Lindsey & Promecius von Aster (Elend in Serie) ================================================================================ Prolog: Aller Anfang ist Schwermut ---------------------------------- Tief im Herzen Transylvaniens steht ein Schloss. Und in diesem Schloss steht eine Uhr. Die Uhr wiederum steht auf "Alarm on". Im Schlafzimmer von Lindsey Alice Crimosa klingelte der Wecker. Es war das penetrante, ohrenbetäubende, für Radiowecker so typische Piepsen das durch den Raum schallte und in diesem Fall stammte es von einem Gerät in der Form einer großen, runden Orange auf Lindseys Nachttisch. Lindsey selbst war bereits wach und stoppte den Apparat mit der flachen Hand, kaum dass dieser ein paar mal geläutet hatte - woraufhin die Uhrwerk-Orange ihr Gelärme unterbrach und sich wieder in Ruhestellung begab. 22:01 stand auf der Digitalanzeige. "Eine weitere herrliche Nacht." dachte Lindsey lächelnd und richtete sich in ihrem großen Bett auf. Sie strich sich durch ihre schwarzen, asymmetrischen Haare, hob die Bettdecke beiseite und schlüpfte in die flauschigen, weißen Kaninchenpantoffeln, die mit putzigem Gesichtausdruck am Fuße ihres Bettes standen. Kaum ein Jahr war es her, seit sie die Tiere selbst am Loch Ness geschossen, gehäutet und ausgestopft hatte um Schuhe daraus zu machen. Lindsey liebte das Ausstopfen. Was Lindsey ebenfalls liebte war nachts aufzustehen, und im Schloss eines Vampires als dessen Hausmädchen zu arbeiten. Wenn auch... Lindsey seufzte. "Na ja." Sie wischte den Gedanken beiseite, erhob sich von ihrer Bettstadt und streckte sich zunächst einmal gründlich - nicht ohne dabei herzhaft zu gähnen. Ihr Blick fiel auf die Tapete die in dem selben hellen Blauton gehalten war wie ihr Schlafanzug und als Muster kleine weiße Kreidemännchen trug, wie sie die Polizei an Tatorten anfertigt. Lindsey mochte so etwas. Ihr Meister widerum... Lindsey wurde bei dem Gedanken etwas schwermütig. "Wenn Mylord nur nicht so... anders wäre." dachte sie und schüttelte leicht den Kopf. Sie zog die schweren Vorhänge auf, die vor dem mannshohen Fenster hingen und warf einen Blick hinaus in die transylvanische Nacht. Draußen gewitterte es und regnete in Strömen. Sturm heulte. Entfernt schlug ein Blitz ein und Donner grollte bedrohlich. Der schneidende Wind ließ sich noch durch die asymmetrische Verglasung des Fensters spüren und zerrte an den Wipfeln transsylvanischer Tannen. Es war ein unmenschliches Wetter, eines bei dem man keinen Hund vor die Türe jagen wollte. Eines, das so gut wie jedem auf's Gemüt drücken musste. "Eine weitere herrliche Nacht." dachte Lindsey erneut und lächelte. - Im Schlafzimmer von Promecius, dem Vampir, gab es keinen Wecker. Stattdessen stand hier eine große, schwere, in die Wand eingelassene Standuhr, über deren Ziffernblatt das Wappen von Promecius Familie prangte. Uhrwerk und Wappen waren kunstvoll miteinander verbunden, und während das poe'sche Pendel im Uhrenkasten hin- und her schwang, drehten sich ein Mond und eine Erde aus Metall in kleinen, ruckartigen Bewegungen um eine rote Sonne in der oberen Hälfte des Wappens herum. Unter ihr befand sich zur Rechten ein Wesen mit einem Einhorn- und einem Drachenkopf - Symbol für den Fluch der Unsterblichkeit und zugleich für den Familiennamen von Promecius Vater; In der Mitte saß ein ägyptischer Falter, dessen Flügel gelegentlich mechanisch zitterten; Und zur rechten prangten