Furcht von w-shine ================================================================================ Kapitel 1: Furcht ----------------- Sie sitzt auf dem Fensterbrett und sieht hinunter, wo die Menschen auf und ab laufen. Unter ihr breitet sich die Einkaufsstraße aus, auf die sie blicken kann, wenn sie hinaus schaut. Es fasziniert sie, die Leute zu beobachten und zu erkennen, wie sie von links nach rechts laufen, in die Läden gehen und dort voll gepackt wieder heraus zu kommen. Es ist erstaunlich, wie sie alle dort so ruhig und gelassen lang laufen können. Wie gerne wäre sie eine von ihnen. Einst konnte auch sie unbesorgt durch die Gegend gehen, doch das ist vorbei. Seit dem tragischen Unfall ist nichts mehr, wie es einmal war. Jetzt scheint auch ihre Wohnung, die sie früher so geliebt hatte, eine Falle zu sein, aus der sie nicht mehr so einfach entkommen kann. Sie dreht sich um und blickt zur Uhr, beobachtet den Zeiger, wie er sich vorwärts bewegt, immer weiter vorwärts und ihr zeigt, dass es bereits spät ist. Sie muss jetzt endlich los. Langsam steht sie auf und geht zu ihrem Schrank hinüber und holt die Sachen heraus, die sie heute tragen möchte. Es sind ein luftiges Sommerkleid und ein paar Flip Flops. Das schöne Wetter heute muss sie ausnutzen. Sie weiß, dass es wichtig ist, dass sie sich wohl und sicher fühlt, in den Sachen, die sie trägt. Sie sieht noch einmal kurz in den Spiegel und richtet ihre Frisur, tuscht ihre Wimpern noch einmal nach. Sie weiß, dass sie gut aussieht. Sie blickt noch einmal zur Uhr. Der Zeiger ist noch weiter vorwärts gewandert. Sie erkennt, dass sie wirklich los muss. Ihr ist unwohl dabei, es wäre schön, wenn er gekommen wäre. Aber sie hat zu ihm gesagt, dass er nicht kommen muss, dass sie es alleine schaffen wird. Und sie wird es alleine schaffen, davon ist sie überzeugt. Sie haben es ja schließlich schon einigen Erfolg mit der Konfrontationstherapie erzielt und sie hat die Sitzungen gut überstanden. Aber trotzdem hätte sie sich sicherer gefühlt, wenn er da wäre. Sie geht zur Tür und bleibt dort noch einen Moment stehen und atmet tief durch. Sie wird es schaffen, redet sie sich weiter gut zu. Langsam bewegt sich ihre Hand zur Türklinke und drückt sie vorsichtig runter. Mit geschlossenen Augen und ruhiger Atmung öffnet sie die Tür, tritt hindurch und zieht sie wieder hinter sich zu. Sie blickt zur Treppe und nimmt langsam und vorsichtig eine Stufe nach der anderen, bis sie zur Eingangstür gelangt. Noch ist alles in Ordnung, ihr Atem geht langsam und gleichmäßig, ihr Herzschlag ist ruhig. Sie sieht durch das Glas der Tür auf die Menschen, die dort entlang gehen und sie fühlt, wie ihre Atmung plötzlich immer schneller wird. Sie versucht sich wieder zu beruhigen, doch so recht will es nicht gelingen. Aber sie muss jetzt heraus. Und sie wird es schaffen. Sie wird dort ruhig ankommen. Mit einem energischen Schritt nach vorne, reißt sie die Tür auf und läuft hindurch. Sie hört wie sie hinter ihr ins Schloss fällt. Jetzt ist sie draußen. Ihre Augen wandern nach links und nach rechts. Es sind so viele Menschen hier, so viele andere befinden sich ebenfalls auf der Straße. Sie schließt er erneut die Augen, atmet noch einmal tief durch und läuft los. Sie merkt, wie andere Personen an ihr vorbeilaufen und fühlt wie sich ihr Atem beschleunigt. Aber es ist in Ordnung. Noch hat sie sich unter Kontrolle. Sie läuft weiter, versucht die anderen auszublenden, doch es will ihr nicht gelingen. Es rast ihr wieder dieser eine Gedanke durch den Kopf, was denken, die anderen wenn sie mich so sehen? Und das macht ihr Angst. Schweiß bricht aus und rinnt ihr über den Rücken, ihre Augen zucken panisch von links nach rechts, ihr Atem kommt stoßweise. Ihr