Lassie von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 4: Resümee ------------------ „Wo warst du heute Nacht?“, lautete die eisige Frage meines Vaters. Ich antwortete nicht. Regungslos saß ich auf dem Sofa und konnte die Gefühle, die durch meine Brust jagten und versuchten sich irgendwie bemerkbar zu machen, keiner eindeutigen Kategorie zuordnen. Ich starrte ihn an und erst nach und nach realisierte ich seine verärgerten Gesichtszüge und das fast nicht zu erblickende, nervöse Zucken seines Knies; er knetete seine Finger und wartete stumm auf eine Erklärung meinerseits, auch wenn er, dessen war ich mir sicher, am liebsten direkt auf mich losgegangen wäre. „Wieso hast du mich angelogen?“, forderte er scheinbar ausdruckslos, doch dieser unterdrückte, wütende Unterton schwang deutlich in seiner Stimme mit. Wieder nichts sagend, begannen die kleinen Rädchen in meinem Kopf zu arbeiten, trieben sich gegenseitig an und animierten mich zu der Konstruktion einer Antwort, denn das ALARM-Signal hatte nun endlich, scheinbar zeitverzögert, mein gesamtes Nervensystem erreicht und diese fatale Mitteilung an mein Zentrum gesendet. „Jonas!“, schrie er und der gesamte Sessel, auf dem er saß, rückte mit einem leichten Poltern nach vorne. „Bin ich 10 oder was?!“, konterte ich mit den ersten Worten, die mir in meiner leichten Panik eingefallen waren. Wieso würde ich ihn anlügen? Was könnte der Grund sein, ihm zu sagen, dass ich bei Inga schlief? Vielleicht hatte ich bei irgendeinem Verein angefangen? Sport? Nachhilfe? Das bedarf aber keiner Übernachtung! Club? Vielleicht, weil ich endlich mal richtig lange wegbleiben wollte? Negativ! Auch wenn er streng war, wenn ich mit meiner Clique unterwegs war, war es egal, wann ich nach Hause kam, was nie später als 4 oder 5 Uhr war. DENK NACH, DENK NACH, DENK NACH! „Nein, bist du nicht, aber du bist immer noch mein Kind, trotz deiner erleuchteten 18 Jahre!“, donnerte er sarkastisch und ließ mich nicht aus den Augen. „Und als dein Vater würde ich gerne wissen WO du dich herumtreibst, vor allem, wenn das mitten in der Nacht ist!“ „OK, ich war NICHT bei Inga. Jetzt weißt du's ja“, entgegnete ich fest, im Innern immer noch nach einer plausiblen Erklärung suchend. Mein Vater ballte seine Fäuste und seufzte laut und genervt. „Und wo warst du dann?“ „Halt woanders!“, sagte ich patzig. „JONAS! Du wirst mir jetzt auf der Stelle verraten, wo du warst und vor allem mit wem du dich dort abgegeben hast!“, brüllte er und ein kleiner Schauer rann mir über den Rücken. Seine bassige Stimme hatte es wirklich in sich. Was sollte ich ihm sagen? Im Eiltempo spielte ich einige Szenarien in meinem Kopf durch. Würde ich weiterhin standhaft bleiben und keinen einzigen Ton von mir geben, würde ich mich weiterhin stur stellen und wie ein gereizter Hund zurück bellen, ließe er mich nicht mehr aus den Augen; die Lügengeschichten mit „bei Inga pennen“ oder „mit Josh und Martin eine LAN machen“ würde er mir nicht abkaufen. Und dann wären Treffen mit Gabriel gar nicht mehr möglich. „Jonas!“ Natürlich gingen diese Gedanken binnen von Sekunden durch meinen Kopf und mich über weitere Möglichkeiten mit mir selbst zu streiten war einfach nicht möglich. Ich gab meinem Vater eine vollkommen banale Antwort und sagte viel zu viel… Bullshit. „Ich war bei meinem Freund!“ Er schloss den Mund und schluckte seine sich anbahnenden Worte herunter. „Sein Name ist André und ich hab ihn übers Netz kennen gelernt“, erklärte ich ihm. „Wir sind seit einigen Monaten zusammen.“ „Du bist seit einigen Monaten mit deinem Freund zusammen und erzählst es mir nicht?“ „Ja, ist halt... Es ist halt kompliziert, OK? Ich will ihn einfach noch nicht vorstellen. Ich... Es fühlt sich halt scheiße an.“ Ich spürte imaginäre Schweißperlen meinen Rücken hinunter schleichen. „Wieso das denn?!“, fragte er mich verwundert. „Weil es halt so ist... Keine Ahnung, findest du das denn nicht komisch, wenn ich ’nen Mann nach Hause bringen würde?“ Er verdrehte die Augen. „Diese Konversation hatten wir doch schon so oft. Bei Christian hatte ich doch auch nichts gesagt! Mein Gott, sag mir jetzt nicht, dass du auf diesem 'oh nein, alles ist so schlimm, weil ich schwul bin'-Trip bist. Ich dachte, du stehst zu deiner Sexualität?! Und dass ich das tue, das müsstest du mittlerweile wirklich wissen! Mir ist das egal, ob du irgendwelche Weiber oder Männer, oder von mir aus auch beides mit nach Hause schleppst! Die Hauptsache für mich ist, dass du nach Hause kommst, verstehst du das?“ Seine Worte waren energisch, voller Emotionen und sie trafen mich wie ein Pfeil mitten ins Herz. Doch ich musste stark bleiben, mein schlechtes Gewissen besiegen und weiterhin mit dieser Lüge fortfahren. Ungeachtet der Tatsache dessen, dass ich ihm in diesem Moment gerne einfach alles erzählt hätte... „Ja, das weiß ich doch...“, sagte ich ihm milde und starrte das leere Weinglas auf dem Tisch an. „Aber... Ach, ich weiß auch nicht. Die Sache mit Christian eben... Die hat alles irgendwie verändert und ich bin mir der ganzen Sache noch nicht so sicher und will mich mit ihm eben noch nicht als Pärchen richtig 'outen', verstehst du?“ Er schnaubte. „Sag mal, spinnst du jetzt total?“, fuhr er mich wieder an. „Du sagst, du willst das alles langsam angehen, aber, was; du pennst schon bei ihm? Was ist das denn für ne Logik?“ Nun schnaubte ich und rückte ein wenig auf dem Sofapolster zurecht, welches sich heute trotz der normalen Weichheit alles andere als angenehm anfühlte und nicht zum Verweilen einlud. „Das ist heute eben so... Und, naja, Sex ist eben nicht so persönlich wie den Freund seinen Eltern bzw. seinem Vater vorzustellen und eben als festen Freund zu präsentieren und ihm unser Zuhause zu zeigen und so...“ Mein Vater seufzte und lehnte sich kurz zurück, schloss die Augen für einen kurzen Augenblick. „Ihr benutzt aber Kondome?“ „Oh, Gott, Papa, bitte! Nicht DAS Thema, deine kläglichen Aufklärungsversuche hatten wir schon!“, rief ich angewidert aus. Das musste jetzt nicht auch noch sein. „DU hast mit dem Thema angefangen!“ „Ja, dann beende ich es auch wieder.“ „Aber ihr benutzt sie... Oder?“ „JAHA!“ „Gut.“ „Gut.“ Stille trat ein. „War's das?“, fragte ich ihn und er schüttelte den Kopf. „Noch lange nicht, mein Freund.“ Ich atmete lang gezogen aus und redete mir innerlich zu, Ruhe zu bewahren und nicht auszuflippen. „Was willst du denn noch wissen?“ „Wo André wohnt?“ „Am anderen Ende der Stadt, deswegen lohnt es sich auch nicht immer, nur für einige Stunden hinzufahren.“ „Eigentlich dachte ich eher an eine Adresse...“, bemerkte er. „Ich bin nicht 10, das sagte ich dir bereits.“ „Wie oft hast du mich angelogen?“, fragte er mich plötzlich und rückte mir etwas näher, mir direkt in meine Augen schauend. Ich schluckte. „Ein paar Mal...“ „Wann hast du das letzte Mal wirklich bei Inga geschlafen?“, hakte er weiter nach. „Ähm“, überlegte ich und er sagte einfach nur resignierend und feststellend: „Aha.“ Ich schwieg und wich seinem Blick aus. „Eigentlich müsstest du Hausarrest bekommen.“ „Ich bin keine-“ „...10 mehr. Ich weiß“, beendete er seinen Satz. Dann schwiegen wir uns erneut an. „Okay, sag mir ab jetzt, wenn du dahin fährst. Und sag mir wenigstens den Namen der Bushaltestelle, wenn du nicht schon mit der Adresse geben willst.“ „Okay“, willigte ich umgehend ein. Ich würde schon irgendeine finden. Weit weg von Gabriels Haus, seiner Straße. „Werde ich ihn denn irgendwann dann kennen lernen, wenn du dir sicher mit ihm bist?“, fragte er mich mit milder Stimme. Wieder traf ein kleiner Stich mein Herz. „Bestimmt“, log ich und war nicht in der Lage, ihn dabei anzusehen. „Gut. Und jetzt hau ab, bevor ich dir noch eine knalle“, sagte er mit einem sanften Grinsen auf seinen Lippen liegend. Als ich meine Zimmertür schloss, musste ich mich erstmal beruhigen. Ich schnappte mein Telefon und wählte Gabriels Nummer bereits, als mir bewusst wurde, dass ich nicht die Kraft hatte, ihm das alles zu beichten. Und erst in diesem Moment bemerkte ich ebenfalls, dass ich noch ein viel größeres Problem hatte: Inga. Ich setzte mich wie versteinert aufs Bett. Als ich auf mein Handydisplay blickte, erwartete mich dort schon der kleine gelbe Umschlag, der eine SMS symbolisierte. Dass die Nachricht von ihr stammte, wunderte mich kein bisschen. „Ruf mich an sobald dein Dad mit dir fertig ist, OK? HDL!“ las ich im Stillen und verharrte zunächst regungslos, tief Luft holend, die Zeile erneut überfliegend auf meinem Bett. Ich war schon kurz daran ihre Nummer zu wählen, da fiel mir der erste kleine Fehler meiner Notlüge ein. Der quasi-fiktive Typ, dem ich meinem Vater als festen Freund verkauft hatte, basierte auf diesem Disco-Kerl – André. Das würde Inga doch auffallen! Sie wüsste doch ganz genau, dass ich diesen Blonden von der Tanzfläche meinte – den ich vor ihren Augen hatte abblitzen lassen. Verdammt! Ich verfluchte mich. Wieso hatte ich „ihm“ nicht den Namen „Hans“ oder „Peter“ gegeben? (Weil das wahrscheinlich ebenso peinlich wie auffallend gewesen wäre...) Vielleicht würde mein Vater auch nie die Chance bekommen, mit Inga einige Worte über meinen „Freund“ zu wechseln, aber diese Gefahr konnte ich nicht eingehen! Es kam mir vor, als würde eine unsichtbare Uhr in meinem Kopf ticken. Ideen und Verwirrungen rasten in einem imposanten Tempo durch meine Gedanken und letztendlich griff ich immer noch ziemlich planlos und nur mit einer vage zusammenhängenden „Geschichte“ meine beste Freundin an. Um sie ein weiteres Mal schamlos zu belügen. „Hey!“ Sie nahm sofort ab. „Alles OK bei dir? Ich wusste nicht, dass du ihm gesagt hattest, du würdest bei mir schlafen! Das hättest du mir sagen sollen. Es tut mir so leid! Bitte sei mir nicht böse, OK?“, flossen die Worte aus ihr heraus. Ich seufzte. „Ne, schon gut. Ich hab's dir ja halt nicht gesagt, du kannst keine Gedanken lesen.“ „Würde ich im Moment aber ganz gern...“, meinte sie etwas traurig. Ich schloss die Augen ganz kurz und dann war es so, als tauschten wir die Rollen; nun war es mein Mund, aus dem ein Wasserfall aus Worten prasselte. „Ich wollte es dir echt schon früher sagen, aber ich wusste einfach nicht wie und dann war ich auch noch so verwirrt, weil, du weißt ja, dass ich eigentlich nicht so jemand für nur eine Nacht bin, aber nach dieser Internet-Boy-Geschichte war ich so frustriert, dass ich dann einfach mit anderen da weiter gechattet habe. Vielleicht aus Rache oder so, wer weiß das schon, jedenfalls hab ich mich mit ein paar Männern da verabredet und, naja, so ist halt eins zum anderen gekommen und, äh, deswegen war ich nachts auch schon mal nicht hier. Aber du weißt, dass mein Vater mir den Kopf abreißen würde, fände er raus, dass ich, äh, so rumhure...“ Ich biss mir auf die Zunge und versuchte diese Bilder von Gabriels zärtlichem Blick und seinen Berührungen aus meinen Gedanken zu verbannen. „Oah, Jonas!“, herrschte sie mich halb lachend an. „Wieso hast du das denn nicht gleich gesagt?! Das ist doch geil! Ich finde, du hast dir mal so ne wilde Zeit verdient und das ist wirklich kein rumhuren! Genieß das doch, dass du begehrt bist! Aber SAG mir sowas, ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse...?“ „Ja... Sorry, Süße. Tut mir echt leid, OK?“ Ich hörte ein lang gezogenes Seufzen am anderen Ende der Leitung. „Was hast du denn jetzt deinem Vater erzählt?“ „Naja... Ich hab ihn angelogen und gesagt, ich hätte einen Freund, bei dem ich ständig bin.“ „OK, dann wäre es JETZT vielleicht auch gut, dass du mir diese Version verklickerst, damit nicht wieder so ein Malheur passiert, ja?“ „Äh. ja. Ich hab gesagt, dass er André heißt und dass ich einfach noch nicht so weit bin, ihm meiner Familie als festen Freund vorzustellen. Und, naja, das war's. Ich muss mir noch ausdenken, wo er wohnt, mein Vater wollte tatsächlich die Adresse haben.“ „André? Warte! Hieß nicht dieser Kerl aus dem Klub so?“ „...jaaaa....“ Sie sagte nichts und ich zwang mich wieder zu einer Lüge. „Ich war voll überrascht, dass er da auch plötzlich war, weil ihr halt alle da wart... Ich hatte auch voll Schiss, dass er euch erzählen würde, dass ich mit ihm auch schon... naja. Du weißt schon.“ „Oh, mein Gott!“, rief sie nun kichernd in den Hörer. „Hey, der sah ja richtig gut aus! Glückwunsch!“ „Danke...“, nuschelte ich und sie seufzte wieder. „Mann, Jonas, ich kapier immer noch nicht, dass du uns nichts gesagt hast. Josh und Martin waren auch voll verwirrt. Wir haben uns alle voll die Sorgen gemacht, weil du schon die ganzen letzten Wochen halt so komisch warst und dann verhältst du dich auch noch so scheiße, wenn wir dich endlich mal zu ner Party nach deinem Geschmack schleppen!“ „Ja, sorry“, murmelte ich, ausdruckslos aus dem Fenster auf die Straße hinab blickend. „Ich wollte halt auch nicht, dass ihr denkt, naja, dass ich so krass dieses Schwulen-Klischee erfülle.“ Nun prustete sie los. „Du bist echt niedlich“, sagte sie dann, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Ist doch scheiß egal. Josh hat doch letztens auch mit dieser einen Tussi nen One-Night-Stand gehabt, auf irgendeinem Gildetreff, oder was auch immer. Fanden wir das schlimm?“ „Nein...“ „Na, also.“ Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich wollte dieses heuchlerische, beschissene Telefonat endlich beenden. „Ähm“, setzte sie wieder an, gerade als ich ihr sagen wollte, ich müsse nun auflegen. „Es wäre vielleicht auch ganz gut, wenn du Josh und Martin auch aufklären würdest...? Ich meine, du weißt, sie zeigen dir gegenüber vielleicht nicht so ganz ihre, nennen wir es mal Gefühle – weißt ja, Hetero-Männer und dieser ganze Scheiß – aber die kapieren auch, dass etwas nicht stimmt!“ „Ja, Josh hatte mich ja auch mal angesprochen.“ „Und das solltest du ihm hoch anrechnen!“ „Mach ich ja.“ „Gut.“ „Kannst du es trotzdem für mich machen?“ Sie lachte. „Männer!“, spaßte sie dann und ich grinste ein wenig, auch wenn mir irgendwie eher zum Heulen zu Mute war. „Du, ich leg jetzt auf, irgendwie bin ich total müde.“ „Ist in Ordnung. Wir sehen uns dann morgen, ja?“ „Ja, bis morgen. Tschüß.“ Ich lag auf meinem Bett und starrte abermals die Decke an, als wäre dies in den letzten Wochen zu einer Art neuem Hobby von mir geworden. Mein Vater ließ mich an diesem Abend Gott sei Dank in Ruhe, aber scheinbar war das allein sein im Zimmer dennoch nicht die richtige Lösung meines Problems; eigentlich war es so, dass es mir mit jeder verstreichenden Minute schlechter erging. Vermutlich, weil die Last meiner Lügen sich erst nach und nach auf mich senkte und mich zu erdrücken drohte. Der Blick auf mein Handy erschwerte die Gesamtsituation nur noch. Wie konnte dieser Tag eigentlich nur so beschissen enden? Noch vor einigen Stunden hatte ich Gabriels Armen gelegen! Und jetzt? Jetzt lungerte ich hier alleine rum, nach einem unangenehmen Gespräch mit meinem Vater und nach einem noch viel schlimmeren mit meiner besten Freundin. Es tat mir noch viel mehr leid, Inga belügen zu müssen, als meinen Vater. Und Josh und Martin müsste ich nun auch richtig dick etwas vorspielen. Vielleicht sollte ich ja so langsam all meine Lügenversionen zu Papier bringen, um bloß nicht durcheinander zu kommen? Und was würde Gabriel eigentlich davon halten? Gott, vielleicht hätte ich ihn doch als erstes anrufen sollen, um eine Lügenversion mit ihm abzusprechen? Ein kaltes Zittern erfasste meinen Körper und brachte einen unangenehmen Schauer als Resultat mit sich. Gabriel... Es war beinahe Mitternacht als der SMS-Ton mich aus meinen dunklen Gedanken riss und meinen Blick endlich von der Decke ablenkte. Mein Herz pochte. War es wieder Inga? Oder kam die Nachricht dieses Mal von Josh oder Martin? Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie unser morgiges Zusammentreffen wohl aussehen würde. Jonas der Betthopser! Als wenn ich zu so etwas in der Lage wäre... Hoffentlich kauften die mir das ab. Ich meine, wenn INGA es schon tat, wieso sollten Josh und Martin es nicht tun? Und vor allem: Ich bezweifelte, dass meine Bettgeschichten die beiden interessieren würden. Inga hatte nie so das Problem, mit mir über Sex zu sprechen – schließlich standen wir beide auf Männer, wenn man es so kurz fassen wollte. Josh und Martin, naja, nicht; und auch wenn beide eigentlich gar kein Problem mit meiner sexuellen Ausrichtung hatten, so hatten sie dennoch nie wirkliches Interesse an der „intimen Auslebung“ dieser gezeigt, was ich durchaus verstehen konnte. Die beiden hatten sich, um sich über Weiber-Bett-Geschichten auszutauschen und das interessierte mich schließlich auch nicht so. Es sei denn, einer meiner Freunde war verliebt – das war eine andere Geschichte. Aber momentan war das weder Josh noch Martin. Seufzend griff ich nach dem Gerät und erstarrte. „Schlaf schön. Gabriel.“ Ich las diese drei Worte immer und immer wieder und konnte es nicht fassen, dass er mir tatsächlich einfach SO geschrieben hatte, obwohl unser Kontakt doch so „gefährlich“ war, wie er stetig betonte. „Schlaf schön“... Mein Magen knurrte und mir wurde leicht schlecht, als meine Lügengeschichten wieder hochkamen, als mir erneut bewusst wurde, in was ich mich hinein geritten hatte. Vor allem wurde mir schlecht, als mir ebenfalls bewusst wurde, dass ich Gabriel einweihen müsste. Schon sehr bald. Wir trafen uns am Schultor. Inga, Josh, Martin und ich. Sie grinste und die beiden Jungs verhielten sich ziemlich... normal. Die üblichen „Was-geht“-Floskeln wurden ausgetauscht, Josh beschwerte sich bei mir, dass ich die Mathehausaufgaben nicht erledigt hätte, die er hatte abschreiben wollen. Warum auch immer, eigentlich war ich viel schlechter als er. Wobei wir beide lediglich im unteren Notenbereich lagen und sich daran vermutlich auch nichts ändern würde. Die Stunden flossen vor sich hin. Langsam, wie in Teer getunkt; die Zeiger der alten Schuluhren schienen sich nicht von der Stelle bewegen zu wollen. Die Fenster waren am Wochenende beschädigt worden und konnten nicht geöffnet werden; es wurde stickig im Raum, in dem wir die letzte Stunde absitzen mussten. Inga fing mich am Hauptausgang ab und wir schlenderten zusammen zum Tor. „Ich hab's den beiden gesagt. Wollte ich dir nur erzählen“, sagte sie. „Und? Wie haben sie reagiert?“ „So, wie ich's gedacht hatte. Die meinten, es ist gut, dass du dich austobst. Sie finden es nur scheiße, dass du's nicht einfach gesagt hast“, erklärte sie ruhig und ich nickte. „Wird in Zukunft nicht mehr geschehen“, versicherte ich ihr. Mein Vater wartete mit dem Essen auf mich. Es war gegen 15 Uhr, als ich heim kam, mich wundernd, dass er überhaupt schon zu Hause war. „Na, wie geht’s dir?“, begrüßte er mich abermals, als wir uns an den Küchentisch setzten. Die Nudeln dampften noch und die Tomatensauce sah würzig aus, er hatte mir sogar schon Apfelsaft ins Glas gegossen. „Joa, Schule war halt langweilig“, antwortete ich, als ich meinen Teller füllte. „Aber ich streng’ mich an und hör zu!“, fügte ich eilig hinzu und mein Vater runzelte seine Stirn ausnahmsweise nicht. „Und bei dir?“ Nun runzelte er sie. „Deine Mutter hat angerufen“, entgegnete erst nach einer Weile. „Jetzt doch wieder mit Ulf auseinander?“ Er seufzte. „Nein.“ „Oh. Schade.“ Mein Vater sah mich an, während ich mich die Zunge an der heißen Sauce verbrannte und mir eine Abkühlung mit Apfelsaft verschaffen wollte. „Und, gehste heute noch zu André?“, fragte er mich plötzlich. „Nein“, sagte ich mit vollem Mund und starrte auf meinen Teller. „Heute nicht.“ „Hmmmh“, brummte er leicht nickend. „Vielleicht am Wochenende.“ „Hmmmh“, brummte er wieder. Und somit hatte sich unsere Konversation auch ihrem Ende geneigt. „Mach den Abwasch“, befahl er mir noch und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Widerwillig machte ich mich an diese niedere Tätigkeit, der Regel folgend: lügst du deine Eltern an, tue alles, was sie von dir verlangen. Nun gut. Bei meiner Mutter sah das auch etwas anderes aus, aber da war diese „Lüge“ auch noch viel größer. Wobei: Konnte man Schweigen eigentlich als Lüge bezeichnen? Meine Mutter dachte ich sei hetero, wir hatten nie darüber geredet und so sah es bis heute aus. War das also auch eine Lüge? Ich zuckte die Schultern und trocknete den großen Topf ab. Scheiß drauf. Ich hatte schwerer wiegende Probleme. Als ich meinen PC einschaltete, spielte ich kurz mit dem Gedanken, Gabriel einfach eine lange Email zu schreiben, die ihm alles erklärte. Doch diese Idee verwarf ich ebenso schnell, wie sie mir gekommen war. Ich wollte ihm das direkt sagen. Ich musste ihn einfach am Wochenende sehen! Ich setzte mir in den Kopf meinen Freunden abzusagen, sollten sie etwas vorschlagen. Jetzt hatte ich ja auch die perfekte Ausrede: Irgendein Fick mit irgendeinem Spast aus dem Internet. Wie reizend. Ich rollte mit den Augen. Besser als gar nichts. Hoffentlich sah Gabriel das genauso. Vor der kommenden Geschichtsstunde hatte ich jedenfalls riesigen Bammel. Ich verfluchte den Tag bereits, als ich Inga im Flur traf und sie mich grinsend begrüßte. „Stefan sagt, er will dich mit seinem Mitbewohner verkuppeln“, erklärte sie mir kichernd. „Er meinte, er hätte ihm Fotos von dir gezeigt und der wäre wohl schon ganz scharf auf dich.“ „Stefan hat Fotos von mir?!“ „Naja, nicht direkt, ich hatte halt welche von uns mitgebracht, weil Stefan ein schönes Bild von mir haben wollte und ich halt nicht wusste, welches ich ihm geben sollte“, erklärte sie entschuldigend. „Warum hast du nicht einfach ein Neues gemacht?“, schlug ich ihr mit sarkastischer Stimme vor. „Frauen!“, sagte sie schulternzuckend und entlockte mir ein kleines Grinsen. „Was ist denn nun?“ Ich blickte sie fragend an. „Willst du ihn kennenlernen?“, hakte sie genervt nach, da betraten wir gerade den Raum. Und da saß er. Gabriel. Am Pult, die Nase wie immer in ein Buch vergraben. Nein, dieses Mal war es eine Zeitschrift. Ah, ja. Die „PM History“. Da hatte er doch ein Abo von. Hatte letztens sogar selbst mal durchgeblättert. An der Arbeit wegen der Fehlstunden schrieb ich ja immer noch – und er half mir dabei. „Hallooooo?“ Inga zwickte mich in die Seite und ich schreckte auf. „Achso. Ja. Nein.“ „Was denn nun?“ Ich stellte meine Tasche ab und mein Blick wanderte unwillkürlich zurück zum Pult. „Nein, will ich nicht.“ Sie seufzte und ließ sich in ihren Stuhl sinken. „Wieso denn nicht? Ich hatte mich schon so auf einen lustigen Vierer-Abend gefreut! Und vielleicht würde das ja wirklich was mit euch beiden werden? Wär doch voll cool!“, plapperte sie weiter, aber ich konnte ihren Worten nicht folgen; sein Anblick nahm all meine Sinne in Anspruch. Ich beobachtete ihn, wie er die Seite umblätterte, und wie sich eine Augen minimal beim Lesen bewegten; wie er ganz leicht mit seinem rechten Fuß wippte; ich schreckte fast auf, als er sich räusperte. „Samma, hörst du mir überhaupt zu?!“ Inga boxte mich leicht in die Schulter und ich warf ihr einen schuldbewussten Blick zu. „Nein, sorry“, gab ich dann zu und sie verdrehte leicht ihre Augen. „War dein Vater eigentlich total sauer?“, fragte sie nach einer Weile ernst. „Hm, ne, war ein Weltwunder. Ich meine, klar hätte er mir gern eine runtergehauen, und wenn er die Wahrheit wüsste, würde er es auch vermutlich tun, aber so ist es wohl oder minder OK für ihn. Also, er akzeptiert es, auch wenn er nicht sehr darüber erfreut ist.“ „Und was machst du, wenn er darauf pocht, ihn kennen zu lernen?“ „Dann mache ich halt quasi „Schluss“ mit André“, sagte ich grinsend. War eigentlich gar keine so schlechte Idee, als Notfallplan… Falls meinem Vater wirklich einmal der Kragen platzen würde. „So, das Gerede bitte einstellen, ich würde jetzt gern anfangen“, erklang seine Stimme und raubte mir fast den Atem. Als ich ihn ansah, wäre ich am liebsten aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen. Seit Sonntag hatte ich ihn nicht mehr anfassen können und nun stand er nur einige Meter von mir entfernt. Ich wollte ihn doch einfach nur fragen, wie es Sonntagabend noch mit seinen Kollegen gewesen ist, und ob er Montag müde war und wie es ihm heute ging; triviale Dinge, völlig normale Gespräche zwischen zwei Menschen die sich… liebten. Ich erschauderte, als ich das Wochenende – den schönen Teil, den ich mit ihm verbracht hatte - Revue passieren ließ. Als ich die erste Viertelstunde damit verbracht hatte, wurde mir in einem unbehaglichen Moment plötzlich klar, dass ich Gabriel die ganze Zeit über verträumt angestarrt hatte. Beinahe fiel ich vom Stuhl, als ich mir eine innere Ohrfeige verpasste und meinen Kopf nach links drehte, um aus dem Fenster zu starren. Ich schluckte. Hatten es meine Mitschüler bemerkt? Hatte INGA es gesehen? Ich warf ihr einen kurzen, klitze-kleinen Seitenblick zu; sie sah so gelangweilt wie immer aus und starrte in die Leere. Ich atmete auf. „Jonas? Kannst du bitte vorlesen?“, hörte ich plötzlich seine Stimme erklingen. Erschrocken sah ich ihn an. Sein Blick war streng, dieser typische genervte Blick eines Lehrers, der es satt hatte, dass seine Schüler ihm nicht zuhörten; völlig kalt. Er lehnte sich lässig gegen sein Pult und begutachtete mich skeptisch. So anders als sonst, so völlig gegensätzlich zu der Art, mit der er mich am Wochenende behandelt hatte. Eiskalt. Ich räusperte mich und blickte auf das aufgeschlagene Buch. „Welche Seite… denn?“, fragte ich ihn heiser. „Dreiundsiebzig.“ Immer noch so kalt. Ich begann zu lesen. Ich hasste es meine Stimme im großen Raum zu hören, während alle anderen schwiegen. Ich betete, dass mir niemand zuhörte. Endlich nahm er jemanden anderen dran – als ich ihn ansah, war sein Blick nicht auf mich gerichtete. Ich war ziemlich… enttäuscht, biss mir auf die Zunge und zwang mich, weiterhin aus dem Fenster zu starren. Ihn nicht mehr anzusehen. Ich weiß nicht, wie ich es bis zum Freitag überhaupt aushielt, ohne komplett durchzudrehen. Auch bei der nächsten Geschichtsstunde war es viel zu schwer ihn nicht anzusehen. Er hatte mir keine weitere SMS geschrieben und auch ich hatte mich nicht bei ihm gemeldet. Irgendwie hatte ich Angst vor der Verkündung dieser Lügengeschichte; Gabriel hatte doch schon am Anfang prophezeit, es könne etwas schiefgehen. Nun, mein Vater war meinen Freunden zwar nicht zufällig über den Weg gelaufen – meine Freunde waren direkt zu ihm gegangen. Gabriel würde durchdrehen. Inga versuchte mich noch ein Mal zu diesem „Viererdate“ zu überreden und Josh und Martin verkündeten, sie würden sich am Wochenende einsperren und die ganze Zeit WoW spielen. Was mich sehr glücklich machte. Ich musste bis auf Ingas idiotische Idee nichts absagen. Ich rief Gabriel an, als ich nach Hause kam. Er ging auch dieses Mal direkt ans Telefon. „Hey“, begrüßte er mich mit freudiger Stimme und die Erinnerung an die letzte Geschichtsstunde schien wie erfunden. „Hey“, sagte ich. „Kann ich heute zu dir kommen?“ „Deine Freunde hatten nichts vor?“ „Nein.“ „Dann gern. Bleibst du… bis Sonntag?“ „Wenn ich darf…“ Er lachte leise. „Na klar.“ „Ich bin gegen 18 Uhr da, ist das OK?“ „Soll ich was kochen?“ „Wenn du magst.“ „Okay.“ Ein mulmiges Gefühl überkam mich erst, als ich meine kleine Reisetasche packte, wissend, dass ich meinem Vater sagen müsste, ich fuhr zu André. Er kam gegen 17 Uhr nach Hause. Er war schlecht drauf und als er mich mit meiner Reisetasche im Flur stehen sah, seufzte er nur. „Wie lange bleibst du weg?“, lautete seine erste Frage. „Bis Sonntag“, entgegnete ich ruhig. „Und die Haltestelle in der Nähe?“ Oh, Fuck! Das hatte ich total vergessen. „Äh, Hammersberg“, entgegnete ich schnell, das sagend, was mir am ehesten einfiel. Mein Vater runzelte die Stirn. „Das liegt aber so gar nicht am anderen Ende der Stadt“, sagte er dann, mich anblickend. „Naja“, setzte ich schief grinsend an, während mir mein Herz meine Brust zu zerbersten drohte. „Vielleicht hab ich bei meiner Beschreibung letztens ein wenig übertrieben…“ Mein Vater sagte gar nichts mehr. Ich weiß auch nicht, ob er mir überhaupt noch einen Blick zuwarf, während er mich noch fragte: „Dein Handy hast du mit und an?“ „Na klar“, antwortete ich ihm schnell. „OK. Dann viel Spaß mit André.“ Mir war speiübel, als ich die Haustür hinter mir schloss. Wer hätte gedacht, dass ich mich beim belügen meines Vaters mal so schlecht fühlen würde? Ich versuchte dieses Gefühl abzuschütteln, aber es verstärkte sich nur noch, je näher ich Gabriels Haus kam. Und dabei wollte ich mir doch nicht den schönen Abend versauen lassen! Wir hatten gerade mal drei Tage, an denen wir uns sehen konnten, natürlich wollte ich diese nicht mit dieser schlechten Laune beginnen. Bevor ich klingelte, holte ich noch einmal tief Luft. Nein, ich würde ihm nicht alles sofort beichten. Ich würde mir Zeit lassen und zunächst diesen Abend genießen. Er küsste mich zärtlich im Flur und seine Finger strichen durch mein Haar. Er hatte uns Salat gemacht und sogar schon eine Flasche Weißwein kaltgestellt. Er prickelte irgendwie auf meiner Zunge und war ein bisschen süß. Ich mochte ihn. Vor allem aber gefiel mir, dass Gabriel solch gute Laune hatte. Er erzählte von Frank, der letztens endlich jemanden gefunden hatte. Und plötzlich änderte er das Thema vollkommen. Er setzte sich direkt neben mich und gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange. „Wir machen morgen einen kleinen Ausflug“, verkündete er dann lächelnd. „Einen Ausflug?“ Er nickte, immer noch lächelnd. „Bei Cuxhaven gibt es eine nette Ecke. Ist zwar noch nicht so ganz warm, aber gegen einen Spaziergang am Strand ist nichts einzuwenden, vor allem, weil morgen den ganzen Tag die Sonne scheinen soll“, erklärte er vor sich hin träumend. Bei seiner Aussage zog sich meine Kehle enger zusammen. Nein, jetzt würde ich ihm diese ganze Lügengeschichte auf keinen Fall beichten! „Freust du dich denn gar nicht?“, fragte er und ich erwachte aus meinen Gedanken. „Doch! Na klar! War nur ein bisschen überrumpelt, aber das ist echt cool!