Liebeslinguistik von Himi_und_Nami (aoianisch*urupäisch + urupäisch*aoianisch) ================================================================================ Kapitel 6: Semantik eines Kusses - Das Uru aus dem Eis ------------------------------------------------------ „Hilf mir ... es ist so kalt ... Aoi ... bitte ...“ Aoi versuchte sich auf den Boden zu legen. Musste sein Gewicht verteilen. Wieder knackte es. Und das Eis riss erneut. Uruha wurde wieder unter Wasser gezogen. „Kouyou!“ Aoi stiegen Tränen in die Augen. Tauchte er wieder auf? Nichts ... Uruha? „Kouyou!“ Es war so verdammt dunkel! Uruha zog sich wieder am Eis hoch. Aoi atmete auf. Er hatte Angst. Todesangst. Aber nicht zu vergleichen mit der Angst, die er in den Augen des Mannes sah, den er liebte. Der schnappte nur noch flach nach Luft. „Ich hab keine Kraft ... mehr ... Bleib weg ... du brichst nur auch ... ein ...“ Seine Stimme, heiseres Flüstern. Aoi musste sich etwas anderes überlegen. „Ich werd dich nicht sterben lassen!“, rief er und kämpfte sich den Hang wieder hoch. „Geh nicht weg ... lass ... mich ... nicht ...“ Aoi kam mit einem Teil des Astes zurück. „Halt dich daran fest ...“ Uruha hatte keine Kraft mehr. Konnte sich noch langsam bewegen. Aber nicht festhalten. Das durfte nicht sein. Das durfte nicht passieren. Einen Moment nur wurde Aoi hysterisch. „Scheiße!“, fluchte er den Schnee und die Kälte an. Von Sekunde zu Sekunde wurde Uruha mehr eingeschneit. Aoi raufte sich die Haare. Sein Atem ging heftig. Er wusste: Wenn Uruha jetzt das Eis loslassen würde, dann würde er untergehen und nie wieder auftauchen. „Ich kann ... mich ... nicht ... mehr ... hal ...“ Nein, nein.... nein! Aoi stapfte erneut den Hang hinauf in den eigenen Spuren. Das Gefühl, Uruha allein in der Dunkelheit zurückzulassen, war unbeschreiblich grausam. Er rannte zum Auto. Mittlerweile waren seine Finger auch schon klamm. Seine Füße fast taub. Nur durchgestreckte Knie und der Schwung des Gehens hielten ihn noch auf den Beinen. Aoi öffnete den Kofferraum und schnappte sich das Abschleppseil und eine Gummieinlage daraus, stolperte durch den Schnee und gegen den Wind zum See zurück. „Uruha! Mach das an deinen Gürtel!“ Einen Moment kam keine Antwort. Aoi schleuderte es rüber zum Anderen. Zu weit weg. Noch ein Versuch! Uruha bewegte sich sehr schwerfällig. Er stützte sich mit dem Ellenbogen auf das Eis, in der Hoffnung, es würde einen kurzen Moment durchhalten. Mit allerletzter Kraft drückte er den Karabinerhacken auf, tauchte ihn unter Wasser. Aoi schob die Gummieinlage bis kurz vor ihn hin, ohne das Eis zu betreten. Alles musste passen. Eine zweite Chance hatten sie nicht. „Zieh sie ein wenig zu dir, bis sie ein Stück ins Wasser hängt! Und halt dich am Seil fest! Lass es nicht los!“ Uruha war nicht sicher, ob er es geschafft hatte, dass er fest am Seil hing. Aoi war schon verschwunden. Dieser Anblick zerriss ihn fast. Er konnte die Augen kaum noch offen halten. Das Surren des Motors war zu hören, ein Lichtkegel wanderte über die Bäume. Aoi drehte das Auto um. Dann klinkte er den Haken ein. Hechtete wieder nach vorne. Mit zitternden Händen und ohne Gefühl im Bein fuhr er an. Gerade gefühlvoll genug, dass das Seil nicht riss. Ein Ruck durchzog Uruhas Körper und aus Angst tat er genau das Gegenteil von dem, was er normalerweise getan hätte: Er krallte sich am Seil fest. Sein Leben hing davon ab. Die Gummimatte tat ihre Pflicht. Sie schützte ihn vor den scharfen Kanten der Eisstücke, die unter der Zugkraft des Autos brachen wie Glas. Seine Knie schrammten über den Uferboden, schlammig und steinig. Den Schmerz spürte er nicht mehr. Sein Körper grub sich ein Stück durch den Schnee. Aoi stoppte, vergaß beinahe, die Handbremse zu ziehen. Ignorierte das unschöne Geräusch, als er sie hochriss, ohne den Knopf zu drücken. Er ließ den Motor laufen, hechtete zu Uruha herunter. Dieser lag wie eine Puppe da, atmete flach, weil sein Körper vor Kälte gelähmt war. Selber fast am Ende hievte Aoi sich den Anderen auf den Rücken und schleppte sich zurück zum Auto. Er setzte Uruha halbwegs auf den Rücksitz, rannte um den Kombi herum, um ihn von der anderen Seite unter die Achseln zu greifen und ihn ganz hinein zu ziehen. Schloss erst die eine Tür, dann die andere, als er selber mit eingestiegen war. Hastig riss er Uruha die nassen Sachen vom Leib und ließ sie achtlos zischen die Polster fallen. „Es ist ... so heiß ... hier drin ... Ich ... verbrenne ...“, hörte er den Anderen flüstern. Aoi ließ etwas Luft von Draußen rein, rubbelte mit einer trockenen Decke an dem schmalen zitternden Körper herum, um ihn wieder warm zu kriegen. Dann zog er selbst seine Winter-Jacke aus, die ihn bis dahin gut gewärmt hatte. Er zog sie Uruha an, dann knöpfte er sein Hemd auf. Er zog seinen Liebhaber zu sich in die Arme, stöhnte laut auf und zog alle Luft in sich ein, als ihre Körper zum Teil pur aufeinander trafen. Die einzige wirkliche Wärmequelle war er. Uruha klammerte sich an ihn. Seine Finger drückten sich mit wenig Kraft unter Aois Jacke auf dessen Rücken ... „Aoi ...“ „Hai ... ich bin da ... hab keine Angst ... es wird alles gut.“ Aoi drückte sein Gesicht in Uruhas nasse Haare, kniff die Augen zusammen, um Tränen wegzudrücken. „Ich liebe dich ...