Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 11: Mut --------------- Es hat funktioniert. Ich kann es gar nicht fassen! Aber endlich habe ich auch mal jemandem helfen können. Und dann war es auch noch Christian! Ich bin von diesem Gedanken so beflügelt, dass ich noch am Montag in der Schule extrem gute Laune habe. Mathe vergeht wie im Flug und selbst Bennis Bemerkungen können mir heute nichts anhaben. Ich habe dabei geholfen, dass sich Christian und Jakob wieder vertragen haben. Ich habe mich so über die kurze SMS von Christian gefreut, mein Magen hat gekribbelt wie ein Ameisenhaufen. In Physik habe ich ausnahmsweise sogar meine Hausaufgaben richtig und ich wage es, eine der Aufgaben an der Tafel zu lösen. Mein Physiklehrer ist genauso verdutzt wie ich. Aber es ist ein gutes Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. Als Benni mir im Vorbeigehen ›Schwuchtel‹ zuzischt, strahle ich ihn an, als hätte er mir das schönste Kompliment auf Erden gemacht. Zu meiner grenzenlosen Überraschung stutzt Benni, blinzelt verwirrt und läuft rot an. Ob Christians Theorie mit dem Schwulsein doch stimmt? Noch besser kann meine Laune eigentlich gar nicht werden. Ich summe sogar auf dem Weg zu Englisch. Es geht heute um soziale Randgruppen und wir lesen ein paar kurze Texte aus unserem Buch. Dann sollen wir ein Brainstorming machen und Gruppen an die Tafel schreiben, die wir als Randgruppen empfinden. Mein Herz hämmert wie verrückt, als ich aufstehe und ein Stück Kreide ergreife. »Homosexuals« schreibe ich mit leicht zittrigen Fingern. Aus der hinteren Reihe höre ich Benni laut schnauben. Um mein Stichwort herum stehen Obdachlose, Ausländer, Behinderte… Als ich mich auf meinen Platz setze, sehe ich wie Benni aus dem Fenster starrt. Ausnahmsweise bewirft er mich nicht mit Papierkügelchen. Irgendetwas ist anders. »Well then, I guess everybody could explain his or her point in a few words!«, sagt Frau Liebknecht bestens gelaunt und ihr bunter Rock flattert wie verrückt, während sie vor der Tafel auf und ab schreitet und aufmerksam in die Runde schaut. Ich erinnere mich an Christians Worte. Menschen wollen einen in Schubladen stecken. Sie wollen einen einordnen, sonst sind sie unsicher. Es kann nicht schaden, es herum zu posaunen. Also hebe ich leicht zitternd die Hand. Und dann erkläre ich, wieso ich der Meinung bin, dass Homosexuelle einer Randgruppe angehören. Ich höre Benni erneut schnauben. »Kennst du dich ja auch bestens mit aus, oder?«, fragt er laut. Es soll wohl beleidigend klingen. Aber diesmal will ich nicht kuschen. »Ja. Tu ich auch. Na und?« Eine dröhnende Stille tritt ein und alle starren mich an. Oh. Mein. Gott. Habe ich mich gerade geoutet? In meinem Englischkurs? Ich habe mich geoutet… Selbst Frau Liebknecht sieht einen Moment lang verwirrt aus, dann lächelt sie jedoch. »Well said, Anjo«, meint sie wieder voller Enthusiasmus, dann ruft sie den nächsten auf. In meinen Ohren rauscht es richtig. Ich habe es gesagt! Und es fühlt sich richtig gut an, irgendwie so, als wäre ich plötzlich leicht wie eine Feder. Ich drehe mich zu Benni um. Er starrt mich schon wieder an, als sei ich eine feindliche Invasionsarmee. Aber sein Blick ist nicht nur feindselig, sondern auch irgendwie verunsichert. Aber vielleicht bilde ich mir das auch alles nur ein. Die Englischstunde verfliegt ziemlich schnell und ich höre immer wieder Tuscheln und spüre Blicke auf mir. Lilli sieht mich an und ich schaffe ein halbes Lächeln, das sie erwidert. Das ist wirklich der beste Schultag seit langem. Als ich in der nächsten großen Pause – vor dem Sportunterricht – einen Muffin esse, kommt Lilli zu mir und setzt sich neben mich. Ich sehe sie von der Seite an und