Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 39: Freunde ------------------- Hallo ihr Lieben! Entschuldigt die etwas längere Wartezeit, aber die vier Essays, die ich noch schreiben musste, haben mir ein bisschen dazwischen gefunkt. Die haben sich jetzt aber erledigt und ich hab wieder mehr Zeit zum Schreiben :) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, [[ur]] ________________________ Nicht, dass ich es nicht schon vorher geahnt habe, aber ich weiß tatsächlich so gut wie nichts über Benni. Wir hatten ja schließlich auch nie wirklich Gelegenheit, uns über Dinge zu unterhalten. Aber seit ich ihn fast jeden Tag im Krankenhaus besuche, finden sich viele Dinge, von denen ich im Leben nie geglaubt habe, sie je zu wissen. Zugegeben, dass Benni ein 2Pac-Fan ist, war klar, als ich das Poster in seinem Zimmer gesehen habe. Aber dass er gerne liest, hätte ich im Leben nicht gedacht. Wieso genau, weiß ich auch nicht. Es scheint ihm ein wenig peinlich zu sein, dass er Arthur Conan Doyle gut findet, aber ich bin ausgesprochen beeindruckt. Genauso wie von dem Fakt, dass Benni ganz offenbar ein Feminist ist. Das habe ich rausgefunden, als im Fernsehen eine Reportage über sogenannte Slutwalks lief und Benni die Augen verdreht und geschnaubt und gesagt hat, dass ›dieser Kram doch wirklich selbstverständlich‹ sein sollte. Er mag Pizza mit Thunfisch, aber ansonsten findet er Fisch nicht sonderlich gut. Er ist im Winter prinzipiell schlechter gelaunt als im Sommer und er hat ein miserables Zahlengedächtnis. Außerdem ist Benni gläubig. Wahrscheinlich war das die Tatsache, die mich am meisten überrascht hat. »Gehst du oft in die Kirche?«, frage ich interessiert, während ich neben ihm auf dem Bettrand hocke und auf einem Block herum kritzele, den ich seit neustem mitnehme. Es stellte sich heraus, dass Benni mir gern beim Zeichnen zuschaut. Eigentlich kann ich nicht wirklich zeichnen, wenn mir jemand zusieht, aber Benni ist sehr diskret bei seinen Beobachtungen und nach ein paar verunglückten Anläufen habe ich mich an seine wachsamen Augen auf dem Block gewöhnt. »Man muss nicht in die Kirche gehen, um an Gott zu glauben«, kommt die gebrummte Antwort. Ich hebe den Kopf und mustere ihn. Noch vor ein paar Wochen hätte ich im Leben nicht gedacht, dass ich jemals so viel Zeit mit Benni allein verbringen würde. Ohne Angst. Ohne Abscheu von seiner Seite. »Hab ich ja auch gar nicht gesagt«, gebe ich zurück. Er räuspert sich und betrachtet meinen Skizzenblock. »Nicht so oft. Aber wahrscheinlich öfter als du«, erklärt er schließlich und ich muss schmunzeln. »Wahrscheinlich. Ich gehe nie in die Kirche. Nicht mal an Weihnachten«, sage ich und setze meinen Bleistift wieder auf das Blatt Papier. »Sag mal… werde ich das?«, fragt Benni auf einmal und seine Augen weiten sich ein wenig. Ich räuspere mich verlegen. »Naja, so viele spannende Dinge gibt es hier im Zimmer nicht«, entgegne ich zu meiner Verteidigung. Die Wahrheit ist, dass ich Dinge zeichnen muss, die ich sehen kann, weil meine Gedanken momentan ohnehin nur bei Chris sind und ich ihn immer wieder aufs Papier banne, wenn ich mich nicht konzentriere. Benni hebt die Augenbrauen und seine braunen Augen mustern mich durchdringend. Ich spüre, wie ich rot anlaufe. »Bisher war ich auch nicht spannend genug für deinen Block«, gibt er zu bedenken. Ich möchte irgendetwas Verteidigendes sagen, aber im nächsten Augenblick frage ich mich schon, wieso ich mich eigentlich rechtfertige. Ich habe mich in den letzten Tagen so viel mit Benni über alles Mögliche unterhalten, dass ich ihm genauso gut die Wahrheit sagen kann. »Es ist wegen Chris«, gestehe ich schließlich und mir wird ziemlich warm. Augenblicklich fluten Erinnerungen mein Gehirn und mein Herz legt einen Zahn zu. Ich habe keine Ahnung, wie es mir seit Tagen gelingt, diese Gedanken zu verdrängen, aber jetzt, wo ich darüber reden soll, kommt alles wieder zurück und der Bleistift in meiner Hand zittert. »Was hat der Punk angerichtet?