“, flüsterte er dann. Es wollte raus, war nicht aufzuhalten. Aoi war sich nicht mal sicher, ob Uruha das überhaupt gehört hatte, denn der reagierte erst gar nicht. Eine Weile lagen sie so nebeneinander. Mindestens eine Viertelstunde lang. Um sie herum war bereits fünfzehn Zentimeter Schnee gefallen. Die Lüftung blies immer noch warme Luft in die Fahrgastzelle. Aoi hauchte seinen Atem auf Uruhas Schulter und seinen Rücken. Jede einzelne seiner Bewegungen war nur dazu da, den Anderen zu wärmen. Jedes Streicheln, jedes bloße Auflegen der Hände. Uruhas Körper bebte immer noch wie Espenlaub im Wind. Aber Aoi konnte spüren, dass seine Vitalfunktionen wieder mehr und mehr aktiviert wurden. Träge zog der Größere die Beine an, weil seine Füße immer noch froren. Das Gefühl, in zwei Grad kaltem Wasser zu hängen, war unbeschreiblich beklemmend. Es hatte sich angefühlt, als hätte man ihn lebendig eingemauert, und die Kälte war ihm vorgekommen, wie ein Mantel aus feinen Kaktusnadeln. Die Ohnmacht nichts tun zu können und die Kraftlosigkeit steckte immer noch in seinen Knochen. Nur langsam konnte er sich überhaupt beruhigen. Seine Beine zuckten zusammen, als würde er ständig träumen, hinzufallen oder eben einzubrechen. Nur sehr schwerlich drang Aois Wärme in ihn vor. Jene Wärme, nach der er sich immer sehnte, seit er von ihr gekostet hatte. Aoi hätte fast sein Leben für ihn riskiert, um ihm zu helfen und schlussendlich hatte er ihm sein eigenes gerettet. An die Unwetterwarnung dachte er nun nicht mehr, bemerkte nur beiläufig, dass Aoi den elektrischen Fensterheber betätigte, um das Fenster zu schließen und den hereinwehenden Schnee auszusperren. Der Wind rüttelte nun wahrhaft merklich an der Karosserie des Wagens. Aoi hatte es nicht bemerkt, aber als er aufschaute, konnte er nicht mehr durch die Frontscheibe schauen. Sie mussten hier weg. So schnell wie möglich! Aber wie? Er musste Uruha wärmen. Sein Freund würde sich sonst noch eine Lungenentzündung holen. Mit der linken Hand hakte er umständlich die Hutablage aus, griff so von Innen in den Kofferraum und zog einen von zwei Winter-Schlafsäcken hervor, die er für solche Notfälle eingepackt hatte. „Aoi ...“, hörte er den Anderen heiser sprechen. Er schaute ihn sofort an. „Was ist? Brauchst du was?“ Immer noch zitternd hatte Uruha sich krampfhaft aufgestemmt, sah dem Anderen nun von leicht unten ins Gesicht. Aoi hielt inne in seinem Tun. Ihre Blicke trafen sich. Der Dunkelhaarige konnte Dankbarkeit, aber auch anhaltende Furcht in den Augen seines Gegenübers sehen, aber auch Spannung und Aufmerksamkeit. Uruha blinzelte erschöpft, ließ seine Finger zu Aois Hemdkragen krabbeln und zog dann leicht, aber entschlossen daran. Ihre Gesichter kamen einander näher. Der Ältere begriff die Absicht der Geste sofort, sein Herzschlag beschleunigte. Langsam berührten sich ihre Lippen. Aoi konnte fühlen, wie Wärme in Uruhas Wangen schoss, seine Weichheit und seine Vorsicht. Es war die zarteste Berührung, die sie je geteilt hatten. Uruha war einiges klar geworden. Er liebte diesen Mann. Er liebte jede seiner Fasern, jedes seiner Haare, jedes seiner Worte, seine Wärme, seine Stimme, seine Zärtlichkeit und Stärke. Und deshalb hatte Aoi nun die Erlaubnis, ihn küssen zu dürfen. Er sollte es tun können, wann immer ihm danach war. Und in diesem Moment, in dem sie zögernd den Kuss intensivierten, Welten, Schnee und Zeit um sich herum vergaßen, wurde ihr Spiel ohne Gefühle zur Wahrheit ohne Grenzen, zum Wahnsinn ohne Hemmung. Die letzten Monate über waren sie Tänzer gewesen, die leidenschaftlich Pirouette um Pirouette umeinander drehten, am dem Rand des Abgrunds und nun, da sie stehen geblieben waren, stürzten sie ab. Tiefer und tiefer, einander festhaltend. Ohne zu wissen, wann ihr Fall enden sollte. Unaufhaltsam erwärmte sich Uruhas durchfrosteter Körper wieder. Er vergaß die schmerzende Kälte, die seine Glieder fesselte für diese Weile, denn da herrschte nichts Dunkles in seinen Gedanken. Da war nur er und Aoi, seine Lippen, das kleine Löchlein, das von seinem Piercing übrig war, sein leicht rauchiger Geschmack, sein heißer Atem, seine seidenweiche Haut. Warum hatte er dies nicht viel früher getan? Warum hatte er Aoi nicht viel früher die Erlaubnis erteilt? Er hatte doch gespürt, dass er dies wollte, er hatte doch geahnt, dass sich der Wunsch danach auch in seiner eigenen Brust formiert haben musste. Es hätte so viele schönere Augenblicke dafür gegeben, aber Aois Art zu Küssen machte jeden noch so unsäglichen, ungeeigneten Zeitpunkt zum perfekten Moment, wie Uruha gerade herausfand – auch diesen. Er hatte befürchtet, dass Aoi ihm nicht schmecken würde, dass es einfach nicht passen würde, aber ein Teil von ihm hatte still einfach gehofft, dass es funktionieren und ihn glücklich machen könnte. Ganz konzentriert auf sich umwanderten ihre Gesichter einander, Aoi trennte als erster die prallen Lippen des Mannes, den er liebte. Es passte, es schmeckte und prickelte so stark, wie ein Schwarm Bienen im Bauch. Beide mussten nach kurzer Zeit in das Lippenbekenntnis hineinlächeln. Die endorphinöse Wirkung dieses Kusses machte es umso schwerer ihn abzubrechen. Atmosphärisch schauten sie einander an, die Münder dunkelrot und nass. Aoi streichelte sanft die rechte Seite von Uruhas Kopf. Seine Haare wollten immer noch nicht trocknen. Der Ältere lehnte das Gesicht an die Stirn desjenigen vor sich, der die Augen wieder schloss, dann hörte er Uruha etwas flüstern ... „Ich liebe dich auch ...