“; entgegnete ich hastig und beugte mich ein wenig zu ihm, ließ meine Lippen sachte über seine Wange streichen. Verdammt, wieso war ein schlechtes Gewissen nur so eine dumme, nervende Schlampe! Ich sagte mir immerzu, diese Gedanken in den Hintergrund zu drängen, ich lächelte Gabriel an und erzählte ihm ein wenig vom Sportunterricht, in dem ich beim Bockspringen total versagte. Er lachte mich nur ein wenig aus und redete mir zu, dass mein Sportlehrer es nur gut meinte und im Privaten ein ganz netter war. Waren denn alle Lehrer nur „im Privaten“ nett? Ich trank noch ein Glas Wein und Gabriel lachte sachte und nahm mir irgendwann mein Getränk aus der Hand. „Sonst hast du morgen einen Kopf und wir können unseren kleinen Ausflug gar nicht genießen...“, erklärte er. Einen leichten Kater hatte ich wirklich, der Wein hatte, wenn man es so ausdrücken wollte, ganz schön reingehauen. Es roch schon nach Kaffee, als ich meine Augen öffnete, weil mich irgendwas kitzelte. Ich starrte in Lassies Augen und seufzte. Der Kater miaute kurz und machte es sich dann plötzlich auf meinem Bauch so richtig gemütlich. Schnarchte er? Oh, nein, das war ja ich! Ich hörte Gabriel lachen. Und öffnete meine Augen nun endlich vollends. Er stand direkt am Bett und musterte mich lächelnd. „Lassie mag dich auch. Ich denke, er hat schon vergessen, dass du ihn angefahren hast“, scherzte er und ich fing an die Katze zu streicheln. Das Fell war weich und Lassie fing auch schon bald an zu schnurren. Ich musste grinsen. „Na los, steht schon auf, alle beide!“, forderte Gabriel plötzlich auf und zog mir die Decke einfach weg. Lassie miaute auf und rannte aus dem Zimmer. „Tierquäler!“, beschimpfte ich ihn, da zog er mich bereits an meinem Arm spielerisch aus dem Bett und drückte mich ins Bad. „Waschen, Anziehen, Kaffee trinken und los!“, befahl er und war schon verschwunden. „Frühstücken wir denn gar nicht?“, fragte ich ihn verwundert, als ich immer noch müde in die Küche stapfte. „Oh, Gott, es ist 6 Uhr morgens?!“, entwich es meinem Mund, als mein Blick die Küchenuhr streifte. Deswegen war es noch nicht so hell! „Wenn wir so früh losfahren, wird uns hier auch keiner entdecken. Außerdem dauert die Fahrt nun mal und wir haben viel mehr vom Tag“, erklärte er mir, während er mir Kaffee einschenkte. „Wir frühstücken unterwegs, OK?“ „OK.“ Wir hielten gegen halb acht. An einer kleinen Raststätte, die merkwürdiger Weise fast gar nicht überfüllt war. Mein Magen knurrte und ich konnte mich gar nicht entscheiden, welches Brötchen ich nehmen sollte. Letztendlich war es doch ein Schokocroissant und ein weiterer Kaffee. Ich sah Gabriel an, als wir an dem kleinen Tisch in der hintersten Ecke Platz genommen hatten; ich ertappte ihn dabei, wie er die Umgebung musterte und wie seine Augen immer wieder die Menschen streiften die hier und dort saßen und die neuen Kunden, die die Raststätte betraten. Ich musste seufzen. Ich war genervt. Er war immer noch auf der Hut, dabei waren wir fast ne Stunde gefahren! Wieso sollten denn ausgerechnet irgendwelche Leute aus der Schule so FRÜH an einem Samstag in dieselbe Richtung wie wir unterwegs sein?! Die hatten sicherlich Besseres zu tun! „Ist was?“, fragte er mich plötzlich und ich sah aus dem Fenster. „Nö, alles OK.“ „Das stimmt doch nicht, oder?“, hakte er nach einer kurzen Weile milder nach und ich verdrehte die Augen. „Hab nicht immer so viel Schiss, dass wir entdeckt werden, OK?!“, zischte ich und streifte ihn nur kurz mit meinem Blick. „Bist du fertig, können wir los?“ Er nickte einfach nur und unsere Reise ging weiter. „Jonas“, setzte er dann nach einigen Minuten der Fahrt an. „Tut mir Leid wegen vorhin.“ „Schon OK“, murmelte ich, noch immer aus dem Fenster starrend, da legte er plötzlich seine Hand auf meinen Oberschenkel und eine Welle der angenehmen Wärme raste im Eiltempo durch meinen Körper. Ich sah in an und er lächelte mir kurz zu, wonach er seinen Blick wieder auf die Autobahn richtete. „Deswegen will ich ja mit dir weiter weg fahren. Damit ich mir deswegen keine großen Sorgen machen kann und wir einfach mal ein wenig Zeit draußen verbringen können, verstehst du?“, sagte er. „Mhmmm“, machte ich und schloss die Augen, um mich noch mehr auf seine Berührung konzentrieren zu können. Der Tag war wunderschön. Ich weiß, es klingt so abgedroschen, aber dieses simple Wort beschreibt es dennoch genau richtig. Wir aßen Krabbenbrötchen, wir gingen am Strand spazieren – zwischen all den Rentnern, und der Wetterbericht hatte wirklich nicht gelogen. Trotz des Windes, der von der See kam, war es warm genug. Ich fragte mich, ob ich nicht sogar ein bisschen braun werden könnte. Gabriel fragte mich über meine Familie aus und ich erzählte ihm davon, wie meine Mutter meinen Vater und mich einfach hatte sitzen lassen und dass die Dinge zwischen meinen Eltern wohl für immer kompliziert bleiben würden; mein Vater wollte sich einfach keine andere Frau suchen. Ich glaube, er liebte meine Mama noch immer. Aber ich hatte keine Lust mehr zu erzählen. Vielmehr interessierte mich Gabriels Familie. „Erzähl mir was“, forderte ich ihn auf und endlich öffnete er sich mir gegenüber etwas. Seine Mutter war ständig krank, während sein Vater sich mit Radfahren und anderem Sport fit hielt und ihn im Rahmen seines Sportprogramms auch öfters besuchte – und sich dann beschwerte, dass sein Sohn keine große Begeisterung für körperliche Fitness aufbringen konnte. „Er sagt mir ständig ich sei zu fett“, sinnierte er und ich lachte laut. „Du bist nicht fett! Du bist genau richtig“, sagte ich ihm grinsend. „Nun, mein Vater meint ich sei zu fett und würde deswegen keine Frau finden“, fuhr er fort und richtete seinen Blick dann wieder direkt auf mich. „Hä, deine Familie wusste doch eh Bescheid…?“ „Was nichts bedeutet, dass sie es gutheißen“, entgegnete er milde und lächelte. „Du hast da wohl scheinbar sehr viel Glück mit deinem Vater“, fügte er im selben Ton hinzu. „Ich denke, mein Vater wird diesen Schock wegen Michael einfach nicht mehr los und verurteilt mein Schwulsein deswegen. Aber das macht nichts.“ Ich drückte seine Hand und wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Wir wechselten eh das Thema und redeten über Nichtigkeiten. Und diese Schlampe von schlechtem Gewissen wollte mich einfach nicht in Ruhe lassen. „Wollen wir uns mal hinsetzen? Die Sonne hat den Sand so schön aufgewärmt“, schlug Gabriel nach einer ganzen Weile vor. Ich nickte lediglich. Er hatte Recht gehabt. Der Sand war warm und es war angenehm, endlich mal zur Ruhe zu kommen. Spazierengehen konnte einen doch auch ganz schön fertig machen. „OK. Sagst du mir jetzt, was dir schon den ganzen Tag auf dem Herzen liegt?“, schreckte mich Gabriels Stimme aus meinen Gedanken. Erschrocken musterte ich ihn und er schien nicht daran zu denken, seine Augen von mir zu nehmen. „Komm, sag es mir einfach, dann kannst du auch den restlichen Tag so richtig genießen, ja?“ Der Damm brach. Ich erzählte ihm einfach alles, von meinem Schock, als Inga plötzlich auf meinem Sofa saß und meiner Ratlosigkeit, als mein Vater mich konfrontierte; von meiner dummen Idee mit André und der Problematik dieser Lüge wegen meiner Freunde; und von meiner weiteren grandiosen Geschichte mit den Internetflirts, die aus dieser Problematik entstand. Gabriels Miene war wie versteinert. Als ich fertig war und ihn atemlos anblickte, schloss er kurzzeitig seine Augen und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, so als ob er müde wäre und versuchte, den Schlaf von seiner Haut zu streichen. Er seufzte ziemlich laut und sein Blick ruhte dann endlich wieder auf mir und nicht auf dem grau erscheinenden Wasser vor uns. „Ich wusste, dass so etwas passieren würde“, sagte er. „Früher oder später...“ „Es tut mir leid!“, rief ich schon beinahe aus. „Wirklich, ich hatte nicht gedacht, dass Inga einfach herkommt! Das macht sie sonst nie!“ „Vielleicht verhältst du dich ja auch komplett anders, sodass sie gezwungen ist, sich dir gegenüber auch anders zu verhalten...“, sinnierte er, den Blick wieder aufs Meer richtend. „Denk nur mal an die Party im Klub letztens...“ „Ja...“, gab ich kleinlaut bei. „Aber ich geb' mir echt Mühe, mir nichts anmerken zu lassen und sie glaubt ja auch diese Internetflirt-Geschichte und Josh und Martin auch, und die drei wissen ja jetzt auch, dass ich meinem Vater das mit André gesagt habe. Die halten dicht! Das ist jetzt ganz sicher!“ „Ja, auch wenn mir diese Lügenversion absolut nicht gefällt...“, bemerkte Gabriel abfällig. Ich starrte den Sand an. „Aber vielleicht ist es so ja besser, weil uns jetzt meine Freunde wie auch mein Vater erstmal in Ruhe lassen...“, sagte ich. „Erst mal. Meinst du nicht, dass dein Vater irgendwann diesen André kennenlernen will?“, richtete er seine Worte direkt an mich und sein durchdringender Blick erfüllte mich mit Nervosität. „Ja, dann erzähl ich ihm halt, ich hätte mit ihm Schluss gemacht!“ „Und dann?“ „Ja, dann... Dann sag ich halt, dass ich wieder wen kennengelernt hätte.“ „Und das machst du dann wie oft...?“, seine Stimme klang kalt und ich wusste einfach nicht mehr weiter, ließ meine Schultern hängen und starrte wieder die feinen Sandkörner an. „Mann, ich wollte doch auch nicht, dass das passiert!“, sagte ich verzweifelt und resignierend. Wir schwiegen und lauschten dem Geräuschen des Wassers und des Windes, der sachte über unsere Körper strich. Gabriel seufzte erneut und dann legte er plötzlich seinen Arm um mich und zog mich eng an sich. Unsere Blicke trafen sich und unsere Gesichter waren sich dabei so nah, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. „Weißt du was schön wäre?“, sagte er dann. „Was denn?“ „Wenn wir einfach jeden Tag so wie hier verbringen könnten“, meinte er mild und gab mir einen leichten Kuss auf die Lippen. „Auch wenn uns manche Rentner-Pärchen komisch angucken.“ Mit seinem Kopf nickte er ganz leicht in Richtung Wasser und meine Augen folgten dieser Bewegung; ich sah gerade noch die letzten abschätzenden Blicke der zwei Senioren, die sich nun von uns entfernten. Ich grinste Gabriel ein wenig an. „Bist du mir sehr böse wegen der Lügengeschichte?“, fragte ich ihn dann vorsichtig und er zog mich auf seinen Schoß. „Es war wahrscheinlich das Beste, was du in dieser Situation tun konntest“, sagte er dann. „Hmm…“, machte ich. „Und jetzt?“ „Jetzt müssen wir eben noch vorsichtiger sein… Ich weiß nicht…“, sagte er. Und dann küssten wir uns. Wir waren müde, als wir das Haus am Abend erreichten. Lassie miaute solange, bis Gabriel ihm endlich etwas zu Fressen gab und als wir ins Bett stürzten, hatte keiner von uns die Kraft, die Katze fort zu scheuchen. Und so schliefen wir zu dritt genüsslich ein. Wir arbeiteten am Sonntag, in der Küche, direkt nach dem Frühstück begannen wir damit. Ich schrieb an meiner Arbeit über Nordische Mythologie weiter – ich war FAST fertig – und Gabriel korrigierte irgendwelche Aufgaben, bereitete den Unterricht vor. Es war ein völlig entspannter, angenehmer Vormittag. Bis mein Handy klingelte und mein Vater sich beschwerte, dass er Hilfe im Garten bräuchte; das Wetter sei ja so schön und das müsse man ausnutzen. Widerwillig machte ich mich auf den Weg – nicht ohne mich vorher mit reichlichen Küssen und Umarmungen von Gabriel zu verabschieden. Die Gartenarbeit war grässlich. Nicht aufgrund der eigentlich Tätigkeiten, die anfielen, sondern wegen dieser aufdringlichen Neugier meines Vaters, der auch scheinbar indirekte Wege versuchte Informationen über „André“ und was wir beiden denn gemacht hätten zu ergattern. Er stellte Fragen, die ich patzig beantwortete oder gar komplett ignorierte. Meine Wut wuchs mit jeder einzelnen von ihnen; ich war kurz davor einfach alles hinzuschmeißen und ins Haus zu gehen, doch mein Vater kam mir irgendwie zuvor – als ich ihm genervt sagte, er solle „seine Fresse“ endlich halten, schrie er mich an, mich gefälligst in mein Zimmer zu scheren und ja nicht mehr runter zu kommen. „Sehr gern!“, brüllte ich zurück. Ich muss schon gestehen. Mein Ärger verflüchtigte sich schneller, als er sich überhaupt hatte aufbauen können. Viel eher trat nun wieder die Schlampe von schlechtem Gewissen an dessen Stelle. Mein Vater konnte gar nicht wissen, wie sehr ich mir wünschte, ihm Gabriel einfach vorstellen zu können... Ich wollte ihn nicht so anlügen, nicht in diesem Bezug, nicht so heftig, wie ich es leider tun musste. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich mich über den Beginn eines Montages freute. Mein Vater und ich taten am Frühstückstisch so, als wäre nichts gewesen und ich machte mich auch schon sehr schnell auf zur Schule. Inga wartete am Tor und überfiel mich mit ihrer Wochenendplanung; sie fragte mich, ob ich denn nicht wenigstens am Freitag mit Stefan, ihr und diesem Mitbewohner da Cocktails trinken würde. Als sie ihren Hundeblick ausspielte, sagte ich zu. Ich sagte mir, dass es nun vor allem an der Zeit war, stark zu bleiben und sich zusammen zu reißen. Gabriel war nicht sauer auf mich und ich dürfte ihm nun in naher Zukunft nicht verärgern, uns in Gefahr bringen! Und so biss ich mir auch während der nächsten Geschichtsstunden auf die Zunge, ich starrte Inga an, oder das Geschichtsbuch und wenn ich so tat, als würde ich Herrn Hinrichs ansehen, so schaute ich einfach an ihm vorbei und dachte an etwas völlig anderes. An das bevorstehende Mittagessen, an irgendwelche PC-Spiele, die ich mir mal holen wollte, an das was Josh und Martin so über ihre Gilde erzählten und und und. Kurz: Es gelang mir, Gabriel nicht die ganze Zeit über anzustarren! Es kostete mich zwar enorm viel Kraft und vom Unterricht bekam ich auch so gut wie gar nichts mit, aber ich war dennoch stolz auf diesen kleinen Schritt, den ich gemeistert hatte! Am Mittwoch fragten Josh und Martin mich, ob ich nicht Bock hätte, mir irgendwelche Horror-Filme am Samstag mit ihnen reinzuziehen. Ich rief Gabriel auf dem Nachhauseweg an. „Die wollen am Samstag mit mir nen Videoabend machen, aber ich bin doch schon Freitag mit Inga und so unterwegs, los, red mir das aus und sag, dass ich gefälligst zu dir kommen soll!“, rief ich schon fast in den Hörer und erntete damit ein mildes Lachen Gabriels. „Mach doch lieber wieder etwas mit deinen Freunden, Jonas...“, sagte er sanft. Und als ich nichts sagte, fuhr er ebenso fort. „Schau, wir haben dann ja doch noch etwas vom Sonntag, oder? Und außerdem habe ich etwas ganz tolles für das kommende Wochenende geplant.“ Seine Stimme klang verheißungsvoll. „Was denn?“, hakte ich aufgeregt nach. „Ein Ausflug nach Hamburg, inklusive Übernachtung im Hotel. Was sagst du?“ „Meinst du das ernst???“ „Japp.“ „Geil!