«, kommt es sofort von Benni und ich muss lachen. Der Unterton in seiner Stimme kommt mir bekannt vor. So redet er auch, wenn er über Jana und die Leute spricht, die sie in der Schule schlecht behandeln. Was Beschützerinstinkt anbelangt, hat Benni mindestens genauso viel wie Chris. Und ich freue mich insgeheim darüber, dass ich bei Benni seit neustem in diesen Instinkt mit eingebunden werde. »Er ist kein Punk und er hat… nichts gemacht. Nicht wirklich. Wir haben nur… naja… wir haben letztens einen Film zusammen geschaut und heiße Schokolade getrunken und…« Bennis Augenbrauen wandern noch ein Stück höher. »Habt ihr geknutscht?« Der Bleistift fällt mir aus den Fingern, als ich hastig den Kopf schüttele und abwehrend die Hände hebe. »Nein! Nur… es war irgendwie komisch…« Ich versuche angestrengt das in Worte zu fassen, was zwischen mir und Chris passiert ist. Klar, theoretisch könnte ich es als Kuscheln bezeichnen, aber irgendwie scheint mir das Wort nicht groß genug zu sein. Wir haben eine Grenze überschritten, die durch meine alkoholisierte Aktion zu meinem Geburtstag zwar ein wenig angekratzt war, aber nicht ernsthaft beschädigt. Und jetzt haben wir ganz offenkundig die Mauern eingerissen, die da standen. Aber ich habe keine Ahnung, was das für uns bedeutet. Chris und ich haben uns in der letzten Zeit nicht oft gesehen, weil er in der Uni viel zu tun hat und ich verbringe viel Zeit im Krankenhaus. Sina habe ich von der Sache noch nichts erzählt, Lilli ist völlig durchgedreht, hat mich gefühlte zwanzig Mal hintereinander umarmt und mir dann eröffnet, dass sie sich ganz sicher ist, dass Chris auch Gefühle für mich hat und nur einfach noch mehr Zeit braucht, um damit umgehen zu können. Das schrecklichste an der Sache ist, dass es in meinem Kopf Sinn ergibt. Wieso sollte Chris sonst so etwas tun? Ich bin nicht unbedingt das, was in seine Kategorie Bettgefährte fällt und wenn ich dann noch daran denke, dass er auf alles, was mit Benni zu tun hat und hatte, immer besonders knatschig reagiert hat… Schlimm ist das, weil ich mich in nichts hinein steigern will, was am Ende schief geht. Ich weiß, dass Chris nicht der Mensch für feste Bindungen ist, dass er Angst vor seinen eigenen Gefühlen hat – auch wenn er es so vermutlich niemals zugeben würde – und ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, wenn ich wüsste, dass er mich tatsächlich auch will… und es trotzdem nicht funktioniert. Bennis Blick ist aufmerksam und fragend, aber er bohrt nicht weiter, sondern wartet einfach darauf, dass ich antworte. Das ist angenehm. Lilli und Sina haben die Angewohnheit, mich aufgeregt zu schütteln und jedes Detail wissen zu wollen. Nicht, dass das nicht auch ab und an sehr nett wäre, aber hin und wieder bin ich dermaßen von mir selbst überfordert, dass ein solches Verhalten mich ganz schwurbelig macht. »Also, wir saßen auf der Couch und dann irgendwann haben wir… Händchen gehalten… und dann…« Ich erzähle Benni stockend und mit hochrotem Kopf, was passiert ist und wie ich mich dabei gefühlt habe. Ich bin eigentlich erleichtert, dass ich auf dem Sofa eingeschlafen bin, so musste ich mich nicht direkt mit Chris auseinander setzen, als der Film vorbei war. Allerdings schwimme ich nun wie ein Stück Treibholz im Ozean meiner Verwirrung und habe keine Ahnung, wohin es geht und was genau eigentlich Sache ist. Verliebtsein ist ausgesprochen anstrengend. »Dir ist klar, dass du gerade aussiehst wie eine verknallte Verkehrsampel, ja?«, will Benni wissen, als ich mit meiner Erzählung am Ende bin. Er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ich hätte gedacht, dass er sich an diese ganze Sache mit der offenen Homosexualität erst gewöhnen muss, aber das scheint kein bisschen der Fall zu sein. So als hätte er nie irgendwas gegen Schwule gehabt. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob das jemals der Fall gewesen ist. Ich werd ihn beizeiten danach fragen. Bei seinem Vergleich muss ich jedenfalls nervös lachen und verberge mein Gesicht anschließend in den Händen. »Und er hat nichts mehr dazu gesagt?«, will Benni wissen. Seine Stimme klingt mittlerweile nicht mehr ungewohnt für mich, wenn sie sich nicht wütend oder verachtend anhört. Eigentlich hat er eine ziemlich angenehme Stimme, wenn er einfach so und ganz normal spricht. »Nein… wir haben uns aber auch nicht mehr wirklich gesehen seitdem. Nur mal kurz im Flur und dann haben wir gestern zusammen mit Sina gegessen. Ich wüsste auch gar nicht, was ich zu ihm sagen soll«, gebe ich zu und hebe den Bleistift vom Bett auf. Bennis zur Hälfte skizziertes Gesicht blickt mich aus einem Auge an und ich setze den Stift erneut aufs Papier, um fortzufahren. Ich hab Chris wirklich oft genug gezeichnet. »Du könntest ihn fragen, ob er was von dir will«, schlägt Benni vor. Beinahe male ich ihm ein übergroßes Segelohr vor lauter Schreck, doch bevor ich antworten kann, öffnet sich die Tür und Schwester Nicole kommt ins Zimmer. Sie lächelt strahlend, als sie mich sieht. »Ah, wieder hier?«, fragt sie wie jeden Tag, wenn sie Visite bei Benni macht. Ich lächele ihr entgegen und klappe seufzend den Block zu. Heute komme ich ja doch zu nichts Anständigem mehr. »Ja. Und morgen auch wieder«, sage ich lächelnd und sehe aus dem Augenwinkel, wie Bennis Mundwinkel zucken. Jana ist froh, dass ich so oft hier bin. Sie verbringt die Ferien bei ihrer besten Freundin und die wohnt weiter außerhalb, deswegen kann sie nicht so oft herkommen. Aber Benni hat ihr gesagt, dass sie bloß da bleiben soll. Damit sie nicht mit ihrem Vater allein zu Hause ist. »Das wird morgen das letzte Mal sein, dass Sie herkommen müssen«, informiert Schwester Nicole mich lächelnd und macht sich daran, Bennis Verbände zu überprüfen. »Wir können dich morgen wieder entlassen.« Bennis Blick gleitet zur Decke und ich muss kein Hellseher sein, um zu wissen, was er denkt. Entlassen aus dem Krankenhaus, das heißt, zurück in die Wohnung. Zurück zu seinem Vater. Und sehr wahrscheinlich zurück zu den Schmerzen. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, platzt es aus mir heraus. Schwester Nicole blinzelt und sieht zu mir auf. Ich stehe neben dem Bett und umklammere meinen Skizzenblock. Das Lächeln ist von Schwester Nicoles Gesicht verschwunden und sie mustert Bennis Profil einen Moment lang. Dann seufzt sie und öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Doch Benni schneidet ihr das Wort ab. »Schon ok«, sagt er einfach nur, ohne sie anzusehen. Es wirkt so, als wäre das nicht das erste Mal, dass er das sagt. Natürlich ist es nicht ok, aber ich habe nicht den geringsten Schimmer, was ich tun kann. »Ich komm morgen wieder nach dem Mittagessen, ok?«, sage ich zum Abschied und packe den Block in meinen Rucksack. Benni schafft ein schiefes Lächeln und nickt. »Bis morgen.« Ich verabschiede mich von Schwester Nicole und nehme meine Winterjacke, ehe ich schließlich das Zimmer verlasse. Draußen ist es verflucht kalt und mein Atem steigt vor mir auf, ehe er verschwindet. Die Bäume haben beinahe alle Blätter verloren und während ich die Einfahrt des Krankenhauses hinunter und zur Bushaltestelle gehe, grübele ich darüber nach, was man für Benni tun könnte. Ich würde ihn sofort zu Sina holen – aber das geht nicht so wirklich. Zumindest nicht auf Dauer. Und ich hab Benni versprochen weder der Polizei, noch dem Jugendamt, noch sonst irgendjemandem davon zu erzählen. Während ich darüber nachdenke, vergesse ich immerhin für einige Zeit meine eigenen Probleme, die verglichen mit denen von Benni so winzig klein sind, dass ich mich beinahe schuldig fühle. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich so langsam wie möglich durch das verfärbte Laub auf dem Fußweg von der Bushaltestelle entferne, nachdem ich dort angekommen bin. Es ist bereits dämmerig und ich friere, aber in der Wohnung wartet womöglich eine Situation mit Chris auf mich, auf die ich nicht vorbereitet bin. Andererseits kann ich vermutlich auf nichts wirklich vorbereitet sein, da ich keine Ahnung habe, was in Chris‘ Kopf vor sich geht. Als ich die Wohnungstür aufschließe, stellt sich jedoch heraus, dass ich mir umsonst Sorgen gemacht habe, denn Chris‘ Zimmertür steht weit offen und seine Jacke hängt nicht an der Garderobe. Während ich die Tür schließe, habe ich ein schlechtes Gewissen aufgrund meiner Erleichterung. Er ist nicht da. Und ich bin ein Idiot, weil ich Angst davor habe, mich mit Chris auseinander setzen zu müssen. Ich will mit meiner Panik wirklich nicht unsere Freundschaft ruinieren. Hoffentlich habe ich das mit der Kuschelaktion nicht schon längst. * Ich bin offensichtlich nicht der Einzige, der irgendetwas aus dem Weg geht, denn Chris ist so selten zu Hause, während ich Herbstferien habe, dass es wirklich auffällig ist. So viel kann man am Anfang des Semesters überhaupt nicht zu tun haben und selbst Sina meint, dass Chris ganz besonders motiviert wirkt, was seinen Unikram angeht. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder traurig deswegen sein soll. Ich verbringe meine Ferien auch ungewöhnlich viel außer Haus, bastele mit Lilli Collagen aus Herbstblättern und Kastanientieren, als wären wir noch mal in der Grundschule, und ich gehe, wann immer das Wetter es erlaubt, mit Benni spazieren, damit er möglichst wenig Zeit allein bei seinem Vater verbringen muss. Mit Benni spazieren zu gehen fühlt sich komisch an, weil er nicht wirklich der Typ dafür zu sein scheint. Aber nach dem zweiten Spaziergang fällt mir auf, wie Benni die Hunde betrachtet, die im Park auf einer Wiese spielen und ich schleppe beim nächsten Mal Parker und Pepper mit. Benni findet Hunde ausgesprochen gut, auch wenn er sich mit Parker besser versteht als mit Pepper. Es ist, als wüsste Pepper, dass ihr Besitzer Benni nicht besonders gut leiden kann – und anders herum. Parker hingegen scheint sich ein wenig in Benni verknallt zu haben, denn er ist einen Großteil der Zeit damit beschäftigt, seine Schnauze an allen möglichen Ecken und Enden von Benni zu vergraben oder ihn abzuschlecken. Ich erwische einige Schnappschüsse von Benni, der im Laub hockt und mit meinem kleinen, flauschigen Hund spielt. Es ist ein bisschen unwirklich. Und verteufelt niedlich. Nicht, dass ich ihm das sagen würde, aber es ist wirklich so. Wer hätte gedacht, dass Benni so sein kann? Ich jedenfalls nicht. Hin und wieder lächelt er sogar. So ein richtiges Lächeln. Kein gezwungenes Lächeln, oder ein schiefes Grinsen oder so. Es sieht aus, als wäre er für ein paar Sekunden zufrieden. Ich frage mich, ob Chris solche Sachen bei mir auch beobachtet hat, nachdem er mir geholfen hat. Als ich Lilli davon erzähle, wie Benni sich verändert und dass wir so viel Zeit miteinander verbringen, mustert sie mich nachdenklich. »Und du bist sicher, dass das alles ok für dich ist? Mit dem ganzen Kram, den er gemacht hat?« Ich nicke und sehe offensichtlich überzeugend genug aus, denn Lilli lächelt einen Moment später, drückt mich kurz und strafft die Schultern, als hätte sie sich für etwas entschieden. »Dann ist es für mich auch ok. Solange er keine Scheiße mehr baut«, ist ihr Beitrag dazu. Ich umarme sie gleich noch mal und sie lacht. Nach fast sieben Monaten hat sich mein Leben in etwas ziemlich Wunderbares verwandelt. Ich hätte das im Mai sicherlich noch nicht gedacht. Die Herbstferienidylle wird ein wenig dadurch getrübt, dass ich anfangen muss, für die Klausuren zu lernen. Aber da ich ohnehin jeden Grund dankbar annehme, um mich nicht näher mit Chris zu beschäftigen, kommt mir die geistige Arbeit eigentlich ganz recht. Ich