“ Aoi atmete kräftig aus, es war ein tonnenschwerer Brocken, der von seinen Schultern und seinem Herzen fiel. Am liebsten hätte er geweint, so gerührt war er davon, Uruhas Herz endlich gewonnen zu haben. Dass er es in Wirklichkeit schon eine ganze Weile besessen haben musste, war ihm in diesem Moment gar nicht bewusst. Er drückte den Anderen so fest er konnte. Auch die anderen Scheiben waren nun zugeweht. Uruha lächelte trotzdem froh und ließ sich von Aoi in den Schlafsack einpacken, den er ganz über den Kopf gezogen bekam. Aoi streckte sich neben ihm weit in den Kofferraum, um einen Korb mit Essen hervorzuholen. Er gab Uruha Tee aus einer Thermoskanne zu trinken, der ihn sofort von Innen wärmte und dann ein paar Stückchen Schokolade, die ihm kurzfristig wieder Energie zukommen lassen sollten. Kurz nur öffnete Aoi die Heckklappe, die er aus diesem Winkel heraus kaum anheben konnte, um das Abschleppseil hereinzuziehen. Er brauchte sehr viel Kraft dazu, da sie mit Schnee über und über zugeweht war. Schnell machte er das Auto wieder dicht, bevor Kälte und Autoabgase in den angenehm warmen Wagen eindringen konnten. Dann bewegte er sich beinahe akrobatisch nach vorne. Der Schaltknüppel zitterte immer noch unter den Umdrehungen des Motors, fast das Einzige, was darauf schließen lassen konnte, dass er noch an war. Aoi schob den Schnee auf der Frontscheibe mit den Scheibenwischern zur Seite, die gut isoliert unter dem kalten Weiß nicht wie üblich binnen einer halben Stunde angefroren waren. Erst jetzt würde ihm bewusst, wie schwer es sein würde voranzukommen. Aber versuchen musste er es trotzdem. Er musste Uruha in Sicherheit bringen. Als er anfuhr, schwamm das Auto beinahe und schlitterte zur Seite. Dann griffen endlich die Schneeketten und im zweiten Gang, mit dreißig Meilen die Stunde und heulendem Motor, pflügte der Wagen sich durch die kalte Masse. Aois ganzer Körper spannte sich an. Krampfhaft hielt er das Lenkrad fest, lenkte nur ganz leicht gegen. Uruha bekam das Schwimmen des Autos mit, aber er konnte nicht helfen. Sein Herz klopfte und er hoffte, dass Aoi die Nerven behalten würde. Nach ein paar hundert Metern kamen sie in einen dichten Kiefernwald, der den Schnee vom Weg ein wenig abgehalten hatte. Die zehn Zentimeter, die ungeschoben vor ihm lagen, waren gegen dem von eben fast schon ein Kinderspiel. Aoi traute sich nun sogar in den dritten Gang zu schalten. Aber er blieb vorsichtig. Am Ende des Waldes sah er plötzlich Lichter vorbeihuschen. Ihm war klar: Da ist eine befestigte Straße! Schon viel zu früh fing er an zu bremsen, um nicht auf ihr zum Stehen zu kommen. Im nächsten Moment fuhr eine große Schneefräse an ihm vorbei. Glücklicherweise in die Richtung, die er gerade brauchte. Wieder hatten sie Glück. Aoi ließ den Wagen ein bisschen zurückrollen und fuhr dann mit Schwung durch den Wall an Schnee, den die anderen Schneeräumfahrzeuge schon hatten entstehen lassen, auf die Straße auf. „Ja!“, stieß er aus und musste lachen. Auf der geräumten Straße war nur die übliche festgefahrene Schicht Schnee, an die er sich schon lange gewöhnt hatte. Darum konnte er relativ entspannt weiterfahren. Das Einzige, was ihm ab und an Schwierigkeiten bereitete, waren Schneebänke, die vom Wind zusammengepustet von Straßenrand zu Straßenrand entstanden. Aber mit der Geschwindigkeit als Booster und einem niedrigen Gang waren auch die kein Problem mehr. Mit zitternden Händen und völlig am Ende mit den Nerven fuhr er auf den ungeräumten Parkplatz des Hotels auf, das war noch einmal schwierig. Hier lagen schon dreißig Zentimeter Schnee. Sofort sah er einen Pagen aus den Flügeltüren des Eingangs einen Weg zu seinem Auto schaufeln. Ein schmaler Trampelfahrt zwar, aber er hatte einen Menschen noch nie so schnell Schnee schippen sehen. Aoi erklärte ihm knapp die Situation, nachdem er ihm auf halben Wege entgegengekommen war. Schließlich kamen noch zwei andere Angestellte, die Uruha, eingepackt wie er war, ins Hotel trugen, hinein in ein Krankenzimmer zur Untersuchung durch einen unter den Gästen zufällig anwesenden Arzt. Auch Aoi wurde untersucht und beide einer Warmwasser-Waschung in einem Sprudelbecken unterzogen. „Sie beide hatten sehr viel Glück ... auch wenn das jetzt nicht so aussieht ...“ Der Doktor mit dem Kansai-Dialekt ließ seinen Blick über die Beiden schweifen. Der Eine würde in den nächsten Sekunden vor Erschöpfung einschlafen, der Andere war eingepackt in eine dicke Decke, beide Knie mit einem Verband versehen, und zitterte immer noch wie der Schwanz einer Klapperschlange. Er gab beiden Männern eine Spritze, die ihre Abwehrkräfte mobilisieren sollte. Im Restaurant im ersten Stock bereitete man schon ein köstliches, warmes Essen für sie zu, die Zimmer waren lange vorbereitet. Nur beiläufig bekamen Beide mit, dass draußen ein Blizzard entstanden war. Sie hätten wirklich keine Minute später hier ankommen dürfen. Bis um halb drei Uhr morgens wurden sie im Whirlpool aufgewärmt. Aoi ging es natürlich schneller wieder gut als Uruha. Sein Körper musste kämpfen, war stark unterkühlt. Langsam gewöhnte er sich wieder an die Temperatur des Wassers, das fünfzehn Grad kalt war und ihm heiß vorgekommen war, bis es sich schließlich wieder kalt anfühlte - ein gutes Zeichen. Uruha hatte aber keine Erfrierungen davon getragen. Eigentlich erstaunlich, aber Aois Hilfe war offensichtlich noch rechtzeitig genug von Erfolg gekrönt worden. In einem Rollstuhl wurde der Leadgitarrist auf das Doppelzimmer gebracht. Aoi konnte nur müde nebenher taumeln. Gleich darauf versuchte Uruha aus dem Hilfsmittel aufzustehen, um sich ins Bett zu legen, dankbar endlich wieder wie normal Gefühl in beiden Beinen zu haben. Es funktionierte auch ganz gut. Aoi setzte sich erst mal auf die Kante. Dann kam eine Bedienung und brachte ein Betttischchen für beide. Heiße Suppe und gute Beilagen, angenehm präsentiert, wurden ihnen aufgetragen. Sie verabschiedete sich und legte beiden einen Pager auf den Nachtschrank, den ihr der Arzt gegeben hatte. Sie verabschiedete sich freundlich und sagte ihre Durchwahlnummer an, falls beide Männer noch irgendetwas benötigen würden. Dann verschwand sie schon wieder mit einem wissenden Lächeln, denn offenbar hatte sie beide erkannt. Aber das interessierte die Gitarristen gar nicht. Uruha aß mit munterer Begeisterung für die warme Hühnersuppe alles auf. Aoi musste lächeln, es schien alles in Ordnung zu sein. Uruhas Zittern hatte auch langsam nachgelassen. Auch er hatte Hunger wie ein Wolf. Er hätte jetzt ein Rumpsteak vertragen können, aber leichtes Essen war wohl in ihrem Zustand bekömmlicher. Eine Weile später lagen sie eingekuschelt in Federbetten nebeneinander. „Ach weißt du, eigentlich können wir uns nicht beschweren ...