Kryptonit von Ur (Jeder Held hat eine Schwäche) ================================================================================ Kapitel 1: Helden ----------------- Hier haben wir also das erste Kapitel von Kryptonit :) Die Kapitel werden abwechselnd aus Anjos und Christians Sicht geschrieben. Ich hoffe, dass es euch gefällt und ich freue mich wie immer über euer Feedback! Liebe Grüße :) ______________________ Mein Leben ist ziemlich monoton. Es ist nicht so, als würde nicht jeden Tag etwas Neues passieren, aber die Art der Geschehnisse ist eigentlich immer die gleiche. Es beginnt mit einem Weckerklingeln, mit einem hastigen Frühstück und der täglichen Panik, in die Schule gehen zu müssen. Wenn ich nicht so nah an meinem Abitur wäre, dann hätte ich wohlmöglich alles hingeworfen und wäre in ein fremdes Land ausgewandert. Irgendwohin, wo es keine Menschen gibt, die mir jeden Tag das Leben zur Hölle machen können. Wenn ich dann geduscht und meinem Vater einen schönen Tag gewünscht habe, gehe ich zu Fuß zur Schule, um die Zeit der Ankunft so lang wie möglich herauszuzögern. Je näher ich der Schule komme, desto schwerer werden meine Schritte. Als würden meine Füße in den Gehweg einsinken. Manch einer mag sich fragen, wieso ein Achtzehnjähriger Angst vor der Schule hat. Ich bin nicht schlecht in der Schule, aber auch nicht überragend. Mein bestes Fach ist Kunst. Und weil ich im Kunst- Leistungskurs nur Mädchen habe, ist es das angenehmste Fach. Leider Gottes kann man nicht jeden Tag sechs Schulstunden Kunst haben, sonst wäre mein Leben vielleicht ein wenig angenehmer. Mädchen sind nämlich irgendwie… netter als Jungs. Vor allem dann, wenn die Jungs vermuten, dass man schwul ist. Dann fühlen sie sich bedrängt und gefährdet und tun alles, um sich von dem vermeintlich Schwulen zu distanzieren. Sie gehen sogar soweit, den Schwulen in Besenschränke zu sperren, ihm Kaugummis auf den Stuhl zu kleben oder Dinge an die Tafel zu schreiben wie ›Anjo ist eine Schwuchtel‹. Ja, ich bin Anjo und ich rede hier gerade von mir. Die männliche Hälfte meines Jahrgangs scheint geschlossen davon überzeugt zu sein, dass ich schwul bin. Dummerweise habe ich mich in diesen Schlamassel selbst hinein geritten. Benni, ein Kerl aus meinem Jahrgang, hat mich reingelegt. Er kam das eine Mal nach dem Sportunterricht zu mir, als alle anderen schon gegangen sind und dann hat er so getan, als wäre er an mir interessiert. Und ich hab nicht verstanden, dass er sich nur lustig über mich macht. Und prompt bin ich drauf angesprungen und rot geworden und hab rumgestottert. Das hat er als Beweis gewertet und es überhall rumposaunt. Allerdings so, dass alle denken, ich hätte ihn angebaggert. Benni ist derjenige, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, mich zu demütigen. Er ist der Anführer von denen, die den Tag für verschwendet halten, wenn sie mich nicht mindestens drei Mal fertig gemacht haben. Auch heute fühlt sich mein Magen an wie ein tonnenschwerer Stein, als das Schulgebäude in Sicht kommt. Es ist ein hübscher Backsteinbau mit hohen Fenstern und Bäumen ringsum. Für mich ist es die Hölle. Schüler strömen hinein und ich schließe mich der Masse an. Manchmal wünsche ich mir einfach in der Menge zu versinken. Die schwere Holztür ist eigentlich sehr hübsch. Aber auf mich wirkt sie bedrohlich und einschüchternd. Die ersten beiden Stunden habe ich Politik. Immerhin, Benni ist nicht in meinem Politikkurs. Dafür habe ich ihn in den nächsten beiden Stunden Bio direkt gegenüber in der Hufeisensitzordnung… Und das allerschlimmste am heutigen Tag ist der Sportunterricht. Ich kann Sport nicht ausstehen und der Sport mag mich auch nicht. Aber das ist noch nicht das schlimmste daran. Sport mit vorher und nachher umziehen in der Umkleide. Jungs, die schlecht in Sport sind, sind uncool. Wenn sie dann auch noch schwul sind, dann ist sowieso Hopfen und Malz