vergrabe mich in Politik- und Englischunterlagen und hin und wieder leisten Benni oder Lilli mir Gesellschaft. Ich bin froh, dass Benni und Chris sich nie in Sinas Wohnung über den Weg laufen. Das würde – zumindest von Chris‘ Seite aus – ein Desaster geben und darauf habe ich sogar noch weniger Lust, als mich mit der Kuschelaktion auseinander zu setzen. Kurz vor Ende der Ferien fahre ich für zwei Tage zu meiner Mutter und Daniel, die sich meine Fotos anschauen und sich neugierig erkundigen, wer Benni ist. Den kennen sie von meinem Geburtstag her immerhin noch nicht. Ich zögere ein bisschen und erzähle dann immerhin die halbe Geschichte von Stress in der Schule und einer Rettung vor einem Klappmesser und einer sich anschließend entwickelnden Freundschaft. Bennis Hintergrundgeschichte lasse ich weg, immerhin habe ich ihm versprochen, niemandem davon zu erzählen. Meine Ma zeigt mir ein paar Urlaubsvideos von den Malediven und ich mache abends Gemüseauflauf, woraufhin meine Ma sich mal wieder beklagt, dass ich besser kochen kann als sie. Als sie mich am letzten Tag der Ferien zurückfährt, klingelt mein Handy. Das Display verrät mir, dass Benni dran ist. »Ja?« Er hat noch nie angerufen. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert… »Hey, ich bin’s«, sagt er zögerlich, als wüsste er nicht so genau, ob es ok ist, dass er anruft. »Was gibt’s?«, erkundige ich mich ein wenig vorsichtig und drücke innerlich die Daumen, dass soweit alles in Ordnung ist. »Morgen ist Schule«, informiert Benni mich. Ich blinzele. »Ja, ist mir bewusst.« Denkt er, dass ich den Schulanfang vergessen hab? Am anderen Ende tritt ein kurzes Schweigen ein. »Ich könnte dich abholen.« Ich spüre den Blick meiner Mutter auf mir, als wir an einer Ampel halten und ich mit großen Augen hinaus auf die Kreuzung starre. »Dir ist klar, dass uns dann… Leute sehen, ja?«, vergewissere ich mich vorsichtshalber. Benni gibt ein Brummen von sich. »Ja, ist mir klar.« Mir wird bewusst, dass das Bennis Art ist zu sagen ›Ich habe keine Lust mehr so zu sein, wie andere mich haben wollen und ich möchte, dass jeder weiß, dass wir befreundet sind.‹. Auf meinem Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus und meine Mutter kichert leise, als sie wieder aufs Gas tritt und den Wagen links abbiegen lässt. Wenn man sich näher mit Benni beschäftigt, dann lernt man, seine Sprache in das zu übersetzen, was er wirklich meint. Er vertritt oft genug seine Meinung, aber bei manchen Dingen bringt er die Wahrheit nicht so richtig über die Lippen und dann muss man zwischen den Zeilen lesen. Ich bin ein wenig stolz, weil ich sagen kann, dass ich in relativ kurzer Zeit gelernt habe, ihn zu durchschauen. »Du kannst mich gerne abholen. Um halb acht?«, gebe ich zurück und grinse zu meiner Ma hinüber, die natürlich keine Ahnung hat, wieso ich so dümmlich schmunzele. Sie strahlt allerdings zurück. Es ist ziemlich einfach mit ihr: Wenn ich glücklich bin, dann ist sie es auch. »Ok. Dann… bis morgen früh.« »Bis dann. Ich freu mich«, schiebe ich hastig hinterher. Ein Grummeln ertönt am anderen Ende, das ›Ich mich auch‹ heißen könnte, dann legt Benni auf und ich schiebe mein Handy zurück in die Hosentasche. »Benni holt mich morgen früh ab«, informiere ich meine Mutter, die das Ausmaß dieser Information natürlich nicht ganz erfassen kann. Aber das macht nichts. »Scheint dir sehr gute Laune zu bereiten«, gibt sie amüsiert zurück. Ich nicke zufrieden. »Ja. Tut es.« Weil Benni dann ab jetzt endlich die Möglichkeit hat zu erkennen, dass mit Freunden alles viel weniger schlimm ist. Den Rest der Fahrt plane ich, Benni das nächste Mal zu einem Konzert von Niccis Band mitzunehmen und ihm die anderen vorzustellen… bis dahin muss Chris sich an den Gedanken gewöhnt haben, dass Benni nun irgendwie offiziell zu meinem Leben gehört und zwar nicht mehr als Alptraum, sondern als Freund. Als meine Ma mich abgesetzt hat und ich in der Wohnung stehe, stelle ich fest, dass Chris wieder mal nicht da ist. Ich seufze leise, während ich die Wohnungstür hinter mir schließe und dann meine Schuhe und die Jacke ablege. Ich gehe hinüber zu Sinas Zimmer und klopfe leise. »Komm rein!