Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 18: Reue ---------------- Hallo ihr Lieben! Diesmal ein wenig Gefasel von mir und ich hoffe, dass ihr das lest und nicht genervt die Augen verdreht, weil ich so mitteilungsbedüftig bin ;) Am 20.10. ist in den USA Spirit Day. An diesem Tag geht es darum zu zeigen, dass man gegen Homophobie ist. Desweiteren wird morgen sechs homosexuellen Teenagern gedacht, die sich in den letzten Monaten umgebracht haben, weil sie an ihren Schulen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gemobbt/ausgegrenzt wurden. Zu diesem Zweck soll morgen lila getragen werden. Da dies hier eine Geschichte ist, in der es um Mobbing und verwandte Themen geht, würde ich euch bitten, ein paar Minuten Zeit aufzuwenden und vielleicht kurz hier vorbei zu schauen: http://thenewsoftoday.com/october-20th-spirit-day-wear-purple-to-honor-tyler-clementi-asher-brown/3365/ Wenn ihr morgen auch lila tragen möchtet, würde ich mich sehr über ein Foto von euch freuen, damit ich eine Collage basteln kann, auf der möglichst viele Bilder mit Leuten in lila sind. Näheres dazu findet ihr in meinem Weblog! Danke für eure Aufmerksamkeit und eure Zeit. Ich wünsche euch viel Spaß mit dem Kapitel (das noch mal aus Anjos Sicht geschrieben ist) und einen schönen Abend! Liebe Grüße, __________________________________ Ich bin ja wirklich nicht besonders sportbegeistert, aber trotzdem gehe ich mit Sina zu allen folgenden Wettkämpfen von Chris. Ich bin immer total glücklich, weil er sich freut, dass wir hinkommen. Ma hat mir eine Postkarte an Sinas Adresse geschickt und sie hängt jetzt über dem Bett im Gästezimmer, direkt neben dem Foto von ihr und mir. Sie hat mir auch erzählt, dass sie bei Pa angerufen und ihn zur Schnecke gemacht hat, weil er sich wie ein Trottel benommen hat. Sina ist dank meiner Erzählungen ganz begeistert von meiner Mutter und meinte, dass sie sie gern mal kennen lernen würde. Ich hätte nichts dagegen. Aber wer weiß, ob Ma nicht einen hysterischen Anfall bekommt, wenn sie Chris sieht. Dann stürzt sie sich womöglich auf ihn und macht Werbung für mich. Das wäre ausgesprochen peinlich. Chris ist während seiner Wettkampfphase dauernd beim Training. Oder im Fitnessraum der Sporthalle. Oder Joggen. Eigentlich ist er kaum zu Hause und ich muss zugeben, dass ich ihn ein wenig vermisse – was ja albern ist, da wir zusammen wohnen –, aber sobald die Wettkämpfe vorbei sind, ist er wieder mehr zu Hause. Und so habe ich Zeit, mich ein wenig um mein Kunstprojekt zu kümmern. Zwei Tage vor der Jahrgangsparty bin ich bei Lilli zu Besuch. Das ist erst das dritte Mal und ich kann mich immer noch nicht so recht daran gewöhnen, dass hier noch zwei Mädchen rumrennen, die eigentlich genauso aussehen wie Lilli. Mal ganz abgesehen von den Klamotten und den Haaren. Maya trägt ihre Haare blond – so wie Lillis Haare eigentlich auch sind – und lang. Alles in allem sieht sie am ehesten aus wie das nette Mädchen von nebenan. Mit Jeans und Bluse und Turnschuhen. Nele hat die blonden Haare ganz kurz. Und sie zieht sich eigentlich eher an wie ein Junge. Sie sind beide ziemlich nett. Genau wie Lillis Eltern, die jedes Mal darauf bestehen, Kekse und Limo reinzubringen, wenn wir in Lillis Zimmer hocken und über Kunst brüten. Auch dieses Mal schleppt Lillis Mutter ein riesiges Tablett mit Obstsalat, Cookies und zwei Gläsern samt Zitronenbrause ins Zimmer und strahlt mich an, bevor sie wieder verschwindet. Ich sehe ihr ein wenig verwundert nach. Lilli scheint das witzig zu finden, denn sie kichert leise und schnappt sich einen Keks. »Du bist der einzige Freund, den ich habe, der heile Hosen trägt, eine stinknormale Frisur hat und nicht acht Jahre älter ist als ich«, informiert sie mich schmunzelnd. Ich blinzele. »Ach so. Hat sie was gegen deine anderen Freunde?