“, sagte Uruha. „Ich meine, ist doch Highclass-Service, oder nicht? Und das alles ohne Aufpreis. Teure Suite statt Holzhacken, Gourmet-Essen statt Döner ...“ „Hast du was gegen meinen Candlelight-Döner?“, lachte Aoi zurück. „Nein ... Ich dachte nur zwischenzeitlich, dass das meine letzte Mahlzeit gewesen wäre ...“ Beide drehten ihre Köpfe zueinander und schmunzelten. „Danke ...“, flüsterte Uruha sanft und streckte den Kopf, um den anderen zu küssen. Das Lippenbekenntnis endete impulsiver als gedacht. „Das immer erst was Schreckliches passieren muss ...“, schnalzte Aoi und zog den Anderen kurz am Ohr. Uruha zuckte, die Augenlider klappten zu. „Ja ... ich weiß ... Es tut mir Leid ...“ Einen kurzen Moment nur, dann hatte Uruha sich entschlossen, Aoi ein Geheimnis anzuvertrauen. „Aoi ... Es tut mir auch Leid, dass ich dir immer vorgeworfen habe, dass du unsere Affäre geheim halten möchtest ... dabei war ich Derjenige, der dies mehr als unbedingt wollte. Mir war die ganze Zeit über nicht wirklich bewusst gewesen, warum ... ich hatte es verdrängt ... Aber ich hab mich wieder erinnert.“ „An was denn?“ Aoi drehte sich aufmerksam zu ihm um. „Ich hab ... als ich ... Vierzehn war, einmal mit einem Freund Küssen geübt ... ich hatte am nächsten Tag mein erstes Date ... und na ja ... ich wollte vorbereitet sein ... Dann hat mein Vater uns erwischt ...“ Aoi war erstaunt, Uruha hatte noch nie von seiner Familie geredet, höchstens von seinen beiden älteren Schwestern. „Und dann?“ „Er ist völlig ausgerastet. Er hat mich und ihn beschimpft und mir gedroht, mich zu enterben ... Er hat ihn rausgeschmissen, mich verdroschen und meine Gitarre mit voller Wucht auf den Boden geschleudert ... Ich hab die ganze Nacht geweint ... und gesagt, dass ich nie wieder einen Mann küssen würde ... Aoi ... ich schätze, ich bin schon lange in dich verliebt, vielleicht sogar schon vom ersten Moment an, in dem du mir Avancen gemacht hast ... Ich liebe dich, Aoi, aber ich hatte immer diese Sache im Hinterkopf. Ich konnte mich damals am nächsten Tag an nichts erinnern. Auch mein Vater hat niemals mehr davon gesprochen ... Ich ... bin mir nicht ein mal sicher, ob das alles wirklich passiert ist ... oder nur ein Traum war, aber ...“ Nun musste Uruha weinen, zu schrecklich war die Erinnerung, die ihn plötzlich in allen Details heimsuchte. Aoi legte den Arm um ihn. Er hielt ihn fest. „Ich weiß, was du meinst ... mein Vater hat auch immer sehr abwertend auf schwule Männer reagiert. Ich hab auch Angst, mit ihm zu reden ... aber das alles müssen wir doch nicht jetzt tun. Das machen wir erst, wenn wir wirklich sicher sind, das wir beide das auch wollen und ertragen können. Nicht jetzt, nicht morgen, auch nicht in ein paar Wochen, wenn wir uns dann noch nicht sicher fühlen ...“ „Hai ...“ Uruha nickte schniefend und krallte sich am T-Shirt des Anderen fest. Eine Weile hielten sie einander stumm und genossen die gemeinsame Nähe. Dann fing Aoi wieder ganz unvermittelt an: „Nun haben wir uns in unseren Eskapaden so bemüht, verschiedene Sprachen des Liebeslebens auszuprobieren ... und es sollten ja eigentlich noch mehr werden, dieses Wochenende“, kicherte der Ältere. „Aber weißt du, was mir aufgefallen ist?“ „Na?“ „Wir haben uns nie auch nur eine Sekunde gefragt, was denn unsere eigenen Sprachen sind ...“ „Unsere eigenen Sprachen ...?“ „Hai. Ich glaube, dass man Sex und Lust nicht klassifizieren kann ... genauso wenig wie man sagen kann, dass jemand schwul ist, oder hetero oder metrosexuell ist. Es ist doch unsinnig, etwas so Zerbrechliches und Intimes, etwas, das so persönlich und individuell ist, wie das eigene sexuelle Ich, in eine Kategorie zu stecken. Ich glaub, das geht gar nicht ... Das ist doch so unterschiedlich und feingliedrig, wie der Charakter des Menschen selbst, oder nicht?“ Uruha wusste nicht, woher Aoi die Kraft nahm, jetzt noch solche sozial-philosophischen Ausschweife von sich zu laden, aber er hatte Recht. Er nickte es ab. „Was meinst du denn, wie wir unsere eigenen Sprachen herausfinden ...?“ „Keine Ahnung ... denk dir was Extravagantes aus. Etwas, das dir gefällt. Nimm’s nicht zu ernst und nicht zu leicht.“ „Und wenn ich was hab?“ „Dann sag ich dir, ob ich auch was hab. Wenn wir beide eine Definition von Aoianisch und Urupäisch gefunden haben, dann probieren wir’s aus.“ Aois Satz wurde von Uruhas Lachen unterbrochen. Aoianisch ... Urupäisch ... einfach süß. „Lass uns das Kamasutra erweitern!“, verkündete Aoi laut, weswegen Uruha sich nicht mehr halten konnte. „Schsch ...“, machte er, „nicht so laut ...“, und lachte weiter. „Abgemacht?“ „Abgemacht!“ ~~~~~ Montag Morgen waren Aoi und Uruha schon da, als Kai hereinkam. Seit ihrem Fernseh-Auftritt hatten sie trotz Aois Gespräch mit Miyavi kaum miteinander geredet. Zwar war Kai ihnen nicht böse, aber es hatte eben auch keine Kommunikation stattgefunden. „Kai ... wir ... müssen reden.“ Aoi leckte sich über die trockenen Lippen. Der Drummer horchte auf und setzte seinen Rucksack auf dem Klavier ab. Ruki hätte sicherlich gleich losgezetert, doch er und Reita würden wahrscheinlich erst in einer halben Stunde kommen. „Was gibt es?“ „Setz dich doch bitte zu uns.“ Die neue große Couch ging über Eck, auf der einen Lehne war bereits jetzt eine kleine Sitzkuhle, weil sie zu Uruhas Lieblingssitzplatz geworden war, wo er auch jetzt saß. Neben ihm, fast Rücken an Rücken, hatte Aoi Platz genommen, eine Wasserflasche in der Hand. Kai war skeptisch. Hatten seine Kollegen vor, ihn hier auseinander zu nehmen, weil er mit einem Mann, mit Miyavi zusammen war? Oder war etwas passiert? Vorsichtig – anscheinend zu offensichtlich – setzte er sich an den anderen Schenkel der Couch. Prompt schmunzelten Aoi und Uruha synchron. „Was ...?