«, ruft sie und klingt ziemlich gut gelaunt. Als ich die Tür öffne, stelle ich fest, dass Fabian bei Sina im Zimmer hockt. Sie hocken sich im Schneidersitz auf Sinas Bett gegenüber und spielen irgendein Kartenspiel. »Oh, ich wollte nicht stören«, sage ich und fahre mir verlegen lächelnd durch die Haare. »Du störst nicht. Setz dich«, meint Sina und klopft neben sich aufs Bett. Auch Fabian lächelt freundlich und so schließe ich die Zimmertür hinter mir und gehe hinüber zu den beiden, um mich neben Sina auf den Bettrand zu setzen. »Was spielt ihr?«, erkundige ich mich. Sina grinst. »Fabian hat noch nie MauMau gespielt. Diese Wissenslücke musste ich schließen«, erklärt sie. »Ich verliere dauernd«, informiert Fabian mich und Sina grinst noch ein wenig breiter. »Wenn du mir Schach beibringst, werd ich auch dauernd verlieren«, sagt sie beschwichtigend. »Ich soll dich von meiner Ma grüßen. Und naja… Chris eigentlich auch, aber der scheint ja mittlerweile in der Uni zu wohnen«, meine ich und kann nichts dagegen tun, ein wenig geknickt zu klingen. Immer noch kann ich mich nicht so richtig entscheiden, ob ich froh sein soll, dass ich Chris nur noch so selten sehe, oder ob ich ihm beizeiten auflauern und ihn zur Rede stellen soll. Sina verdreht die Augen. »Ja, der Idiot. Im Davonlaufen ist er einsame spitze.« Ich zucke ein wenig unschlüssig die Schultern und beschließe dann, dass ich dieses Thema vor Fabian nicht unbedingt weiter ausbreiten muss. »Ich hab noch nichts Warmes gegessen. Wollt ihr nachher mit mir Käsemakkaroni essen?«, erkundige ich mich und stehe wieder auf. Sina schaut ein wenig schmachtend zu mir auf. »Käsemakkaroni«, wiederholt sie mit einem sehnsüchtigen Unterton. Ich muss lachen. »Ich nehme an, dass das ›Ja‹ heißt. Ich werd noch mal meine Englisch-Sachen durchschauen und dann fang ich an«, antworte ich und gehe zur Tür. »Viel Glück noch beim Spielen!« Fabian lächelt und winkt ab. »Ich bin ein guter Verlierer«, gibt er zurück. Sina schaut ihn so verliebt an, dass ich beinahe sehen kann, wie Fabian unter rosarotem, imaginärem Konfetti begraben wird. »Arbeite nicht zu viel!«, ruft Sina mir noch nach und dann sind die beiden wieder unter sich und ich muss lächeln, weil es mich zufrieden macht, dass Sina glücklich mit ihrer ersten richtigen Beziehung ist. Ich komme mit Fabian gut aus. Er mag meine Käsemakkaroni und nach dem Essen spielen wir zu dritt noch ein paar Runden MauMau. Sina wirft ab und an einen Blick auf die Uhr und mir ist klar, dass sie auf Chris wartet. Ich stelle mir vor, dass er irgendwo sitzt und ebenfalls auf die Uhr schaut, um zu sehen, wann ich wohl ins Bett gehe, damit er gefahrlos nach Hause gehen kann. Ein ziemlich deprimierender Gedanke. Er ruiniert meine gute Laune und bringt mich dazu, ziemlich früh ins Bett zu gehen. Schlafen kann ich allerdings nicht wirklich und ich höre noch, wie Chris um halb eins die Wohnungstür aufschließt. * Benni steht schon unten vor der Tür, als ich am Montagmorgen die Treppe herunter komme. Es ist immer noch dunkel und so kalt, dass ich mir den Schal etwas enger um den Hals ziehe und meine Hände in der Jackentasche vergrabe. »Es ist kalt«, klage ich als Morgengruß. Benni schmunzelt. »Geht ja gut los. Erster Schultag und du nölst«, erwidert Benni und ich schiebe schmollend die Unterlippe vor, während wir uns zu Fuß auf den Weg in Richtung Schule machen. Benni ist selber nicht allzu schlecht im Nölen, als wir auf das Thema Klausuren kommen und er sich vor allem über den Stoff für die bald anstehende Chemie-Klausur beschwert. »Und jetzt gleich eine Doppelstunde Englisch«, ächze