und Johanna!“ Mit diesen Worten verließ ihre Mutter das Zimmer. „Nicht schon wieder!“, murrte Alice und stand auf, „Das hatten wir doch erst letzte Woche! Und vorletzte und vorvorletzte auch!“ Doris und Johanna waren zwei Freundinnen der Mutter, die jeden Mittwoch zum Tee vorbeikamen. Und jeden Mittwoch mussten Alice und ihre Schwester Margaret sich dazusetzen, hauptsächlich um zu beweisen, wie wohlerzogen und anständig sie waren. Und Alice hasste es! +++ Dieses Mal jedoch saßen an dem runden Tisch nicht nur die beiden jungen Frauen, die sie bereits kannte, sondern noch eine dritte Dame und ein Junge in Alice‘ Alter. Die Blonde war darüber zwar ein wenig irritiert, knickste aber dennoch höflich: „Guten Tag!“ „Du bist also Helens jüngste Tochter!“, die Fremde lächelte, „Schön, dich endlich kennenzulernen. Setz dich doch … Alice, nicht wahr?“ Die Angesprochene nickte und kam der Aufforderung nach. „Das ist Mrs. Hitchens!“, stellte ihre Mutter vor, nachdem sie den Kuchen auf der weißen Tischdecke abgesetzt hatte, „Ich hab sie kürzlich bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt. Und ihr Sohn David!“ Der Junge in dem beigefarbenen Anzug verzog kaum merklich die Mundwinkel: „Guten Tag, Miss!“ „Hallo!“, es kostete Alice einiges an Überwindung sich ein Lächeln abzuringen. Sie fand ihn unheimlich. In dem blassen Gesicht, wirkten seine braunen Augen geradezu schwarz. Jedes einzelne seiner dunkelbraunen Haare saß penibel genau am richtigen Platz und es hätte sie nicht gewundert, wenn er sich seinen Seitenscheitel mit dem Lineal gezogen hätte. Den ganzen Nachmittag über versuchte sie ihn so gut es ging zu ignorieren, während sie langweiligen Gesprächen über das Wetter und angemessener Kleidung lauschte, und Tee aus einer feinen Porzellantasse trank. +++ Alice hatte angenommen, dass Thema David wäre erledigt, sobald er mit seiner werten Frau Mutter gegangen wäre. Doch da irrte sie sich gewaltig! Gerade als sie die breite Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgehen wollte, wurde sie von Helen noch einmal an der Schulter gefasst: „Und?“ „Und, was?“, fragte Alice misstrauisch, obwohl sie durch das erwartungsvolle Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter durchaus ahnte, was gemeint war. Beziehungsweise, wer. „Wie hat David dir gefallen?“, bestätigte Helen sogleich ihre Vermutung. Die Blonde seufzte. Um Zeit zu schinden und sich eine passende Ausrede überlegen zu können. Doch im Lügen war sie noch nie sonderlich gut gewesen. „Nicht so ganz mein Geschmack, fürchte ich!“, begann sie ausweichend, „Gut, er ist höflich, seine Manieren sind ebenfalls tadellos, aber … er ist nun mal eben wie alle anderen!“ Den letzen Satz hätte sie wohl besser weglassen sollen, denn der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wechselte von hoffnungsvoll, über irritiert und blieb schließlich bei besorgt hängen: „Ja, aber … was willst du denn dann?“ Alice blickte ihr geradeaus in die Augen: „Ich weiß es nicht, Mutter!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Noch einmal tief aufseufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Ja, was wollte sie eigentlich? Keiner der Jungen, denen sie bisher begegnet war, hatte ihr zugesagt. Wie denn auch, wenn sie alle gleich waren? Nicht, von Äußerlichkeiten her, sondern von ihrem Auftreten: Förmlich, steif und kühl. Da war nichts Persönliches an ihnen, nichts, was sie hätte sympathisch machen können. Eigentlich wusste Alice, dass es nicht fair war, sie deswegen zu verurteilen. Sie verhielten sich ja nur so vor ihr, wie man sie gelehrt hatte, sich vor einer jungen Dame zu verhalten. Genauso, wie man ihr selbst beigebracht hatte, in der Öffentlichkeit stets höflich und anmutig zu sein. Aber dennoch, das wollte sie eben nicht! Sie wollte jemanden, mit dem sie lachen konnte. Mit dem das Leben auch Spaß machte und nicht nur aus Regeln und Verboten bestand. Doch so jemanden zu finden, war in der heutigen Zeit wohl unmöglich … Das war ihr letzter Gedanke, bevor ihr Kopf zur Seite fiel und sie sanft einschlief. *°* ´Wo bin ich denn hier gelandet? `, fragte sie sich schaudernd, ´Ein Labyrinth? ` Sie stand in einem steinernen Gang, von dem weitere Gänge abzweigten. Die Mauern links und rechts von ihr waren bedrohlich hoch und das bisschen Himmel, was zu erkennen war, von dunklen Wolken bedeckt. Eigentlich war es ein Irrgarten, aber Alice kannte den Unterschied zwischen einem Labyrinth und einem Irrgarten noch nicht. Es war gespenstisch still. Daher zuckte die Blonde auch erschrocken zusammen, als sie so plötzlich eine Stimme vernahm, auch wenn diese sehr leise war. Es war die gleiche Stimme, wie sie sie schon einmal gehört hatte, doch dieses Mal kam sie aus einer ganz bestimmten Richtung. „Sie sagen, ich sei verrückt!