Anders ist verrückt von Caro-kun ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel Drei ----------------------- Wie jeden Mittwochnachmittag saß Alice erneut schweigend an dem runden Teetisch im Garten, mit ihrer Mutter und deren Freundinnen. Zu ihrer Erleichterung waren Mrs. Hitchens und David diesmal nicht anwesend. Ob Helen es aufgegeben hatte, sie mit Jungen Bekanntschaft machen zu lassen? Normalerweise galt Alice‘ Konzentration in Situationen wie dieser ja eher dem Tee und dem Kuchen, als den Gesprächen der Frauen, doch dieses Mal fiel ein Satz, bei dem die Blonde schlagartig aufhorchte. „Habt ihr den neuen Hutladen in der Innenstadt schon gesehen?“ Doris nickte: „Ja! Bin sogar schon einmal drin gewesen. Du auch?“ „Natürlich! Jedes neue Geschäft muss doch schließlich geprüft werden! Allerdings wäre es mir bei diesem lieber gewesen, ich hätte gleich darauf verzichtet!“ „Warum?“, fragte Helen und stellte ihre Tasse ab, „Ist er etwa so schlimm?“ Johanna verdrehte die Augen: „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm! Ganz klein …“ „Dafür aber vollgestopft mit den unmöglichsten Hüten. Bis unter die Decke!“, warf Doris ein, „Und alles so bunt! Schrecklich! Manche Farben tun richtiggehend in den Augen weh!“ „Wenn sie wenigstens schlicht gewesen wären, so wie andere Hüte auch, aber nein. Die sind benäht mit allem möglichen Krimskrams: Stoffresten, Vogelfedern … mit sowas kannst du dich doch nicht auf die Straße wagen!“ Noch ehe Helen dazu nickten konnte, meinte Doris trocken: „Bei manchen trägst du sogar ein ganzes Blumenbeet auf dem Kopf!“ „Wobei der Inhaber ja eigentlich noch viel verrückter ist, als seine Hüte!“, warf Johanna ein. Jetzt war es an Doris die Augen zu verdrehen: „Oh ja! Schon allein seine Kleidung: Das Jackett, völlig abgewetzt … Hochwasserhosen …“ „Und dieser scheußliche Zylinder! Das Ding gehört verbrannt, finde ich!“ „Rote Haare hat er! Ach was, Haare kann man das ja gar nicht mehr nennen … das ist … Gestrüpp … ein absolut unordentlicher Wust!“ „Und diese Augen! Ich hab noch nie in meinem Leben so komische Augen gesehen. Ein ganz helles Grün! Das ist doch nicht normal!“ „Der Mann ist krank!“, meinte Doris überzeugt, „Einfach nur krank!“ „Aber dann wird er doch sowieso nicht lange in der Stadt bleiben!“, vermutete Helen, „Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand bei ihm einkauft, nach dem, was ihr jetzt erzählt habt!“ „Na, zum Glück!“, lachte Johanna und rührte in ihrer Tasse, „Ich geb ihm mindestens zwei Monate, dann ist der Bankrott!“ So schnell wie es nur irgendwie ging, würgte Alice ihren Kuchen hinunter und trank den Tee in großen Schlucken hinterher. Dann sprang sie auf und rannte, ohne die Rufe ihrer Mutter zu beachten, ins Haus und nach oben in ihr Zimmer. Sie hatte die Frauen noch nie so reden gehört. So gemein. Sie warf sich auf ihr Bett und rief sich das Bild des Hutmachers zurück in ihr Gedächtnis. Sicher, ´Verrückt `das hatte sie auch gedacht, als sie ihn da im Schaufenster gesehen hatte. Aber eben nicht ´schlecht verrückt`, oder ´krank verrückt`, sondern ´lustig verrückt`! Die abschätzigen Worte von Mutters Freundinnen, setzten sich in Alice‘ Kopf fest und ließen sich nicht vertreiben! ´Ich werde zu ihm gehen! `, dachte Alice trotzig, ´Ich werde zu ihm gehen und einen Hut kaufen! Vielleicht geht Mutter in den nächsten Tagen aus, dann kann ich mich in die Stadt schleichen! ` Das Mädchen lag am Abend noch lange wach, wälzte sich in seinem Bett hin und her, bis es endlich in einen unruhigen Schlaf fiel … *°* Ein langer steinerner Gang erstreckte sich vor ihr, dunkel und kalt, nur erhellt durch einzelne Fackeln, die in schmiedeeisernen Halterungen an den Wänden hingen. Alice fröstelte. „Hallo?“, rief sie, während sie langsam, Schritt für Schritt voranging. Niemand antwortete ihr. Nach einer Weile endete der Gang jedoch und sie stand in einem, von dem Boden der Decke und den Wänden ebenso aussehenden, großen Raum. Von der einen Seite zur anderen zogen sich, genau durch die Mitte, schwarze Gitterstäbe. Alice schluckte und trat näher heran. Das war ein Käfig! Nun konnte sie auch erkennen, dass in die Eisenstäbe Wörter, manchmal sogar ganze Sätze, eingeritzt waren. Alice musste ihren Kopf zur Seite neigen, um sie lesen zu können: Der Mann ist krank, einfach nur krank … verrückt … nicht ganz bei Sinnen … so komische Augen … unmögliche Hüte … benäht mit allem möglichen Krimskrams … manche Farben tun richtiggehend in den Augen weh … Haare kann man das ja gar nicht mehr nennen … ekelhaft … das ist doch nicht normal … „Was tust du da?