Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 1: Jenseits der Mauern ------------------------------ „Ich bin dagegen, dass du gehst!“ ereiferte sich eine dünne und ob dieser Eigenheit überraschend kraftvolle Stimme. Wie der Fels wieder göttlich zürnender Brandungen baute sich eine kleine Frau vor ihm auf, klein, zierlich, mit solch ungestümem Temperament im Blick, dass wohl selbst die Schatten der Spinne vor ihr geflohen wären. Er jedoch blieb beharrlich. Schon zu viele Jahre war ihm dieses Gesicht vertraut, er kannte die kleine Narbe an ihrer rechten Schläfe, die schmale Nase, kannte die Wärme ihrer Haut und den Duft ihres Haares. Im Moment ruhte Selbiges auf ihrem Schopf, sich teilweise erfolgreich dem Versuch widersetzend, sie zu einem Zopf zu fassen. Die rote Mähne war noch nicht lang genug, um solcherlei Frisuren zu unterstützen, einzelne Strähnen entrissen sich jenem provisorischen Halt und wirbelten mit jedem beharrlichen Kopfschütteln über ihrem Gesicht herum. „Das kann nicht gut gehen!“ murrte sie leise und blickte zu ihm auf. Er aber hob einzig die Hand, groß wie eine Bärenpranke und schwielig von der Arbeit. Auf ihr Gesicht legte er seine Finger, strich mit dem Daumen die Kontur ihres Wangenknochens nach, ehe die bullige Gestalt sich herab beugte und jenen vor Unmut zusammen gepressten Lippen einen Kuss aufdrückte. Sie konnte wahrlich zürnen wie die See, ungestüm und niederreißend, einer Naturgewalt gleich, aber sie konnte sich niemals seinen Küssen widersetzen. Rasch waren die zierlichen Hände und schmalen Arme um den dicken Nacken geschlungen, hing sie an ihm, an ihm und seinen Lippen und rügte ihn nach jenem Kuss und den wenigen Augenblicken völliger Stille, da sie seiner Zärtlichkeit nachspürte, für die Unachtsamkeit, zugelassen zu haben, dass sie so spröde geworden waren. „Ich-“ setzte er mit tiefer, brummiger Stimme an, doch schon lag ihr Zeigefinger auf seinem Mund, schüttelte sie erneut beharrlich den Kopf. „Red‘ dich nicht raus!“ meinte sie streng und blickte zu ihm auf. Sie liebte ihn, liebte ihn aus vollstem Herzen und genau deshalb wusste sie nicht mit dieser Situation umzugehen. Einerseits war allein schon der bloße Gedanke umschmeichelnd, reizvoll, eine ungemeine Verlockung, dass sie ihm auf die breite Schulter hätte klopfen wollen, um ihn persönlich hinaus zu geleiten – doch ein Teil ihrer Selbst wusste, dass die Welt jenseits der Mauern tödlich war. Lumiél war schon lange kein schönes, friedliches Land mehr, in dem man unbehelligt herum streifen konnte. Dunkle Kreaturen und finstere Schergen waren es zu diesen Zeiten, die ihre Lagerfeuer weithin am Horizont sichtbar werden ließen, während Händler mit durchtrennten Kehlen endeten und mancher Abenteurer als würzige Beilage in Kochtöpfen landete. Sie hatte Angst um ihren Mann, konnte man es ihr übel nehmen? Er natürlich konnte das nicht, er verstand sie auf eine Weise, wie niemand sonst. Schon seit Jahren – oder vielleicht auch gerade wegen der Jahre. „Wir haben darüber gesprochen...“ brummte er leise, rang sich eines jener hinreißenden Lächeln ab, die ihn wie den sanftmütigsten Riesen der Welt wirken ließen. „Dann geh wenigstens allein.“ bat sie in einem neuen Versuch, doch der Hüne schüttelte nur verzagt, ja fast schon mitleidig den Kopf. Es schmerzte ihm, zu sehen, in welche Sorge er sein Weib stürzte. „Ich brauch‘ Sigmund... die Straßen sin‘ gefährlich, selbst so kurze Wege.“ Eine Reise stand bevor. Die erste tatsächliche Reise seines Lebens. Kerkermeister Oswald, einer von zwei Dutzend Hünen in den Diensten des Königs Phillipe des Dritten, hatte über Tage geplant. Über Tage, die turbulenter nicht hätten sein können. Er hatte in den tiefen Verließen des Schlosses eine einzigartige Frau kennen gelernt, sich mit ihr angefreundet, über wortwörtlich Gott und die Welt mit ihr gesprochen, stets getrennt von den eisernen Gittern und der klammen Kälte der Gruftverließe, denn sie war nur eine Gefangene. Was aus Ninafer Saeryleth geworden war, vermochte er nicht zu sagen. Am dritten Tage ihrer Gefangenschaft brachen Abenteurer in die Gewölbe ein. Es war zweifellos eine mutige Bande, ja gar todesmutig! Das hatten sie sein müssen, um ernsthaft einen Angriff auf das königliche Anwesen zu starten. Er hatte nie gewollt, dass Ninafer stirbt – es kam ihm gerade Recht, dass jene auftauchten und sie befreiten. Sie nahmen ihm die Last von den Schultern, selbst mit derlei Gedanken zu spielen. Natürlich hatte er sich die nächsten drei Tage mit vielen Fragen herumschlagen müssen. Man demütigte ihn, oder versuchte das zumindest. Es wurden gezielt Erkundigungen eingezogen, auf die ein einfacher Mann wie er nur schwer antworten konnte, Fragen gestellt, deren bloße Formulierung wohl sogar einen darin geübten Aristokraten verwirrt hätten. Man wollte ihn unter Druck setzen, ihm ein Geständnis abpressen, verwirrende Worte hätten dazu schon ausgereicht! Aber Oswald blieb hartnäckig, ruhig, war selbst zum Fels in einer tosenden Brandung von Empörung und Verdächtigung geworden. Man hatte ihn schließlich ziehen lassen müssen, er blieb in des Königs Dienst, wurde jedoch auf einen Mondzyklus aus dem Schloss verbannt. ‚Urlaub‘ nannten sie das. Strafe sollte es sein – doch für Oswald kam das nur recht. Nicht alle hatten so viel Glück gehabt. Schon während der Tage der Anhörungen wurde der Kerker leergefegt. Eine Hand voll Scharfrichter führte die Weisungen des Königs aus – alle Gefangenen waren hinzurichten, ganz gleich, wie lange sie schon ihre Strafen absaßen, wie geläutert sie waren oder was man ihnen überhaupt zur Last legte. Ehebrecher, Diebe, Königsfeinde, Mörder, Alte, Frauen, Kinder – sie alle fanden einen Pfahl auf dem grausigen Feld zwischen Burgmauer und Aufbauten, sie alle fanden einen Strick auf den Mauerzinnen, an dem sie hinüber geworfen wurden. Ein Festmahl für La Coeurs schwarze Vogelschwärme. Viele der Gefangenen hatte Oswald gekannt, mit Namen, mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrer Lebensgeschichte. Er war froh, ‚Urlaub‘ bekommen zu haben. So musste er das Elend nicht sehen, die Grausamkeiten, die man jenen antat, die es nicht verdient hatten. Ninafer jedoch hatte für den Kerkermeister weit mehr getan. Bocksklee, Süßholz, Schleierkraut. In der Heimat der einstigen Adelsdame nannte man Letzteres den ‚Kinderatem‘. Wie lange schon hatte Oswald mit seinem Weib versucht, eine eigene Familie aufzubauen? Er hatte die Läden der Stadt abgesucht, war tagtäglich ausgezogen. Der Krämer um die Ecke handelte mit allerlei Trödel, für eine richtige Kräuterfrau musste er schon durch die halbe Stadt und nach zwei Tagen wagte er sich sogar in die verrotteten und zwielichtigen Armenviertel. Bocksklee und Süßholz waren kein Problem – aber nirgendwo schien es Schleierkraut zu geben. Ein fahrender Händler war es, der ihm am dritten Tage seiner Reise auf dem Markt im Vertrauen die nötige Information zusteckte – natürlich für einen Silberling, denn die Raffgier war eine neue Volksseuche geworden. In Zadiora, so berichtete der schmierig grinsende Hänfling, gäbe es einen Priester, der Kräuter horte wie andere ihr Geld. Zadiora. Ein Fünftagesmarsch, von denen man zwei Sonnenuntergänge im Stillen Wald zubrächte. Oswald hatte schon viel vom Stillen Wald gehört, von Dryaden, Feen und Nymphen – doch stets hielt er all dies nur für Waschweibergeschwätz, für Ammenmärchen und die Mythen eines verzweifelten Volkes. In La Coeur sah man hier und dort einen Elb oder Zwerg, manchmal auch einen Goblin herum streifen. Aber Nymphen? Dryaden? Nie. Er hätte beide Völker nicht einmal auseinander halten können, mutmaßte er zu jener Zeit, als ihm erstmals davon berichtet wurde. Heute aber würde er ausziehen. In zwei Wochen spätestens, so hoffte er, würde sein Pfad ihn hierher zurück tragen, in die bescheidene kleine Stube, die er sich mit seinem geliebten Weib teilte. „Muss langsam los...“ meinte Oswald leise, rang sich ein aufbauendes Lächeln ab und scheiterte damit doch. Ihre Sorge war nicht zu bändigen, wurde jedoch überraschend zügig ersetzt, als es unten polterte. „Kannst du nur nie anklopfen?“ kreischte das Temperamentbündel aus vollster Kehle, dass Oswald die Augen zusammen kniff, als hätte ihm ihr Schrei Schmerz bereitet. Rasch stürmte sein Weib aus dem Raum hervor, erklang draußen eine zweite, tiefe Stimme. Sigmund war sein Cousin. Ganz ähnlich gebaut, hatte man sie bei den wenigen Gelegenheiten, da man sie zusammen sah, für Brüder gehalten. Er kam aus Übersee, ein Land, dessen Name eher zum Zungenbrecher gereichen würde. „Er kommt sicher nicht aus reiner Nächstenliebe über das Meer, weißt du denn nicht, was so eine Überfahrt kostet?“ hatte seine Liebste ihm ins Gewissen zu reden versucht, doch Oswald konnte bester Laune den Kopf schütteln. Er hatte nie einen Hafen gesehen, nie ein Schiff betreten. „Er ist mein Cousin und einen Söldner kann ich mir nicht leisten. Er gehört zur Familie, er will eben helfen.“ hatte er zu entgegnen versucht, doch sie strich ihm lediglich mit einem zärtlichen Lächeln über den kahlen Schädel hinweg und meinte, dass er ein zu großes, zu gütiges Herz habe. In jenen Worten schwang die Hoffnung mit, dass seine Gutmütigkeit ihn nicht verraten würde, sie waren Warnung und Bitte gleichermaßen. Der Kerkermeister blickte ein letztes Mal in der Stube umher. Auf den alten, vererbten Stühlen ruhten die kleinen Tücher, die sie gefertigt hatte. Eines nahm er sich mit, legte es um den breiten Nacken und verflocht es vor dem Kehlkopf. Es sollte ihn an daheim erinnern. An den Duft der Blumen, die in kleinen, tönernen Vasen ruhten und ein besseres Dasein führten als in den Karaffen der Händler, von denen sie stammten. In La Coeur gab es keine Blumen. Nur Stein, Pflaster und Dreck. Er trat zur Türe hin, die bedenklich in den Angeln quietschte, strich mit der ausgestreckten Linken über das spröde Holz des massigen Schrankes, der neben der Tür ruhte und duckte sich schließlich, um unter dem Türbogen hinaus in den Flur zu treten. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt, der Geruch seines Mädchens hing in der Luft. Oswald lernte erstmals kennen, was es hieß, sich von seinem Heim zu verabschieden. Ein schwermütiges Gefühl, beklemmend und drängend, man möge umkehren und verweilen. Hier gehörte er hin, das wusste er, spürte es jetzt jedoch mehr als je zuvor. Seine schweren Schritte trugen ihn die Treppe herab. Bei jedem Schritt rasselte das alte Kettenhemd seines Vaters. Hier und da zeugten die Lücken in den Eisenringgeweben von den Kämpfen, die sein alter Herr bestritten hatte und an manchen Stellen nagte der Rost am Stahl. Es sah nicht hübsch aus, aber das musste es ja auch nicht. Wenn alles gut lief, dann würden sie Schutz nicht brauchen. Sein Weib fand er mit Sigmund streitend vor. Als er eintrat, hatte er das seltsame Gefühl, sie hätte ihm gerade eine Ohrfeige verpasst. Wild schnaufend stand sie vor ihm, spie Gift und Galle mit bloßem Blick dem Hünen entgegen, der allzu selbstgerecht zu ihr herab grinste. Eine Ohrfeige hatte für ihn vermutlich gar nichts zu bedeuten – man sah nicht einmal Röte auf seinen Wangen. Die zwei Männer begrüßten einander, man nahm sich in den Arm, schlug sich aufs Kreuz und erkundigte sich nach der Reise, Sigmund riss einen Witz über das alte Kettenhemd und meinte dann mit einem Blick auf Oswalds Weib, er würde ihn nur ungern in der Höhle des Löwen allein lassen, warte jedoch trotzdem vor der Tür. Das verächtliche Schnauben einer kleinen Rothaarigen folgte ihm verärgert nach, ihre Blicke erdolchten tausendfach seinen Rücken, ehe die Tür schließlich zufiel. „Er will helfen.“ versuchte sich Oswald erneut, doch seine Liebste verschränkte die Arme vor der Brust und spähte missmutig zu ihm empor. „Er ist ein Schuft! Ein ganz gemeiner Schuft! Pass bloß auf dich auf, ich sag’s dir, wehe du kommst mir nicht in einem Stück zurück!... Den da... lass verloren gehen.“ erwiderte sie im Nachhall ihres Zornes und seufzte erst versöhnlich, als Oswald meinte, er wolle sich nicht von ihr verabschieden, wenn sie wütend sei. Ihre Lider schlugen herab, ihr Atem beruhigte sich im gleichen Maße, wie es ihr Wesen tat. Der Kerkermeister derweil trat zum Kamin. Ein Haus, drei Wohnungen, doch nur im Erdgeschoss gab es einen Kamin, der allen drei Bewohnern als Wärmequelle in finsteren Wintermonaten dienen sollte. Vielleicht war deshalb eine der Wohnungen nicht besetzt, vielleicht wechselte deshalb so oft der Besitzer des obersten Geschosses. Die meiste Zeit hatten sie den Kamin für sich. Er legte einen Moment die Hand auf den Backsteinhaufen, spürte die Kälte der Steine und die Glut dahinter. Es sah gewiss aus, als müsse er sich von jedem Stuhl und Tischdeckchen des Hauses verabschieden – und irgendwie kam das der Wahrheit nahe. Schließlich umgriff seine Pranke den gewaltigen Streitpflegel, der neben dem Aufbau ruhte. Selbst ein kräftig gebauter Mann hätte ihn nur schwerlich stehlen können. Ein Schlag damit würde zweifellos jeden Schild brechen, jede Rüstung der Lächerlichkeit überführen. Drei Silberlinge hatte ihn das Ding gekostet – angerostet, das Leder alt und brüchig, das Metall darunter spröde und schartig. Jeder Treffer damit würde töten, gewiss, aber vermutlich würde bei dieser Gelegenheit auch gleich die ganze Waffe auseinander fallen. Sie waren eben keine reichen Leute. „In zwei Wochen bin ich zurück!“ wiederholte er ihr. Ein letzter Kuss, innig von Zeugnis ihrer Liebe tragend, ehe sich der Hüne löste und ebenso durch die Tür hinaus trat. Die Straße erwartete ihn bereits, ebenso wie Sigmund. Ein kalter Wind strich ihm um den Leib, sandte die Kälte ins Kettenhemd, von wo aus sie sich langsam in seine Haut stehlen wollte. Oswald fröstelte, rutschte mit den alten, unbequemen Wanderstiefeln einen Moment über das Pflaster, als wolle er die halb durchgescheuerte Sohle prüfen, ehe er zu seinem Reisegefährten aufsah. „Was hast’n du dir nur für’n Drachen zujelegt!“ griente Sigmund und nickte zu jenem Fenster empor, an dem ein Augenpaar wachsam ihrem Pfad folgte, „Solche wie die hätt’ste schar’nweise kriegen könne, wär‘ sogar was Bess’res drin jewese!“ Oswald sah einen Augenblick zu ihr auf, lächelte und schüttelte den Kopf. Nein – es gab keine Bessere. Die Eine war es, er hatte sie gefunden und für sich gewonnen und würde, so Telete gnädig blieb, sein Leben mit ihr teilen bis zum letzten Atemzug. „Komm schon, du Großmaul, geh’n wir!“ setzte der Kerkermeister dem einzig entgegen. Das kleine Geldsäckchen klimperte an dem Ledergürtel, der vor der Aufgabe, solchen Umfang einzuschnüren, fast kapitulierte. Noch war der Beutel voll, prall gefüllt mit ihren Ersparnissen mehrerer Jahre. Ganz gleich, welchen Preis es auch kosten würde, er brauchte dieses Kraut, er würde es bekommen! Den Straßen zu folgen, brachte sie einzig dem altbekannten Abschaum entgegen. Bettler und Obdachlose drückten sich in den Gassen herum. Es war Nachmittag, die fast ununterbrochen wütenden Sturmwolken der letzten Wochen waren endlich abgezogen und gaben strahlend blauem Himmel Platz. Die Sonne sandte verzweifelt ihre Strahlen wärmend herab, doch La Coeur war kein Ort, den man aufwärmen konnte. Hier herrschte immer eine frostige Stimmung, hier herrschte immer Kälte – Kälte von innen. Oswald nahm den Anblick der Stadt nicht mehr wahr. Häuser, die sich viel zu dicht beieinander drängten. Menschen, die von üblen Krankheiten oder Verletzungen gezeichnet Passanten um Geld anbettelten und fast wie Hunde aufwinselnd in eine Seitenstraße flohen, sobald eine Stadtwache in Sicht kam. Er sah die Krämer nicht mehr, die ahnungslosen Durchreisenden nutzlosen Schund andrehten, sah die eingefallenen Mienen unterernährter Kinder nicht mehr, sah nicht die Adligen von Privateskorten abgeschirmt durch die schäbigen Straßen flanieren und sah die junge Frau nicht mehr, die von drei Mann in einer Gasse zu Boden gezerrt wurde und sich mit Händen und Füßen wehrte. Man konnte in La Coeur gut leben – doch man musste sich blind stellen. Musste lernen, seine Augen zu schließen. Oswald lebte lang genug hier, um das zu wissen, aber nie war es ihm recht gelungen. Ninafer hatte ihn daran erinnert, wie schlimm es um die Stadt und das Land herum stand, sie hatte ihm die Wahrheiten genannt, die er längst empfand. Bereits am Nordtor angelangt, reihten sich beide Männer brav in eine Schlange ein. Zwei Silberlinge Wegezoll. Reinste Halsabschneiderei! Aber es war des Königs Weisung. Wer nicht zahlen wollte, der blieb in der Stadt und wer sich aufzuregen wagte, brauchte nur ein falsches Wort sagen, um die Stadt zu verlassen – am nächsten Morgen per Galgen. Sigmund und sein Cousin waren jedoch von solch ehrfurchtgebietender Größe und Statur, dass die drei Mann von der Stadtwache ungläubig zu den Hünen aufsahen. Sie wagten nicht, sie kontrollieren zu wollen, also schickten sie, ganz die Helden, den Neuling vor, ihnen den Wegezoll abzupressen. Oswald zahlte die vier Silberlinge für sich und seinen Cousin, legte die Münzen in die zitternden Hände des Burschen und wünschte ihm sogar noch einen schönen Tag. Vermutlich hatte sich das für den Grünschnabel wie das Brüllen eines Bären angehört, er wurde kreidebleich und sah zu, dass er zu seinen Vorgesetzten zurück kam. Mit einem kaum einen Meter hinter dem Turm deutlich dünneren Strom an Menschen verließen sie La Coeur. Da war er nun. Das erste Mal in seinem Leben stand er hinter den Mauern. Er hatte La Coeur verlassen, blieb stehen und sog begierig die Luft ein, als wolle er feststellen, ob sich etwas nennenswert verändert habe. Natürlich zog er prompt die Nase kraus, nieste, hustete und fluchte. Ein einziger Gedankengang hätte ihm diese unfeine Überraschung ersparen können: Direkt unter der massiven Zugbrücke, auf der er sich befand, floss der Alinarus dahin. Einer der Zwillingsströme, die La Coeur umschlossen und weiter flussaufwärts wurden die gesammelten Abwässer der Stadt in den Fluss geleitet. Aufgeschwemmter Dreck einer ganzen Stadt, das konnte wohl kaum nach Freiheit und der großen weiten Welt riechen. „Du bist’n Blödmann!“ amüsierte sich Sigmund indes prächtig, lachte so tief röhrend und schallend, dass die Wachen am Tor erneut zusammen zuckten und sich allerlei Blicke auf die Beiden legten. Er klopfte seinem Cousin auf die Schulter und führte ihn mit sich von der Brücke hinfort. Während des Weges zum Stillen Wald fiel Oswald die alte Buche auf, die vor dem Nordtor stand. Ein beeindruckender Baum, groß und gewaltig, als hätte er die Zeitalter überstanden. Zu seinem Fuß jedoch ruhte ein Erdhügel, zweifellos ein Grab. Wer darin wohl verborgen war? Allerlei Geschichten von früher kamen ihm in den Sinn, von großen Königinnen in Steinmausoleen, von tapferen Kriegern, die nach ihrem Fall in namenlosen Gräbern Ereshkigal übergeben wurden, während ihre Leiber Phylia zum Dank gereichten. Zwei Tage lang wanderten sie über die flache Ebene dem Wald zu, den sie schon von der Ferne hatten erblicken können. In der Nacht schlugen sie ein einfaches Lager auf, Sigmund hatte alles Nötige in einer schweren Tasche dabei, zündete mit den Feuersteinen eine kleine, wärmende Quelle des Lichts an und teilte ein Stück des Proviantes aus. Nach einem kurzen Streit darüber, dass Sigmund sich nicht so maßlos verhalten solle, mussten die Vorräte ja immerhin bis Zadiora, besser noch auch für den Rückweg reichen, winkte der lediglich gelangweilt ab. Nein, ein höflicher Mensch war sein Cousin nicht, so stellte Oswald resignierend fest. Weder zuvorkommend, noch freundlich und schon gar nicht weitsichtig. Sie legten sich zur Ruhe, unter den Decken verborgen, die die Hauptlast der Tasche darstellten. Schon am nächsten Morgen, als der Kerkermeister sein müdes Haupt reckte, sah er Sigmund schon wieder essen. Von Frühstück sprach dieser und es kam tatsächlich zu einem kleinen Streit. „Sei nich‘ so verfress‘n, du wirst ja wohl ma‘ ohne ‘ne Mahlzeit auskommen könne!“ fuhr Oswald seinen Cousin an. Einen Moment später schämte er sich fast, sich so im Ton vergriffen zu haben, doch jener blaffte lediglich zurück. Der Tag begann schlecht, beide waren übel gelaunt, packten stillschweigend ihr Lager zusammen und setzten den Weg ebenso wortlos fort. Oswald war nie ein Mann großer Worte gewesen – aber dieser Streit lag ihm schwer im Magen. Zusammen mit seinem Cousin erreichte er nach einer weiteren Nacht im Freien gegen Mittag den Stillen Wald. Sie traten über die Baumgrenze hinfort und mit einem Schlag schien sich die ganze Umgebung zu wandeln. Hatte ‚draußen‘ eben noch der Wind geheult, der in jenen Tagen stärker und stärker geworden die eisige Nordluft zu ihnen trug, so war es im Wald behaglich warm. Die Düfte von Gras und Blumen umschmeichelten ihre Nasen, ein Eichhörnchen saß völlig angstlos und unbeeindruckt auf einem Ast und sah auf die beiden Neuankömmlinge herab. Sigmund störte sich an alledem kein bisschen. Vermutlich hatte er schon so viel mehr gesehen, doch Oswald begriff erstmals in seinem Leben, die real und greifbar die Götter und ihr Wirken sein konnten. Ob dies nun einfach nur ein Zauber war, er wusste es nicht. Von Dryaden sagte man viel und niemand ward sich je darüber grün. Die einen behaupteten, sie seien Gesandte Phylias, die heiligen Haine der Welt zu hüten. Andere vermuteten, sie seien ein Volk von Waldmenschen, eine Linie zwischen naturverbundenen Elben und kurzlebigen Menschen. Oswald wusste nicht, was er glauben sollte und dennoch warf er den Streitpflegel, der über seiner Schulter lag, zu Boden und begab seine massige Figur auf die Knie. Mit jenen im Waldboden leicht eingesunken, atmete er einen Moment unter den mehr als argwöhnischen Blicken Sigmunds die Luft dieser heiligen Stätte ein und schloss die Augen. Er faltete sogar die Hände zum Gebet und nuschelte fast lautlos ein paar kleinere Verse, die ihm sein Weib vor langer, langer Zeit vorgelesen hatte. Eine Lobpreisung auf die Göttin Phylia, der alles Leben und Grün gehorchte. Eine warme Brise umzog sein Gesicht, er glaubte einen Moment eine fast schon spirituelle Erfahrung zu machen – da bemerkte er den widerlich säuerlichen Geruch nach Käse. Er schlug die Augen auf und Sigmund griente ihm auf wenige Zentimeter entgegen. „Wollt‘ nur ma‘ seh’n, ob’de einjeschlafe bist!“ rechtfertigte dieser sich. Oswald murrte einen Moment, packte den Streitpflegel und erhob sich wieder. Sein Cousin jedoch hielt den Mund über das, was er gesehen. Nur einen kurzen, flüchtigen Blick warf er noch auf den kleinen Findling. Dort, abseits ihres Pfades im Dickicht verborgen, hatte ihm ein ungestümes Augenpaar entgegen gefunkelt. Ein Weib, das einfach so nackt hier im Wald herum sprang – glaubte man denn sowas! Medea spürte, dass die beiden Fremden etwas umgab. Ein Hauch von Vorbestimmung haftete an ihren Gemütern. Ob zum Guten oder Schlechten, das würde sich zeigen müssen. Sie folgte den Menschen, die ihren Wald durchstreiften. Das Eichhörnchen hatte ihr zugeflüstert, wie Oswald niederkniete und eine alte Beschwörung sprach, ohne wohl recht zu wissen, was er da tat. Doch es berichtete ihm auch, wie der Andere einen Stein nach ihm geworfen hatte, dass es verschreckt von seinem Ast davon springen musste. Zwei Tage lang folgte Medea auf Schritt und Tritt den Fremdlingen. Sie sah sie den Pfad entlang wandeln. Der Eine, der bewaffnet war, blieb stets auf dem rechten Weg. Auf sein Geheiß hin schlugen sie die Lager dort auf, wo er es wünschte – dort, wo sie es ihnen anbot, indem sie kleine Lichtungen von allem Grün und Getier räumen ließ und einen kleinen Vorrat an Brennholz darbot, dass die Bäume freiwillig zu geben bereit waren. Ihre Gegenwart war damit für beide Menschen unabstreitbar, während Oswald sich darum nicht weiter bemühte, war sein Cousin neugierig geworden. Der Kerkermeister glaubte die Hüterin dieses Haines auf seiner Seite. Sie hatte nicht angegriffen, die Tiere nicht auf sie gehetzt, die Pflanzen keine Schlingen werfen lassen. Stattdessen fanden sie stets zur rechten Zeit einen guten Lagerplatz, an dem das Holz schon bereit lag. Oswald konnte sich damit zufrieden geben. Er kannte ein paar Sagen, die seine Liebste ihm vorgelesen hatte. Dryaden waren scheu, sie fürchteten die Menschen, weil sie viel zu oft die Zerstörung mit sich brachten. Zudem kannte der Hüne die Legende der Hüterin Sukaira und des Hains von Eloras. Eine traurige Geschichte, die ihn jener Tage tatsächlich zu Tränen gerührt hatte. Sigmund jedoch wollte mehr als nur eine sichere Passage und ein gutes Lager. Des Nachts, während sein Cousin schlief, schlich er sich davon, aß hier und da ein paar Beeren, die er im Mondlicht als genießbar erkennen konnte, stampfte mit seinen großen Füßen unbedarft durch ihr Dickicht. In der zweiten Nacht, bevor sie den Stillen Wald verließen, zeigte sich Medea dem Neugierigen. Wie eine lauernde Katze hockte sie auf einem Stein, spähte ihm mit ausdrucksloser Miene entgegen, die Hände am Findling abgestützt, die Beine um ihre Arme herum gespreizt und der Rücken gebeugt. Sie sah ihm entgegen, als wäre sie zum Sprung und Angriff bereit. Sigmund jedoch stampfte bis auf ein paar Meter auf sie zu, ungeniert, unbeeindruckt, ohne jedwede Furcht. Er hielt inne, betrachtete sich jene Frau. Sie spürte seinen Blick wandern, über ihr zerzaustes Haar, ihre Lippen, Schultern, Brüste. Auf ihrem Schoß blieb er erstaunlich lang haften. „Bist bissl dürr, was?“ brummte Sigmund mit einem Grinsen. Medea schwieg weiter, rührte keine Miene, zuckte nicht einmal mit dem Augenlid. „He, Kleine, ich red‘ mit dir!“ schnauzte er daraufhin und gab sich zumindest vorläufig damit zufrieden, als sie den Schopf schief legte. „Schleichst hier schon seit Tagen um uns rum, was? Ossi kannste vergessen. Der hat sich schon ‘nen Drachen anjelacht!... Aber wie wär’s denn mit uns, Hübsche?“ Der Hüne trat noch ein paar Schritte näher und grinste breit – Medea wich noch immer nicht. Er hatte die Legenden gehört, jawohl. Hüterinnen der Wälder, mächtige, magische Weiber, Gesandte der Göttin, alles Quatsch, Humbug, nur Geschwafel! Aber wie sie so dort saß, um sie herum geschlichen war – vielleicht stimmte ja zumindest der Teil, dass sie in der Blüte ihrer Jahre gern mal ein paar männliche Reisende beglückten? Mit einem raschen Satz sprang Sigmund hervor, doch Medea entkam völlig mühelos. Sie drückte sich in die Höhe davon, ein paar Ranken fingen sie rasch im Sprung und trugen sie zu einem Ast herauf, auf dem sie sich in der gleichen Lauerpose niederließ. „He, was soll‘n das Spielchen? Glaubste, ich komm‘ jetz Bäume hochjeklettert? Los, runter da!“ blaffte Sigmund, hob einen kleinen Kiesel auf und blickte drohend zu Medea empor. Die Dryade rührte sich nicht, doch als er tatsächlich nach ihr warf, wich sie mühelos aus – lehnte sich zur Linken und spürte den Stein an sich vorbei ziehen. Ein bedrohliches Funkeln legte sich in ihre Augen, als sie wieder auf Sigmund herab spähte. „Uh, soll mir der Blick jetz Angst mache? Los, komm‘ runter, zeig’ ma‘, ob’de Krallen hast!“ wies der Hüne sie an und bleckte lächelnd die Zähne. Er hob gerade einen weiteren Kiesel auf, da ertönte plötzlich eine andere Stimme. Mit einem Satz war Medea im höheren Geäst verschwunden, zweifellos binnen weniger Atemzüge über viele Meter davon. Sigmund drehte sich lediglich genervt zu seinem Cousin um. „Was machst du denn hier?“ gähnte der Kerkermeister müde und sah sich im Wald um, „Wir sollten nich‘ hier rumrennen, das ist ihr Reich, sie könnt’s uns übel nehmen.“ orakelte Oswald und spähte Sigmunds Blick hintendrein, der noch immer zum Ast aufsah. „Wird’se nich‘.“ erwiderte der nur grimmig über die Störung und schubste seinen Cousin regelrecht ins Lager zurück. Gegen Morgen verließen sie den Stillen Wald und erreichten nach einem halben Tag Zadiora. Zu ihrer Überraschung jedoch würde ihr Aufenthalt weit kürzer sein, als sie erwartet hatten. Eine grässliche Übelkeit ging im Dorf um, die sich keiner erklären konnte. Fünf Alte hätte es schon dahin gerafft und um ein junges Mädchen stand es auch übel. Die Stadtwache würde mit Fieber in ihren Betten liegen, alle zwölf Mann und der Priester, den Oswald suche, der sei erst vor wenigen Tagen ganz grässlich umgekommen. Der Wirt des einzigen Gasthauses in Zadiora versuchte gar nicht, ihnen Zuversicht zuzusprechen. Seit einigen Tagen schon lief das Geschäft ganz furchtbar schlecht, die Gerüchte von der Seuche hatten sich herum gesprochen, auf den äußeren Höfen kränkelte das Vieh, die Lagerbestände wurden schlecht, das Bier schal, weil es niemand mehr trank. Ein Wäldchen sei niedergebrannt und inzwischen wäre der Friedhof hinter dem Tempel wohl überfüllt, aber kein Mann sei im Moment stark genug bei Kräften, um neue Gräber auszuheben. Nun fürchte man, die Toten würden aufstehen und zornig morden, weil niemand sie unter die Erde trug. Ganz gleich, wie oft Oswald das Gespräch auf die Kräuter des Priesters zu lenken versuchte, der Gastwirt schweifte immer wieder in seine Bärmelei über die Zustände ab. Vor Tagen noch habe erst ein Lykaner sein Unwesen getrieben und nun, da man sich die neuen Plagen besähe, wünsche man sich fast den Wolf zurück, tötete er doch nur Vieh und unachtsame Bauern. Als Oswald und Sigmund sich diesen Abend zu Bett begaben, eines der zahlreichen, leeren Zimmer in Beschlag nahmen, da hingen sie ein jeder für sich ihren Gedanken nach. In Zadiora sah es furchtbar aus. Verwahrloste Äcker, wild herum streifende Viehherden, manches Haus trug Kampfesspuren und auf dem Friedhof türmten sich die Opfer einer Seuche. Das konnte so nicht bleiben! Bei Mermerus, so durfte es einfach nicht bleiben. Noch in dieser Nacht, während sein Cousin selig schlief, erhob sich Oswald von seiner Lagerstätte und trat zum Wirt herab. Einen Spaten ließ er sich besorgen und den Weg zum Friedhof weisen. Vom Gastgeber mit einem Wasserschlauch ausgestattet, zog der Kerkermeister einsam und allein auf den Totenacker hinaus und grub. Eine Mulde nach der Anderen, die ganze Nacht hindurch grub er. Am Morgen, kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen über die Wipfel im Osten brachen, senkte er mit so viel Vorsicht und Achtung, wie es ihm allein zu Gebote stand, die Toten in ihre Gruften. Er verschloss die frischen Gräber wieder. Gewiss – es würde keine Grabsteine geben. Man wusste nicht, welcher Tote in welchem Grab ruhte, aber sie wieder auszubuddeln, würde niemand wagen. Solche Freveleien strafte Ereshkigal hart! Aber immerhin brauchte so niemand mehr Angst vor Untoten zu haben. Drei weitere Gräber hob der Hüne noch aus, ehe der Wasserschlauch leer war und er zum Gasthaus zurückkehren wollte. Einen Moment blieb er neben dem Tempel stehen. Einstmals ein Heiligtum der Damastes, war das Bauwerk nunmehr Phillipe dem Dritten gewidmet, dem Gottkönig Lumiéls. Ob er es wagen könnte? Er ruckte an den Türen, doch ein schwerer Balken war vor das Schloss gelegt. Er könnte ihn entfernen – für einen Mann seiner Kräfte und Statur sicherlich kein Problem. Aber wollte er das? Durfte er das? Nein, gewiss nicht. Phillipe würde davon vielleicht nichts erfahren, die Götter sich nicht darum scheren, aber er, er würde es wissen. Er hätte sich stets vor seinem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. Verschlossene Türen waren das nie ohne Grund. Mit schwerem Seufzen zog Oswald wieder zum Gasthaus zurück. Kein Schleierkraut. Der Priester war tot, seine Vorräte unerreichbar – die Reise umsonst. Zutiefst deprimiert sank der Hüne in ein Badewasser, dass der Wirt ihm aus Dankbarkeit für eine nächtliche Arbeit darbot. Der Kerkermeister wusch sich frei von Erde, Schweiß und Schmutz, doch das Gefühl der Last blieb auf seinen Schultern. Er hatte versagt. Deprimiert und schweigsam beobachtete er nach dem Bad, wie Sigmund sich bei einem guten Frühstück den Magen vollschlug. Er bezahlte natürlich mit Oswalds Geld – aber wozu hätte er das jetzt auch noch brauchen sollen? Es gab kein Schleierkraut. Nicht in La Coeur, nicht in Zadiora. Ob er es wagen sollte, nach Sundergrad zu reisen? Die Strecke war mehr als nur gefährlich. Die Zentauren waren aufgebracht dieser Tage, erzählte man sich. Ein guter Führer war teuer und schlechte Führer leiteten einen in die Irre, ließen ihre Anhängsel von Sonne und Durst irre sterben. Aber wenn man Schleierkraut irgendwo in Lumiél bekam, dann ja wohl sicherlich in Sundergrad. Aber sein Weib würde ihn niemals freiwillig dorthin ziehen lassen. Belügen konnte er sie auch nicht – das hatte er noch nie vermocht. Sie sah ihn einmal streng an und er begann herum zu drucksen und verschmitzt zu lächeln. Das verriet ihn einfach immer. Vielleicht sollte er nicht heim kehren? Vielleicht sollte er Sigmund beim Kragen packen, nach Süden ziehen, an La Coeur vorbei, an Samara vorbei, bis nach Sundergrad? War das möglich? Ein deftiges Schmatzen mit anschließendem Rülpsen Sigmunds riss Oswald aus seinen Gedanken. Allein wie sein Cousin aß, wie viel er vertilgte, ehe er sich halbwegs zufrieden gab, sprengte den Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten. Es würde kein Schleierkraut geben, nirgendwo, niemals, sie würden ewig zu zweit bleiben. Mit Enttäuschung im Blick begann sich Oswald zu fragen, ob das Folgen haben würde. Seine Frau liebte ihn, oh sie liebte ihn sehr, aber sie wünschte sich auch sehnlichst ein Kind, am liebsten gleich eine ganze Rasselbande... „Komm, geh’n wir heim.