Abseits des Weges von Flordelis (Erinnerungen sind wie Fragmente) ================================================================================ Erinnerungen im Winter ---------------------- Normalerweise war Cherrygrove im Winter kein sonderlich schöner Anblick. Die kleine Stadt, fast eher ein Dorf, lag in einer Umgebung, in der es eigentlich nur selten schneite. Im Winter wurde es zwar kalt, die kahlen Äste der Kirschbäume, die dem Ort zu seinem Namen verholfen hatten, ragten wie unheimliche schwarze Finger in den grauen Himmel als versuchten sie diesen um Hilfe anzuflehen, aber es schneite nicht. Oriana wusste sogar, dass Landis als Kind im Winter oft Angst vor dem Baum verspürt hatte, der direkt vor seinem damaligen Fenster stand. Es sah tatsächlich so aus als würde er seinen Ast in Richtung der Scheibe strecken und die Finger beugen als würde er ein williges Opfer mit knorrigen Gelenken herauslocken wollen. Blieb nur noch die Frage, was er danach mit dem Betroffenen tun würde... Doch der Gedanke entfloh Oriana rasch, da er von ihrer Glückseligkeit verscheucht wurde. In ihrem derzeitigen Zustand spürte sie nicht einmal die Kälte, die sich trotz ihres Mantels und ihrer Handschuhe an ihr festzuklammern versuchte und damit auch erfolgreich wäre, wenn ihre aufgeregten Gedanken sich nicht um gänzlich andere Themen drehen würden und ihr damit die Temperaturen egal sein ließen. Warum sie nach dem Hören dieser Nachricht zuerst den Weg zu dem Baum hinter Landis' altem Haus gesucht hatte, war ihr unerklärlich, aber sie stellte erfreut fest, dass er ihr zum ersten Mal weniger bedrohlich als früher erschien – und auch weniger bedrückend. Es lag, davon war sie überzeugt, teilweise daran, dass sie erwachsen geworden war und sich nun nicht mehr von Schatten einschüchtern ließ, da sie gelernt hatte, dass sich in ihnen nichts Gefährliches versteckte. Zum anderen lag es aber auch an dem, was sie soeben erfahren hatte und das erklärte, woher ihr Unwohlsein der letzten Wochen rührte. Es stimmte sie glücklich, vergnügt wie ein kleines Kind beinahe und ließ sie die Vergangenheit erstmals mit einem zufriedenen Lächeln und ohne das drückende Gefühl von Reue betrachten. Sie wandte den Blick erst von diesem Baum ab, als sie hörte, sie jemand ihren Namen rief. Frediano kam mit vor Sorgen zerfurchtem Gesicht auf sie zugelaufen. Er wäre liebend gern bei ihrer Untersuchung dabeigewesen, wie sie wusste, aber dringendere Angelegenheiten, verbunden mit ihrer Bitte, sich lieber um die Arbeit zu kümmern als um sie, hatten ihn schließlich doch dazu gebracht, sich mit der Kavalleristenschule und deren Problemen zu beschäftigen. In Wahrheit hatte sie nur Angst vor dem Ergebnis der Untersuchung gehabt und es erst einmal selbst hören wollen, um sich dann zu überlegen, ob und wie sie es ihm mitteilen wollte. Er zeigte es nie, aber sie wusste, dass er doch reichlich sensibel war und das war einer der Gründe, warum sie ihn so sehr liebte und ihn geheiratet hatte. Auch wenn sie wider Erwarten eine gute Nachricht bekommen hatte, war sie froh darum, allein gewesen zu sein. Immerhin war ihr dadurch die Möglichkeit gegeben, ihm die frohe Mitteilung nun zu überbringen und zu beobachten, wie seine besorgte Miene endlich wieder verschwand. Als er bei ihr stehenblieb, nahm er hastig ihre Hand in seine. Mit einem Lächeln erinnerte sie sich daran, wie er zu Beginn immer leicht errötet war, wenn sie es wie selbstverständlich bei ihm getan hatte. Inzwischen war er ihre Nähe nicht nur gewöhnt, er suchte sogar nach ihr und das machte sie glücklich – denn welche Frau mochte es schon, wenn der eigene, geliebte Ehemann sich von ihr fernhielt? „Was hat sie gesagt?“, fragte er atemlos, offenbar nicht im Mindesten erstaunt oder verärgert darüber, dass er sie vor Landis' Haus fand. „Was ist mit dir?“ Vor dem Besuch bei ihrer Ärztin hatten sie nicht darüber gesprochen, aber Oriana wusste, dass Frediano in Sorge gewesen war, dass ihr etwas Schlimmes fehlen könnte. Wann immer seine Zeit es zugelassen hatte, war er dabei gewesen, Fachbücher zur Rate zu ziehen oder mit dem Arztsohn Kenton darüber zu sprechen und dabei war – trotz Kentons Beruhigung – seine Furcht immer größer und größer geworden, wie ein ungewisser Schatten, wenn man diesen zu lang und mit zu viel Fantasie betrachtete. Oriana sah ihm direkt in die Augen, was ihn zumindest ein wenig ruhiger werden ließ. Sein Atem, der aufgrund der Kälte in weißen Wolken austrat, wurde regelmäßiger, aber sein blasses Gesicht bekam keinerlei zusätzliche Farbe. Er weckte ihr Mitleid, weswegen sie die Antwort nicht mehr länger hinauszögerte: „Sie hat mir gratuliert.“ Doch das schien Frediano nichts zu sagen, er blickte zwar nicht mehr besorgt, dafür aber verwirrt, er wusste ganz offenbar nicht, warum eine Ärztin einer Patientin gratulieren sollte, wollte ihr das aber auch nicht verraten, sondern auf ihre Ergänzung warten – und dass er auf eine solche hoffte, konnte sie im kaum merklichen Zucken seiner Mundwinkel sehen. Wann genau ihr bewusst geworden war, was all seine kleinen Gestiken bedeuten sollten, wusste sie nicht, aber dafür erinnerte sie sich noch genau an die schelmische Freude, die sie in diesem Moment durchflutet hatte. Es war einer jener Augenblicke gewesen, der sie zu der Entscheidung geführt hatte, ihn heiraten zu wollen und nicht Landis. Und auch im Anbetracht des Verschwindens ihres Jugendfreundes im Anschluss, bereute sie ihre Wahl nicht, denn sie war glücklich mit Frediano und sie verstand ihn auch ohne Worte – und so sagte er ihr mehr, als es Landis je möglich gewesen war. Mit einem Lächeln zog sie seinen Oberkörper ein wenig zu ihr herunter, damit sie ihm ins Ohr flüstern konnte, worin die gute Nachricht bestand. Es machte sie viel zu verlegen, es ihm direkt ins Gesicht zu sagen, auch wenn das so gar nicht zu ihr passen wollte. Sie konnte hören, wie er erschrocken die Luft einsog, sie fürchtete sogar, ihn falsch eingeschätzt zu haben, dass er sich gar nicht freuen würde über diese Nachricht. Doch ehe der Pessimismus Einzug in ihr Gefühlsleben halten konnte, umarmte Frediano sie bereits und drückte sie sacht an sich. „Das ist ja wunderbar“, hauchte er, in einem Tonfall, den sie noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Sie legte ebenfalls die Arme um ihn und hob den Kopf ein wenig, um die ersten Schneeflocken seit Jahren zu betrachten, die gerade vom stahlgrauen Himmel fielen. Lächelnd beschloss sie innerlich, dass Schneetage nun die besonderen Tage von ihr und Frediano sein sollten – denn immerhin hatten sie beide an einem solchen erfahren, dass sie Eltern werden würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)