“, fragte plötzlich, wie aus dem Nichts, eine raue, dunkle Stimme. Erschrocken wich Alice zurück. In der hintersten Ecke bewegte sich etwas und trat dann in den Schein einer Fackel. Alice musste sich die Hand vor den Mund schlagen, um nicht zu schreien. „Hutmacher!“, flüsterte sie, „Was ist mit Ihnen passiert?“ Er sah furchtbar aus: Durch sein Gesicht zog sich eine, noch nicht ganz verheilte Narbe. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und auch der Rest seines Körpers durch Wunden aller Art, Schnitte, Verbrennungen, geradezu entstellt. Manche davon bluteten noch, andere begannen zu eitern. Seine Kleidung war an den entsprechenden Stellen zerrissen und dunkelrot verfärbt. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Er sah aus, als hätte er nächtelang nicht mehr geschlafen! „Was … mit mir passiert ist?“, fragte er heiser, „Du willst wissen, was mit mir passiert ist? Was sie …“, bei diesem Wort weiteten sich seine Augen, „mit mir gemacht haben?“ Alice nickte nur stumm. Der Blick des Hutmachers schien nach ihrem Nicken durch sie hindurch zu gehen. Er sah sie an, ohne sie anzusehen: „Sie beschimpfen mich, als verrückt! Sie bespucken mich. Sie sagen, ich sei nicht ganz richtig im Kopf …“ „Wer sind ´sie`?“, flüsterte das Mädchen. „Na, alle!“, schrie der Mann so plötzlich, dass Alice zusammenfuhr, „Die Leute! Diese braven, feinen Bürger!“ „Weißt du, es ist so …“, er sprach zwar jetzt beherrschter, aber der Ausdruck in seinen Augen blieb hart, „wenn du dich nicht kleidest wie sie, wenn du nicht sprichst wie sie, wenn du Sonntags nicht in die Kirche gehst, wenn du deinen Tee lieber um 12:00 trinkst anstatt um 15:00 Uhr …“, seine Stimme wurde immer lauter und mit jedem Punkt, den er aufzählte, kam er näher an das Käfiggitter, „ … und wenn du als einzige Möglichkeit siehst, diese Welt wenigstens ein bisschen bunter und lustiger zu gestalten, du bunte und lustige Hüte herstellst, weil es nun mal eben das Einzige ist was du kannst, dann …“, wie im Wahn umklammerte der Hutmacher nun die Eisenstäbe, die Augen weit aufgerissen; seine nächsten Worte schrie er allerdings nicht, sie brachen vielmehr wie ein trockenes Schluchzen aus seiner Kehle, „ … dann wirst du für verrückt erklärt!“ Als er da immer lauter geworden war, hatte Alice eigentlich mit dem Gedanken gespielt, die Flucht zu ergreifen. Doch sie blieb, da sie sah, wie der Hutmacher sich auf einmal völlig mutlos, die Stirn an die schwarzen Stäbe gelehnt, auf die Knie sinken ließ. „Ich kann ihnen nicht den vorspielen, den sie sehen wollen …“, flüsterte er zusammenhanglos, „Ich kann nur ich sein … ich kann einfach nicht plötzlich jemand anderes sein, … aber nur weil ich, ich bin, bin ich deswegen doch noch lange nicht verrückt … oder etwa doch? Haben sie nun Recht, oder nicht? … Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich glauben soll!“, langsam näherte sich die Blonde dem Mann, allerdings ohne ihn zu unterbrechen, „Und weißt du, das das Schlimmste ist? Sie wissen ganz genau, was sie mir antun, … welche Wunden sie mir schlagen! Sie machen es absichtlich. Sie wollen, dass ich sie höre, wenn sie im Laden über mich und meine Hüte reden … Sie tun mir gewollt weh, weil sie grausam sind … weil sie jeden verabscheuen, der anders ist …“ „Wie heißen Sie?“, fragte Alice plötzlich. Der Hutmacher hob den Kopf und sah sie verwirrt an, so als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte: „Was?“ „Wie heißen Sie?“, wiederholte das Mädchen sanft. Auf dem Gesicht ihres Gegenübers erschien ein gequältes Lächeln: „Was nützt einem ein Name, wenn einen niemand dabei nennt? Ich bin für alle nur der verrückte Hutmacher!“ Plötzlich wurde die ganze Szenerie um sie herum grau, als wäre sie in ein schwarz-weißes Bild gesprungen. „Ich würde aber wirklich gerne wissen, wie Sie heißen!“, rief Alice verzweifelt. Doch der Hutmacher lächelte nur schweigend. Lächelte zum ersten Mal ein bisschen glücklich … *°* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)