verloren. Ich will eigentlich gar nicht daran denken, was passiert, wenn ich nachher in die Umkleide komme. Politik verläuft relativ ruhig. Ich werde lediglich mit Papierkügelchen beworfen. An so etwas habe ich mich schon gewöhnt und ich schaffe es, das zu ignorieren. Schwieriger ist es dann in Bio. Kaum komme ich rein, fliegt mir ein durchnässter Schwamm entgegen. Natürlich genau in den Schritt. Ich starre hinunter auf meine nasse Hose, die aussieht, als hätte ich eine akute Blasenschwäche. Mein Herz hat sich versteinert und hängt schwer in meiner Brust. Die Jungs grölen und reißen ihre Witze. Ich wende mich ab und schiebe mich an der Wand entlang auf meinen Platz zu, wo ich mich hinsetze und versuche so zu tun, als wäre ich gar nicht da. Wie immer gelingt mir das nicht. »Na, hast du dir in Hose gemacht?«, stichelt Thomas. Einer von Bennis Kumpels. »Sollen wir dir ’ne Windel besorgen?«, höhnt Benni. Erneut dröhnendes Gelächter. Ich starre einfach zur Tür und hoffe, dass unsere Lehrerin bald kommt. Die meisten im Kurs schwatzen und achten gar nicht auf Bennis Leute. Und schon gar nicht achten sie auf mich. Die feuchte Jeans fühlt sich unangenehm auf meiner Haut an, aber ich kann ja doch nichts dagegen machen. Während ich die Tür anstarre, kommt Lilli rein. Lilli sieht aus wie ein Leuchtfeuer, weil sie pinke Haare hat. Sie hebt den Schwamm auf und legt ihn in die Halterung an der Tafel, dann setzt sie sich auf ihren Platz neben Benni. Lilli ist die Einzige, die alle Kurse mit mir hat. Sie ist wirklich gut in Kunst und auch in Sport. Ich glaube sie hat irgendwann mal erzählt, dass sie Leichtathletik im Verein macht. Lilli ist mit niemandem im Jahrgang befreundet. Es wirkt immer so, als fände sie die Leute langweilig oder einfach nur blöd, mit denen sie hier zur Schule geht. Ich kann das irgendwie verstehen. Aber sie steht da drüber. Es stört sie nicht, dass sie hier niemanden hat. Weil sie selbstbewusst genug ist. Ich dagegen habe überhaupt kein Fünkchen Selbstbewusstsein. Und dann kommt endlich Frau Niehoff rein und beendet das Gegröle über meine durchnässte Hose. Benni lässt es sich nicht nehmen, mich ebenfalls mit Papierkügelchen zu bewerfen. Lilli findet das scheinbar extrem nervig, denn irgendwann rammt sie Benni mit aller Kraft den Ellbogen in die Seite, sodass er erstickt aufjault und sie zornig anschaut. Ich starre konzentriert nach vorne und tue so, als würde ich nichts sehen und nicht hören. Am besten ich versinke im Boden. »Herr Wehrmann, wären Sie so freundlich jetzt endlich Ihren Schnabel zu halten?«, herrscht Frau Niehoff Benni an, der Lilli halblaut zischend anschnauzt. Er schnaubt angefressen und verschränkt die Arme vor der Brust. Insgeheim hoffe ich, dass ihm die Rippen ordentlich wehtun. In der großen Pause verkrieche ich mich in eine entlegene Ecke auf dem Schulhof, um wenigstens zwanzig Minuten meine Ruhe zu haben. Ich esse mein Pausenbrot und ignoriere meine Bauchschmerzen angesichts der unangenehmen Vorstellung, gleich Sportunterricht zu haben. Ich glaube, vorm Sportunterricht habe ich am meisten Angst. Und wirklich Angst. Panik. Ich fühl mich in meinem verkorksten Leben ohnehin schon so allein gelassen und dann auch noch Sportunterricht mit einer Meute Kerle, die es alle auf mich abgesehen haben. Im Sportunterricht kann man sich nicht verstecken. Und es stehen keine Tische und Stühle zwischen mir und den Jungs. Kein Lehrer hat die ganze Zeit eine geordnet sitzende Klasse im Auge. Im Sportunterricht kann alles passieren. Es war schon oft genug der Fall, dass mich die Jungs mit Bällen beworfen oder mich im Volleyballnetz eingewickelt haben, ohne dass Herr Schneider es mitbekommen hätte. Das Klingeln klingt wie der Aufruf, an den Galgen zu treten. Mit hämmerndem Herzen und feuchten Händen mache ich mich auf den Weg zur Umkleide. Ich bin sicher der letzte, weil ich extra lang getrödelt