Die lebende Lüge von Jeschi (Ich bitte nicht um Vergebung) ================================================================================ Kapitel 2: Seelenlos -------------------- Zurück in Tokio, stellte Kai seinen Koffer lieblos im Flur ab und trat durch diesen in das geräumige Wohnzimmer. Aus den großen Panoramafenstern seines Apartments, blickte er hinab auf die überfüllten Straßen Tokios und lächelte bitter. Hier gehörte hier hin. Und nicht nach Moskau. gab es dort doch keinen Platz mehr für ihn. Es war an der Zeit gewesen, ein neues Leben anzufangen. Ein eigenes Leben. Ohne Tala. Vielleicht ohne irgendjemandem. Aber war denn ein Leben in Einsamkeit nicht besser, als ein Leben voll Schmerz? Natürlich hatte ich Angst davor, alleine zu sein. Aber noch mehr hatte ich Angst davor, dass mich meine Erinnerungen an Tala überwältigen würden. Verschlingen würden, bis ich vollkommen verloren war. Aber natürlich hätte ich wissen müssen, dass sich die Erinnerungen nicht vertreiben ließen... Kai schlich zurück in den Flur, holte seinen Koffer und packte dessen Inhalt gedankenverloren zurück in den Schrank. Er war froh, diese Wohnung noch nicht verkauft zu haben, wie er es eigentlich geplant hatte. Vielleicht hatte ihn damals schon ein innerer Instinkt davon abgehalten, es zu tun. Ja, vielleicht hatte er es schon immer gewusst. Schon immer gewusst, dass Tala ihn nicht liebte. Und sein Herz war nur nicht gewillt gewesen, zu sehen, was sein Verstand schon längst wusste. Liebe machte blind. Er hatte ja nicht glauben wollen, wie blind sie machen konnte… Als alle Arbeit erledigt war, ließ er sich auf sein weißes Designersofa nieder und ließ die Stille seiner Wohnung auf ihn wirken. Hier in Tokio hatte das Schweigen nicht mehr den Klang der Verzweiflung. Vielleicht, weil Tala so weit entfernt war. Vielleicht aber auch, weil es nicht komplett ruhig war, im großen Haus. Aus der Wohnung über ihm Drang der Streit eines Pärchens zu ihm und leicht lächelte er. Er kannte die Beiden, wusste, dass sie sich jeden Tag stritten und ihren Streit dann mit Sex versöhnten. Auch dies war deutlichst zu hören, zumindest, wenn man zur gleichen Zeit ins Bett ging, wie sie. Am Anfang hatte es ihn gestört, dass die Wohnung nicht komplett Schalldicht war. Und als er hier seine erste Nacht mit Tala gehabt hatte, hatte er den Nachbarn danach nicht mehr in die Augen blicken wollen. Nun kam ihm diese Tatsache wie eine Nebensächlichkeit vor. Ja, er war sogar dankbar, dass er aus den Nachbarwohnungen Geräusche hörte, die seine düsteren Gedanken überdeckten, ihn glauben machten, nicht völlig alleine auf dieser Welt zu sein. Als das Pärchen über ihm verstummte, brach die Einsamkeit über ihn herein, wie eine eiskalte Welle. Sie riss ihn mit sich in ein Loch, aus welchem es kein Entkommen gab. Kai schauderte und drückte sich fester in die Kissen der Couch, als könnten diese ihn vor dem vollkommenem Untergang bewahren. Nein, er hatte sich getäuscht. In dieser Wohnung konnte er Tala nicht vergessen, nur weil er hier weit entfernt war. Im Gegenteil. Denn Tala hatte diese Wohnung bereits mit seiner Anwesenheit versucht. Wenn Kai ins Schlafzimmer blicken würde, würde er das Bett sehen, in dem er so viele Nächte mit dem Russen verbracht hatte. Er würde im Bad die zweite Zahnbürste finden, die immer für Tala bereit gestanden