«, erkundige ich mich und piekse mit einer Gabel, die ebenfalls auf dem Tablett liegt, ein Stück Banane auf. »Nee. Sie ist nur immer ein bisschen beunruhigt, wenn ich mit ihnen losziehe. Ich kann’s ja irgendwie schon verstehen«, erklärt Lilli und schiebt sich noch einen zweiten Cookie in den Mund. »Ich hoffe nur, dass sie nicht denkt, dass ich für dich als Freund in Frage komme«, sage ich und gieße uns beiden Limo in die Gläser auf dem Tablett. »Nee. Ich hab dich schon geoutet«, sagt Lilli und zögert einen Moment. »Ist das ok?« »Ja, wieso nicht?«, gebe ich lächelnd zurück und nehme einen Schluck Limo. »Hätte ja sein können, dass du es noch nicht so an die große Glocke hängen willst«, mampft Lilli mit dem Mund voller Cookies. »Ich arbeite dran«, scherze ich. Sie kichert und verschluckt sich beinahe an ihren Cookies. »Gehst du jetzt eigentlich mit mir auf die Jahrgangsparty?«, erkundigt sie sich. »Ja, ich denk schon. Aber ich weiß nicht, ob Chris auch mitkommen kann, der ist momentan eigentlich nur am Trainieren. Für seine ganzen Wettkämpfe«, erkläre ich ihr. »Ich werd Nicci mal ’ne SMS schreiben, vielleicht will sie ja mitkommen. Und du kannst Sina fragen. Wenn Nicci kommt, dann kommt Leon sicher auch und wenn Leon kommt, dann kommt Felix…« Sie bricht ab, aber ich weiß schon, was sie als nächstes sagen wollte. »Und wenn Felix kommt, kommt Chris«, beende ich ihre Aufzählung und sie sieht ein wenig bedröppelt aus. »Ich bin froh, dass ich nicht verliebt bin«, gibt sie zu. Ich seufze leise. »Eigentlich ist es ein schönes Gefühl. Nur… na ja. Auf Dauer ist es recht anstrengend, wenn man weiß, dass man sowieso keine Chance hat«, meine ich ein wenig niedergeschlagen und nehme noch einen Schluck Limonade. »Chris wird schon irgendwann checken, wie toll du bist«, sagt Lilli und dann wirft sie sich halb auf mich, reißt dabei beinahe die Limo um, und umarmt mich so fest, dass ich nach hinten kippe und wir beide auf ihrem knallbunten Teppich landen – der übrigens noch aus Kinderzeiten ist, wie Lilli mir gesagt hat. Sie konnte sich nie von ihrem Kinderteppich trennen. »Uff«, mache ich ein wenig atemlos. »Du…?«, murmelt Lilli irgendwo in meiner Halsgegend. Ich lege zögerlich die Arme um sie. Sie riecht nach Cookies. »Hm?« Ich liege knuddelnd mit Lilli auf einem Kinderteppich. Es ist merkwürdig, aber eindeutig angenehm. »Tut mir Leid, dass ich vorher nie drauf geachtet hab, wie Benni dich behandelt… dann hätte ich früher was gesagt. Ehrlich«, nuschelt sie. Ich blinzele ein wenig verwirrt, weil ich nicht weiß, wie sie darauf kommt. Aber die Gedankensprünge von Mädchen sind mir durch Sina mittlerweile hinlänglich bekannt, also hinterfrage ich diesen Sinneswandel einfach nicht. Ich muss lächeln. »Schon ok. Ich freu mich nur, dass ich… dass wir jetzt befreundet sind«, sage ich verlegen und laufe prompt knallrot an. Wieso müssen Gespräche dieser Art