“, fragte Kai sofort pikiert. „Miyavi war wohl zu stürmisch?“ Uruha warf auch Kai eine kleine Wasserflasche zu. „Entspann dich. Wir wollen nur etwas ...“ Er räusperte sich verlegen. „Etwas klären.“ „Ihr wisst doch schon, was bei mir los ist.“ „Und wir wissen auch, dass du schon länger mit ihm zusammen bist – länger als nur zwei Jahre.“ Der Leadgitarrist lächelte lieb und trotzdem hatte Kai das Gefühl, er würde hinters Licht geführt. „Aoi, komm ...“ „Kai, ich ...“ Der Älteste atmete tief durch. „Ich möchte mich entschuldigen. Es tut mir Leid, dass ich damals so ausgerastet bin, als wir euch getroffen haben.“ „Ihr saht heiß aus“, meldete sich Uruha kurz zu Wort, um die Stimmung aufzulockern, und lächelte breiter. „Es war wirklich nicht meine Absicht, dir wehzutun oder Miyavi-san oder ... ich ... er hat mir alles erzählt. Wegen uns müsst ihr euch wirklich nicht zurückhalten. Für Melody-san ist es schwer, für Lovelie-chan wird es nicht einfach werden, aber ... ihr liebt euch. Und gegen die Liebe kommt keiner von uns an.“ Der Blick des Leadgitarristen wurde sanft, und Kai beobachtete überrascht, irgendwie auch gerührt, wie er nach der Hand des anderen Gitarristen griff und sie ihre Finger ineinander verschränkten. „Und wir haben euch wirklich nicht – verfolgt, weißt du ... ins ... Love-Hotel ...“ Kai musste sich ein Grinsen verkneifen – er war erfolgreich – und zog die Augenbrauen streng zusammen. „Was habt ihr denn dann da gemacht?“ „Ich ... na ja ... wir ... wollten ...“ „Wir waren aus dem gleichen Grund dort wie ihr“, sagte Uruha schnell und wurde prompt rot. „Miteinander?“ Die Gitarristen nickten. „Seid ihr ...?“ „Jetzt schon“, flüsterte der mittelblonde Gitarrist. Dann war Kais Grinsen nicht mehr aufzuhalten. „Das freut mich! Ich wusste gar nicht, dass ihr ... na ja, ihr wisst schon! Aber echt? Seit wann läuft das zwischen euch?“ „Seit ein paar Monaten?“ Kai grinste dreckig. „Deswegen ward ihr immer so lange in der Raucherpause ...“ Uruha glühte, Aoi nickte. „War auffällig, oder?“ „Ich dachte, dass ihr euch wieder gestritten habt oder so ... aber damit hab ich nicht gerechnet.“ Kai lachte, stand auf und umarmte erst Aoi und dann Uruha fest, setzte sich vor sie auf den Tisch. „Was habt ihr jetzt vor?“ „Wir ... wollen noch etwas warten ... wenn du verstehst ...“ „Ihr wollt es Reita und Ruki noch nicht sagen?“ „Nein, es ist einfach zu früh ... vielleicht sind wir auch gar nicht ...“ Kai hielt Aoi den Mund zu. „Du warst schon immer so, Yuu ... Du liebst ihn, sonst hätte das gar nicht so lange gedauert!“ Da war er wieder ... Ihr Beschützer und Mama für alle, ihr Leader, der sie aufbaute und unterstützte, wenn sie nicht weiter wussten, oder sie bremste, wenn sie zu weit gingen. Er ließ ihn wieder los. „Ich verrate ihnen nichts. Auch wenn Ruki ganz schön sauer sein wird. Er war schon so aufgeregt, als er von Isshis Coming-Out erfahren hatte ...“ „Findest du?“ „Skandal im Anmarsch, das liebt er doch.“ Der Knoten war gelöst. Sie lachten zu dritt. ~~~~~ Zwanzig Minuten später betraten Bassist und Sänger den Raum, Ruki trug einen dicken Schal. „Nicht schon wieder.“ Uruha verdrehte die Augen und kramte in seiner Tasche nach Hustenbonbons. „Du solltest endlich zum Arzt gehen! Was, wenn dir das während ner Tour passiert?“ Er gab Ruki eine kleine Packung, der nickte nur knapp, nahm eine der Lutschpastillen und begann zu lutschen. Uruha stemmte sich die Hände in die Seiten. „Ich mein das ernst!“ Ein Blick folgte. „Das war ein: Du bist nicht meine Mutter“, übersetzte Reita schmunzelnd und seufzte im nächsten Moment tief. „Aber er hat Recht“, sagte er an Ruki gewandt. „Du verschleppst das Zeug immer und immer wieder, das geht nicht lange gut.“ Ruki wollte sich wehren. Er krächzte. „Mir wurscht, wenn du Ärzte nicht magst. Deine Stimme ist dein Kapital und ohne Sänger können wir keine Konzerte aufziehen. Oder willst du, dass Uruha singt und sich selbst befummelt – wie du es immer tust?“ Aoi und Kai grinsten wissend. „Wie genau meinst du das jetzt?“, erkundigte sich der Leadgitarrist mit hochgezogenen Augenbrauen. „Dass ich es wie Ruki mache, wenn er sich selbst befummelt oder wie er an mir rumfingert? Dazu könnte ich auch dich nutzen, Reita ...“ Er grinste dreckig. „Mensch, Ruha ... Du hast einen wichtigen Punkt vergessen: Du kannst nicht singen!“ Alle außer dem Sänger lachten. Der holte einen Stift und einen Block hervor. »Ich kann derzeit auch nicht singen.« Aoi lächelte und erinnerte sich an seinen kleinen Autounfall, bei dem er sich – wie blöd – zwei Finger gestaucht hatte. „Das wird schon wieder. Aber du musst dich schonen“, sagte er sanft und fischte aus der Couchritze eine Packung Zigaretten. „Ich helfe dir, indem ich deinen Suchtvorrat beseitige!“ „Ihr raucht hier drin doch nicht etwa?“ Keiyuu baute sich in der weit geöffneten Tür zu seiner vollen Größe auf. „Quatsch, Keiyuu-san ...“ Kai lachte. „Wir wollen Ruki nur seine schlechten Angewohnheiten abgewöhnen!“ Der Kra-Sänger stutzte. „Was ist denn dann noch von Ruki-san übrig?“ Rukis Augen verzogen sich zu Schlitzen, während alle anderen lachten. „Tut mir Leid“, kicherte Keiyuu. „Der musste einfach sein!“ Ruki grinste. „Ich warte auf deine Rache – sie wird dir süß sein, ich weiß schon. Aber eigentlich wollte ich ...“ Er schaute zur Couchkante, wo Uruha wieder Platz genommen hatte. „Uruha-san, hast du in der Mittagspause ein paar Minuten für mich?“ „Geht es um das Co-Working? „Ähm – ja ...“ Keiyuu reagierte schnell, sein kurz entgleistes Gesicht verschwand wieder. „Ich brauche deinen Rat für die Harmonien.“ „Ist gut. Ist dir halb eins Recht?“ „Hai. Arigatou gozaimashite. Ich hoffe, ihr seid heute schön produktiv.“ Damit war er wieder weg. „Welches Co-Working?