“ „Hallo?“, rief Alice und machte ein paar Schritte vorwärts, „Wo sind Sie?“ „Ich bin nicht verrückt! Oder bin ich es doch? Ich weiß es nicht!“ Das Mädchen folgte der Stimme, immer tiefer in den Irrgarten hinein. „Ich weiß es wirklich nicht! Sie sind diejenigen, die es mir andauernd sagen. Haben sie nun Recht? Oder reden sie mir die Verrücktheit nur ein?“ Nun hastete Alice durch die Gänge. Mal nach links, mal nach rechts. So schnell sie konnte. „Ich habe nicht einen Freund auf dieser Welt! Nicht einen einzigen!“ Sie war ganz nahe. Da! Wenn sie da hinten links abbiegen würde, da musste der Mann sein! „Willst du meine Freundin sein?“ Abrupt blieb Alice stehen. Rang nach Atem. Sie stand in einer Sackgasse! *°* Kapitel 2: Kapitel Zwei ----------------------- Alice war gerade dabei, sich Erdbeermarmelade auf das Brötchen zu schmieren, als ihre Mutter, die neben ihr am Kopfende der Tafel saß, plötzlich zu sprechen anfing: „Wir werden heute nach dem Mittagessen in die Stadt fahren. Ich muss ein paar Besorgungen erledigen und du brauchst neue Kleider und Schuhe!“ „Ist gut!“, nickte die Blonde und wandte sich dann an ihre Schwester, „Kommst du auch mit?“ Margaret lächelte: „Aber ja doch! Ich brauche auch ein paar verschiedene Sachen. Unter anderem neue Bücher!“ Sie zwinkerte ihr belustigt zu und Alice lachte. Da das Wetter es zuließ, fuhren sie in der offenen Kutsche. Alice saß ihrer Mutter schweigend gegenüber, neben sich Margaret. Die Fahrt von ihrem Anwesen, bis zum Marktplatz dauerte ungefähr zehn Minuten. Es waren viele Menschen unterwegs: Kinder, Frauen und Männer, mit Gehstock und Zylinder. Doch das war zu dieser Tageszeit nicht besonderes. Gemütlich schlenderte Alice hinter den anderen beiden her und beobachtete dabei die Leute, die aus den verschiedenen Geschäften kamen oder in Grüppchen zusammenstanden und sich unterhielten. Gerade, als sie ihren Kopf zur linken Seite drehte, bemerkte sie es, ja, es sprang ihr geradezu ins Auge, während die anderen unbeteiligt daran vorübergingen. Eingezwängt zwischen zwei hohen Häusern stand dort ein kleines Geschäft. Von der Außenfassade her völlig unscheinbar, nichts anderes als langweiliger, beiger Sandstein. Es war das Schild über der Tür, was Alice‘ Aufmerksamkeit so fesselte. Es war bunt. Kunterbunt. Und mit weißer Farbe, waren große, ineinander verschlungene Buchstaben darauf gemalt: ~Wonderlandhats~ Ein Hutladen. Da erschien in dem Schaufenster neben dem Eingang plötzlich ein Mann. Verblüfft und gleichzeitig neugierig starrte Alice zu ihm herüber: Er stellte eine Leiter an den Rand des Fensters, stieg ein paar Sprossen auf ihr hinauf und machte sich dann daran, mit Hammer und Nagel das eine Ende einer Schmetterlingsgirlande in der oberen Ecke zu befestigen. Er trug gelbe Schuhe, und eine viel zu kurze schwarze Hose und bunte Ringelsocken. Das konnte die Blonde nun erst recht nicht glauben. Sie hatte noch nie in ihrem Leben bunte Socken gesehen! Die in den Geschäften waren entweder weiß oder schwarz. Ohne irgendwelche Muster. Ihr Blick wanderte weiter nach oben zu einem eher schäbigen braunen Jackett und blieb schließlich an den feuerroten Haaren des Hutmachers hängen, die von seinem Kopf wirr in alle Richtungen abstanden. „Alice!“, hörte sie da auf einmal Helens Stimme, „Hör auf zu trödeln und komm endlich!“ „Ja, Mutter!