immer so peinlich sein? Lilli rappelt sich hoch und ich kann wieder Luft holen. Wir setzen uns beide auf und grinsen uns ein wenig verlegen zu, dann greifen wir zeitgleich nach den Cookies. Freundschaft ist das Beste, was es auf der Welt gibt. Soviel steht fest. * Unerwarteterweise kommt Chris mit. Und das, obwohl Felix und Leon nicht dabei sind. Das freut mich gleich doppelt – obwohl ich es natürlich auch schön gefunden hätte, wenn Felix und Leon da gewesen wären. Die Vorstellung, wie die anderen reagieren würden, wenn da ein offen schwules Pärchen am Rand steht und knutscht… das wäre sicherlich nett gewesen. Und wenn Benni und seine Freunde irgendwas gesagt hätten, dann hätte Leon sie mit dem Todesblick bestraft. Oder ihnen wahlweise den Kopf abgerissen. Sina und Chris hätten sicher geholfen. Und Lilli… Die Vorstellung zaubert mir ein Strahlen ins Gesicht, als wir auf dem Weg zur Party sind. Chris fährt, Sina sitzt vorn. Nicci, Lilli und ich haben uns in Chris’ winzigem Auto auf dem Rücksitz nebeneinander gequetscht. »Ist dir klar, dass wir wie Rentner aussehen werden? Da laufen nur kleine, niedliche Teenager rum«, sagt Sina amüsiert zu Chris. Der grinst ein wenig müde. Er ist gestern erst sehr spät vom Training gekommen und konnte wieder nicht so gut schlafen. »Ich bin sicher, dass das niemanden stört«, sagt Lilli bestens gelaunt. Sie trägt eine stark ramponierte Jeans und ein schwarzes Oberteil, in dem überall Sicherheitsnadeln und Reißverschlüsse stecken. »Nett, dass du das sagst«, gibt Sina breit grinsend zurück. »Ich könnte ein paar kleine Jungs aufreißen.« Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. »Zum Beispiel einen von Bennis Kumpels. Wie witzig es wäre, den Jungen dann ohne Hose irgendwo im Gebüsch stehen zu lassen…« Sinas Gesichtsausdruck hat etwas Verträumtes. Ich sehe es im Rückspiegel. Lilli und Nicci lachen sich scheckig, Chris verdreht nur grinsend die Augen. Es scheint tatsächlich so, als habe so ziemlich jeder aus unserem Jahrgang noch irgendwelche Leute mitgebracht, weswegen es extrem voll ist. Das kleine Sportheim ist mit Theke und Musikanlage ausgestattet und es dröhnen bereits laute Klänge durch die Fenster nach draußen. Viele stehen vor dem kleinen Haus, sitzen auf Bänken und lehnen an der Wand. Ich brauche nur zwanzig Sekunden, um Benni und seine Kumpanen zu entdecken. Benni sieht ausgesprochen mürrisch aus und hat bereits eine halb geleerte Flasche Bier in der Hand. Ich gebe mir Mühe, nicht allzu sehr auf ihn zu achten und folge Lilli und den anderen ins Innere des Hauses, um dort erstmal etwas zu trinken zu besorgen. Wie erwartet ziehen Sina und Chris so ziemlich alles an Blicken auf sich, was an Augenpaaren in diesem Raum vorhanden ist. Ich sehe Wiebke und Pia weiter hinten sitzen und kichernd miteinander tuscheln, während sie Chris beobachten. Hilfe. Ich hoffe, dass sie ihn nicht allzu auffällig belagern oder zweideutige Bemerkungen über mich machen. Aber sie halten sich zurück, begrüßen mich und Lilli gut gelaunt und lassen sich vorstellen, ohne sich allzu sehr daneben zu benehmen. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Lilli sieht mir meine Erleichterung wohl an, denn sie grinst breit und klopft mir beruhigend auf die Schulter. Hier läuft weder Musik, die ich gern höre, noch welche, die Lilli mag. Aber Sina und Nicci scheinen bestens gelaunt zu sein und tanzen ungeniert. Allein würde Nicci sich das wohl nicht trauen, aber Sina hat so eine Art an sich… man fühlt sich einfach unsichtbar, wenn sie da ist, und deswegen wagt man sich auch Dinge, die man sonst eher nicht tun würde. Wer auch immer darüber lacht, der kriegt von Sina ohnehin einen auf den Deckel. Zum gefühlten fünfhundertsten Mal stelle ich fest, dass es unglaublich toll wäre, Sina als große Schwester zu haben. Chris trinkt keinen Alkohol und ich mag ja ohnehin nichts, wo Alkohol drin ist. Lilli, Nicci und Sina amüsieren sich prächtig zu dritt. Ich und Chris sitzen schließlich am Rand und beobachten die drei beim Herumalbern auf der Tanzfläche. »Immer wieder schön zu sehen, über was für Dinge Mädchen sich totlachen können«, bemerkt Chris amüsiert, während wir Lilli, Nicci und Sina dabei beobachten, wie sie sich vor Lachen ausschütten. Wer weiß, worüber sie gerade reden. Ich sehe ungefähr zwanzig Jungs, die zu ihnen hinüber starren. »Ich freu mich, dass sie so viel Spaß haben«, gebe ich ehrlich zurück und kann gar nicht anders, als zu lächeln. »Stell dir nur mal vor wie böse Leon jeden Kerl angesehen hätte, der Nicci anstarrt«, meint Chris schmunzelnd. Er kann es wohl einfach nicht lassen, auf Leon herumzuhacken. Ich beschließe, dass es nicht meine Aufgabe ist, ihn deswegen zu tadeln. Die nächsten zwei Stunden vergehen dank einiger Gespräche mit Mädchen aus meinem Kunstkurs ziemlich schnell. Sina zwingt Chris dazu, mit ihr zu tanzen, und ich muss mich ehrlich bemühen, nicht die ganze Zeit zu den beiden hinzustarren. Chris ist eindeutig kein Tanzmeister und das weiß er wohl auch, weswegen er sich möglichst wenig bewegt. Aber Sina benutzt ihn ohnehin vordergründig als eine Art Gogostange, weswegen die beiden ziemlich aufreizend wirken. Jeder Junge in diesem Raum beneidet Chris. Nur ich nicht. Ich beneide Sina. Auch wenn ich nicht tanzen kann. Lilli und Nicci leisten mir Gesellschaft, während ich meine dritte Cola trinke. »Dein Kunstbild wird so geil«, sagt Lilli begeistert und reibt sich die Hände, während sie Sina und Chris beobachtet. Ich muss lachen. »Es wird schwierig, das Ganze nicht allzu pornographisch aussehen zu lassen. Sina hat da diese Art an sich…«, gebe ich zu bedenken. Benni befindet sich mittlerweile auch im Raum. Ich kann nichts dagegen machen, ich muss ihn dauernd beobachten. Mein Blick schweift also dauernd abwechselnd von Benni zu Chris und wieder zurück. Es ist wohl eine Art Reflex, dass ich immer wissen muss, wo Benni sich befindet, nur um sicherzugehen, dass er nicht plötzlich neben oder hinter mir steht. Immer, wenn ich ihn anschaue, muss ich an die ganzen blauen Flecken denken, die ich gesehen habe, als er sich in der Sportumkleide vor mir umgezogen hat. Dauernd frage ich mich, woher er die wohl hat. Aber es geht mich ja eigentlich wirklich nichts an. »Benni starrt dauernd zu dir rüber«, sagt Lilli. Ich zucke zusammen und laufe rot an. »Wirklich? Ich starre ihn auch dauernd an. Dann verpassen wir uns wohl ständig«, sage ich kleinlaut. Lilli kichert. »Er versucht ja auch, es so unauffällig wie möglich zu machen. Der ist schon total dicht. Kann ja kaum noch grade stehen… und das nach drei Stunden Party. Ziemlich peinlich.