wird kalt und sie fühlt, wie ihre Zunge an ihrem trocknen Gaumen kleben bleibt. Sie bleibt stehen, schließt die Augen und atmet ein und aus und hält dann die Luft an – eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, fünf Sekunden, sechs Sekunden. Sie atmet wieder ein und aus und wiederholt ihre Übung. Die Entspannungstechnik wirkt. Etwas Ruhe kommt zurück, doch diese verschwindet schlagartig wieder, als sie die Augen öffnet. Es sind einfach zu viele. Es sind viel zu viele Menschen hier auf der Straße. Warum sind die alle hier? Können sie nicht woanders sein? Ihr Kopf fliegt nach rechts und nach links, doch überall sieht sie nur Menschen, Menschen, Unmengen von Menschen. Sie kramt in ihrer Tasche. Sie muss etwas zum kauen finden, ein paar Nüsse, einen Kaugummi, irgendwas. Kauen baut Stress ab, kauen reduziert die Angst, weil es ablenkt. Aber sie hat nichts dabei. Sie findet nichts. Ihre Blicke schweifen wieder die Menschen um sie herum. Ob sie jemanden von ihnen fragen könnte? Nein, was würden diese Menschen nur von ihr denken? Sie muss jemanden anrufen. Sie muss seine Stimme hören. Sie sucht ihr Handy, doch auch das kann sie nicht finden, sie hat es vergessen. Sie ist alleine und doch von so vielen Menschen hier umgeben. Ihr ist kalt, ihr Mund ist trocken. Sie braucht was zu trinken. Doch vor allem muss sie nur eins: Hier weg. Sie hält es einfach nicht mehr aus. Sie hat sich zu viel zu gemutet, sie schafft es alles noch nicht. Sie fängt an zu rennen. Sie muss weg, weg aus dieser Fußgängerzone, weg von den anderen. Sie rennt und rennt, stößt mit anderen Menschen zusammen. Sie kann sich nicht entschuldigen, sie muss sich zu sehr konzentrieren, einfach immer weiter zu laufen. Sie hört wie ihr die Menschen missgestimmt hinterher rufen, aber sie kann sich nicht umdrehen, sie muss einfach immer weiter. Die anderen fliegen ihr an vorüber, sie kann keinen einzelnen mehr erkennen, aber sie sieht sie immer noch. Selbst das ist zu viel. Sie schließt die Augen wieder, sie möchte nichts mehr sehen. Es scheint ein bisschen weniger schlimm zu sein, wenn es dunkel um sie herum ist. Sie bleibt aber nicht stehen, sie rennt weiter und weiter. Plötzlich prallt sie mit einem anderen Menschen zusammen und kann ihre Balance nicht mehr halten und fällt. Sie kollidiert mit dem Boden, der Schmerz durchzuckt sie und sie muss ihre Augen wieder öffnen. „Oh, Entschuldigung.“ Ein junger Mann im Anzug blickt entschuldigend auf sie herunter und will ihr die Hand reichen. „Nein… nicht…“ Tränen beginnen ihre Wangen hinab zu laufen. Ihr Herz rast und sie hat das Gefühl, das es gleich zerspringt. Er soll weggehen. Sie befürchtet, dass sie gleich in Ohnmacht fallen wird, die Welt schwankt so merkwürdig, ihr ist übel. „Ist alles in Ordnung? Haben Sie sich etwas getan?“ Er blickt sie wirklich besorgt an, aber es hilft nicht. „Ich weiß nicht…“, schluchzt sie und blickt panisch zu ihm hinauf. Er ist ein fremder Mensch. Er soll weggehen. Sie ist komplett hilflos und unsicher. Sie schnappt nach Luft, das Atmen fällt ihr schwer. Es fühlt sich an, als ob jemand ihr die Kehle zudrücken würde und gleichzeitig auf ihre Brust schlagen würde. Sie zittert und der Schweiß rinnt immer stärker über ihren Körper. Ihr Kleid klebt bereits an ihrer Haut und dabei ist ihr so kalt. Man merkt, dass er sichtlich überfordert ist und nicht weiß, was er tun soll. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ „Ich weiß nicht…“ Sie schüttelt den Kopf und sieht nach links und nach rechts. Er könnte vielleicht helfen, in dem er weg geht. Aber eigentlich will sie auch gar nicht, dass er geht, weil sie dann wieder alleine wäre. Sie weiß gar nichts mehr. Ihr Herzschlag hat sich immer weiter beschleunigt, sie hört nur noch ein nervtötendes Pochen. Ihr Atem geht stoßweise. Sie hat das Gefühl, dass sie sich gleich hier übergeben wird. Aber was würden die Menschen dann erst von ihr denken? Es ist einfach zu viel. Und es wird immer schlimmer. Es bleiben die ersten Menschen stehen und gucken zu ihnen herüber. Die Panik in ihr wird immer größer, steigert sich fast bis zur Hysterie. Sie weiß nicht was sie machen soll und bricht endgültig in Tränen aus. Sie hört, wie die Menschen um sie herum reden und diskutieren. Der junge Mann, den sie umgerannt hat, erklärt was passiert ist. Alle reden über sie, es ist einfach unfassbar laut. Können sie nicht alle schweigen? Können sie nicht weg gehen? „Entschuldigung, Entschuldigung. Lassen Sie mich bitte durch?“ Sie hört eine Stimme aus dem Gewirr der anderen heraus. Sie hebt ihren Blick und sieht sich um. Sie muss die Person, zu der die Stimme gehört, finden. Und plötzlich ist er da. Sie sieht den jungen Mann mit den grünen Augen und zerstrubbelten braunen Haaren an, der auf sie zu kommt. Er kniet sich vor ihr nieder, legt ihr die Hände auf die Schultern und blickt ihr tief in die Augen. „Atme ganz ruhig durch.“ Seine Stimme ist sanft und ruhig. Diese Ruhe überträgt sich schon bei diesem einen Satz auf sie. „Du weißt, einatmen, ausatmen, jetzt sechs Sekunden die Luft anhalten… eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs…“ Sie nickt und tut was er gesagt. Es hilft. Sie fühlt, wie sich ihr Atem beruhigt, die Panik verschwindet und die Ruhe langsam wieder zurückkommt. Sie lächelt ihn an und dann schließt er sie in die Arme. Sie legt ihren Kopf an seine Schulter und atmet ruhig weiter, sie kann seinen Herzschlag hören und die Gleichmäßigkeit beruhigt sich noch weiter. Sie ist wieder in Sicherheit, jetzt da er da ist. Er ist ihr Anker, ihr ganz persönliches Beruhigungsmittel. „Komm, lass uns gehen.“ Er steht auf und zieht sie mit sich hoch. Sie stehen in mitten der Menschen und er hält sie fest an der Hand. Sie spürt die Blicke der anderen Menschen auf sich und die Panik kommt ein wenig zurück, doch da drückt er ihre Hand. Sie spürt, dass er da ist und damit kommt erneut die Ruhe. Sie weiß nicht, warum er so beruhigend auf sie wirkt, aber sie weiß, dass sie in diesem Moment hier ohne ihn verloren gewesen wäre. „Es ist alles wieder in Ordnung“, sagt er und langsam verstreuen sich die Menschen mit einem letzten Blick auf die beiden wieder. Nur der junge Mann bleibt noch einen Augenblick stehen. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Er blickt sie skeptisch an. Der andere Mann nickt. „Es war nicht Ihre Schuld…“ Der junge Mann nickt und geht mit einem „Leben Sie wohl“ von dannen. Sie und er gehen dann, sich immer noch an den Händen haltend weiter. Er, ihr bester Freund, ist ihr geblieben, nach dem fürchterlichen Unfall, der ihrem Verlobten das Leben gekostet hat. Und sie ist gefahren. Sie ist schuld an ihrer eigenen Tragödie. Was würden die Menschen nur von ihr denken, wenn sie das wüssten? Es macht ihr immer wieder Angst. Gut, dass er hier ist. „Warum bist du hier…?“, fragt sie ihn flüsternd und blickt auf den Weg vor sich. „Ich wusste ja, dass du heute heraus gehen musst, um zu Herrn Doktor Rust zu gehen und auch wenn du mir gesagt hast, dass du es alleine schaffen wirst, dachte ich mir fast, dass du noch nicht weit genug in der Therapie bist. Deshalb dachte ich, hole ich dich ab. Ich bin nur etwas zu spät gekommen. Das tut mir leid.“ Er sieht sie entschuldigend an und lächelt vorsichtig. „Danke…“ Sie weiß, wie wichtig er für sie ist. Sie weiß, dass sie ohne ihn niemals ihre Therapie beenden wird. Ohne ihn, wird sie ihre Agoraphobie nie besiegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)