“, wollte Kai wissen und fühlte sich sichtlich in seiner Ehre als Leader angegriffen. „Wenn er Hilfe beim Managen braucht, dann -“ „Ich glaube, es wäre ihm unangenehm, wenn noch Jemand etwas von seinem kleinen Koordinationsproblem erfährt“, entschuldigte Uruha den jüngeren Sänger. „Er hat schon recht lange damit zu kämpfen – und er geniert sich etwas.“ „Hm, okay.“ Kai blieb misstrauisch, doch Ruki hielt ein großes Schild hoch: »Arbeitet!« ~~~~~ Uruha stocherte lieblos in seinem Tankstellensalat herum. „Die Blätter waren noch nicht mal gewaschen, es knirscht zwischen den Zähnen.“ „Ich kann dir nen Kaugummi leihen“, nuschelte Aoi in seinen Kaffeebecher vom Automaten. „Lass uns morgen früher aufstehen.“ „Du warst doch schon vor mir wach.“ „Ich bin halt’n Morgenmensch.“ „Nicht streiten“, zischte Kai und stellte sein Tablett demonstrativ auf den Tisch des Pärchens. „Kaum das Herz verschenkt, schon zanken sie wie ein altes Ehepaar. „Kai~ ...“ „Ich sag nichts“, schwor der Drummer. „Woher kommt euer Unmut?“ Ein zweistimmiges Seufzen antwortete ihm. Nach einer Pause schob Uruha ein Stück Tomate zwischen die Lippen, schon war es geschluckt. „Wie schaffst du das mit ... ihm?“, fragte er dann unvermittelt. „Ihr könnt nicht ins Kino, nicht ins Restaurant -“ Aoi war erleichtert, anscheinend hatten sie am Morgen dieselbe Situation beobachtet. „Nicht offiziell, nein ...“, bestätigte Kai und lächelte steif, um seinen Schmerz nicht kund zu tun und andere Anwesende womöglich hellhörig zu machen. „Aber das ... Küssen“, flüsterte Uruha und wurde rot. Kai schüttelte verständnisvoll den Kopf. „Das geht leider ... überhaupt nicht. Noch nicht, wie ich hoffe. Lasst mich raten: Ihr habt heute Morgen ein heterosexuelles Paar rumknutschen sehen. Sie hat sich dann auch noch so an ihn gedrängt, als sollte er sie sofort verschlingen.“ „Woher weißt du das?“, kam die Frage wie aus einem Munde. „Ich kenn das ...“ Kais Augen wurden traurig, obwohl sein Mund lächelte. „Miyavi ist bi ... da führt ja kein Weg dran vorbei. Vor Melody-san hatte er auch schon andere Freundinnen – um den Schein zu wahren vor dem Management und bei offiziellen Veranstaltungen. Jedenfalls dachte Jede von ihnen, sie wäre die Richtige für ihn.“ »Das ist der Unterschied zu dir, Yutaka ... Du dachtest nie, du seiest der Richtige ... du bist es einfach!« Ein Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen bei der Erinnerung an diese Worte. „Immer wenn ich diese knutschenden Pärchen sehe, sehe ich ihn vor mir mit Einer von ihnen. Und ich werde nie in der Öffentlichkeit auf seinem Schoß sitzen, um ihn zu verschlingen.“ „Uruha-san?“ Wie ein Phantom tauchte Keiyuu aus dem Nichts auf – er tat es immer wieder! „Ich komme schon ...“, sagte Uruha und stand auf. Mit einem freundschaftlichen Blick zu Kai und der Hand auf Aois Schulter sagte er: „Danke, Yutaka.“ Dann verschwand er zusammen mit dem Phantom. Kai und Aoi sahen sich an. Sie hatten Beide etwas bemerkt: Ein leichtes und trauriges Lächeln auf den Lippen des Sängers, seine glänzenden Augen waren auch nicht unbemerkt geblieben. „Keiyuu ist schwul?“ ~~~~~ „Hast du ihm was gesagt?“ „Was sollte ich ihm denn sagen?“ Keiyuu lehnte sich mit dem Rücken an die Kachelwand und verschränkte die Arme. „Dass ich auf ihn stehe? Dann könntest du Aoi gegenüber auch zugeben, dass du ihn liebst!“ Uruha hob die Nase. „Das habe ich schon getan, Freitag Nacht, wenn du’s genau wissen willst. Wir sind jetzt zusammen.“ „Und die Öffentlichkeit?“, fragte Keiyuu, als würde ihn die Tatsache des Liebesgeständnisses nicht überraschen. „Soll noch nichts erfahren – und ich besitze ja auch noch das Druckmittel.“ „Wenn du mir hilfst, nützt dir das auch nichts mehr!“ „Wenn alles klappt, darf auch alle Welt erfahren, dass wir zusammen sind.“ „Du bist echt komisch drauf, Uruha-san!“ „Nicht so komisch wie du ... Du willst ihm immer noch nicht gestehen, dass du -“ „Ich bin nicht in ihn verliebt!“, widersprach Keiyuu drastisch, doch Uruhas sanftes Lächeln verunsicherte ihn. „Ich weiß“, sagte er leise. „Du liebst ihn.“ Der Kra-Sänger wurde puterrot im Gesicht. „Ich – anou ... Uruha-san ...“ „So sprachlos? Ich dachte, du willst mit mir reden, weil du ihn endlich für dich gewinnen willst.“ „Das will ich doch auch, aber -“ „Du kannst mir doch nicht ernsthaft verklickern wollen, dass du ihn nur ins Bett kriegen willst?“ „Nein, ich -“ „Was dann, Keiyuu-san? Was bringt dich dazu, seine Sachen wie einen Goldschatz aufzubewahren? Hab ich dich falsch eingeschätzt? Willst du ihn als Konkurrenten ausschalten? Um wen oder was geht es dir wirklich?“ Und noch im selben Moment erkannte Uruha, dass er zu weit gegangen war. Große Tränen seilten sich von Keiyuus Wangen ab. Er schluchzte. „Ich liebe ihn ... ich liebe ihn wirklich! Aber wie weit darf ich in sein Leben eindringen, um Teil davon zu werden?“ „Keiyuu-san ...“ Uruha kam auf ihn zu und umarmte ihn tröstend. Seine Hände strichen durch die kurzen Haare. „Es tut mir Leid ... ich wollte dir nicht wehtun ...“ „Ich tu mir ja selbst weh“, weinte der Kleinere und klammerte sich an den Gitarristen. „Seit Jahren trage ich dieses Gefühl in mir herum und seit Jahren weiß ich nicht, wie ich ihm ... ich ihm meine Liebe gestehen soll.“ „Wir überlegen uns etwas, versprochen“, nuschelte Uruha und drückte Keiyuu an sich, um ihm Halt zu geben. Sie standen dort eine ganze Weile, in der Keiyuu seinem Schmerz Luft machen konnte und jede Träne ihren Weg in Uruhas Pullover fand. Ein Handy klingelte, Keiyuu schrak zurück, wischte sich über die Augen, bevor er ranging. „Moshi moshi ... Hai ... Ich bin sofort da ...!“ „Kurzes Gespräch“, urteilte der Größere und wurde prompt mit einem bösen Blick bedacht. „Irgendjemand muss ja arbeiten“, giftete der Kleinere und stob davon. Eine der Toilettentüren öffnete sich. „So viel dann zum Thema »helfen« ...