“ meinte Sigmund, nachdem der Bierkrug leer war, kratzte sich am Hintern und schlug Oswald auf die Schulter. Gemeinsam verließen sie Zadiora wieder. Ein Fehlschlag auf ganzer Linie, sie hatten ihre Ersparnisse zusammen gekratzt, hatten viel Geld ausgegeben, für die Zölle, für Essen und Unterkunft und jetzt kehrte er mit leeren Händen heim. Was würde er vorweisen können? Sein Cousin, der sowieso schon füllig war und den sie nie hatte leiden können, war allzeit satt geworden. Wundervoll. Er hatte einen Wald betreten. Auch toll. Nein, er schämte sich. Oswald schämte sich schon jetzt bei dem Gedanken daran, wie er mit leeren Händen vor seine Liebste würde treten müssen. Sie würde ihn mitleidig in die Arme schließen, sie würde ihm sagen, dass das Wichtigste sei, dass er heil zurückgekehrt wäre und doch, das wusste er, so wäre auch sie enttäuscht. Gegen frühen Abend tauchten beide wieder in den Stillen Wald ein. Medea bemerkte die Veränderung im Gemüte Oswalds, sie konnte es riechen und ihm spielend leicht an der Miene ablesen. Ein Blick der Hüterin glitt zum Dorf, ein kaltes Frösteln durchfuhr ihren zarten Leib beim Anblick der Hütten und Aufbauten. Sie folgte den Beiden, wie schon zuvor. Reisende waren gleichermaßen interessant wie sie auch allzeit bedrohlich waren, doch noch immer haftete jenen Beiden etwas an, das sie wichtiger erscheinen ließ. Sigmund hielt fortwährend den Blick auf die Umgebung gerichtet. Wollte Oswald dies anfangs noch als gesunde Wachsamkeit auslegen, glaubte er später einfach daran, dass sein Cousin angesichts der Schönheit dieses Waldes unfähig war, sich auf die Reise oder seinen Weg zu konzentrieren. Ob mehr dahinter steckte und falls ja, was dies sein könnte, interessierte den Kerkermeister nicht. Sein Gemüt war in Schwermut versunken, er trauerte, war bekümmert. Nichts begehrte sein Herz in diesen Tagen sehnlicher als ein Kraut, von dem er nicht einmal wusste, wie es denn aussah. Sein Gefährte bemerkte, dass sie abermals verfolgt wurden. Er sah Medea herum schleichen und Medea wusste, dass sie gesehen wurde. Anders als Sigmund glaubte, war eine Dryade innerhalb ihres Waldes niemals zu sehen, solange sie das nicht auch wollte. Die Hüterinnen gaben sich nicht die Blöße, so unflätig und plump herum zu stampfen, wie es der Menschen Eigenart war – und das, obwohl auch die Dryaden dem Menschengeschlecht entsprangen. In der ersten Nacht, die sie im Stillen Wald verbrachten, zog Sigmund erneut einen Kreis um das Lager, doch Medea ließ sich nicht blicken. Sie beobachtete ihn, lauschte den Worten, die er flüsterte und begriff deren Sinn doch nicht. Sie war zu wenig mit den Gepflogenheiten der Menschenwelt vertraut, um etwas mit Begriffen wie ‚Kurtisane‘ oder ‚Schäferstündchen‘ anfangen zu können. Es war die zweite Nacht, kaum zwei Stunden Marsch, bis sie den Wald hinter sich lassen würden, als Sigmund während der Nacht erneut los zog. Doch anders, als er es vermutete, schlief Oswald nicht. Der Kerkermeister versuchte es, er versuchte es wirklich nach Leibeskräften, doch die schwere Last des Scheiterns drückte zu sehr auf sein Gemüt. Wie sich Sigmund still und heimlich davon stahl, das bemerkte der Hüne zunächst nicht. Erst nach einer Weile, da rollte er sich von seiner Seitenlage auf den Rücken, vom Lagerfeuer bisher gewärmt und begann den Blick auf Laubdach und die dazwischen verstreuten Sterne gerichtet, mit einem Mann zu sprechen, der nicht mehr zugegen war. Er klagte ihm sein Leid, erzählte von seinen Bedenken, seinem Gemüt, er legte Sigmund offen, was sein Herz bewegte und erhoffte sich Rat. Erst als er den Blick zu dessen Lagerstätte wendete, auf der anderen Seite des Feuers, bemerkte er das Fehlen seines Cousins. Schlagartig erinnerte er sich an die zweite Nacht im Wald, da er ihn schon einmal außerhalb des Lagers ‚erwischt‘ hatte. Das konnte Ärger bringen, so etwas konnte fürchterlich Ärger bringen! Oswald machte sich Sorgen, um sein Wohl ebenso, wie um das Leben seines Gefährten. Dryaden waren scheue und sanftmütige Wesen, aber in ihren Wäldern einfach herum zu trampeln, das würde sie verärgern und im Zorn war kein Wesen dieser Welt mehr sanftmütig! Er lauschte in die Nacht hinein, erhob sich und horchte, da vernahm er ein Geräusch, zu leise und undeutlich, doch Hinweis genug für ihn. Je näher er kam, umso mehr klang es nach einem Kampf. Die erschreckende Erkenntnis beschleunigte seine Schritte, nunmehr trampelte er selbst wie eine Ochsenherde durch das Unterholz und brach abrupt und unerwartet in eine Lichtung vor. Was er dort erblickte, ließ dem gestandenen Kerkermeister das Blut in den Adern gefrieren, dass sich unverzüglich alle Haare auf seinem Leib aufrichteten. Da lag eine Frau auf der Lichtung. Die Kronen hatten ein Fenster im Dach des Waldes geschaffen, durch den der Mondschein auf sie strömte, ihre zarten, zerbrechlichen Züge beleuchtete. Sie lag auf dem Rücken, strampelte und kratzte Sigmund die Wange auf, der just im Moment des Erscheinens seines Cousins der Dryade die Schenkel auseinander zwang. Wie war derlei möglich? Wie konnte eine Hüterin des Waldes in ihrem eigenen Hain Opfer eines Überfalles werden? Sagte man ihnen nicht gottgleiche Kräfte nach? Sollten sie nicht unantastbare Gebieterinnen sein? „Nein!“ rief Oswald von nackter Panik ergriffen aus. Wenn sein Cousin tat, was er anzustreben schien, so waren sie beide auf alle Zeit verdammt! Ereshkigal würde ihrer Seelen spotten, ehe Mermerus sie verdammte, als Rache für das Leid, dass einem Kind seiner Tochter angetan wurde. Der Kerkermeister stürmte herbei, die zornigen Ausrufe seines Gefährten ignorierend. Er solle verschwinden? Ja gewiss, er würde einfach umdrehen, gehen, vergessen, was er hier sah! Erstmals in seinem Leben, so glaubte Oswald zumindest, verspürte er tiefe Wut in seinem Magen gären. Er packte Sigmund bei den Schultern, riss ihn von der Dryade hinfort. „Bist du des Wahnsinns?“ keifte er den am Boden Liegenden an, doch Sigmund war blind und taub für aller Welten Worte, er packte einen Stein, kam auf die Füße, weil Oswald noch immer den unumgänglichen Kampf vermeiden wollte. Mit einem archaischen Schrei ging der Cousin auf den Kerkermeister los, Oswald bekam einen schweren Schlag gegen den Schädel, ging ächzend zu Boden. „Sie gehört mir!!“ kreischte sein Blutsverwandter völlig von Sinnen und schlug mit dem Stein auf seinen Rücken ein, wieder und wieder, presste ihm die Luft aus den Lungen, ließ den Knienden ächzend zu Boden brechen. Oswald keuchte schwer. Feuchte Erde klebte an seiner Wange, seine Lungen brannten, eine Rippe schmerzte, als sei sie mit flüssigem Blei ausgegossen worden und seine Arme zitterten, als er sich vom Boden abzustützen versuchte. Er blickte hinüber, zu Medea, die verängstigt am Boden kauerte und sich nicht zu rühren wagte. Sie sah zu ihrem Peiniger auf, der ungeniert auf sie zu schritt. „Wo war’n wir?“ schnauzte Sigmund fast schon amüsiert und vergriff die Pranke im Schopf der Dryade. Er zerrte sie ein Stück über den Boden, sie kreischte jämmerlich und strampelte Halt suchend mit den Füßen auf dem Erdreich. „Lass sie in Ruhe!“ keuchte Oswald schwerfällig, kam wieder auf die Knie und sah Sigmund umkehren. Ein einzelner Tritt gegen die Brust warf den Kerkermeister sogleich wieder auf den Rücken, sein Schädel knallte unter einem heißen Schmerzblitz auf etwas Hartes. Unter einem Ächzen hob er den Arm, griff danach, umschloss mit bedrohlicher Härte den Stein, den Sigmund zuvor hatte fallen lassen. Mit einem Schwung, den er seinem eigenen Arm nicht mehr zugetraut hätte, schleuderte er den Findling durch die Luft. Ein Zischen, ein fürchterliches Knacken und das Ächzen eines Mannes, der tot sein würde, noch bevor sein Sturz zu Boden vollendet war. Oswald kam schwer wieder auf die Beine, er taumelte, strauchelte und keuchte noch immer. „Was is‘ nur in dich gefahr’n?“ jammerte er Sigmund voll und eilte zu seinem Cousin. Erst als er vor seinem Verwandten niederkniete, erkannte der Kerkermeister mit Schrecken, was er getan hatte. Der Hinterkopf seines Cousins war völlig zertrümmert, eine Mischung aus Hirnmasse, Haut, Blut und Knochen quoll dick und träge über den kahlen Schädel. Oswald keuchte, heiße Tränen brandeten ihm über die Wangen, noch bevor er sich abwandte und erbrach. „Ich... ich habe ihn umgebracht...“ sprach er die Wahrheit aus und übergab sich erneut. Noch mit dem sauren, widerlichen Geschmack im Mund, verkehrte er sich zu Sigmund. Er rollte seinen Cousin auf den Rücken. Leere Augen starrten aus einem wutverzerrten Gesicht durch den Film aus nassem Erdreich zum Himmel empor. „Nein...“ brachte Oswald mit bebener Stimme hervor, wiederholte das Wort wie eine Beschwörungsformel. Er tastete nach dem Herzschlag, er gab seinem Cousin einen Klaps auf die Wange, beschwor ihn, wieder zu atmen, doch nichts geschah. Oswald war zum Mörder geworden, hatte seinen Cousin erschlagen, einen Verwandten gemeuchelt. Man würde ihn hängen, Mermerus ihn verdammen, sein Weib würde an irgendwelche Halunken in der Taverne geraten, die nun nicht länger ihren Mann fürchten mussten. „Nein... tu‘ mir das nich‘ an...!“ flehte er den Toten an, doch Ereshkigal hatte längst ihres Amtes gewaltet. In jener Hülle herrschte weder Leben noch Geist. Es waren die zierlichen Finger Medeas, die sich um seine Schulter legten. Aus dick verquollenen Augen sah der Hüne zu dem zierlichen Weib auf. Sie thronte über ihm, nunmehr wieder den Eindruck einer Göttin in ihrem Reich erweckend. Wo war ihre Stärke geblieben, als sie sich ihm widersetzen wollte? Warum war sie nicht geflohen, wenn die Dryaden doch so scheu waren? „Warum...?“ brachte er hervor, als wolle er alle Fragen zugleich mit nur jenem einen Wort aussprechen. Er hauchte es mit so zittriger Stimme, dass die Hüterin erstmals in ihrem Leben eine Ahnung davon bekam, was Mitleid bedeutete. Ein Berg von einem Mann, der zu keinem Zeitpunkt schwächer hätte wirken können. Doch was hätte sie ihm nun erzählen sollen? Dass Sigmund nicht aus Nächstenliebe nach Lumiél gekommen war? Dass sein Anliegen nicht ihr Leib gewesen, sondern er Gerüchte vernommen hatte, dass die Wasser des heiligen Weihers einer Dryade die Unsterblichkeit bieten konnten? Hätte sie ihm von der Gier seines Cousins berichten sollen, von seinem Wahn nach Unsterblichkeit, seiner Angst vor dem Tod, den er nun durch eben dies erfahren hatte? Hätte sie ihrem Retter erklären sollen, wie jener Verstorbene sein ganzes Vermögen dafür ausgab, Mittel und Wege zu finden, wie er sich vor der Macht einer Dryade schützen konnte? Gewiss nicht. „Ich danke dir.“ flüsterte sie leise, doch Oswald begriff nicht. Ein Schluchzen ließ seinen gesamten Leib erzittern, ehe er verständnislos zu ihr aufsah. „Wofür? Dass ich mein eigenes Blut erschlug?“ warf er ihr bebender Lippen entgegen. Die Dryade aber kniete sich neben ihn, ihre imposante Erscheinung schrumpfte auf eine kleine Frau zusammen, ehe sie seine Hand ergriff. „Du hast eine Tochter Phylias beschützt. Liebe und Opferbereitschaft sind von großem Wert und die Götter vergessen keine Schuld.“ – „Aber er is‘ tot!“ – „So erfüllt er sein Schicksal, wie du das Deine.“ Einen langen Moment kehrte Schweigen ein. Oswald wusste nicht, wie er sich benehmen sollte. Alles ihm schrie danach, Medea bei den Schultern zu packen und zu schütteln, sie anzuschreien und anzuflehen, sie möge seinen Cousin zurück holen. Doch es gebührte ihm nicht, eine Hüterin zu berühren. Er wusste das – und wagte nicht, seine Grenzen zu überschreiten. Man versündigte sich nicht gegen die Götter. Doch was sollten ihre Worte bedeuten? Phylia war ihm also dankbar, dass er Medea gerettet hatte? Und nun? Das machte seine Schuld nicht vergessen, das machte den Mord nicht ungeschehen. „Die Last deiner Tat vermag ich nicht zu schmälern,“ drangen die Worte der Hüterin in seinen Geist, „der Tod ist ein Teil des Lebens und was einst begann, wird enden müssen. Doch, so sage mir... was suchtest du hinter blutenden Steinen und totem Holz? Was begehrtest du zu finden in jener starren Grausamkeit, jenseits meines Waldes?“ Der Kerkermeister antwortete nicht sofort. Noch immer hing sein Blick am toten Leib seines Cousins. Die kalten, leeren Augen, die Lache, die sich unter seinem Kopf bildete und langsam im Erdreich versickerte. Er hatte ein Leben ausgelöscht. Nicht der Henker, nicht die Stadtwache, kein Beutelschneider oder verzweifelter Bettler, nein, er selbst, Oswald der Kerkermeister. Medea fragte ihn erneut und nur mit Mühe gelang es dem Hünen, das Chaos an Gefühlen und Gedanken zu durchbrechen, zumindest weit genug, um von ihrer merkwürdigen Beschreibung auf das Dörfchen Zadiora schließen zu können. „Schleierkraut. Mein Weib und ich, wir wünschen uns Kinder, aber nichts half... aber sie hatten keins.“ gab Oswald resignierend zurück, ehe er schließlich die Hand zum Gesicht seines Cousins hob und diesem die Lider schloss. Gleichermaßen fasziniert wie neugierig verfolgte die Dryade diesen scheinbar typisch menschlichen Totenritus. Oswald schloss die Augen, neue Tränen strömten unter seinen Lidern hervor, während er die Hände zum Gebet faltete. Ereshkigal möge die Seele seines Cousins sicher geleiten und Mermerus solle Nachsicht haben. Medea hätte ihm sagen können, dass dem nie so geschehen würde. Schuld wurde nicht einfach vergeben – eine Solche erst recht nicht. Sigmunds Taten und Pläne würden aufgewogen werden und für ihn stand es wahrlich nicht zum besten. Doch sie spürte, dass solche Kunde das Leid ihres Gastes mehren würde und schwieg. Stattdessen grub sie die Hände in das Erdreich, schöpfte mit dem Halbrund ihrer Handflächen ein ansehnliches Stück des feuchten Grundes und hielt es Oswald entgegen. Erst als dieser zu ihr herüber blickte, zog ein zartes Lächeln auf die Lippen der Hüterin. „Ihr Menschen könnt so einfältig sein...“ flüsterte sie leise, schloss die Augen und flüsterte lautlose Worte. Ein kleiner Keimling spross aus dem Erdreich, zarte Blätter wurden entfaltet, die kleine Pflanze schnellte in wenigen Augenblicken zur vollen Größe herauf. Mit sieben fast unscheinbaren Blättern ragte sie nun aus der Erde, die Medea zu ihm hielt. Als sie die Augen aufschlug, öffnete sie die Finger. Kleinere Krümel und Bröckchen bröselten zu Boden, bis sie nur noch die Pflanze selbst samt ihrer Wurzeln hielt. „Schleierkraut ist in Lumiél selten geworden. Nimm nur ein Blatt, spare dir die Anderen, solltet ihr denn mehr als nur ein Kind wünschen.“ flüsterte sie noch immer lächelnd und überreichte Oswald die Pflanze. Einen Moment völlig verdutzt betrachtete er sich das zarte Stück Grün. Nie zuvor hatte er Magie wirken sehen, doch hier nun hielt er einen Beweis ihrer Existenz in den Händen! Medea half dem Kerkermeister auf die Füße und zog ihn mit den Worten, dass sie sich darum kümmern werde, von Sigmund hinfort. Noch während Oswald seinem Cousin den Rücken zuwandte, strömten zunehmend dicker werdende Wurzeln aus dem Boden, umschlossen den fülligen Körper und begannen ihn nach und nach in das zurückweichende Erdreich zu ziehen. Kaum ein paar Minuten vergingen, da schloss sich das Geflecht aus Wurzeln und Erde wieder und hinterließ einen makellosen Flecken Wald, auf dem sich scheinbar nie etwas zugetragen habe. Bis zum Lager und darüber hinaus bis zur Baumgrenze geleitete Medea Oswald. Dort verabschiedeten sie einander. Der Kerkermeister schwor bei Leib und Leben, bei der Geburt seines ersten Kindes zurückzukehren und ihr zu danken, während die Hüterin ihn wissen ließ, dass seine Sippe allzeit willkommen sei. Heim kehrte Oswald allein. Das kleine Ledersäckchen an seinem Gürtel war ohne dessen Wissen praller noch geworden, denn Medea wusste um den Nutzen dieser Münzen für die Menschen, hatten doch zu viele einander schon darum erschlagen und sie nutzlos in ihrem Wald herumliegen lassen. Als seine Frau ihn in die Arme schloss, da ward ihm, als habe er etwas vergessen. Doch ihr Strahlen allein, ihre Küsse, wie sie sich aufjauchzend ihm in die Arme warf, ließ Oswald die Welt vor jener Tür ignorieren. Was dort draußen war, einerlei. Sie zog ihn schelmisch grinsend und lachend in die Küche, gemeinsam tranken sie einen recht speziellen Tee, dessen Mischung sie einer Gefangenen und einer Gottgesandten zu verdanken hatten, ehe die kleine Rothaarige auflachend und freudig wie nie ihren Liebsten die Treppenstufen empor zog. Er war daheim... Kapitel 2: Durch Sturm und Nacht -------------------------------- „Ha‘, da brat‘ mir doch einer ‚nen Storch, Viererpasch!“ verkündete der Zwerg stolz und stieß den Lederbecher auf das schmierige Holz des Tisches nieder, dass man einen Moment hätte fürchten können, das gute alte Mobiliar der Taverne würde den Kampf gegen rüde Besetzer aufgeben und zusammen brechen. Die Runde am Tisch war gesellig – und das schon seit einigen Stunden. Immer wieder setzten sich neue Gesichter hinzu, während bereits Bekannte murrend und maulend abzogen. Der Wirt warf immer wieder skeptische Blicke zu jenem Tisch. Ihm gefiel das Treiben dort nicht, ihm gefiel nicht, dass dieser Elb hier ein Glücksspiel nach dem Anderen durchzog. Würfel, Karten, Ratespiele, nein nein, der König hat’s unter Strafe gestellt! Aber was sollte er schon tun? Ihn rauswerfen? Dank diesem Spitzohr tranken die Gäste dreimal mehr an diesem Abend, da wäre es doch eine Schande, ihn der Stadtwache zu übergeben. „Na dann kann ich ja froh sein, dass es kein Sechser war...“ schmunzelte Gilian breit und deckte seine drei Würfel auf – drei Fünfen. Die eben noch freudig zu einem Lächeln seines Bartes verzogene Miene des Zwerges gefror, er schob mürrisch die drei Silberlinge Wetteinsatz über den Tisch und schüttelte den Kopf. „Spiel nie mit einem Elb...!“ wiederholte der Kurze in Erinnerungen an Sätze, die sein Vater ihm mit auf dem Weg gab, die kleinen Lektionen und schob sich schließlich samt knarrendem Stuhl zurück. Ein Platz wurde frei – und aus der Menge an Schaulustigen und Wagemutigen, die an den Tischen und Tafeln rund um sie herum saßen, nahm der Nächste seine Chance war, erhob sich samt des Bierhumpens und nahm ungefragt Platz. „Un‘, wat spiel’n wa?“ hakte der Einäugige mit dem Flair eines Gossenbettlers nach und packte ein überraschend fülliges Ledersäckchen auf den Tisch – zweifellos die Beute neuster Halsabschneiderei. Gilian warf einen völlig unbedeutend scheinenden Blick um sich, nicht mehr als Wachsamkeit vortäuschend, doch seine zwei Crewmitglieder, die derweil unscheinbar ihren eigenen Machenschaften nachzugehen schienen, waren alarmiert. Nun saß jemand am Tisch, beim Kapitän, der vielleicht gefährlich war – sie würden eingreifen können, ehe es zu weit ging. Auch den Bettler oder Räuber oder was immer er war, konnte Gilian mühelos ausnehmen. Man hätte meinen können, für den spitzohrigen Seebären sei es ein guter Abend, doch sein feistes Lächeln und die Finessen, mit denen er seine Gegner gleichermaßen erheiterte, bei Laune hielt und wie Weihnachtsgänse ausnahm, waren kaum mehr als gut einstudiertes Theater. Der Abend war elend, er war sogar verdammt elend! Hergekommen war er in der Annahme, einen guten, lukrativen Auftrag zu bekommen. Irgendein reicher Schnösel hatte eine Überfahrt nach Bervenia verlangt und sich nun ausgerechnet ein berüchtigtes Schiff ausgesucht, wohl in der Annahme, man würde ihn dann nicht angreifen wollen. Doch kaum angekommen, zeigte sich, wie nötig der Schutz durch ein paar halbe Piraten war – der Bursche lag im eigenen Blut am Pier des Hafens. Natürlich waren Gilian und seine Männer zunächst über den Toten gestiegen, sie wussten ja noch nicht, dass es sich bei diesem bleichen Bengel um ihren Auftrag handelte... gehandelt hatte. Nun saßen sie hier fest und in drei verschiedenen Tavernen versuchten unterschiedlich große Trupps seiner Crew – aufgeteilt nach der Bedrohlichkeit des dort gegenwärtigen Volkes – irgendwie an genug Geld zu kommen, damit sie sich den Proviant leisten konnten, um wieder auf See zu gelangen. Nur war das hier nicht irgendein Land. Der König war streng und die Hungersnot der letzten Winter hatte dazu geführt, dass Proviant elendig teuer war. Also saßen sie hier, spielten, während anderswo Feuer geschluckt oder Seemannsgarn erzählt wurde. Gute Miene zum bösen Spiel, mehr zu tun blieb einfach nicht. Es war bereits tief in der Nacht, die auf merkwürdige Weise immer wieder rasch und unbemerkt verschwindenden Einnahmen der Spielrunde – es sollte ja niemand sehen, dass Gilian ständig gewann – waren inzwischen recht ansehnlich, da setzte sich ein weiterer hagerer Bursche zu ihm an den Tisch. „Würfel, vier Stück pro Becher.“ erklärte der mit frostiger, leiser Stimme. Einen Moment beäugte Gilian seinen Gegenüber kritisch. War von so einem Gefahr zu erwarten? Er sah recht harmlos aus, aber man konnte es im Grunde ja nie wissen... dennoch entschied der Elb, dass keine Notwendigkeit zu größerer Vorsicht bestand. Sie spielten, wie schon unzählige Male zuvor. Gilian gewann, mal mehr, mal weniger knapp und irgendwann, nachdem sich der noch am Tisch hinzugekommene Ork mit den Worten „Spiel dumm, Geld leer!“ maulend verzogen hatte, wurde der Kapitän doch unruhig. Sein gegenüber nahm geradezu erschreckend gelassen hin, dass seine Geldbörse immer weiter schrumpfte. Gewiss hatten sie längst, allein durch das Glücksspiel, genug Geld für den Proviant zusammen, aber Gilian konnte einfach nicht mit spielen aufhören. Einerseits hätte es jetzt Verdacht erweckt und er saß in einer Taverne – man würde ihn mit Freude am nächsten Baum aufknüpfen. Andererseits wollte er wissen, warum dieser Kerl so ruhig blieb. Es schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren, dass er ausgenommen wurde, seine ganze Habe verlor. Einmal hatte er mit den Worten, dass er ihm nicht noch die Unterkunft und Schuhe rauben wolle, das Spiel abzubrechen versucht, doch der Fremde deutete nur ein kaltes Lächeln an und meinte, dass das so gut wie sicher sei. Verwirrende Worte. Letztlich wurde es bereits allmählich Morgen, die Taverne leerte sich und die Zeit war gekommen, die Karten auf den Tisch zu legen. „Gilian,“ begann sein gegenüber, legte den Würfelbecher weg und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Bereits bei jenem Satzbeginn wurde der Elb unruhig – er hatte seinen Namen nicht genannt und auch, wenn er samt seinem Schiff und seiner Crew hier und da kleine Lokalberühmtheiten waren, so war er es hier, in diesem Hafen, ganz gewiss nicht. „du hast dich wirklich ansehnlich lange verstecken können. Aber du weißt sicherlich, du hättest es einfach wissen sollen, dass niemand – und ich meine niemand! – den Piraten entkommt. Uns gehört die See, du aber... pff... du bist nur zu Gast. Du schuldest den Clans von Lumiél eine Menge. Wir wissen, dass der Bauch deines Schiffes voll davon ist. Wenn du die Ware endlich heraus gibst... dann muss auch niemand irgendwie zu Schaden kommen.“ Bei jenen Worten war der Elb tatsächlich ein wenig blass um die Nase geworden. Er streckte den Arm, da klickte etwas. Sein Blick huschte zurück in das nunmehr finstergrimmige Gesicht des Piraten, da rang er sich ein müdes Lächeln ab. „Keine Sorge, ich bin nicht so dumm.“ meinte der Elb und rief die Bedienung herbei, „Mehr Wein!“ meinte er schon von weitem, die nickte brav und verschwand wieder in Richtung des Vorratskellers. Gilian aber schwenkte dem Mann am Tisch zu und betrachtete ihn eingehend. „Hätte nicht gedacht, dass ihr mich ausgerechnet hier erwischt. Wie habt ihr es angestellt?“ „Wir haben unsere Quellen. Spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr, oder? Sei kein Narr, Elb. Die Dragov und die Ikamar kreuzen draußen auf See und sind auf dem Weg hierher. Stell keine Dummheiten an. Wir wollen nur die Ware, die du uns versprochen hast.“ „Diese Ware ist viel, aber wirklich viel viel mehr wert, als ihr uns gezahlt habt! Mein Schiff wurde fast völlig zerlegt von allerlei Seekreaturen, Eumenes war auch nicht gerade erfreut über unser Erscheinen und-„ „Gilian, das interessiert nicht. Weder mich, noch sonst irgendwen! Du wurdest bezahlt und hast nicht geliefert. Nur darum geht es. Wir fordern, was uns zusteht und ehe du jetzt auf die Idee kommst, irgendwelche Spielchen abzuziehen: Das macht es für dich nur noch teurer!“ Der Elb bedachte sich angespannt seine Optionen. Er neigte sich zur Seite, blickte unter die Tischplatte und gewahrte einer Steinschlosspistole mit großem, breitem Lauf. „Du weißt, dass diese Dinger fast nichts treffen, oder?“ erkundigte sich das Spitzohr einen Moment vage lächelnd. Vielleicht hatte er ja Glück und die Waffe war nur als Druckmittel zugegen. „Und du weißt, dass sie auf diese Distanz durchaus treffen und obendrein hässliche Wunden schlagen.“ erwiderte sein Gesprächsgegner lediglich kühl. Gilian seufzte – der Abend bot einfach kein Glück. Er blickte sich nach der Bedienung um und rief fast schon zornig erneut nach mehr Wein. Plötzlich knallte es, sprangen Scherben im Raum herum und ergoss sich kostbarer Schnaps über das zerzauste Haar des Piraten. Klackend fiel die Pistole zu Grund und wurde von Gilian rasch aufgesammelt. Er erhob sich hastig vom Tisch, blickte auf den Bewusstlosen und spähte dann in die Runde – nun, da der Kapitän eine Kugelwaffe trug, wollte ihn wahrlich niemand mehr angreifen. Sie hatte nur eine Kugel im Lauf, das mochte sein, aber das bedeutete immer noch, dass sich irgendwer in die Schusslinie werfen müsste – und danach stand dem angesoffenen Volk so gar nicht der Sinn. Gilian jedoch, statt die Flucht zu ergreifen, packte einen seiner zwei Crewkameraden beim Hemdkragen und zerrte ihn dicht zu sich. Wut funkelte in seinen Augen. „Hör‘ mal, ich weiß, du bist neu, aber wenn du noch einmal überlegst, meine Befehle in Frage zu stellen, dann tu das in einer Situation, in der mein Leben nicht von ihrer Umsetzung abhängt!“ blaffte er den Neuling in der Crew an und stieß ihn ein Stück von sich. Es war eine der ältesten Taktiken: Gilian trank, sofern es um Alkohol ging, einzig und ausschließlich Met, den Honigwein. Wenn er sich umsah, war das Grund zur Vorsicht. Verlangte er Bier, wollte er, dass einer seiner Kameraden an den Tisch kam und ihm ein Spiel zu manipulieren half. Wollte er Wein – nun, dann war eine rasche Flucht nötig. Sie stürmten zu dritt aus der Taverne hinaus auf das kalte Kopfsteinpflaster. Es hatte endlich zu regnen aufgehört, aber die Wolken hingen noch immer schwer am Himmel. „Sargas, renn zu den Anderen, sie sollen aufhören und sofort zum Schiff kommen, wir müssen unverzüglich ablegen!“ wies der Elb seinen Schützling an. Der Junge nickte eifrig und stürmte davon, so rasch, dass man ihm kaum hätte folgen können. Ein eilfertiger kleiner Knabe – ein Waisenkind, aber immerhin hatte er Gilian, der sich seiner schon seit Jahren annahm. Nun wandte sich der Kapitän erneut an den Neuling, der ihn so furchtsam anblickte, als fürchte er, der berühmte Kapitän Gilian würde ihm nun das Wasser aus den Adern saugen. Ein hässlicher Zauber, der durchaus im Repertoire des Spitzohres verfügbar gewesen wäre, doch dieser Grünschnabel war solcher Mühe gar nicht wert. „Du nimm das hier, geh zum Hafenmeister und drück’s ihm in die Hand, dann wird er uns auslaufen lassen. Bete zu Eumenes, dass er den Proviant schon auf Vorschuss eingeladen hat!“ erklärte der Kapitän dem Neuling und eilte in die selbe Richtung wie jener davon. Nach einigen Minuten zweigten sich die Straßen ebenso wie ihre Wege, der Grünschnabel strebte zum Hafenmeisterquartier zu, während Gilian nur sein kostbares Schiff im Sinn hatte. Als er es endlich sah, wie es ruhig und friedlich im Hafen lag, atmete er einen Moment durch. Elbische Kondition hin oder her, so ein Sprint durch die halbe Stadt machte jeden müde und als Seebär war er solche Rennerei einfach nicht mehr gewöhnt. Doch dort lag sie, unbeschädigt und nicht etwa von zwei der mächtigsten Piratenschiffe auf See eingekreist. Sie war ein Schmuckstück, ein Verbundswerk. In seinem Kahn vereinte sich das elbische Wissen um Schönheit und federleichte Bauweise mit der menschlichen Kenntnis der See und des Kampfes darin. Er eilte dem Schiff zu, wenngleich auch nicht mehr ganz so hastig und begann die Taue zu lösen. Über die Planke an Bord geraten, stellte er zufrieden fest, dass der Frachtraum unter Deck – einer von vielen – tatsächlich voll beladen war. Nach und nach traf seine gesamte Crew wieder ein. Fünfzehn Mann insgesamt, mehr brauchte es nicht. „Los los, sputet euch, Sturm zieht auf!“ drängte Gilian zur Eile und verschwand mit Sargas unter Deck. Sie stromerten eine Weile zielstrebig durch die Korridore, vorbei an der Kombüse, vorbei an Fracht – und Lagerräumen, an den Kabinen der Crew, tiefer und tiefer in die Eingeweide des Schiffes. An Deck herrschte reges Treiben. Man wusste, dass der Hafen rasch verlassen werden musste. Die Meisten waren Menschen, einen Zwerg hatten sie dabei und zwei Orks, aber alle, ob nun über höhere Kräfte gebietend oder nicht, gaben ihr Bestes. Man sah die Sturmwolken am Himmel, man sah den Hafen in aufwallenden Winden und als die Segel gesetzt waren, da sah man mit ersten Befürchtungen auch die Silhouetten der zwei massigen Kriegsschiffe, die auf die kleine Hafenbucht zuhielten. Es stand auf Messers Schneide, ob sie ohne einen schweren Kampf würden entkommen können. Gilian jedoch hatte eine Geheimwaffe. Genau genommen, hatte er mehrere Frachträume voll mit Geheimwaffen, aber hier nun suchte er eine sehr Spezielle, die zu finden Sargas ihm helfen musste. Neben dem Kapitän war das kleine Waisenkind der Einzige an Bord, der die Befugnis des Elben hatte, diesen tiefsten Frachtraum des Schiffes zu betreten – alle anderen würden schmerzlich lernen müssen – oder hatten diese Erfahrung bereits gemacht –, dass der alte Elb sich gut mit Schutzzaubern auskannte. Viele Türrahmen und Korridore waren mit feinen elbischen Runen verziert und inzwischen wussten auch alle, dass man sich besser an Gilians Wort hielt. „Es sind Glyphen, sie scheinen rot zu ein, sind auf der Rückseite flach und klebrig, bestehen aber aus massivem Basalt...!“ erklärte jener, den Sargas als Vater betrachtete. Gemeinsam durchwühlten sie den Frachtraum, fanden die nötigen sechs Glyphen und hasteten den Weg wieder zurück an Deck. Unlängst hatte der Sturm die Segel erfasst und trieb das Schiff rasant aus der Bucht – und den Piraten entgegen. Als der Kapitän an Deck erschien, wollte die Crew schon um Anweisungen flehen, weil sie allmählich beim Anblick der immer größer werdenden Schiffe ahnten, dass sie keine Chance hatten. Aber ehe es dazu kam, erteilte ihr Kommandant eben jene und ließ die sechs Glyphen auf dem Schiff verteilen. Sie wurden gegen die Bordwand gedrückt und saugten sich förmlich daran fest, fast augenblicklich begannen die rot eingravierten Runen zu leuchten und die ihnen innewohnende Magie zu entfesseln. Nun blieb nur zu hoffen, dass die Kapitäne sein Schiff noch nicht als ihr Ziel erkannt hatten. Sie standen an Deck, bangend und insgeheim zu ihrer aller Herrin Eumenes betend, als ihr plötzlich wie eine Nussschale wirkendes Schiff zwischen den gewaltigen Kanonenfesten hindurch glitt. Für die Piraten, die an Deck standen und herab sahen, war dort nur ein erbärmlicher Fischkutter mit einer verängstigt an Deck stehenden Mannschaft. Der Pirat, den Gilian in der Taverne niedergeschlagen hatte, würde später auf sein Schiff zurückkehren und die Mannschaft dafür rügen, sich so idiotisch blenden zu lassen – welcher Fischkutter zog schon bei aufkommendem Sturm auf die offene See hinaus! Doch da war es auch längst schon zu spät. Sie hatten den Schiffsbauch voller Proviant, sie hatten sogar noch ein paar Extraeinnahmen gemacht und sie waren der Klaue der Piraten entkommen. Gilian stand an der spitz zulaufenden Front seines Schiffes, streichelte fast schon verliebt über das von Gischt feuchte Holz und klopfte darauf, als hätte die List einzig dank der Sammlung von Holz und Metall funktioniert. Niemand aus seiner Mannschaft wagte zu fragen, warum sie fliehen mussten. Niemand wagte zu fragen, warum Piraten hinter ihnen her waren. Und niemand fragte, woher die Glyphen kamen. Die meisten Crewmitglieder waren alt eingesessene Seemänner. Sie segelten seit Jahren unter dem Kommando des Elben und wussten, dass er schweigsam war. Was er erzählen wollte, das würde er schon von sich aus preis geben – nachfragen hatte einfach keinen Sinn. Nur der Grünschnabel, den sie vor zwei Wochen in einem Hafen auf dem Kontinent aufgenommen hatten – ein ehemaliger Bauerssohn – hatte zu fragen gewagt. Dafür durfte er auch prompt das Deck schrubben. Nicht, weil er eine Frage stellte, hatte Gilian ihn bestraft, sondern weil seine Kameraden ihn genau davor gewarnt hatten und er diese Warnung ignoriert hatte. Eine Crew musste zusammen halten, musste einander glauben und blind vertrauen können, sonst würden sie sich allesamt schnell auf dem Meeresgrund wiedersehen. „Wohin Kurs?“ grunzte der Ork, der gegenwärtig das Steuer in seinen muskulösen Armen fest hielt, während der Sturm verzweifelt mit ihm um die Herrschaft über das Schiff stritt. Gilian schritt an der Grünhaut vorbei und besah sich den Himmel. „Dreh in den Wind, wir folgen Eumenes‘ Willen. Dass wir entkamen, verdanken wir ihr. Wir sind ihr etwas schuldig.“ erklärte der Elb nunmehr wieder halbwegs zufrieden und zog sich in seine Kajüte zurück. Die Tage zogen dahin und das Wetter begann die Crew zu langweilen. Es herrschte starker Wind – was eigentlich hätte gut sein müssen – und beständiger Regen. Die Sonne sahen sie höchstens irgendwo weit im Osten aufgehen, doch dann stieg sie höher und verschwand unter der dicken Wolkendecke, die seit Tagen schon mit ihnen mit zu ziehen schien. Als würden sie auf der ersten Welle dem Strand entgegen reiten, ihn aber nie erreichen, schob der Sturm das kleine Schiff beständig vor sich her. „Wohin segeln wir?“ wollte Sargas neugierig wissen und lugte mit den Augen über die Tischplatte. Sein Ziehvater hantierte mit Zirkel und Linealen, steckte die Karten ab und legte hier und da die Stirn in Falten. Der Junge aber, kaum von Gilian bemerkt, quiekte heiter auf und rannte davon – der Elb hatte einen kleinen Tintentropfen aus dem Fass gehoben und dem Burschen an die Stirn ‚geworfen‘. Während der Junge versuchte, sich die Tinte abzuwischen und dabei auf herzerweichende Weise eine Art kindlicher Kriegsbemalung zurecht schmierte, beendete der Elb seine Arbeit und erhob sich schließlich mit einem knappen Murren. Er nahm auf einem kleinen Sofa in seiner stattlichen Kabine Platz, klopfte neben sich auf den Stoff und lachte kurz auf, als er Sargas mit blau verschmiertem Gesicht herbei eilen sah. Der Junge rollte sich auf der Sitzgelegenheit zusammen und barg den Kopf auf dem Schoß des Kapitäns, welcher ihm nunmehr mit langen, schmalen Fingern durch die Haare glitt. „Nach Lumiél. Wenn der Kurs sich nicht ändert, reisen wir nach Lumiél zurück. Der Sturm trägt uns direkt nach Lithlad. Eine Elbensiedlung.“ Selbst der Bursche konnte ihm anhören, dass er darüber nicht unbedingt erfreut war. Gilian war im Grunde ein Abtrünniger seines Volkes. Er verehrte und beschützte eine Konstruktion aus dahin geschlachteten Bäumen, behauen mit dem Boden entrissenen Erzen und Metallen, er segelte mit Orks, Zwergen und Menschen und verhielt sich stets so untypisch für seinesgleichen. Gilian hatte dazu einst einen guten Satz geprägt, der sein Denken nur allzu gut wiedergab: Ich kann sein, was ich sein muss, um zu bekommen, was ich will. Man hatte ihn verstoßen, lange nachdem er auf See sein neues Leben gefunden hatte. Es hatte ihn nie weiter gekümmert, aber der Gedanke, sich nun wieder mit der steifen, hochnäsigen Art seines Volkes abgeben zu müssen, deprimierte ihn. Kaum zwei Wochen später – um den Proviant sah es schon wieder eher mager aus – kam das fremde Land in Sicht. Die ersten Inseln Lumiéls streiften an ihnen vorbei und am Horizont ragte der gewaltige Höllenschlund auf. Der Vulkan brach von Zeit zu Zeit aus, scheinbar völlig willkürlich. Gilian hatte einst versucht, etwas darüber heraus zu finden, war jedoch nach halber Arbeit ins Stocken geraten. Scheinbar kamen die Ausbrüche dann, wenn besonders viele Schiffe vor der Küste kreuzten, doch das weiter zu erforschen, müsste man eine Expedition führen - an Land, und das kam ja nicht in Frage! Die See war sein Heim, er lebte hier und eines Tages würde er auch hier den Tod finden, einkehren in Eumenes kaltes Reich. Die Crew war über den Kurs genauso unglücklich wie ihr Kapitän. Natürlich wussten sie nicht, dass Gilian bei den Piratenclans in Sundergrad hoch verschuldet war, sie wussten auch nicht, dass diese Schuld einfach mit den Plänen und Gerätschaften im untersten Frachtraum hätte beglichen werden können, aber ihnen war zumindest zweierlei klar: Die Piraten kamen definitiv aus dem Inselreich und der Kurs nach Lithlad konnte nur bedeuten, dass Gilian die nächsten Tages deutlich schlechterer Laune sein würde. Es war die dritte Nacht, in der sie unschlüssig in den Gewässern vor Lumiéls Südküste kreuzten. Niemand konnte sich so recht entscheiden, ob sie an Land gehen sollten oder nicht. Von Verfolgern fehlte jede Spur, kein anderes Schiff war in Sicht, also hatte man still und heimlich, ein jeder für sich, entschieden, das Problem auszusitzen, bis der Mangel an Proviant sie zum handeln zwingen würde. Keine sonderlich noble Verhaltensweise – aber immerhin würde sie zuverlässig funktionieren. Drei Mann hielten Nachtwache. Die Lampen an Deck vermochten kaum ausreichend die Dunkelheit zu vertreiben, damit man mehr als nur die schwarzen Wogen jenseits der Bordwand erspähen konnte, doch für gewöhnlich war das auch nicht nötig – die Crew kannte das Schiff blind und Feinde waren nicht nahe genug, für die sie vielleicht nun ein hell strahlendes Ziel abgegeben hätten. Tatsächlich jedoch war diese Nacht eben anders. Ein abgehackter Schrei leitete eine Reihe unruhiger Stunden ein, eine der Lampen stürzte zu Boden und zerbarst, direkt daneben schlug klirrend die Lanze auf. Sofort waren die zwei anderen Männer herbei, fanden Lampe und Waffe – und eine Menge Blut. „Alarm! An Deck!