« Die nächste Viertelstunde bemühe ich mich krampfhaft, nicht mehr zu Benni hinüber zu sehen. Stattdessen starre ich nun ununterbrochen Chris an, der sich nun von Sina befreit und zu uns herüber kommt. »Deinem Schläger fallen bald die Augen raus, wenn er dich weiter so anglubscht«, ist sein erster Kommentar, als er sich neben mich auf einen Stuhl fallen lässt. Breit grinsend legt er einen Arm um mich und ich spüre, wie mir heiß wird. Und das liegt eindeutig nicht an der Raumtemperatur. »Quatsch«, nuschele ich und spüre überdeutlich das Gewicht von Chris’ Arm auf meinen Schultern. Sina, Lilli und Nicci betrachten uns mit Blicken, die mir noch mehr Hitze in den Kopf steigen lassen, und ich sehe Wiebke und Pia, die hektisch wedelnd weiter hinten bei der Theke stehen und sicherlich jeden Moment anfangen zu hyperventilieren. Oh Mann, ist das peinlich. »Ich geh mal kurz frische Luft schnappen«, sage ich zu Chris und husche durch die Menge nach draußen, wo ich einmal tief durchatme und meinen Becher Cola leere. Ich verdrücke mich ums Haus herum, wo der Sportplatz ans Sportheim grenzt, und lehne mich gegen ein steinernes Waschbecken. Jedes Mal, wenn Chris mich – egal, wie kurz es sein mag – berührt, dreht mein Magen völlig durch und mein Herz platzt beinahe. Selbst wenn ich mich der aberwitzigen Hoffnung hingeben würde, dass das mit uns beiden irgendwann mal was wird, wie genau soll das laufen? Spätestens beim ersten Kuss falle ich tot um. Zugegeben, es wäre ein schöner Tod, aber… Seufzend lehne ich meinen Kopf an die kühle Wand hinter mir. So ein Mist. Wenn ich nur einen Bruchteil von Sinas Selbstbewusstsein hätte, dann würde ich mich neben Chris nicht immer so klein und unwürdig fühlen. Gerade als ich überlege, ob ich nicht langsam wieder rein gehen soll, stolpert jemand an mir vorbei, verschwindet um die Ecke des Hauses und ich blinzele einen Moment lang verdutzt. Das war Benni. Glaube ich. Ich hab nur halb drauf geachtet. Jetzt höre ich eindeutig Würgegeräusche. Also wer immer an mir vorbei gerannt ist, übergibt sich hinter dem Haus. Ich zögere, dann drehe ich mich um und schaue das Waschbecken an. Schließlich drehe ich den Hahn auf und lasse Wasser in den Becher laufen, schließe den Hahn wieder und gehe langsam an der Mauer entlang, bis ich die Ecke erreiche. Es ist dunkel, weil hier lauter Bäume und Gesträuch stehen. Aber die Silhouette ist so eindeutig die von Benni, dass ich einen Augenblick am liebsten hastig umdrehen würde. Er hat die Hände an der Wand abgestützt und sein Kopf hängt nach unten. Ich räuspere mich. »Möchtest du… Wasser?«, frage ich zögerlich. Meine Stimme zittert. Er sieht aus glasigen Augen zu mir auf und es dauert einen Moment, bis er mich erkennt. Ich warte darauf, dass er wütend wird, oder mich angeekelt ansieht. Aber stattdessen verzieht er das Gesicht auf eine Art und Weise, die für mich eher nach Verzweiflung aussieht. Dann dreht er den Kopf wieder weg und hustet. »Was willst du denn hier?«, nuschelt er. Seine Stimme ist leise. Sonst hab ich sie immer nur laut gehört. Oder zischend. Oder verächtlich, höhnisch, angewidert. Gerade hört sich sein Lallen an, als wäre das Gewicht der ganzen Welt auf seinem Rücken abgeladen worden. »Ich…äh…« Ich bin eindeutig überfordert mit diesem betrunkenen, nicht wütenden Benni. Und das ist komisch, weil ich vorher auch überfordert war, wenn er mich so schlecht behandelt hat. »Ich bringe dir… einen Becher Wasser?