“, rief sie, während sie noch einen letzten Blick über die Schulter zurückwarf. ´Verrückt! `, dachte sie bei sich. +++ Vier Stunden später sank Alice erschöpft auf ihre Bettkante. Ihr taten zwar die Füße weh, aber dennoch war sie mit den Errungenschaften des heutigen Tages zumindest einigermaßen zufrieden: Sie hatte neue Kleider bekommen und zwei Paar Schuhe und Strümpfe, einfarbig weiß, wie jedes Mal. Langweilig, wie jedes Mal. Da hatten ihr die von diesem Hutmacher weitaus besser gefallen. Mit einem leisen Seufzen ließ sie sich nach hinten fallen und schloss die Augen. Nur für einen Moment! Nur ein wenig … dösen … *°* Sie fand sich in einem Garten wieder. Stand inmitten der schönsten Rosenbüsche, an denen weiße und rote Blumen wuchsen. Die Weinroten mochte Alice am liebsten. Lächelnd beugte sie sich über eine von ihnen. Ganz kleine Tautropfen glitzerten noch auf den Blütenblättern. Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr. Sie drehte sich zur Seite und hielt vor Überraschung unwillkürlich den Atem an. Wirre, rote Haare. Da vorne lief dieser Mann von heute Nachmittag. Der Hutmacher! „Warten Sie!“, rief Alice, doch da war er schon hinter einer Hügelkuppe verschwunden. So schnell sie konnte rannte die Blonde ihm nach. Als sie allerdings völlig außer Atem auf der Anhöhe ankam und hinunterblickte, war er nirgendwo mehr zu sehen! Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Nur ein großer See erstreckte sich vor ihr und ansonsten nichts anderes, als weite Grasflächen. Doch halt! Was war das? Erst jetzt bemerkte sie die Spiegelung auf der glatten Wasseroberfläche. Ganz langsam, und mit immer größer werdenden Augen, lief Alice darauf zu. Das war das Spiegelbild des Hutmachers! Im Profil. Die Arme vor der Brust verschränkt starrte es streng und unbeweglich geradeaus. Doch von ihm selbst keine Spur! Alice ging am Rand des Sees in die Hocke und beugte sich über das Wasser. Das Bild war immer noch ganz klar zu erkennen. Mit einem Mal verlor sie das Gleichgewicht und kippte nach vorne. Fiel genau durch die Spiegelung hindurch in das eiskalte Wasser. Alice drehte sich und wollte wieder an die Oberfläche schwimmen, doch ihre Arme waren bleischwer, sie sank immer weiter nach unten. Die Wellen, die durch ihren Sturz entstanden waren, glätteten sich, das Bild des Hutmachers setzte sich wieder zusammen und wurde kleiner … und kleiner … *°* Kapitel 3: Kapitel Drei ----------------------- Wie jeden Mittwochnachmittag saß Alice erneut schweigend an dem runden Teetisch im Garten, mit ihrer Mutter und deren Freundinnen. Zu ihrer Erleichterung waren Mrs. Hitchens und David diesmal nicht anwesend. Ob Helen es aufgegeben hatte, sie mit Jungen Bekanntschaft machen zu lassen? Normalerweise galt Alice‘ Konzentration in Situationen wie dieser ja eher dem Tee und dem Kuchen, als den Gesprächen der Frauen, doch dieses Mal fiel ein Satz, bei dem die Blonde schlagartig aufhorchte. „Habt ihr den neuen Hutladen in der Innenstadt schon gesehen?“ Doris nickte: „Ja! Bin sogar schon einmal drin gewesen. Du auch?“ „Natürlich! Jedes neue Geschäft muss doch schließlich geprüft werden! Allerdings wäre es mir bei diesem lieber gewesen, ich hätte gleich darauf verzichtet!“ „Warum?“, fragte Helen und stellte ihre Tasse ab, „Ist er etwa so schlimm?“ Johanna verdrehte die Augen: „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm! Ganz klein …“ „Dafür aber vollgestopft mit den unmöglichsten Hüten. Bis unter die Decke!“, warf Doris ein, „Und alles so bunt! Schrecklich! Manche Farben tun richtiggehend in den Augen weh!“ „Wenn sie wenigstens schlicht gewesen wären, so wie andere Hüte auch, aber nein. Die sind benäht mit allem möglichen Krimskrams: Stoffresten, Vogelfedern … mit sowas kannst du dich doch nicht auf die Straße wagen!“ Noch ehe Helen dazu nickten konnte, meinte Doris trocken: „Bei manchen trägst du sogar ein ganzes Blumenbeet auf dem Kopf!“ „Wobei der Inhaber ja eigentlich noch viel verrückter ist, als seine Hüte!“, warf Johanna ein. Jetzt war es an Doris die Augen zu verdrehen: „Oh ja! Schon allein seine Kleidung: Das Jackett, völlig abgewetzt … Hochwasserhosen …“ „Und dieser scheußliche Zylinder! Das Ding gehört verbrannt, finde ich!“ „Rote Haare hat er! Ach was, Haare kann man das ja gar nicht mehr nennen … das ist … Gestrüpp … ein absolut unordentlicher Wust!“ „Und diese Augen! Ich hab noch nie in meinem Leben so komische Augen gesehen. Ein ganz helles Grün! Das ist doch nicht normal!“ „Der Mann ist krank!“, meinte Doris überzeugt, „Einfach nur krank!