“ keifte der Ork mit tief durchdringender Stimme, „Angriff!“ heischte er aus vollen Lungen. Er sah noch einen Schatten auf sich zu rasen, da duckte sich die Grünhaut in letzter Sekunde weg. Seine Schulter wurde von etwas fürchterlich Scharfem zerkratzt, ja fast schon filetiert. Er jaulte einen Moment auf, packte die am Boden liegende Lanze und schleuderte sie zielgenau in die Schwärze. Ein durchdringender, gellender und glockenheller Schrei ertönte, ehe jenseits des Schiffes etwas ins Meer stürzte. „Harpyien!“ kreischte der zweite Nachtwächter den an Deck strömenden Matrosen entgegen. Zwei seit langer Zeit verstaubte Kisten wurden ihrer Deckel beraubt, das Holz zurückgeworfen, während man die darin befindlichen Lanzen und Säbel austeilte. „Sargas, geh in meine Kabine und bleib dort, schließ dich ein!“ befahl Gilian und packte eine der Lanzen. Er zielte und warf – ein erneuter Schrei zerriss die Nachtluft. In manchen Ländern, so fiel es Gilian völlig unpassend ein, wurden sie die ‚Krallen der Nacht‘ genannt. Ein Schwarm umkreiste das Schiff, wie viele genau, war nicht zu sagen. Immer wieder brachen sie herab und versuchten einzelne Crewmitglieder zu isolieren, zu verletzen, über Bord zu stoßen oder zu fassen zu bekommen, um sie in die Höhe zu zerren. Einzig Gilian vermochte rechtzeitig dank seiner elbischen Augen vor den Attacken zu warnen. „Köpfe runter!“ befahl er gerade erneut, da schwebte ein Schatten blitzschnell über sie hinweg. Dem Kapitän jedoch ging die Geduld aus. Er brach aus der Kreisformation aus, hastete zu einer der Holztruhen und machte sich damit selbst zum Ziel. Eine weitere Harpyie stieß mit gellendem Schrei herab und wollte den Elb zerfleischen, da riss der sich herum und schleuderte ein Netz dem Vogelweib entgegen. Die Enden und Ausläufer des soliden Stückes waren mit kleinen Gewichten beschwert, die Flügel verfingen sich hoffnungslos und die Harpyie stürzte auf Deck zu Boden. Zwei der Orks hatten indes ebenso ihre Pläne geschmiedet, postierten sich mit Schnapsflaschen an der Reling und stießen eine Flammenfontäne brennenden Alkohols durch die Lampen auf die Angreifer. Wie viele der Vogelweiber es auch gewesen sein mochten – zwei ihrer Schwestern waren tot, eine gefangen und die Crew nur um einen Mann dezimiert. Ein schlechter, ein verheerender Schnitt, der sie letztlich zum Rückzug bewog. „Ist dir mal aufgefallen, dass uns so eine Scheiße immer nur nachts passiert?“ maulte der Zwerg griesgrämig und begann damit, die Lanzen wieder in die hölzernen Kisten zu packen. Drei der kräftigeren Männer versuchten indes ihre Gefangene irgendwie samt Netz in einen der Frachträume zu schleppen, so, wie Gilian es befohlen hatte, doch sie wehrte sich so horrent, dass sie keinen Zentimeter voran kamen. Schließlich packte der noch heil gebliebene Ork dreist das Weib bei der Kehle, ignorierte, wie sie ihm die Brust zerkratzte und schlug mit der Faust zu. Ihre Glieder erschlafften und aller Widerstand fiel. Die Männer blickten die Grünhaut einen Moment verwundert an. „Man schlägt keine Frauen...“ brachte der Erste schließlich eben das hervor, was ihn von derlei abgehalten hatte. Der Ork aber richtete sich breit grinsend und damit die Zähne bleckend auf. „Bei uns das ‚Werben‘!“ meinte er, lachte herzlich und tief röhrend über die Blicke, die ihm daraufhin zuteil wurden und zog das Netz zusammen. Die Nacht zog vorbei, doch sie blieb unruhig. Fünf Mann hielten Wache, der Neuling musste – nachdem er sich dreimal über die Reling übergeben hatte – das Deck schrubben und selbst von den verbliebenen Neun bekam keiner Schlaf. Sie hatten ihren Koch verloren. Zugegeben, das war nicht das eigentliche Problem, Köche gab es wie Sand am Meer. Schlimmer war: Sie hatten einen Freund verloren. Der Morgen dämmerte bereits herauf, da wurde das Vogelweib erstmals seit dem Schlag wieder wach. Fast augenblicklich ruckte sie an den Ketten, die ihr nunmehr um Hals, Arme und Beine lagen, doch sie vermochte sich nicht zu befreien. Einstmals war dieser Raum als genau das gedacht gewesen, wofür er nach dem Ausräumen in der Nacht nun wieder diente: Ein Gefängnis. Die Waren auf andere Frachträume zu verteilen, war dabei weniger das Problem gewesen. Die Kettenglieder an die filigranen Gelenke eines exotischen Weibes anzupassen, das war schon schwieriger. Gilian saß in dem sonst völlig leeren Raum grazil wie es nur ein Elb konnte auf einem kleinen Rumfass neben der Tür. Zorn und Hass über die Schmähung der Gefangenschaft brandeten ihm schon im ersten Blick entgegen, sie stieß einen hohen, schrillen Kreischlaut aus, riss erneut an den Ketten. Fast zwei Stunden sah er einfach nur stillschweigend zu, wie sie ihre Energien verschwendete und doch schien es, als würde sie dessen nicht müde werden. „Du kommst nicht frei und bei Tag wird niemand dich zu retten eilen.“ konstatierte der Elb, nachdem es bereits hell geworden war. Die Harpyie jedoch, sich ganz wie eine Furie gebend, rüttelte weiter an den Eisengliedern, als wäre sie ihn zu verstehen nicht fähig. „Ich könnte dich frei lassen.“ Ein einziger, knapper Satz und augenblicklich hielt das Vogelweib inne. Misstrauisch blickte sie zu ihm herüber. Mit allem hatte sie gerechnet, einer Hinrichtung, Rache, Folter – aber gewiss nicht mit dem Angebot, nach ihrer Gefangennahme sie einfach wieder ziehen zu lassen. „Dann tu es!“ befahl sie mit einer Stimme, die lieblich hätte wirken können, läge darin nicht die Kälte jenes Meeres, das Gilian so schätzte. Er sprang federleicht von dem Fass herab und wagte sich zwei Schritte näher an sie heran. „Wenn du mich tötest, werden meine Kameraden kommen und dich umbringen.“ erklärte er, glaubend, sich damit eine gute Lebensversicherung geschaffen zu haben. Doch kaum, dass er näher an sie heran trat, preschte das Vogelweib hervor und versuchte ihm die Kehle aufzureißen, schnappte nach ihm, doch die Ketten hielten sie noch immer gut einen halben Meter zurück. Gilian war nicht gewichen, doch in seinem Innersten hatte er erstaunt lernen müssen, dass sich diese Rasse nicht erpressen ließ. „Für deine Freilassung erwarte ich etwas. Ich will wissen, warum ihr uns angegriffen habt. Euer Nest in Lumiél ist, wenn ich mich nicht irre, ziemlich weit von Lithlad entfernt – und bis dorthin müssten wir noch einen guten halben Tag nordwärts segeln.“ „Das geht ich nichts an!“ „Hast du Hunger?“ erkundigte sich Gilian und ließ seinen ‚Gast‘ damit erneut stutzen, „Falls du welchen bekommst, kannst du nach mir rufen. Ich bin mir sicher, du kannst laut genug schreien.“ Gilian verließ die kleine Arrestzelle und kehrte in seine Kabine zurück. Er war erschöpft, versuchte Schlaf nachzuholen und es gelang ihm doch nicht. Eine der Ihren, vielleicht sogar eben jene, hatte einen seiner Männer auf dem Gewissen. Sie hatten sie angegriffen, in der Nacht, ohne Vorwarnung versucht, jeden an Bord abzuschlachten. Warum? Es gab in den Ödländern Südlumiéls viel bessere, viel leichtere Ziele. Harpyien waren Jäger, sie legten es nicht auf Krieg oder Herausforderungen an, sie wollten einfach nur Beute, Nahrung für sich und ihresgleichen. Wozu so eine lange Reise antreten? Niemand in der Crew war einverstanden damit, das Vogelweib an Bord zu behalten – oder leben zu lassen. Aber so sehr der Wunsch nach Rache in ihnen schwelte, sie wagten nicht, das Urteil ihres Kapitäns in Frage zu stellen. Selbst Sargas erklärte in den Stunden, da er um Gilian herum wuselte, dass er Angst vor dem Wesen hatte. Sie sei garstig und gemein und gefährlich – was nur, wenn sie sich losreißen würde? Es brauchte fast eine Stunde, ehe der Elb einen Schützling hatte beruhigen können und das gelang ihm auch nur, weil der Bursche einfach einschlief. Zwei weitere Tage strichen dahin und die Situation besserte sich nicht. Der Proviant würde für bestenfalls vier Tage noch reichen, Nacht für Nacht kehrten die Harpyien zurück und fanden das Schiff trotz gelöschter Lichter auf der See wieder. Sie setzten an Deck auf und versuchten die Crew anzugreifen, doch in den engen Gängen und Korridoren verloren sie jedweden Vorteil. Ihre Gefangene indes erwies sich als wenig redselig, doch in der Nacht zum dritten Tage endlich rief sie nach Gilian. Der Hunger plagte sie. Ganz wie gewünscht, wie beabsichtigt, vermochte sie nicht länger den Widerstand zu halten – sie war ausgezehrt. Das verriet dem Elb viel darüber, wie viel Nahrung eine einzige Harpyie brauchte – der Bedarf eines ganzen Großnestes musste gewaltig sein. Doch selbst das bot keine Erklärung, warum die Vogelweiber das Schiff anfielen, wieder und wieder, ungeachtet ihrer Verluste. Als er mit einem guten Vorrat abgehangenen Schinkens – der Letzte aus der Kammer – wieder zu ihr zurückkehrte, hingen die Augen des Weibes einzig am Fleisch. Es war nicht mehr warm, nicht mehr blutig, zuckte und schrie nicht, doch für den Anfang war abgehangener Schinken besser als gar nichts. „Wir spielen ein Spiel.“ schlug der Elb ungeachtet ihres erbärmlichen Zustandes vor und nahm wieder Platz auf seinem Fass, „Ich stelle eine Frage, du antwortest. Wenn ich zufrieden bin, bekommst du etwas zu essen. Verstanden? Gut. Wie heißt du?“ Die Harpyie schien mit der Regelung so gar nicht einverstanden, überhaupt nicht zufrieden, doch ihr blieb schlicht keine Wahl. Sie wollte nicht antworten, doch da erhob sich das Spitzohr und wollte augenscheinlich gehen – ihr jedoch lag nichts daran, zu verhungern. Sie wollte zu ihren Schwestern und ihrer Brut zurückkehren und was war schon Übles daran, einen Namen zu nennen? „Orykene...“ brachte sie hervor und fing das erste Stück Schinken, grob und guten Gewissens mit dem kleinen Messer in Gilians Händen herausgetrennt, noch in der Luft auf. „Sehr erfreut, Orykene. Mich nennt man Gilian, ich bin der Kapitän dieses Schiffes, sein Befehlshaber.“ „Elben... haben Nachnamen.“ gab das Vogelweib einen Teil ihres Wissens preis und versetzte damit nunmehr das Spitzohr in Staunen. Von ihresgleichen hieß es stets, außer Brut und Jagd würden sie sich für nichts interessieren und nun zeigte sich, dass diese Gefangene etwas über das Elbenvolk wusste – etwas, das ihr zweifellos weder bei der Brutpflege, noch der Jagd würde helfen können. „Elben gehören nach Ansicht der Elben nicht unbedingt auf See, schon gar nicht in Schiffe oder die Gesellschaft von Orks und Zwergen. Ich habe nicht mehr das Anrecht, meinen Familiennamen zu tragen.“ Einen Moment neigte Orykene das Haupt zur Seite, betrachtete den Elb und erkundigte sich auf eine eigentümlich unterhaltsame Weise, ob man ihn denn seines ‚Nestes‘ verstoßen habe. Er nickte, obgleich eine elbische Enklave natürlich keinem Nest gleich kam. Als das Vogelweib dann jedoch ihr Beileid bekundete und darüber sprach, was für eine schreckliche Vorstellung es für sie sei, ihren Hort zu verlieren, staunte Gilian schon zum zweiten Mal. Erst ihr dezentes „Mehr!“ brachte ihn wieder in die Bahn zurück und er fütterte sie weiter. „Warum habt ihr uns angegriffen?“ „Es wurde uns befohlen.“ „Von wem?“ „Menschen. Menschen auf Schiffen. Piraten.“ Einen Moment lang hätte Gilian darüber schmunzeln wollen, wie rollend das Vogelweib das ‚R‘ aussprach, doch das angedeutete Lächeln verging ihm schnell. Die Geschehnisse um ihre Flucht, die Rückkehr nach Lumiél, die Schuld in Sundergrad – und jetzt von Piraten gesandte Harpyien? Das konnte wohl kaum ein Zufall sein. „Ich dachte immer, niemand kann euch befehlen? Wie kam es dazu?“ „Da ist ein großes Nest. Im Süden, am Wasser. Da sind die Menschen. Sie haben etwas gekauft, das uns gehört, uns gestohlen wurde.“ In diesem Moment fiel es dem Kapitän wie Schuppen von den Augen. Alles, ja wortwörtlich alles konnte man auf den Märkten Sundergrads kaufen. Wie verwunderlich wäre es da, dort auch Harpyieneier zu finden? Irgendwelche Narren waren sicherlich irgendwann dumm genug, das Nest bestehlen zu wollen und im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis ihnen das auch gelänge. Solche Eier wären eine Rarität, von unglaublichem Wert – aber auch schwer zu verkaufen. Denn niemand war dumm genug, nicht die Rache der Harpyien zu fürchten. Man wusste, dass den Vogelweibern nur ihre Führerin so wichtig war, wie es ihre Brut ist. Vielleicht hielten sie die Eier für zerstört, vielleicht für gestohlen, aber hatten keine Spur. Es musste ein Schock und üble Überraschung sondergleichen gewesen sein, zu bemerken, dass ihr Verlust ausgerechnet in den Händen von Menschen auftauchte, die sie sogleich damit zu erpressen wagten. Natürlich lag das in der Macht der Piratenclans – sie waren gut darin, Dinge zu kaufen und zu verstecken. Sie hatten schon ganze Schiffe erfolgreich geschmuggelt. „Sie versprachen also, euch die Eier zurück zu geben, wenn ihr uns dafür umbringt?“ „Nein. Wir sollen euch umbringen und ihnen dann sagen, wo euer Schiff ist. Sie wollen etwas von euch. Was wollen sie?“ Überraschend, wie neugierig Orykene werden konnte, wenn es ihr erst einmal wieder etwas besser ging. Dass dieser Charakterzug für eine Harpyie überdies recht ungewöhnlich war, vermochte Gilian natürlich nicht einzuschätzen. Er überlegte schlicht, ob er ihr die Wahrheit sagen konnte, ob es überhaupt irgendeine Veranlassung gab, dies zu tun. Vor Jahren schon war er im Auftrag der Piraten nach geheimen, ungemein kostbaren Seekarten gesegelt, hatte Position bezogen, mitten im Meer, eine Schar von Zaubereien und Runen benutzt, um kostbarste Schätze vom Grund der tiefen See zu bergen. Ein Unterfangen, das Tausende Gulden verschlungen hatte – und nun ruhten geheime Pläne und Glyphen, Wrackteile und Kanonenbausätze im Schiffsrumpf. Der ganze Lagerraum war voll mit den Geheimnissen Vyndarths, des versunkenen Reiches. Vor vielen tausend Jahren ihres Hochmutes und der Götterfrevelei wegen von Eumenes selbst in die Tiefen ihres Reiches zurück gezogen, verfügte die Kriegsmarine des Inselreiches über Waffen jenseits aller Vorstellungskraft, über Techniken, die die Zwerge erblassen ließen und Magien, dass selbst den Elben die Kiefer herab klappen würden. Gilian hatte diese Geheimnisse ans Licht gebracht. Er war fast schon berühmt dafür, dass Eumenes ihm wohlgesonnen schien. Als er die Technologien und Magien des Reiches aus Eumenes Schoß barg, da strafte sie ihn nicht für diese Dreistigkeit. Aber er hatte die Piraten betrogen: Er hatte sich die Pläne angesehen, die Waffen studiert, die Runen erforscht und feststellen müssen, dass eine solche Macht niemals in die Hände der Piratenclans würde fallen dürfen. Die Gewässer wären nimmer sicher, nicht für Händler, nicht für Marine, für niemanden! Ein Vermögen, mit dem man Staaten hätte kaufen können, ruhte ungenutzt in seinem Schiffsrumpf. Doch Gilian schwieg darüber, schüttelte den Kopf und lächelte der Harpyie zu. Er erhob sich vom Fass, trat näher an sie heran – nah genug, dass sie ihm die Kehle hätte aufreißen können. Sie wusste das, er wusste das, und dennoch verweilten sie dabei, einander kritisch zu mustern. Der Elb hockte sich vor seine Gefangene und reichte ihr das gesamte Fleisch. Noch immer misstrauisch, nahm sie die Gabe und machte sich rasch darüber her. „Allzeit lag mir stets nur eines am Herzen: Die See. Ich wollte mit einer Hand voll guter, tapferer Männer und Freunde im Schoße meiner Göttin kreuzen. Als junger Spunt mit Flauen im Kopf stand mir der Sinn nach Abenteuer und Schätzen. Heute ist die See mein Heim und ich will sie nicht verlassen müssen. Ich schlage dir einen Handel vor, Orykene, dir und deinem gesamten Nest. Ich lasse dich frei, wenn du die Kunde als Botin überbringst.“ „Was willst du vorschlagen?“ „Ich beschaffe euch die Eier und gebe sie euch. Im Austausch dafür verschont ihr meine Crew und mein Schiff, von jetzt an bis zu dem Tag, da euer Nest oder mein Leben vergeht.“ „Warum solltest du das tun? Wenn wir euch töten, dann-„ „Nein, eben nicht.“ unterbrach Gilian sie mit einem triumphierenden Lächeln, „Du weißt das. Sie werden euch die Eier niemals geben. Ihr seid zu schlagkräftig. Sie würden nie auf den Luxus verzichten wollen, sich nie wieder selbst die Hände schmutzig machen zu müssen.“ Orykene beugte sich langsam vor, ein bedrohliches Funkeln und Blitzen in ihren Augen, während sie mit den rasiermesserscharfen Krallen fast schon zärtlich über Gilians Wange strich – nur um ein Haar zu wenig Druck, um sie aufzuschneiden. „Und warum solltest du das dann wollen? Wer sagt, dass wir nicht eine Geißel gegen die Nächste tauschen?“ „Weil ich als Gewinner aus dieser Sache heraus gehen werde. Ihr habt nichts zu verlieren, wenn ihr darauf eingeht. Den Piraten könnt ihr ja erzählen, ihr hättet uns nicht gefunden oder wir wären alle tot oder dergleichen – ich werde nicht einmal ein viertel Jahr brauchen! Wenn wir euch betrügen, dann könnt ihr immer noch kommen und uns alle töten, denn dann habt ihr nur ein Schiff, das euch erpresst, statt ganzer Flotten. Und ich... sagen wir: Um in den Besitz der Eier zu kommen, muss ich Besitzer der Piraten werden... was zeitgleich auch meine Schulden bei diesen Halunken für nichtig erklären würde und da sie mir in den letzten Jahren zunehmend näher rückten, wäre ich über solch eine Regelung wahrlich nicht traurig.“ Noch ein kleines Stück näherte sich das Vogelweib seinem Gesicht, lotete die listig drein blickenden Augen des Elben aus und erkannte trotz ihrer gründlichen Suche keine Lüge darin. Gilian hob die Hand, vorsichtig und langsam, strich über das Gefieder ihrer Flügel und verschaffte der Harpyie ein wohliges Schaudern, dass sie vor ihm zurück wich, nur um Sekundenbruchteile später wieder näher zu rücken. Fasziniert von jener Reaktion, führte der Elb seine Fingerspitzen grazil über das fragile Flugkonstrukt ihres Leibes und ließ gar ein verhaltenes Lächeln zu, als sein Gast ihm eben Selbiges schenkte. „Wir wissen nicht, welcher Clan uns bestohlen hat – wie gedenkst du aller Clans habhaft zu werden?“ verlangte Orykene zu wissen, doch das Lächeln auf Gilians Lippen zog nur zu einem breiten Grinsen auseinander. „Es gibt immer Mittel und Wege...“ flüsterte er triumphierend und löste die Ketten von ihren Gliedern. Noch in der gleichen Nacht geleitete er die Harpyie an Deck. Sie spreizte die Flügel, warf einen letzten, schwer zu deutenden Blick zum Kapitän dieses Schiffes zurück und schwang sich grazil und lautlos in den Himmel empor. Einen Moment blickte der Elb ihr nach, ehe er seine Männer an Deck zitierte. „Los, setzt die Segel, wir haben einen langen Weg vor uns!“ kommandierte er und lächelte zufrieden, als Eumenes ihm einmal mehr ihre Gunst zu erweisen schien: Kaum herabgelassen, blähten die Winde das Segel und trieben das Schiff voran. Lithlad würde warten müssen, denn kein Elb mit Stolz und Ehre – und angeblich waren dort nur derlei zu finden – käme auf die Idee, sich als Dieb zu verdingen. In Varakas jedoch würden sich gewiss ein paar Zwerge dafür finden lassen. Man musste ihnen nur von allerhand Geschmeide und Gold, von Edelsteinen und anderen Wertsachen erzählen, die irgendwo in Sundergrad rumliegen würden, nur darauf wartend, dass man sie fand und hob. Neben solchen Reichtümern wirkte das eine, kleine Amulett, das Gilian dafür für sich verlangen würde, doch fast schon erbärmlich... Als sie Tage später an Land gingen, war der Elb bester Laune. „Ich hole uns mal ein paar raffgierige Kurze!“ posaunte er sogar auflachend herum. Nur Halwig Sturmfaust, der einzige Zwerg und Kanonier an Bord, wirkte darüber weniger erfreut und brummelte irgendwas in seinen Bart hinein. Gilian verließ sein Schiff, spazierte den Steg des erbärmlich kleinen Hafens von Varakas entlang und warf, kurz bevor er die Steilküstensiedlung betrat, einen letzten Blick zurück auf sein Schiff und seine Crew, die eifrig dabei war, mit dem Hafenmeister um die Anlegegebühr zu verhandeln. Natürlich hätte er zu diesem Zeitpunkt schlecht ahnen können, dass er mehrere Tage hier fest säße, weil das Fürstenamulett der Sundergrader Piraten nicht nur in Süd-, sondern sogar ganz Lumiél eine kleine Legende war. Kein Zwerg war dumm genug, auf die Geschichte eines Elb herein zu fallen, der von schlecht bewachten Schätzen erzählte. Da musste einfach mehr dahinter stecken. Es war schließlich ein merkwürdiges Gespann, das seiner Not Abhilfe schaffen sollte. Ein Mensch und eine Elbe, er ein blasser Hänfling von allerhand Fingerfertigkeiten, der vor seinen Augen den Dolch der Sundergrader Diebesgilde in das Tischholz zu rammen wagte und sie eine Kriegerin mit Schwert und Rüstung. Ein wahrlich skurriler Anblick – aber ihre Notlage war vielleicht hinreichend, ihm bei der Seinen zu helfen... Kapitel 3: Für Honigbrot! ------------------------- Gemächliche Schritte führten ihn durch die Hallen und Gänge. Das alte Mauerwerk arbeitete schon seit Jahrzehnten, Jahrhunderten an seinem Verfall, doch nun war wieder Leben eingekehrt in den Ort, der einstmals von Bauer und Zentaure, von Harpyie und Elb gleichermaßen gemieden worden ward. Bis vor kurzem noch hatte man sich von dieser Festung allerhand Schauergeschichten erzählen können – und das ganz zu Recht. Üble Geister gingen um, ein namenloses Grauen. Doch inzwischen waren bereits mehrere Mondzyklen vergangen, seit Thorin und seine Schar eben dieser Geißel die Grenzen aufgewiesen hatten. Trotz der schweren Stiefel, der Lederpanzerung und der massiven Axt auf seinem Rücken wirkten seine Schritte fast beschwingt. Den Hauch eines leichten Lächelns trug er auf den Lippen, seine Augen schweiften immer wieder über den Korridor und seine Wände. Geschäftig strömten ihm hier und da Männer und Weiber allen Alters und aller Rassen entgegen. Die Festung wurde wieder aufgebaut, nach und nach. Man füllte die Keller mit Vorräten, nachdem die Zwerge sie endlich hatten trocken legen können, die Elben mühten sich um eine gute Tarnung, indem sie den Wald um den Steinhaufen herum etwas dichter sprießen und gedeihen ließen – natürlich auch dank Medea. Doch Elben, Zwerge, tropfende Wandrisse und halb eingestürzte Türme waren seinen Gedanken völlig fern. Thorin hätte besorgter sein müssen, als er es war. Morgen würde wieder ein Trupp ausziehen und eine ungemein wichtige Mission durchführen. Er hätte sich sorgen müssen, weil Ninafer Teil dieses Trupps war. Inzwischen war es längst kein Geheimnis mehr, welcherlei Interesse beide aneinander hegten, im Gegenteil, es schien fast, als würde die Tatsache, dass selbst unter so wideren Umständen Liebe gedeihen konnte, den Rebellen jeden Tag aufs Neue ein klein wenig Kraft geben. Seine Sorge fehlte einzig aus dem Grund, dass er selbst würde aktiv werden können. Er vermochte in eigener Arbeit etwas zu tun, um seine Befürchtungen zu reduzieren und war gerade auf dem Weg zum Ort eben jenes Geschehens. Durch eine große, schartige Eichentür, deren zwei gewaltige Flügel er mühsam aufstieß, gelangte der Axtträger auf einen kleinen Innenhof der Burgruine. Strohpuppen standen herum, manche von Naru im Spaß mit ein paar Graßbüscheln oder Moosmatten bedeckt, um Haare oder Gesichter nachzuahmen. Viele von ihnen waren schon reichlich ramponiert – sie dienten immerhin als Übungsmöglichkeiten. Jeder Bürger Lumiéls, der gegen den König war, wurde als Rebell abgestempelt und gehängt. Damit blieb den Meisten nicht mehr viel Wahl und die Feste bot einen guten, sicheren Halt, um darin das eigene Leben zu retten und effektiv etwas zum Wandel des kleinen Inselreiches beizutragen. Viele Bauerssöhne hatten hier unter fachkundiger Hand gelernt, was es bedeutete, eine Klinge zu führen oder eine Pike zu stoßen, einen Bogen zu spannen oder einen Schild zur Waffe zu machen. Snorri, Raven, Garien und unzählige Andere waren tagtäglich damit beschäftigt, die neuen Rekruten bestmöglich auszubilden. Wer bereits gut kämpfen konnte, wurde zum Aufbau der alten Mauern eingesetzt und selbst jetzt noch musste Thorin grinsen, als er endlich ins Freie trat, ihm der warme Südwind um die Nase strich und sein Blick wider des grellen Tageslichtes auf die gewaltigen, aufklaffenden Löcher in der einstigen Befestigung fiel. Er ignorierte einen Moment die Kampfgeräusche, wie Metall auf Holz und Stein traf, lauschte den Vogelgesängen, die irgendwo vom Wald her zu ihm drangen und öffnete erst einen Augenblick später wieder die Lider. Tatsächlich waren kaum mehr als vier Rekruten an den Aufstellungen des kleinen Parkours zugange. Vier Rekruten – und Ninafer, ganz wie er es befohlen hatte. Er war fast ein wenig erstaunt, sie tatsächlich hier vorzufinden. Ein Teil seiner Selbst hatte damit gerechnet, sie in der gesamten Burg suchen zu müssen, nur um sie Frechheiten mit Naru ausheckend in irgendeiner Besenkammer zu finden, flüsternd, kichernd und die Kekse der seltenen Lieferungen naschend. Doch dort stand sie, die einstige Adelsdame, den Bogen in der Hand und mit dem Pfeil auf der Sehne. Allerdings sah das schon von weitem so gefährlich aus, als würde sie das Stück Holz gleich bis zum Federkiel in der Tür versenken – zu der sie mit dem Rücken stand. Thorin schmunzelte, schüttelte den Kopf und trat näher an sie heran. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren oder sich an den Blicken der Rekruten zu stören, positionierte er sich hinter Ninafer, legte die Hände auf ihre Hüfte und rückte sie ein kleines Stück zurecht. Mit dem Fuß umfing er ihr rechtes Bein, zog es bis zu einer stabilen Grundposition zurück und legte nunmehr seine Arme über die Ihren. Ganz unwillkürlich kam er ihr bedeutend näher, zog einen Moment durchaus den Augenblick genießend ihren betörenden Duft ein, ehe er ihr half, eine weniger bequeme, dafür jedoch deutlich erfolgversprechendere Position für den Pfeilschuss zu finden. „Gerade halten, mit der Linken fest packen, als würdest du das Holz erwürgen wollen...“ flüsterte er ihr leise zu, strich mit der Rechten ihren Unterarm herauf und lächelte über das fast schon mädchenhafte Kichern und den Umstand, dass sich die feinen Härchen auf ihrem Arm aufstellten. Er umschloss ihre Hand, führte den Pfeil auf die Sehne und spannte das Geschoss. „Gut zielen. Lass dir Zeit, das hier ist kein Wettrennen. Im Kampf kannst du es dir nicht leisten, zehn Pfeile daneben zu setzen, wenn ein einziger Treffer reichen würde. Bleibe ruhig, ziele genau und-“ Zack, da war der Pfeil auch schon davon geschnellt. Zugegeben – sie hatte immerhin die Zielscheibe aus Stroh getroffen, wenn auch nur irgendwo am Rand. Ein Feind von der Größe eines Trolles würde sich jetzt vermutlich über einen Holzsplitter in seiner Schulter ärgern. Aber immerhin – ein Treffer war besser als völlig daneben und dass es bisher so abgelaufen war, bewies die kleine Schar an Federkielen, die weiter hinten im Rundgang herum lagen und nur vage zu erspähen waren. „Du hast zu früh los gelassen.“ meinte er in bester Absicht, doch Ninafer ließ lediglich den Bogen sinken und begann in einer regelrechten Tirade darüber zu nörgeln, wie ungerecht es sei, sie mit Bogen, Schwert und Lanze trainieren zu lassen, wenn sie gar nicht die Notwendigkeit dazu hatte. „Siehst du, genau deshalb lasse ich dich das alles trainieren. Wir befinden uns im Krieg... irgendwann kann es passieren, dass du dich verteidigen musst und ich will... dass du überlebst, dass du dich zu wehren fähig bist, ganz gleich, was für eine Waffe dir auch immer durch Zufall in die Hände fallen mag!“ versuchte er ihr zu erklären, doch natürlich war sie nicht unbedingt zugänglich für derlei Argumentation – schon gar nicht, wenn direkt auf seiner Schulter und von ihm völlig unbemerkt ein Schmetterling saß, der fast schon aufgeregt mit den schillernden, kunterbunten Flügeln schlug. Sie fasste danach, verfehlte ihn und stolperte prompt einen Schritt vor, dass sie in seinen Armen landete. Ein wenig verschmitzt grinste sie zu ihm auf, als er ihr wieder auf die Beine half und zweifelnd den Kopf schüttelte. „Dass ich aus dir niemals eine Kriegerin werde machen können, das war mir ja schon klar, aber dass es so übel ist...“ sinnierte Thorin einen Moment bitter ernst wirkend, ehe Ninafers Schmollmund ihn dazu bewog, doch ein Lächeln zu zeigen. Er nahm der Giftkundigen den Bogen ab, stellte ihn zurück in ein hölzernes Regal voller Übungsgeräte und zog stattdessen zwei Schwerter hervor. Eines warf er ihr zu und rügte sich insgeheim schon in dem Augenblick dafür, als er Ninafer zur Seite springen sah und die Klinge klirrend auf das Pflaster aufschlagen hörte. „War keine Absicht...!“ versuchte er noch seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und trotzdem sah sie ihn auf eine Weise an, als würde er sich die nächsten Tage wieder einmal mit Übelkeit herumquälen dürfen... Stattdessen jedoch hob sie das Schwert auf. Keine Edelarbeit, die Klinge hatte niemals einen Zwergenhammer auch nur zu Gesicht bekommen, doch für den Anfang reichte es und als Trainingswaffe ohnehin! Sie begannen ein paar Grundschläge und Paraden durch zu exerzieren, wie er sie ihr schon seit einigen Tagen zu lehren versuchte. Tatsächlich hatte es auch den Anschein, als hätte sie von allen Lektionen des Waffenkampfes die Schwerttechnik noch am besten mitgenommen. Thorin wagte sogar, es auf einen Probekampf ankommen zu lassen. „Ich werde nicht zurückschlagen, kein Konter. Und jetzt, greife mich an.“ verlangte er ihr ab und tatsächlich wagte die Adlige ihm inzwischen die Stirn zu bieten. Eigentlich hatte Thorin lediglich austesten wollen, wie es sich mit ihrer Technikkenntnis tatsächlich verhielt, ob sich vielleicht gar erste Ansätze eines eigenen Stils würden erkennen lassen – dann hätte er bei den Zwergen ein Breitschwert für sie in Auftrag gegeben –, doch rasch musste der Axtkrieger einsehen, dass seine Herzdame mit jeder Attacke, die er blockte, ohne ihr den Erfolg eines Treffers zu gönnen, ungestümer wurde. Wohin das zwangsläufig führen würde, zeigte sich schon wenig später. Zwischen überaus flinken und geradezu wagemutigen Angriffen umrundete sie ihn wie eine Raubkatze, über die Ungerechtigkeit schimpfend, dass er ihr auch gar keinen Spaß gönnen würde. „Es geht hier nicht um dein Vergnügen, es geht um deine Verteidigung!“ meinte er daraufhin hoffend, dass sie Einsehen haben und sich ernsthafter auf den Kampf konzentrieren würde. Ninafer jedoch erwidere lediglich, dass man doch sicherlich beides kombinieren könne – und spätestens an der Stelle ließ Thorin tatsächlich einen Augenblick perplex das Schwert sinken. Wem machte der Kampf schon Spaß? Ja gut – Raven, Snorri, gelegentlich auch ihm selbst, aber... wer von denen hatte auch Spaß daran, wenn es nur, einzig und ausschließlich um die Verteidigung ging, das ständige Blocken und Kontern, ein fortwährendes Zurückweichen vor Attacken des Feindes? Das konnte sie unmöglich ernst meinen! Doch kaum ein wenig in jener Überlegung versackt, nutzte die einstige Adelsdame ihre Chance und reckte mutig die Klinge. „Für Honigbrot!“ warf sie ihm halb schreiend, halb lachend als persönlichen Schlachtruf zu und stürmte auf Thorin ein. Die Klinge voran, so stellte der Krieger innerhalb von Sekundenbruchteilen fest – eine schlechte Taktik. Er parierte den Angriff mühelos und unterschätzte Ninafer maßlos, wie sich kaum eine Sekunde später zeigte. Statt nun von seiner Klinge abgelenkt zur Seite gelenkt zu werden, das Metall in den Boden zu rammen und von ihm mit der flachen Scheidenseite einen Klaps auf ihr Gesäß zu bekommen, drehte sie sich geschickt unter seiner Blockade hinfort – und schlug ihrerseits ihm mit der flachen Schwertseite auf die Flanke. Natürlich verlor sie trotz ihrer überaus famosen Wende das Gleichgewicht, packte Thorin noch Halt suchend am Kragen und riss ihn beinahe mit zu Boden, hätte er nicht die Waffe fallen lassen und stattdessen rasch die Arme um sie geschlungen. „Mylady Saeryleth, ihr vermögt doch immer und immer wieder zu überraschen...!“ gestand ihr Thorin lobend zu, erinnerte sich dann jedoch ihres Schlachtrufes und musste allzu heiter lachen, „Aber falls wir jemals in den Kampf ziehen, dann lass mich die Rede halten. Ich bin sicher, ‚Für die Freiheit!‘ spornt die Männer besser an als ‚Für Honigbrot‘!“ gab er zu bedenken und schüttelte auf ihre völlig unschuldige Frage, was er gegen ihren Ruf einzuwenden hatte, grinsend den Kopf. Stattdessen neigte er sich noch ein Stück tiefer, wollte soeben ihre Lippen berühren, als mit Schwung die Tore zum Innenhof aufgestoßen wurden. „Da, ein Verräter, ein Rebell, packt ihn!!!“ schrie jemand aus vollster Kehle und abrupt versteifte sich Thorins gesamter Körper, er riss den Kopf empor, seine Muskeln spannten sich, alles in ihm stellte sich auf Kampf ein. Natürlich war es damals Kopf und Kragen aller Beteiligten wert gewesen, die königlichen Kerker zu stürmen und Ninafer zu befreien. Sie hatte für die Rebellenbewegung viel getan, die Härte des Adels erweicht und stets, wann immer es finster für sie aussah, einen Funken Hoffnung und ein dezentes Lächeln in die Runde zu tragen gewusst. Doch das Kopfgeld, dieses verdammte Kopfgeld. Viel zu lange waren sie herum gezogen, stets auf der Hut und doch hier und da erkannt. Man glaubte nicht, dass sich etwas ändern konnte. Nicht durch einen Haufen Taugenichtse und Vagabunden. Die Bauern hatten sie gleichermaßen verraten wie die Handwerker und Niederadel. Oh wie er solche Rufe mit den Wochen und Monaten fürchten und hassen gelernt hatte...! Doch inzwischen hatte er einen Namen, seine Mitstreiter waren kleine Legenden geworden und niemand wagte mehr, sie auf offener Straße anzusprechen – oder gar Wachen zu melden. Denn obgleich das Kopfgeld mit jeder Aktion, jeder Mission und jedem Erstarken der Rebellenbewegung gewachsen war, so hofften inzwischen vom Bauer bis zum Adelsmann alle, die unter Phillipes Fuchtel litten, dass sich durch Thorin und seine Streiter etwas würde bewegen lassen. Dass sich etwas zum Guten ändern könnte. Diese Hoffnung allein, vielleicht auch die Chance, diesen Wandel noch zu erleben, war mit keinem Gold des Inselreiches aufzuwiegen. „War nur ein Spaß, lasst euch nicht stören.“ setzte Alandor schmunzelnd nach, verschränkte die Arme vor der Brust und verharrte an Ort und Stelle, scheinbar durchaus gewillt, sich das Treiben beider anzusehen. Im Verlauf der Stunden, in denen Thorin mit Ninafer geübt hatte, waren die Rekruten gekommen und gegangen, doch letztlich blieben sie auf dem Hof zu zweit zurück. Nun war eben jene Beschaulichkeit gestört, weil dieser verflixte Magier ein Talent dafür haben musste, immer dann aufzutauchen, wenn er es besser sein lassen sollte... Thorin zog die Giftmischerin wieder auf die Füße zurück, setzte eine unschuldig lächelnde Miene auf und erkundigte sich rein der Dreistigkeit dessen halber, wovon der Bannwirker überhaupt sprechen würde. Derweil jedoch fuhren seine Finger Ninafers Rückrat herauf, die prompt an seinem Ärmel zupfte und zu allem Verdruss leise flüsterte, ob der Magier nicht eben das anzudeuten beabsichtigte, was er gerade tat – dabei unterschätzte sie jedoch zu allem Übel die Akustik eines Innenhofes mit überdachtem Rundgang, denn dank der wundervollen und ästhetisch wertvollen Bauweise wurde nahezu jedes Wort an Alandors Ohren getragen, der nur breit schmunzelte, abwinkte und sich zum gehen umkehrte. „Das hast du ja prima gemacht, jetzt hast du ihn vergrault!