«, erkläre ich fragend. Er sieht nicht so aus, als würde er sich jeden Moment auf mich stürzen, um mich zu verprügeln. Mein Körper entspannt sich ein wenig und ich strecke die Hand mit dem gefüllten Plastikbecher aus. Es dauert fast eine Minute, bis Benni aufhört zu würgen und erneut den Kopf hebt. Dann streckt er eine deutlich zitternde Hand nach dem Becher aus und trinkt zwei Schlucke. Ich beobachte schweigend, wie er sich den Mund ausspült und angewidert auf den Boden spuckt. »Scheißdreck.« Seit ich ihn in der Umkleide gesehen hab, kann ich an nichts anderes mehr denken als an diese blauen Flecken. Es ist, als würde ich ihn nur noch mit diesen Dingern sehen. Als hätte er gar kein Shirt an. »Alles ok?« Wieso bin ich besorgt um einen Jungen, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat? »Brauchst du noch was? Soll ich dir vielleicht ein belegtes Brötchen holen?« Wieso kann ich nicht wütend auf ihn sein? Egal, was für eine gesunde Reaktion das wäre… ich kann offensichtlich immer nur nett sein. Ich bin nicht sicher, ob das etwas Positives ist. Benni richtet sich auf und sieht mich verschwommen aus seinen glasigen Augen an. Er wankt leicht auf der Stelle und leert dann den Plastikbecher, ehe er ihn mir zurückgibt. Schweigend starren wir uns an, so, als könnten wir beide es nicht wirklich fassen, hier hinter dem Sportheim zu stehen und uns anzusehen. »Wer ist der wichtigste Mensch auf dieser beschissenen Welt für dich?«, fragt er plötzlich. Er lallt eindeutig, aber nicht so sehr, dass man ihn nicht mehr verstehen kann. Die Frage irritiert mich. Wieso fragt er mich so was? Ich zögere und denke nach. »M…meine Ma… denke ich«, sage ich unsicher. Er schweigt wieder einen Moment lang und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. »Und hat dir deine Ma schon mal gesagt, dass du genauso bist, wie das, was sie am allermeisten hasst?« Ich blinzele. Ich kann mir wirklich keinen Reim auf diese Fragen machen. Alles, was mir dazu einfällt, ist, dass Benni offenbar nur deswegen so viel getrunken hat, weil in seinem Privatleben gerade irgendetwas arg schief gelaufen ist. Was auch immer das sein mag. Ich schüttele den Kopf. »Nein. Hat sie nicht. Und das würde sie auch nie tun«, antworte ich behutsam. Benni fährt sich erneut über das Gesicht. In diesem Augenblick ist er alles andere als angsteinflößend oder überheblich. Dass er überhaupt mit mir redet, wundert mich ungemein. Da sieht man mal wieder, was Alkohol aus den Menschen macht. Ich hab mal gehört, dass Menschen die Wahrheit sagen, wenn sie betrunken sind. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Benni zwei Schritte auf mich zu macht. Unweigerlich zucke ich zurück und habe schon halb die Arme gehoben, um ihn mir vom Leib zu halten… da kippt er gegen mich und sein Kopf landet auf meiner Schulter. Ich schwanke leicht unter dem Gewicht, schaffe es jedoch, stehen zu bleiben. Um Himmels Willen, was ist jetzt los? Mein Herz rast wie verrückt und mein ganzer Körper ist stocksteif. »Es tut mir Leid…« Seine Stimme ist so leise und heiser. Eine Sekunde lang bin ich sicher, dass ich mich verhört habe. Aber er sagt es noch mal. Und noch einmal. Und nach dem vierten Mal kann ich nicht anders, ich hebe zitternd die Arme und lege meine Hände sachte auf Bennis Rücken. »Verfluchte Scheiße, es tut mir so Leid…« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)