“ Ich kann nicht beschreiben, WIE glücklich ich tatsächlich war. Gabriel dachte an mich, er plante Sachen für uns und wir würden uns kommenden Wochenende sehen, wir würden quasi verreisen und – oh, Mann! Auf die Nacht im Hotel freute ich mich besonders...! In meinen Gedanken schweifte ich bereits ab und zensierte mich nach eine Weile bereits selbst... Also sagte ich Josh und Martin zu und ich meinte sogar, dass die beiden sich deswegen sogar sehr freuten. Ich beendete sogar meine Extra-Arbeit und legte sie stolz in Gabriels Fach. Ich hinderte mich daran, ihm noch ein kleines Extra hinzuzufügen. Worauf ich dann auch stolz war. Ich überlebte den Freitag. Stefans Mitbewohner war schon irgendwie attraktiv und hätte ich Gabriel nicht gehabt, hätte ich mich sicherlich in ihn verguckt. Aber es war auch beruhigend zu wissen, dass dieser junge Kerl am Vorabend einen anderen jungen Kerl kennengelernt hatte, der seine gesamten Gedanken ausfüllte und er somit nicht das Fünkchen Interesse an mir zeigte, von dem Inga vorher erzählt und auf dem sie beharrt hatte. Im Grunde genommen war der leichte Smalltalk, den wir an diesen vier Stunden betrieben, völlig angenehm. Ich ging zufrieden nach Hause und fand meinen Schlaf auch sehr schnell. Der Samstag mit Josh und Martin verlief auch gut, wenn auch etwas anders. Wir leerten eine Kiste Bier zusammen und machten uns dann auch noch an den „geheimen“ Schnapsvorräten von Martins Eltern zu schaffen, die bereits schliefen. Und irgendwann schaltete irgendwer von meinen beiden Freunden plötzlich diese dämliche Pornoseite an. Ich glaube YouPorn. Und die beiden grinsten debil, während irgendwelche Frauen irgendetwas mir ihren Geschlechtsteilen vor der Linse trieben und unfassbar dämlich dabei stöhnten. „Ich kapier echt nicht, wie du NICHT auf Titten stehen kannst!“, lallte Josh dann irgendwann, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen. „Ihr seid echt so erbärmlich“, murmelte ich kopfschüttelnd und lachte, die beiden am Schirm Klebenden anguckend. „Ach, erzähl uns jetzt b-bloß nicht, dass du keine Pornos guckst… ich meine, Schwulenppppornos gibt es ja wohl auch genug!“, feixte Martin dann und ich musste schief grinsen und kichern. Ein paar davon hatte ich ja tatsächlich auf meiner Festplatte. „D-Das nehme ich als Antwort. Danke!“, kam es von Martin. Und danach schauten wir uns dann wieder einen Horror an. Bei dem wir einschliefen. Am Sonntag setzte ich mich, trotz meines Megaschädels, an Hausaufgaben, eine Tatsache, die meinen Vater sehr zufrieden stimmte; er betrat mein Zimmer und brachte mir sogar Eistee und einige Kekse hoch. Ich kippte fast vom Stuhl! Und er nervte mich auch nicht mehr wegen „André“. Auch nicht an den folgenden Tagen, die für meinen Geschmack einfach viel zu langsam vergingen, so als hätte sie jemand in Teer getaucht. Ich war nervös, wann immer ich in den Geschichtsstunden zu Gabriel sah, der mich diese Woche Gott sei Dank nicht zum Lesen aufforderte. Als ich in der Fünf-Minuten-Pause am Pult vorbeiging, sagte er mit seiner Lehrerstimme, halb gelangweilt, halb streng: „Ich habe deine Arbeite erhalten, sieht ganz gut aus. Ich lese sie mir kommende Woche durch.“ Er schaute mich dabei nur ganz kurz an und ich war glücklich, dass ich mich nur einige Sekunden später auf dem Schulflur befand, denn ich musste dümmlich grinsen und konnte das absolut nicht verhindern. Endlich. Endlich kam der Freitag. Und meine Freunde hatten noch nicht mal etwas vor mit mir, weil sie entweder durch Familie oder andere Bekanntschaften eingespannt waren. Yes! Ich erzählte sogar meinem Vater eine Teilwahrheit, die mein gesamtes schlechtes Gewissen in eine Art Balance brachte; mit der Reisetasche um meine Schultern gehangen ging ich nach unten, wo er fernsah, und berichtete ihm, damit er sich keine Sorgen um mich mache, dass ich mit André nach Hamburg fuhr. Er runzelte die Stirn und sah mich eine Weile lang an. „Was wollt ihr denn da?“, fragte er schließlich und ich seufzte. „Uns die Stadt ansehen, Shoppen, Weggehen…“, entgegnete ich also und er schwieg erneut eine kurze Zeit lang. „Hm“, brummte er dann. „Seid vorsichtig, ja? Und hab dein Handy an, damit ich dich erreichen kann. Und ruf mich mal an, wenn ihr angekommen seid.“ „Okay“, willigte ich ein und machte mich auf den Weg zu Gabriel. Er trug dieses superenge, dunkelgrüne T-Shirt, als er mir die Tür aufmachte. Wie immer huschte ich hinein. Niemand hatte mich gesehen. Ich wunderte mich langsam, ob Gabriel überhaupt Nachbarn hatte, oder ob die anliegenden Häuser einfach nur als Zierde dort standen. Vielleicht hatte er sie ja alle aufgekauft, so damit mich niemand sehen würde und wir sicher hier waren? Vielleicht war er ja heimlicher Millionär und war nur zur Tarnung als Lehrer unterwegs? „Was ist denn so witzig?“, fragte er mich, als ich leise kichernd in die Küche schlenderte, er mir folgend. „Ich frage mich nur gerade, ob du ein Millionär bist“, antwortete ich ihm und nahm am gedeckten Tisch Platz, schließlich wollten wir heute ein kleines Abendessen gemeinsam zu uns nehmen. „Aha“, sagte er und sah mich an. „Suggerieren dir Jogginghosen ein erhöhtes Einkommen, oder wie darf ich das verstehen?“, neckte er mich und ich warf einen Blick auf seine Beine. Nunja, eine alte, graue Jogginghose sollte mir eigentlich eher das Gegenteil sagen. Ich grinste schief. Er sah trotzdem verdammt gut aus. „Ich hab deine Arbeit gelesen“, sagte er plötzlich, als ich mein erstes Stück Brot gerade schmierte. Gabriel grinste leicht und betrachtete mich. „Und?“, hakte ich mich leicht klopfenden Herzen erwartungsvoll nach. Das Essen war in dieser Sekunde einfach mal egal, auch wenn ich eigentlich Hunger hatte. Gabriels Grinsen wurde noch breiter. „Sie gefällt mir äußerst gut. Ich muss schon sagen, damit hatte ich nicht gerechnet“, sagte er dann, mehr oder weniger anerkennenden nickend. „Ist also richtig gut, oder was?“ „Hm. Ja. Sagen wir mal, als Note würde ich dir glatt ne 3+ geben“, entgegnete er ruhig und griff nach dem Käse. „Nur ne 3+?“, hakte ich abermals nach, das Essen noch immer nicht wieder beachtend. „Das ist doch für dich eine gute Note“, entgegnete er hart und ich biss mit vor Unmut auf die Zunge. „Ja, aber ich hab mir dieses Mal richtig Mühe gegeben!“, wand ich ein. „Ich finde, du hast einige sehr gute Fakten in die Arbeit fließen lassen, gute Recherche, aber dir fehlt halt irgendwie der rote Faden, was ziemlich oft bei dir der Fall ist“, fing er an bedächtig zu erklären. Und rutschte dabei immer mehr in seinen Lehrer-Tonfall, mit dieser ernsthaften, zum Teil starren und unfreundlichen Miene. „Du bleibst einfach zu sehr an kleineren Tatsachen hängen. Die wirklich wichtigen Argumente und Fakten reißt du immer nur ganz kurz an, dir fehlt der richtige Fokus, dabei hatte ich dir in Gesprächen suggeriert, welche Thematiken du eher hervorheben solltest.“ „Ja, ist ja gut...“, murmelte ich desinteressiert. „Zudem hast du die vorgeschriebene Länge um 12 Prozent überschritten. Das darfst du in wichtigen Arbeiten einfach nicht. Und deine Orthografie lässt manchmal zu wünschen übrig, du solltest längere Texte von irgendwem durchlesen lassen bevor du sie abgibst“, fuhr er unbeirrt fort. „Ja, ist ja jetzt gut...“, wiederholte ich etwas eindringlicher und schmierte mein Brot zu Ende, ohne ihn dabei anzusehen. „Aber auf jeden Fall hast du deine Fehlstunden und die damit verbundenen Probleme aus der Welt geschaffen und das ist doch, was zählt. Wenn du in Zukunft andere Texte verfassen musst, zum Beispiel für Deutsch, dann gehen wir die zusammen durch, damit du solche groben Fehler nicht noch mal reinhaust. Wäre ja ein bisschen peinlich für einen angehenden Abiturienten“, sagte... Hinrichs. Ich pfefferte das noch nicht gekostete Brot zurück auf den kleinen Teller und mein Lehrer sah mich erschrocken an. „Ich hab keinen Hunger“, erklärte ich genervt und erhob mich. „Ich bin im Wohnzimmer“, erklärte ich noch knapp, noch bevor er etwas sagen konnte. Ich schaltete den Fernseher ein, mir war egal was lief, Hauptsache ich konnte etwas sinnfreies anstarren und nicht an die vergangenen Minuten denken. Das war absolut Hinrichs gewesen. Ein besserwisserischer, abgehobener Idiot. „Jonas...“, drang seine sanfte Stimme zu mir. Er stand am Fernseher. „Entschuldige, ich wusste nicht, dass du nicht darüber reden willst“, sagte er und ging vorsichtig auf mich zu, setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich funkelte ihn an. „Es geht nicht darum, dass ich nicht darüber reden will, sondern wie du mich behandelst“, entgegnete ich fest und Gabriel wusste scheinbar nicht, was er sagen sollte. „Wie habe ich dich denn eben behandelt?“, fragte er nach einer Weile und ich seufzte laut. „Halt scheiße.“ „Und was genau meinst du mit 'halt scheiße'?“, hakt er nach und ich hätte ihm in diesem Moment furchtbar gern irgendetwas gegen den Kopf geschleudert. „Mann, so herablassend und belehrend halt!“, zischte ich frustriert. „Hat vielleicht damit zu tun, dass ich dein Lehrer bin...“, bemerkte er plötzlich giftig und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Gabriel sagt nichts mehr, sondern verschwand wieder aus dem Zimmer. Ich dagegen rührte mich nicht vom Fleck, saß wie versteinert da und wusste nicht, was zu tun war. Ich lauschte und konnte aufgrund der dämlichen Soap-Melodie, die aus der Flimmerkiste drang, nicht genau hören, was Gabriel machte und wo er sich überhaupt befand. Ich zuckte mit den Schultern. In einigen Minuten würde er sowieso wieder hier auftauchen, ich war mir sicher. Doch das tat er nicht. Als die Episode zu Ende war, stand ich auf und ging vorsichtig in die Küche. Der Tisch war komplett aufgeräumt. Lassies Miauen erschreckte mich; der Kater, wegen dem alles begonnen hatte, saß neben seinem Napf und schaute mich fast schon auffordernd an. „Nicht jetzt...“, murmelte ich und suchte nun auch den Rest des Untergeschosses nach Gabriel ab. Letztendlich stieg ich die Treppe hoch und lag mit meiner ersten Einschätzung im oberen Geschoss goldrichtig: er saß in seinem Arbeitszimmer und arbeitete an etwas. Ich nahm meinen Mut zusammen, klopfte und trat trotz ausbleibender Antwort ein. Gabriel musterte mich, einen Papierbogen noch immer in der Hand haltend. Sein Blick war weder freundlich noch böse, schwer einzuordnen. „Was machst du?“, fragte ich ihn leise. „Ich korrigiere noch ein paar Übungszettel. Das machen Lehrer manchmal“, entgegnete er ruhig und seine Augen wanderten zurück zu den genannten Zetteln. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. „Ich find's einfach scheiße, dass du dich wie mein Lehrer benimmst, wenn ich bei dir bin. Ich dachte, hier bin ich dein Freund und nichts anderes!“, brach es plötzlich aus mir heraus und Gabriel legte den Papierbogen seufzend beiseite, die Augen auf mich richtend. „Wer hat denn das gesagt?“, bemerkte er dann sanft. „Jonas, natürlich bist du mein Freund und ich bin hier aus bereits so oft besprochenen Gründen anders zu dir, als in der Schule, in der Öffentlichkeit. Aber ich bin immer noch, trotz all dem, was zwischen uns ist, dein Lehrer. Und als dein Lehrer ist mir deine Zukunft wichtig. Auch als dein Freund! Das ist doch wohl klar, oder nicht?“, fuhr er energischer fort. „Also stell dich nicht immer so an, wenn ich mal in meinen Lehrerslang oder wie auch immer du das sehen willst, abrutsche. Ich meine es nur gut mit dir. Und du bist eben mein Lover UND mein Schüler.“ Ich musste grinsen. „Was?“, hakte er nach. „Du hast noch nie das Wort 'Lover' benutzt“, erklärte ich sofort und wir blickten uns an. Gabriel schüttelte den Kopf und lachte kurz ganz leise. „Tut mir leid, OK? Ist halt alles nicht so einfach“, murmelte ich dann und erhielt ein Lächeln als Antwort. „Komm her…“, hauchte er dann und ich kam seiner Aufforderung umgehend nach. Seine Finger legten sich um mein Handgelenk und er zog mich direkt auf seinen Schoß, sodass ich rittlings auf ihm saß; seine zweite Hand wanderte direkt in meinen Nacken und er zog mich vorsichtig in einen leidenschaftlichen Kuss. Seine Zunge war feucht. Sie war heiß und wand sich spielerisch um die meine, während eine seiner Hände bereits wieder meinen Körper erkundete und unter mein Shirt drang, meine nackte Haut betastete. Die Hitze unseres Kusses breitete sich auf meinen gesamten Körper aus und ich presste mich noch weiter gegen Gabriel, der leicht in meinen Mund seufzte. Er war erregt und ich konnte es deutlich spüren. Als wir uns in die Augen blickten und unsere Lungen mit Luft befüllten, grinste er plötzlich und etwas Verruchtes trat in seinen Blick, was mir deutlich machte, dass wir momentan alles andere als Lehrer und Schüler waren. Einen Augenblick später befand ich mich bereits mit meinem Rücken auf Gabriels enormen Schreibtisch, meine Jeans bereits auf dem Boden liegend. Und meine Boxershorts folgten sogleich… Gabriel war wild und die ganze Zeit klammerte ich mich an ihn, so als hätte ich Angst ihn zu verlieren. Den Höhepunkt erlebten wir zusammen… „Du hast Hunger, oder?“, fragte er nach einer Weile und nachdem wir uns wieder angezogen hatten. Ich nickte. Er grinste. „Komm, ich hol einfach noch mal alles raus, ich hab auch nichts gegessen“, sagte er und wir hielten endlich das kleine Abendessen ab, das wir besprochen hatten. In Ruhe. Ohne irgendwelche Zickereien und Missverständnisse. Und dann fuhren wir los. Viel, viel später als geplant, aber wir fuhren. Und es lohnte sich. Der Ausblick war atemberaubend. Gabriel hatte uns ein Zimmer in einem riesigen Hotel reserviert, „20 up“, oder wie auch immer es hieß – 20 Stockwerke beinahe im Herzen Hamburgs und wir waren im Stockwerk 18! Ich klebte regelrecht an der Fensterscheibe und betrachtete die ins Schwarz leuchtende Hansestadt, in die wahrscheinlich niemals Ruhe einkehrte. Ich musste an diese Satellitenbilder denken, die die globalen Metropolen nachts zeigten. Es war wunderschön. „Komm, ich geb uns noch nen Gute-Nacht-Cocktail an der Bar aus, was hältst du davon?“, schlug Gabriel vor und ich nickte eifrig. Es war edel. Nicht zu edel, aber auch überhaupt nicht schmuddelig. Die meisten Leute trugen Abendkleidung, aber es fanden sich auch Exemplare wie wir, in dunklen Jeans und Hemden. Wir hatten sogar noch einen kleinen Tisch am Fenster ergattert, aus dem ich nun auch die ganze Zeit starrte. „Schmeckt's?“, fragte Gabriel mich und ich nickte erneut. „Und dir?“, hakte ich nach und er nickte ebenfalls. „Haut nur ziemlich schnell rein. Die Fahrt war anstrengend“, entgegnete er und ich musste grinsen. „Ich hab dich noch nie betrunken gesehen...“, sagte ich dann frech. Gabriel lachte. „Ich trinke ja auch nicht so oft“, sagte er entschlossen. Aber ein kleines Grinsen konnte er dennoch nicht verbergen. Und ein bisschen angetrunken war er dann doch, weil ich ihn angefleht hatte und noch einen dieser Cocktails für zwei Personen zu bestellen. Die Nacht war aufgrund dieser Tatsache… ziemlich spannend… Wir frühstückten auswärts, irgendwo in der City, sogar mit ’nem Glas Sekt. Wir gingen an der Alster spazieren, wir machten eine Hafenrundfahrt, wir tranken Latte Macchiato in einem der zahlreichen Schwulencafés. Wir gingen sogar Hand in Hand umher, wir küssten und hier und da und Gabriel drehte sich kein einziges Mal in Angst um, kein einziges Mal erhaschte ich diesen nervösen Blick, mit dem er normalerweise die Umgebung abtasten würde. Es war herrlich. Er kaufte mir sogar eine neue Hose. Und dann gingen wir in ein tolles italienisches Restaurant zum Abendessen. Und landeten letztendlich auf der Reeperbahn. Wo sonst. Ich weiß nicht, was es war, das über mich kam, aber als wir an einem der wirklich großen speziellen Läden auf der Reeperbahn vorbeigingen, zog ich Gabriel einfach hinein. „W-was?