drei Federn: Die Äußeren waren eine weiße Tauben- und eine schwarze Rabenfeder. Die mittlere widerum, glühend rot, war nicht eindeutig zu bestimmen. Lindsey und ihr Master hatten sich öfters gefragt, was sie wohl bedeutete, und Promecius neigte dazu, es für eine simple, geistlose Assoziation zu Blut zu halten, was Lindsey vehement ablehnte. Als die Zeiger auf zehn Uhr abends sprangen und die Uhr mit einem schweren, dunklen Schlag durch den weiten und finsteren Raum klang, zitterten kleine, weiße Lichtpunkte in den Ecken des Gemachs wie aufgescheuchte Insekten. Sie erinnerten von ihrer Gestalt an die Augen nachtaktiver Tiere oder Anglerfische, aber sie genau zu erkennen war ein Ding der Unmöglichkeit. Wie eine Friedhofsglocke schwang der Schall durch den Raum und roch nach Tod. Promecius öffnete die Augen. "Elend" sagte er. Wie jeden Abend fühlte er sich fürchterlich. Er richtete sich halb in seinem Bett auf, die Knochen knackend, und fixierte mit grimmigem Blick die Uhr, die weit entfernt an der gegenüberliegenden Wand stand. "Was für ein Elend." sagte er mit Nachdruck. Er ächzte. Am liebsten wäre er einfach liegengeblieben um die Nacht an sich vorbeiziehen zu lassen. Aber er wusste dass früher oder später Lindsey vorbei kommen würde, um ihn aus dem Bett zu zerren, mit ihrer üblichen fröhlichen Art und Weise die dem trostlosen Dasein an diesem Ort so gar nicht angemessen war. Promecius verstand sie nicht. Wie konnte es sein, dass gerade sie - ein Mensch! - sich so sehr mit dem verfluchten Leben seines Vaters identifizierte, so sehr in Dunkelheit und Verdammnis aufging - während er, ein gebürtiger Vampir, überhaupt nichts damit anfangen konnte? Lindsey war nicht normal... Er erhob sich mit krachenden Gelenken. Wie oft hatte Lindsey ihm geraten, nicht in einem Bett, sondern in einem Sarg zu schlafen - auch weil diese besser für seine Ergonomie geeignet seien. Wie oft hatte sie ihm empfohlen, sich kopfüber an die Decke zu hängen. Und wie oft hatte er von ihr beim Aufstehen das immer wiederkehrende "Carpe Noctem" gehört? Keine Ahnung. Promecius hatte genug. Er wusste, was ihn für ein Anblick ihn erwartete, wenn er hinter die schweren Vorhänge durch das riesige Fenster sehen würde. Dunkel, schwarz, kalt und Nacht. Promecius hasste es, ein Vampir zu sein. Er schnaubte erneut, hängte seine Füße aus dem Bett und stellte sich auf den Boden. "Auf eine weitere furchtbare Nacht." sagte er und schlurfte zum Fenster. Wahrscheinlich würde es sogar gewittern, dachte er. Er beschloss, die Fenster vorerst geschlossen zu lassen und ging ins Badezimmer. - Im Badezimmerspiegel schwebte der Kamm scheinbar ziellos hin und her - und nicht nur scheinbar. Wie sollte man sich auch ohne Spiegelbild frisieren? Sich ohne Spiegelbild zu frisieren war geradezu absurd wie hoffnungslos. Den Scheitel, den er auf der linken Seite trug, hatte Promecius inzwischen zwar einigermaßen hinbekommen, zumindest vermutete er das; Aber die rechte Seite... Es schien, als würde er es wieder einmal Lindsey machen lassen müssen. "Verdammt.", dachte er. Sich von Lindsey frisieren zu lassen war demütigend; Promecius kam sich dabei vor wie ein kleines Kind. Und er erinnerte sich unangenehm, wie sie ihm die Haare einmal zu der unmöglichen Frisur toupiert hatte, die sein Vater früher immer getragen hatte. Ach, sein Vater... Seit Jahren (endgültig) tot, hing seine Aura doch noch immer überall