hatten. Er würde diese furchtbaren Horrorfilme finden, die Tala so liebte und ständig angeschleppt hatte. Tala hatte ihn nur ein paar Mal besucht. Aber es war viel zu oft gewesen. Diese Wohnung – sie war voll von Tala. Kai ließ sich zur Seite fallen, presste das Gesicht in das Kissen, so lange, bis er atemringend den Kopf hob, um wieder Luft zu bekommen. Diese Nacht schlief er auf dem Sofa, nicht gewillt, in das Bett zu gehen, welches durchzogen war, vom Duft nach Schnee und Vanille, nach Tala. Die Zigarette fest zwischen den Fingern, blickte Kai nach oben, gen Himmel. Der Rauch folgte seinem Blick, spielte im Wind, ehe er verpuffte. Genau so fühlte sich Kai. Als würde er vom Wind hin und her geschubst, als würde er immer weniger werden, bis er letztlich ganz verschwunden war. Die erste Nacht in Tokio hatte ihm einen steifen Nacken gebracht, aber der war noch immer eher zu ertragen, wie der Schmerz über den Verlust Talas. Er würde heute die Bettwäsche wechseln müssen, wenn nötig, würde er die ganze Matratze auswechseln müssen, nur um den Geruch seines Ex-Lovers loszuwerden. Und er würde die Zahnbürste im Bad wegschmeißen. Zusammen mit den Horrorfilmen, die seine DVD-Sammlung ausmachten. Vielleicht sollte er sie auch Tala schicken. Immerhin gehörten sie diesem. Und vielleicht hatte der sich schon wieder ein neues Opfer gesucht, an dass er sich mit gespielter Ängstlichkeit drücken konnte, immer auf Sex aus, wohingegen seine Augen voller Belustigung über den Film glänzten. Kai zog an der Zigarette, ließ den Rauch tief in seine Lungen wandern und verdrängte den Gedanken an die Augen des Rothaarigen. Stattdessen wandte er den Blick nach unten auf die Straße, um das ein verliebtes Pärchen zu beobachten. Fast hatte er befürchtet, wieder an den Russen erinnert zu werden, aber letztlich musste er nur feststellen, dass sich diese zwei Verliebten einfach nur unmöglich kitschig benahmen. Wie sie Händchen hielten, sich alle zwei Meter küssten, sich anlächelten. Kai schauderte. Wie konnte man nur so peinlich sein? Er warf die Zigarette über die Brüstung und begann sein Vorhaben. Als er die letzte DVD in einer Kiste verstaut hatte, ließ er sich erschöpft zu Boden sinken, lehnte sich mit den Rücken gegen die Schlafzimmertür neben dem Schrank mit seinen Filmen. Was hatte er überhaupt je an Tala gefunden? Dieser war immer nur anstrengend gewesen. Und immer viel zu beschäftigt mit sich selbst, als sich um Kai zu kümmern. Aber – so bescheuert es nun klingen mochte – genau das hatte er geliebt. Das war überhaupt der Grund gewesen, warum er sich in Tala verliebt hatte… Tala war für ihn immer wie ein Bruder gewesen. In der Abtei war er es gewesen, der ihm beigestanden hatte. Sie hatten sich gegenseitig Trost gespendet, hätten sich Nähe geschenkt, in einer Welt, in der man zu allem immer nur Distanz halten musste. Mit der Zeit hatte es ihre Seele zerfressen. Talas mehr, wie seine, war er es doch nie anders gewöhnt gewesen. Er hatte keine Erinnerung an seine Eltern. Sie waren zu früh gestorben, er hatte sie nie richtig kennen gelernt. Sein Großvater hatte ihm damals erzählt, dass es ein Unfall gewesen war. Aber er wusste es besser. Sie waren ermordet worden, von Voltaire Hiwatari. Kai biss sich auf die Lippen. Tala hingegen hatte ihm oft von seinen Eltern erzählt. Hatte geschwärmt, wie sie mit ihm