halte ihr dann ein Stück Muffin hin. Sie nimmt es. »Das war ziemlich gut«, sagt sie und beißt vom Muffin ab. Ich sehe sie fragend an. »Was du in Englisch gemacht hast. Das war echt toll«, erklärt sie. Ihre pinken Haare sind wie ein Leuchtfeuer in der Eingangshalle. Ich lächele verlegen. »Ich dachte, ich sterbe«, gebe ich zu und sie lacht leise. »Aber du hast es geschafft«, meint sie und ich nicke. Dann beiße ich noch mal von meinem Muffin ab und reiche Lilli den Rest, den sie dankend nimmt. Es ist ein gutes Gefühl mit jemandem einen Muffin zu teilen. Ich hatte sonst nie jemanden, mit dem ich etwas hätte teilen können. Lilli und ich reden über Kunst und die kommenden Sommerferien, bis es schließlich zum Sportunterricht klingelt. Zum ersten Mal gehe ich nicht allein zu den Umkleiden. Es ist merkwürdig und schön und meine Laune kann kaum davon getrübt werden, dass nun mein meistgehasstes Fach stattfindet. »Du schaffst das schon«, sagt sie aufmunternd, als ich kurz vor der Umkleidentür stehen bleibe und tief durchatme. Ich nicke, dann richte ich mich auf und bemühe mich, meinen Kopf nicht einzuziehen. So wie Christian es gesagt hat. Nicht nach unten schauen. Nicht zu leise sprechen. Ich klopfe an die Tür und Daniel öffnet, sieht mich kurz leicht irritiert an und lässt mich rein. Wahrscheinlich haben sie es alle schon gehört. Benni hat es garantiert jedem unter die Nase gerieben. Niemand reißt irgendwelche Sprüche. Sie starren nur ständig zu mir herüber, während ich mich ausziehe und in meine Sportsachen schlüpfe. Benni ist nicht da. Als ich in die Sporthalle komme, sitzt er mit seinen Kumpels schon an der Seite auf ein paar Kästen und unterhält sich. Ich ignoriere ihn so gut es geht und lasse mich einfach an der Wand auf den Boden sinken. Als Lilli in die Halle kommt, setzt sie sich zu mir und sieht zu Benni hinüber. »Irgendwie kriegt er sein Maul nicht mehr auf, seit du dich geoutet hast«, sagt Lilli und streckt ihre langen, blassen Beine vor sich aus, die in dunkelblauen, knielangen Shorts stecken. Mit dem ärmellosen Shirt, das sie trägt, sieht sie aus wie eine kleine Basketballspielerin. »Kann mir nur recht sein«, sage ich seufzend und fahre mir durch die Haare. Sie beobachtet mich einen Moment lang von der Seite. »Wie kommt’s eigentlich? Vor ein paar Wochen sah es noch nicht danach aus, als würdest du ihm die Stirn bieten wollen.« Ich räuspere mich verlegen und denke an Christian. Unweigerlich fängt mein Herz an zu hämmern und meine Wangen werden heiß. »Ähm… es gibt da diesen… also… er heißt Christian und er hat mir aus der Patsche geholfen, als Benni und seine Freunde mich verprügeln wollten. Und seitdem treffen wir uns ab und an und er… bemüht sich die ganze Zeit, mein Selbstbewusstsein ein wenig aufzupolieren«, erkläre ich etwas peinlich berührt und Lilli grinst mich breit an. »Aha! Bist du verknallt?«, will sie wissen und ich seufze leise. Dann nicke ich. »Der muss ja ein ziemlich toller Hecht sein«, sagt Lilli leise glucksend und steht auf, als der Rest der Klasse eintrudelt. Sie hält mir die Hand hin und hilft mir auf und ich fühle mich unweigerlich an Christian erinnert, auch wenn ich hier gerade nicht in Schwierigkeiten bin. »Ja. Das ist er«, murmele ich leise und lächele sie unsicher an. Heute spielen wir Gott sei Dank kein Handball mehr. Ich mag Handball nicht besonders, aber sprinten ist auch nicht unbedingt besser. Wir gehen raus auf den Sportplatz, der an unsere Schule grenzt und stehen in der prallen Sonne. Lilli ist in ihrem Element. Leichtathletik ist total ihr Ding, das merke ich jetzt das erste Mal bewusst. Sie ist klein und zierlich, aber sie rennt so schnell, dass keines der anderen Mädchen sie einholen kann und