“ „Aber dann wird er doch sowieso nicht lange in der Stadt bleiben!“, vermutete Helen, „Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand bei ihm einkauft, nach dem, was ihr jetzt erzählt habt!“ „Na, zum Glück!“, lachte Johanna und rührte in ihrer Tasse, „Ich geb ihm mindestens zwei Monate, dann ist der Bankrott!“ So schnell wie es nur irgendwie ging, würgte Alice ihren Kuchen hinunter und trank den Tee in großen Schlucken hinterher. Dann sprang sie auf und rannte, ohne die Rufe ihrer Mutter zu beachten, ins Haus und nach oben in ihr Zimmer. Sie hatte die Frauen noch nie so reden gehört. So gemein. Sie warf sich auf ihr Bett und rief sich das Bild des Hutmachers zurück in ihr Gedächtnis. Sicher, ´Verrückt `das hatte sie auch gedacht, als sie ihn da im Schaufenster gesehen hatte. Aber eben nicht ´schlecht verrückt`, oder ´krank verrückt`, sondern ´lustig verrückt`! Die abschätzigen Worte von Mutters Freundinnen, setzten sich in Alice‘ Kopf fest und ließen sich nicht vertreiben! ´Ich werde zu ihm gehen! `, dachte Alice trotzig, ´Ich werde zu ihm gehen und einen Hut kaufen! Vielleicht geht Mutter in den nächsten Tagen aus, dann kann ich mich in die Stadt schleichen! ` Das Mädchen lag am Abend noch lange wach, wälzte sich in seinem Bett hin und her, bis es endlich in einen unruhigen Schlaf fiel … *°* Ein langer steinerner Gang erstreckte sich vor ihr, dunkel und kalt, nur erhellt durch einzelne Fackeln, die in schmiedeeisernen Halterungen an den Wänden hingen. Alice fröstelte. „Hallo?“, rief sie, während sie langsam, Schritt für Schritt voranging. Niemand antwortete ihr. Nach einer Weile endete der Gang jedoch und sie stand in einem, von dem Boden der Decke und den Wänden ebenso aussehenden, großen Raum. Von der einen Seite zur anderen zogen sich, genau durch die Mitte, schwarze Gitterstäbe. Alice schluckte und trat näher heran. Das war ein Käfig! Nun konnte sie auch erkennen, dass in die Eisenstäbe Wörter, manchmal sogar ganze Sätze, eingeritzt waren. Alice musste ihren Kopf zur Seite neigen, um sie lesen zu können: Der Mann ist krank, einfach nur krank … verrückt … nicht ganz bei Sinnen … so komische Augen … unmögliche Hüte … benäht mit allem möglichen Krimskrams … manche Farben tun richtiggehend in den Augen weh … Haare kann man das ja gar nicht mehr nennen … ekelhaft … das ist doch nicht normal … „Was tust du da?“, fragte plötzlich, wie aus dem Nichts, eine raue, dunkle Stimme. Erschrocken wich Alice zurück. In der hintersten Ecke bewegte sich etwas und trat dann in den Schein einer Fackel. Alice musste sich die Hand vor den Mund schlagen, um nicht zu schreien. „Hutmacher!“, flüsterte sie, „Was ist mit Ihnen passiert?“ Er sah furchtbar aus: Durch sein Gesicht zog sich eine, noch nicht ganz verheilte Narbe. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und auch der Rest seines Körpers durch Wunden aller Art, Schnitte, Verbrennungen, geradezu entstellt. Manche davon bluteten noch, andere begannen zu eitern. Seine Kleidung war an den entsprechenden Stellen zerrissen und dunkelrot verfärbt. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Er sah aus, als hätte er nächtelang nicht mehr geschlafen! „Was … mit mir passiert ist?“, fragte er heiser, „Du willst wissen, was mit mir passiert ist? Was sie …“, bei diesem Wort weiteten sich seine Augen, „mit mir gemacht haben?“ Alice nickte nur stumm. Der Blick des Hutmachers schien nach ihrem Nicken durch sie hindurch zu gehen. Er sah sie an, ohne sie anzusehen: „Sie beschimpfen mich, als verrückt! Sie bespucken mich. Sie sagen, ich sei nicht ganz richtig im Kopf …“ „Wer sind ´sie`?“, flüsterte das Mädchen. „Na, alle!“, schrie der Mann so plötzlich, dass Alice zusammenfuhr, „Die Leute! Diese braven, feinen Bürger!“ „Weißt du, es ist so …“, er sprach zwar jetzt beherrschter, aber der Ausdruck in seinen Augen blieb hart, „wenn du dich nicht kleidest wie sie, wenn du nicht sprichst wie sie, wenn du Sonntags nicht in die Kirche gehst, wenn du deinen Tee lieber um 12:00 trinkst anstatt um 15:00 Uhr …“, seine Stimme wurde immer lauter und mit jedem Punkt, den er aufzählte, kam er näher an das Käfiggitter, „ … und wenn du als einzige Möglichkeit siehst, diese Welt wenigstens ein bisschen bunter und lustiger zu gestalten, du bunte und lustige Hüte herstellst, weil es nun mal eben das Einzige ist was du kannst, dann …“, wie im Wahn umklammerte der Hutmacher nun die Eisenstäbe, die Augen weit aufgerissen; seine nächsten Worte schrie er allerdings nicht, sie brachen vielmehr wie ein trockenes Schluchzen aus seiner Kehle, „ … dann wirst du für verrückt erklärt!