“ warf der Krieger seiner Gesellschafterin zu, die ihrerseits prompt erklärte, dass das an sich gar nicht nennenswert tragisch sei... Der Abend zog dahin, wenngleich auch nicht ganz so wie von Thorin erhofft. Ninafer schien zu späterer Stunde deutlich mehr Gefallen daran zu finden, mit Naru herum zu streifen und Wege zu suchen, wie sie Snorri kleine Streiche würden spielen können, also saß der Krieger letztlich zwar in guter Gesellschaft, dennoch aber nicht der Erwünschten vor dem Kamin in der großen Halle. Bei gutem Bier und Braten – fast als wäre ein kleiner Feiertag – genossen sie Possen und Geschichten, lauschten oder unterhielten sich über allerlei. Irgendwann fand ein jeder in dem alten Gemäuer zu seinem Schlaf und der Morgen brachte noch vor der sommerlichen Dämmerung für Ninafer das unschöne Erwachen, geweckt und für die Mission eingewiesen zu werden. Sie kleidete sich an, packte das Nötige beisammen und entschwand aus ihrem Zimmer, ohne sich verabschiedet zu haben, es zu können oder zu wollen. Im Moment bezog sich ihr Denken ohnehin eher auf das Vermissen der Bettwärme und den Neid darauf, dass Thorin noch selig ruhen durfte. Es galt eine diplomatische Eskorte zu leiten. Sie würden, mit Ninafer als Zentrum dieser Aufgabe, nach Rhovanion reisen und versuchen, die Zentraurenclans für ihre Sache gewinnen zu können. Durch die eine oder andere Gefälligkeit hatten sie schon ein paar Sippschaften auf ihre Seite ziehen können, doch nun gab es ein großes Treffen der Khans. Jeder Stamm und jede Familie würde vertreten sein und eine solche Gelegenheit durfte einfach nicht ungenutzt verstreichen. Ninafer wurde entsendet, da sich über die Monate, da der Widerstand langsam erstarkte, viel zu oft gezeigt hatte, dass sie das deutlich eloquentere und ansehnlichere Bild des Rebellendaseins abgeben konnte. Würden Thorin oder Raven vor einen Bauer treten und ihm erklären wollen, was es mit alledem auf sich hatte, würde er wohl einzig aus Furcht nicken. Doch Ninafer verstand Diplomatie auf einer Ebene, weit abseits von Angst und Einschüchterung. Während der Trupp auszog, lag noch immer die Stille des noch nicht ganz angebrochenen Morgens über der Feste und dem Wald. Ein Dutzend guter Männer eskortierten Ninafer für die Dauer der Zweitagesreise. La Coeur und die Hochburgen der königlichen Loyalisten waren fern – doch man konnte nie wissen, wie weit die gierigen Klauen des kleinen Wichtes sich zu strecken wagten. Thorin jedenfalls war kein Risiko einzugehen bereit und hätte Ninafer am liebsten eine kleine Kompanie mitgegeben, doch dafür wiederum konnten sie einfach nicht genug Männer entbehren. Die Festung musste aufgebaut werden und es gab noch so viel mehr Aufträge als nur diesen Einen. Die nächsten Tage verliefen erschreckend eintönig. Thorin erwachte, vermisste, wusch sich, aß und ging dem täglichen Treiben nach. Es hatte ihn jener Zeit selbst überrascht, dass die größten Probleme, die der Widerstand in Lumiél hatte, rein logistischer Natur waren. Sie hatten Waffen, aber keine Möglichkeit, ihre Männer damit unbemerkt üben und trainieren zu lassen. Sie hatten andernorts Männer, aber keine Mienen und Schmieden, um ihnen Waffen zu geben. Sie hatten perfekte Pläne für eine uneinnehmbare Festung, konnten aber keinen einzigen Steinbruch samt seiner Gräber für sich gewinnen. Viele Vorhaben der Widerstandskämpfer scheiterten einfach daran, dass es an nahezu allem mangelte – und an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Dinge fehlten, oftmals aber einfach keine Idee aufkam, wie man ungebrauchte Waren von A nach B schmuggeln konnte, ohne dabei entdeckt zu werden. Viele Male hatte man derlei probiert und immer wieder waren die Ladungen aufgebracht worden. Im Grunde stärkte man damit nur noch die Stadtwachen der einzelnen Siedlungen und damit letztlich den König – etwas, das nun wirklich keiner wollte. Vermutlich hätten aus genau diesem Grund die Rebellen noch ewig und drei Tage planen und ihre Blitzattacken durchführen können, ohne etwas zu verändern. Auch dieser Wandel stellte sich erst ein, als jene, die ein Kopfgeld trugen, sich nach und nach dem Widerstand anschlossen. Ihre Taten mehrten sich ebenso, wie ihr Ruf und hier Finanzen und einmal alles in den Dienst der einen Sache gestellt, einmal die Bereitschaft erklärt, alles für dieses Ziel zu opfern, erwies es sich plötzlich als deutlich einfacher, jemanden davon zu überzeugen, einfach über die Ladung eines Karren hinweg zu sehen, die Erträge einer Miene nicht zu prüfen oder über den Kampflärm aus einem Tavernenkeller hinweg zu hören. Nachdem der Widerstand jedoch immer erfolgreicher geworden war, hatte sich gezeigt, dass das Zellensystem nicht mehr optimal funktionierte – die Untergrundbewegung war einfach zu rasant und zu stark gewachsen. Eine Zentralisierung musste her. Der Wahl des Standortes fiel eher zufällig aus, als die Lagerfeuergeschichte eines einfachen Wanderhändlers sie auf die alte Feste aufmerksam machte. In der Tat hatte sich nach ihrer Bereinigung bewiesen, dass das Mauerwerk eine nahezu uneinnehmbare Position inne hielt. Zudem war es von der Küste aus gut für Schiffe zu erreichen, an Land würde die Bastion mühelos den Zugang nach Südlumiél schirmen können und wenn die Mauern und Türme erst einmal wieder errichtet waren, würde die Burg gewiss auch für das Auge manches her machen. Doch so weit waren sie eben längst noch nicht. Es gab seit dem Umzug der Rebellen hierher immer wieder Engpässe in der Nahrungsversorgung, die Steinbrüche konnten längst nicht so rasch abbauen und hierher transportieren, wie Medea und die Zwerge die Materialien verbauten und auch, wenn die Elben dem Wald halfen, so gut sie es nur konnten, gab der Viehbestand nicht genug her. Dazu kamen immer mal wieder kleinere Streitigkeiten unter Elben und Zwergen, sogar ein paar Goblins keiften hier und da herum und weil er sich nun einmal selbst das Kreuz der Verantwortung aufgebürdet hatte, durfte Thorin tagtäglich diesen Tiraden über die Unfähigkeit anderer und Dreistigkeit derer und überhaupt all den anderen Unsinn anhören, beschwichtigen, beruhigen und sich danach um wie wirklich wichtigen, aber leider eben auch weitaus kniffligeren Fragen kümmern. Er vermisste fast schon ein wenig die Zeiten, als er einfach nur mit der Axt in der Hand dem Feind entgegen trat. Natürlich tat er das auch heute noch oft genug. Wann immer die Pläne auch gut von anderer Hand geführt werden konnten, begleitete er seine Freunde und Mitstreiter und doch schien es, als würde die Arbeit an und in der Feste ihn langsam aber sicher auf einen Stuhl ketten wollen. Fast drei Tage waren vergangen. Thorin saß an jenem Abend auf den breiten, flachen Stufen der Treppe, die vom Rundgang des Innenhofes auf das Pflaster des Selbigen führte und sah der Sonne im Westen beim Sinken zu. Inzwischen hatte sich der Himmel leicht eingefärbt und warf erste Rotschattierungen an die Wolken, da bemerkte der Krieger einen Vogel, der ungestüm und raschen Schlages auf ihn zu hielt. Noch im Flug und gut zwei Meter über dem Boden begann die einstige Krähe sich zu strecken und zu recken, zu kreischen und zu wachsen. Als die Kreatur auf den Boden setzte, erhob sich ein schwarzhaariger Bursche von gewiss kaum mehr als zwanzig Sommern vor Thorin. Der Krieger war längst aufgesprungen, kannte jenen Wandler nur zu gut. Malin war ein Adept aus dem Turm des Morgens gewesen. Nachdem der Turm zu Bruch gegangen, sein Meister erschlagen und das Rätsel des Verließes gelüftet worden war, hatte man Malin als einzigen Überlebenden des Meisters angeboten, das Land zu verlassen. Doch der Bursche schien von einer verqueren Logik beseelt und hielt es für seine Pflicht, seine Rettung als Schuld durch seinen Dienst wieder abzutragen. Er war als Adept kein voll ausgebildeter Magier, doch gerade seine Vorliebe für Wandlungsmagie war stets aufs Neue über alle Maßen praktisch und hilfreich gewesen. Er vermochte sich exzellent als Späher auszugeben – und nun kehrte er als eben solcher zurück. Er hatte auf Thorins Befehl hin Ninafer und ihre Eskorte verfolgt, doch die blutigen Wunden an Hals und Arm, der zerrissene Stoff seiner Kleider verrieten bereits, dass etwas nicht zum Guten stand. Der Krieger packte den Adept bei den Schultern und verlangte zu wissen, was geschehen sei. Einen Moment noch gab sich Malin, um zu Atem zu kommen, ehe er aufblickte, noch immer von Schwindel und Atemlosigkeit durch die Dauer des Zaubers betroffen. „Ninafer... ein Angriff... keine zwei Stunden von hier...“ brachte er mühsam hervor. Schon zu Beginn der Gefechte hatte Malin zu entkommen versucht und obgleich es ihm geglückt war, segelten ihm erschreckend viele über die Maßen zielgenaue Bolzen nach – deren Spuren man noch jetzt an seinem Leib klaffen sah. Thorin jedoch ließ den Bengel stehen und hastete zum Tor, riss das Holz auf und stürmte durch die Korridore. Ein kurzes „Mitkommen!“ rief er noch ungeachtet seiner Laufrichtung zu, als er an seinem zwergischen Kumpanen vorbei hastete. Der zögerte nicht lange, hechtete seinem langen Freund nach und wusste sofort Bescheid, als Thorin die Axt auf das Bett warf und in aller Eile die Rüstungsteile anzulegen begann. Bereits kurz darauf befand sich der Krieger am Tor der Feste, da holte ihn Snorri wieder ein. Der Zwerg stand in seinem Kettenpanzer, lächelte grimmig und schien bereits zu ahnen, dass es nur wenige Dinge gab, die Thorin derart rasch und überstürzt würden handeln lassen. Etwas musste geschehen sein und der Nervosität nach, die den Axtträger zu plagen schien, ging es wohl um die Adlige. Dass der übereilte Aufbruch beider nicht unbemerkt blieb, scherte Thorin eigentlich nicht – das änderte sich jedoch in dem Moment, als plötzlich Alandor, Naru und Medea hinzu traten. „Ihr bleibt hier und bewacht die Festung!“ befahl der Krieger eisern, doch die kleine Elbe verschränkte lediglich die Arme vor der Brust. „Hier sind über hundert Mann, die sie bewachen. Die rennt schon keiner um!“ erwiderte sie frech, erholt von Medea ein zustimmendes Nicken, die prompt hinter das Mädchen trat, ihr die Hände auf die Schultern legte und erklärte, dass sie auf sie aufpassen würde. Der Bannwirker hingegen gesellte sich Anschluss suchend mit einem zufriedenen Grinsen dazu und meinte seinerseits, dass er wiederum auf die Dryade Acht geben würde. „Ich werde nicht mit euch diskutieren!“ blaffte Thorin – doch sehr zu seinem Verdruss war das den Dreien ohnehin nur Recht. Der fünfköpfige Trupp zog aus, unwissend, dass Ninafer sich bis zuletzt wehrte, alles aufbot, was man ihr gelehrt hatte und ganz der verquere Wirrkopf sogar noch manchen Trick aus dem nicht vorhandenen Hut zauberte, der einen Zuschauer in Erstaunen versetzt hätte und ihre Feinde immerhin das Fürchten lehrte. Und dennoch war sie im Prinzip chancenlos. Dieser Überfall war wohl organisiert worden, man kannte die Route, kannte die Pläne und wusste nur zu gut, dass man mit Ninafer Thorin an einer verwundbaren Stelle traf. In der Deckung der Nacht erreichte der Tross einen schmalen Grat, der sich zwischen zwei Anhöhen durch die Landschaft zog. Eine Schar des königlichen Heeres hielt eisern die Formation und blockierte beide Zugänge. Hinter den Reihen der Soldaten, das ahnte Thorin, war Ninafer. Er ahnte irgendwie, ja spürte regelrecht, dass sie noch lebte. Oder vielleicht war es auch nur die verzweifelte Hoffnung eines verliebten Narren. „Alandor, du halbierst unser Gewicht, Snorri, ich trage dich. Medea, du musst euch drei schützen, verstanden?“ wies er rasch und möglichst leise flüsternd an. Alle nickten. Im Feld war Thorin der Kommandant und wer dann nicht zu spuren wagte, gefährdete das Leben aller. „Für Honigbrot!“ setzte Thorin mit einem bitteren und doch hoffnungsvollen Lächeln nach und ignorierte die verwirrten Blicke Alandors und Medeas völlig. Wie angewiesen, wob der Magier seinen ersten Zauber und wenige Augenblicke später fühlte Thorin sich so federleicht, wie es sonst nur Elben vorbehalten war. Er nahm den Zwerg huckepack, der Effekt weitete sich auf ihn aus und beide begannen einen Kurzstreckensprint direkt auf die Menge der Feinde zu. Als die Gegner die heran walzende Gefahr endlich gegen die düsteren Schemen der Nacht und sich im Wind wiegender Bäume erkannten, war es im Grunde schon zu spät. Thorin preschte mit Schwung voran, zielte seitlich an den Soldaten hinfort und nutzte den Zaubereffekt aus, um mit der Trägheit seines Körpers ein Stück der Hangwand seitlich empor zu laufen. Snorri sprang regelrecht von Thorins Rücken ab, warf sich mit Gebrüll in die Menge. Kaum den Kontakt zu seinem Kampfbruder verloren, wirkte der Zauber nicht mehr auf ihn und der Zwerg riss mit vollem Gewicht seiner Statur und des schweren Panzers eine Gruppe Soldaten zu Boden, ehe er mit der Axt behänd aufsprang und wild um sich hackte. Thorin hingegen führte seinen fast horizontalen Lauf mit Schwung fort, ehe er sich von der Wand abstieß und im Zentrum des Geschehens landete, hinter den Linien der Soldaten. Die Pferde samt ihrer Reiter lagen am Grund der Mulde verstreut. Zweifellos wurde ihnen von den Rändern der Vorsprünge aufgelauert, in diesem Engpass hatten sie sie fertig gemacht. Pfeile und Bolzen ragten hervor, üble Wunden klafften an Fleisch, dem tote, starre Augen angehörten, teilweise aber nicht einmal mehr zwei Arme und Beine. Es war ein Gemetzel, ein Blutbad und Thorin bezweifelte ganz zu Recht, dass all die Verletzungen und Greuel den Männern der Eskorte angetan worden waren, als es noch um Kampf, Leben und Verteidigung ging. Viele Wunden sahen eher aus, als hätte man die Leichen nachträglich entstellen wollen. Erst als er seinen Blick hob, bemerkte er die Skurrilität der Anordnung. Es war längst kein zufälliges Muster, in dem die Kadaver lagen. Mann und Tier und Teile von beidem waren in einem Kreis angeordnet, in dessen Mitte Ninafer ruhte. Eine Gestalt kniete am Boden neben ihr, die schwarze, schwere Kutte verhing die gesamte Figur und doch wusste Thorin, um was für eine Abscheulichkeit es sich dabei handelte. Er sah, wie der Fremde Ninafer etwas zuflüsterte, zweifellos weitere verderbte Magien wob, um der Frau mehr anzutun, als ein einfacher Tod hätte bewirken können. „Arimasper, gib mir Kraft!“ betete Thorin einen Moment, ehe er die Axt von seinem Rücken zog und mit voller Wucht von sich schleuderte. Als hätte der Kriegsgott persönlich dem Feind auf die Schulter getippt, hob der Priester den Kopf und bekam vom Klingenblatt der Waffe den Schädel gespalten. Er sank zu Boden, schwarzes Blut ergoss sich auf den Boden, während leere, verdrehte Augen zu Nebel und Nichts zerflossen. Thorin hechtete zu seiner Axt, packte sie und noch während er sie aus dem Boden zog, nahm das Grauen wieder Körper und Gestalt an. „Dumm bist du, dich des Nachts hierher zu wagen!“ zischelte eine Stimme, die von überall auf ihn einzudringen schien, „Um deine Liebste ist es längst zu spät!“ Einen Moment wagte Thorin auf Ninafer herab zu blicken, doch da – sie regte sich noch! Nichts war zu spät! Die Soldaten verkehrten sich, stürmten auf sie zu, prügelten auf Schilde ein, die Alandor errichtet hatte. Ein kleines Schwadron stürmte davon, um die abseits stehende Dreiergruppe zu attackieren, doch Medea und die Mächte Phylias wussten sich solcher Narren zu entledigen. Sogar Naru wusste einen der Aggressoren mit ihrem Stab ohnmächtig zu schlagen. Als jedoch der Schatten selbst körperlos und wütend fauchend auf sie zu stürmte, ließ Alandor die Schilde fallen, die Snorri und Thorin bislang geschützt hatten und begann den Kampf gegen das vermeindlich Unverwundbare aufzunehmen. Ein Gefecht zwischen Magiekundigen mochte man sich in der Regel als spektakulär vorstellen. Flammen und Funken und allerlei Blitze. Zweifellos hätte Ninafer es so erwartet und enttäuscht geschmollt, hätte sie gesehen, wie trivial der Kampf zwischen Priester und Magier anmutete. Es war Naru, die den Schatten schließlich zwar nicht bezwang, wohl aber vertreiben konnte. Sie beschwor einen der einfachsten Zauber, über den jedoch niemand ihrer Mitstreiter sonst gebot: Licht. Eine gleißend helle Kugel, wenngleich auch klein, so sandte sie doch durchdringend ihre Strahlen in alle Richtungen und machte es dem Übel schwer, sich selbst beisammen zu halten – ganz zu schweigen von der nötigen Konzentration für weitere Zauber, um dem Bannwirker und seinen zwei Begleiterinnen das Leben zu rauben. Während der Schatten sich zurück zog, kämpften Thorin und Snorri noch immer verbissen mit den verbliebenen Soldaten. Wie Berserker hatten sie sich um die Adlige geschart, die noch immer scheintot am Boden lag, nur gelegentlich ganz leicht den Kopf von einer Seite auf die Andere neigte. Sie schlachteten, wo sie konnten, stießen mit ihren Äxten vor und nieder, zur Seite und zurück, hielten die Soldaten fern, bis sich auch ihre drei Mitstreiter doch noch in den Kampf einmischten. Naru und Medea gelang es, den Kreis der Feinde zu durchbrechen, Alandor warf ein paar geschickte Barrieren zwischen die Krieger und am Ende gelang es ihnen, die verbliebenen Soldaten in die Flucht zu schlagen. Doch jeder Sieg hatte seinen Preis. Medea war erschöpft, Alandor erbrach Galle, wischte sich mit zitternden Händen den kalten Schweiß von der Stirn und Snorri ließ sich ohne großes Murren von Naru bei Seite ziehen und die Hand von einer übel blutenden Wunde nehmen. Thorin hingegen war um schwere Wunden herum gekommen, sah sonst jedoch aus wie ein gerupftes Huhn. An seinem Panzer gab es einige neue Scharten und Risse, an seiner Kleidung darunter hatte mancher sterbende oder attackierende Soldat herum gezogen in dem Versuch, ihn in die Klinge zu ziehen und allerlei kleinere Schnittwunden zierten seine Arme. Doch all das war nicht von Bedeutung. Der Krieger stieß die Axt in den weichen Grund und wandte sich fast augenblicklich zu Ninafer um. Das Blut des Kampfes hatte sie benetzt. Forsch tastete er ihren Puls ab, flehte zu Telete und Damastes, sie mögen nicht wagen, ihm das anzutun. Ein Stein der Erleichterung entfuhr ihm, als er sie atmen hörte, ihr Herz langsam und ruhig in ihrer Brust schlagen spürte. Naru, einen Moment ob der Erschöpfung durch ihre Heilzauber wankend, trat zu Thorin heran und besah sich forschend die Adlige. Ebenso wie der Krieger wusste die Halbelbe, dass der Priester wohl kaum Limericks rezitiert hatte, um Ninafer zu erfreuen, doch sie wusste nichts zu nennen, vermochte weder Fluch noch Krankheit festzustellen und keine Wunde zu erkennen. Thorin packte die Axt wieder auf seinen Rücken, schob die Arme unter Ninafers grazilen Leib und hob sie empor. Einen Moment blickte er in ihr Gesicht. Sie wirkte ruhig, friedlich... schlafend. Den gesamten Rückweg über ließ ihm der Anblick keine Ruhe mehr, als er in die Mitte der Abschirmung gebrochen war. Der Anblick des Schatten, der ihr etwas ins Ohr flüsterte. Was mochte es wohl gewesen sein? Mit der Rückkehr zur Burg zerstreute sich die Gruppe. Alandor und Medea mussten sich erholen, Snorri verlangte es nach einem Bad, um sich vom Blut der Feinde rein zu waschen, hatte dieserlei es doch nicht verdient, sich auf seiner Klinge, Rüstung und Haut wieder zu finden. Einzig Naru blieb bei Thorin und Ninafer, folgte ihm bis in das Zimmer der Giftkundigen und prüfte abermals, nunmehr unter besseren Sichtbedingungen und in weniger gefährlicher Umgebung, ob mir ihr alles in Ordnung wäre. Doch letztlich vermochte die Halbelbe erneut nichts zu finden, das auf irgendeine Magie hindeutete. Thorin aber wurde den Verdacht nicht los. Stunde um Stunde ruhte er an ihrem Bett, schlief zum Morgengrauen kurz ein und erwachte nur wenige Stunden später, sich selbst für diese wenigen Stunden Vorwürfe machend. Vier lange Tage schlief Ninafer und allmählich begann eben dies den Eindruck der Zauberei zu erwecken. Sie schien nicht aufwachen zu wollen. Sie trank, so man es ihr einflößte, doch aus Furcht, sie zu ersticken, wagte man ihr keine Speisen zu geben, die über Suppen hinaus gingen. Thorin jedoch saß an ihrem Bett, zu jeder Stunde, Tag um Tag. Als sie endlich erwachte, nahm er ihre Hand. Draußen war es finster geworden und nur zwei einzelne Kerzenhalter neben der großen Zimmertür spendeten flackernd einen Hauch Licht. „Du kannst mir doch nicht ständig solch einen Schrecken einjagen!“ warf er ihr leise vor. Er wagte die Stimme nicht lauter zu heben aus der Befürchtung, man könne die Sorge oder dar das leichte Zittern darin hören. Ninafer jedoch blickte sich um, streckte sich und gähnte. „Ich glaube, ich hätte jetzt gerne ein Glas Mi-“ setzte sie an, doch da griff Thorin bereits zum Nachtschrank und hob ein kleines, durchsichtiges Gefäß vor ihre Nase. „Milch mit Honig.“ vollendete er ihren Satz und rang sich ein Lächeln ab. Einen Moment gar verlegen scheinend, setzte sich Ninafer auf und trank. „Wir haben uns Sorgen gemacht. Du hast vier Tage lang geschlafen...!“ begann er ihr zu erklären und schmunzelte, als sie daraufhin misstrauisch die Milch besah und, obgleich das Glas unlängst halb leer war, erneut daran roch. Als er ihr darüber hinaus ausführte, dass er natürlich jeden Tag ein neues Glas bereitet hätte und auch sonst nicht von ihrer Seite gewichen sei, glaubte er fast einen leichten Rotschimmer im dumpfen Zwielicht auf ihren Wangen zu erspähen. Sie lächelte regelrecht glücklich, als das Milchglas leer war und sie mit dem Finger ein paar Honigreste vom Grund des Gefäßes puhlen konnte. Mit dem Finger zwischen den Lippen und beständig die klebrige Süße davon saugend, spähte sie zu ihm auf und erkundigte sich – ohne den Finger aus dem Mund zu nehmen – erneut, ob es tatsächlich vier Tage gewesen seien. Thorin bestätigte ihr dies einmal mehr und verlangte nun zu wissen, ob etwas nicht stimme. Immerhin wirkte sie ein wenig verwirrt ob jener Tatsache. „Nein nein, schon gut, das erklärt nur, warum ich jetzt... gehen muss.“ antwortete ihm Ninafer regelrecht vergnügt, erhob sich flink vom Bett und verschwand im Badezimmer. Verdutzt sah Thorin ihr nach und erkannte erst im Nachhinein, dass sie zweifellos besten Grund dazu hatte. Vier lange Tage, in denen man versucht hatte, sie mit Milch und Suppen bei Laune und Kräften zu halten, vier lange Tage, in denen sie sich nicht hatte erleichtern können. Als sie aus dem Nebenraum zurückkehrte, lächelte sie so selig wie an dem Tag des Straßenfestes von Samara, als er ihr den halben Stand mit Süßwaren und Honiggebäck aus aller Welt gekauft hatte. „Das war toll!“ konstatierte sie und brachte Thorin damit zu einem schallenden Lachen, das sich noch steigerte, als sie gähnte und auf seine Frage, ob sie denn ernstlich müde sei erwiderte, dass so viel Schlaf reichlich erschöpfend wäre. Er ließ sie allein, wenngleich auch eher widerwillig, begab sich in sein eigenes Quartier, nur um dort festzustellen, dass er binnen weniger Sekunden, praktisch kaum, dass er lag, selbst eingeschlafen war, um endlich die zahlreichen Stunden nachzuholen, die ihn in den Tagen zuvor vor Kummer und Sorge entgangen waren. Dabei hätte es fast den Eindruck erwecken können, der Zauber des Priesters sei nahtlos gewandert – Thorin schlief fast einen ganzen Tag lang durch, ungeachtet der Tatsache, dass Naru, Snorri und Ninafer im Verlaufe jener zahlreichen Stunden den Kopf in sein Zimmer steckten und teilweise sogar über sein Verhalten schimpften, sich tagelang des eigenen Schlafes beraubt zu haben. Als er schließlich wieder erwachte, verwirrte ihn entsprechend die Dunkelheit vor dem Fenster sehr. Er schlich angekleidet durch die Gänge der Burg, fand den großen Saal mit seinem Kamin voll besetzt und begriff damit, dass er einen ganzen Tag verschlafen hatte. Plötzlich tippte ihm jemand in die Seite und Thorin fuhr zusammen. Um ein Haar hätte er rein aus Reflex heraus zugelangt, stattdessen warf er Naru flüsternd vor, dass sie sich nicht so anschleichen solle. „Wo ist Ninafer?“ verlangte er zu wissen und wurde von dem Halbblut mit einem neckischen Schmunzeln an den See verwiesen. Während die Heilerin die Treppe herab trat und sich wieder der geselligen Runde anschloss, verließ Thorin die Festung, um Ninafer aufzusuchen. Natürlich wusste er, warum Naru so vor sich hin gegrinst hatte. Wann immer er der Adelsdame begegnet war und obendrein Wasser in irgendeiner Form ins Spiel kam, hatte sich das zumeist auf eine Art entwickelt, dass die Situation für irgend jemanden peinlich wurde – oder zumindest nicht mehr ganz angemessen schien. Oder sich mit einem Schlag intimer anfühlte, als ihnen zustand. Oder... Er fand sie tatsächlich an jenem kleinen Weiher, der von zahlreichen gewaltigen Bäumen gut umschlossen und von Gebüsch sogar fast verdeckt war. Sofern man nicht von seiner Existenz wusste, verirrte man sich nur selten hierher. Schon während Thorin Ninafer im Wasser sah, wie sie sich das doch überraschend warme Nass mit vollen Händen schöpfend ins Gesicht warf, schlich sich auch auf seine Züge die Kontur eines Grinsens. Er war nicht nur einmal unabsichtlich in das Badezimmer geplatzt, während sie im Zuber saß – oder ihm entstieg – oder in ihn zu steigen versuchte. Er war auch nicht nur einmal ausgerechnet in dem Moment an ein Ufer gestolpert, als sie sich gerade wieder anzukleiden versuchte. Zumeist hatte sich das tatsächlich ohne irgendeinen Willen ergeben, aber es war nun auch wirklich nicht so, als hätte er behaupten können, dass ihm die Geschehnisse unangenehm waren. Seine Schamgrenze hatte im Verlaufe der zahllosen Jahrzehnte wohl manchen herben Schlag hinnehmen müssen, sofern sie überhaupt noch existent war und Ninafer, was musste man ihr einfach zugestehen, war ein Blickfang. Er umrundete den See teilweise, entledigte sich seiner Kleider und verschwand sehr zum eigenen Vergnügen völlig ungesehen und unbemerkt im Wasser. Mit kräftigen, raschen Schwimmzügen verkürzte er tauchend die Distanz zwischen ihnen, schlich sich von hinten an Ninafer heran und lugte nur selten kurz über Wasser, holte Luft und besah sich, ob sie sich fort bewegt hatte – immerhin sah man bei Nacht unter Wasser noch schlechter als ohnehin bereits in der Dunkelheit möglich. Tatsächlich glaubte er sie beim nächsten Tauchgang erreichen zu müssen, verschwand wieder unter der Wasseroberfläche und... verschätzte sich offenbar. Er tauchte auf, einen Moment regelrecht verwirrt, als ihn bei dem Versuch, zu atmen, noch bevor er seine Augen von Wasser befreit und geöffnet hätte, plötzlich eine reichliche Ladung des Elementes traf. Ninafer stand freudig kichernd abseits und spritzte ihn voll, dass er nach Luft japsend zunächst das Weite suchte, ehe er sich auf den Rücken beförderte und mit den Beinen das Wasser so unruhig aufschlug, dass weder er sie sehen konnte, noch sie ihn. Allerdings sollte sich das einmal mehr als Nachteil erweisen – für ihn. Denn plötzlich hatte sie ihn schlichtweg umrundet, stand neben ihn im Wasser, piekte ihn in die Seite, dass er vom Lachen geschüttelt die Körperspannung verlor – und unterging. Sie zog ihn in ihrer Gnade sogar wieder herauf und gängelte den Krieger damit, gegen sie verloren zu haben. „Das wollen wir doch erst einmal sehen!“ heischte er sie an, forderte eine Revanche und schlug ihr mit der Handkante eine Menge Wasser entgegen. Ninafer lachte auf, rannte, so gut das unter den Umständen eben möglich war, ein paar Schritte zur Seite und versuchte die Attacken zu erwidern. Ein Hin und Her ergab sich, sie tollten miteinander herum, den Anderen stets in die Defensive drängen wollend, nur um am Ende ihres Spieles außer Puste und mit den Händen auf den Oberschenkeln abstützend am Ufer zu stehen. Sie rangen beide nach Atem, spähten angriffslustig zum anderen auf und schienen nur den Moment abzuwarten, da sie von Neuem aufeinander ein stürmten. Kaum ein paar Augenblicke vergingen, da wagte Thorin unter einer kleinen Spritzattacke einen neuen Vorstoß, rannte auf sie zu und umfing Ninafer. Er packte sie, hob sie hoch und ignorierte die zappelnde und gleichermaßen kreischende wie lachende Frau bis zu dem Moment, da er bis zur Hüfte im Wasser stand und sie schlichtweg hinein warf. Er selbst lachte heiter auf, als er die Frau verschwinden sah und ausgerechnet ihre Füße als Einziges über der Oberfläche blieben und weiter zappelten. Ninafer richtete sich wieder auf, lugte einzig mit Augen und Nase über den Spiegel des Weihers, ehe sie die Hand langsam vorstreckte. „Wie... frech!“ kommentierte Thorin schelmisch grinsend, als ihre Finger seine Lenden unter der unruhigen Seefläche ertasteten und ihn an seiner Männlichkeit kurzerhand näher zu ihr und damit tiefer ins Wasser zogen. Er folgte ohne Widerstand, bis er mit ihr auf einer Ebene war und grinste. Während er noch immer stehen konnte, musste die Heilerin bereits mit den Armen rudern. „Gibst du auf?“ wollte er wissen. „Du hast verloren, ich nicht, nein nein...!“ „Ich habe gewonnen!“ „Hast du gar nicht!... Wenn du mir nicht glaubst, kann ich’s dir ja beweisen!“ drohte sie ihm ernst an. Thorin jedoch lächelte, hob die Hand aus dem Wasser und führte sie an ihre Wange. Mit dem Daumen strich er die Kontur ihres Wangenknochens nach, zog sie langsam zu sich heran und umfing ihre Taille mit dem Arm. „Und warum willst du mich nicht einfach gewinnen lassen? Wofür das Ganze, hm?“ verlangte der Anführer mit einem theatralisch überspitzten, überkritischen Blick zu wissen und brachte sein Herzblatt damit immerhin zum schmunzeln. Einen Moment schien sie sich ihre Worte zu überlegen, tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Lippe und spähte scheinbar gedankenversunken zum Himmel auf, ehe ein freudig strahlender Glanz in ihre Augen trat. „Oh ich weiß es! Für Honigbrot!... und Freiheit... natürlich.“ Kapitel 4: Himmelszorn ---------------------- Komm, Fremder, setz dich zu mir ans Feuer. Der Kamin ist warm, der Braten saftig. Gib mir einen Krug aus, mein unbekannter Freund und lass mich dir eine Geschichte erzählen. Vertrau auf Mermerus, sie wird sich lohnen! Wie viel Wahrheit in ihr stecken mag, das entscheide selbst, doch sie muss erzählt werden. Meine Zeit läuft aus und es gibt Dinge, die diese Welt einfach nicht verlassen dürfen. Lass mich dir berichten, von einer dunklen Zeit, die gleißendes Licht gebar... Es war das Jahr 2142 n.d.L., in dem in einem kleinen Haus La Coeurs ein Knabe seinen ersten Schrei tat. Er war ein Frühlingskind und die Priester Damastes weissagten ihm ein großes Schicksal als Erneuerer des Lebens und Bote guter Jahre. Obgleich sie in der Summe der Teile unserer Geschichte Recht behalten sollten, irrten sie doch für die Anfänge jener Existenz. Jener Bub war ein aufgeweckter Junge, gelehrig und neugierig, stets versessen, die Höhen und Abgründe der Welt zu begreifen. Seine Eltern waren liebevoll und geflissentlich darin, seine Neugier zu stärken und aus ihrem Spross einen tapferen jungen Mann zu ziehen, doch die Zeiten um sie herum wurden dunkler und das Land erleuchtete in den feindseligen Farbtönen einer unheilschwangeren Abenddämmerung. Krieg zog auf, ein jeder konnte es in diesen Jahren spüren. Es waren die alten Streitigkeiten, die immer neu aufbrandeten, die man an jeder Gassenecke und auf jedem Markt bemerken konnte. Eine feine Nuance gewiss nur, doch sie trennte für jedes darauf aufmerksam gewordene Ohr nur zu deutlich, welches Geschrei sich vom Anpreisen der Händlerwaren unterschied zu eben jenem, das von Konflikt und Hass zeugte. Ob ein ganzes Land an seiner eigenen Verachtung ersticken kann? Ich weiß es nicht zu sagen, aber bevor es das täte, würde es gewiss aus vollen Lungen schreien. Doch damals hörte niemand diesen Schrei, sie waren beschäftigt, damit, ihn zu verstärken. Der Bursche, dessen wahren Namen wohl längst die Zeit geschluckt hat, wuchs auf in einer Welt des Zwists und obgleich seine Eltern sich redlich mühten, ihm von Gleichheit vor dem Gesetz, von Gerechtigkeit und Tugend zu zeugen, ihm die hohen Ideale eines stolzen und tapferen Volkes einzuprägen, lernte er doch durch Freunde und Bekannte die Kehrseite des kleinen Inselreiches Lumiél kennen. Ein Land, das gewiss dereinst als Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen hätte dienen können, doch offenkundig waren eben jene an der Verschmelzung nicht interessiert. Er zog aus, mit gerade vierzehn Jahren. Seine Ersparnisse verschwendete er auf ein stumpfes, schartiges Schwert, einen Schleifstein und eine viel zu große Lederrüstung. Nur ein Bursche, und doch schon so wacker, sich dem Unheil der Welt entgegen stellen zu wollen. Bei Mermerus, dieser junge Mann legte Zeugnis ab über die Stärke, die dem Blute seines Volkes entsprang! Er half den Bauern, die Ernte einzufahren, er führte Händler sicher von Ort zu Ort und wenn es denn nötig war, er bezahlt oder von einem holden Weib angelächelt wurde, dann rettete er wohl auch entlaufenes Getier vor den Irrungen einer ihnen fremden Welt. Was kann man also über ihn sagen? Ein guter Junge von edlem Charakter. Doch er lernte viel, so wie es immer geschieht, wenn man in die Welt zieht und glaubt, dort all seine Ideale lebend und allgegenwärtig zu finden. Er lernte, dass die Menschen niederträchtig sein konnten. Er lernte die Gier der Zwerge und den Hochmut der Elben kennen, den wirren Verstand der Goblins und den Stolz der Zentauren. Er lernte die frostigen Höhen des Nordens und den kargen Süden mit seinen Wüsten und Ödländern kennen, genoss ein Gastmahl bei den Elben von Ammarath und kehrte doch stets wieder nach Hause zurück, Jahr um Jahr. Seine Eltern hätten zweifellos versucht, ihn aufzuhalten, doch welche Waffen der Überredungskunst oder gar des Zwanges hätten sie dazu einsetzen sollen? Es waren seine Pflegeljahre, nichts hätte er sich von seinen Eltern befehlen oder verbieten lassen. Sein Hunger auf die Welt war unersättlich, unstillbar – und nicht zu bremsen. So ließen sie ihn jedes Frühjahr aufs Neue ziehen, wünschten ihm Glück, gaben ihm Ratschläge mit und schauderten, wenn er im späten Herbst heimkehrte und von seinen aufregenden Abenteuern berichtete. Er kämpfte gegen Elben und Zwerge, paktierte mit schmierigen Söldnern und spielte den Geldeintreiber für zwielichtige Gestalten – seine Eltern besaßen einen doch ungemein andersartigen Blickwinkel auf seine Abenteuer und fürchten um Wohl und Seelenheil ihres Sohnes. Es war das achtzehnte Lebensjahr des Jungen, da zogen sie aus dem Haus, denn seine Mutter war schwanger. Ein kleiner Hof in östlicher Richtung, außerhalb La Coeurs sollte ihnen ein neues Heim bieten, mit eigenem Land und mehr Zimmern. Solcherlei Bauten waren zu jener Zeit noch recht billig – weit leichter erschwinglich als man es heute bekommen könnte. Und doch hatte es für diesen Hof des Umstandes bedurft, dass sein Vater ein guter Freund des königlichen Beraters war. Der einstige Knabe ward inzwischen zum Manne geworden. Er hatte alle Prüfungen bestanden, hatte kleinere Narben, die von seinen jungen Jahren berichtete und wusste mit Feinden, die die Klinge zogen, ebenso umzugehen, wie er mit einem Weib das Bett teilen konnte. Zweifellos waren dies seine schönsten Jahre, ungezwungen, ungebunden, reisen, wohin immer ihn der Wind zu tragen gewillt war und allgegenwärtig den Ruf nach Gerechtigkeit vernehmend, die zu schaffen er befähigt wurde. 