im Schloss in der Luft. Promecius legte den Kamm resignierend beiseite. Ein Glück, dass er keinen wirklichen Bartwuchs hatte, dachte er. Das Rasieren wäre eine Tortur geworden - und es Lindsey tun zu lassen, hieße, ihr ein Messer in die Hand zu geben... Nein danke. Er versuchte, von solchen Dingen fern zu halten. Promecius strich mit der Zunge über seine Eckzähne. Ob er sie sich wohl putzen sollte? - Als Lindsey durch die Flure des Schlosses ging, klackten die Absätze ihrer Schuhe hallend auf dem schachbrettgekachelten Boden, der sich in den Winkeln beizeiten surreal zu wölben schien. Das Hausmädchenkostüm war wie jede Woche frisch gereinigt worden und aufs peinlichste gepflegt. Lindsey war ein plichtbewusster Mensch, und das angemessene Erscheinungsbild gehörte ebenso dazu wie Höflichkeit und Manieren. Immerhin vertrat sie die Familie eines der bedeutendsten Vampire aller Zeiten. Lindsey blieb stehen, als sie einen Spiegel passierte, rückte das Häubchen auf ihrem Kopf zurecht, strich sich über den Rock und prüfte den Sitz ihrer Brosche. Als alles zu ihrer Zufridenheit war, ging sie weiter. Ob es wohl schwer war, sich ohne Spiegelbild zu pflegen? In den Schatten eines Flurschranks, den Lindsey passierte, geriet Bewegung. Aus dem Dunkel kristalisierte sich eine Form heraus, die erst ein schwarzer Buckel wurde, erzitterte und dann die Gestalt einer sehr schlanken Katze annahm, deren leuchtende Augen das einzig helle in einem Körper waren, der sonst aus purer Nacht zu bestehen schien. Sie sprang Lindsey mit ein paar Sätzen lautlos hinterher, landete neben ihr, schmiegte sich an sie und begann, mit einem unhörbaren Schnurren ihre Beine zu umschmeicheln. Lindsey hielt inne, sah an sich herab und lächelte. "Ah, du bist's." sagte sie lächelnd. Die Katze hatte keinen Namen - ursprünglich zumindest. Nach der Figur eines Katzenjungen aus einer Geschichte, die Lindsey gelesen hatte (laut ihr eine romantische Komödie), hatte sie das Tier einmal "Schrödinger" genannt. Danach hatte sich der Name etabliert - und ebenso die Katze. Promecius konnte sich nicht erinnern, sie jemals vorher gesehen zu haben... Es gab zwar jede Menge Gestalten, die man in den Schatten des Schlosses erkennen konnte - aber sie alle waren flüchtig, oft kaum mehr als Schemen, und man sah sie eigentlich nie mehr als ein mal. Nicht so die Katze. Kaum dass sie ihren Namen erhalten hatte, tauchte sie immer wieder auf und sprang und schlich von da an sporadisch aus den Schatten des Schlosses hervor, nur um ebenso rasch auch wieder in ihnen zu verschwinden. Es hatte nicht lange gedauert, bis ein schwarzer Pudel, den Promecius experimentell "Pavlov" genannt hatte, ebenfalls begann, widerholt aufzutauchen. Promecius vermutete, dass der essentielle Unterschied dieser zwei zu den anderen Gestalten war, dass sie mit ihrem Namen auch eine Identität gestiftet bekommen hatten, die es ihnen ermöglichte, trotz ihrer Flüchtigkeit immer wieder zu kommen. Darum sah er bewusst davon ab, weiteren Erscheinungen in der Dunkelheit einen Namen zu geben - schließlich, so sagte er, wollte er keinen Zoo eröffnen... - Dünne schwarze Katzenbeinchen hüpften von Stufe zu Stufe, als Lindsey eine der unzähligen Treppen des Schlosses hinaufging. Das Gebäude war groß - viel größer, als man von Außen jemals vermutet hätte. Manchmal schien es, als würde Raum überhaupt keine Rolle spielen, oder als würden Räume auf