“ Als er da immer lauter geworden war, hatte Alice eigentlich mit dem Gedanken gespielt, die Flucht zu ergreifen. Doch sie blieb, da sie sah, wie der Hutmacher sich auf einmal völlig mutlos, die Stirn an die schwarzen Stäbe gelehnt, auf die Knie sinken ließ. „Ich kann ihnen nicht den vorspielen, den sie sehen wollen …“, flüsterte er zusammenhanglos, „Ich kann nur ich sein … ich kann einfach nicht plötzlich jemand anderes sein, … aber nur weil ich, ich bin, bin ich deswegen doch noch lange nicht verrückt … oder etwa doch? Haben sie nun Recht, oder nicht? … Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich glauben soll!“, langsam näherte sich die Blonde dem Mann, allerdings ohne ihn zu unterbrechen, „Und weißt du, das das Schlimmste ist? Sie wissen ganz genau, was sie mir antun, … welche Wunden sie mir schlagen! Sie machen es absichtlich. Sie wollen, dass ich sie höre, wenn sie im Laden über mich und meine Hüte reden … Sie tun mir gewollt weh, weil sie grausam sind … weil sie jeden verabscheuen, der anders ist …“ „Wie heißen Sie?“, fragte Alice plötzlich. Der Hutmacher hob den Kopf und sah sie verwirrt an, so als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte: „Was?“ „Wie heißen Sie?“, wiederholte das Mädchen sanft. Auf dem Gesicht ihres Gegenübers erschien ein gequältes Lächeln: „Was nützt einem ein Name, wenn einen niemand dabei nennt? Ich bin für alle nur der verrückte Hutmacher!“ Plötzlich wurde die ganze Szenerie um sie herum grau, als wäre sie in ein schwarz-weißes Bild gesprungen. „Ich würde aber wirklich gerne wissen, wie Sie heißen!“, rief Alice verzweifelt. Doch der Hutmacher lächelte nur schweigend. Lächelte zum ersten Mal ein bisschen glücklich … *°* Kapitel 4: Kapitel Vier ----------------------- Nach dem Aufwachen konnte sich Alice an ihren Traum von dem Hutmacher ganz genau erinnern. Was sie in ihrem Beschluss noch bestärkte, heimlich zu seinem Laden in der Stadt zu gehen. Mutter würde sie niemals alleine einkaufen lassen, zumindest nicht ohne einen triftigen Grund und wenn sie ihr sagen würde, dass sie zu ‚Wonderlandhats‘ wollte, würde sie es ihr erst Recht verbieten. So einen schlechten Ruf, wie das Geschäft inzwischen hatte. Daher dauerte es noch zwei weitere Tage, bis Alice endlich wieder vor dem kleinen Sandsteinhaus stand und zu dem bunten Schild empor sah. Die Blonde holte noch einmal tief Luft, dann trat sie ein. Ein paar Meter vor ihr, auf der anderen Seite, war ein Tresen aus dunklem Holz, dahinter eine offene Tür, die in einen angrenzenden Raum führte. Von dem Mann, mit den roten Haaren, war keine Spur zu sehen, aber Alice war viel zu sehr damit beschäftigt die Hüte zu bestaunen, als dass ihr das aufgefallen wäre. Die Hüte hingen nämlich wirklich aneinandergereiht an den Wänden und auf den vier Hutständern in den Ecken und ein paar lagen im Schaufenster. Und sie waren wunderschön! Geradezu traumhaft, wie Alice fand. Ganz langsam wanderte sie durch den Raum, drehte sich ebenso bedächtig mehrmals um die eigene Achse und legte den Kopf in den Nacken, damit ihren Augen nicht auch das kleinste Detail entging. Da vernahm sie plötzlich Schritte auf den knarrenden Holzdielen. Alice drehte sich um und stand dem Hutmacher gegenüber, der gerade eben den Raum betreten hatte. Kurz huschten ihre Augen noch einmal über sein Erscheinungsbild. Er sah bei weitem nicht so furchteinflößend aus, wie in ihrem Traum, aber immer noch nicht so, wie es die heutige Gesellschaft vorschrieb: Seine Haare waren immer noch zerzaust, er trug die gleiche schäbige Kleidung und der Zylinder auf seinem Kopf war auch nicht mehr der Schönste. Doch während die Anderen darüber die Nase rümpften, fand Alice, dass es, so verrückt es auch sein mochte, genau zusammenpasste! Genau zu ihm passte! Sie könnte sich diesen Mann anders gar nicht vorstellen. Die Menschen, die ihr auf der Straße mit verschlossenen Gesichtern entgegenkamen, machten auf sie einen äußerst kühlen, wenn nicht sogar manchmal eisigen Eindruck. Der Hutmacher jedoch hatte vom ersten Augenblick an Wärme ausgestrahlt, die nun, durch das Lächeln, was auf seinem Gesicht erschien, nur noch intensiver wurde. „Kann ich dir helfen?