“ Saga richtete seine Haare, als hätte er nicht auf Uruhas Geheiß dem Gespräch gelauscht. In diesem Moment fiel dem Gitarristen jedoch ein, welches weiteres Geheimnis soeben ans Tageslicht gekommen war. „Was soll ich dabei ausrichten können?“ „Vielleicht könntest du ... seinem »seit Jahren Liebsten« eine gewisse Information zu stecken.“ „Welche meinst du?“ „Die leckende Katze“, sagte Uruha bedeutungsvoll, doch Saga lachte. „Das passt nicht zu Keiyuu! Und ich glaube auch, seinem Liebsten gefiele die Bezeichnung »Schmetterlingsflügel« besser.“ „Da hast du wohl Recht.“ Der Gitarrist grinste und malte sich jene Szenen aus. Heiße Blicke, ein Streicheln, verzehrende Küsse – und schon war er wieder bei Aoi. „I-ist das, was du erfahren hast ... ein großes Problem für dich?“ Der AliceNine.-Bassist grinste frech. „Ich bin zwar oft blind, aber meinst du, mir wäre bei unseren Gesprächen entfallen, wie aufmerksam du warst – und mit welchem deiner Kollegen du am wenigsten gesprochen hast, obwohl du die meiste Zeit mit Aoi verbracht hast?“ „Ist es schlimm?“ „Quatsch ... Wer sonst, wenn nicht ich, würde den Wakashudo gutheißen?“ „Arigatou gozaimashite.“ Seine Dankesformel war ein erleichtertes Seufzen. „Kein Problem“, lachte Saga. „Wollen wir Genaueres heute Abend besprechen oder willst du lieber zu Aoi?“ Uruha lächelte, aber er antwortete nicht mit Worten, während sie das Herrenbad verließen. Es klapperte in einer der Kabinen, als Chiyu und Takeru vom Toilettendeckel heruntersprangen. Chiyu grinste triumphierend. „Wenn ich das richtig verstanden habe ...“ „Dann müssen weder wir noch Keiyuu-san noch länger das Geheimnis um Uruha-san und Aoi-san für uns behalten. Endlich! Es juckt mir schon seit Wochen in den Fingern ...“, gestand Takeru kichernd. „Du weißt, wen Keiyuu-san so sehr liebt, oder?“, mutmaßte Chiyu missmutig und schmollte. „Wie lange willst du es noch für dich behalten?“ „Ich hab Keiyuu-san versprochen, nichts zu verraten ...“ „Och Menno ...“ „Du musst dich wohl gedulden, bis sich all unsere Pärchen zusammengefunden haben!“ „Noch mehr?“ Der SuG-Bassist wusch sich vorsichtshalber die Hände. „Ich meine, noch mehr Pärchen?“ „Wusstest du nicht, dass-“ „Nein, hör auf! Die letzten Monate waren aufregend genug! Ich will nicht noch mehr Kollegen stalken!“ „Selbst Schuld“, flüsterte Takeru Chiyu dunkel ins Ohr, während er ihn im Spiegel betrachtete. „Manche Dinge sollen wohl im Verborgenen bleiben.“ Der Brünette wurde rot und verließ fluchtartig die Toilette. Takeru lächelte müde und, das Piercing an seinem Auge brannte. „Die Leute verstehen einfach keinen Spaß mehr.“ Somit verließ auch er den gekachelten Raum. Ein Schloss wurde entriegelt. Die hinterste Kabine öffnete sich einen Spalt breit, ein Blondschopf lugte hinaus. Ihm tat der Kiefer weh, so sehr presste er die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. ~~~~~ „Du hast den Termin immer wieder verschoben!“ Der Bassist verschränkte empört die Arme. Uruha sah seinen Kumpel wie selten zuvor: Gekonnt schmollend, als wäre er ein Pin-up. „Ich hatte ja auch immer wieder was zu tun!“, protestierte er selbst und fühlte sich ungerecht behandelt. Montags hatte er Ruhetag gehabt – wie sein gesamter Körper es brauchte. Aber nachdem dieses Wochenende in jener Hinsicht nicht gerade erfolgreich gewesen war – was wohl mit seinem Einbruch ins Eis und ihren Liebesgeständnissen zu tun hatte – musste er Reita wohl nachgeben. „Heute geht es allerdings. Ich besorge nachher genug Futter!“ „Yes!“ Reita jubilierte. „Endlich kann ich die Videothek überfallen und ihnen alle PS3-Spiele rauben!“ „Die nächste Nacht hat auch nur acht Stunden“, griente Aoi, als er reinkam. „Wann wollt ihr die alle durchzocken?“ „Na, so in ner Woche schaffen wir zwei oder drei ...“ Uruhas Augen weiteten sich. „Du willst nicht jeden Abend spielen, oder?“ „Jeden zweiten.“ „Aber, aber ...“ „Das ist doch ne gute Idee, Uruha. So könnt ihr euch doch endlich wieder einander annähern“, sagte Kai und grinste, obwohl er um ihre Situation wusste und obwohl er sich sonst nicht ungefragt in Gespräche einhakte. „Du hast ja letztens so wenig Zeit mit ihm verbracht. Er fühlt sich schon vernachlässigt.“ „Du wieder, Kai ...“ Reita wurde rot. „Ich freu mich einfach, wenn ich wieder wichtig bin.“ „Och, Rei-chan!“ Uruha lachte und legte seinen Arm um Reitas Schultern. „Du bist doch immer wichtig!“ Ruki saß daneben und rollte die Augen. „Du fandest es gar nicht so schlimm, dass Uruha weniger Zeit mit Reita verbrachte, oder?“, fragte Aoi leise bei ihm nach und Ruki nickte mit leichtem Zögern. „Ist doch okay. Wir wissen doch alle, dass du ihn gern hast. Da ist ein bisschen Eifersucht doch nichts Schlimmes.“ Der Sänger hob erstaunt eine Augenbraue. Seit wann war Aoi ihm gegenüber so friedlich? Er wirkte schon seit einiger Zeit entspannt und ruhig, obwohl er vor zwei Wochen wohl in einem Tief gewesen war, aber heute war er vollkommen gelassen und anscheinend auch ausgeruht. Woher kam das? Das war ihm echt schleierhaft. Reita ließ sich freudig auf seinen Sessel fallen und stöberte via Handy nach Games, die er sich ausleihen könnte. Kai telefonierte mit ihrem Manager und Uruha setzte sich wieder zu Aoi auf die Couchlehne, dieser hielt ihm sein Handy hin. Auf dem Display stand: »Magst du nachher kuscheln kommen?« Der Jüngere hätte fast einen Süßanfall bekommen, doch er besann sich und nickte stattdessen ein Mal. ~~~~~ Es war dieselbe Kammer, in der Keiyuu sie vor ein paar Wochen erwischt hatte. Wie viel seit dem passiert war ... Uruha wippte mit dem Beinen, während er auf dem Schreibtisch saß, auf dem Aoi ihn auch genommen hatte. Er lächelte und schaute auf die Uhr. Gleich müsste er eigentlich vom Rauchen zurückkommen und mit ihm kuscheln. Er musste sich mit Saga kurzschließen, damit dieser auf Keiyuus Ziel zugehen konnte. Und er musste mit Keiyuu reden, damit er das tat, was er sich wünschte. Damit Keiyuu seine Gefühle ausleben konnte und seine Liebe seiner Liebe schenken durfte. Die Tür öffnete sich quietschend und Aoi steckte grinsend den Kopf durch den Spalt. „Darf ich reinkommen?