wundersame Weise ihre Plätze tauschen oder gar neu entstehen. Manchmal wusste man auf Treppen wie dieser nicht einmal, ob man auf- oder ab ging. Bei Lindsey war das anders. Sie wusste immer, wohin sie ging. Manchmal musste man einen Geheimgang aktivieren, manchmal sah man Dinge, die den gesunden Menschenverstand lügen straften - aber ans Ziel gelangte Lindsey immer. Sie kannte das Schloss. Auf einem kleinen runden Sims an der Spitze der Treppe hielt sie an. Sie wartete einen Moment auf die Katze, dann sagte sie: "Aufwärts." Ob es an ihrem Befehl lag oder nur zufällig geschah, ist nicht festzustellen - doch auf einem langen Pfeiler von unten geführt begann die Plattform nach oben zu steigen und durchquerte dabei einen hohen und weiten Turmschacht, aus dessen kathedralenhaften Fenstern in den sonst im Finstern liegenden Wänden man den Wald um das Schloss sehen konnte. Er hielt an einer schmalen, steinernen Brücke, die mitten in den leeren Raum führte. Lindsey überschritt den halben Meter dazwischen, ohne mit der Wimper zu zucken, und ging weiter. Als sie die kleine Tür am Ende der Brücke durchquerte, war sie wieder in einem der Flure des Schlosses, der diesmal mit rotem Samtteppich ausgelegt war. "Mal sehen, wie Mylord heute geschlafen hat.", dachte sie. - Wie ein Phantom stand der Mond am Himmel, groß und fahl und fast auf Augenhöhe. Das Gewitter hatte aufgehört, doch noch immer prasselte Regen auf das Mauerwerk, stürzte in den Nadelwald und auf die schwarzen Pfähle, die einstmals zu Hundertschaften von Promecius' Vater auf den Ländereien des Schlosses aufgestellt worden waren. Promecius stand am übergroßen, mit dichten Purpurvorhängen ausgestatteten Fenster des Turmzimmers und starrte mürrisch hinaus in die transsylvanische Nacht. Er nahm schweigend einen Schluck aus dem Kakao, den er sich gemacht hatte - noch bevor es überhaupt Frühstück gegeben hatte - und starrte weiter geradeaus ins Nichts. "Frühstück", das hieß die erste Malzeit der Nacht. Wie albern. Ein Knarzen verriet, dass Lindsey die hohe Eichentür am anderen Ende des Raumes geöffnet hatte und leise eintrat. Mit einem Lächeln trat sie auf ihn zu, gefolgt von Schrödinger, der/die sie knochenlos umschmiegte. "Guten Abend, Sir." sagte Lindsey. "Wie geht es ihnen heute?" Promecius verzog keine Miene. "Wie üblich." antwortete er. Lindsey seufzte. "Oh Sir...", sagte sie. "So schlecht...?" Biss zum Abendbrot ------------------ Tief im Herzen Transsylvaniens steht ein Schloss. Und in diesem Schloss steht ein Frühstückstisch. Auf dem Frühstückstisch wiederum steht ein Salzstreuer. Und auch auf dem Salzstreuer steht etwas: Nämlich "Salz" Das war wichtig. Promecius hatte mit der Zeit gelernt, dass Salzstreuer, die Lindsey aufgefüllt hatte, üblicherweise eine Substanz enthielten, die wie Salz aussah, wie Salz roch und wie Salz schmeckte - aber kein Salz war. Lindsey war begabt in dem, was sie tat, und das war, wie Promecius über die Jahre feststellen konnte, selten etwas Gutes. Natürlich hatte er diese Erfahrungen nicht am eigenen Leib gemacht. Lindsey hätte nie zugelassen, dass ihr Meister sein Essen mit etwas würzte, das zu Atemwegsbeschwerden, Lähmungen und/oder Tod führen konnte. Dennoch war Promecius vorsichtig... 