“, fragte er freundlich. Alice lächelte zurück, schüttelte aber den Kopf: „Ich sehe mich nur ein wenig um!“ „Tu das!“, nickte der Hutmacher, ohne, dass seine Augen aufhörten zu strahlen. „Der da! Der ist schön!“, sagte die Blonde plötzlich und deutete auf einen Hut, der fast ganz oben hing, „Den nehme ich!“ „Warte kurz!“, der Hutmacher verschwand in dem Nebenraum und kam gleich darauf, mit einer Leiter zurück. Auf ihr stieg er bis zur obersten Sprosse, nahm den Hut von seinem Haken an der Wand und reichte ihn Alice. Er war überzogen mit weinrotem Samt. Das weiße Hutband war an der Rückseite locker verknotet und die zwei Enden hingen etwa bis zu Alice‘ Schulterblättern herab. Drei weiße Rosen zierten die Krempe. „Du bist meine erste, richtige Kundin!“, erzählte der Hutmacher, während er von Alice das Geld entgegennahm und den Hut in einer hellen Schachtel verpackte, „Die anderen Leute haben nie irgendwas gekauft!“ Er lehnte sich, gestützt auf seine Unterarme, etwas über den Verkaufstresen: „Darf ich dir daher, als kleines Dankeschön, vielleicht eine Tasse Tee und ein paar Kekse anbieten?“ Damit hatte die Blonde nun wirklich nicht gerechnet. Überrumpelt starrte sie ihr Gegenüber erst einmal verwirrt an, dann sah sie nach oben, zu der großen Uhr, die an der Wand hing. Konnte sie das Angebot annehmen? Ja, Mutter würde erst in mindestens einer Stunde wieder zu Hause sein. „Sehr gern!“, lächelte sie schließlich und der Hutmacher fing erneut an zu strahlen! Neugierig folgte Alice ihm in den Nebenraum. Dort standen in einem Schrank mit Glastür, auf der rechten Seite, blaugemusterte Porzellantassen, von denen der Mann zwei herausnahm und auf einem kleinen, runden Tisch abstellte. Links stapelten sich in einem Regal die unterschiedlichsten Rollen an Stoff und auch auf dem massiven Holztisch gleich daneben, waren lange Bahnen davon ausgebreitet. Dazu eine Nähmaschine und allerlei anderes. Von Scheren, über Garnrollen, bis hin zu Stoffblumen. „Entschuldige mich einen Moment!“, sagte der Hutmacher, stieg eine Treppe nach oben und verschwand somit aus Alice‘ Sichtfeld. Vermutlich in seine Wohnung. Andächtig strich die Blonde mit ihren Fingerspitzen, über einen rosafarbenen Seidenstoff, dann griff sie in eine Dose mit bunten Perlen und ließ diese langsam von ihrer Handfläche wieder zurückfallen. Lächelte. Nach einer kleinen Weile kam der Hutmacher wieder nach unten. Mit einer Teekanne in der einen und einem Teller Schokoladenkekse in der anderen Hand. „Setz dich doch bitte!“, wies er das Mädchen freundlich an. „Ihre Hüte sind wirklich wunderschön!“, sagte Alice, während er ihr einschenkte, „Wenn ich könnte, würde ich sofort den ganzen Laden kaufen!“ „Danke! Das ist lieb von dir!“, flüsterte der Hutmacher leise, beinahe schon zärtlich, „Ich wünschte, es würden wenigstens noch ein paar mehr so denken …“ Er schwieg eine Weile. „Hatten Sie in der Stadt, wo Sie vorher waren, auch so wenig Glück?“, fragte die Blonde vorsichtig. „Ja!“, seufzte er schwer, „Ich war schon in vielen Städten, weißt du. Aber ich hab es nirgendwo geschafft. Ich hab eigentlich gehofft, hier nun Erfolg zu haben, … aber scheinbar …“, wieder brach er ab, schüttelte traurig den Kopf. „Ich mag Ihre Hüte!“, wiederholte Alice, in dem Versuch, ihn ein wenig aufzumuntern, „Ich fände es schade!“ Es schien zu funktionieren, der Mann schenkte ihr ein schwaches Lächeln: „Vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder!“ Zwei Tassen Tee trank Alice mit ihm zusammen, doch dann erhob sie sich schweren Herzens, auch wenn sie gerne noch länger geblieben wäre: „Ich sollte jetzt so langsam gehen!“ „Such dir ruhig noch einen Hut aus, meine Kleine!“, sagte der Ältere, während er sie, die Hände an ihren Schultern, aus dem Raum geleitete, „Den bekommst du dann geschenkt!“ „Wirklich?“, fragte sie strahlend, „Oh, vielen Dank, Sir!