Schlitten fahren gegangen sind. Das war vielleicht eine der wenigen Erinnerungen, die er noch an sie hatte, aber er hatte noch welche. Und diese bedeuteten ihm alles. Kai hatte das gewusst. Und deshalb hatte er dem Rothaarigen auch nie die Schattenseite aufgezeigt. Hatte ihn nie gefragt, warum seine Eltern ihn dann einfach weggegeben hatten, an die Abtei. An Boris. Er wusste, dass Tala wusste, dass seine Eltern ihn loswerden wollten. Aber er wusste auch, wie wichtig es Tala war, nur die schönen Seiten zu sehen. Wie wichtig es ihm war, alles andere zu verdrängen. Neben Kai waren wohl die wenigen schönen Erinnerungen alles, was ihn noch am Leben erhielt. Um so härter traf ihn die Wahrheit, als er es ausgerechnet von Boris an den Kopf geworfen bekam. Der Lilahaarige hatte bemerkt, dass er Tala mehr verletzte, wenn er ihm psychisch zusetzte, als wenn er ihn bewusstlos prügelte. Nach dem jemand diese Tatsache ausgesprochen hatte, war der Rothaarige nicht mehr der selbe gewesen. Kai hatte ihn danach immer öfter vollkommen zurückgezogen erlebt. Er hatte sich abgekapselt, von der Außenwelt, vom Team und vom ihm. Man sah ihn nicht mehr lächeln, und wenn, dann freudlos. Ja, manchmal hatte er den Anschein erweckt, keine Seele mehr zu haben. Die Verzweiflung, die ihn überkommen hatte, als er seinen Freund so sah, hatte ihn fast den Verstand gekostet und ihm war klar gewesen, dass er alles dafür geben musste, Tala wieder ins Leben zu holen. In dieser Zeit war ihm zum ersten Mal klar geworden, wie wichtig der Rothaarige ihm war. Dann war der Tag gekommen, an dem er den Russen in ihrem gemeinsamen Zimmer – wenn man es denn so nennen wollte – antraf. Er hatte auf dem Steinboden gesessen, gegen die raue Wand gelehnt. In seinem Schoß hatte ein Buch gelegen, aber er las es nicht. Kai kam es vor, als hätte er stundenlang auf die gleiche Seite gestarrt. Seine roten Haare waren ihm unordentlich ins Gesicht gefallen, ihre Schatten hatten seine Augen bedeckt, unsichtbar gemacht. Das Bild war herzzerreißend gewesen, kam es Kai in den Sinn. Und es war der Moment gewesen, in dem er sich eingestanden hatte, dass er Tala liebte. Das er ihn vom Unheil befreien wollte, welches den Russen überkommen hatte. Er hatte es ihm gesagt. Einfach so. In die stille des Raumes, auch wenn es völlig unpassend gewesen war. Eigentlich hatte er ihm etwas anderes sagen wollen. Er hatte ihn aus seiner Trance reißen wollen, in dem er ihn tröstete. Aber er hatte ihm nur gesagt, dass er ihn liebte. Ich habe Tala vor der Dunkelheit bewahren wollen, in dem ich bei ihm war. Sie hatte ihn immer mehr zu einem Nichts gemacht und das habe ich aufzuhalten veruscht. Und das nicht, in dem ich ihn davor beschützte, sondern, in dem ich ihn davon befreite. Deshalb hat es auch so viel mehr gebracht, ihm zu zeigen, dass es jemanden gab, der ihn liebte, und nicht nur jemanden, der ihn tröstete. Als Tala aufgeblickt hatte, hatte Kai in seine Augen sehen können, wie durch offene Türen. Sie zeigten ihm eine ganze Gefühlswelt. Es war Talas Geist, der da vor ihm lag, offenbart, roher Natur. Eine kalte Welt, in welcher er verweilte. Trauer, Angst und Schmerz. Doch er konnte sehen, wie die Eisschicht darin anfing, Risse zu bekommen. Er konnte sehen, wie sie schmolz. Tala hatte Angst davor gehabt, je wieder jemandem zu vertrauen. Aber er war gewillt, es noch mal zu versuchen. Und warum das alles? “Weil er mich geliebt hat.