“, lachte dieser, ließ sich aber mit hineinziehen. „Nur gucken“, entgegnete ich und er grinste mich an. Beim Gucken blieb es allerdings nicht. War es zu Anfang noch ein seltsames Gefühl zwischen all den Regalen mit dieser zuweilen seltsamen Utensilien zu wandern, normalisierte sich das ganze in wenigen Minuten. Spannend war es aber immer noch, schließlich kaufte ich hier mit meinem Geschichtslehrer ein… Und in diesem Moment erregt mich dieser Gedanke sogar ein bisschen. Solch ein Tabubruch… Wir kauften einiges an Gleitmittel und sogar Handschellen… Ich musste dämlich grinsen. Ein komisches Kartenspiel extra für Schwule ergatterten wir auch noch. Die Summe war viel zu hoch, als dass ich sie im Kopf behalten wollte, aber Gabriel zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er bezahlte. Er hielt mir die größere, komplett schwarze Einkaufstüte hin, die alles verbarg, was sich in ihr befand und unauffällig sein sollte, obschon sie das genaue Gegenteil war. Wie ein kleiner Schuljunge musste ich kichern, als ich sie entgegen nahm und wir auf den Ausgang zu schlenderten. „Hm, ist es dir jetzt plötzlich peinlich?“, neckte Gabriel mich, als wir schon auf den vollen Bürgersteig getreten waren. „Ganz und gar nicht“, entgegnete ich und stellte mich ihm in den Weg, legte meine Hände um seinen Nacken und gab ihm hier, zwischen all den Menschen, einen leidenschaftlichen Kuss. Und er protestierte nicht. Und das war mehr als wunderschön. Es war so unglaublich befreiend, es beflügelte mich regelrecht. Und als ich mich umdrehte und Gabriel in die dahin schlendernde Menge ziehen wollte, war das Paar aufgerissener Augen direkt auf mich gerichtet. Dort stand er, wie angewurzelt, und sah mich an – Ronald. Ulfs Sohn. Hier in Hamburg. Genau hier vor diesem Laden. Sollte ich meine Kinnlade wieder nach oben schieben, oder sie einfach ignorieren? Das Schicksal entschied für mich. Meine Kinnlade blieb so tief hängen, wie es nur ging, als der besagte Vater aus Versehen gegen seinen Sohn lief und ihn lachend anschnauzte, warum er denn mitten im Weg hielt. Als er Ronalds Blick folgte, wurde mir bewusst, dass Ronald nicht der einzige war, der mich seit einigen Sekunden anstarrte. Ich wandte meinen Kopf leicht nach rechts und sah in das Paar Augen, die mich schon lange nicht mehr so intensiv gemustert hatten. Ich war so schockiert und aufgebracht, dass mir erst Sekunden nach dieser makaberen Feststellung einfiel Gabriels Hand endlich loszulassen. Ich riss mich regelrecht los und erkannte, dass das die wohl stupideste Aktion des gesamten Zusammentreffens war. Zu spät war es eh und untermauerte wohl all die in Windeseile getroffenen Gedanken der drei, die uns an diesem furchtbaren Ort über den Weg gelaufen waren. Ich schluckte. „Was machst DU denn hier? Ich dachte, du kannst nicht mit nach Hamburg?!“, keifte meine Mutter schon, auf uns zutretend, sich aus der Menge schaufelnd. Ihre Augen musterten Gabriel kalt. „Und wer ist DAS? Und was sollte das eben überhaupt?!”, spie sie aus, die Arme nun vor ihrer Brust verschränkend, auf unsere Hände kurz starrend. Ihre Unterlippe zitterte leicht. „André, das ist meine Mutter, Mama, das ist André“, sagte ich ausdruckslos und Gabriel schaltete auch schon in der nächsten Sekunde. „Hallo, ich bin André“, sagte er völlig überflüssig und hielt meiner Mutter die Hand hin, die sie nicht ergriff. Ulf und Ronald waren bereits angetreten. Sie waren beide kreidebleich im Gesicht und versuchten mit lächelnd zuzunicken, was ihnen absolut nicht gelang. Sie bekamen auch kein einziges Wort heraus, sondern sahen meine Mutter stattdessen an. „Jonas…“, brachte sie dann heiser heraus. „Was… Klär mich auf! Dein Vater hat mir gesagt, du könntest nicht mit nach Hamburg, weil du ein Projekt für die Schule machst und jetzt laufen wir uns ausgerechnet in DIESER Gegend über den Weg und… Wieso hast du diesen Mann gerade geküsst?!“ Sie schien leicht hysterisch und verwirrt, völlig verdattert, wütend. Tja, und das war dann scheinbar der Moment in dem die Rädchen in meinem Kopf einen Aussetzer hatten; oder besser gesagt, meine Gedanken ans Ende geführt hatten, auf das sie eh zugesteuert hatten: Was hatte es jetzt noch einen Sinn großartig wegen meiner Neigungen zu lügen? „Das ist mein fester Freund“, entgegnete ich eisern. „Jesus…!“ Meine Mutter hielt sich die Hand vor den Mund und wich einen Schritt zurück, Ulfs Hand legte sich auf ihre Schulter. „Isabel…“, murmelte er, doch sie ignorierte ihn. „Jesus!“, seufzte sie erneut und ihre Augen flitzten zwischen Gabriel und mir hin und her. „Papa weiß es“, fuhr ich eisern fort. „Ehrlich gesagt, wollte ich dir auch erzählen, dass ich schwul bin, aber dann musstest du ja zu dem Typen abhauen! Naja, jetzt weißt du’s ja auch.“ „Jonas…“, kam es von Gabriel, er nun die Hand auf meine Schulter gelegt hatte. In meiner Kehle brannte es, mein Herz klopfte wie wild und ein leichtes Schwindelgefühl machte sich breit. Wieso? Wieso?! In Hamburg, vor einem Sexshop, mit dieser Schwarz-glitzernden Tüte in der Hand, mit GABRIEL an meiner Seite?! Wieso?! Wie konnte das möglich sein? Ein TOLLES Outing vor meiner Mutter. Grandios! Das Schicksal war scheinbar auch eine Schlampe! „Aber…“, setzte sie an, doch ihr blieben die Worte in der Kehle stecken. Und erneut versetzte mein Gehirn mir einen Tritt, brachte mich dazu, einfach zu handeln, ohne großartig Alternativen durchzugehen. „Wir reden ein anderes Mal darüber!“, sagte ich also prompt und schon zog ich Gabriel an der Hand in die Menge, schleunigst davoneilend. Sie kam mir nicht nach und ich drehte mich auch gar nicht um. Gabriel ließ sich widerstandslos von mir davonziehen. Wir nahmen das erstbeste Taxi und ließen uns ins Hotel zurückkutschieren. Erst, als wir uns auf dem Bett niederließen, blickten wir uns in die Augen. Und dieser Schock und all die damit verbundenen Gefühle überkamen mich, rissen alte Wunden auf. Gabriel hielt mich eng an seine Brust gepresst und streichelte mein Haar, als ein paar einzelne Tränen über meine Wangen rollten. Das war einfach zu viel für mich. Alles. Erst nach einer Viertelstunde beruhigte ich mich wieder und trocknete meine Augen mit den Taschentüchern, die er mir gegeben hatte. „Ich fasse es nicht, dass mein Vater mir nicht gesagt hat, dass die mich nach Hamburg mitnehmen wollte. So eine Scheiße!“, fluchte ich und Gabriel schwieg weiterhin. Ich sah ihn flehend an, wenn er doch wenigstens nur ein Wort sagen würde. Doch es kam nichts. Er saß auf dem Sessel und starrte aus dem Fenster. „Und dann ausgerechnet vor ’nem Sexshop!“, fluchte ich weiter, nur um nicht in dieser Totenstille untergehen zu müssen. „Ich fasse es nicht…“ Er sagte immer noch nichts. Weiterhin starrte er nach draußen und schwieg. „Mann!“, schrie ich und er zuckte zusammen, richtete seinen Blick endlich wieder auf mich. „Jetzt sag doch auch was, weißt du, wie scheiße ich mir grad vorkomme?!“, schrie ich, den Tränen erneut nahe. Mein Herz pochte laut in meiner Brust. Was dachte Gabriel bloß? Er seufzte und starrte wieder aus dem Fenster. Dann fuhr er sich, wie er es so oft tat, mit den Händen durchs Gesicht. Er sah nachdenklich aus. Wie immer. „Wir haben wohl jetzt ein schwerwiegenderes Problem als diese Notlüge mit deinem Vater“, sagte er dann ausdruckslos, was mich nur noch mehr auf die Palme brachte. „Ach, ne!“, meinte ich patzig. „Das weiß ich ja wohl auch!“ Wir schwiegen erneut. „Wieso läuft eigentlich alles so schief?“, murmelte ich, da erhob sich Gabriel und setzte sich wieder zu mir aufs Bett. Sein Blick war ernst. „Weil wir eigentlich nicht zusammen sein sollten. Deswegen“, sagte er dann hart, aber lächelte ganz leicht dabei. „Machst du jetzt Schluss…?“, murmelte ich wie ein debiler Volltrottel und Gabriel schüttelte bedächtig den Kopf. „Würdest du doch wahrscheinlich eh nicht zulassen…“, flüsterte sanft. „Aber…“ „Aber was?“ Gabriel seufzte. „Wir fahren jetzt direkt nach Hause. Deine Mutter wird deinem Vater bestimmt bereits alles erzählt haben und es wäre gut, wenn du jetzt nach Hause fährst, um das mit deinem Vater zu klären.“ „Was soll ich ihm denn sagen?!“, fuhr ich ihn an und er stand auf. „Denk dir was aus, verdammt!“, blaffte er und ich zuckte zusammen. Dann hielt er inne, seufzte und drehte sich wieder zu mir um. „Sorry“, sagte er. „Aber… Ich stehe wohl noch unter Schock. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und… das macht alles einfach noch komplizierter, als es ist…“, gestand er und ich nickte, unfähig etwas zu sagen. Wir sprachen auch nicht, als wir eilig unsere Sachen zusammenpackten, auscheckten und nach Hause fuhren. Es war stockfinster, als wir ankamen. Gabriel setzte mich einige Straßen von meinem Haus entfernt ab. Es war eine bedrückende Verabschiedung, die folgte. Wir gaben uns keinen Kuss, wir umarmten uns nicht mal. Wir nickten uns zu und Gabriel sagte mir, ich solle ihm morgen eine kurze Email schreiben, um ihm den neusten Stand der Dinge mitzuteilen. Mein Vater erwartete mich im Flur. An seinem müden und durchaus genervten Blick konnte ich die Nachricht, die er mir non-verbal vermittelte, deutlich verstehen. „Wir müssen reden.“ Ich ließ meine Reisetasche mit einem lauten Knall auf den Boden fallen und er seufzte genervt. Aber bevor er auch nur irgendetwas äußern konnte, attackierte ich ihn. „Wieso hast du mir nix über diesen scheiß Hamburgausflug von Mama gesagt?!“, schnauzte ich und er verdrehte die Augen. „Ich war mir sicher, du würdest eh nicht fahren wollen“, gab er scharf zurück. Na, das würde ja eine reizende Unterhaltung werden… „Ach, und das entscheidest DU dann einfach mal so für MICH, oder was?“ „Jonas, OK, das war vielleicht nicht der klügste Zug von mir, aber sonst hätte es dich doch auch nicht gestört, oder willst du mir etwa verklickern, dass du plötzlich unheimlich Lust hast Zeit mit deiner Mutter und ihrem Gefolge zu verbringen?“ Verdammt, wunder Punkt! „Nein, aber es geht hier um das Prinzip! Ums Prinzip, verstehst du?! Und jetzt… Mann, weißt du wie SCHEISSE es war, sich SO zu outen?! Weißt du, wie PEINLICH das ist?!“, schrie ich und mein Vater lehnte sich gegen die Wand und starrte kurz den Boden an. Dann richtete er seine Augen wieder auf mich. „Ja, ich kann dich ja verstehen… Und das tut mir wirklich unheimlich leid…“, gab er kleinlaut bei und versuchte zu lächeln. „Wollen wir uns vielleicht im Wohnzimmer weiter anschreien?“, schlug er scherzend vor und ich schaffte es sogar minimal zu grinsen. Verbittert, aber ich grinste. Das Sitzen auf dem Sofa besserte meine Laune trotzdem nicht. Und es wurde noch schlimmer, als mein Vater plötzlich erwähnte, was meine Mutter ihm scheinbar im Schock verklickert hatte. Mir wurde komisch. „Deine Mutter sagte, André sei um die 40?“ „Ist er nicht! Er sieht halt nur so aus. Er ist schon ein wenig älter, aber nicht SO alt.“ „Wie alt ist er denn?“ „Er wird in drei Wochen 33…“, entgegnete ich. „DREIUNDDREISSIG?! Großer Gott, Jonas!“, rief er aus. „Das ist kein Weltuntergang, OK?!“ „Das sind knapp 15 Jahre!! Der könnte doch glatt dein Vater sein!“ „Da ich bald 19 werde, sind es nur knapp 14 Jahre und nein, er könnte nicht mein Vater sein, er ist schließlich auch schwul“, antwortete ich patzig und mein Vater lachte kalt und schüttelte den Kopf, knetete seine Hände. „Ich fasse das nicht…“, murmelte er vor sich hin. „Ist das der eigentliche Grund, warum du ihn mir nicht vorstellen wolltest?“ Sein scharfer und sarkastischer Blick ließ mich zusammen zucken. „Nein, ist er nicht…“ „Hm.“ Er lehnte sich noch immer kopfschüttelnd zurück und schloss für einen kleinen Moment die Augen. „Du machst mich wirklich fertig, Junge…“, murmelte er. „Dir ist klar, dass deine Mutter hier kommenden Freitag vor der Tür stehen wird? Sie will eine Familienbesprechung machen.“ „…was?!“ „Ach, komm, das liegt ja wohl sehr nah, oder nicht?“, bemerkte er bitter. „Und jetzt mal ganz ehrlich, wenn deine Mutter André bereits kennen gelernt hat, nennen wir es mal so, dann ist es jetzt ja wohl auch egal, wenn ich ihn auch kennenlerne, oder? Am besten wäre es, wenn er Freitag auch kommen würde, dann hätten wir das ein für allemal geklärt….“ „Nein!“, schrie ich, noch bevor ich irgendeinen logischen Gedanken formen konnte. „Jonas…“, brachte mein Vater noch leicht erschrocken aus, aber da rannte ich bereits die Treppe hoch, meine Zimmertür hinter mir zuknallend. Ich hörte ihn die Stufen ebenfalls herauf stürmend. Eine ganze Zeit lang ballerte er noch gegen meine Tür und wollte mich dazu bewegen, aus meinem Raum zu kriechen, aber das konnte er mal vergessen. Ich wollte jetzt einfach nur allein sein. Auch wenn das absolut nicht half. Ich war vollkommen paranoid, rannte auf und ab in meinem Raum, rauchte eine nach der anderen und hatte immer wieder das Handy in der Hand, der Frage nachgehend, wen ich denn überhaupt anrufen sollte. Inga?! Josh?! Oder noch besser, direkt Gabriel, um ihm diese freudige Botschaft unter die Nase zu reiben? Ich müsste ihm eh noch morgen schreiben. Und dieser Gedanken verursachte mir Bauchschmerzen… Deswegen tat ich es nicht. Mein Vater verhielt sich so, als wäre nichts gewesen und bemerkte nach dem Sonntagsfrühstück, dass ich mich erstmal beruhigen sollte und wir dann noch mal miteinander sprechen würden. Zudem sagte er mir noch, dass er meiner Mutter klar gemacht hatte, mich mit keinen Telefonaten zu quälen, sondern mit dem, was sie mir zu sagen hatte, bis zum Freitag zu warten. Ich wünschte, dieser Tag würde nie kommen. Ich war vollkommen verzweifelt und unsicher. Was sollte ich meiner Mutter erzählen? Wie würde ich dieses Lügenkonstrukt erhalten können? Wie würde es mit mir und Gabriel nur weiter gehen??? Schlaf fand ich kaum. Am Montag ging es mir furchtbar dreckig. Gabriel hatte sich auch nicht mehr gemeldet und irgendwie war ich froh deswegen. Ich wollte das alles so lange aufschieben, wie es nur ging. Inga motzte mich an, weil ich ihr nicht zuhörte. Josh war sauer, weil ich vergessen hatte, ihm eine DVD mitzubringen und Martin war angekotzt, weil ich mich nicht euphorisch an der Wochenendplanung beteiligte und nicht über irgendwelche Lehrer mit ablästerte, die ihn momentan schon wieder ankotzten. Inklusive Hinrichs. Als die erste Geschichtsstunde der Woche bevorstand, bekam ich weiche Knie. Ich hatte ihn weder angerufen, noch hatte ich ihm geschrieben und er hatte mir auch kein Lebenszeichen gegeben, was mich wiederum nicht nur traurig, sondern äußerst wütend stimmte. Als ich ihm direkt am Morgen im Flur über den Weg lief, als er gerade zu einem anderen Kurs unterwegs war, passierte es. Unsere Blicke streiften sich kurz und bevor wir aneinander vorbeigegangen waren, schenkte er mir zum ersten Mal ein kleines Lächeln, hier, in der Schule, einfach so. Ich schwänzte die Geschichtsstunde. Ich wollte ihn nicht sehen, konnte es einfach nicht. Ich war vor Inga weggelaufen, wollte ihr nicht noch eine Lüge auftischen, ihr irgendeinen dämlichen Grund nennen, um mein Fernbleiben zu legitimieren. Ich hasste es. Und so saß ich dort, im 6. Stock, völlig allein, aus dem Fenster starrend und rauchend. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein apathischer Volltrottel. Wobei mir mein Aussehen momentan mehr als egal war. Ich wünschte regelrecht, das wäre mein einziges Problem. Aber leider war dem nicht so. Leider hatte ich momentan viel zu viele Probleme, die aufeinander aufbauten und sich zu einer riesigen schwarzen Wolke geformt hatten. Und der Regen war nicht mehr fern… Ich erschrak, erwachte aus meinem schlafartigen Zustand, als sich plötzlich jemand direkt auf den Boden zu mir setzte. Es war Gabriel. GABRIEL! Ich starrte ihn verwundert, vollkommen perplex an. Ich suchte nach Worten, um meine Gefühle auszudrücken, doch ich fand keine. Und schon einige Sekunden später war mir klar, dass ich keine brauchte. Gabriels Hand lag in meinem Nacken, seine Lippen presste er auf die meinigen; ich umschlang ihn und presste mich so weit ich konnte gegen mich. Er ließ mich nicht los, küsste mich immer wieder, ganz vorsichtig und zart und dennoch passte der Ausdruck „stürmisch“ vollkommen, um sein Handeln zu beschreiben. Mir fehlte es an Luft. Ein Schwindelgefühl erfasste mich. So etwas wie Euphorie machte sich in meinem Innern breit. Ich wollte lachen, schreien und weinen. Alles zur selben Zeit. Wild durcheinander, ohne wirklich zu wissen, welche der durch mich rasenden Emotionen gewann. Und dann war das plötzlich dieses Keuchen. Und es dauerte einige Millisekunden, bis ich begriff, dass es weder aus Gabriels Mund noch aus dem meinigen stammte. Abrupt ließen wir voneinander ab und sprangen auf, wirbelten umher und blickten in zwei große, von Schock und verwunderte gezeichnete Augen. Augen, die ich sehr gut kannte. Augen, die mich fast tagtäglich ansahen. „Die… die wollte ich dir eigentlich bringen, weil ich mir schon dachte, d-dass… du hier bist…“, stammelte Inga, mir eine Colaflasche hinhaltend. Ich bemerkte erst jetzt, als ich das Objekt in ihrer Hand betrachtete, dass ich die Luft anhielt und meine Lungen bald schmerzen würden. Laut ließ ich sie aus und erwiderte Ingas immer noch perplexes Starren. Wie soll ich beschreiben, wie ich mich in diesem Moment fühlte? Es gibt da diese Anreihung von Wörtern. „Ich starb tausend Tode“ kommt dabei heraus. Ja, das war durchaus zutreffend. Und viel grausamer, wenn man es tatsächlich erlebte. „Oh, Gott…“, murmelte Gabriel und hielt sich beide Hände vors Gesicht, den Blick von seiner Schülerin abwendend. Seiner Schülerin, die meine beste Freundin war und nun alles wusste. „Oh, Gott“, entwich es erneut aus seinem Mund er lehnte bedächtig gegen die Fensterbank, so als würde es ihm an Kraft fehlen, noch weiter aufrecht zu stehen. „Oh, Scheiße…“ „Inga…“, setzte ich mit gebrochener Stimme an und sie lächelte ganz leicht. „Ich wusste… dass du mir nicht die ganze Wahrheit sagst…“, sagte sie dann und ging wie in Zeitlupe zur gegenüberliegenden Wand, ließ sich plötzlich langsam auf den Boden gleiten. Ich tat es ihr gleich und so saßen wir nun gegenüber und ich bemerkte, wie Gabriel den Blick zwischen uns beiden hin- und herschweifen ließ. Inga sah ihn an und es war wahrscheinlich das erste Mal für sie, dass sie ihn nun so „anders“ sah. Ein bisschen so, wie ich ihn mittlerweile kannte. Eine Weile des bedrängenden Schweigens verging. „Ich… Ich bitte dich, Inga“, setzte Gabriel dann mit milder Stimme an. „Bitte sag’ das niemandem…“ Es war beinahe ein Flüstern. „Ich liebe Jonas und ich kann absolut nichts dagegen tun…“, seine Stimme brach ab und er setzte sich nun auch seufzend zu uns auf dem Boden. Ich liebe Jonas…, hatte er das eben wirklich gesagt? Mein Herz klopfte wie wild und ein Kribbeln durchfuhr meinen gesamten Körper. Erneut konnte ich meine Empfindungen nicht begreifen, diese Hitze, die sich auf diese abnormale Art mit einer harten Kälte paarte und meinen Kopf zum Pochen brachte. Inga schloss ganz kurz die Augen und ließ danach ihren Blick zwischen uns wandern. Scheinbar in Unglauben schüttelte sie den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. „Ich… Wow“, sagte sie dann. „Das ist krass!“ Ich versuchte in Gabriels Gesicht zu lesen, seine Gedanken zu erhaschen, vielleicht einen aufmunternden Blick zu bekommen. Doch alles, was ich erkannte, war Nervosität, die auch mich beherrschte. „Ich glaube…“, sprach Inga weiter und Gabriel und ich sahen sie angespannt an. „Ich glaube, ich muss erstmal damit irgendwie klar kommen“, beendete sie dann nervös ihren Satz und starrte unsicher auf den Boden. „Ja. Ja, natürlich“, kam es von Gabriel, der eifrig nickte. Ich war unfähig, etwas zu äußern. Nur langsam machte sich die Erkenntnis in mir breit, dass wir aufgeflogen waren, dass all das, wovor Gabriel Angst hatte, sich bereits im Gange befand. Die ersten Notlügen bezüglich meines Fortbleibens, die aufgetischte Lüge über André, die schicksalhafte Begegnung mit meiner Mutter in Hamburg, die Konfrontation mit meinem Vater bezüglich ihres Besuches und nun dieser unmögliche Moment mit Inga. Wieso hatte Gabriel mich geküsst?! Hatte er nicht selbst das Verbot der Berührungen in der Schule auferlegt?! Wieso hatte er seine eigenen Regeln gebrochen?! Was dachte er sich dabei?! „Kann ich heute mit zu dir kommen?“, fragte Inga mich vorsichtig und ich nickte lediglich. „Gut…“, sagte sie und lächelte leicht, wonach sie sich erhob, mir die Colaflasche vor die Füße stellte und noch bevor sie die Treppe hinabstieg sagte: „Die Fünfminutenpause ist vorbei. Ich gehe jetzt wieder zurück, Herr Hinrichs.“ Und wir beide, Gabriel und ich, wir blieben noch einige Minuten. Erst als ich im Stillen bis 100 gezählt hatte wagte ich es, ihn wieder anzublicken. Seine Augen waren bereits auf mich gerichtet. „Was machen wir jetzt…?“, flüsterte ich. „Ich weiß es nicht…“, wisperte er. Wir standen auf. Ich ging auf ihn zu und er wich nicht zurück. Ganz vorsichtig legte ich meine Arme um ihn und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Er roch so gut… Gabriel erwiderte meine Umarmung. Und plötzlich drückten wir uns so fest gegeneinander, dass wir kaum Luft bekamen. Unsere Verzweiflung, die Sorgen, die uns verbanden, fanden in diesen harten Berührungen ihren Weg an die Oberfläche. Es vergingen weitere Minuten und die Zeit zwang uns, voneinander abzulassen. Ich liebe ihn… Meinte er das wirklich ernst? „Ich muss gehen“, sagte er leise, sein Blick bereits auf die Treppe gerichtet. „Ich weiß…“, entgegnete ich schwach. „Ruf mich heute Abend an, nachdem du mit ihr gesprochen hast.“ „Mache ich.“ Er war fort. Mit meiner Panik blieb ich alleine zurück. Als die letzte Stunde vorbei war und ich Inga am Haupttor auf mich zukommen sah, wallte sie erneut in meiner Brust auf. Hätte ich hyperventiliert, wäre ich nicht verwundert gewesen. Es herrschte eine angespannte Stimmung zwischen uns, als wir gemeinsam zu mir fuhren. Mein Vater wirkte etwas überrascht, als ich Inga unangekündigt mit nach Hause brachte und während des gemeinsamen Essens sprachen wir nur über Nichtigkeiten wie Nachbarn und Mitschüler und das Wetter. Als ich die Tür meines Zimmers schloss und mich zu meiner Freundin drehte, die auf meinem Bett Platz genommen hatte, wurde es ernst. „Erzähl mir einfach alles…“, war was sie sagte. Und wie konnte ich das nicht tun, nach all dem, was vorgefallen war? Wie konnte ich nicht diese mir gebotene Möglichkeit ergreifen, alles von meiner Seele zu lösen und sie endlich in mein wohl größtes Geheimnis einzuweihen? Sie runzelte die Stirn, sie keuchte auf, sie kicherte, sie schüttelte den Kopf, sie staunte, als ich ihr alles erzählte. „Wow…“, sagte sie abschließend. „Das ist… krass. Und.. Wow, ich kann das gar nicht glauben. Ich meine…“, sie sah mich erneut an. „Das ist Hinrichs!“ „Nein, das ist er nur in der Schule. Für mich ist er Gabriel und das ist ein vollkommen anderer Mensch.“ Sie schwieg und zündete sich eine Kippe an. Die bereits vierte. Sie schüttelte immer noch nichts sagend den Kopf und ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Wie hätte ich denn reagiert, hätte sie mir so etwas erzählt, hätte ich solch eine Bindung entdeckt? Sie und… Sport-Schmidt? Innerlich schüttelte ich mich. Und realisierte, dass es Inga wahrscheinlich momentan genauso ging… Dieses Unbehagen, welches mich seit längerer Zeit verfolgte, überkam mich erneut. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Das ist krass, Jonas…“, murmelte sie, einen nicht zu definierenden Punkt anstarrend, wonach sie ihren Blick langsam wieder auf mich richtete. „Ich weiß…“, entgegnete ich schwach. „Ich wusste doch, irgendetwas stimmt nicht mit dir, aber das… Wow, sorry, ich glaube, ich komm damit noch nicht klar“, fuhr sie fort. „Sag mal, ist das nicht irgendwie sogar strafbar, von wegen Missbrauch von Schutzbefohlenen oder so?“ „Naja… Ich bin ja schon volljährig…“ „Ja, aber du bist ja quasi immer noch unter, äh, wie sagt man, der Aufsicht oder so von ihm, weil… Mein, Gott! Das ist dein LEHRER!“ „Hey, nicht so laut!“, zischte ich alarmiert und sie zuckte kurz zusammen. „Oh, fuck!“, fluchte sie dann. „Sorry! Ich hab deinen Vater völlig vergessen!“ „Er darf das auf keinen Fall erfahren…!“, redete ich auf sie ein. „Der bringt mich um und ich sag dir, der geht zur Schule und macht Ärger und wenn das rauskommt, dann ist das erstmal vorbei mit Gabriels Lehrauftrag und das darf einfach nicht passieren, klar?“ „Mein Gott, Jonas, Alter…“, sagte Inga. „Ich komm zwar noch nicht richtig darauf klar und ich glaube, ich werde Hinrichs nie wieder normal ansehen können, aber denkst du wirklich, ich renn gleich zu jedem hin und erzähle denen das?“ „Sorry…“ „Schon gut…“ Wir schwiegen erneut, bis ich seufzte. „Auch wenn das total krass ist, bin ich irgendwie froh, dass du jetzt alles weißt.“ „Ja, das glaube ich…“, sagte sie ausdruckslos. Nach einer Weile sahen wir uns in die Augen. Und Inga fing an lauthals zu lachen. Laut und ungebändigt, sie ließ sich auf den Rücken fallen und schüttelte sich fast dabei. „Was ist denn los?“, hakte ich grinsend und ziemlich verwirrt nach. Sie setzte sich wieder auf und versuchte sich zu beruhigen. „Keine Ahnung“, setzte sie dann an. „Ich meine, wenn ich mir das alles so durch den Kopf gehen lasse, ist das wie so’n Film und ich meine, du sagst am Anfang der Schule noch ‚Alter, ist der heiß, mit dem würd ich gern was-weiß-ich machen’ und jetzt bist du tatsächlich mit unserem Geschichtslehrer am… Ähm… Naja. Oh, Mann!“ Sie fing erneut an zu kichern und ich schüttelte grinsend den Kopf. Ich fühlte mich tatsächlich etwas besser, das alles losgeworden zu sein, mit Inga im Reinen zu sein, auch wenn es seltsam war, dass sie nun eingeweiht war. Natürlich konnte ich nicht von ihr verlangen, sofort alles so hinzunehmen, wie es war oder es irgendwie zu akzeptieren. Toleranz schenkte sie mir scheinbar schon und als ich sie bat, Josh und Martin nichts zu verraten, stimmte sie mir zu, dass dies wirklich eine gute Idee sei. Wir schalteten die Glotze an, rauchten, sprachen über andere Dinge, doch kamen wir immer wieder auf Gabriel zu sprechen. „Ist das nicht voll komisch deinen Freund im Unterricht zu sehen?“, fragte sie mich zum Beispiel plötzlich und ich beschrieb ihr die alltäglichen Torturen. „Und… Äh… Der Altersunterschied, merkt man den nicht? Ich meine, der könnte ja wirklich schon theoretisch dein Vater sein…“, lautete eine ihrer Bemerkungen. Ich zuckte mit den Schultern, es war mir egal und Gabriel ja scheinbar auch. Und dann fragte sie schließlich: „Was wirst du deine Mutter und deinem Vater jetzt erzählen?“ Ich wusste es nicht. Es war schon dunkel, als sie sich von mir verabschiedete, mit einer langen Umarmung. „Bitte lass mir noch Zeit, das alles zu verarbeiten, OK?“, bat sie mich noch und huschte dann den kleinen Gang hinunter, der sie zur Straße führte. Bedrückt griff ich zum Telefon. Es war Zeit, Gabriel anzurufen und ihm nicht nur von dem langen Gespräch mit Inga zu erzählen, sondern auch von dem bevorstehenden Besuch meiner Mutter… Der am häufigsten genannte Satz? „Ich wusste, dass so etwas passieren würde…“ Wer hätte das gedacht? Gabriel war vielleicht nicht gerade das, was man als sauer bezeichnen konnte, viel eher war er besorgt, verärgert mit dem Pfad, welchen das Schicksal für uns ausgesucht hatte und mit der Tatsache, dass ich sein Schüler war. „Ich frage mich die ganze Zeit, ob dein Vater sich noch an mich erinnern kann…“, murmelte er. „Wann sollte er dich denn gesehen haben?“, wunderte ich mich. „Bei der Einführungsveranstaltung, als du an unsere Schule gekommen bist, vielleicht? Erinnerst du dich?“ „Oh, ja… Ach, mein Vater merkt sich keine Gesichter, der weiß noch nicht mal, wie all meine Lehrer überhaupt heißen“, beruhigte ich ihn. Er seufzte. „Ich weiß nicht…“ „Ich bin mir sicher, dass er das nicht weiß. Und selbst wenn, er wird dich nicht kennenlernen. Punkt!“ „…mal sehen wie lange das gut geht.“ „Ich kann ja mal auf meinen Notfallplan zurückgreifen! Also, sagen, dass ich mich von André getrennt habe, so eine Woche nach dem Gespräch mit meiner Mutter.“ „Dann könnten wir uns erstmal eine Zeit lang nicht sehen...“ „Doch, ich sage ihnen, ich sei bei Inga, diesmal spielt sie ja mit, sie weiß ja alles.“ „Immer diese Lügengeschichten, Jonas… Es ist so bitter, dass ich dir das immer antun muss….“, sagte er und seine Stimme klang matt. „Du willst jetzt aber nicht mit mir Schluss machen, oder?!“, hakte ich panisch nach und spürte, wie meine Handflächen etwas nass wurden. Er lachte nur. Traurig. „Natürlich nicht. Ich meine das, was ich heute in der Schule gesagt habe…“, seine Stimme wurde noch sanfter. „Ich liebe dich. Ich kann dich nicht gehen lassen.“ Ich schluckte. „D-das ist gut“, sagte ich dann und wurde ebenfalls leiser. „Ich… Äh, ich liebe dich nämlich auch.“ Seltsam, das plötzlich so zu sagen. In solch einer extremen Situation. Gefahren bringen den wahren Charakter eines Menschen heraus, oder wie sagt man? Das traf auch völlig auf meine Mutter zu, die Freitag überpünktlich bei uns auftauchte. Das Essen, das mein Vater zubereitet hatte, fand seinen Weg noch nicht einmal auf den Tisch. Wie eine Furie stürzte sie ins Wohnzimmer. Ich schaffte es noch nicht einmal aufzustehen. Wortlos knallte sie mir einen Zettel vor die Nase. Und dort erblickte ich es, ein Bild Gabriels, daneben das Logo meiner Schule, einige Notizen zu den Fächern, die er unterrichtete… „Erklär mir das!