90 Prozent aller "Unfälle" passierten im Haushalt. "Salz" jedenfalls, das wusste der Vampir, war der Garant dafür, dass wirklich Salz enthalten war. Zumindest am Frühstückstisch und solange kein Gast anwesend war - was fast nie geschah. Lindseys Master streute das Gewürz über sein Rührei, in dem er schon eine Weile recht lustlos herumgestochert hatte. Die Eier hatte sie in einer naheliegenden Stadt gekauft, offensichtlich tagsüber. Es war Promecius ein Rätsel, wie Lindsey es schaffte, so lange wach zu bleiben. Er fühlte sich gerädert, und seine menschliche Haushälterin war putzmunter. Die Welt war nicht fair. Regen prasselte noch immer an die Scheiben. Die kleine Küchenuhr öffnete ihr Fensterchen und heraus kam ein hölzerner Finger, auf den ein Hammer halb zwölf schlug. Pavlov, der Hund, lag vor dem gelöschten Kamin und drückte sich behaglich an den kalten Fußboden. Er döste, wie meistens. Promecius griff sich den Eierkarton, der vor ihm auf dem Tisch lag und musterte die Angaben. "Aus Batteriehaltung?" fragte er und zog eine Braue hoch. Lindsey räusperte sich. "Na ja, Sir." sagte sie. "Wenn sie schon auf das Bluttrinken verzichten und stattdessen so etwas profanes wie Eier essen müssen, werde ich doch wenigstens versuchen dürfen, das Beste daraus zu machen, oder?" Sie lächelte in Erwartung von Verständnis. "Oder das schlechteste." brummte Promecius. Sein Hausmädchen nickte. Na ja. Der Vampir zuckte mit den Schultern. Es war immerhin schon ein Fortschritt, dass sie nicht versuchte, ihm heimlich Blut unter die Speisen zu mischen... Lindsey schlug die Zeitung auf. Es war die Ausgabe des letzten Morgens, und das Hausmädchen hatte sie vermutlich erstanden, als sie auch die Eier besorgt hatte. Sie zeigte keine Spuren eines Kampfes. Lindsey kramte, einen Schluck Saft nehmend, ihre Lesebrille hervor. "Dann sehen wir mal, was in der Welt los, ist, nicht wahr, Sir?" sagte sie. Promecius kaute sein Rührei, nickte und schluckte es herab. Das Stück war zu groß und schmerzte leicht in der Kehle. "Meinetwegen." Lindsey setzte ihre Brille auf und durchsuchte die Seiten. Es war ein billiges Schundblatt, und so drehte sich der Großteil der Berichterstattung darum, Menschen in ihren Vorurteilen über Minderheiten zu bestätigen und unterschwellige Wahlwerbung für bestimmte Parteien zu machen. Auf einer Doppelseite räkelten sich mehr oder weniger weibliche Wesen, deren Körper, an zwei bis drei Stellen mit schwarzen Sternchen versehen, sich in höchst albernen Positionen befanden. Großbuchstaben versprachen ungeahnte Freuden, die akustisch durchgegeben für nur etwa neun Euro die Minute zu erstehen seien. Lindsey überlaß das großzügige Angebot. Wirkliche Meldungen wollten sich heute nicht einstellen. Lindsey verlas das wenige an Informationen, was der Wisch hergab. Die Schlagzeile handelte von einem Denkmal, das einem angeblichen "Helden der Zivilcourage" gesetzt werden sollte, den die Zeitung kürzlich selbst dazu erklärt hatte. Lindsey zog eine Grimasse und blätterte weiter. Zivilcourage war lästig und behinderte nur, fand sie. Sie trug die wenigen Fetzen von Informationen der Zeitung, die dieser Bezeichnung nur geringfügig gerecht wurde, ihrem Master vor. Gelegentlich entglitt Promecius ein zynischer Kommentar, meist jedoch schlürfte er nur seinen Kakao oder rollte mit den Augen. Irgendwann machte er durch eine Geste deutlich, dass er genug habe, und stieg die Leiter des absurd hohen Stuhls, auf dem er gesessen hatte, herab, um sich etwas anderes als Eier zum Essen zu holen. Er war schlecht gelaunt und musste was Festes zwischen die