2160 war ein Jahr wie alle anderen auch. Die Spannungen zwischen den Völkern des Inselreiches nahmen zu. Vielleicht lag es daran, dass die elbischen Enklaven zu jener Zeit einen ungeahnten und bis heute merkwürdig unnatürlich anmutenden Schub ihres Bevölkerungswachstumes verzeichneten. Vielleicht lag es daran, dass die Zwerge in drei ihrer Siedlungen gewaltige Gold – und Diamantadern entdeckten. Oder es lag einfach am König. Er war ein stolzer Mann, sicherlich, das schrieb allein schon das Blut vor, welches durch seine Adern strömte. Doch er war weit mehr als das. Er war vorsichtig – was noch gut hätte sein können – und misstrauisch. Dem eigenen Volk gegenüber ist dies, da stimmst du mir gewiss zu, ein überaus schlechter Wesenszug. Er mochte die Elben nicht, die Zwerge nicht und auch nicht die Goblins, Harpyien, Zentauren. All jene Völker, ihre fremd anmutenden Riten und Rituale, ihre teilweise innerhalb einer Rasse von Clan zu Clan, von Familie zu Familie unterschiedlichen Feiertage, die merkwürdigen Namen ihrer Götter, ihre Fähigkeiten, die denen der Menschen so weit überlegen schienen – als einer von Vielen reihte sich der König zu jener Zeit in ein Bild ein, das auch viele der Thronfürsten vor ihm schon abgaben. Doch so sollte es sein Schicksal sein, diese dunklen Stunden, von denen ich berichten will, überhaupt erst einzuläuten. Keine fünf Jahre später sollte ihn das Gift ereilen, dass ein Goblin in seinem Wahn nach Macht und Anerkennung als Geschmacksverstärker zusammen rühte und in des Königs Wein füllte. Vermutlich lag sein Streben eher darin begründet, nach dem Geständnis des Königs, welch vorzügliches Gebräu dies sei, hinter dem Vorhang hervor zu springen und sich zu erklären. Dazu kam es leider jedoch nicht, denn unser kleiner, grünhäutiger Freund hatte unterschätzt, wie tödlich auch nur ein Tropfen des Saftes des Jungferkrautes für einen Menschen ist. Ob man jenem Leben nun nachtrauert, ist einem jeden selbst überlassen. Die Elben, trotz allem Hass auf das kurzsichtige, närrische Gezücht der Menschen, taten es vermutlich allein schon, weil ihre Philosophien die Heiligkeit eines jeden Lebens vorschreibt. Unseren Goblin dürften sie gemäß dessen ebenso betrauert haben, stand und steht auf Königsmord doch stets die Todesstrafe. Doch fünf Jahre sind eine lange Zeit... „Ist das für Elisabeth?“ stichelte ein rothaariger Bursche von kaum sechzehn Jahren. Er trug sein Gewand in Ermangelung aller Knöpfe von einem Ledergürtel zusammen gehalten. Wann immer man ihn danach fragte, wusste er von neuster elbischer Mode zu berichten und störte sich selbst nicht an den Blicken der Hochgeborenen – für die solche Aufmachung durchaus neuste Mode war, jedoch eher als Nachtgewand diente. Die Klinge seines Breitschwertes klapperte beständig gegen den mit Münzen gefüllten Beutel, den er unter dem Gewand trug. In Samaras Straßen war man nie vor Dieben sicher. Zwar war es hier noch lange nicht so schlimm wie in Sundergrad, aber man sollte kein Risiko eingehen, wenn es unnötig war. Er lächelte, das zog die ohnehin schmalen Lippen seit jeher zu einer kaum noch sichtbaren Linie zusammen, während er aus schelmischen Augen zu seinem Freund aufblickte. Zwei Jahre war er älter, aber das war ganz in Ordnung, damit ließ sich umgehen. Kaum darauf angesprochen, warf sein Begleiter einen deutlich anderen Blick auf die kleine Figur aus edelstem Kirschholz. Ein Schnitzwerk eines alten Försters, der sich auf die letzten Tage sein Brot oder ein wenig Zugeld damit verdiente. Die Figur war keineswegs simpel und zeugte von wahrem Können – eine Darstellung des Lebensbaumes der Elben, angeblich ein Symbol für Fruchtbarkeit und Segnungen. Nach dieser Spitze jedoch stellte er das wunderschöne Stück einfach auf den mit einem einfachen Leinentuch überspannten Karren zurück, lächelte dem Alten freundlich zu und trat ein paar Schritte weiter zum nächsten Stand, völlig wortlos. Der Händler aber, so gütig er auch war, blickte verdrießlich zu jenem Rotschopf. „Musste das sein?“ wollte er mit schwächlicher Stimme wissen. Sein Gegenüber lächelte, kramte drei Silberlinge aus dem Beutel hervor und kaufte ihm den Lebensbaum ab. Selbst wenn sein Freund ihn nun nicht mehr haben wollen würde, dann könnte er ihn eben für sich behalten und seinem eigenen Mädchen schenken... wenn er denn irgendwann mal eines fand. Sein Kumpane natürlich musste sich damit nicht herum schlagen. Ihm kamen die Frauen förmlich zugelaufen. Er war groß gewachsen, von breiter Statur und durch die Jahre auf Reisen und im Kampf recht muskulös – Frauen wussten eine solche Figur zu schätzen. Da störte sie sich nicht einmal mehr an den verdächtig großen Geheimratsecken, die das rabenschwarze Haar auszudünnen drohten. ‚In zwei Jahren, vertrau mir, da trägst du eine Glatze!‘ neckte er ihn immer. Womit auch sonst hätte er ihn aufziehen sollen? Er konnte kämpfen, war tugendhaft, beliebt, verdiente sich sein Geld mit ehrlicher, harter Arbeit, es gab einfach nicht viel, dass einer scherzhaften Spötterei wert gewesen wäre. „Komm schon, lass uns gehen.“ meinte sein Begleiter, doch der Rotschopf grinste nur, hielt ihm den Baum unter die Nase und zuckte mit den Schultern, als das Schnitzwerk zurückgewiesen wurde. Er würde es ihm später noch einmal anbieten, wenn er sich wieder beruhigt hatte und ihm die Spitze nicht mehr übel nahm. Elisabeth war nicht wirklich der Name seines Mädchens und das wusste er nur zu gut. Das Problem war, dass sein Freund sich so beharrlich ausschwieg, wer sie denn sei. Er hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen und solche Geheimniskrämerei gefiel ihm eigentlich nicht. Also hatte er ihren Namen erraten wollen. Natürlich waren die Bemühungen völlig zwecklos – er fand ihn einfach nicht heraus. „Armin, komm schon, trödel nicht rum!“ rief der Ältere und war bereits einige Schritte voraus. Sein Ruf zerrte den Rothaarigen wieder aus seinen Gedanken zurück – und das in einem Moment, da er des Rätsels Lösung so dicht auf den Fersen war. Weshalb wohl sollte er ihm den Namen seiner Freundin verschweigen? Natürlich konnte es nur einen wirklichen Grund geben, nur einen, warum er ihn geheim hielt, warum er sie ihm nie vorstellte und warum er den Namen nicht hatte erraten können, obwohl er es über viele Stunden und Tage versucht hatte: Sie musste eine Elbe sein. Das würde es natürlich erklären. Er wäre ihm dafür an den Hals gesprungen, hätte ihm Dinge wie ‚Reichen dir die Menschen nicht?‘ entgegen geworfen und wäre gewiss ein paar Tage sauer auf ihn gewesen. Nicht etwa, weil er etwas gegen Elben hatte, keineswegs – er selbst träumte viel zu oft davon, ein Weib der Ihren für sich gewinnen zu können. Für seinen Freund waren das natürlich alles nur die romantischen Flausen eines jungen, unreifen Kopfes, doch mit solchen ‚Vorwürfen‘ beharkten sie sich sowieso allzeit – das war der Kitt, der ihre Freundschaft zusammen hielt. Sie steuerten durch die Massen des Marktes hindurch, Armin blieb dicht hinter seinem Freund, dessen breites Kreuz perfekt war, um sich dahinter zu verbergen, während er die Menge teilte. Sie hatten den Marktplatz im Südviertel der Stadt fast verlassen, da stoppte der Größere von beiden plötzlich und sein Kumpane stieß überrascht gegen ihn. „Huch!“ entkam ihm gerade noch, da drückte er sich auch schon ab. Mit seinem Reisebruder auf Tuchfühlung? Nein, bloß nicht, um der Götter Willen, was sollten denn da die Leute denken? Was sollten die Frauen denken? Was bei Damastes sollten die elbischen Frauen denken? Ein allzu wissendes Grinsen lag auf den Lippen des Älteren, das Armin fast augenblicklich die Röte in die Wangen trieb. Frechheit aber auch! Dennoch schien den Größeren etwas ganz anderes dazu bewogen zu haben. Das Grinsen erstarb so rasch, wie es gekommen war und kurz darauf spähte er mit gerunzelter Stirn über die Menge hinweg. Armin hörte in all dem Gelärme rein gar nichts. Händler hier, Händler da, alle plärrten herum und versuchten ihre Waren los zu werden, natürlich für möglichst viel Geld. Sein Freund jedoch hörte etwas, etwas, das Unmut in ihm wach rief und er folgte dem Geräusch – seinen Rotschopf immer als Anhängsel hinter sich her ziehend. Beide wussten nicht wirklich, was geschehen war. Doch die Situation ließ sich im Fall der Fälle auch überaus leicht rekonstruieren, dazu musste man wahrlich kein Genie sein. Sie traten abrupt aus der Menge in einen Kreis hinein. Vor wenigen Augenblicken erst hatte ein Hochgeborener mit seinen vier Mann Begleitung den Markt betreten. Die Elben wollten vermutlich Stoffe für neue Gewänder kaufen, dafür war zumindest dieser kleine Handelsplatz bekannt. Eine junge Frau, ein Mensch obendrein, war mit ihrem zwergischen Freund lachend und scherzend durch die Menge gezogen, auf der Suche nach Schnäppchen und guter, billiger Ware, die sie an ihrem eigenen Stand teurer würden weiterverkaufen können. Sie hatten einander im Spaß angerempelt. Menschen konnten damit umgehen, wenn man ihnen im Gedränge eines Marktes zu nahe kam. Elben jedoch schätzten ihre Privatsphäre ungemein. Sie kannten zwar die Enge der menschlichen Siedlungen, die Fülle auf den Märkten, doch reagierte jeder der Hochgeborenen darauf anders. Manche mieden die Siedlungen und Städte, andere... kamen mit Eskorten, die für jenen, den sie beschützten, den Weg frei machten und auch frei hielten. Es war einfach nur ein unglücklicher Zufall gewesen, dass der Zwerg sie nun genau in dem Moment zurück schubste, dass sie aus der Menge heraus fiel und gegen den Elb stolperte. Sie versuchte Gleichgewicht zu finden, packte den Fremden und riss ihn mit zu Boden. Binnen Sekundenbruchteilen waren vier Bögen in absolut tödlicher Präzision gespannt und auf einen Leib gerichtet, an dessen Kopf keine spitzen Ohren saßen. Während der elbische Aristokrat sich aufrichtete, seine Kleider abputzte und verächtlich auf die noch immer unsicher im Anblick der Bögen am Boden ruhende Frau sah, zischte er etwas von Abschaum, das ihren zwergischen Freund einschreiten ließ. „He da! Kein Grund, gleich unfreundlich zu werden!“ grummelte der Zwerg, wollte einen Schritt zu seiner Freundin gehen, da richteten sich zwei der vier Bögen auf ihn. Der Elb spie ein paar Flüche und wüste Beschimpfungen in den Zungen seiner Ahnen aus, ehe er auf das Mädchen sah und voll der Verachtung auf sie spuckte. „Das reicht!“ blaffte der Zwerg, zog seine Axt, eigentlich als Zeichen der Drohung, endlich von ihr abzulassen, da bohrte sich allzu übereifrig ein Pfeil in seinen Hals. Die Augen starr vor Schreck, wankte der Zwerg einen Schritt zurück. Längst hatte sich die Menge geteilt, einen weiträumigen Kreis um die Szenerie gebildet, doch niemand wagte einzugreifen. Alle blickten boshaft zu jenem Ruhestörer, Friedensbrecher, Todbringer – denn die Mehrheit waren Menschen und nun brach der Zwerg zusammen. Mit einem panischen Ausruf rappelte sich die junge Frau auf, stürmte unter den Augen zweier Elben, die noch immer mit ihren Bögen auf sie zielten, ungehalten zu ihrem Freund und rollte ihn auf den Rücken. Doch das Licht in seinen Augen war erloschen, sein Geist bereits in die ehrbaren Hallen seiner Ahnen und Urväter eingegangen. „Was habt ihr getan?“ klagte sie den Elb und seine Eskorte an, wiederholte die Worte, mal wütender, mal von Kummer zerrissen. Tränen rannen ihr zahllos über die Augen, da traten gerade ein Rotschopf und sein Freund in die Menge hinein. „Diese Welt von einem Krümel Schmutz befreit!“ zischte der Hochgeborene verachtend zur Antwort. Die Stadtwache kehrte ein, endlich – wenngleich auch zu spät. Ein Kommandant samt seiner sechs Mann von der Wache. Schwere Plattenrüstungen, gut gearbeitete und geschärfte Klingen, breite Turmschilde, Helm und Eisenhandschuhe – man hätte sie für Lumiéls Elitegarde halten können. „Aus dem Weg, los, macht Platz!“ heischte der Offizier und trat an die Szenerie heran. Er besah sich die Elben, ihre gespannten Bögen, den toten Zwerg und das zierliche Weib, das noch immer klagend und weinend über dem Leib ihres Freundes trauerte. Die Situation war viel zu eindeutig, um noch irgendetwas untersuchen zu wollen. „Ihr da, mitkommen, wir bringen euch zur Wache!“ befahl der Kommandant, da richteten sich drei der vier Bögen auf ihn und seine Männer, „Macht keine Dummheiten! Allein die Waffe gegen die Stadtwache zu erheben, hat eure Situation nur schlimmer gemacht!“ funkelte der erfahrene Wachmann, der einstmals im Heer schon manchen Krieg überdauert hatte. „Ich werde mich gewiss nicht in einer Stadt voller Abschaum einsperren lassen, weil ich etwas Wertloses beseitigt habe.“ zischte der Elb voll des inbrünstigen Hasses. Der Kommandant jedoch meinte es nur allzu ernst. Auf seinen Befehl hin zogen seine Männer die Klingen. Armin und sein Gefährte wurden unruhig. Die Bedrohlichkeit lag in der Luft, es würde Mord und Totschlag geben, wenn nicht jemand eingriff, doch warum zögerte sein Freund so lange? Der Rotschopf folgte dem Blick seines Gefährten, den die Elben und Wachen weit weniger interessieren. Sein Augenmerk galt der jungen Frau und ihrem toten Zwerg. Die Götter allein mochten wissen, was im Kopf seines Kumpanen vor sich ging, doch das zunehmend bedrohliche Funkeln in seinen Augen zeugte davon, dass es nichts Gutes sein konnte – zumindest nicht für die Hochgeborenen. „Ich befehle euch, im Namen der Obrigkeit von Samara und des Königs, legt die Waffen nieder!“ befahl der Kommandant ein letztes Mal und erhielt doch nur die Antwort, dass der Menschen König niemand sei, der einem Elb würde befehlen können. Einer der Männer der Stadtwache wollte soeben ungestüm vorpreschen, diese Beleidigung des Königs mit Gewalt sühnen, als ein anderer ihm zuvor kam. Geradezu entsetzt sah Armin, wie sein Freund einen Schritt nach dem Anderen setzte, auf die Elben zuhielt. Obgleich sie ihn bemerkten, schien er dank des Umstandes, unbewaffnet zu sein, harmlos – zumindest bis zu dem Moment, da er einen der Schützen an der Schulter griff, ihn herum wirbelte und mit einem einzigen, durchgezogenen Fausthieb zu Boden warf, dass sein Gesicht von Blut rot war. Armin kannte seinen Gefährten, er hatte oft mit ihm im Spaß gerangelt, geübt oder gekämpft und er wusste, dass diese Rechte so tödlich wie ein zwergischer Axthieb sein konnte. Während der Rotschopf nun vorpreschte und den zweiten Schützen regelrecht ansprang, ehe dieser den Pfeil in seines Freundes Brust würde versenken können, steuerte Selbiger längst auf den dritten Schützen an. Die Wachen stürmten vor, einer der Ihren wurde von einem Pfeil ins Bein getroffen. Kein Plan stand hinter dieser Wunde, es hätte ein tödlicher Halsschuss werden sollen – doch einer aus der Menge hatte im rechten Moment und gut gezielt einen losen Pflasterstein geworfen, der Schuss verrutschte und der Elb ging zu Boden, die Stirn schwer blutend von dem schweren Stein. Ein kurzes Gerangel entbrannte zwischen dem Aristokrat und dem Wachkommandant, der ihm letztlich einen Dolch aus den Händen schlug und seinen Arm auf dem Rücken verdrehte, dass der Hochgeborene unter einem jämmerlichen Schmerzschrei auf die Knie ging. Es war eben jener Moment, als drei Zwerge aus der gleichen Richtung hervor traten, aus der Armin und sein Gefährte schon gekommen waren. „Tretet zurück, bei Vraccas, geht bei Seite!“ forderte einer der Zwerge mit zornesfunkelnden Augen. Die drei waren in schwere Rüstungen gehüllt, zweifellos Krieger ihrer Clans und die Runenäxte verstärkten den Eindruck, dass die Stadtwache diesen Kampf unmöglich würde gewinnen können. „Geht, ich bitte euch, ist nicht schon genug Blut geflossen?“ versuchte der Kommandant weitere Kämpfe zu vermeiden. Die Rechtslage war eindeutig, eindeutig und überaus widersprüchlich: Für ihn galt das Gesetz des Königs, das da besagte, dass Verdächtige zur Wache gebracht und verhört werden mussten. Er durfte sie weder laufen lassen noch den Zwergen überlassen. Für diese jedoch galt ein alter, ehrwürdiger Clankodex – und ganz, wie der Zwerg nun sagte, musste das Blut des Gefallenen gerächt werden. „Hört auf! Schluss damit!“ schrie plötzlich Armirs Freund aus voller Kehle. Die Menge erstarrte gleichermaßen wie die Soldaten und Zwerge, selbst die junge Frau, noch immer trauernd, fuhr ängstlich zusammen und kehrte sich zu ihm um. „Ihr!“ befahl der Ältere den Wachen, „Nehmt dieses Pack und schleppt sie in die Kerker. Sofort!“ heischte er die Wächter an, die einen Moment ratlos zu ihrem Kommandanten blickten, dann jedoch auch ohne dessen Weisung an die Arbeit gingen, „Und ihr...!“ setzte er fort und blickte zu den Zwergen, „Ihr werdet anerkennen, dass ihr in Samara, einer Stadt der Menschen seid und hier unser Gesetz gilt. Nehmt euren Waffenbruder und setzt seinem Leib ein Ende, wie es eure Traditionen verlangen!“ Die Zwerge hassten nur wenige Dinge mehr, als wenn ein Langer sich aufschwang, ihnen Befehle geben zu wollen. Trotzdem war die Ausstrahlung dieses Burschen nicht zu unterschätzen. Er ließ weder mit Gestik, noch Stimmführung oder seinem Blick auch nur die Spur eines Zweifels daran, dass er sie persönlich angreifen und vielleicht sogar in Bedrängnis würde bringen können. Die Zwerge aber wollten gegen niemanden die Waffe erheben, der selbst keine trug und obendrein geholfen hatte, die Elben überhaupt erst zu überwältigen. Entsprechend entrissen sie der jungen Frau ihren toten Freund und zogen unverrichteter Dinge ab. Armir jedoch beobachtete gleichermaßen stolz, einen solchen Mann seinen Freund nennen zu dürfen, wie auch mit einer Spur neid, wie sein Gefährte zu der jungen Frau ging, ihr auf die Füße half und zuließ, dass sie sich neuerlich in Tränen und Schluchzen ausbrechend an seine Brust warf. Er führte sie vom Markt, nahm sie mit in das Gasthaus, in dem sie sich vorläufig einquartiert hatten und gab ihr ein eigenes Zimmer. Unnötig war das allemal, sie besaß ein Haus in Samara – zwei Wohnungen, doch eine davon würde nunmehr leer bleiben. Den Abend versoffen sie zu dritt, Armir und sein Begleiter erzählten ihr allerhand Geschichten, Märchen und Legenden, die sie gehört hatten, berichteten von ihren Abenteuern und lenkten sie nach besten Möglichkeiten ab. Dass sie letztlich das Zimmer ungenutzt ließ und mit dem Älteren in dessen gemieteten Reich verschwand, wusste Armir schon zu dem Zeitpunkt, als er jenen merkwürdigen Blickwechsel beider auffing. Natürlich hätte er schlecht ahnen können, dass sie nicht das Lager auf die Weise miteinander teilten, wie er selbst es vermutete und seinem Gefährten auch in den folgenden Monaten vorhalten würde. Er hatte ihr des Nachts lediglich ein warmes Bett und den Schutz eines starken Armes geboten, nicht mehr, nicht weniger. Armir glaubte ihm das nicht – aber das war ohnehin unwichtig. Am nächsten Morgen war die junge Frau verschwunden. Sie kannten nun ihren Namen, wussten, wo sie wohnte und doch suchten sie sie nicht auf. Sie zogen durch das Land, halfen den Völkern, wo und wie sie konnten. Jenes Mädchen jedoch schien Armir eine Bedrohung dieses Lebensstiles zu sein. Sein Freund interessierte sich für sie. Es war nicht einfach nur das Verlangen, das ihm aus den Augen gierte, es war Mitgefühl. Nicht die Art von Mitleid, die man vielleicht erwartet hätte – da steckte irgendwie mehr dahinter. Als sie Samara in südlicher Richtung verließen, um einen Händler samt seiner Waren bis Rhovanion zu begleiten, war Armir froh. Froh, den Verlockungen der Familiengründung und Sesshaftigkeit entkommen zu sein. Natürlich hatten jene nicht ihm gegolten, aber ohne seinen Waffenbruder, ohne seinen Reisegefährten würde er die Abenteuersuche ebenso aufgeben. So jedoch zogen sie weiter. Über die Winter trennten sie sich. Armir zog es in die Siedlungen der Elben, in denen er ein Jahr später tatsächlich das Herz einer jungen Elbe für sich gewann, die sich naiv und weltfremd von seinen Märchen und Geschichten über Ungeheuer und Abenteuer beeindrucken ließ. Nur ein weiteres Jahr würde es dauern, bis Armir es sein würde, der sesshaft wurde und eine Familie gründete. Sein Freund jedoch, dem erging es anders. Die Zeiten änderten sich. Für seine Familie wurde es härter, denn das Gut ihres Landes mochten sie vielleicht in La Coeur verkaufen, doch die Ernten waren nur dank elbischer Zauber so gut gediehen – und die wurden von Jahreszeit zu Jahreszeit teurer. Wann immer er im Hause seiner Eltern einkehrte, spürte er wieder den Frieden und die Ruhe, die ihm eine schöne und erfüllte Kindheit vermittelt und ermöglicht hatten. Er ließ sich treiben, half bei der Feldarbeit, sofern diese im Winter machbar war, fütterte das Vieh, ritt mit dem Wallach seines Vaters aus. Die Winter waren fröhliche und gleichermaßen besinnliche Zeiten. Und doch vermochte die Klaue der Zeit selbst durch die Dielen guter Erinnerungen zu dringen, schlüpfte durch die Fenster eines friedlichen Lebens und ließ die Geister der Familie wissen, dass die Welt sich wandelte. Sie sprachen nie darüber – obwohl eine Spannung in der Luft lag, als würde jeder es wollen. Die Elben waren immer schon hochmütig geworden, doch in letzter Zeit wurden sie überheblich, missmutig, ja regelrecht gefährlich. Was aus den Elben im Kerker Samaras wurde, hatte er bei seiner Rückkehr in die Stadt erfahren: Sie waren auf seltsame Weise gestorben. Ein Gift, vermutete die Stadtwache, doch keines, das ihnen bekannt war. Natürlich hatte das Empörung hervorgerufen, Racheversprechungen laut werden lassen, die Situation verschlimmert. Ein Adelsmann war gestorben. Gewiss kein Führer eines ganzen Elbenvolkes, aber doch ein beliebtes Mitglieder der Hochgeborenen von Esgaroth. Er jedoch hatte auf seinen Reisen immer aufs Neue gesehen, wozu alles führte. Er hatte gesehen, wie die Völker einander behandelten. Wie die Spirale aus Misstrauen, Verachtung und Anfeindung, List und Betrug sich immer weiter in die Höhe schraubte. Zwei Jahre lang hatte er mit wachsender Besorgnis, letztlich sogar regelrechter Angst verfolgt, wie ein Land gleich einem Schiff direkt auf den Sturm zuhielt. Der König verhandelte anfangs mit den Elben von Esgaroth. Die Rede war von Zahlungen, die Erwiderung waren zwei tote Boten, es gab plötzlich das Gerücht, der Hof von La Coeur würde über Gesetze beratschlagen, die den Elben ihren Bürgerrechtsstatus aberkennen sollten. Wenn das Gewitter einmal in Sicht geriet, so zog es zumeist erschreckend rasch auf. Die Elben erklärten im Frühling 2162 den Krieg. Stets und allzeit hatte er versucht zu helfen. Er war durch das Land gezogen und hatte sich mit Tugend und Idealismus bemüht, die Vorurteile zu bekämpfen und Frieden zu schüren. Nur ein einzelner Mann, doch er hatte viel Gutes getan. Viel – aber nicht genug. Als er einsehen musste, dass der Kampf unumgänglich war, wollte er für eine Ordnung eintreten, die ihm recht erschien und meldete sich als einer von Tausenden Freiwilliger für Lumiéls Heer. Sein Vater versuchte über Tage ihm dies auszureden, seine Mutter weinte ununterbrochen, die letzten Wochen am Hof wurden zur Qual und Belastung gleichermaßen – er zog früher als gewohnt aus, streifte umher, geriet nach Samara. Es war Zufall – oder der Wille der Götter –, dass er sich zur rechten Zeit in einem Viertel wiederfand, als ihm einfiel, wer hier wohnte. Eine junge Frau, die damals einen guten Freund verloren hatte und danach mit ihm um die Wette trank. Er erinnerte sich an den Duft ihrer Haare, als sie dicht an ihn gedrängt einschlief und der entsetzlich Leere, als er allein erwachte und ahnte, dass er sein Herz verloren hatte. Er fand das Haus wieder, einsam und verlassen, zog Erkundigungen ein, erfuhr von einem Laden, der als Zentrum eines verdächtigen Brandes vor zwei Jahren in Flammen aufgegangen war, kurz nachdem eine Delegation Esgarothelben ums Leben kam. Mosaik. Wenn ein Teil sich zum anderen fügt. Er fand sie wieder, verhärmt, verarmt, fast aller Hoffnungen beraubt, wie sie bei ein paar Zwergen ihr Geld damit verdiente, ihre Schmiedewaren zu reinigen, zu polieren. Noch immer lag in ihren Augen der unbändige Stolz, der Trotz wider dieser Welt, der ihn schon vor zwei Jahren so sehr fasziniert hatte. Sie verbrachten fast die gesamten Wochen miteinander. Wann immer ihre Zeit es zuließ – denn auch ein gutes Mahl mochte bezahlt sein. Er hatte überlegt, ihr aushelfen zu wollen, verwarf den Gedanken ganz zu Recht jedoch rasch wieder – allein das Angebot hätte sie gekränkt. Als der Krieg tatsächlich kam, hatten sie bereits zueinander gefunden. Sie versuchte nicht, ihn vom Kampf abzuhalten, ließ ihn jedoch auf Arimasper und Damastes schwören, dass er lebend zu ihr zurückkehren würde. Er schloss sich dem Heer an, bekam aus des Königs Fundus Rüstung und Schwert von höherer Qualität, als seine es je hätten erreichen können. Sie schützten Karawanen, überfielen Schiffe und Häfen, trugen kleinere Scharmützel aus. Es war eine furchtbare Zeit, ein furchtbares Jahr, in dem er das Gesicht des Krieges kennen lernte. Seine Kampfkunst galt selbst unter seinen Mitstreitern bald schon als beachtlich, er wurde zum Kommandant einer eigenen kleinen Einheit benannt und musste aus der Position heraus mit ansehen, wie das Land ausgebrannt wurde. Hatte es anfangs mit vereinzelten Übergriffen, Attentaten und Karawanen begonnen, zogen sie später durch verwüstete Dörfer und ausgebrannte Ruinen. Der Krieg bleckte die Zähne und lachte ihnen höhnisch ins Gesicht. Er jedoch geriet unter den gleichen Bann, wie es alle Soldaten aus Lumiéls Heer taten. Flammene Reden der Generäle, blindes Vertrauen auf das Wort ihres Königs – wenn man ein Dorf niedergeschlachtet fand, war es nicht schwer, daran zu glauben, dass der Feind das Überleben nicht verdient hatte. Im Jahr 2163, zwei Tage vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag, hatten sie den Angriff einer kleinen Gruppe Elben auf einen Versorgungszug der Zwerge aufgehalten. Längst waren diese durch diplomatisches Geschick in den Krieg eingespannt und es ging das Gerücht, die Elben hätten sich in der Verzweiflung ihrer schlechten Lage mit den Zentauren eingelassen. Mit schwerer Lederrüstung und einem kleinen, runden Eichenschild stand der Kommandant über dem bewusstlosen Leib eines Hochgeborenen. Er hatte ihn mühelos mit dem Schild niedergeschlagen und wusste damit noch so manch anderes Kunststück anzufangen. Seine Männer hatten nicht schlecht gestaunt, als er ihnen zeigte, dass man den Schild notfalls mit ausreichend Kraft sogar würde werfen können. Einer seiner Männer trat nun zu ihn heran, blickte auf den Elb nieder und spuckte auf Selbigen. Eine Geste, die ihn immer wieder, egal wie oft er sie erlebte, an jenen Tag auf dem Markt in Samara erinnerte. „Das muss nicht sein!“ wies er seinen Mitstreiter scharf zurecht, zitierte einen Anderen herbei und ließ ihn dem Spitzohr Fesseln anlegen. Ein Kriegsgefangener mehr für die Kerker La Coeurs. „Ach nicht? Deine Meinung wirst du rasch ändern!“ erwiderte der Soldat grimmigen Blickes, „Wir haben neue Kunde bekommen. Ein Befehl vom König persönlich. Alle Truppen werden zusammen gezogen, es gibt ein Heerlager in Samara.“ Kalt blies der Wind ihm um das von Jahr zu Jahr weniger gewordene Haar. Er schloss die Augen, drängte die Tränen zurück, die aufquellen wollten, spürte den Wind an seinen Armen, das Flüstern der Götter in seinen Ohren. Seine Rechte umschloss den Schwertgriff, kaltes Eisen, starr und beruhigend ob des Wissens, sich verteidigen zu können. Doch was war mit jenen, die sich nicht verteidigen konnten? Man hatte ihm zugetragen, dass die Elben vor wenigen Wochen einen Angriff auf La Coeur gewagt hätten. Die Stadtgarnison konnte ihn zurückschlagen, mühelos, doch die äußeren Höfe waren verwüstet worden. Er wusste nicht, wie es seinen Eltern ging. In ihrem letzten Brief sprach seine Mutter von einer schweren Lungenentzündung, die sie und seinen Vater befallen hätte... lebten sie noch? Waren sie genesen? Hatten die Elben sie umgebracht? „Packt eure Sachen!“ heischte er lauthals und ignorierte das selbstgefällige, ja fast schon gehässige Grinsen seines Mitstreiters, „Wir ziehen nach Samara!“ befahl der Kommandant unwissend darüber, welches Grauen ihn erwarten würde. Jeder Mensch hat eine Grenze, die zu überschreiten ihm alles abverlangt – auch seinen Verstand. Das können Dinge sein, die man sieht, Geschichten, von denen man hört oder Übles, das man erlebt... Im Heerlager Samaras ging es drunter und drüber. Die Stadt war groß und bot viel Raum, doch sie war gleichermaßen schlecht verteidigt, wie sie auch wahrlich für so viele Soldaten dann doch nicht genug Platz bieten konnte. Er führte seine Truppe zu einem größeren Lagerhaus im Süden der Stadt, hielt sich bewusst von seiner Liebsten fern und schlief Nacht um Nacht auf lächerlich provisorischen, nahezu nutzlosen Strohmatten. Am Tag übten sie, trainierten, bis ihnen jeder Muskel schmerzte. Sie stählten sich. Jeden Tag kam neue Kunde. Die Elben hätten sich in Rhovanion gesammelt, die Zentauren ebenso, ein großes Heer würde auf Samara zu marschieren. Es war der Sommer dieses Jahres, als die Menschen und Zwerge auszogen. Ganz Samara wurde geräumt, man strebte südwärts. Die Informationen der Späher waren verlässlicher geworden, man hatte das Heer auffinden können, ihre Marschroute ausgekundschaftet. Auf den weiten Grünflächen südlich der Stadt standen sie sich schließlich gegenüber. Er hatte mit seinen Männern einstimmig darum gebeten, in den vorderen Reihen sein zu können. Nicht, weil er unbedingt sterben wollte, sondern weil er der festen Überzeugung war, dass sie die Schlacht gewinnen konnten, wenn die ersten Reihen eben nicht so sehr ausgesiebt werden würden. Der dumme, naive Gedankengang eines Einundzwanzigjährigen. Er stand dort, die Eisenstiefel klirrten bei jeder Bewegung, der schwere Lederpanzer war unbequem und roch nach totem Tier, der Stahl in seiner Hand wirkte plötzlich schmerzhaft kalt. Durch das Visier seines Helmes war das Sichtfeld eingeschränkt, er hörte sich atmen, spürte sein Blut aufgeregt durch die Adern rauschen. Im Geiste wiederholte er ihre Worte, wie sie ihn hatte schwören lassen, bei den Göttern, bei allem, was ihm heilig war. Er würde diesen Tag überdauern, er würde dazu beitragen, Lumiél ein- für allemal zu befreien. Viele kannten inzwischen seinen Namen, viele wussten um sein Wesen, viele blickten zu ihm auf und heute, ja, heute standen sie alle mit ihm Seite an Seite zusammen gegen den Feind, der ihre Welt bedrohte. Die Viervölkerschlacht von Samara, auch das ‚Quartett von Samara‘ genannt, war der verheerendste Angriff zweier Parteien aufeinander, den es je gegeben hatte. Als das Signalhorn ertönte, begann ein Blutvergießen, das drei Tage anhalten sollte. Die Armeen stürmten aufeinander zu, die Reihen brachen ineinander hinein. Schon nach den ersten Herzschlägen hatte er vier Freunde und Mitstreiter verloren, ohne es zu wissen oder auch nur zu ahnen. Einem Wunder hätte es gleich kommen müssen, dass er selbst durch die Hellebardiere des Feindes hindurch fegte, ohne auch nur an einer einzigen Lanze seine Rüstung zu streifen. Er kämpfte mit allen Künsten, die ihm zu Gebote standen, entging Axt- und Schwerthieben, wehrte mit dem Rundschild Pfeilhagel ab und schlug zu nah stehende Feinde nieder. Jedes ausgelöschte Leben, so redete er sich ein, war ein Sieg für seine Heimat, für seine Eltern, für sein eigenes Leben, das der Pfand für das geliebte Herz war. Doch so begann es nur. Als der erste Tag endete, die Heere sich zurückzogen, die Generäle ihre Wunden leckten, war das Schlachtfeld gesäumt mit Leichen und Blut. Man versuchte die Verwundeten zu retten, doch selbst die besten Kräuterkundigen und Heiler mussten in diesen Stunden viele Niederlagen hinnehmen. Kaum jedoch, dass der Morgen graute, brachen die Fronten erneut aufeinander. Inzwischen hatten beide Fronten aus den hinteren Reihen gewaltige Kriegsmaschinen aufgefahren. Katapulte und Triboken schleuderten Felsbrocken durch die gegnerischen Reihen, die Magiekundigen schleuderten Bannsiegel und Angriffszauber durch das Gewebe und hatte er sich anfangs noch Schwertern und Pfeilen erwehren müssen, so rettete ihn am zweiten Tag nur manch gewagter Hechtsprung vor einem Brocken, so groß wie er selbst oder einem Feuerball, der sich in den Boden grub. An diesem Abend zog man drei Pfeile aus seinem Körper. Aus seinem Bein, seinem Arm, seiner Schulter. Er hatte überlebt und nun war er verwundet. Er würde umkehren können, könnte sich zurück ziehen. Doch was dann? Einfach aufgeben? Er war fähig, zu stehen, zu gehen, zu laufen, ein Schwert zu halten. Er würde weiter kämpfen, bis zum letzten Atemzug würde er Samara und den Schatz darin behüten. „Schlachtet sie alle ab!“ kreischte einer der Offiziere kaum drei Meter von ihm entfernt. Eine Meute Zwerge sprang hervor. Gute Spurter, kräftige Arme, sie bezwangen mühelos die Elben, die ihnen im Weg standen und wurden dann von einem Eiszauber erfasst und nieder geworfen. Das Geschrei von Schmerz und Leid mischte sich mit der Verachtung und dem Hass eines ganzen Zeitalters. Bis zu diesem Punkt hatte sich alles aufgestaut, waren die Spannungen gewachsen, ohne dass man sich ihnen entgegen gestellt hätte. Bemerkt hatte es jeder, doch wozu handeln, wozu selbst die Initiative ergreifen, konnten die Anderen das doch ebenso gut tun? Heute zahlten sie in Blut und selbst er, unser tapferer Held, vermochte sich diesem allgegenwärtigen Hass nicht zu widersetzen. In blinder Wut schlug und hackte er um sich, löschte ein Leben nach dem Anderen aus. „Schlachtet sie alle!“ hörte er sich selbst aus voller Kehle schreien. Er wäre entsetzt gewesen, er wäre in Scham und Schuldgefühlen zu Boden gesunken, hätte er sich dies bei klarem Verstand sagen hören, hätte er sich ertappt, dies auch nur zu denken – doch eben daran fehlte es ihm. Klarer Verstand. Daran fehlte es jedem hier. Seine ‚neuen‘ Männer sprangen vor, rangten die Belegschaft und Wächter eines Katapultes nieder und platzierten darin etwas, das die Goblins dem König verkauft hatten. „Runter!“ schrie ihr Kommandant, warf sich zu Boden und sah, dass einer seiner Männer nicht schnell genug reagierte. Das Holzkonstrukt wurde regelrecht zerfetzt, der Soldat von Splittern und Feuerwolken umschlossen und tot zu Boden geworfen. Er jedoch riss sich in die Luft, funkelte zu den Elben, als hätten sie allein den Tod dieses Menschen zu verschulden. „Nieder mit ihnen!