ich, als das rote Backsteingebäude der Schule in Sicht kommt. Lilli steht vorn bei den Fahrradständern und sieht einen Moment überrascht aus, als sie uns zusammen sieht, dann strahlt sie uns entgegen und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Benni einigermaßen perplex aussieht. Ihre Haare sind nicht mehr pink und ich starre sie kurz verwundert an. Grün. Sehr auffälliges Grün. Benni sieht ebenfalls verwirrt aus, aber wir kommentieren es beide nicht. »Guten Morgen«, werden wir gegrüßt und Lilli schiebt sich ohne weiteren Kommentar in unsere Mitte und hakt sich bei uns beiden unter. Benni schaut dermaßen verwundert drein, dass er einen Augenblick lang vergisst sich vorwärts zu bewegen. Lilli zieht ihn mit sich. »Bereit, mit deinen Kumpels Schluss zu machen?«, fragt sie leise, kurz bevor wir die Eingangstür erreichen. Benni atmet tief ein und betrachtet Lillis Profil eine Sekunde lang. Es ist, als würde er sich daran erinnern, wie sie ihn in der Jungenumkleide als Weichei beschimpft hat, nachdem er mich nicht reinlassen wollte. »Weiß nicht. Geht so. Wird schon«, sagt Benni unschlüssig und es sieht wirklich aus, als würde er gern umdrehen. Lilli grinst. »Natürlich wird es. Wir sind so viel cooler als Christopher und die anderen Deppen«, sagt sie, hebt den Fuß und stößt die Glastür mit einem ihrer Springerstiefel auf. Wir durchqueren die Eingangshalle ohne weitere Störungen und als wir den Klassenraum betreten, zögert Benni. Lilli wirft sich auf einen Stuhl an der Fensterseite und ich folge ihr, während Benni im Türrahmen steht. Er sieht verloren aus und ich lege den Kopf schief, während ich ihn mustere. Seine Augen finden meine und er scheint sich ein wenig aufzurichten, dann stapft er durchs Zimmer und wirft seinen Rucksack neben mir auf den Tisch, um sich an meiner Seite nieder zu lassen. Während Lilli mir von der Reaktion ihrer Eltern auf die neue Haarfarbe erzählt, sitzt Benni schweigend neben mir und spielt mit dem Reißverschluss seines Rucksacks. Ich weiß, dass er darauf wartet, dass die anderen Jungs herein kommen. Doch als die Tür aufgeht und Thomas und Christopher eintreten, werfen sie nur einen kurzen Blick zu uns hinüber, dann setzen sie sich in die hinterste Reihe und fangen an, sich lautstark über irgendeine Party zu unterhalten. Mir kommt das ziemlich komisch vor, aber Benni sieht erleichtert aus. Auch Lilli wirkt so, als wäre sie sich sicher gewesen, dass noch irgendetwas kommen würde. Wie sich herausstellt, haben Lilli und ich mit unseren Vermutungen Recht gehabt. Das war nicht alles. In der großen Pause hocken wir in der Eingangshalle und Lilli verteilt Kekse, die ihre Mutter gebacken hat. Gerade als ich beschließe, dass ihre Mutter vielleicht eine eigene Bäckerei eröffnen sollte, bauen sich drei Leute vor uns auf. Ich kenne das schon und meine Reflexe haben sich trotz der langen Ruhephase nicht verändert. Ich weiche automatisch auf meinem Sitzplatz zurück und ziehe die Schultern hoch. Lilli und Benni jedoch rühren sich nicht von der Stelle, auch wenn Bennis Gesichtsausdruck jetzt aussieht, als wäre er in Stein gemeißelt. »Erinnerst du dich noch an die letzte Abiparty?«, fragt Christopher im Plauderton. Ich kenne diesen Ton und ich kann ihn nicht ausstehen. Thomas kramt sein Handy hervor, tippt ein wenig darauf herum und hält es dann hoch. Benni weicht alle Farbe aus dem Gesicht und ich erkenne im nächsten Augenblick, was auf dem Bild zu sehen ist. Benni und ich. Auf dem Dach. Und Benni küsst mich. Irgendeiner von den Leuten auf diesem Dach muss ein Foto davon gemacht haben. Großartig. Wirklich… »Hast du dich von der Schwuchtel anstecken lassen, ja?