Zähne kriegen. Lindsey lächelte, als er es erwähnte. Bis sie bemerkte, dass er den Inhalt des Toastbrotkastens gemeint hatte. Lindsey las weiter. Gegenüber einer Großanzeige, auf der ein rotes Oberhemd mit weißer Aufschrift verkündete, es verrichte sein Geschäft auf der Mehrwertsteuer, fand sie tatsächlich noch etwas Interessantes. Ein Kreuzworträtsel. Lindsey holte eine Art Schürhaken/Kasinoschieber hervor und holte damit eine von der Decke hängende Kordel heran. "Du wirst doch nicht an dieser Kordel ziehen, Lindsey?" rief ihr Promecius zu. "Warum nicht, Sir?" "Warum nicht? Ich hasse Geheimgänge. Das dürfte reichen, oder?" "Aber... ich brauche einen Stift, Sir..." "Hm..." Promecius runzelte die Stirn. Er wollte nicht wissen, wofür Lindsey den Stift brauchte. Einmal hatte sie in einer der Dorfspelunken erklärt, sie könne einen Bleistift verschwinden lassen, und die Erinnerung daran, wie sie es getan hatte, verfolgte Promecius noch immer. "Hier an der Küchenzeile liegt einer!" rief er ihr stattdessen zu. Er nahm den Kugelschreiber vom Magnetbrett, neben dem ein Kühlschrankmagnet in Form eines stilisierten rotweißen Regenschirms ein Rezept mit der Aufschrift "Pudding à l'arsenic" hielt. "Werfen sie ihn mir zu, Sir?", erschallte es. "Gedulde dich wenigstens, bis ich zurück bin, Lindsey...", rief Promecius. Zwei Scheiben angebrannten Weißbrots sprangen mit einem *Kling* aus dem Toaster und der Vampir legte sie auf einen kleinen Teller. Mit dem Stift und dem Brot stieg er den Stuhl hinauf und setzte sich wieder Lindsey gegenüber an den Tisch. "Hier hast du ihn." sagte er und gab Lindsey den Kugelschreiber. "Danke, Sir." Lindsey begann das kritzeln. Während Promecius seinen Toast von einer Kohleschicht zu befreien versuchte und Tollkirschenmarmelade auf das Brot strich, übermannte ihn doch die Neugier. "Was machst du da, Lindsey?", fragte er. "Ein Kreuzworträtsel, Sir. Der Hauptpreis ist eine Reise nach Japan." "Japan?" fragte Promecius. "Das Land der rückwärts laufenden Bildergeschichten, adipösen Ringer und Automaten, in denen Unterw..." Lindsey errötete und ihre Augen schienen unter den Haaren zu verschwinden. "Das Land der Ninjas?", beendete Promecius. Lindsey nickte. "Ahaahh..." Promecius setzte einen erkennenden Gesichtsausdruck auf. "Kann ich dir vielleicht dabei helfen?" Lindsey blickte auf. Dass Mylord ihr Beihilfe leistete war eine ungewohnte Entwicklung. "Aber ja, Sir.", sagte sie. Lindsey durchforstete das Rätsel. "Hier ist etwas...", murmelte sie. "'Größtes Gefühl', fünf Buchstaben, horizontal. In der Mitte ein E." Lindsey blickte auf und sah Promecius an. Er dachte nach. "Größtes Gefühl..." Gedankenverloren biss er auf seinen Toast. Es war ein unbeschreiblich schreckliches Geräusch, das ertönte, als einer seiner Beißzähne an dem geschwärzten Objekt zu Bruch ging. Wie tausend Schieferzafeln, über die tausend Nägel krazten, wie eine Fabrik aus Styropor, wie kreischende Zahnräder einer rostigen U-Bahn. Und noch schlimmer war der Schmerz. Promecius stieß einen Schrei aus, der die Vögel, die auf dem Schloss nisteten, aufflattern ließ. Tausend Raben, fünfzig Krähen und ein Geierquartett erhoben sich von den Dächern. Promecius' Backe war in Sekundenschnelle geschwollen. Eine Träne rann aus seinem rechten Auge. "Elend..." sagte er mit weinender Stimme. Lindsey schrieb es in die Lücke. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)