habe. Ich stehe eine halbe Minute vor der Umkleidentür und höre sie drinnen reden und lachen. Mein Magen stülpt sich um, als ich nach der Türklinke greife und… sie nicht herunter drücken kann. Ich probiere es zwei Mal, aber es geht einfach nicht. Mein Herz rutscht mir in die Hose und ich spüre einen dicken Kloß im Hals. Drinnen ist es plötzlich mucksmäuschenstill. Ich stehe vor der Tür und möchte eigentlich nur noch sterben. Warum muss mir das immer passieren? Ich wollte doch nur so spät kommen, damit alle anderen schon fertig umgezogen sind. Und jetzt haben sie – wie auch immer – die blöde Tür zugesperrt. »Schwuchteln müssen sich bei den Mädchen umziehen«, höre ich Bennis Stimme von innen poltern und wieder lachen sie. Wenn ich jetzt noch anfange zu heulen, dann kann ich mich auch gleich vor ein fahrendes Auto werfen. Aber ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich kann nicht schon wieder schwänzen, ich hab schon so viele Fehlstunden in Sport. Meine Augen huschen hinüber zu der Mädchenumkleide. Ich kann da doch nicht anklopfen. Die würde mich steinigen und dann bin ich plötzlich der Spanner und… wie viel Pech kann ein einziger Mensch eigentlich haben? Das ist seit langem der mieseste Tag in meinem Leben. Und das will schon was heißen, weil eigentlich jeder Tag mies ist. Meine Hose ist immer noch feucht und ich habe mich ein winziges bisschen drauf gefreut, sie endlich loszuwerden. Aber jetzt…? Ich erwarte meinen frühzeitigen Tod, als ich leise bei den Mädchen anklopfe. Mit gesenktem Kopf stehe ich vor der Tür. Als sie geöffnet wird, will ich am liebsten wegrennen. »Ähm… hast du dich in der Tür geirrt?«, fragt eine Stimme und ich erkenne Lilli. Ich hebe den Kopf und fange zu allem Übel auch noch an zu stottern. »Es ist… also… die Jungs haben die Tür von innen… ich komm nicht rein…« Lilli sieht mich einen Moment lang an, dann schüttelt sie den Kopf. Ich bin mir sicher, dass sie sauer aussieht. Ob sie jetzt sauer auf mich ist, weil ich mich nicht durchsetzen kann? Ich schlucke schwer. »Mädels, seid ihr angezogen?«, ruft sie zurück in die Kabine. Vielstimmiges Bejahen. Lilli reißt die Tür auf und packt mich am Handgelenk. »Ist dir das nicht langsam zu viel? Hast du nicht das Bedürfnis, Benni mal so richtig eine reinzuhauen?«, motzt sie mich an, während sie mich durch die Umkleide schleift, an den Mädchen vorbei, die allesamt ziemlich verwirrt aussehen. »Ja klar… und zwei Sekunden später haben seine Kumpels mich erwürgt«, gebe ich kleinlaut zurück. Sie schnaubt. »Schon mal was von Stolz gehört?«, will sie wissen, lässt mich los und reißt die Innentür der Jungenkabine auf. Hier und da hört man ein erschrockenes Geräusch. Lilli stapft ungerührt durch die Umkleide, zieht den Besen unter der Türklinke weg, den Benni da hingeschoben hat, um die Klinke zu blockieren und dreht sich um. Benni ist schon umgezogen und starrt zu Lilli. Es sieht aus, als würde sie gleich Funken sprühen und mit dem Besen auf ihn losgehen. »Gehörst du nicht in die andere Umkleide?«, fragt Benni lässig. »Halt die Schnauze«, pault Lilli ihn an und schmeißt den Besen in die nächstbeste Ecke, »und werd erwachsen. Elendes Weichei!« Und dann stapft sie an den Jungs und mir vorbei und verschwindet im Eingang zur Halle. Jetzt stehe ich hier. Und die Jungs sehen allesamt ziemlich verblüfft aus. Bennis Augen flackern zu mir herüber und ich möchte auf der Stelle tot umfallen oder unsichtbar werden. »Na, warst du petzen? Hast dir einen Wachhund angeschafft, oder was?«, fragt er sauer und kommt zu mir herüber. Ich mache automatisch einen Schritt rückwärts und kralle meine Finger in meine Hosenbeine. »So wie die sich benimmt, geht sie auch eher als Kerl durch«, höhnt Benni, »ist ja dann genau das richtige für dich. So ein Mannsweib!