selbst Benni, der bei den Jungs der schnellste ist, kann kaum mit ihr gleichziehen. Ich bin nicht allzu schnell, aber immerhin bin ich auch nicht der langsamste. Es ist die erste Sportstunde, in der absolut nichts passiert, was mir den Tag vermiesen könnte. Die Grimassen, die mir Bennis Freunde schneiden und die gezischten Beleidigungen, wenn sie an mir vorbei gehen, können mir nichts anhaben. Nicht heute. Trotzdem lasse ich mir vorsichtshalber Zeit, bis ich in die Umkleide gehe. Ich habe keine Lust mir meine gute Laune verderben zu lassen. Sie ist sogar noch besser geworden, weil Lilli und ich zwischen zwei Sprints festgestellt haben, dass sie auf ihrem Schulweg an meinem Haus vorbei kommt. Und sie hat gefragt, ob sie mich morgen früh abholen soll. Es fühlt sich an, als wäre auf einen Schlag alles gut. Als ich die Umkleide betrete, sind nur noch drei Leute da. Kevin, Daniel und… Benni. Ich gebe mir Mühe, keinen der Drei zu beachten und ziehe mich rasch um. Als die Tür geht, habe ich es im Gefühl, dass ich jetzt mit Benni allein bin. Mein Herz hämmert unangenehm. Immer noch ist da die Angst. Aber ich schaue kurz hinunter auf meine Hand und balle sie zur Faust. Christian hat mir gezeigt, wie man eine richtige Faust macht. Nicht den Daumen einklemmen, der bricht sonst, wenn man zuschlägt. »Fühlst dich jetzt wohl toll, weil der ganze Jahrgang weiß, dass du ne Schwuchtel bist, was?«, fragt Benni plötzlich und seine Stimme ist so nah, dass ich unweigerlich zusammen zucke und mich hastig umdrehe. Da steht er vor mir und sieht mich an, als wäre ich der Grund für alles Schlechte in seinem Leben. Wir sind kaum zwei Schritte voneinander entfernt. Mein Herz legt einen Zahn zu und ich schlucke. Nicht zurückweichen. Nicht nach unten sehen. Nicht zu leise sprechen. Ich atme einmal tief durch und dann sage ich es. »Lass mich in Frieden.« Ein leichtes Zittern in der Stimme kann ich nicht verhindern. Aber ich sehe ihn direkt an und ich habe keinen Schritt rückwärts gemacht, wie ich es sonst immer getan habe. »Ach? Und was, wenn ich das aber nicht will?«, fragt er mit einem spöttischen Unterton. Denk an Christian. Immer an Christian denken. Ich kann das… Aber Benni hebt nicht die Hand. Er macht keine Anstalten mir irgendwie wehzutun, als hätte er Angst davor mich anzufassen. »Wieso stört es dich so, dass ich schwul bin?«, frage ich also, immer noch mit leicht zittriger Stimme und bei dem Wort ›schwul‹ zuckt Benni leicht zurück und er sieht wütend aus, weil ich es einfach so gesagt habe. »Weil’s abartig ist«, zischt er, dreht sich um und stapft hinüber zu seinen Sachen, um seinen Rucksack aufzusetzen. Was soll ich dazu sagen? Wenn er das findet, dann soll er es eben finden. Ich bin froh, wenn er mich in Ruhe lässt. Und genau das tut er. Denn im nächsten Moment reißt er die Tür der Umkleide auf und verschwindet so schnell, als würde er vor mir fliehen wollen. Oder vor sich selbst, wenn ich Christian glauben kann. Als ich aus der Umkleide trete, wartet Lilli auf mich. Es ist ungewohnt, aber ich freue mich sehr darüber. Es scheint ganz so, als könnte sie nun mehr mit mir anfangen, nachdem ich mich nicht mehr ständig verkrieche. Ich erinnere mich daran, wie sauer sie war und wie sie gefragt hat, ob ich keinen Stolz hätte. »Ab Donnerstag haben wir eine Ausstellung über moderne Kunst hier in der Stadt«, sagt Lilli kurz bevor wir an meiner Haustür angekommen sind. »Hast du Lust mit hin zu gehen?« Ich strahle sie an und sie lacht. »Ja, klar.« »Super. Ich hol dich dann morgen um halb acht ab«, sagt sie und winkt mir noch. Ich sehe ihr nach, bis der pinke Haarschopf um eine Ecke verschwunden ist. Im Moment fühle ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)