“ befahl er und stürmte erneut hervor. Wenn ein ganzes Leben bis zu einem einzelnen Punkt dazu gedient hatte, zu helfen und Leben zu retten, es zu verbessern – konnte man solche Güte damit aufwiegen, wie viele Leben zerstört wurden? Konnte man einfach eine Strichrechnung machen und nach einhundert Leichen behaupten, jemand sei ein guter Mensch, weil er einhundert Menschen plus einen weiteren gerettet hatte? In dieser Nacht fand er keinen Schlaf. Schlafen bedeutete, die Augen zu schließen. Wenn er das tat, sah er sie, sah Samaras Märkte und Straßen, sah Armir und seine Elbe, er sah seine Eltern, sah sich lachen, sah seinen Vater ihm das Reiten beibringen, er sah ihn seine Lehren erteilen und sah sich diese Lehren aufnehmen, sah sich nicken und begreifen. Wenn er die Augen schloss, kehrte sein Verstand zurück und ließ ihn erkennen, welche Schuld er sich im Angesicht der Götter aufgeladen hatte. Er hatte gemordet, aus reiner Gier am Töten heraus, aus Verachtung, aus tiefem Hass, der nicht einmal sein eigener war. Solche Schuld würde kein noch so reumütiges Leben aufwiegen können, dessen war er sich sicher. Also lief er umher. Lief durch die Lazarette, in denen verzweifelte Heiler um Dutzende Leben rangen und doch nur selten siegten. Er lief umher und sah die Felder der Toten und Leichenberge, sah die zerstörten Kriegsmaschinen auf beiden Seiten brennen, sah die Kommandanten und anderen Offiziere sich in unruhigen Träumen voll der Schmach und Schuld sich hin und her werfen. Er sah seine Kameraden in den Zelten, wie sie lethargisch beisammen saßen, schweigend, die Mienen starr wie Skulpturen und eingefroren darin kein verführerisches Lächeln, kein schelmisches Grinsen – nur die Fratze, die der Krieg ihnen aufgezwungen hatte. Kalt, bitter, grässlich leer. Konnte man im Krieg seine Seele verlieren, weil man daran teilnahm? Weil man ein Teil vom Krieg wurde? Konnte man seine Seele an Arimasper verlieren, wenn man aus Hass und Verachtung in die Schlacht zog? Oder verlor man sie dann gar an Ceteus? Er schauderte, versuchte die Gedanken zu untergraben und zog sich zu später Stunde in eine der Tavernen im Südviertel zurück. Er trank, bis er kaum noch laufen konnte, wankte zurück in sein Lager, übergab sich auf dem Weg dorthin mehrfach und fand selbst dann keine Ruhe. Wach lag er auf seinem Lager, starrte die Decke an und versuchte sich der Bilder zu erwehren, die ihn in den Stunden der Dunkelheit aufsuchten. Entsetzte Gesichter, die gewahrten, dass ihre Deckung soeben zerstört worden war. Der Schrecken fremder Augen, die gerade registrieren, dass eine Klinge sich durch ihren Leib gestoßen hatte. Die Angst in den Augen der Sterbenden, das Flehen um Gnade, darin, an denen er einfach achtlos vorbei gelaufen war. So war der Krieg? So durfte kein Krieg sein, niemals, nirgendwo, das war einfach nicht Recht, das war ein Grauen, ein Unheil, eine Entmenschlichung. Dieser Kampf raubte ihnen das Einzige, was er bislang für unabkömmlich hielt. Als er am dritten Tag in die Schlacht zog, schien ein neuer Mann in den Linien zu stehen. Sie preschten aufeinander, sie vergossen neues Blut, doch er zögerte. Viel zu oft rief er seine Männer zurück, bewies Gnade, zwang sich regelrecht dazu, einen seiner Soldaten mit einem schwer Verwundeten zu den Lazaretten zurück zu schicken. Menschlichkeit. Kein Kampf durfte jemals ohne ein Grundmaß an Menschlichkeit bestritten werden. Wenn man die eigenen Verwundeten wie Luft und Erde behandelte, dann versündigte man sich gegen die Götter. Wenn man seinen Feinden, obgleich bezwungen, keine Gnade zusprach, dann brach man die heiligsten Gesetze. Das musste ein Ende haben, dieser ganze verdammte Krieg war so falsch! Wie hätte er auch wissen können, dass noch ganz andere Augen das Geschehen der Welt verfolgten? Lumiél ist bis heute ein kleiner Inselstaat, scheinbar unbedeutend und doch die Quelle von etwas Gewaltigem. Es war früher Nachmittag, der Kampf noch immer ungebrochen in vollem Gange, als die Erde zu erzittern begann. „Sie wird uns verschlingen, sie frisst uns alle!“ rief einer der Männer panisch aus, der schon am ersten Tag seinen Verstand verloren hatte und nur noch eine Klinge führen durfte, weil er Freund noch von Feind zu unterscheiden wusste. Ein Grollen tief aus der Erde brach sich Bahn, ließ den Boden unter ihrer aller Füße erzittern. Weit im Osten explodierte etwas. Eine gewaltige Fontäne massiver Steinbrocken, Grasmatten und sogar einzelner Bäume flog im hohen Bogen in die Luft und ließ einen braungrünen Schauer auf den Boden nieder gehen. Alle zuckten vor der Wucht und Gewalt dieses Schauspiels zusammen. Etwas war mit dem Erdreich in die Luft geströmt, sie wussten es. Manche hatten es gesehen, doch niemand vermochte zu sagen, was es war, zu undeutlich waren die Schatten, zu schnell war es über den Wolken verschwunden. Was nun? In atemloser Spannung hielt die Welt inne. Das Schlachtfeld rührte sich nicht, keiner wagte zu einem neuen Schlag auszuholen, selbst die Verwundeten schienen das gequälte Lärmen eingestellt zu haben. Sie sahen die Erde nieder rieseln und wussten, das etwas über ihnen war. Nur was? Und wo? Doch alle Fragen liegen ins Leere. Eine mächtige Stimme ertönte, sie drang in ihre Köpfe, brach sich gewaltsam Bahn. „So viel Hass... ihr erstickt daran... so viel Blut... ihr schwimmt darin... das muss ein Ende finden.“ Die Wolken, eben noch weiß und harmlos, wurden dunkler und dunkler, schwärzten sich ein. Schon zuckten erste Blitze, noch ehe ein Tropfen gefallen war. Der ganze Himmel wurde finster, zog sich zu, von einem Horizont zum Nächsten, die ganze Welt wurde in Nachtschwärze getaucht und droben leuchtete das Zucken der Blitze. Oder... waren diese rötlichen Spuren wirklich Blitze? In der Finsternis der Wolkenfront stieß etwas zu ihnen herab. Ein gewaltiges Röhren brach sich Bahn und ließ die Männer vor Schmerz die Waffen fallen lassen. Sie pressten sich die Hände auf die Ohren, doch das vermochte den Effekt kaum aufzuhalten. Mit eigenen Schmerzschreien in das wütende Grollen einstimmend, wankten sie umher, suchten Hilfe und Heil und fanden weder das Eine, noch das Andere. Flammen zogen auf, eine regelrechte Schneise fegte über das Gras und brannte es in Sekunden zu Asche. Er wich zurück, befahl seinen Männern den Rückzug, sah das konturlose Etwas von Neuem nieder preschen, er spürte es einfach kommen und rannte, rannte, so schnell seine Beinwunde es zuließ. Ein Meer flüssigen Feuers ergoss sich über das Land. Die Toten würden niemals ein Grab finden. Die Menschen und Zwerge flohen nach Norden, die Elben und Zentauren nach Süden, doch zahllose Wesen vermochten den Feuern nicht zu entrinnen. Er sah einen seiner Männer neben sich rennen. Ein Funke der Flammen nur hatte ihn getroffen, doch binnen Sekunden hatte er auf den Panzer übergegriffen, auf seine Sohlen, Leinen, Haut und Haare. Ein Funke nur brannte den Soldaten zu Asche, noch während er rannte. Die Überreste stürzten zu Boden, glühten noch einen Moment, doch das Gras geriet nicht in Brand. Magie. Es konnte nur Magie sein. Diese Flammen waren nicht natürlich! Kein Flammenmeer brannte auf Gras und Erde unzählige Meter hoch, keine Feuerhölle dieser Welt würde bei so stürmischem Regen und solch schneidenden Winden so mühelos wüten wie ein Flächenbrand in einem seit Jahren ausgedörrten Wald! Das Quartett von Samara hatte endlich ein Ende gefunden. Tausende hatten ihr Leben lassen müssen, Tausende würden niemals ein Grab bekommen, Tausende Familien niemals wissen, ob ihre Vermissten den Flammen entkamen. Doch dem Wahnsinn war Einhalt geboten worden. Er jedoch legte an diesem Tag das Schwert und die Rüstung nieder und schwor beim Kriegsgott, dass ihm zu keiner Zeit seines Lebens jemals wieder solches Unheil ereilen sollte. Er kehrte dem Schlachtfeld den Rücken, dem Heer Lumiéls, dem König. Daheim würde er erfahren müssen, was er längst im Herzen gewusst: Seine Eltern waren tot. Doch war es tröstlich, dass sie nicht durch Elbenhand, sondern von der Krankheit dahin gerafft worden waren? Nein. Sie waren in Ereshkigals Hand, ganz gleich, durch wessen Einfluss. Es spielte keine Rolle. Er erbte den Hof seiner Eltern und wusste ihn bald schon mit neuem Leben zu füllen. Die junge Frau aus Samara sollte sein Weib sein, reichte ihm die Hand zum heiligsten Bund, besiegelt in alter Tradition unter dem wachsamen Auge der Damastes. Wie hatten die Jahre ihn verändert? Er war groß und stark geworden, hatte Tugend und Gerechtigkeit gelernt, hatte gesehen, wie die Welt wirklich war und hatte erkannt, wie tief der Abgrund des Krieges, der Abgrund des Hasses und der Verachtung wirklich war: Ein endloses, schwarzes Loch in dem man sich und seinen Verstand verlor, seine Seele verlor. Er war zurück geschreckt, hatte Menschen verloren, Freunde zu Grabe getragen, geliebt und geheiratet. Er hatte die dunklen Jahre Lumiéls überlebt und ihm allein gebührte das Schicksal, dereinst in nur drei weiteren Jahren selbst von des Volkes Hand erhoben auf den Thron des Inselreiches zu steigen. Ihm würde man guten Gewissens Krone und Zepter überreichen, ihn das Land führen lassen, zu neuer Blüte und Größe. Für die Geschichtsschreibung würde er stets der Namenlose bleiben, den die Historiker unserer Welt nur noch als den ‚Herzträger‘ kennen... Nun, mein Freund, was sagst du? War die Geschichte des Kruges wert oder nicht? Dachte ich mir doch. Nun lass einen alten Mann gehen und sein Schicksal in der Nacht finden! Der Alte erhob sich vom Kamin, zog die Kutte seines Gewandes mit faltigen Händen über den von schneeweißem Haar verzierten Schopf und mühte den ausgemerkelten Körper vom Stuhl. Er trat zur Türe der Taverne hin, störte sich nicht an jenem großen Kreis neugieriger und stillschweigender Hörer, der sich versammelt hatte. Einzig, als eine junge Frau sich erhob und ihn um einen Moment bat, packte er den Türknauf, zog das Brett auf und wartete. Sein Blick fiel in die tiefe, dunkle Nacht. Er würde heute sterben, das wusste er. Noch diese Nacht, noch diese Stunde. Viele glückliche Jahre hatte sein Weib ihm schenken können, doch heute Nacht würde für Armir ein Rabe kommen, seine Seele zum Schwurgericht zu bringen. Eine junge Adelsdame hielt ihn zurück. Ihre würdevolle Haltung, ihr feines Benehmen und ihr edler Duft verrieten sie. Ob die Geschichte wahr sei, wollte sie wissen. Er wandte sich um, sah Ninafer Saeryleth in die Augen und lächelte so wissend und vorausschauend, als hätte er die Gabe der Hellseherei erlernt. „Jedes Wort. Pass gut auf ihn auf.“ flüsterte der schwächliche Alte und zog aus der Taverne, hinaus in erbitterten Regen und beißend kalte Winde. Die Tür schloss sich hinter ihm, er blickte zum Himmel auf und lächelte glückselig. „Mach’s gut, mein Freund.“ Kapitel 5: Vergeltung auf Umwegen --------------------------------- Edoras war immer schon ein gespaltenes Land. Was sonst sollte man auch von einem Flecken Erde erwarten, der den beständigen, fortwährenden Besitzansprüchen und Zänkereien einer groß auffächernden Familie unterlag? Augustine Calée, die Urahnin der Linie, hatte vor Ewigkeiten mit einem halb zerrissenen Beiboot das Land erreicht und statt tot zusammen zu brechen, einen mythologisch fundierten Kampf aufgenommen. Sie hat sich der Bestie gestellt, die den Landstrich seit Jahrhunderten terrorisierte und letztlich trug sie einen Drachenkopf als Trophäe durch die Dörfer und Städte. Von diesem Punkt an war es kaum ein Jahr, bis sich die Dörfer und Gemeinden einigten, ein Reich gründeten und Augustine auf den Thron dessen setzten. Damit war die Calée-Linie begründet, ein Geblüt, das viele Jahrhunderte in Frieden herrschen und dem Land Wohlstand bringen sollte. Doch Macht, das zeigt die Geschichte wieder und wieder, verdirbt den Charakter früher oder später. Bei den Calées dauerte es eben mehrere Generationen, doch auch bei ihnen wurde der Punkt erreicht, an dem die Familie zu groß geworden war, an dem es nicht mehr genug Land zu verwalten gab, um alle Clanmitglieder zufrieden zu stellen. Der Punkt, an dem Rivalitäten und Feindschaften ausbrachen, die das Land wieder in jene kleinen Fetzen zerrissen, welche sie vor dem Königsthron schon waren. Viele Jahrzehnte brandete das Unheil wie die dem Mond unterworfene Flut auf und ab. Attentate in menschenleeren Wäldern, Giftanschläge bei gut bezahlten Dienstmägden, offene Kriege und Belagerungen. Am Ende einer langen Blutfehde gab es nur noch zwei Vertreter der Calées. Isabelle, mit zwanzig Jahren blutjung, und doch von ihrem Volk geliebt und verehrt. Sie war die Nichte Germonts, eines Mannes, der weit weniger geliebt, dafür aber zu Recht gefürchtet wurde. Germonts Regiment war strikt und eisern, das Land ächzte unter einem fast drakonischen Strafsystem. Gut bezahlt wurde nur das Militär – selbst der Klerus und Adel hatten finstere Zeiten unter seiner Obhut erlitten. Über Jahre hinweg bekriegten die letzten Calées einander. Isabelle aus reiner Notwendigkeit der Verteidigung heraus, Germont aus dem Wissen, dass sein eigenes Volk ihn irgendwann exekutieren und zu ihr überlaufen würde, wenn er nicht selbst dafür Sorge trüge, dass es nur noch einen atmenden Calée gäbe. Der Kampf spitzte sich zu und während Isabelle auf die Liebe ihres Volkes hoffte, setzte Germont auf Zwangsrekrutierungen. Wie sich zeigte, war er mit seiner Taktik erfolgreicher. Bis zum Winter hatte er Isabelle in eine Feste zurückgeschlagen, war tief in ihr Land eingedrungen und belagerte die schier uneinnehmbar wirkenden Mauern mit seiner Legion, hoffend, dass ihnen vor Mangel an Wasser und Proviant der Verstand durch die Finger gleiten würde. Ein Angriff auf die Festung war völlig undenkbar. Nun war Isabelle jedoch eine streng religiöse Frau, Zeit ihres Lebens in dem Wissen erzogen worden, dass die Götter über sie wachten. Ein Glaube, der ihrem Onkel wenig bedeutete, den sie selbst jedoch mit Inbrunst verfolgte. Unter ihren Höflingen hieß es, niemand nehme die Gesetze der Götter so ernst, wie Isabelle. Sie kniete täglich nieder und sprach ihr Gebet zu jenen, die droben wachten, sicher, das dem so war. Auch zu Zeiten der Belagerung kniete die junge Königin jeden Tag nieder, bat um Stärke, um Beistand, um Gerechtigkeit. Lange Zeit schien es, als würden die Götter ihren Tod fordern, doch das Blatt wendete sich. Es war ein kalter Wintertag, voll von stürmischen Winden und unablässigem Schnee, als ein Gelehrter das Lager Germonts aufsuchte. „Mein Lord, ich bitte euch, zeigt Gnade und lasst sie in unser Kloster fliehen! In Kontemplation und Einheit mit den Göttern wird sie Frieden finden und ihr könnt regieren, wie es euch beliebt!“ Germont aber, in rasendem Zorn über die Dreistigkeit eines solchen Vorschlages, zerschmetterte den tönernen Adler an der Wand, den der Priester als Gastgeschenk mitgebracht hatte. „Und zulassen, dass diese Vettel selbst aus dicksten Mauern heraus meine Herrschaft in Frage stellt?“ schrie er voll der Empörung dem Priester entgegen. Der Geistliche erkannte, welchem Wahn er gegenüber stand und bedauerte. Germont gleichermaßen wie sich selbst, denn was mit ihm geschehen würde, das war ihm klar geworden, als er das ungestüme Flackern des Hasses in den Augen dieses Mannes sah. So viel tollkühne Verachtung konnte nicht ewig unbemerkt bleiben, so viel Hass konnte nicht ewig folgenlos bleiben. Die Götter würden sich seiner annehmen, dessen war der Priester sich sicher, und er schrie seine Gewissheit hinaus, als die Flammen ihn läuterten. Isabelle aber sah, was ihr Blutsverwandter einem Geweihten antat. Sie sah die Rauchsäule am Himmel und roch den Gestank verkohlten Fleisches. Von Kummer und Wut getrieben, riss sie sich vom Fenster los und eilte tränenschwerer Augen durch die Gänge, stieß Diener und Höflinge zur Seite und sperrte sich in ihrer Kammer ein. Die schweren Holzplanken verhinderten jedes Eindringen – und auch, das die Geräusche ihrer Trauer hinaus fanden. Haltlos beweinte sie die ganze Nacht das Schicksal des Landes, einer ganzen Welt, eines Mannes. Sie weinte über all das Leid und Elend, das eine einzige Blutlinie so aufrechten Menschen gebracht hatte und verfluchte den Thron auf ewig. Ein letztes Mal faltete sie die Hände zum Gebet, zitternde Finger, die Halt suchend sich ineinander klammerten, während ein leises, unheilvolles Flüstern die Wände durchtränkte. Sie betete zu Mermerus, dem Sonnengott, dem großen Richter über die Seelen der Verstorbenen... und den Gott der Rache. Germont solle nicht ungeschont und ungesühnt davon kommen, er solle Sühne erleiden für das Leid, das er über ein unbedarftes Volk brachte. Selbst die Mythen und Legenden sind sich nicht einig, was in jener Nacht geschah. Manche sprechen davon, dass Isabelle von den Göttern enttäuscht einen bitteren Entschluss fasste. Andere behaupten, Mermerus persönlich sei ihr erschienen und habe geantwortet. Doch als die junge Königin in den frühsten Stunden des Morgens aus ihrer Kammer trat, da war sie nicht die Frau, die jene betreten hatte. Eine Todgeweihte, aber nie hatte man den Stolz oder die Kampfeslust tiefer in ihren Augen funkeln sehen. Es heißt, die Rede, die sie vor ihren Männern und Frauen hielt, sei so bewegend gewesen, dass manche in Tränen auf die Knie gebrochen seien. Einst gab es Abschriften ihrer Worte, doch der Strudel der Gezeiten hat sie vernichtet. Ihre Soldaten rüsteten zum Kampf. Mit leeren Mägen und flauem Verstand, von Hunger und Erschöpfung aufgezehrt. Doch als sie die Burgtore öffneten, die Zugbrücke herab ließen, da stürmten sie wie die Flut aus dem Wall und brachen über das im Morgengrauen nur langsam erwachende Lager der feindlichen Armee hinweg. Unzählige fielen, ehe Germont und seine Generäle auch nur annähernd Ordnung in das eigene Heer bringen konnten. Der Gegenschlag erfolgte rasch und vernichtend. Die Mehrheit der Angreifer wurde getötet, ehe auch nur die ersten Sonnenstrahlen über die östlichen Wipfel brachen. Schließlich standen Isabelle und Germont einander gegenüber. Ein Zweikampf entbrannte, der kaum kürzer oder schmachvoller hätte sein können. Der kriegsgestählte Veteran, erfahren aus unzähligen Kämpfen und Schlachten, bezwang seine Nichte mühelos. „Ein paar letzte Worte, ehe ich deine Leiche für die Krähen hier lasse?“ heischte er sie an, gleichermaßen zornig wie triumphierend. „Es wird der Tag kommen, an dem du bereust, mich getötet zu haben. Du wirst flehen, betteln, wüten und schreien. Aber dir wird keine Gnade zuteil werden...“ „Ach? Und wer soll dich rächen, Nichte? Du, oder deine Männer?“ „Warte nur ab, wir werden alle zugegen sein!“ In dem Glauben, seine Nichte habe letztlich doch noch den Verstand verloren, drang ein heiseres Lachen aus der Kehle des Königs, ehe er ihr mit dem Schwert die Kehle aufriss. Königliches Blut quoll in dichten Wellen aus dem Riss, ein abscheulicher Anblick, wie das hübsche junge Ding zugrunde ging. Germont jedoch, frei von Skrupel und Mitleid, stieß sie in den Dreck zu den Leibern ihrer Kameraden und, wie er es versprochen hatte, ließ sie und alle Gefallenen zurück, um den Wölfen der Wälder und den Krähen des Himmels einen Fraß zu bescheren, ein Festmahl. Für den König war es von diesem Punkt an ein Leichtes, den verbliebenen Teil von Edoras zu erobern. Niemand kommandierte mehr die Truppen, die zur Verteidigung zurückgelassen wurden. Germont feierte in Isabelles alter Hauptstadt mit einem pompösen Gelage seinen Siegeszug und die erneute Krönung, doch wie es schon wenige Wochen später den Anschein hatte, ließen ihn Isabelles Worte nicht zur Ruhe kommen. Schwere Träume, geplagt von den Schreien der Soldaten und der unheilvollen Drohung der bezwungenen Feindin, rissen ihn jede Nacht wieder aus dem Schlaf. Des Tages wirkte er unausgeglichen, nervös, seine Herrschaft wurde zunehmend härter. Bald schon brannten Tempel und mussten die Anhänger des alten Glaubens um ihr Leben fürchten. Die alte Festung auf dem Hügel, die einstmals Schauplatz war, wurde aus der Ferne mit Katapulten beschossen, bis kein Stein mehr auf dem Anderen ruhte, der Wald um die Burg herum wurde in Brand gesteckt, bis keine Pflanze je mehr dort würde wachsen wollen. Es waren furchtbare Jahre, für Land und Volk gleichermaßen, in denen der König seiner Paraneua frönte und der einstige Wohlstand in Schall und Rauch verging. Irgendwann nach den blutig niedergeschlagenen Unruhen eines in Angst und Zorn aufbegehrenden Volkes erreichte ein altes Schiff das Land. Unscheinbar und von einem Sturm auf hoher See mitgenommen, schaffte es mit letzter Kraft den Weg in den Hafen. Die Crew lud Gewürze und Stoffe ab, wie sie es schon seit Jahren getan hatte, doch dieses Mal verließ ein junger Mann über die Planke das Schiff. Ein blinder Passagier, der sich erst nach der Hälfte der Reise gezeigt hatte und fortan für die Überfahrt arbeiten musste. Er hatte wenig gesprochen, sie wussten im Grunde nichts über den Fremden. Auch in der Hafenstadt Edoras‘ hielt er sich nicht lange auf und zog landeinwärts. Viele vermuteten, er sei ein Freibeuter, dessen Schiff und Crew verloren gingen. Andere meinten, es müsse sich um einen gesuchen Dieb handeln, der der Steckbriefe wegen seines Landes entfloh, um andernorts neue Beute zu schlagen. Tatsächlich jedoch lagen sie alle falsch. Janos war das Mitglied einer alten Bruderschaft, die ihre Familien, ihre Heimat und ihren Besitz aufgaben, um ihrem einzigen Ziel zu dienen. Was genau die Bruderschaft bezweckte, war nur deren Führern klar – zu denen Janos nicht gehörte. Er war ein Werkzeug, wie die meisten Brüder. Er bekam eine Order und zog aus, sie zu erfüllen. Als er Edoras erreichte, befand er sich gerade auf dem Rückweg zu seinem Orden. Im Westen lag seinen Informationen nach ein neues Schiff vor Anker, auf das zu schleichen er anstrebte. Wenn man kein Geld besaß und kein Vermögen anhäufte, war es schwierig, eine Überfahrt zu bekommen. Janos jedoch sollte die Stadt Westhafen nie erreichen. In einer der unzähligen Tavernen lauschte er den Gesprächen an Nachbartischen, wie er es immer gerne tat. Leichter erfuhr man nie, was in den Köpfen der Menschen und einem Land vor sich ging. Man musste nur eine Taverne aufsuchen, sich unbedarft daneben setzen und zuhören. Die Geschichte Germonts erschien ihm nicht Recht. Auf solchen Pfaden sollte kein Mann wandeln und Erfolg haben dürfen. Andererseits war sein Auftrag getan und er auf dem Rückweg, grausame Fürsten und unzurechnungsfähige Könige gab es in der Welt zuhauf. Er war nur ein Mann, weder willens, noch befähigt oder authorisiert, in diesen Teil der Welt oder der Geschichte einzugreifen. Dennoch verstand er die Frustration der Männer, spendierte ihnen eine Runde und ging zu Bett. Das Schicksal sollte sich erst wenden, als am Folgetag der Bruder ausziehen wollte, hin zum nächsten Ort und seiner Bestimmung entgegen, wie er selbst glaubte. Doch kaum, das er zwei Schritte aus der Stadt hinaus getan, sprang ihn ein Affe an. Von dem wenigen, das zu besitzen ihm gestattet war, stahl das freche Tier ausgerechnet seinen Dolch. Jonas selbst war verwundert, wie spielend leicht die Schnalle des Gürtels nachgab und prompt jagte das Tier mit der Waffe davon. Manche Rätseln, ob es sich bei dem Affen um Lenikki selbst gehandelt habe, denn obgleich in Edoras Affen beheimatet sind, gibt es mehrheitlich Beschreibungen des Tieres, die nicht so Recht zu den dort Lebenden passen wollen. Janos stürzte dem Dieb hinterdrein und versuchte mehrfach, ihn zu packen, doch der Affe war flink und wenig und überaus gewitzt. Er wartete, bis Janos nah war und jagte dann erneut davon – als würde er sich für den Dolch nicht interessieren, sondern nur für das Spiel mit diesem Tölpel, der ihm nachrannte. So kam es, dass der Bruder zurück in die Stadt jagte und durch die schweren Tore eines gewaltigen Hauses brach. Von dem Affen fehlte jede Spur, doch seinen Dolch fand er nur zu rasch. Völlig unbedarft lag er auf einem großen, hölzernen Tisch, bescherte einen Stapel Pergamente gegen den Wind, der durch sein Eindringen herein zog. Ehrfürchtig blickte Jonas empor und bestaunte die gewaltige Bibliothek, die sich vor ihm auftat. Männer in Mönchskutten eilten umher, die Gesichter durch die tief herabgezogenen Kapuzen verhüllt. Stillschweigend sortierten und archivierten sie, manche saßen an anderen Tischen und schrieben, die Federn von Zeit zu Zeit sorgfältig in das Tintenfass führend. Mit tiefstem Respekt vor so viel Wissen und Geschichte, schlich sich Janos zu jenem Tisch, um seine Waffe zu holen und den Frieden der vermeindlichen Abtei wiederherzustellen. Als er jedoch seine Waffe wieder an sich nahm, da fiel sein Blick auf ein Bildnis, das unter dem Dolch geruht hatte. Nur kurz wurde ihm die Sicht gewährt, ehe plötzlich ein Stapel anderer Pergamente darauf landete, ein weiterer stiller Archivar den gesamten Stapel griff und davon führte. „Herr, verzeiht aber... Herr...!“ versuchte Janos ihn zum Stillstand zu bewegen, doch musste er dem Fremden nun nacheilen. Insgeheim fragte er sich, ob das nun ein Missverständnis oder Zeugnis völliger Unfreundlichkeit war. Hatten sich in seiner Heimat nicht alle Männer mit freundlichem Lächeln umgekehrt, wenn man einen Herrn um Verzeihung bat? Hier schien das nicht der Fall zu sein. Einmal mehr lobte er die Sitten der eigenen Heimat, und überdies drohte ihm der Fremde mit den Pergamenten fast zu entwischen. Er spurtete, setzte ein paar rasche Schritte nach und folgte ihm um eine Kreuzung, die... vor einer Wand endete. „Was in der Götter Namen geht hier vor?“ flüsterte Janos und spürte, wie Angst sich in ihm ausbreitete. Von den Pergamenten, dem Archivar oder auch nur einem Gang, wohin er hätte laufen können, fehlte jede Spur. Eine Weile prüfte Janos, ob es hinter den Regalen Geheimgänge gab, doch er hörte nur Holz und massiven Stein. Sich sicher, in einem verfluchten Haus zu sein, machte er sich eiligst auf den Rückweg. Er hatte fast die Tore erreicht, da blieb er ebenso abrupt in seinem eben noch raschen Schritt stehen. Es war, als hätte ihn jemand gerufen. Still, leise, eine fast geisterhafte Stimme. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Was, wenn die Flüche und Erscheinungen, die diesen Ort quälten, nun auf ihn aufmerksam geworden waren? Was, wenn sie ihn holen und auf ewig verdammen wollten? Dennoch befand er sich für unfähig, auch nur einen weiteren Schritt voran zu gehen. Er neigte den Schopf, versuchte mit Blicken zu erhaschen, woher das Flüstern gedrungen war und fand einen Pfad zu einer offenen Tür, die ihm vorher nicht aufgefallen. Vorsichtig wandte er sich um, bewegte sich wider besseren Wissens darauf zu. Er betrat eine weitere Bibliothek, jedoch weit kleiner und voller Gemälde und Statuen. Wie von fremder Magie geführt, bewegte er sich durch den ganzen Raum und hielt letztlich vor einer Büste inne. Er erkannte das Bild von den Pergamenten, erkannte das sanft fallende Haar, die ebenmäßigen Züge eines jungen Gesichtes. Es war jener erhabene Moment, in dem sich Janos aus den fernen Landen im Anblick Isabelle Calées verlor. Einer der Archivare trat nach einigen Minuten ein und hielt, überrascht von der Gegenwart eines Fremden, inne. „Wer seid ihr? Was habt ihr hier verloren? Wie seid ihr hier herein gekommen?“ verlangte der Herr zu wissen. Janos schrak fürchterlich zusammen, blickte zu dem Fremden und begann sich zu erklären. Ein Affe habe seinen Dolch gestohlen und ihn hierher gebracht. Er wollte nicht stören, aber seinen Besitz sehr wohl zurück erlangen. Also sei er durch die offene Eingangspforte eingetreten. Da habe er ein bezauberndes Bild erblickt und sei dem Archivar gefolgt, der es fortgetragen habe. Doch der verschwand einfach. Auf dem Weg heraus sei ihm dann jene Tür aufgefallen und nun habe ihn die Skulptur verzaubert. Der Archivar lauschte der Geschichte, ohne eine Miene zu verziehen. Alte, weise Augen ruhten unter einer faltigen Stirn und folgten jeder Bewegung Janos‘, als würde er gleich zur Attacke ansetzen. Als der Eindringling sich nach der Idendität der Frau erkundigte, zog erstmals soetwas wie ein Lächeln auf die Lippen des Wissenshüters. „Das ist Isabelle Calée. Sie war einst Königin von Edoras, ehe ihr Onkel sie im Kampf bezwang, ihre Kehle öffnete und sie zusammen mit ihren tapferen Männern auf dem Schlachtfeld zurück ließ. Heute ist das verbranntes Land und von der Burg, in der sie Monate ausharrten, steht kein Stein mehr. Nur der Hügel und die Gräben sind noch da.“ Janos Blick fuhr zurück zu der Skulptur. Das war also Isabelle. Welch Liebreiz selbst eine kalte Steinstatue von ihr vermitteln konnte... Der Archivar erklärte ihm, wie sehr das Volk sie geliebt habe und berichtete von den letzten Tagen der früheren Königin, während er ihn dem Ausgang zuführte. Als der Wissenshüter mit einem schweren Schlüssel die Eingangspforte öffnete, staunte Janos nicht schlecht. Er wollte gerade gehen, da hielt der Alte ihn zurück. Ein merkwürdiges Lächeln lag auf den faltigen Lippen, während die erschöpften Augen ein lebhaftes Funkeln zeigten. „Diese Tür, junger Herr, ist zu jedem Tag und jeder Stunde verschlossen und kein Bruder meines Hauses würde wagen, die kostbaren Pergamente offen auf den Tischen herum liegen zu lassen.“ Mit jenen Worten löste sich der Griff der dünnen, ausgemerkelten Finger, ehe die Tür sich schloss und der Schlüssel sie versiegelte. Janos aber blieb zurück, verwirrt und zweifelnd. Was war hier geschehen? War ein Archivar schlampig gewesen, oder hatte die stickige Luft der Bibliothek nicht mehr ertragen wollen? Gut möglich, gut möglich... Doch Zweifel gärten in seinem Innersten. Die Tage zogen dahin und Janos zog weiter durch das Land, stetig auf Westhafen zu. Dabei passierte er auch die alte Hauptstadt des Landes. Seit Tagen schon, seit dem Besuch der Bibliothek, ging ihm das Abbild Isabelles nicht mehr aus dem Kopf. Er besuchte, was von ihrem Schloss noch übrig war, brachte Stunden in den hiesigen Archiven zu und besah sich die Geschichte der jungen Frau, lernte von ihr, lernte über sie. Es ist nicht bekannt, was in jenen Stunden geschah. Janos hatte sich in einem kleinen Abteil des Archivs eingeschlossen, doch als am späten Abend ein Bruder den Raum öffnete, fand er ihn leer vor. Tage später, so erzählte sich das einfache Volk vom Lande, sah man einen Mann herum streifen, scheinbar wirr über Äcker und Felder stolpern. Er rührte keines Mannes Hund und keines Bauern Frucht an, doch wie rasch er wieder verschwand, erstaunte einen Jeden. Wochen später erzählte in Westhafen eine Karawane von Händlern, die über die alte Burg gezogen waren, dass dort unzähliges Grünzeug die zarten Blätter aus dem kohleschwarzen Boden schoben. Sie berichteten, dass der alte Burggraben, an dem sie Wasser hatten schöpfen wollen, verschwunden sei und wo einstmals die Trümmer der Burg gewesen, erhebe sich nun ein Baum, so gewaltig, dass er von Elben hätte stammen müssen. Unter den mächtigen Wurzeln jedoch sei ein Stein gelegen, der alte Runen zur Inschrift trägt. Man habe sie nicht übersetzen können, doch die Anordnung des Baumes, des Steines und des Erdhügels darunter habe sehr nach einem Grab ausgesehen, einem Grab von Unzähligen. Die ganze Ebene sei übersäht davon, doch unter jenem Baume habe nur eines gelegen. In den Tagen und Wochen darauf steigerte er sich der bereits heillos wirkende Wahn Germonts noch weiter. Er sprach zu seinen Höflingen und Beratern von Schatten in der Nacht, von einem Flüstern am Fenster und Stimmen aus dem Dunkel unter seinem Bett. Man befand ihn für wahnsinnig, doch niemand wagte es auszusprechen oder gegen ihn vorzugehen. Zu oft hatte er gezeigt, was mit Zweiflern und Verrätern geschah, zu grausam waren die Strafen gewesen. Eines Nachts aber, da verschwand Germont. Ein Schrei alarmierte die Wachen, der Schrei eines panischen Mannes. Sie stürmten in sein Zimmer und fanden es zu ihrem Entsetzen leer. Die Fenster, von schweren Eisengittern verriegelt, waren unversehrt. Das Bettzeug zerwühlt, das Laken ruhte halb auf dem Boden – unter das Bett gezogen. Doch dort fand man nichts, nur einen der Schuhe seiner Majestät. Niemand weiß, über welche Fähigkeiten die Mitglieder der Bruderschaft verfügten. Daher kann auch niemand mit Gewissheit sagen, ob Janos sich der Magie bediente, um den König zu entführen. Was danach geschah, ist unklar. Edoras zerfiel wieder in kleine Ländereien und Stadtstaaten, die souverän regierten. Sie wählten zwar einen König, doch dieser musste sich fortan mit der nicht länger zu untergrabenden Authorität der einzelnen Fürstentümer herum schlagen, die fortan einen Rat bildeten. Was mit dem König geschah, darum ranken sich die Mythen. Der Größte und Populärste jedoch spricht von den Worten Isabelles und einer Liebe, die den Tod überwand. Tief in der Nacht schleifte Janos den Wahnsinnigen am Haar durch das Unterholz. Er schrie und kreischte, verfluchte seinen Peiniger und drohte ihm mit dem Schafott, dem Galgen, der Streckbank. Doch nichts ließ den Bruder innehalten. Nicht ein einziges Wort wechselte er mit dem Fremden, zeigte weder Respekt vor dessen Krone und Ausdrucksweise, noch vor der Macht, die ihm einstmals innewohnte. Tage waren sie auf diese Weise unterwegs. Tage, in denen Janos sein Mündel nieder schlug, wann immer dessen Geplärre unerwünscht oder lästig wurde. Schließlich kam der Moment, an dem Germont nicht mehr schrie und wütete. Er erkannte die Gegend, in der sie sich befanden und all sein Verfolgungswahn schlug um. Der König begann zu befehlen, dass er ihn zurück bringen solle. Anfangs. Irgendwann, als er die Statur bereits durch neue Sprossen frischer Bäume und die Hügel zahlloser Gräber schleppte, da flehte er darum, diesen Ort verlassen zu dürfen. Doch Janos Gehör blieb verschlossen für die klagenden Worte eines Mannes, der sich seinen schlimmsten Ängsten konfrontiert sah. Der Bruder zog den Fremden bis hinauf auf den Hügel, zum Standpunkt der alten Burg. Neben dem höchsten Grab, das einzeln erhaben über den anderen wachte, ließ er ihn auf die weiche Erde fallen. „Wir haben uns heute hier versammelt, um Gericht zu halten.“ sprach Janos und bemerkte am Kratzen seiner Stimme erstmals, seit wie vielen Tagen er schon kein einziges Wort mehr gesprochen hatte. Germont jedoch starrte fassungslos zu seinem Peiniger empor, die Augen weit aufgerissen, starr vor Angst, hauchte er nur ein einziges Wort hervor: „Wir?“ Da schnellten die Wurzeln des mächtigen Baumes aus dem Erdreich. Die Krone, die den ganzen Berg überspannte, schien sich herab zu neigen, als wolle sie den Anblick vor der Welt verstecken. Die Wurzeln schlangen sich um Germonts Handgelenke, seine Knöchel, zerrten ihn in die Höhe und rissen ihn wieder zu Boden herab, bis er mit dem Gesicht im Erdreich ruhte und hustend versuchte, dennoch den Blick zu seinem Richter zu heben. Er wollte die Hand vorstrecken, den Fremden berühren, ihn um Gnade bitten. Ihm war nicht einmal klar, dass er die ganze Zeit hysterisch schrie, Flüche und Gebete spie, dass er bettelte und winselte. „Germont Calée, ihr seid zahlloser Verbrechen angeklagt, die die anwesenden Zeugen gegen euch vorbrachten. Kraft königlicher Weisung, verurteile ich euch zum Tode.“ „Zeugen? Was für Zeugen? Seid ihr des Wahnsinns?“ krächzte der König panisch, da erfüllte ein Leuchten die Ebenen, dass sein Anblick jedes Sterblichen Blut gefrieren ließ. Aus den Hunderten von Hügeln erhoben sich kleine Lichter, formten Arme und Beine aus, Köpfe, Rüstungen, alte Schwerter und Wappenschilde. Ein Heer erhob sich. Aus den Sprossen der neuen Bäume aber, drangen weitere Lichter empor und formten die Seelen derer, die unter der Schreckensherrschaft Germonts ihr Ende gefunden hatten. Der ganze Platz, niedergebrannt und verschändelt, füllte sich mit der Legion gestrafter Seelen, deren Leben durch sein Handeln zu früh ein Ende fanden. Aus dem Meer der Gepeinigten jedoch trat sie hervor, Isabelle, Königin von Edoras. „Es wird der Tag kommen, an dem du bereust, mich getötet zu haben. Du wirst flehen, betteln, wüten und schreien. Aber dir wird keine Gnade zuteil werden...“ flüsterte die geisthafte Stimme der Königin die Worte, die Germont seit jenen Tagen verfolgt hatten. „Bitte, bitte helft mir! Ich gebe euch alles, alles was ihr verlangt!“ flehte der König in seiner Panik Janos an. Erneut versuchte er den Arm zu ihm zu strecken. Doch der Fremde blieb stehen, die Miene ungerührt. Isabelle trat vor, hob die Hand auf die Schulter des Lebenden, strich darüber hinweg, ohne sie zu berührten. Janos wandte ihr den Schopf zu, neigte in Demut und Ergebenheit das Haupt, und doch zog ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen auf. Isabelle jedoch schritt an ihm vorbei, erhob sich wie die Figur des Richters selbst vor Germont. „In den Tiefen sollst du Verdammung erfahren!