« Dann geht er an mir vorbei, nicht ohne mich mit seiner Schulter heftig zu stoßen, sodass ich gegen die Wand stolpere. Nach und nach leert sich die Umkleide und ich trete schließlich ein, um mich umzuziehen. Kann dieser Tag noch schlimmer werden? Fast kann ich es mir nicht vorstellen. Aber auf dem Weg nach Hause wird mir klar, dass es in meinem Leben immer noch ein bisschen schlimmer geht. Der Sportunterricht selbst ist zwar ganz ok – auch wenn ich Handball furchtbar finde und mehr als einmal einen Ball in den Rücken bekomme. Ich ziehe mich einfach auf dem Klo um und verschwinde dann so schnell ich kann. Aber leider war das wohl nicht schnell genug. Zwischen Heinrich- und Karlstraße sehe ich mich plötzlich Benni und zwei seiner Freunde gegenüber. Ich hasse mein Leben. Warum…? Und warum müssen sie sich jetzt vor mir aufbauen wie drei Kleiderschränke? Warum bin ich so klein und schmächtig und wieso kann ich sie nicht einfach anmotzen, dass sie mich in Frieden lassen sollen? Weil ich keinen Stolz habe, wie Lilli gesagt hat? Weil ich mich selbst nicht mag? Weil mein Ego praktisch nonexistent ist? Ich kriege Panik. Der Versuch, die Straßenseite zu wechseln, schlägt fehl. Weil Richard mich am Arm festhält und zurückzieht. Danach wischt er sich demonstrativ die Hand an seiner Hose ab und verzieht das Gesicht. »Ich muss dringend duschen. Jetzt hab ich die Schwuchtel aus Versehen angefasst«, meint er. Benni grinst. Ich hasse sein schiefes Grinsen. Es sagt deutlich, dass er mich für Dreck hält. Für weniger als Dreck. »Wir hätten Handschuhe mitnehmen sollen«, pflichtet Christopher ihm bei. Was soll das heißen? Handschuhe? Weil sie mich nicht direkt berühren wollen? Die wollen mich doch jetzt nicht etwa verprügeln, weil ich vorhin wirklich durch die Mädchenumkleide gegangen bin…? Aber es sieht ganz so aus, denn als nächstes spüre ich eine harte Häuserwand in meinem Nacken und eine unnachgiebige Hand an meinem Kragen. »Du hättest einfach draußen bleiben sollen«, sagt Benni in diesem elenden Plauderton. Ich winde mich leicht in seinem Griff und ernte prompt ein heftiges Drücken an die kalte Steinwand hinter mir. Meine Augenwinkel brennen. Ich will jetzt nicht heulen. Wieso ist meine Kehle so trocken? Warum kann ich nicht einfach sagen, dass er mich loslassen soll. »Wir haben echt keinen Bock drauf, von dir angegafft zu werden, wenn wir uns umziehen«, meint Richard. »Ja… wir haben dir doch gesagt, dass Schwuchteln nicht in die Männerumkleide gehören«, fügt Christopher hinzu. »Ach so?«, höre ich eine Stimme hinter Benni. Ich kenne die Stimme nicht. Und ich will einfach nur noch sterben. Benni lässt meinen Kragen los und ich sacke zusammen, weil meine Knie sich wie Pudding anfühlen. »Was willst du denn?«, fragt er abschätzend. Ich wage es nicht mal, meinen Kopf zu heben. »Eigentlich würde ich dir jetzt gern eine rein schlagen«, meint der Fremde in einem beiläufigen Ton. »Und wieso, wenn ich fragen darf? Unser Gespräch geht dich jawohl nichts an«, sagt Christopher großspurig. »Ich fühl mich immer so angesprochen, wenn jemand schlecht über Homosexuelle redet, weißt du«, fährt der Fremde fort, »oder wenn man das Wort Schwuchtel benutzt.« »Das interessiert uns einen Scheißdreck. Und jetzt verpiss dich«, knurrt Richard. Der Fremde lacht leise. »Hey, Kleiner«, sagt er dann und ich verstehe erst gar nicht, dass er mich damit meint. Ich hebe den Kopf und sehe auf zu einem jungen Mann mit zerzausten Haaren und einem schiefen Grinsen. Er trägt ein weißes Shirt und ist um einiges größer als Benni und seine Freunde. Es dauert noch zehn weitere Sekunden, bis ich feststelle, dass der Typ mir seine Hand hinhält. Ich starre darauf, dann strecke ich zögernd meine zitternden Finger aus und lasse mich hochziehen. Fast rechne ich damit, dass er mich wieder fallen lässt. Vielleicht ist das alles inszeniert und das ist eigentlich auch einer von Bennis Freunden. »Alter, ich hab gesagt du sollst dich verziehen!