“, schrie sie und als mein Vater vollkommen perplex ins Zimmer kam, drehte sie sich zu ihm. „Wusstest du davon, Klaus?!“ Ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht blinzeln. Mich zu bewegen war völlig unmöglich. So etwas passierte doch nur in schlechten Filmen, in Telenovelas, in der jeder Handlungsstrang an den Haaren herbeigezogen war. Wie um alles in der Welt hatte sie es herausgefunden? Wie konnte sie es nur wissen? „Was wusste ich?“, fragte mein Vater sie wütend. Es war wie in alten Zeiten. Nur viel, viel schlimmer. Ich hatte meine Eltern schon so oft gehört, wie sie sich anzankten. Aber an diesem Tag brüllten sie einander an. Sie waren wie Tiere, die kurz davor waren aufeinander loszugehen. Es ging um den Ursprung meiner Homosexualität, und das „scheinbare Ausleben von Perversitäten“; es ging um Lügen und mein Benehmen und um die Frage, wer schuld daran war. „Mein Gott, Klaus! Dein Sohn hat eine Affäre mit seinem männlichen Lehrer!“, schrie die hysterische Frau, als mein Vater es geschafft hatte, länger und lauter zu reden als sie und diese Offenbarung brachte ihn abrupt zum Schweigen. Ich sprang auf und die beiden blickten mich gleichzeitig an. „Woher weißt du das?!“, zischte ich kraftlos und deutete auf den widerlichen Wisch, den sie auf den Tisch geknallt hatte. Meine Mutter nahm ihre Kampfposition ein, stemmte beide Hände gegen ihre Hüften. „Nun, mein Lieber“, begann sie scharf. „Es gibt noch andere Leute an deiner Schule und natürlich haben Ulf, Ronald und ich diese Woche ununterbrochen davon gesprochen, und rate mal wessen neue Freundin gerade ihr Abitur macht und einen sehr strengen Geschichtslehrer hat, dessen Beschreibung ganz genau auf den Mann zutrifft, mit dem du…“ Sie konnte es nicht aussprechen. Ihr Gesicht war eine widerwärtige Fratze und wäre sie nicht meine Mutter, hätte ich wahrscheinlich ohne mit der Wimper zu zucken zugeschlagen. Ich kann diese Wut, diese Enttäuschung gepaart mit diesem Schock einfach nicht beschreiben. Ich fühlte mich, als würde mir hier jemand das Herz rausreißen. Meine eigene Mutter betrachtete mich mit so viel Hass in ihren Augen, mit solch deutlicher Abneigung. Ich hielt es fast nicht aus. Die aufgebrachten Worte meiner Eltern waren wie ein Wasserfall. Meine Mutter brüllte meinen Vater an, mein Vater schrie mich an. Erst als das Wort „Schulbehörde“ fiel, erwachte ich aus meiner Starre und erst als ich meine Eltern anschrie, sie sollten beide die Klappe halten, bemerkte ich, dass ich wie ein Schlosshund heulte. Es wurde ganz still und ich wurde mir meines eigenen Schluchzens bewusst. „Ich verhaltet euch gerade wie Kinder“, schrie ich, meine eigenen Tränen ignorierend. „Ja, es ist es scheiße, dass ich mit meinem Lehrer zusammen bin, aber ich bin verdammte 18 Jahre alt! Was interessiert dich plötzlich mein Leben?“, wendete ich mich direkt an meine Mutter. „Du hast Ulf und diesen beschissenen Ronald. Bleib bei denen und komm nicht plötzlich hier an, um alles NOCH schlimmer zu machen, okay?! Dich hat mein Leben doch vorher auch nicht interessiert! Wieso sollte es das jetzt?!“ „Das stimm doch gar nicht…“, wand sie ein, aber ich unterbrach sie umgehend. „Ach, halt doch deine Schnauze, ich glaub dir kein Wort. So wie du mich hier behandelst heute…! Und wehe, WEHE ihr geht zur Schulbehörde, wehe ihr macht mir das ganze kaputt! Ich bin keine 14 mehr oder so, ich weiß was ich tue.“ „Jonas, du hast keine Ahnung, was du tust!“, mischte sich mein Vater erneut ein. Mein Kopf schmerzte, meine Augenlider schienen zu pochen, ich zitterte. Wir brüllten uns einfach nur noch an. „Okay, halt, Ruhe, STOPP!“, schrie meine Mutter plötzlich so laut, sodass ich meinte Glas klirren zu hören. Meinem Vater und mir blieben die Worte im Hals stecken und sie betrachtete uns beide mit einem eisernen Blick. „Ruf ihn an, diesen Gabriel. Sag ihm, er soll herkommen, so kommen wir nicht weiter. Er hat diese Misere angerichtet, ich will ihn zur Rede stellen.“ „Tickst du noch richtig?“, fuhr ich sie auf Anhieb an. „Misere angerichtet, Gott, hör dich doch mal selbst reden, Frau!“ „Jonas, halt die Schnauze!“, schalt mein Vater mich darauf. „Lass den Mann herkommen. Wenn ihm wirklich etwas an dir liegt und du nicht nur eine seiner kleinen Zeitbeschäftigungen an der Schule bist, wird er ja herkommen oder nicht?“ „Ihr seid doch beide total bekloppt! Das mache ich niemals!“, entgegnete ich fassungslos. Was dachten die sich denn?! „Gut, dann rufe ich jetzt sofort die Schulbehörde an. Du bist zwar volljährig, aber er ist immer noch dein Lehrer und wer weiß, was der mit anderen Schülern macht, die vielleicht nicht 18 sind…“, sagte meine Mutter hart und griff nach ihrem Handy. Scheiße, die meinte das ernst. „Das machst du nicht!“, zischte ich und erntete erneut einen kalten Blick. „So, denkst du?“, sagte sie mit einer frostigen Stimme. „Klaus, gib mir die Schulpapiere, wir rufen da sofort an, jetzt müsste da sogar noch jemand sein. Und wenn nicht, dann machen wir das gleich Montagfrüh.“ Scheiße. „Okay, okay, ich ruf ihn an! Meine Fresse, was soll das denn bringen?“ Ich denke, die beiden wussten selbst nicht, was das bringen sollte. Gabriel klang aufgewühlt, als ich ihm die Situation erklärte. Er versprach sofort herzukommen. Und mit seinem Eintreffen wurde es noch viel schlimmer. Zwar mochten meine Eltern sich eigentlich nicht mehr so sehr, aber jetzt fungierten sie wieder wie eine eingespielte Einheit; hackten auf dem blassen Gabriel regelrecht herum wie Spechte und die ganze Zeit über, konnte ich nichts sagen. Ich fühlte mich, als sei ich 12 Jahre alt… „Hören Sie, ich verstehe ihre Sorge und ihre Aufgebrachtheit. Ich versichere Ihnen, dass ich Jonas zu nichts gezwungen habe“, sagte Gabriel ruhig, als der erste Ansturm der Vorwürfe und Beleidigungen vorbei war. „Ich war ja sogar der, der auf ihn zugegangen ist!“, warf ich endlich ein und war erstaunt meine eigene schwache Stimme zu hören. „Du hältst die Klappe!“, kam es barsch von meinem Vater. „W-was?!“, entwich es mir, doch da redete er schon weiter mit Gabriel. „Sie sind sein Lehrer und scheiß egal, ob er 18 ist oder nicht, er ist ihr Schüler und sie sollten nichts anderes tun, als ihn zu unterrichten! Das ist immer noch ein Bruch des Gesetzes!“ „Ja, denken Sie, das ist mir nicht bewusst???“, kam es plötzlich energischer von Gabriel. „Denken Sie nicht, dass ich mir jeden Tag darüber den Kopf zerbreche?“, schrie er jetzt. „Ich bin gerade dabei, meine Versetzung an eine völlig andere Schule durchzukriegen, damit dieses Verhältnis aufgelöst werden kann, damit Jonas nicht mehr so darunter leidet. Denken Sie, ich bin egoistisch?! Denken Sie wirklich, ich nutze ihren Sohn nur aus?!“ „Ach, ist das nicht so?“, kam es schnippisch von meiner Mutter. Gabriel war fast völlig rot im Gesicht, so hatte ich ihn noch nie gesehen. „Nein, das ist nicht so“, brachte er zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor. „Ich liebe Jonas.“ „Ach, wie rührend!“, brüllte meine Mutter daraufhin und lachte künstlich, ihre Stimme von Sarkasmus getränkt. „Und das soll ich Ihnen glauben?!“ Als ich meinen Vater ansah, bemerkte ich erst, dass sein Blick die ganze Zeit auf mir ruhte. Und dann wurde meine Sicht wieder so schwammig. Verfickt, ich heulte schon wieder! Ich wischte die Tränen fort und sah Gabriel direkt in die Augen. Er sah mich ganz warm an und eine Sekunde später ruhte seine Hand schon auf meinem Knie, die ich ergriff und ganz fest drückte. „Oh, bitte! Das kann doch nicht wahr sein!“, rief meine Mutter aus. Mein Vater schwieg. Dann seufzte er lange und laut, den Kopf schüttelnd, und ließ sich wieder aufs Sofa plumpsen. „Das kann doch nicht wahr sein…“, murmelte er nun ebenfalls vor sich hin. „Sie werden sich von meinem Sohn trennen“, mischte sich meine Mutter plötzlich wieder ein. „Das wird er nicht!“, brüllte ich nun wieder. „Ich rede nicht mir dir, sondern mit Herrn Hinrichs!“, konterte sie direkt. „Das werde ich trotzdem nicht…“, kam es hart von Gabriel und es wurde ganz still. „Ich werde mich versetzen lassen und dann sind wir ein ganz normales, schwules Paar. Oder ist das das eigentlich Problem…?“, wandte er sich spitz an meine Mutter. „Das ist es gewiss NICHT!“, sagte mein Vater. „Sie sind knapp 15 Jahre älter, Jonas ist doch noch ein Kind für Sie! Sie können das doch wohl nicht wirklich ernst meinen!“ „Dass Jonas noch ein Teenager ist, weiß ich sehr wohl“, setzte Gabriel an und meine Mutter schnitt ihm das Wort ab. „Und wieso vergreifen Sie sich dann an ihm? Ach, Klaus, das hat keinen Sinn, wir sollten ihn einfach anzeigen und die Schulbehörde informieren.“ „Verdammte Scheiße, das werdet ihr NICHT tun!“, schrie ich, dabei aufspringend. Meine Mutter sah mich glatt ein wenig erschrocken an. Ich selbst hatte mich noch nie so tief und laut schreien hören. „Mann, verpiss dich zu deiner dämlichen Ersatzfamilie und lass mich das mit Papa und Gabriel alleine klären, dein Wort zählt hier schon lange nicht mehr. Du gehörst hier nicht hin, ich weiß gar nicht, was das soll, dass du hier plötzlich auftauchst und einen auf Familie tust. Wir sind schon lange keine Familie mehr! Verzieh dich einfach!“ Sie wollte etwas sagen, doch ich schrie ihr noch einen letzten Satz entgegen: „Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich eigentlich hasse!“ Ich ignorierte den erneuten Wasserfall aus meinen Augen. Ich ignorierte mein pochendes Herz, das drohte mir meinen Brustkorb zu zerbersten, dieses ziehende Gefühl in meinem Hals. Alles war mir egal. Mir war schwindelig. Ich wollte, dass sie einfach ihre dämliche Klappe hielt. Sie konnte mir das nicht kaputt machen. Nein, nein, nein! Das durfte nicht geschehen! „Jonas…“, hörte ich Gabriels flehende Stimme und schon ruhte seine Hand auf meiner Schulter. Meine Mutter betrachtete uns beide mit einem wilden Blick voller Wut, Verachtung und Verwirrung. Sie öffnete schon ihren Mund, um etwas Giftiges loszuwerden, aber da erhob sich mein Vater. „Isabel, darf ich kurz mal mit dir in der Küche sprechen?“, richtete er seine Worte an sie. „Was? Nein! Klaus, dein Sohn steht hier mit diesem ekelhaften Lehrer, der sich an ihm vergeht und du willst mit mir plaudern?!“ „IN DIE KÜCHE!“, schrie mein Vater nun so laut, dass sogar Gabriel und ich zusammen zuckten. Meine Mutter schwieg. Und dann verließ sie das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Mein Vater hingegen sah uns beide ernsthaft an und sagte: „Hier bleiben und denken Sie ja nicht, jetzt mit ihm abzuhauen, das bringt nichts.“ „Das weiß ich…“, murmelte Gabriel, doch da hatte mein Vater die Küchentür bereits zugeschlagen. Vorsichtig zog Gabriel mich aufs Sofa. Er war mir so nah, ich konnte seinen Atem auf meiner Kopfhaut spüren. Ich ergriff seine Hand und unsere Finger verschränkten sich. Er legte seinen freien Arm um mich und zog mich noch dichter an sich heran, hielt mich fest, die ganze Zeit über, in der sich meine Eltern in der Küche anbrüllten. Wie viel Zeit verging, das weiß ich nicht mehr. Gedämpft drangen die zwei mir bekannten aufgebrachten Stimmen zu mir. Und dann flog plötzlich die Tür auf, mit einem lauten Poltern und meine Mutter stürmte aufgebracht heraus, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. „Du wirst ihn verlieren!!!“, hörte ich meinen Vater brüllen. Ein weiteres Poltern erklang. Ich erkannte es als Zuschlagen der Haustür. Sie war fort und mein Vater stand nun wieder bei uns. Ich schaute ihn flehend an und er ließ sich wieder schweren Herzens Gabriel und mir gegenüber nieder. „Sie wird die Schulbehörde am Montag informieren“, erklärte er dann schwach. „Ich kann nichts tun. Du weißt, wie dickköpfig sie ist“, fügte er hinzu und ich verstand im ersten Moment nicht. „Danke, dass Sie versucht haben, sich für uns einzusetzen“, sagte Gabriel schwach und mein Herz fing an ganz laut zu klopfen. Hatte Papa wirklich versucht, ihr das auszureden…? Er lachte kalt. „Ich bin auch nicht wirklich begeistert, dass Jonas in dieser Situation ist und ich hätte mir eigentlich eher einen gleichaltrigen Freund für ihn gewünscht…“, sagte er bitter. „Das kann ich verstehen…“, sagte Gabriel. Ich war unfähig zu sprechen. Es wurde still. „Wird das auch Konsequenzen für Jonas haben?“, fragte er dann plötzlich. „Ich werde mich bemühen, diese Sache so bedeckt wie möglich zu halten und den Namen ihres Sohnes nicht erwähnen.“ „Wer weiß es noch an der Schule?“ „Nur Jonas beste Freundin. „Inga.“ „Ja, genau.“ „Inga hält den Mund?“, richtete mein Vater sich wieder an mich und ich nickte schwach. „Gut“, sagte er dann und ich schaute Gabriel ganz vorsichtig an. „Könnten Sie mir noch einen Gefallen tun?“, fragte mein Vater dann wieder. „Bleiben Sie erstmal fern von Jonas, bis… die ganze Sache sich erledigt hat. „W-was?“, erwachte ich wieder und Gabriel strich mir behutsam durchs Haar. „Das muss sein, Jonas“, sagte er dann mit ruhiger und ernster Stimme. „Das wäre zu auffällig, ich will nicht, dass dir was passiert… OK?“ „…OK“, hauchte ich. Mein Vater bat ihn zu gehen. Und dennoch erlaubte er mir, mich noch im Flur zu verabschieden, er gab uns etwas Zeit. Wir küssten uns. Verzweifelt. Und ich weinte. Und Gabriel hielt mich so lange fest und streichelte mich, fuhr mir immer wieder durchs Haar und flüsterte „ich liebe dich“ in mein Ohr. Und dann musste er gehen. Und ich wusste nicht, wann ich ihn wiedersehen würde. Mein Vater wartete im Wohnzimmer und er bedeutete mir, mich hinzusetzen. Er war viel ruhiger als vorher, jedenfalls meinte ich das verspüren zu können. „So“, setzte er ruhig an und sah mich an. „Du bist mir jetzt sehr viele Erklärungen schuldig, findest du nicht?“ Ich nickte und musste mir erstmal die Nase putzen von dem ganzen Rumgeheule. „Dann erzähl mir einfach alles, Jonas. Hm?“, forderte er mich auf und die gesamte Erzählung, von Anfang an strömte aus mir heraus. Er schwieg, als ich fertig war. Und ich heulte schon wieder. Und plötzlich saß mein Papa neben mir und hielt mich im Arm und ich heulte einfach weiter, so, als wäre ich wieder 7 Jahre alt und wäre hingefallen, oder würde den Verlust der tollen Mama durchleben. Damals… Es fühlte sich gut an. Mir war es egal, dass ich mich wie ein Kleinkind verhielt. Mein Vater war da und tröstete mich. Er brachte mir sogar noch etwas zu Trinken, als ich schon im Bett lag und er blieb sogar noch, als ich ihn darum bat. Bis ich eingeschlafen war. Als ich aufwachte, wartete er bereits mit dem Frühstück auf mich. Er war ruhig. „Hast du gut geschlafen?“, fragte er mich und ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich gar nicht“, sagte ich dann. „Habe ich mir gedacht…“, sagte er dann milde. Wir aßen in Stille. „Du meinst es wirklich ernst mit… Gabriel, oder?“, bemerkte er dann plötzlich. Ich stockte, mit dem Butterbrot in meiner Hand und sah ihn an. „Ja“, sagte ich dann heiser und er nickte einfach nur. „Willst du ihn anrufen?