“ Mit jenen Worten rissen die Wurzeln den König auf den Boden, zogen ihn tiefer und es ward, als würde das Erdreich sich öffnen, um ihn zu verschlingen. Tief in die Erde zogen sie den schreienden und strampelnden Leib, vorbei an den Kellern der alten Burg, bis in die Grundfesten der Erde, wo er niemals von Ereshkigal gefunden werden würde, verdammt, auf ewig vom Erdreich zerquetscht und den Gezeiten zerfressen zu werden. Isabelle aber wandte sich Janos zu. „Es ist getan... du bist frei.“ Doch der Bruder lehnte ab. „Nach allem, was ich sah und weiß, gibt es keine Freiheit mehr für mich.“ Er senkte in Kummer das Haupt, glaubend, dass für ihn keine Erlösung warten würde. Isabelle jedoch ertrug den Anblick nicht. Sie erinnerte sich der Güte, die sie einst inne hatte, erinnerte sich der Wärme eines schlagenden Herzens, das längst zu Staub zerfallen war. Mit wenigen, beherzten Schritten trat sie vor ihren Erlöser, den Erlöser so vieler Seelen. „Wenn das dein Wille ist, begleite mich.“ Sie hob die Hand an seine Wange. Eiseskälte durchströmte seinen Leib, ließ ihn spüren, wie sich der Tod anfühlte. Janos aber wusste, dass er seinen Platz gefunden und sein Schicksal erfüllt hatte, spürte es in den Tiefen seiner Seele. Er neigte das Haupt zum Kuss. Während die Erlösten von Edoras ihr neues Königspaar feierten, entschwanden die Seelen nach und nach. Sie hatten Buße getan und waren befreit. Mermerus gewährte ihnen Eingang in sein Reich und an Isabelles Seite würde Janos ruhen, auf alle Zeit. Von seinem Leib fand man nie auch nur eine Spur, doch schon mit den ersten Strahlen der Sonne, die der neue Tag mit sich brachte, fielen die Blicke der Welt auf einen Wald, so gewaltig, dass er unmöglich nur das Werk Phylias sein konnte. Bis heute, so heißt es, ist in Edoras Wäldern ein jeder willkommen, der aufrechten Herzens wandelt, während alle Unholde und Schinder in seinen Weiten verloren gehen. Der Wald gilt als von Geistern beseelt und mancher Wanderer, der sich verirrte, berichtet noch heute von den gespenstischen Erscheinungen eines Königspaares, welche ihm den rechten Pfad wiesen... Kapitel 6: Janus Gottlieb ------------------------- Meine Mutter sagte früher immer „Ehre unseren Namen, er ist ein Zeichen“. Natürlich sagte sie das vornehmlich dann, wenn die Kinder aus dem Tempel mich mal wieder gehänselt hatten. Sie zogen mich gerne damit auf. Das ist aber auch zugegeben eine recht vertrakte Sache, wie sie sicher verstehen können. Ich meine – Gottlieb? Können sie sich vorstellen, wie viele Probleme man tatsächlich in einer polytheistischen Kultur bekommen kann, wenn der eigene Nachname auf die Liebe eines einzigen Gottes ausgelegt ist, ohne näher zu definieren, welcher? Aber vielleicht sollte ich froh sein. Immerhin hätte der Name sonst noch länger werden müssen. Aber kommen wir langsam zum Wesentlichen. Dazu, wo ich bin. Stellen sie sich einen Ort vor, wie sie ihn niemals würden betreten wollen. Einen Ort, an dem sie keine Sekunde länger zubringen wollen würden, als nötig ist. Haben sie das getan? Ja? Nun, wenn dieser Ort nun einer ist, an dem sie nicht sagen können, was sie sagen wollen, weil ihnen sowieso niemand zuhört, sie nicht gehen können, wohin sie gehen wollen und das Essen schlimmer schmeckt als das, was sie nach drei Wochen von einer tiefen, vereiterten Fleischwunde abkratzen, dann können sie mich vielleicht verstehen, wenn ich ihnen sage: Ich hasse mein Leben! Na jedenfalls in seiner jetzigen Beschaffenheit. Allerdings, wie ich das so sehe, wird sich dieser Zustand auch sehr bald ändern. Ich werde deutlich zufriedener sein, als es jetzt der Fall ist und bin befreit von all diesen wideren Umständen. Der Grund dafür ist simpel: Ich gehe getrennte Wege. Von mir selbst. Ich vermute, mein Kopf wird in dem Korb landen, der da schon vor dem Richtblock steht, und der Rest... hm... was stellt man mit dem Rest eigentlich für gewöhnlich an? Wird der noch bestattet? Ach, wissen sie, ich glaube, darüber will ich mir lieber keine Gedanken machen. Allein die ganze Sauerei! Nun könnte man meinen, ich sollte doch eigentlich recht unzufrieden mit der Gesamtsituation sein. Aber meine Mutter lehrte ich viele Dinge. Auch, dass es allzeit weitaus schlimmer ginge, als man es zu glauben bereit, manchmal sogar zu glauben fähig war. Wie fähig ich bin, weiß ich nicht. Meinem Namen nach vermutlich sehr. Aber ich weiß, dass jeder Tag, den ich weiter hier verbringen würde, eine Verschlechterung darstellen würde. So hat also sogar das hier jetzt sein Gutes. Sie fragen sich vielleicht, wie es dazu kam. Dass ich hier knie, mich am liebsten über das raue Holz an meiner Kehle beschweren würde, während ein sichtlich genervter Fettsack sich behäbig die Stufen herauf schiebt und mir mit verfaulten Stummelzähnchen einen Steinbruch zurecht grinsend seine Axt vor die Augen hält, die mich vermutlich zetern und wimmern lassen, oder zumindest beeindrucken sollte. Ich könnte ihnen jetzt sagen, dass es Pech war. Damit hätte ich im Grunde nicht gelogen – das macht man nämlich nicht, das hat mir meine Mutter schon beigebracht. Aber jeder, der einmal Teil und am Ende Schuldiger von Ereignissen war, bei denen Gevater Zufall einen nicht unerheblichen Part in der Aufführung einnahm, wird wissen, wie unangenehm und frustrierend es ist, Pech als Grund gelten zu lassen. Direkt danach würde folgen, zuzugeben, dass ich mir diese ganze Reihe von Entwicklungen selbst zuzuschreiben habe. Aber natürlich ist auch das nicht weniger unbequem. Also sagen wir einfach, es ist die Schuld von... Balian. Ja, genau. Der käme dann danach. Balian Wolkenreiter nennt er sich wohl nun. Ich kannte ihn früher unter einem anderen Namen, da hatte auch er noch eine Familie, eine Mutter, die ihm kluge Dinge lehrte. Wir haben uns gemeinsam über unsere Mütter lustig gemacht, sind um die Häuser gezogen und haben dem Priester Streiche gespielt. Wir haben ihm im Sommer die Äpfel vom Baum geklaut und im Winter Wasser auf die Stufen des Tempels geschüttet, damit es über Nacht gefriert und er ausrutscht. Er hätte sich das Genick brechen können, dann wäre das Schwurgericht über uns gekommen – aber an solche Konsequenzen denken Kinder bei ihrem Schabernack natürlich nicht. Es waren lange und glückliche Jahre, das muss ich schon zugeben. Wenn ich so zurück denke, kann ich ihm nicht einmal böse sein. Dafür hat er mich zu oft zum lachen gebracht, mich zu oft verteidigt und mir in schlimmster Not eine gute Ausrede geboten. Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel – und das, obwohl wir kaum unterschiedlicher hätten sein können! Den guten Balian zog es nämlich schon immer in die Welt hinaus. Große Abenteuer erleben, Bestien und Monster sehen, am besten gleich noch bezwingen und sich auf ihrem Rücken als triumphaler Held zeichnen lassen! Den Ozean besegeln, mit Elben tanzen und mit Zwergen trinken. Ein Narr und Träumer, den Kopf voller Flausen. Die konnten ihm, bei aller klugen Lehre, weder seine Mutter noch unser Priester austreiben. Ich war von uns Beiden immer schon der Bodenständigere. In den Sommern verdiente ich mir ein paar Kupferstücke, indem ich Gärten sauber hielt, Kräuter einsammelte und der alten Hexe von Heilerin brachte – nein, Magie beherrschte sie zum Glück keine – oder den Botenjungen spielte. Balian... war anders. Er hat sich irgendwann von seinem Vater ein leeres Buch schenken lassen, als dieser von einer seiner Handelsreisen zurück kehrte. Einfach nur ein Buch. Ein schnöder, schnörkelloser Ledereinband, viele Seiten, manche sogar krumm und schief geschnitten. Dazu ein Fass Tinte, ein paar Federn. Während ich mir Geld verdiente, schrieb er. Ich wusste immer, dass er mit dem Kopf zwischen den Wolken hing und seine Hände eigentlich nur aufschrieben, was seine Augen zu sehen glaubten. Von Abenteuern und solchen Unfug. Dennoch hielten wir zusammen, immer. Ah, wie ich sehe, findet sich der Herr Priester auch endlich ein. Ich gebe zu, ich hatte jemanden erwartet, der nicht so... klapprig aussieht. Man möchte fast meinen, wenn der meinen Kopf rollen sieht, gibt's hier eine Doppelbeerdigung. Nun ja. Publikum habe ich auch. Natürlich ist es in einem Kerker wie diesem nicht legitim, andere Inhaftierte bei der Hinrichtung zusehen zu lassen. Man fürchtet, das könne sie... aufbringen, unruhig werden lassen und zur Revolte bringen. Ehrlich gesagt, bezweifle ich, dass man hier sonderlich weit käme, aber ich besaß auch nie Balians ungestüme Träumereien, die ihm auf seltsamsten Pfaden manchmal tatsächlich Wege erschlossen. Da drüben nun, hinter einem schicken, massiven Gitter, da sehe ich das Gesicht meines Peinigers. Oder sagen wir besser – desjenigen, der mir das halbe Jahr in diesem Loch noch unerträglicher gemacht hat, als es ohnehin schon war. Die Demütigungen und sein offenkundiger Mangel an Eloquenz und Intelligenz waren, wie ich bemerken musste, längst nicht so schlimm wie sein linker Haken. Und da soll mal einer sagen, die Feder würde das Schwert besiegen, wenn nicht mal das Wort gegen eine Faust ankommt. Dieser miese Hund! Nur weil er drei Köpfe größer, zwei mal so breit ist und zweifellos einen Troll in der Ahnenlinie hat, glaubte er sogar, mir meine Henkersmahlzeit stehlen zu können. Leider hatte er sogar Erfolg. Nun, wo war ich? Ach ja. Balian ist schuldig. Natürlich geschieht es nicht unbedingt alle Tage, dass beste Freunde einander in den Rücken fallen, bis der eine seiner Wege zieht und der Andere hingerichtet wird. Aber selbst das ist eigentlich nicht ganz so, wie es scheint. Ich war in Akkara – sie wissen schon, das hoch gepriesene Land der Magier. Ich wollte eigentlich nicht einmal wirklich dort sein, aber der Bruder meiner Frau ist Händler, zottelt seinen armen, überalterten Ochsen ständig mit schwerem Karren durch aller Herren Länder, beschwert sich im Suff in jeder Taverne über die Höhe der Zölle und verdient sich trotzdem noch eine Nase, die von Gold schwer genug ist, um damit mühelos seine Frau, deren drei Bängel, seine Geliebte und deren Tochter durchzufüttern. Vielleicht hätte ich mich damals nicht entscheiden sollen, Schreiber zu werden und hätte auch lieber in einen Ochsen investiert? Nun, jedenfalls kehrt besagter Schluckspecht alle paar Monate mal heim. Manchmal auch nur alle paar Jahre, aber immer, wenn ich auf Jahre hoffe, ist natürlich das Gegenteil der Fall. Und weil mein Weib Damastes huldigt, damit wir zu den zwei liebreizenden Töchtern noch einen Bengel bekommen, den sie nach Herzenswunsch verziehen und mir später auf den Hals hetzen kann, ehrt sie natürlich auch gemäß der Sitte die Familie – was für mich bedeutet, dass sie ihr höflichstes Lächeln aufsetzt und die Bierfahne ihres Bruders ignoriert. Auf die Besuche besteht sie nämlich... jedes verdammte Mal wieder. Und glauben sie mir, mir fällt es weit schwerer, das zu ignorieren! Man möchte meinen, eine Brauerei sei abgefackelt! Dieser ‚Händler‘ erzählt ihr also von seinen Reisen. Mit wem er nicht alles geredet – getrunken – und wen nicht alles gesehen – ausgenommen – habe, wen er nicht um einen Gefallen gebeten – erpresst – und wen von besseren Preisen überzeugt – belogen – habe. Seine Schwester ist natürlich brav stolz auf ihn und ermutigt ihn, weiterhin so erfolgreich zu sein. Immerhin gibt es ja noch genug Bauern auf dem Land. Wenn man einem Söldner mit dem Hirn einer Schabe am Tag zwei Kupfer zahlt und ihn einen Mondzyklus mit sich herum schleppt, derweil aber auf jedem Bauernhof dank seiner imposanten Gestalt und genug Skrupellosigkeit kostenlos logiert und noch ein paar zusätzliche Einnahmen bekommt, ja dann ist man natürlich ungemein... erfolgreich. Doch dieses Mal war es anders. Er erzählt überraschend wenig von seinen Einkünften. Stattdessen fällt ein Name, der mir bekannt ist. Seit vielen Jahren nicht mehr gehört, seit unsere Wege sich trennten und Balian tatsächlich so närrisch war, mit kaum mehr als den Kleidern am Leib – und diesem verflixten Buch! – auszuziehen. Sofort ruhen die Blicke auf mir. Der meines Weibes, und weil es der Ihre tut, natürlich auch der ihres Bruders. Was hätte ich schon sagen sollen? Dass Balian kein Teil meines Lebens mehr ist? Das gehört sich nicht. Mein Weib hätte mir sonstwas angetan, allein schon, weil Balian für mich ja einstmals zur Familie gehörte. Familie, Damastes, Kinderwunsch, sie verstehen? Außerdem ist unser Dorf stolz darauf, relativ unabhängig zu sein. Wir kümmern uns um unsere Schäfchen, hatte der Priester immer gesagt. Ja gut, wenn er meint, soll er doch. Ich hätte ja nie erwartet, dass das mal meine Aufgabe werden würde! Sie können mir glauben, wenn ich ihnen sage, dass es schwierig ist, Schafe zu hüten. Nicht nur, weil ich einmal damit mein Geld verdient habe, sondern auch, weil Balian... schwarze Wolle trägt. Die Geschehnisse überstürzten sich plötzlich. Da bekam ich von meinem Weib einen Mantel umgelegt, der allzu rasch informierte Priester drückte mir einen Wanderstab in die Hand und dieser Nichtsnutz von versoffenem Bruder presst zwei Säckchen Geld in meine Hände. Eigentlich eine nette Geste, wäre sie nicht der Anfang vom Ende gewesen. Man schob mich förmlich aus der Tür. Der Auftrag war eigentlich ganz simpel – dachte ich. Er hatte gesagt, dass viele seiner ‚Quellen‘ von einer Gruppe Abenteurer berichten würden, inzwischen weit gereist, gut bekannt und im Ruf, gute und verlässliche ‚Problemlöser‘ zu sein. Die Art von Leuten, die man immer gern im Dorf hatte, weil sie einem dieses Gefühl von Sicherheit vermittelten. Aber einem aus ihrer Gruppe ging es wohl nicht so gut, sie suchten Rat und Hilfe, aber niemand schien dessen fähig. Die Leute auf dem Land und in den Städten fürchteten natürlich, was aus all den Abenteuern und Monstern werden würde, wenn es diese Leute nicht mehr gäbe, die sich ihrer annahmen. Mir hingegen wurde einfach gesagt, ich solle Balian aufspüren und heim bringen. Unser Priester ist ein wenig bewandert in den arkanen Künsten. Er behauptet immer, er habe die Bücher gekauft, geliehen, gespendet bekommen. So, wie er sie damals beim Besuch eines reisenden Magiers verbarg, glaube ich eher, er hat sie sich ausgeliehen, ohne danach ersucht zu haben. Überhaupt kam mir der Gedanke merkwürdig vor. Da suchen sie schon überall nach Hilfe, haben gewiss viel Geld und auch ein Ruf war ja was wert, und ausgerechnet unser Priester, kaum mehr als ein Laie, glaubt ihm helfen zu können? Aber meine Gedanken waren pragmatischer – ich würde ihn suchen, her bringen, hätte wieder Ruhe. Ruhe. Ja. Das war das Ziel. Es stellte sich als ungemein schwierig heraus, einer Gruppe zu folgen. Ewig musste ich mich durchfragen. Ein paar Mal wurde ich falsch geleitet, viermal bestohlen, zweimal ausgeraubt, geriet einmal sogar in eine Bürgerrevolte, in der sie mich fast aufgespießt hätten! Wie ich eingangs nun schon erwähnte, kam ich so nach Akkara. Wundervolles Land, ist eine Reise wert, jedenfalls, wenn man sich für Magie begeistern kann. Die Türme der Zirkelmagier erheben sich da scheinbar wie die Pilze aus dem Boden, es gibt sogar eine richtige Stadt, die aus zahllosen Türmchen besteht. Ich verstehe zwar nicht, was die Magier für einen Faible haben, immer in Türmen hausen zu müssen, aber es war zumindest ein schöner Anblick. Sie hatten alle andere Farben, manche hatten sogar jedes Stockwerk unterschiedlich eingefärbt. Ich quartierte mich in einer alten Herberge ein. Alt, aber gut in Schuss gehalten. Was will man schon erwarten? Selbst die olle Schrulle hinter der Theke war eine Hexe. Eigentlich hätte es mich nicht einmal gewundert, wenn der Schemel herbei galoppiert wäre und mich gefragt hätte, ob ich nicht die Füße auf ihm betten will. Ich durchwühlte fast die ganze Stadt und fand Balian einfach nicht, es war zum verzweifeln. Ich wollte fast schon die Hoffnung aufgeben und einfach weiter reisen, schauen, ob ich andernorts vielleicht neue Informationen und Gerüchte aufschnappen könne. Zu der Zeit ungefähr stolperte ich in eine Bibliothek. Es war eine wahre Augenweide. Nicht nur der Geruch der Weisheit von Jahrtausenden, dass die Bücherregale sich zig Meter in die Höhe stapelten oder dass sie alle gefüllt waren bis auf die letzte Seite, sondern auch, sie da einfach so... umher schweben zu sehen. Es war für mich schwierig, zu begreifen, dass sie nicht wahllos herum schwirrten, sondern ein paar Magier am Boden – Archivare – die Bibliothek auf diese Weise ‚geordnet‘ hielten und den weniger magisch begabten Besuchern Werke aus den höheren Regalen herab reichten. Jedenfalls gab es da diesen Burschen. Ein junger, aufgeweckter Knabe, dem Lebensfreude und Schalk in den Augen standen. Braune, strubbelige Haare, tiefblaue Augen, einer dieser Knaben, wie meine Frau sie geliebt und am liebsten still und heimlich mitgenommen hätte. Ich fragte ihm ob es eine Auskunft gäbe und er meinte zu mir, dass man in diesen Hallen alles finden könne. Es war eher der Versuch, ihm eine Lektion zu erteilen, als ich ihn fragte, wo ich vermisste alte Freunde fände. Ich hätte ja nicht wissen können, dass er mich einfach bei der Hand nehmen, zu einem dicken, zugeschlagenen Buch schleppen und mir die Funktion des Werkes erklären würde. Hand drauf legen, an die Person denken, Namen nennen, aufschlagen – lesen, wo sie sich befindet. Klang doch eigentlich simpel, oder nicht? Schlimmer noch – es war sogar so simpel! Ich kam mir fast etwas albern vor, wie ich da so stand, er triumphal grinsend zu mir aufsah und sich zweifellos insgeheim über mein Unwissen amüsierte. Um nun auf den Teil zu kommen, an dem ich Pech hatte, oder eher, selbst Schuld war: Ich hätte besagten Burschen vielleicht wenigstens kurz danach fragen sollen, ob er denn befugt sei, Leute in diesen Hallen herum zu zotteln, Auskünfte zu erteilen, ob er hier arbeite und sich auch etwas dazu verdiene, so wie ich früher, ob er denn überhaupt die Berechtigung hatte, diese Hallen zu betreten, oder wenigstens... warum er mich von Anfang bis Ende unserer Begegnung so dummdreist angrinste. Ja, das hätte ich vermutlich machen sollen. Fragen stellen. Irgendwas davon. Aber ich war einfach zu perplex über dieses wundervoll praktische Buch! Da stand einfach so, dass Balian in der Stadt wäre, in der Taverne zum schiefen Hut und mit ein paar Freunden, deren Namen mir nie unter gekommen waren, sein Vorgehen beim aktuellen Auftrag beraten würde. Nun, ich sah eine Chance und wollte zupacken. Eiligst verließ ich die Bibliothek. So schnell sollte er mir nicht davon kommen, nicht schon wieder! Jetzt hatte ich ihn! Wenn nötig, ich würde ihn niederknüppeln und an den Haaren heim schleifen! Es waren schon zu viele Nächte in einem leeren, kalten Bett gewesen. Ich wusste vorher gar nicht, wie sehr einem Körperwärme fehlen kann. Oder das sonst als nervig empfundene Knarren der Dielen, wenn die Kinder ungehorsam herum schlichen, obwohl man sie längst zu Bett geschickt hatte. Durch die halbe Stadt schlich ich mich, eilig, aber dennoch leider desorientierter, als mir lieb war. Heilloses Chaos, sage ich ihnen! Wenn man sich in Akkaras Hauptstadt nicht auskennt, ist es ein Alptraum. Vom Boden der Stadt aus sieht alles so... anders aus. Nun, ich fand die Schenke. Das half mir dann aber auch nicht mehr wirklich. Ich sah sogar Balian, wie er sie gerade in Begleitung einiger merkwürdiger Gestalten verließ, die abenteuerlich genug aussahen, damit ich sie auch für eben das hielt – Abenteurer – doch meine Reise wurde jäh unterbrochen. Noch dazu als etwas ganz anderes gebrandmarkt: Als Flucht. Da gab es plötzlich drei grelle Blitze und ein Zucken im Pflasterstein, ein paar merkwürdige Runen flogen mir um die Ohren, dass ich glaubte blind zu werden. Und dann standen da drei Magier. Ein recht imposanter Anblick, mit ihren weiten Talaren, dem strengen, rügenden Blick und dieser erhabenen, leicht arroganten Ausstrahlung. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie von mir etwas wollen würden, hielt es für ihre normale Art, sich zu bewegen – und hielt erneut auf Balian zu. Der hatte inzwischen angehalten und betrachtete, wie die Anderen auch, das Spektakel aus wenigen Metern Entfernung. Die Magier hielten mich zurück, hoben ihren Stab gegen mich und lähmten jedes Glied. Kennen sie das Gefühl, wenn ihnen der Arm einschläft und sie die Kontrolle darüber verlieren, nur noch Kälte und ein schrecklich unangenehmes Kribbeln spüren, das sie fortwährend zum lachen bringt? So erging es mir mit dem ganzen Leib! Zum Glück konnte ich es mir wenigstens verkneifen, zu lachen. Das hätte man gewiss erst Recht übel genommen. Einer der Magier trat näher und fischte aus meiner Manteltasche ein Buch heraus. Ich weiß nicht, was für eines das war, was es enthielt, ob es mächtig oder wertvoll war. Sowas wurde mir nicht gesagt. Ich wusste auch nicht, woher das Buch kam. Also gut – aus meiner Manteltasche, schon klar. Aber wie kam es dorthin? Und woher stammte es ursprünglich? Erst, als ich mir von einem sehr richterlichen Tonfall anhören musste, dass ich irgendein heiliges Archiv von weiß-Jebis-wer bestohlen und das Manufacturum-mag-Mermerus-den-Namen-kennen entwendet hatte, wurde mir langsam klar, dass diese Herren tatsächlich meinetwegen hier waren – und obendrein etwas annahmen, dass mir ganz schnell unangenehme Konsequenzen bescheren könnte. Ich war mit Akkaras Sitten und Bräuchen nicht sonderlich vertraut. Von den Magiern heißt es immer, dass sie sehr strenge Verhaltensregeln befolgen, wenn sie unter sich sind, aber vermutlich konnte jeder Knabe spüren, dass ich so viel Magie in mir trug wie es ein Grashalm vorzuweisen vermag. Dennoch galten Akkaras Gesetze natürlich auch für mich – und auch, wenn es fremden Ländern merkwürdig anmuten mag, so ist in den Ländereien der Magier Diebstahl ein weit höheres Verbrechen als Mord. Ich kramte in meinem Gedächtnis, versuchte mich hastig zu erinnern, zu rechtfertigen. Da drüben stand Balian, so wenige Meter entfernt von meinem bequemen, guten alten Leben, und nur dieses dumme Buch hielt mich von alledem fern! Mir fiel der Junge wieder ein. Deutlich zu spät natürlich. Als ich ihn erwähnte... nun, wie schon gesagt, Pech, meine Schuld. Man sagte mir, dass weder Kindern noch Nichtmagiern der Zutritt zur Bibliothek gestattet sei – womit ich sozusagen gleich das nächste Verbrechen gestanden hatte. Und da ich erst so spät darauf gekommen war, hielt man den Burschen auch für eine dreiste Lüge. Ich sah zu Balian und wagte einen letzten Versuch, rief seinen Namen, seinen Namen, wie ich ihn kannte. Ich versuchte auf mich aufmerksam zu machen, bat ihn, zu bezeugen, dass ich kein Dieb sei. In unserem Dorf sorgt man füreinander. Aber Balian hat unser Dorf verlassen, schon vor einigen Jahren. Als ich seinen Namen aussprach, sah er mich unverwandt an, aber in seinen Augen stand kein Erkennen. Nur eine leichte Spur von Zorn über das Aufwühlen von Kapiteln, die für ihn vermutlich längst abgeschlossen waren. Er erkannte mich nicht, er erkannte nur, dass ich einen Balian ansprach, den es seiner Meinung nach nicht mehr gab, nicht mehr geben sollte. Er sagte den Wachen, dass er mich nicht kenne und bei dem Vorfall nicht zugegen gewesen sei, daher auch nicht meine Unschuld bezeugen könne. Seine Gefährten bezeugten seine Aussagen und damit war die Sache erledigt. Ich kam nicht schnell genug auf die Idee, ihm peinliche gemeinsame Ereignisse zuzurufen, damit er sich erinnert, und später gab es diese Chance nicht mehr. Man teleportierte mich hinfort. Ein sehr merkwürdiges Gefühl, kann ich ihnen sagen! Als würde man sich übergeben, aber das Erbrochene einfach ins Nichts verschwinden. Krämpfe, aber kein sauerbitterer Geschmack, danach das Gefühl von Leichtigkeit. Ich kann nicht verstehen, dass die Magier sowas als alltäglich oder vielleicht sogar angenehm empfinden. Ich fand mich in einer Zelle wieder, die ich für sechs lange Monte gut kennen lernen sollte. Eine Gefängnisinsel, wie man sie rund um Akkara mehrere in die verschiedenen Seen gesetzt hatte. Deshalb sagte ich auch, dass man bei einer Flucht nicht weit käme. Die Wachen selbst sind eher dazu da, um dafür zu sorgen, dass die Häftlinge einander nicht an die Kehle gehen. Aber was man in den Gewässern ausgesetzt hat, was sich dort eingenistet, vermehrt und häuslich eingerichtet hat... das kann ich beim besten Willen nicht einmal beschreiben! Nach ein paar Tagen holte man mich erstmals zu Gericht. Natürlich Magier. Ich weiß nicht, ob sie Zauber hatten oder kannten, mittels derer man in die Köpfe anderer schauen konnte. Sie luden die Archivare vor und ließen sie aussagen. Sie luden die Wachen vor. Sogar den Wirt, der die Anwesenheit der Abenteurergruppe und Balians bezeugte. Balian selbst, so hieß es leider, sei schon weitergezogen, was mir dann gänzlich den Rest Zuversicht raubte. Als man mich vorlud, wiederholte ich ehrlich meine Geschichte und sie wurde mit altbekannten Argumenten abgewehrt. Ich begann mich allmählich in mein Schicksal zu fügen. Während der Zeit hier im Kerker lernte ich viele Dinge, die mir zwar nichts mehr bringen werden, aber doch auf ihre Weise zumindest interessant waren. Ich lernte zum Beispiel, dass man von Häftlingen niemals etwas Gutes erwarten sollte. In diesem Zusammenhang lernte ich auch, wie es sich anfühlte, wenn man von einem tödlichen Gift kostet, aber zu geringe Mengen nimmt, um daran wirklich zu sterben. Ich lernte, dass die hiesigen Ratten wunderbare Vorkoster abgaben – wenn die es stehen ließen, könnte man versuchen, damit die Monster im See zu vergiften. Ich lernte, dass man sich fest genug an Erinnerungen klammern kann, um einen kurzen Moment des Gefühls von Heimischkeit zurück zu holen. Meine Strafe, so ordnete das Gericht es an, belief sich auf den Einzug aller meiner weltlichen Güter, die ich bei mir führte. Viel war es ja nicht mehr. Darüber hinaus sollte ich ein Jahr im Kerker bleiben, ein Jahr als Diener für einen der Magister arbeiten und wäre danach wieder ein freier Mann. Aber mal ernsthaft -–wie weit kommt denn ein freier Mann ohne Kleidung und Geld? Ich hätte mir nicht einmal die Überreise in die Heimat leisten können. Zwei Jahre. So lange hatte man mir Zeit gegeben, Balian zu finden und zurück zu bringen. Ich hatte allein zwei Jahre gebraucht, ihn aufzuspüren. In einem halben Jahr hätten wir daheim sein können und alle hätten sich gefreut. Es hätte eine große Feier gegeben und eine Wiedervereinigung mit der Gemeinde, man hätte alte Geschichten ausgegraben, viel getanzt, gelacht, getrunken. Wir hätten Balian geholfen, oder es zumindest versucht. Doch die zwei Jahre waren rum. Meine Frau ging vermutlich davon aus, ich wäre gescheitert, unterwegs gestorben. Sie würde ein Jahr warten, trauern, wie es die Sitte verlangte. Danach konnte sie sich einen neuen Gatten suchen. Nein – danach musste sie das sogar. Wie sollte sie sonst zwei Töchter ernähren? Dazu gab es Wege, aber um Mermerus‘ Willen, ich will hoffen, dass sie sich dazu zu fein wäre. Ein Jahr – aber allein so lange sollte ich schon hier im Kerker bleiben. Dann noch ein Jahr als Diener und ein halbes Jahr Heimreise. Ich käme also anderthalb Jahre zu spät. Wenn ich heimkehren würde, hätte ich nichts, wäre ein niemand, offiziell tot und begraben, ohne Familie, ohne Heimat, ohne Wurzeln. So ein Träumer und Streuner wie Balian, er mag ohne Wurzeln leben können. Aber mir hatte man mit diesem Urteil praktisch die ganze Existenz geraubt. Und jetzt raten sie mal, warum ich schon nach einem halben Jahr hingerichtet werde? Sozusagen... heute. Jetzt gleich. Genau. Ich habe dieses gehässige Grinsen im Gesicht dieses schmierigen Fettsacks nicht mehr ertragen. Oder sagen wir besser, weil es eher zutrifft, ich war seine Visage leid. Ich zog einen der losen Steine aus dem Mauerwerk und formte ihm ein hübsches neues Gesicht. Dann schenkte ich ihm, was ich mir mit viel List hatte ergaunern können: Einen Zauber. Mit irgendwelchen zweifellos widerlichen Körpersubstanzen auf etwas geschrieben, das nach liederlich aufgemachter Tierhaut aussah, kaum zu entziffern, aber es zeigte dennoch Wirkung. Seitdem hat dieser feiste Bursche auch noch ein sehr ansehnliches Paar Brüste, einen ausladend gewölbten Hintern und breite Hüften. Er zog schon so manchen Blick und Pfiff auf sich. Noch mag er sich dagegen verteidigen können, aber irgendwann... Zum Glück interessierte sich kein Magier genug dafür, den Spruch rückgängig zu machen. Lediglich, als ein Aufstand los brach, der meinen Tod zum Ziel hatte, wurden die Wärter aktiv. Sie schlugen die Revolte nieder und natürlich war der schuldige Unruhestifter rasch gefunden. Das ist wie ein Duell – wer schnell genug den Finger hebt und auf den Anderen zeigt, der hat gewonnen. Ich war leider in diesem Spiel nicht sehr geübt, kannte diese Grundsätze und Regeln nicht, weshalb er gewann. Deshalb knie ich nun hier und warte. So gesehen, hatte die Revolte also doch noch irgendwie Erfolg. Ach und, dass ich nicht schnell genug die Schuld auf ihn schob, wie könnte man das wohl nennen? Pech? Meine Schuld? Die Zeit hier hat mich deutlich gewitzter und ruhiger werden lassen. Damit kann man Magier übrigens erstklassig provozieren. Wenn ein Magier Respekt einfordert, angehimmelt oder gefürchtet werden will, sich ach so imposant aufplustert, und man ihn völlig ruhig ansieht, oder sogar gänzlich ignoriert – nichts treibt einen Magus schneller zur Rage! Wenn ich in ein paar Augenblicken von der hübschen Lady Ereshkigal abgeholt werde und sie mich sanften Fluges auf ihren Schwingen zu ihrem Vater trägt, wenn ich demütig das Haupt vor Mermerus neige... ja, ich denke, mir gefällt der Gedanke, dann ein wenig frech aufzublicken, mit einem gewissen, schalkhaften Funkeln in den Augen, und ihn um einen Gefallen zu bitten. Wenn die Zeit gekommen ist und Balian Wolkenreiter vor ihm steht... ... dann möge er ihm doch bitte einen Apfel an den Kopf werfen! Einen von des Priesters Baum, falls er hat. Kapitel 7: Mäuse und Katzen --------------------------- „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist grün...!“ Als würde ihr über die Maßen gereizter Tonfall nicht längst ausreichen, ihm zu verdeutlichen, wie unwohl sie sich fühlte und wie unzufrieden sie mit der gegenwärtigen Situation war, stampfte Ashes mit den schweren Schuppenstiefeln gezielt ein paar hübsche kleine Blümchen platt und rieb die Sohle derb genug über den Boden, um auch die letzte Hoffnung auf mögliche Regeneration der Pflanze zu zerstören. Alistair hingegen störte sich wenig an ihrem kleinlichen Vernichtungsfeldzug. Die Sonne schien in einzelnen, dicken Bündeln durch die seltenen Löcher im dichten Kronendach, ein warmer, aber nicht zu heißer Sommertag und sie hatten keine Sorgen. Weder mussten sie sich um eine Unterkunft scheren, noch sich Gedanken darüber machen, wovon sie den nächsten Aufenthalt in einer Taverne bezahlen sollten. Es stand schon lange nicht mehr so gut um sie, wie es aktuell der Fall war – für den Langfinger ein Grund, sein euphorisches Gemüt von der Leine zu lassen. Den ganzen Tag schon erzählte er Witze, machte kleinere Scherze, warf mit gelegentlichen, aber wohlplatzierten Komplimenten um sich und strahlte eine Lebensfreude aus, die eigentlich hätte ansteckend sein müssen. Eigentlich. Da lag wohl auch das Problem. Ashes war umgeben von... einer guten Portion zu viel Lebensfreude – oder zumindest Leben. Blümchen und Gräser und Büsche und Bäume, alles hier gedieh prächtig, Eichhörnchen hüpften mit kaum spürbarer Scheu herum, weder flohen die Rehe vor ihnen, noch nahmen die Füchse größere Notiz von ihrer Gegenwart. Einfach nur zwei Tiere unter vielen, die durch den Wald streiften. Oh ja, man spürte nur allzu deutlich, dass die Elben dieses Territorium seit Generationen und Jahrhunderten verteidigten. Es war Ewigkeiten her, seit ein Mensch diesen Hain betreten hatte. Vielleicht zeigten deshalb auch diverse Tiere, von Frettchen über Vögel bis zum Rotwild, solch eine Neugier in Bezug auf Alistair. Anfangs war es für den Dieb geradezu verstörend gewesen, zuzusehen, wie sich ein kleiner, bunter Vogel, dessen Rasse er gar nicht kannte, auf seine Schulter setzte und neugierig an seinem Haar herum zupfte. Aus der Befürchtung heraus, der Vogel könne ihm mit einem Entleeren seines Darmes hässliche Flecken auf die schöne neue Lederrüstung bringen, hatte er seine Begleitung um eine Lösung des Problemes gebeten – ohne zu wissen, was er damit anrichtete. Wahrlich, er hatte etwas anderes erwartet, als er hätte erwarten müssen. Zumindest war es beeindruckend, wie weit der Vogel flog, nachdem Ashes erst einmal ausgeholt und ihn von seiner Schulter geklatscht hatte. Die Flugbahn war dabei mindestens so beeindruckend wie die Genugtuung in ihrem Gesicht. Doch egal, wie unwohl sich Ashes fühlte, an Alistairs Freude und Frohsinn änderte das nichts. Sie mochte sich nicht anstecken lassen, mochte seine Laune nicht teilen, doch zumindest schmälerte es scheinbar ihren Zorn ein wenig. „Du wirst sehen, wenn wir erstmal angekommen sind, wird es besser. Weniger Tiere und so.“ versuchte Alistair einmal mehr mit sanftem Ton und breitem Lächeln Ashes‘ Miene etwas aufzuhellen. Doch die Elbe blieb hart. Sie murmelte etwas von Wein, Tanz und Gesang, ein bitterer Ekel schwang in ihrer Stimme mit, während sie weiterhin so ungraziös wie möglich neben ihm her schritt. Eigentlich hatte sie keinen Grund, sich zu beschweren. Lange würden sie nicht in den Wäldern des Elbenstammes bleiben. Wie üblich, hatte ein Auftrag sie hierher geführt. Ein vorwitziger Elb mit dem Betragen eines Adelsmannes, der es tatsächlich für nötig gehalten hatte, seine halbe Ahnenreihe aufzuzählen, um zu beweisen, dass er das Recht besaß, sie anzusprechen, hatte sie auf die Siedlung aufmerksam gemacht. Kostenlose Unterbringung und Verpflegung hatten Ashes nicht hierher locken können – die angebotenen Münzen hingegen konnten es schon. Allerdings bezweifelte Alistair, dass sie sich abermals so entscheiden würde, wenn man ihr nun die Chance gäbe, ihre Wahl zu überdenken und zu revidieren. Ihre Geldbeutel waren eigentlich prall genug, sie waren auf diese Münzen keineswegs angewiesen. Normalerweise war es Ashes, die immer sagte, dass man nie genug haben konnte – und Alistair, der ihr eifrig nickend zustimmte. Immerhin konnte er von den wenigsten wertvoll aussehenden Gegenständen die Finger lassen. Doch dieses Mal hatte er alle Geschütze auffahren müssen, um sie hiervon zu überzeugen. Sie mussten das Dorf verlassen und diese ‚Mission‘ war dafür ideal. Danach würde Ashes so schnell wie möglich so weit wie möglich weg wollen. Die Aufträge in letzter Zeit hatten Alistair... besorgt. Seit er ihr fast unter den Händen weggestorben wäre, schien es fast, als würde das Schicksal ihnen einen Wink geben. Die letzten Monate hatten sie nicht damit zugebracht, Abenteurer aus den Miseren zu retten, in die sie sich gebracht hatten, Monster zu töten oder bewachte Schätze zu bergen. Viel trivialer war alles zugegangen. Ein paar Schuldner aufspüren. Einen Kopfgeldjäger abwimmeln. Alistairs Befürchtung war, dass sie demnächst Katzen aus Bäumen retten würden. Oder noch schlimmer... immerhin hatte Ashes mit einem der alten Häuser am Rande des Dorfes geliebäugelt. Es war alt, baufällig, verlassen und besaß doch unbestreitbar seinen ganz eigenen Charme. Alistair hatte das natürlich auch gespürt, doch sein Interesse erlosch, als er rasch erkannte, dass man diese Atmosphäre weder wegtragen noch verkaufen konnte. Er hätte es vermutlich vergessen, hätte Ashes das Haus später nicht wieder angesprochen. Sie hatte versucht, es trivial erscheinen zu lassen, doch das war es nicht. Ein Meisterdieb wie er musste einfach noch so beiläufig scheinende Hinweise verstehen können, das konnte einem oft und gern Kopf und Kragen retten. Er glaubte nicht wirklich, dass sie mit dem Gedanken an Sesshaftigkeit spielte – jedenfalls nicht um ihrerselbst willen. Schon viel zu oft hatten sie diese Debatte geführt, sogar ein, zwei Mal den Versuch gewagt und waren ein paar Wochen in der gleichen Siedlung geblieben. Das Ergebnis war immer das Gleiche: Die Langeweile brachte sie fast um. Ashes langweilte sich, begann mehr zu trinken und sich zu prügeln, was für Probleme sorgte. Alistair langweilte sich, begann mehr zu stehlen und riskantere Manöver zu wagen – was genauso zu Problemen führte. Einmal wurden sie rausgeworfen, regelrecht verjagt, einmal zogen sie rechtzeitig die Notbremse. Es klappte eben einfach nicht. Sie waren Abenteurer, Söldner. Die Reisen, das Adrenalin einer tödlichen Bedrohung durch übermächtige oder unbekannte Feinde, wenn ihnen die Gefahr im Nacken saß und man nie wusste, was der nächste Tag brachte – das lag ihnen einfach im Blut. Jetzt waren sie wieder unterwegs. Gut, es hätte bessere Optionen gegeben als direkt in einen Elbenwald zu marschieren – aber es hätte auch weitaus schlimmer kommen können, oder nicht? „Jetzt zieh nicht so ein Gesicht!