«, zischt Richard und beugt sich ein wenig vor. Benni steht auf. Seine Fäuste sind geballt und er sieht jetzt furchtbar zornig aus. »Nennt ihn nicht so«, knurrt er und einen Moment lang sehen die Drei verwirrt aus. Dann lachen sie hämisch und Thomas macht gespielte Würgegeräusche, während er das Bild betrachtet. Mein Innerstes hat sich zusammen gezogen. Benni musste nie sowas durchmachen, aber jetzt schon. Jetzt nimmt er mich sogar in Schutz. Aber ich will wirklich nicht, dass er von nun an auch jeden Tag fertig gemacht wird. Wegen mir. »Das ist sowas von widerlich, Alter«, meint Richard. Lilli erhebt sich. »Gib das Handy her«, sagt sie sehr leise. Thomas schnaubt. »Verzieh dich, Brokkoli«, ist seine Antwort. Lillis Augen verengen sich zu Schlitzen. »Gib mir das Handy, oder ich mache Rührei aus deinen Kronjuwelen«, droht sie immer noch sehr leise. So wütend habe ich sie noch nie gesehen. Es ist keine laute Wut. Es ist eindeutig die Ruhe vor dem Sturm. Benni wirft Lilli einen undefinierbaren Seitenblick zu. Thomas schnaubt und es soll wohl lässig klingen, aber mir fällt auf, dass seine Haltung abwehrender wird. Im nächsten Wimpernschlag hat Lilli ihm das Handy aus der Hand geschnappt und als er protestiert streckt Benni den Arm aus und drängt ihn zurück, damit er Lilli nicht anfassen kann. Lilli löscht das Foto und wirft Thomas das Handy zu, der es beinahe fallen lässt. »Und jetzt verpisst euch«, sagt Lilli. Christopher verschränkt die Arme vor der Brust und grinst hämisch. »Seht mal Jungs. Die frisch gebackene Schwuchtel braucht jetzt ein Mädchen als Body–« Ich zucke zusammen, als Lillis Faust Christophers Gesicht trifft. Er gibt einen überraschten Aufschrei von sich und taumelt rückwärts, während seine Kumpels verwirrt blinzeln, weil sie noch nicht wirklich erfassen konnten, was gerade passiert ist. Lillis Blick verspricht Mord und Totschlag, als sie die Drei anstarrt. »Frau Neuhaus!« Na toll. Natürlich musste Frau Pape gerade jetzt vorbei gehen und sehen, wie Lilli Faustschläge verteilt. Christophers Wangenknochen sieht bereits ziemlich rot aus. Lilli blickt Frau Pape gelassen entgegen. »Ich muss das melden, das ist Ihnen klar!« Lilli sieht vollkommen unbeeindruckt aus und nickt. Christopher und die anderen beiden haben sich bereits aus dem Staub gemacht. Frau Pape mustert Lilli ungläubig und besorgt zugleich, dann seufzt sie und winkt sie mit sich. Lilli geht ohne Widerworte mit unserer Kunstlehrerin mit. Kurze Zeit später verschwinden ihre grünen Haare im Lehrertrakt. Benni und ich reden den Rest der Pause nicht mehr und wir lassen Lilli ein paar Kekse übrig. Als es zur nächsten Unterrichtsstunde klingelt, kommt Lilli zurück und wir sehen sie fragend an. »Ich darf Kunst schwänzen. Ich glaub, ich hab mir ein paar Finger verstaucht«, sagt sie ungerührt und betrachtet ihre nun geschwollene Hand. Benni starrt sie an. »Wieso hast du das gemacht?«, will er wissen. Lilli hebt die Brauen. »Er hat dich Schwuchtel genannt«, erklärt sie. »Ja, aber… wieso?« Sie verdreht die Augen. »Es hat mich sauer gemacht. Außerdem machen Freunde sowas. Ihr könnt die Kekse aufessen, ich komm zu Bio wieder her«, erklärt sie und schultert ihren Rucksack. Ich möchte sie drücken und ihr gleichzeitig tadelnd mitteilen, dass Gewalt keine Lösung ist. Auch wenn es die Drei zugegebenermaßen vertrieben hat und ich dafür sehr dankbar bin. »Aber was passiert jetzt?«, frage ich besorgt. Lilli zuckt mit den Schultern. »Ich war beim Direx drin, der hat mir eine Moralpredigt gehalten, ich hab ihm erklärt, dass Mobbing an dieser Schule ein ziemliches Problem ist, er will meine Eltern anrufen… aber die werden ihm schon die Meinung geigen, wenn ich ihnen erkläre, dass das einer der Kerle war, die dich immer fertig gemacht haben«, erzählt Lilli. Sie sieht wirklich nicht so aus, als würde ihr das etwas ausmachen, und ich sehe ihr seufzend nach, als sie in Richtung Ausgang davon geht. Benni schaut ihr nach. »Freunde machen sowas, hm?«, nuschelt er und sieht eindeutig so aus, als müsste er sich erst daran gewöhnen, überhaupt Freunde zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)