“ Kai starrte auf das Parkett unter ihm und verdrängte diese Erkenntnis. Tala hatte ihn nicht geliebt. Er hatte ihm vielleicht vertraut und sich nach Nähe und Liebe gesehnt. Aber selbst geliebt, hatte er ihn nicht. Sonst hätte er ihn nie alleine gelassen. Damals war es ihm gelungen, Tala wieder zum lachen zu bringen. Wenn auch nur für ihn. Strahlend hell und glücklich, so dass es ihn Tränen in die Augen getrieben hatte, als er ihn in die Arme nahm. Wenigstens in den paar Minuten, in denen er bei ihm war, gab er dem Rothaarigen seine Seele zurück. Als würde dieser irgendwo in der Dunkelheit auf sein Licht warten, dass ihr den Weg zu Tala leuchtete. Tala war abhängig von ihm geworden. Zumindest hatte er das geglaubt. Nun war er eines Besseren belehrt worden. Vielleicht hätte Kai noch länger seinen depressiven Gedanken nachgehangen, aber das schrille Leuten seiner Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Einen irrwitzigen Moment lang dachte er, Tala würde davor stehen und ihn auf Knien anbetteln, zurückzukommen, aber natürlich war dem nicht so. Es waren Tyson und Max, die ihn aus großen Augen ansahen. “Hillary meinte, sie hätte dich gesehen, aber wir konnten es nicht glauben. Wir dachten, du wärst in Russland!“, plapperte Tyson sofort los und drängte sich an Kai vorbei in dessen Wohnung. Max folgte ihm zusammen mit dem Graublauhaarigen. “Ich dachte, du wolltest zu Tala ziehen,“ meinte Tyson und beschlagnahmte das Sofa für sich. “Tja, falsch gedacht,“ erwiderte Kai nur und blieb im Türrahmen stehen, versperrte Max somit den Zugang zum Wohnzimmer. “Hört zu, ich wäre jetzt wirklich lieber alleine,“ murrte er und Tyson sah ihn belustigt an. “Was ist los? Habt ihr euch gestritten? Ich hab ja schon immer gewusst, dass ihr nicht zusammen passt!“, langsam stand der Japaner wieder auf. “Tyson, lass uns gehen,“ maulte Max, aber der blauhaarige Japaner schüttelte nur den Kopf und blieb direkt vor Kai stehen. “Du hast immer gedacht, dass du ohne ihn vollkommen alleine bist, Kai. Aber dem ist nicht so. Du hast uns! Du brauchst ihn nicht, um glücklich zu werden, dein Leben existiert auch ohne ihn. Du hast dich viel zu sehr von Tala abhängig gemacht. Vielleicht solltest du da ändern,“ damit drückte er sich an Kai vorbei. Kai blickte ihm überrascht nach, sah dann zu Max. Der blonde Amerikaner lächelte ihn nur entschuldigend an und lief Tyson nach, welcher sich bereits aus dem Staub gemacht hatte. Kai sah seiner Tür dabei zu, wie sie langsam ins Schloss fiel. Vielleicht hatte Tyson Recht – vielleicht aber auch nicht. Ich habe damals versucht, mir etwas vor zu machen. Mir einzureden, Tyson hätte Recht und mein Leben wäre auch ohne Tala toll. Und klar war ich nicht vollkommen alleine. Ich hatte Freunde und das wusste ich auch. Aber Tyson hatte auch bei etwas anderen Recht gehabt. Ich war abhängig von Tala. Trotzdem versuchte ich zwei Jahre lang, ohne ihn klar zu kommen. Ihn zu verdrängen und mich nie wieder an ihn zu erinnern. Zwei Jahre voller Qual! Allen anderen spielte ich vor, wie glücklich ich doch sei. Aber in Wirklichkeit verzweifelte ich an der kleinen Tatsache, dass etwas in meinem Leben fehlte. Und war dieses Etwas auch noch so klein, es machte mich einsam… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)