“ Am liebsten hätte sich Alice stundenlang in dem kleinen Laden umgeschaut, doch leider fehlte ihr dazu ja die Zeit. Daher griff sie, nach ein paar Minuten zu einem schwarzen Hut mit breiter Krempe, auf den winzige, silberne Perlen genäht waren. Was mit Sicherheit jede Menge Arbeit bedeutet hatte. Jede Menge Arbeit, aber mit einem wunderschönen Ergebnis. Der Hut erinnerte sie an den Nachthimmel, an dem tausende von Sternen funkelten. Ein Grund mehr, ihn in Ehren zu halten! Der Hutmacher verpackte ihn in dieselbe Schachtel, in der auch schon ihr anderer Hut lag: „Hier, bitteschön! Und vielen Dank, noch mal!“ Er reichte ihr die Hand. „Gern!“, Alice erwiderte den Druck und knickste kurz, „Ich werde ganz bestimmt wiederkommen! Da können Sie sich sicher sein!“ Lächelnd hielt er ihr die Tür auf und sie trat ins Freie. „Ich freue mich darauf!“, rief er ihr noch hinterher, allerding nicht ganz gewiss, ob sie ihn gehört hatte. Vollkommen glücklich lief Alice nach Hause. Glücklich, wegen den beiden Hüten, aber auch wegen der neuen Bekanntschaft, die sie heute geschlossen hatte. Die Hand des Hutmachers, sie war warm gewesen. +++ Alice musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Schachtel ganz oben in ihren Kleiderschrank verstauen zu können. Plötzlich wurde die Tür hinter ihr schwungvoll aufgerissen. Zu Tode erschrocken wirbelte Alice herum und schaffte es währenddessen noch die Schranktüren zu schließen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie in das Gesicht ihrer Mutter. Ihrer Mutter! Sie war früher nach Hause gekommen? Sie hatte gemerkt, dass Alice weggewesen war? Hatte sie. „Wo bist du gewesen?“, Helens Stimme war schneidend. Die Blonde räusperte sich zaghaft: „In … in der Stadt, Mutter!“ Was hätte sie sonst sagen sollen? „Was hattest du denn dort zu …“, die Frau brach ab, da ihr ein Verdacht gekommen war; sie kannte ihre Tochter, „Du warst doch nicht etwa in diesem Hutladen?“ Alice senkte den Blick und schwieg. Ein Fehler, denn das war genau die Bestätigung, die Helen gebraucht hatte. „Ich hätte dich eigentlich für vernünftiger gehalten, Alice!“, ihre Stimme wurde laut, „An diesem Ort verdierbst du dir nur deinen guten Charakter. Der Mann ist verrückt! Du hast doch gehört, was Doris und Johanna gesagt haben!“ „Das ist aber alles ganz anders, Mum …“, versuchte die Blonde zu widersprechen, doch ihre Mutter unterbrach sie mit einer unwirschen Handbewegung: „Du wirst da nicht mehr hingehen, hast du mich verstanden?“ Sie bohrte ihren Blick in die Augen ihrer Tochter, dann wandte sie sich ab. Im Weggehen rief sich noch: „Und die nächste Woche verbringst du hier in deinem Zimmer, junge Dame!“ +++ Die sieben Tage zogen sich schleppend voran. Alice durfte ihr Zimmer nur für die Schule und zu den Mahlzeiten verlassen. Dementsprechend erleichter war sie, als es endlich wieder Freitag, und die Woche somit um war. „Ich werde heute Nachmittag mal für zwei Stunden nicht im Haus sein!“, sagte ihre Mutter am Frühstückstisch, „Ich muss ein paar Besorgungen erledigen und beim Schneider ein bestelltes Kleid abholen. Nur damit ihr Bescheid wisst!“ Alice sah von ihrem Teller auf. Zögerte noch einen Moment. Sollte sie es wagen? „Darf ich mit?“, fragte sie dann schließlich vorsichtig. Immerhin wusste sie nicht, inwieweit ihr ihre Mutter noch böse war. Doch scheinbar hatte Helen ihr bereits verziehen, denn sie lächelte freundlich: „Ja, wenn du willst, darfst du mich gerne begleiten!“ Die Blonde strahlte: „Danke, Mutter!“ +++ Wegen des schönen Wetters, war die Tür des Schneidergeschäftes weit geöffnet. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite befand sich der Laden des Hutmachers. Die Blonde seufzte. Helen wechselte ein paar Worte mit dem Verkäufer, der sie freundlich aufforderte, seiner Assistentin doch bitte in den Nebenraum zu folgen, in dem die fertigen Kleider aufbewahrt wurden. Alice zögerte nur eine Sekunde. Als ihre Mutter nicht mehr zu sehen war, verließ sie langsam rückwärts das Geschäft, rannte dann über die Straße und lief zu dem bunt dekorierten Schaufenster des Hutladens. Sie sah den rothaarigen Mann, wie er auf seiner Leiter stand und gerade dabei war einen rosafarbenen Hut mit weißem Spitzenband, auf einen der Haken an der Wand zu hängen. Der Hut war aus dem glänzenden Seidenstoff, den Alice damals in seiner Werkstatt gesehen hatte. Die Blonde hatte beschlossen gegen die Scheibe zu klopfen, wollte so die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich ziehen und ihm dann zuwinken. Doch noch ehe sie dazu kam die Hand zu heben, wurde sie an dieser plötzlich gepackt und herumgerissen. Wütend funkelte Helen sie aus dunkelblauen Augen an, ihr Mund war ein einziger, dünner Strich. „Ich hatte es dir verboten!