“, fragte er dann und ich nickte. „Dann iss auf und häng dich ans Telefon.“ „D-Danke…“ Ich war komplett verwirrt, als ich mit dem Telefon in der Hand auf mein Zimmer ging und Gabriels Nummer wählte. „Hinrichs“, erklang seine müde Stimme. „Ich bin’s…“ „Jonas! Wie geht es dir?“, fragte er umgehend. Wir redeten über drei Stunden. Über uns, unsere Geschichte und wie es weitergehen könnte. Gabriel war sich nicht sicher, ob er wohl jemals wieder unterrichten könnte. Ich wusste nicht, ob es an unserer Schule laut werden würde und wie wir uns weiter sehen könnten. Aber eines war sicher: Wir wollten nicht auf den anderen verzichten. Und das machte mich glücklich. Auch am Sonntag telefonierten wir noch. Und wünschten uns eine Gute Nacht. Obwohl wir beide wussten, dass diese nicht eintreffen würde. Wir hatten Angst. Angst vor dem bevorstehenden Tag. Vor Montag. Natürlich musste ich Inga erzählen, was vorgefallen war und als ich sie an diesem Montag auf dem Schulgelände erblickte, war sie ebenso angespannt wie ich. Immerzu starrten wir in die Massen an Schülern oder warteten auf eine Durchsage. Doch alles blieb aus. Es war ein völlig normaler Schultag. „Vielleicht haben die das ja zivilisiert geklärt?“, meinte Inga plötzlich. „Vielleicht wird’s auch erst Mitte der Woche richtig laut…“, murmelte ich und meine Freundin schwieg. Ich rannte nach Hause, ergriff umgehend das Telefon und wählte seine Nummer. Er ging nicht ran. Sein Handy war aus. „Scheiße!“, fluchte ich und marschierte wieder nach unten. „Papa?“, rief ich laut aus, als ich ihn auch nicht in der Küche vorfand. „Papaaaa?“ Erst dann bemerkte ich, dass die Terrassentür offen stand. Die Sonne hatte ihn wohl nach draußen gelockt. Ich blieb wie versteinert stehen. Dort saßen sie. Gabriel und mein Vater, mit ernsten Mienen und unterhielten sich. Und dann fiel der Blick meines Vaters auf mich. „Jonas, da bist du ja!“, rief er aus. Im selben Moment drehte Gabriel sich um. Als er mich erblickte, lächelte er, stand auf und umarmte mich fest. „Jonas…“, murmelte er. „Was machst du hier?“, brachte ich heraus. „Komm, setz dich“, sagte mein Vater und ich trat verdattert an den Tisch, ließ mich auf einen der Gartenstühle nieder. „Deine Mutter hat vorhin angerufen“, erklärte er mit milder Stimme. „Sie hat nicht bei der Behörde angerufen.“ „W-Was?“, war alles, was ich dazu sagen konnte. Meine Gefühle spielten verrückt. Mein Vater nickte lediglich. „Und, und was, was jetzt? Ich meine, wird sie da morgen anrufen, oder was?“ „Nein, Jonas. Wird sie nicht“, fuhr mein Vater ruhig fort. „Sie wird gar nichts machen. Außer, mit dieser ganze Sache irgendwie klar kommen. Ich denke, sie hatte viel Zeit, darüber nachzudenken“, sagte er. „W-was…?“ Ich sah Gabriel an und er lächelte sanft, legte seine Hand wieder auf mein Knie. „Ich arbeite an einer Versetzung nach Hamburg. Es sieht sehr gut aus“, erklärte er mir dann. „Wie, Hamburg?“ „Damit ich raus aus dieser Stadt bin, damit ich nicht mehr dein Lehrer bin und wir so was wie eine normale Beziehung führen können. Deswegen.“ „Aber… Wow, das ist, ich meine. Wir sind ausm Schneider? Wir sind safe????“, fragte ich verwundert und sah abwechselnd meinen Vater und Gabriel an. Sie nickten beide. „Ich habe heute noch lange mit deiner Mutter gesprochen“, erläuterte mein Vater. „Bevor du denkst, dass sie das gutheißt, so ist es nicht. Aber sie hat auf meinen Rat gehört…“ „Deinen Rat?“ „Ist nicht so wichtig“, sagte er ernsthaft und seufzte. „Jedenfalls will ich jetzt erstmal, dass ihr euch nicht seht. Ich hab euch so viel Freiraum verschaffen und eure Ärsche gerettet, das haltet ihr ja wohl durch oder, Jonas?“ Ich schaute Gabriel flehend an, doch auch er blieb hart. „In den Sommerferien, wenn sich alles entschieden hat, OK?“, sagte er milde. Nein, ich konnte es nicht glauben, dass mein Problem gelöst war, dass das Schlimmste nicht eingetroffen war, dass mein Vater einfach so versuchte, damit klar zu kommen, dass Gabriel an einer Zukunft mit mir arbeitete. Er hatte mich tatsächlich einfach so in den anderen Geschichtskurs gesteckt. Es schmerzte, ihn nicht mehr zu sehen. Ihn so lange nicht zu sehen… An seinem Geburtstag rief ich ihn an. Und er war glücklich. Wir redeten eine ganze Stunde lang und er sagte mir, dass er gar nicht feiern würde – sondern diesen Tag mit mir allein nachfeiern würde. Ich versuchte, mich auf die Schule zu konzentrieren. An den Wochenenden ging ich mit Josh, Martin und Inga weg. Kino, Klub, Eisessen, Cocktails trinken. Egal was. Hauptsache Ablenkung. Ich war froh, dass ich mit meiner besten Freundin nun wirklich über alles reden konnte und so durfte ich ihr immerzu mein Herz ausschütten. Sie hatte es noch immer nicht gänzlich verdaut, dass ich tatsächlich etwas mit Hinrichs hatte… Aber sie meinte, sie verstünde das Gefühl, jemanden zu lieben… Mit ihr und Stefan war es auch immer ernster und ich freute mich sehr für sie. Eines abends bekam ich endlich eine SMS von Gabriel. „Ziehe nächste Woche nach HH, es hat geklappt! Melde mich sobald alles fertig und organisiert ist. Ich liebe dich. Gabriel“ Ich führte erstaunlich lange Gespräche mit meinem Vater. Über meine Zukunft, über Gabriel und über meine Mutter. Die hatte sich noch immer nicht gemeldet, aber dieses Mal sagte sogar mein Vater, dass ich es verstehen müsste und dass sie noch sehr viel Zeit bräuchte, um mit all dem Erlebten irgendwie klar zu kommen. Und so wartete ich einfach. Nicht, dass ich irgendwie scharf darauf gewesen wäre, Kontakt mit meiner Mutter aufzunehmen. Aber… Die Zeit verging schneller, als ich es erwartet hatte. Josh und Martin feierten an einem Wochenende so richtig, als bekannt wurde, dass Hinrichs die Schule verließ. Und ich tat so, als wäre ich ebenso erfreut. Was mir gelang, denn eigentlich war ich es ja auch…Er war nicht mehr mein Lehrer… Eine Fernbeziehung zu führen war scheiße. Ich konnte nicht jedes Wochenende nach Hamburg fahren. Erstens, weil das Geld nicht immer reichte, auch wenn Gabriel mir die meisten Reisen spendierte, zweitens, und vor allem, weil ich natürlich Josh und Martin immer noch nicht die Wahrheit sagen konnte… Und so log ich, stets meine Mutter zu besuchen, mit der sich der Kontakt angeblich gebessert hätte. Was die beiden mir abkauften. Nur Inga und mein Vater wussten, wo ich war. Meine Mutter natürlich auch. Sie hatte angerufen, irgendwann mitten in den Sommerferien, als ich bei Gabriel war, in Hamburg. Sie hatte eine Nachricht aufs Band gesprochen, dass sie mich nicht verlieren wollte und sich nur Sorgen gemacht hätte, und dass ich sie doch besuchen sollten. Das tat ich dann auch. Mit Gabriel an meiner Seite, der von dieser Idee nicht ganz so überzeugt war wie ich, aber mir diesen Gefallen tun wollte. Es war ein bisschen grässlich, weil meine Mutter scheinbar noch immer nicht die Tatsache verarbeitet hatte, dass ich schwul war und dazu auch noch mit meinem ehemaligen Lehrer… vögelte. Eigentlich erinnere ich mich an diesen Besuch immer wieder gern. Gabriel war stolz auf mich, dass ich mein Abi bestanden hatte. Wir feierten in einer Cocktailbar mit einigen seiner Kollegen und deren Bekannten – die auch alle schwul waren. Und die unsere Geschichte kannten. Und uns als Pärchen vollkommen akzeptierten. Manche mehr, manche weniger, aber das war egal. Wir hatten unseren Spaß. Ich leistete auch meinen Zivildienst in Hamburg ab, wohnte bei Gabriel und es war überwältigend, unsere Gefühle offen zeigen zu können und uns nicht mehr verstecken zu müssen… Und wer hätte gedacht, dass ich Geschichte und Religion auf Lehramt studiert habe. Ich schätze, ich war irgendwie prädestiniert dafür. Nur Gabriel und ich… wohl irgendwie nicht. Ich weiß nicht, wann es anfing. Wahrscheinlich, als ich im 3. oder 4. Semester war. Da war ich 22. Und das Studentenleben hatte mich vollkommen aufgefressen. Und ich war angepisst, dass Gabriel nie mitkam zu irgendwelchen Parties, für die er sich „viel zu alt fühlte“. Ich wollte nicht jedes Wochenende in eine Schwulenbar gehen, wenn überhaupt, oder einfach nur ins Kino. Ich hatte es auch satt, so viele DVDs zu gucken. Klar hatte mir das am Anfang mit ihm gereicht, aber als „normales Pärchen“, wollte ich mehr. Und er konnte es mir nicht geben. Unsere Interessen schienen plötzlich komplett gegensätzlich… „Es ist der Altersunterschied, der jetzt deutlich wird…“, sagte er an unserem letzten gemeinsamen Abend. Ich hatte an diesem Abend gar nichts mehr gesagt und war mit meinem Freund Kai saufen gegangen. Als ich nach Hause kam, fand ich Gabriel weinend auf dem Sofa. Wahrscheinlich war ihm schon längst klar geworden, dass es vorbei war. Ich zog mit Kai zusammen. Ich dachte auch, dass ich ihn lieben würde. Aber dem war scheinbar nicht so. Gabriel hatte die Schule wieder gewechselt, weil er ein besseres Angebot bekommen hatte und mich hatte es nicht interessiert, wo er unterrichtete. Wir hatten gar keinen Kontakt mehr. Ich beendete mein Studium, hielt mein Referendariat ab und trat dann mit 31 meine erste, feste Stelle an, an dieser riesigen Gesamtschule. Es war komisch, sich wieder so sehr in die eigene Schulzeit versetzt zu fühlen. Ich sah sogar öfters Schüler, die mich an Josh, Martin und Inga erinnerten. Eigentlich hatte ich nur noch mit meiner süßen Inga Kontakt, die letztes Jahr geheiratet hatte. Martin und Josh, die die gesamte Sache mit Gabriel irgendwann zwangsweise erfahren hatten, hatten es nie akzeptieren können. Sie konnten ihn nicht riechen. Und irgendwann… Brach da auch der Kontakt ab. Als ich das erste Mal in meinem Klassenzimmer stand, kamen all diese von mir in den Hintergrund gedrückten Gefühle wieder hoch. Diese heimliche Schwärmerei, die Versuche, Gabriel zu erobern, das Versteckspiel und das Glück, mit dem er mich erfüllte… All die Jahre lang. In dieser Nacht schlief ich schluchzend ein und quälte mich am kommenden Tag aus dem Bett, trat mich zum Unterricht. Und in der großen Pause, in der ich noch weitere Kollegen kennen lernen sollte, stand er plötzlich vor mir. Hatte er mit 30 fast wie 40 ausgesehen, so schien die Zeit nun stehengeblieben zu sein. Er sah noch immer so aus wie an dem Tag, an dem wir einander „Auf Wiedersehen“ gesagt hatten. Sein Haar immer noch schimmernd Blond, der Dreitagebart gepflegt, die Haut leicht bräunlich… Gabriel Hinrichs stand vor mir und wurde mir als „Kollege vom Fach“ vorgestellt. Als wir unsere Hände zur Begrüßung ergriffen, übermannte mich ein unbeschreiblicher Schauer. Eine Gänsehaut formte sich und als ich seine Stimme hörte, zitterte ich. „Ich… Ich hatte nicht gedacht, dass wir uns wiedersehen“, sagte er, als niemand mehr um uns stand. „Äh… Überraschung?“, versuchte ich zu scherzen, doch meine Stimme klang viel zu heiser. „Geht es dir gut?“, fragte er mich milde und meine Knie wurden ganze weich, als ich ihm in die Augen sah. Meine Gefühle für ihn hatten mich wie eine Flutwelle überrannt. Und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. „Ja, ich bin endlich am Ziel“, entgegnete ich schwach. „Und dir?“ „Mir geht es auch ganz gut, ich hab endlich die Traumwohnung gefunden, nach der ich immer gesucht habe. Beziehungsweise ein Haus, in nem Vorort von Hamburg…“ „…mit großem Garten und dahinter einem kleinen Wäldchen?“, beendete ich seinen Satz und er nickte lächelnd. „Das freut mich…“, sagte ich und der Stich in meiner Brust wurde immer größer. Wieso hatte ich diesen Mann verlassen? Die aller größte Liebe meines Lebens? Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein? „Und, immer noch mit Kai glücklich?“, fragte er und ich lachte laut. „Schon lange nicht mehr. Und du? Glücklich verliebt?“ „Schon lange nicht mehr“, imitierte er mich grinsend. Von Schüler und Lehrer zu Kollegen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. In jeder Pause suchte ich nach ihm und wir aßen zusammen, oder gingen spazieren. Nach drei Wochen fragte ich ihn endlich, ob er Lust hätte, mich zu besuchen. „Ich kann jetzt echt besser kochen“, versicherte ich ihm und er lachte. Diese Vertrautheit zwischen uns… Sie war einfach da… Als wären wir nie auseinander gewesen. Mein Herz blutete, wann immer ich ihn sah, wann immer wir miteinander sprachen, wann immer er mich auch nur ansah. Der Abend, an dem er zu mir kam, war anfangs der schlimmste Tag meines Lebens. Als wir zusammen aßen und er meine Kochkünste tatsächlich lobte, erwartete ich eine Hand in meinen Haaren, die durch sie streichen würde; als wir einen Film für den Abend aussuchten, übermannten mich tausende Erinnerungen, vor allem von unseren ersten Tagen in der gemeinsamen Wohnung oder auch vom Anfang unserer Beziehung…. als ich noch sein Schüler war… Als wir auf dem Sofa Platz nahmen, musste ich mich zurückhalten, mich nicht an ihn zu lehnen. Diese körperliche Nähe zu ihm fehlte mir plötzlich so sehr, wie Luft zum atmen fehlen könnte. Ich biss mir auf die Zunge. Ich war 31 Jahre alt und ich fühlte mich wieder wie 18. Ich war nervös. Ich zitterte. Und ich hätte am liebsten geflennt. „Jonas…?“, drang seine zarte Stimme zu mir und als ich den Kopf drehte, war Gabriel mir schon so nahe, dass ich seinen Atem an meiner Nasenspitze spüren konnte. Ich schloss die Augen, als er seine Lippen auf meine legte und als seine Zungenspitze ganz vorsichtig über meinen Mund glitt, nur um dann nach Einlass zu verlangen. Den ich umgehend gewährte. Ich schlang meine Arme um ihn und zog ihn ganz dicht an mich heran. Ich wollte, dass dieser Moment niemals enden würde. Wir liebten uns auf dem Sofa, während der Film einfach vor sich hin lief. Es war so intensiv, dass ich Stunden brauchte, um mich davon zu erholen. Und ich schlief in Gabriels Armen ein. Als ich erwachte, war er nicht mehr da und ich saß im Bett und weinte. Wie ein kleiner Junge. „Was ist denn?“, riss mich seine Stimme aus meinem Zustand und ich starrte ihn verdattert an. Dort stand er, an den Türrahmen gelehnt und hielt ein Frühstückstablett in der Hand. „Du hast nicht wirklich gedacht, dass ich jetzt einfach abhaue? Nach all der Zeit, in der ich nur an dich gedacht habe?“ Wir ignorierten das Frühstück. Wir küssten uns, streichelten einander. „Ich liebe dich so sehr…“, sagt ich ihm endlich und er küsste meine Hand. „Und ich habe nie aufgehört dich zu lieben, Jonas…“, waren seine Worte. Nun wohnen wir schon seit 5 Jahren wieder zusammen. In dem kleinen Häuschen, Gabriels Traumhäuschen. Ich denke der Altersunterschied spielt nun auch keine Rolle mehr. Ich hab mich schon tausendfach bei Gabriel entschuldigt für meinen spät-pubertären Ausraster. So nenne ich es gern. Er lacht dann immer nur. Und küsst mich. Wir sind vielleicht nicht das beste Pärchen, aber ich weiß, dass ich ihn nie wieder verlassen werde. Weil wir beide so hart um einander gekämpft haben. Wir sind schließlich doch füreinander prädestiniert. Wir zwei Lehrer. Wer hätte das gedacht? - - - Vielen Dank für alle Reviews, fürs Lesen und fürs Spaß haben ;) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)