“ „Klar.“ Der Blonde lächelte und sprang vom Tisch, derweil Aoi hereinkam und die Tür hinter sich schloss. Sie waren hier, um ein paar Minuten zusammen zu sein. Ihre Finger verhakten sich ineinander, sie sahen sich in die Augen und strahlten. „Es macht nichts, wenn du dich mit Reita triffst ...“, sagte der Schwarzhaarige leise. „Du musst nur aufpassen ... Wenn du es ihnen noch nicht sagen willst, musst du vor Reita vorsichtig sein. Er kennt dich – und er durchschaut dich.“ „Ich weiß“, antwortete der Größere und zuckte die Schultern. „Ich versuche es, ihm nicht zu zeigen, was sich verändert hat. Haben wir das Gleitgel weggeräumt?“ Sie lachten. ~~~~~ Nach der Arbeit trennten sie sich gleich – und Uruha machte sich auf den Weg zum Supermarkt, um dafür zu sorgen, dass Reita und er den Abend und die Nacht über nicht verhungerten. Als er wieder zu Hause ankam, dauerte es kaum zehn Minuten, bis Reita an der Tür klingelte und nach dem Summer die Treppen mit schwer befülltem Rucksack hochstiefelte. „Wie viele Konsolen hast du dabei?“, murrte Uruha und verdrehte die Augen, während er die verschiedenen Metall- und Plastikboxen ausmachte. „Drei“, brüstete sich der um die Nase nackte Bassist stolz und setzte die Konsolen der Reihe nach vor den Fernseher im Wohnzimmer. „Aber in der Videothek warst du noch nicht, oder?“ „Quatsch“, sagte Reita und stand wieder vom Boden auf. „Ich hab alles im Kühlschrank verstaut. Wollen wir dann zusammen Spiele aussuchen?“ „Ist okay.“ Zusammen fuhren sie zum Laden, wo sie dann grölend ausstiegen – wie nach einem gelungenen Live. „Magst du mitkommen, oder ...?“ „Ich lass mich überraschen.“ Uruha zuckte die Schultern, sein Blick schweifte im Raum umher, doch er verfing sich an dem Ü18-Schild, das unter jenem anderen Schild hing, welches die Aufmerksamkeit so vieler Jungen und auch Männer auf sich zog. Reita gluckste und schob ihn in die Richtung des vermeintlich dunklen Zimmers. „Anscheinend hast dus ja nötig. Geh rüber! Ich such die Spiele und komm nach.“ „Mit den Konsolenspielen kennst du dich eindeutig besser aus“, beschwichtigte ihn der Gitarrist, trotz der Röte, die sich nun auf seine Wangen stahl. Derweil er Reita ans andere Ende der Videothek gehen sah, musste er an ihre Jugendzeit denken, als sie mit siebzehn – Gott sei Dank mit Erlaubnis der großen Schwester – die Erotikabteilung der damaligen Videothek geplündert hatten. Rika war damals mit in den Raum gekommen, doch blieb sie nur am Rand stehen und beäugte, was ihr minderjähriger Bruder und dessen Kumpel so interessierte, jedoch war sie dem gegenüber aufgeschlossen. Sie sorgte sich nicht darum, dass der kleine Bruder womöglich verdarb, aber unter ihrer Aufsicht war es ihr lieber. Und dann waren da diese Abende gewesen ... Uruha ging durch den dunklen Vorhang und suchte nach einem ganz bestimmten Genre. Aus dem Augenwinkel heraus machte er einige Möpse aus, die ihm entgegenspringen wollten, doch heute – und auch seit ein paar Monaten – interessierten ihn die nicht mehr – und irgendwie erschien es ihm wie eine Ewigkeit her, dass er durch eine heterosexuelle Fantasie erregt worden war. An jenen Abenden waren Reita und er immer aufgeregt und auch stimuliert gewesen. Aber natürlich hätte er das in Reitas Gegenwart niemals zugegeben – umgekehrt sicher auch nicht. Nicht nach dem, was mit seiner Gitarre passiert war. Seine Hand glitt über das Cover einer DVD. Ein asiatisches Pärchen – zwei Männer, die sich küssten. Sein Leben hatte sich sehr verändert. Er nahm die DVD aus dem Regal, drehte sie herum und begutachtete die Storyline. Klassisch dramatisch mit etwas mehr nackter Haut als ein Japaner gewohnt war. Lippen waren dort abgebildet, die sich am Schlüsselbein eines Mannes festsaugten. Uruha seufzte. Er hatte geahnt, dass es so laufen würde. Die Liebeserklärung war ausgesprochen – und sie küssten sich endlich, was ihn doch strahlen ließ – aber der Sex ... es würde etwas länger dauern, bis sie sich wieder vereinten und stöhnten. Ihn beschlich eine wohlige Gänsehaut beim Gedanken an Aois Körper, der sich an seinen drängte. „Seit wann treibt ihr es schon miteinander?“ Uruha trat zurück, die DVD-Hülle fiel ihm herunter – und er sah in Reitas Augen, dass der ihn durchschaut hatte. „Yuu und du also ...“ Der Bassist sprach dunkel und bedrohlich. „Wurde aber auch Zeit!“ ~~~~~ Ausnahmsweise – er tat es nicht oft bis gar nicht – saß Keiyuu vor dem Computer und tat das, was Fans schon immer taten: Er himmelte Bilder an, die Fans für Fans hochgeladen hatten. Und auch wie andere Fans es taten, las er Geschichten, FanFictions im Internet, vorzugsweise Shonen-Ai und Yaoi – aber natürlich nicht über sich, sondern über ihn. »Sein blondes Haar verteilte sich wie kranzartig auf dem Kopfkissen, während sein eleganter Körper sich streckte und sich seine schönen Lippen zu einem Stöhnen öffneten. Diese Stimme ... Niemand konnte dieser Ruhe widerstehen. Niemand diesen Augen ausweichen.« „Niemand kann sich dir entziehen“, flüsterte Keiyuu, verschränkte die Arme auf dem Tisch und senkte seinen Kopf darauf. In seinen Träumen war er ihm noch nie entkommen. „Ich schon gar nicht ...“ Ein Piepen ließ ihn wieder aufschauen. »Sie haben Post!« Er klickte die E-Mail an und schrak zurück, als er endlich den Absender erkannte. Das konnte doch nicht ... »Keiyuu-san ... Ich weiß, dass du mich liebst. Und ich bin der Meinung, wir sollten darüber reden. Hab bitte keine Angst davor, mir zu antworten.« Er vergewisserte sich noch mal ob der E-Mail-Adresse. Und es stimmte. Die Mail stammte von dem Mann, den er seit geraumer Zeit so verzweifelt liebte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)