«, herrscht Benni ihn an, aber da hat der Kerl Benni schon am Kragen gepackt, so wie Benni mich vorher. Nur, dass Benni jetzt ein paar Zentimeter über dem Boden hängt und erschrocken nach Luft schnappt. »Sei froh, dass ich dir nicht deinen Schädel zu Brei haue«, knurrt der Fremde und sieht wirklich ziemlich bedrohlich aus. Dann lässt er Benni los, der sich an den Hals fährt und den Unbekannten wütend anstarrt. Der lässt sich jedoch nicht beeindrucken. Er sieht so muskulös aus, als würde er viel Sport machen. Und als könnte er alle Drei auf einmal zu Matsch verarbeiten. Und dann sieht er mich an und ich zucke unweigerlich zusammen, was ihn dazu bringt, erstaunt die Brauen hochzuziehen. »Kommst du jetzt, oder was?«, fragt er, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und setzt seinen Weg fort. Ich folge ihm mit wackeligen Beinen, ohne einen Blick zurück zu werfen. Morgen kriege ich das alles wieder, da bin ich mir sicher. Ob ich nun was für diese Einmischung kann, oder nicht. Ich bin ja ohnehin an allem Schuld. »Du solltest dich nicht so unterbuttern lassen«, meint der Fremde und wirft mir einen Seitenblick zu. »Wenn man so groß ist, kann man leicht daher reden«, platzt es bitter aus mir heraus. Der unbekannte Retter lacht. »Hat nichts mit körperlicher Größe zu tun, Kleiner. Sondern mit innerer Größe«, sagt er und folgt mir, als ich abbiege. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich hab nun mal keine innere Größe. Woher auch? »Wie heißt du?«, frage ich und sehe ihn unsicher von der Seite her an. »Christian«, gibt er zurück, »und du?« »Anjo«, sage ich leise. »Ungewöhnlicher Name«, sagt er und mustert mich von der Seite. Hier und da schauen zwischen den Wolken Teile des blauen Himmels hervor. »Das ist auch das einzige, was an mir ungewöhnlich ist«, murmele ich niedergeschlagen. Ich hab das Gefühl, immer noch zu zittern. Wenn sie mich heute nicht verprügeln konnten, dann machen sie es sicher morgen. Oder übermorgen. Oder nächste Woche. »Und dein Selbstbewusstsein ist so winzig, weil du schwul bist?«, will Christian wissen und sieht ziemlich lässig aus, wie er die Hände in den Hosentaschen stecken hat. Der hatte sicher nie Probleme mit Mobbing. »Keine Ahnung«, sage ich mit zittriger Stimme. Ich sehe Christian von der Seite an. Unter dem Shirt zeichnen sich deutlich seine Muskeln ab. Er hat einen Kapuzenpulli um die Hüfte geschlungen. Wahrscheinlich kann er das einfach nicht verstehen, wie es ist, wenn man kein Selbstbewusstsein hat. »Die meisten Leute wollen einen in eine Schublade stecken. Deswegen sind sie unsicher, wenn sie nicht genau wissen, woran sie sind. Also schadet es nicht, herum zu posaunen, dass man schwul ist«, sagt er und hält schließlich vor einem weißen Mehrfamilienhaus. »Ich wohne hier«, erklärt er und kramt nach seinem Schlüssel. »Danke… für vorhin«, sage ich und denke über seine Worte nach. Das Zittern will nicht verschwinden und der Wind macht es auch nicht besser. Heute Morgen schien noch die Sonne, deswegen habe ich keine Jacke mitgenommen. Ich starre auf den Fußboden. Christian sagt nichts zu meinem Dank. Stattdessen spüre ich, wie sich warmer Stoff um meinen Körper legt. Christian hat mir seinen Kapuzenpulli umgehängt. Ich sehe mit hämmerndem Herzen zu ihm auf. Er grinst breit und zwinkert. »Kopf hoch, Anjo«, sagt er, dann ist er plötzlich weg. Und ich stehe da und starre auf die geschlossene Tür wie ein Reh ins Licht des heranrasenden Autos. Der Stoff um meine Schultern fühlt sich wunderbar warm und weich an. Mein Herz hämmert. Christian… Unweigerlich denke ich an die Comics, die ich gern zeichne und lese und in denen Helden die Welt retten. Ich habe nie geahnt oder daran geglaubt, dass es solche Helden wirklich gibt. Aber gerade wurde ich eines Besseren belehrt. Ich ziehe den Pulli behutsam an und sehe hoch zum Himmel. Jetzt geht es mir ein kleines bisschen besser. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)