“, zischte sie. Vor Schreck brachte Alice keinen Ton heraus, ließ sich widerstandslos mitziehen. Sie hätte so oder so keine Chance gehabt. Dass der Hutmacher gerade im richtigen Augenblick den Kopf drehte und sah, wie sie weggeführt wurde, bemerkte Alice nicht. @Sleeping_Snake: Meine Muse war mir gnädig ^^ Epilog: Epilog -------------- Helen erteilte ihr zwar nicht erneut Hausarrest, aber sie beobachtete ihre Tochter schärfer als sonst, ließ sie nicht aus den Augen und schien beinahe jeden ihrer Schritte zu überwachen. Doch zum Glück flaute auch diese Maßnahme mit der Zeit langsam wieder ab und Alice fiel ein Stein vom Herzen, als sich ihre Mutter nach zwei Wochen zu einer Freundin begab und nicht darauf bestand, dass ihre Tochter mit sollte. Das Mädchen fühlte sich endlich wieder frei. Sie rannte. Sie rannte, bis sie am Markplatz ankam. Dort blieb sie erst einmal keuchend stehen und hielt sich die schmerzende Seite. Nachdem sich ihre Atmung wieder normalisiert hatte, ging sie gemäßigten Schrittes in die Straße, die vor ihr lag. Das sechste Haus auf der linken Seite, das war das Geschäft des Hutmachers. Dort wollte Alice hin. Immerhin hatte sie ihm versprochen wiederzukommen! Sie stand direkt davor. Wie gelähmt. Sie hatte sich so sehr beeilt, hierher zu kommen und jetzt konnte sie keinen Schritt mehr weitergehen. Starrte nur fassungslos auf das kleine, zwischen zwei hohen Häusern eingeklemmte, Gebäude. Das Schild über der Tür war weg! Das Schaufenster war leer! Da waren keine Hüte mehr, keine bunten Seidentücher und auch keine Schmetterlingsgirlande. Panisch stürzte Alice darauf zu und legte ihre Hände an das Glas. Der Raum, in den sie nun blickte, war dunkel. Trostlos leer. Die Hutständer waren nicht mehr da, die unzähligen Haken an den Wänden sahen nackt aus und der Verkaufstresen vorne wirkte seltsam verlassen. Die Tür zur Werkstatt war zu. Die Blonde drückte nun ihrerseits die Klinke herunter, zog und rüttelte an der Eingangstüre, während ihr Tränen in die Augen stiegen. Doch auch die war verschlossen. „Hutmacher?“, rief sie verzweifelt und klopfte gegen die Scheibe, „Hutmacher, hören Sie mich? Machen Sie doch auf! Hutmacher?“ „Kind … Kind …“, eine junge Frau ergriff sie sanft bei den Handgelenken und drehte sie zu sich, „Das bringt doch nichts mehr. Der Besitzer dieses Ladens ist fort! Gestern hat er die Stadt verlassen!“ Zuerst flossen nur die Tränen. Sie hatte geahnt, dass es so kommen musste, aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Dann kam die Wut. Sie wusste ganz genau, wieso der Hutmacher gegangen war! Grob riss sich Alice von der Frau los. „Warum? Warum habt ihr ihn vertrieben?“, schrie sie, „Er hat doch niemandem was getan!“ Verwirrt starrte ihr Gegenüber sie an: „Kind, wir haben ihn nicht vertrieben! Er war bankrott! Er hatte kein Geld mehr!“ „Natürlich hatte er kein Geld mehr!“, Alice machte sich nicht die Mühe die Zornestränen zurückzuhalten, „Er hat ja nie was verdient. Ihr habt ihm ja nie irgendwas abgekauft! Sonst wäre er da geblieben! Es ist alles eure schuld!“ Jetzt schien so langsam auch der jungen Dame die Geduld auszugehen. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen: „Weißt du, dieser Mann hätte es doch niemals geschafft, das Geschäft richtig zu führen, wenn es ordentlich gelaufen wäre! Er war krank. Ein Verrückter hat im normalen Leben nun mal keine Chance auf eine Zukunft!“ „Er war nicht verrückt!“, rief Alice ihr hinterher. „Er war nicht verrückt!“, flüsterte sie traurig. Oder war er es doch? Redete sie sich hier nur selbst etwas ein? Konnte er in dieser Welt vielleicht wirklich nicht überleben? Aber wenn ja, wo dann? In einer Welt, in der alles und jeder verrückt war? In einem Traum? *°*Ende*°* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)