“ lachte der Langfinger auf und stieß die Elbe mit dem Ellbogen in die Flanke. Sie wich aus, geschickt wie eh und je. Bei der schweren Panzerung mochte man soetwas erstmal schaffen! Ihre Herkunft war eben einfach nicht zu verbergen. Ashes holte aus und verpasste ihm einen rügenden Klaps auf den Hinterkopf, sah ihn missmutig an und ließ sich nicht beirren, als Alistair weitere Versuche startete, sie zu necken. Irgendwann bröckelte ihre Fassade dahin. Sie wies ihn scharfen Tones an, es sein zu lassen, aber Alistair hörte natürlich nicht zu – also sah sie sich genötigt, ihn rasch einige Meter durch den Wald zu jagen, um ihm seine Abreibung zu verpassen. Der Dieb wich im Unterholz geschickt aus, nahm ein paar Bäume, um sich dahinter zu verbergen oder Ashes zu einem Umweg zu zwingen. Letztlich holte sie ihn natürlich ein, denn Gewicht der Rüstung hin oder her, waren Wälder immer das Territorium der Spitzohren. Alistair aber entkam geschickt ihrem Versuch, ihn zu packen, wirbelte schwungvoll herum und griff unter ihren Armen hindurch. Unter ihrer Brust verschränkte er die Hände ineinander, zog sich an sie und legte das Kinn auf ihrer Schulter ab. „Lächel mal.“ flüsterte er leise. Ashes hob schwungvoll den Arm, titschte ihn mit der flachen Hand auf die Stirn. „Deine gute Laune ist manchmal unausstehlich...“ merkte sie an und musste dennoch auflachen, als Alistair sich über die ‚brutale Gewalt‘ beschwerte, mit der sie ihn in die Schranken wies. Immerhin schien er damit zufrieden zu sein. Wenigstens für eine Weile. Sie setzten ihren Weg fort. Für einen Menschen wie den Dieb war dieser Pfad schwer zu erkennen – alles war grün und soetwas wie Wegweiser oder gepflasterte Straßen gab es hier sowieso nicht. Doch Ashes‘ Auge erkannte, wo sie entlang mussten. Als sie die Siedlung nach einigen weiteren Stunden erreichten, gingen Alistair die Augen über. Es war nicht die erste Ansammlung elbischer Bauten, die er gesehen hatte, doch jede Stadt der Spitzohren war ein Augenschmaus – befand zumindest er selbst. Ashes hingegen schien gelangweilt, wenn nicht gar von all der Protzerei angewidert. Gewaltige Bäume rankten sich dem Himmel entgegen, mit Stämmen, so breit wie ganze Gasthäuser maßen. Brücken und Treppen gab es durchaus. Mal waren sie aus Schlingpflanzen, Moosen, Baumpilzen gewachsen, mal waren sie Teil der Baumrinde, die sich offenbar nach Wünschen der Elben ‚herausgestülpt‘ hatte. Auf gleiche Weise waren die Behausungen miteinander verbunden. Die Kronen der Bäume trugen die gesamte Stadt, jedes Haus, jede Halle, Bibliotheken, Altäre, einfach alles. Hier am Boden war der Platz frei gelassen worden für die Botanik und den Lebensraum der Tiere des Waldes. Als sie die Stufen herauf schritten, fuhr Alistair mit der Hand an der Baumrinde entlang. Noch immer war er sprachlos vor Bewunderung. Es mussten Jahrtausende vergangen sein, damit ein Baum solche Maße erreichte! Und wie die Elben es wohl anstellten, dass das Holz nach ihren Wünschen und Bedürfnissen wuchs? Er wusste inzwischen, dass das nichts mit Magie zutun hatte. Aber er konnte sich das nicht vorstellen. Wann immer er es versuchte, entstand das Bild, wie ein alter, zottelig-tattriger Elb vor einem Baum stand und auf ihn einredete – ein Bild, das ihn ständig zum lachen brachte. Aber irgendwie musste all das ja erschaffen worden sein...?! Als sie endlich die Krone und damit das Zentrum der Siedlung erreichten, eröffnete sich ihnen eine ganz neue Welt, deren Vielfalt und Lebhaftigkeit vom Boden aus nicht einmal ansatzweise erahnbar gewesen war. Eine Gruppe kleiner Kinder tollte an ihnen vorbei, ihre weißen Roben flatterten herum, während ihnen ein sichtlich älterer Elb maßregelnd nacheilte und im Vorbeigehen sogar eine Entschuldigung in ihre Richtung warf. Von der übertriebenen Höflichkeit der Elben hatte Alistair ja bereits gehört und sie auch schon oft genug erlebt – aber sie überraschte ihn stets aufs Neue. Zahllose Häuser hoben sich in leichter Bauweise von den Ästen ab, es gab sogar auf einem fast tellerartig in die Breite gewachsenen Bereich eine Art von Marktplatz. „Beeindruckend...“ nuschelte der Dieb eher zu sich selbst. „Jaja.“ Murrte Ashes dagegen und stieß ihn rauh in die Schulter, um ihn vorwärts zu treiben. Sie wussten nicht, wo sie sich mit ihrer Kontaktperson treffen sollten. Genau genommen, wussten sie nicht einmal, was sie überhaupt erwartete. Es sah jedenfalls nicht danach aus, als würden diese Leute in Angst vor irgendwelchen Bestien leben oder einen Mangel an Sicherheit, Nahrung oder Geld beklagen. Was für Arbeit wartete an einem Ort wie diesem auf sie? Eine Weile liefen sie über die Stege der Stadt, von Krone zu Krone, an den Häusern, Sälen, Hallen vorbei. Alistair bekam auf dem Markt mehrfach Probleme – er konnte tatsächlich die Finger nicht von ein paar Artefakten lassen, die dort angeboten wurden, doch die elbischen Sinne waren für ihn eine echte Herausforderung. Letztlich zog Ashes ihn von dort weg, ehe man sie beide hinauswerfen oder lynchen würde. Die Blicke der Hochgeborenen folgten dem Menschen, arrogant, überheblich, aburteilend – wie er es von Elben eigentlich gewohnt war. Dennoch kam er nicht umhin, sie um ihre Eleganz zu beneiden. Alles hier wirkte so... rein und sauber, alt, erhaben, schön. Allerdings glaubte er Ashes auch ohne Zweifel, dass es auf Dauer ermüdend und langweilig wurde, das jeden Tag um sich zu haben. „Vielleicht sollten wir ein Feuer legen, um auf uns aufmerksam zu machen?“ scherzte Alistair. „Okay, bin dabei.“ erwiderte Ashes lediglich mit den Schultern zuckend. Alistair legte den Kopf schief, grinste sie an und schüttelte sich abwendend schließlich den Kopf. Tatsächlich wurden sie wenige Augenblicke später von einem Elb angehalten. Langes, schneeweißes Haar, eine himmelblaue Robe und ein Leuchten in den Augen, das von Jugend und Elan zeugte. Es war der gleiche Bursche, der sie im Gasthaus des Dorfes überhaupt erst angesprochen hatte. Er war voraus geeilt, angeblich, um Vorbereitungen zu treffen. Wofür auch immer. Zumindest war damit das Problem der Unterbringung geklärt. Ashes und Alistair folgten ihm über mehrere Stege bis zu einem deutlich ruhigeren Teil der Siedlung, in dem offenbar die Älteren und Lehrstätten untergebracht waren. Zumindest, so befand Alistair gut gelaunt, garantierte ihnen das, das Ashes wenig Kontakt zu ihresgleichen haben würde. Damit müsste zumindest ein weiteres, rapides Abfallen ihrer Laune verhindert werden können. Dachte er. „Ist dir aufgefallen, wie diese Schmalzlocke mich angegrinst hat? Ich sag dir, wenn der mich nochmal so ansieht, poliere ich ihm die Zähne mit meiner Faust!“ knurrte Ashes, als sie am späten Abend das schloss, was wohl eine Tür ersetzen sollte. Sie zog ihr Schwert aus der Scheide und verkeilte es mit dem Boden – denn Türschlösser oder dergleichen gab es hier nicht. Alistair hingegen grinste in sich hinein. Aufgefallen? Wie hätte einem das nicht auffallen können! Es war mehr als offensichtlich, dass Ashes einen Verehrer gefunden hatte, der sich zu aller Peinlichkeit für sämtliche Beteiligten auch noch streng an die Sitten und Traditionen ihres Volkes hielt, als er um sie zu werben begann. Vielleicht hätte ihm schon Ashes Aufenthalt in einem Gasthaus, angetrunken und im Begriff, eine Schlägerei anzuzetteln, etwas darüber sagen sollen, wie ‚elbisch‘ sie tatsächlich war. Doch entweder war diese Information zum Zeitpunkt ihres Treffens für ihn bedeutungslos gewesen und war es noch, oder er fehlinterpretierte da irgendwas... „Reg‘ dich wegen dem nicht auf. Morgen bekommen wir schon heraus, was er nun von uns will.“ versuchte Alistair sie zu beruhigen. „Sicher, und wenn ich es aus ihm heraus prügeln muss! Was der von uns will? Das kann ich dir jetzt schon sagen...!“ murrte sie jedoch weiter. Alistair hingegen verzichtete auf weitere Widerworte. Er würde Ashes nicht besänftigen können, völlig ausgeschlossen. Lautlos ließ er sich auf dem Bett nieder. Ihre Räumlichkeiten waren mit zwei Betten ausgestattet, was zweifellos der Höflichkeit galt – oder der Annahme, dass sie kein Paar wären, war er ja schließlich ein Mensch und sie eine Elbe. Alistair strich sich durch das Haar, dachte eine Weile darüber nach, ob sich die Bewohner der Stadt wohl überhaupt darum scherten, wer sie waren und was sie verband, ehe er die Gedanken als nichtig verwarf und sich stattdessen der Stiefel entledigte. Barfuß schlich er sich langsam zu seiner Begleiterin herüber, die an der fensterartigen Ausbuchtung der Wand stand, die Hände aufgestützt und in die nächtliche Dunkelheit hinaus funkelte. Einen Moment nahm sich der Dieb die Zeit, beugte sich unauffällig vor, lauschte, spähte hinaus. Es brauchte keine elbischen Sinne, um die Lichter zu sehen. Manche waren feste Teile der Stadt, kleine, magische Glühwürmchen, eingefangen in durchsichtigen Kokons. Andere waren offenbar Teil einer Festlichkeit, tanzten in einiger Entfernung auf und ab, wirbelten herum – alles im Takt einer leise erschallenden Musik. Elbischer Gesang war ruhig, durchdringend und klang für den Langfinger irgendwie immer ein wenig nach Trauermusik. Ihn faszinierte diese Lebensweise, er mochte die Künste der Elben, ihre grazile Ästhetik – für einen Kurzurlaub immer wieder schön. Doch für Ashes war das alles zweifellos etwas anderes. Ganz abgesehen davon, dass sie vermutlich verstand, wovon da gesungen wurde. Es war nicht nur das Streben, sie abzulenken, sondern auch die Tatsache, dass mit dem Stillstand im Dorf schon viel zu lange etwas ausgeblieben war, der Alistair dazu brachte, sich wieder von tanzenden Lichtern und Musik loszureißen. Seine Hände legten sich auf ihre Hüfte, zogen Ashes mit sanfter Gewalt vom Fenster zurück. „Was soll das werden?“ nuschelte sie offenkundig unzufrieden, hielt noch einen Moment den Blick zu den Lichtern, ehe sie sich zu ihm umwandte. „Ich dachte mir, ich schlage dich nieder, schleife dich zum Bett und vergehe mich an dir... wie klingt das?“ Ashes trat einen halben Schritt zurück, musterte die schmächtige Gestalt Alistairs. Seine neue Lederrüstung verschaffte ihm ein fast schon respektables Aussehen, immerhin besser als die Lumpen, die er vorher getragen hatte. Die waren zwar unauffälliger, boten aber auch keinerlei Schutz vor Pfeilen und Klingen. Dennoch – weder war er groß gewachsen, noch kräftig, muskulös oder sonst irgendwie in einem Maße beeindruckend, dass man ihn für eine ernstzunehmende Gefahr halten könnte. Ashes wusste das, sie musste ihn dazu nicht erst auf diese Weise anstarren. Es war eher ein Ausdruck ihrer Skepsis, die unausgesprochene Frage, was er damit bezweckte, solchen Unsinn von sich zu geben. „Ich weiß nicht... lächerlich?“ gab sie schließlich zurück und grinste sogar ein wenig schadenfroh, als Alistair in theatralischer Manier einen Schmollmund zog. Sie versuchte, sich zurück zu halten, ihn nicht allzu offensichtlich spüren zu lassen, dass seine kleine Theateraufführung sie durchaus abzulenken und zu erheitern wusste. „Autsch, das tat weh, jetzt bin ich zutiefst deprimiert...“ erwiderte Alistair, grinste sie breit an und zog sie ein paar Schritte rückwärts tretend mit sich. „Nein, lass mich...“ murrte Ashes und wollte sich befreien, doch der Dieb war geschickt genug, sie nicht entkommen zu lassen. Es entbrannte binnen weniger Augenblicke eine regelrechte Rangelei, nicht mit Stärke und Gewalt, sondern eher mit Geschwindigkeit und Reflexen ausgespielt. Würde sie es schaffen, sich loszureißen, ohne dass er sie zu fassen bekam, ehe sie sich umgedreht hätte? Dumme kleine Spiele wie diese hatten es von Zeit zu Zeit geschafft, ihnen die Langeweile zu vertreiben – ganz abgesehen davon, dass sie eine gute Übung ihrer Fingerfertigkeiten waren und den Zusammenhalt bestärkt hatten. Es war eine Sache, das Bett miteinander zu teilen, sich nahe zu sein, aber doch eine andere, es in so trivial scheinenden Momenten zu spüren, einander zu beweisen. Letztlich war Alistair es, der das Spiel abbrach. Er packte Ashes beim Handgelenk, zog sie ruckartig zu sich, wich aus und stellte ihr in der gleichen, fließenden Bewegung ein Bein. Sichtlich überrascht, konnte Ashes nicht mehr auf den Beinen bleiben, griff Halt suchend zu – und zerrte Alistair am Kragen mit sich, als sie rückwärts auf dem Bett landete. Erst der weiche Aufprall ließ sie Gewahr werden, wo sie sich nun befand. Alistair hingegen grinste sie sichtlich zufrieden an, gretschte über ihr und erweckte den Eindruck, als habe ein Raubtier gerade Beute geschlagen – eine Analogie, die auf den Dieb so gar nicht passen wollte. „Lass mich!“ forderte die Elbe. „Zwing mich doch...!“ provozierte Alistair prompt. Sie versuchte sich aufzurichten, ihn abzuwerfen und er tat das Nötige, ihr eben dies nicht zu leicht zu machen. Tatsächlich brauchte es nur zwei, drei gescheiterte Versuche, ehe Ashes regelrecht erbost zu ihm auffunkelte. „Lass – mich – los!“ befahl sie ihm. Als er immer noch nicht tat, wie ihm geheißen, riss sie sich mit einem Ruck empor. Die Wende kam rasch und wenig zimperlich. Hatte eben noch Alistair ihre Handgelenke auf den weichen Untergrund gedrückt gehalten, verkehrte die Elbe mit Mühelosigkeit das Bild ins Gegenteil. Ehe sie aber nur ein Wort der Rüge los werden konnte, reckte der Dieb das Haupt empor, stahl ihr einen Kuss von den Lippen, ehe er sich wieder sinken ließ und sie frech angrinste. Einen Moment schien Ashes regelrecht perplex – als würde sie versuchen, sich zu erinnern, worüber sie ihn gerade noch hatte belehren wollen. Doch statt den Faden wieder aufzunehmen, ließ sie ihren Groll fallen. Alistair hatte damit Erfolg auf ganzer Linie gehabt. Nicht nur, dass er ihren Zorn auf ihre Umgebung auf sich gezogen hatte, hatte er ihr nun zudem ein gutes Ventil verschafft – und sich selbst eine vergnügliche Nacht. Ein Gewinn für alle sozusagen, immerhin bedeutete das auch, dass die Elben noch ein paar Tage länger friedlich leben durften. Eine angespannte, schlecht gelaunte Ashes in einer Elbensiedlung war immer eine kleine Katastrophe. Ein Umstand, der Alistair seit jeher fasziniert hatte. Die Elbe, an die er schon vor so langer Zeit sein Herz verloren hatte, war gleichermaßen ungestüm und temperamentvoll auf dem Schlachtfeld, wie sie es auch im Nachtlager sein konnte – konnte, aber längst nicht musste. Seine Hände strichen ihre Flanke herab. Es gelang ihm zusehens schwerer, sich zu konzentrieren, sein Blick wanderte rastlos über den Anblick, der sich ihm bot, die Rundungen ihres Körpers, der sich im eigenen Rhythmus bewegte. Ein leises Keuchen drang aus seiner Kehle, als sie ihre Hüfte herab presste. Diese Frau brachte ihn um den Verstand, wieder und wieder und er wurde ihrer nie überdrüssig, der Nächte nie müde. Alistair zeugte selbst nach allem, was sie er-, durch- und überlebt hatten, noch immer von einer gewissen Naivität und vielleicht war es dieser zu verdanken, dass er so dachte – doch in Momenten wie diesen war er sich sicher, in seinem Leben keiner anderen Frauen zu bedürfen. Er zählte sich zu den wenigen Glücklichen, die mit dem ersten Weib eine fast schon schicksalhafte Begegnung erleben durften. Seine Hand vergriff sich in ihrem Nacken, er zog sie herab, drängte ihr einen Kuss auf, genoss ihre Leidenschaft, als sie ihn erwiderte. Er trieb Ashes an ihre Grenzen, darüber hinaus, spielte in jenen kurzen, verletzlichen Momenten mit ihr. Als sie sich sinken ließ, kehrte eine friedvolle Stille ein. Nur ihr Keuchen durchzog es in regelmäßigen Abständen, bis ihr Atem sich normalisierte, ihr Herz wieder seinen alten Takt fand. Ihre Haut glühte noch, ein leichter Film lag darauf. Ihm erging es nicht besser. Er neigte den Schopf zur Seite, blies ihr eine Strähne aus dem Gesicht, grinste frech. „... ich glaube, die haben dich gehört...“ flüsterte er leise, lachte einen Moment auf, ehe er die Nase an ihrer Halsbeuge vergrub. Er sog ihren Duft ein, genoss das Gefühl ihres Gewichtes auf seinem Körper, die Wärme ihrer Haut, ihre Gegenwart. Ein betörendes Gefühl. Ein jedes Mal wünschte er sich, diese Momente würden kein Ende finden, doch letztlich taten sie das immer. Zeit hielt nicht an, nur weil man sie darum bat. Einmal mehr erlaubte sich Alistair einen kleinen Spaß, fuhr mit den Fingerspitzen ihr Rückgrat herab. Noch zu empfindlich, zuckte Ashes zurück, drängte sich in dem Versuch, seiner Geste zu entgehen, enger an ihn. „Lass...“ bat sie noch immer sichtlich außer Atem. Diesmal waren keine Belehrungen nötig, kein Betteln und keine Abreibungen. Er hielt inne, nahm sich das Recht, kleine Küsse auf ihren Hals zu hauchen. „Das-“ setzte Alistair an, als ihm Ashes prompt ins Wort fiel. „Ist das ein Scherz?“ Überrascht über ihren erbosten, zornigen Tonfall, blickte Alistair zu ihr auf und bemerkte, dass sie in Richtung des Fensters sah. Er erkannte nur noch eine verschwindende Gestalt – Sekunden später befand sich Ashes bereits in halber Rüstung, riss das Schwert aus dem Boden und eilte nach draußen. Es dauerte nicht lange, da kehrte sie sichtlich frustriert zurück. Sie hatte den Beobachter nicht erwischen können und war auch nicht gewillt, darüber ein einziges Wort zu verlieren. Alistair konnte gut damit leben – hätte er schnell genug reagieren können, hätte er sie davon abhalten wollen, überhaupt das Bett zu verlassen. Vielleicht hätte man auch einfach... einen Stiefel werfen können? Trotz der unangemessenen Unterbrechung fand die Elbe einen tiefen, ruhigen Schlaf – was Alistair gleichermaßen beruhigte wie zufrieden stellte. Es dauerte eine Weile, ehe er selbst Schlaf fand, also beobachtete er Ashes. Ihre Züge, wie sich ihre Brust von sanften Atemzügen hob, den Puls, der sich an ihrem Hals unter der Haut abzeichnete, all die Feinheiten, die er kennen und lieben gelernt hatte. Er kannte sie, hatte sie mit seinen Fingern und Lippen erspürt, schätzen gelernt. Alistair erinnerte sich eines jungen Diebes, der einst er selbst war. Eifrig, ehrgeizig und eine Spur arrogant. Er hatte immer behauptet, dass er sich niemals auf ein Weib einlassen würde. Sie waren die größte Schwäche, die ein guter Dieb sich leisten konnte – und die Letzte, denn sie würden jeden guten Langfinger früher oder später an den Galgen bringen! Vielleicht stimmte das ja. Er hatte in ihrer gemeinsamen Zeit so manche Wunde davon getragen, viele Situationen schienen keinen Ausweg mehr zu lassen. Aber wer konnte schon sagen, ob es auf anderen Pfaden tatsächlich besser geworden wäre? Immerhin hatte er mit Ashes etwas gewonnen, dass ihm der andere Weg nicht bieten konnte – das Gefühl, geschätzt zu werden. Auf mehreren Ebenen zudem. Der Tag brach erschreckend früh an und begann mit einem gequälten Aufschrei und Nasenbluten. Ashes hatte sich im Schlaf quer über die ganze Fläche ausgebreitet und scheinbar im Traum das Geschehen des vergangenen Abends passieren lassen, denn als jemand am Fenster erschien, um sie zu wecken, war es selbst für eine Elbe unvorstellbar, wie schnell sie den Stiefel gepackt und geworfen hatte. Tatsächlich stand dort draußen nur ein Bote, der sie wecken und zu ihrem vermeindlichen Auftraggeber hatte bringen sollen. So jedoch versuchte er erst einmal den Heiler aufzusuchen, damit das Bluten gestillt werden konnte. Ashes hingegen grinste sogar selig, weil der geworfene Stiefel nicht einfach verloren ging oder – schlimmstenfalls – hinab auf den Waldboden stürzte, sondern am Gesicht des Elben ‚abprallte‘ und wieder im Zimmer landete. Kaum, dass sie das Verschwinden des Unglückseligen bemerkt hatte, ließ sie den Kopf wieder auf den weichen Untergrund fallen und schlief weiter. Alistair, der nunmehr zumindest halbwegs wach war, bemerkte das mit einem gewissen Amüsement, ohne tiefere Mitleid für den Getroffenen zu hegen oder sich irgendwie um dessen Belange und Interessen zu kümmern. „Was, wenn es wichtig war?“ merkte er lediglich halbherzig an. Ashes winkte ab, ohne auch nur die Augen zu öffnen, gschweige denn, sich in seine Richtung zu drehen, weshalb er es mit einem Lächeln dabei beließ, sich ebenfalls wieder lang machte und die Zeit, die ihnen auf diese rüpelhafte Weise verschafft worden war, genoss. Er döste vor sich hin, wartete, bis Ashes von allein erwachte und machte sich seine Gedanken darüber, was sie hier wohl erwarten würde. Erst in den frühen Mittagsstunden schafften es schließlich beide aus eigener Kraft, sich zu erheben – der Bote indes hatte schlicht den Dienst verweigert und war ihrer Behausung fern geblieben. Sie streiften umher und fanden durch einen Zufall ihren Auftraggeber wieder, von dem sie nunmehr zu erfahren verlangten, weshalb sie hier waren – und was mit der versprochenen Bezahlung war. „Ah, äh, ja, genau, also... würdet ihr mir wohl bitte hinein folgen?“ lud der Elb sie freundlich ein und trat höflich bei Seite. Ashes schob sich ins Innere dessen, was sich als die Wohnung des Spitzohres entpuppte, doch als ihr Begleiter ihr folgen wollte, stellte sich ihr Auftraggeber in den Weg. „Verzeiht, junger Freund, ich... also... würde gerne eure Begleiterin unter vier Augen sprechen, wenn ihr gestattet.“ Alistair stutzte und musterte den Elb, dem dieser Blick sichtlich zu missfallen schien. Doch er war immerhin klug genug, nichts dagegen zu sagen. Schließlich warf der Dieb einen Blick an ihm vorbei in den Innenraum – zu Ashes, die lediglich mit den Schultern zuckte. Wenn dieses Spitzohr Probleme machen wollte, würde sie schon allein mit ihm fertig werden und Alistair konnte getrost ein paar Minuten vor der Tür warten, das stellte für ihn kein größeres Problem dar. Entsprechend willigte er ein, lehnte sich gegen die Rinde des alten Baumes und sah zu, wie die Tür sich schloss. Natürlich entkam Alistair seiner Natur nicht. Es war ihm während diverser Beutezüge immer wieder zum Verhängnis geworden, dass er unbedingt hatte wissen müssen, was sich in einer verschlossenen Truhe, hinter einem verriegelten Tor oder auf einem mit Wachssiegel gesicherten Pergament befand. So versuchte er dieses Mal ganz dezent nahe an die Tür zu rutschen, um eventuell ein paar ausreichend aufschlussreiche Gesprächsfetzen aus dem Inneren zu vernehmen, doch offenbar redeten sie deutlich zu leise – nur eines war ein schlechtes Zeichen, nämlich dass Ashes‘ Stimme zunehmend hörbarer wurde und auch sonst wenig erfreut klang. Alistair schreckte mit dem elenden Gefühl, ertappt worden zu sein, prompt zurück, als die Tür aufgerissen wurde und seine Liebste mit sichtlichem Zornesfunkeln davon stampfe. Ein Blick ins Innere des Hauses verriet dem Dieb, das irgendetwas sich nicht nach ihren Erwartungen entwickelt hatte – der vermeindliche Auftraggeber lag am Boden, gekrümmt und die Hände vor den vom Fausthieb noch immer schmerzenden Bauch gepresst. Eine erste Ahnung beschlich den Langfinger, doch auf Ahnungen allein wollte er kein Urteil begründen. Immerhin würde es ja wohl nicht weiter schwer sein, Ashes zu fragen, was vorgefallen war – doch genau in diesem Punkt irrte er sich. Sie war nicht dort, wo man sie untergebracht hatte. Weder fand er sie auf dem Markt, noch sah er sie unterwegs und von einer Elbe ihren Ausmaßes in schwerer Rüstung konnte man wahrlich nicht behaupten, dass sie leicht zu übersehen wäre. Schon gar nicht an einem Ort wie diesem. Dennoch fehlte jede Spur. Alistair nahm daher schlicht an, dass sie sich einen abgelegenen Ort gesucht hätte, entweder, um durch das Kleinhäxeln von Pflanzen ein wenig Dampf abzulassen, oder, um ihre Wut herauszuschreien. In letzterem Fall würde er sie ihrem Gesicht beim Verlassen des Hauses nach zumindest hören, solange sie im Umkreis von zwei Meilen wäre. Über den Gedanken grinsend, beschloss er, sich am berühmten elbischen Wein zu versuchen. Soetwas wie eine Taverne hatten die Elben nicht, kannten auch keinerlei Äquivalent dazu, allerdings waren Festivitäten offenbar tatsächlich gern gesehen. Was eigentlich gefeiert wurde, wusste Alistair nicht. Die Gesänge und Reden wurden in einem ihm völlig fremden Dialekt abgehalten, den er nie gelernt, ja wohl noch nicht einmal gehört hatte. Doch man schickte ihn nicht fort, als er sich einfach an die Tafel setzte und von der Karaffe etwas in einen tönernen Krug goss. Die Stunden zogen dahin und Alistair, der Zeit seines Lebens Alkohol nie vertragen hatte, wurde immer ausgelassener. Der Wein stieg ihm rasch zu Kopf, schmeckte süß und lieblich und diesmal war Ashes nicht zur Stelle, um ihn rechtzeitig auszubremsen. Er unterhielt sich hier und da sporadisch mit ein paar der Feiernden, trank mit ihnen, stieß auf Namen und Jahrestage an, von denen er nie etwas gehört hatte und schindete mit seinem scheinheiligen Wissen dennoch genug Eindruck, dass man ihm fast schon herzlich begegnete. Es wurde Abend, im ersten Dämmerlicht glühten auch die ersten Lichter wieder auf und Alistair erkannte den Platz, auf dem die Tafeln standen, als eben jenen, den sie gestern noch beobachtet hatten. Hier hatten die Lichter umher getanzt. Vielleicht eine Art Lampenfest? Kannten Elben so etwas? „Sagt, junger Herr, ihr scheint der Dame sehr zugetan, oder irre ich? Wage ich zu viel?“ schwenkte einer seiner Trinkgefährten schließlich auf ein neues Thema. „Dame? Welche Da-... oh... Ashes? Hihi, Dame...“ erwiderte der Dieb lediglich, grinste selig und kicherte abermals in sich hinein. Dem Elb aber schien das Antwort genug. „Besorgt es euch denn nicht, dass Halotheil um sie wirbt?“ hakte der Fremde erneut nach. In seinem Ton lag die gleiche aufrichtige Sorge und Verwunderung, die ihm auch im Blick stand, doch selbst wenn Alistair nicht betrunken gewesen wäre, hätte dies an seiner Antwort kaum etwas geändert. Er lachte. Aus tiefster Kehle und so herzlich, dass sich ein paar Blicke kurz auf ihn richteten. „Das verstehst du nisch...“ nuschelte er breit grinsend. Der sichtlich verwirrte Ausdruck des Elben verärgerte ihn einen Moment. Konnte der es denn nicht einfach dabei belassen und endlich die leere Karaffe auffüllen? So hingegen musste er weiter ausholen und sich erklären, so viel reden zu einer Zeit, in der ihm das doch zunehmend schwer fiel... „Dieser Hali-... Hal-... der Typ!... Der hat bei Ashes so viel Chancen wie ein Goblin, der einen Zwerg umwirbt...“ führte Alistair ein seiner Meinung nach sehr einleuchtendes und alles erklärendes Bildnis an, kicherte über die Vorstellung dieses Versuches und leerte damit auch seinen Becher – was ihm glatt einen besorgten, kummervollen Blick entlockte. Immerhin saß er damit jetzt auf dem Trockenen, und das, wo es doch gerade lustig wurde. „Aber Halotheil ist sehr angesehen, er hat eine wohlhabende, weise Familie, die seit Generationen-“ setzte der Elb erneut ab und verstummte, als Alistair die Hand hob. Er schüttelte lediglich den Kopf und versuchte genug Konzentration zusammen zu kratzen, um diesem Narren zu erklären, was sich so klar in seinem Kopf als Wahrheit präsentierte. „Hal-... der Typ. Der kann sonstwas für eine Familie haben, verstehst du? Er glaubt, er ist eine Katze, kann Krallen ausfahren und auf Jagd gehen, kann’er aber nich...! Er will es vielleicht nich wahrhaben, aber für jemand wie Ash... is‘ er nur ‘ne Maus. Ein leckeres Häppchen für zwischendurch... bestenfalls... oder so... sie’s die Katze, er die Maus... verstehst du? Sie spielt ein bisschen mit ihm und dann, ZACK!, bricht sie ihm das Genick oder so... hehe...“ Von Alistairs ausladender Gestik offenbar ebenso schockiert wie von seinen Andeutungen, wich der Elb gar ein Stück vor ihm zurück, ehe ihn offensichtlich die Neugier überwältigte und er das eben noch zwischen sie gebrachte Maß an Distanz rasch wieder überbrückte, um allzu eifrig sogleich die nächste Frage nachzuschieben. „Und ihr? Seid ihr... denn eine Katze?“ Alistair bekam nicht mit, dass er im Grunde nach allen Regeln der Kunst ausgehorcht wurde. Wobei sich in seinem desolaten Zutand ohnehin zeigte, dass wenig kunstvolles Vorgehen gefragt war, um Antworten zu erhalten. Vielmehr musste man dafür sorgen, dass er nicht mit dem Kopf auf die Tischplatte schlug und an Ort und Stelle einschlief, oder einfach den Faden verlor und wirr daher brabbelte. Für die Elben war ein betrunkener Mensch ein merkwürdiger und seltener Anblick – zumindest hier in dieser abgeschiedenen Siedlung. Deshalb versuchten die meisten Elben Alistairs Betragen auch mit höflicher Ignoranz zu vergelten. Sie versuchten geradezu verstört zu übersehen und zu überhören, was da am Ende der einen Festtafel vor sich ging, weil sie dafür keine gescheite Erklärung hatten – denn niemandem kam es in den Sinn, dass Menschen ihr Maß vielleicht nicht kannten oder, schlimmer noch, es kannten und absichtlich ignorierten. Elben tranken stets verantwortungsvoll. Genug, um sich zu erheitern, aber nie mehr. „Ich?“ echote Alistair und lachte. Er schlug mit der Handfläche prustend auf den Tisch, zog damit erneut ein paar verstörte Blicke auf sich, ehe er heftig den Kopf schüttelte – was spontane Übelkeit nach sich zog. „Ich bin auch nur ‘ne Maus, aber... ich bin geschickter. Ich... ich habe sie... äh... neugierig gemacht?“ Die Frage, was genau Ashes eigentlich dazu bewog, sich für ihn zu entscheiden, beschäftigte Alistair mit einem mal weit mehr als man es ihm in seinem Zustand noch zugetraut hätte. Darüber vergaß er kurzum auch jegliche Höflichkeit, ließ seinen auch weiterhin recht neugierigen Gesprächspartner schlichtweg an Ort und Stelle sitzen, erhob sich und taumelte langsam in die Richtung, in der er ihre Unterkunft vermutete. Nach knapp einer Stunde und drei verschiedenen Kreisläufen im ganzen Stadtgebiet kam er tatsächlich am Ziel an, zwar weit davon entfernt, ausgenüchtert zu sein, aber doch immerhin von Übelkeit und Verwirrung erlöst. Tatsächlich grübelte er noch immer über die Frage des Fremden nach. Ashes hatte ihm nie so genau gesagt, was sie eigentlich dazu gebracht hatte, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken, ihr Lager mit ihm zu teilen, sich ihm zu offenbaren. Nun, man konnte sagen, dass es Telete war, die bestimmte, welche Herzen zueinander fanden. Aber Alistair konnte genau benennen, was er an ihr bewunderte, was beneidete, was liebte, was ihm zuerst aufgefallen war – wie es sich aber umgekehrt verhielt, das wusste er nicht. Ashes war nicht der Typ Frau, die lange Gespräche über ihr Gefühlsleben führte. Das hatte er schon vor langer Zeit begriffen und sich damit auch bestens zu arrangieren gewusst. Warum ihn diese Fragen nun nicht mehr los ließ, das verstand er selbst nicht so ganz. Immerhin, kaum die Tür geöffnet, wurde er ‚begrüßt‘. Ashes kam gerade noch rechtzeitig, bevor er über die Schwertscheide hatte stolpern und sich mangelnder Reflexe wegen der Länge nach auf dem Boden ausbreiten können. Sie fing ihn ab, schleppte ihn zum Bett und warf ihm prompt vor, dass eine abgebrannte Destille nicht so riechen könne wie er. Sein Argument, dass Wein süß sei, entlockte ihr dabei eher ein belustigtes Grinsen und den vorab schon schadenfrohen Kommentar, dass er die Süße des Weines morgen früh zutiefst verfluchen werde. Die Nacht war unruhig und nach Alistairs Auffassung deutlich zu kurz. Es brauchte lang, ehe er überhaupt genug Ruhe fand, um zu schlafen, und schon viel zu früh brach die Sonne ins Zimmer. Er verfluchte zuerst die elbische ‚Bauweise‘ und ihren Hang zur Naturverbundenheit, ehe er sich aufzurichten versuchte, es angesichts des rasch aufkommenden Schwindelgefühls sein ließ und daraufhin – wie prophezeit – den Wein verfluchte. Über seine nörgeligen, quängeligen Tiraden konnte Ashes nur lachen. Nun schienen sich die Dinge verkehrt zu haben – während sie bester Laune einen bissigen Kommentar nach dem Anderen vom Stapel ließ und sich über sein Missgeschick köstlich amüsierte, wollte Alistair so schnell wie möglich aus dem Wald ‚entkommen‘, um nicht wieder von süßem Duft verlockt in Versuchung zu geraten. „Was wollte dieser Elb gestern nun eigentlich?“ nuschelte Alistair und entlockte Ashes damit ein Grinsen. „Das wird für dich die beste Nachricht sein: Wir können tatsächlich sofort aufbrechen und verschwinden.“ Auf seine Nachfrage hin erfuhr er schließlich die unliebsamen Details. Ashes war lange Zeit tot geglaubt, nicht nur von ihrer Familie, sondern auch ihrem gesamten Clan. Man hatte viel Zeit und Mühe investiert, sie aufzuspüren – und in der Gegend, in der sie sich befand, einen geeigneten Mann für sie zu finden. Offenbar war ihr einstiger Clan der Meinung, dass sie nun wahrhaftig alt genug sei, dem luderhaften Leben als Abenteurer unter Menschen, Zwergen und den anderen niederen Rassen zu entsagen und sich einer redlichen Gemeinde anzuschließen. Dass derlei Ambitionen von Anfang an zum Scheitern verdammt waren, ja regelrecht lächerlich schienen, hätte man sich denken können, war man Ashes auch nur ein mal begegnet. Doch woher sollten die Geister ihrer Vergangenheit das auch wissen? Sie wussten einen Namen, kannten aber die Person nicht mehr, die dahinter stand. Alistair hingegen traute seinen Ohren nicht, als er nach und nach die Geschichte vernahm, doch als sie schließlich endete, prustete er aus vollster Kehle – was ihm sein dröhnender Schädel sofort mit stechendem Schmerz vergolt. Ashes hingegen schien ihm sein Amüsement nicht übel zu nehmen, im Gegenteil. Sie waren sich völlig einig. Der vermeindliche Auftraggeber war letztlich ein junger, ambitionierter Elb, ein Junggeselle und offenbar recht angesehen – zumindest innerhalb seines Volkes. Allerdings hatte er den Fehler gemacht, Ashes wie das kleine Mädchen zu behandeln, dem das Wort ihrer Eltern der Götter Gesetz gleich zu sein hatte. Ihre freie Meinung übergehen? Ganz schlechte Idee. Sie packten die wenigen Habseligkeiten, die sie hatten und machten sich langsam auf den Weg. Die Stadt zu verlassen, war kein Problem. Ashes rechnete zwar damit, dass ihr Möchtegernbräutigam sich blicken lassen würde, doch zumindest anfangs schien dem nicht so. Während der ersten paar Stunden des Marsches lernte Alistair mit seinem Kater umzugehen. Er hatte schon seit vielen Monaten nicht mehr so über die Stränge geschlagen, weshalb ihm die Kopfschmerzen tatsächlich zusetzten. Er verlor auch keinerlei stichelnde Kommentare, sondern lediglich warme Dankesworte, als Ashes kurz abseitig im Unterholz verschwand und ihm bei ihrer Rückkehr ein paar Kräuter in die Hand drückte, mit dem Hinweis, dass er sie kauen sollte. Sie wirkten dem dumpfen Schmerz etwas entgegen und machten die Nachwirkungen des Rausches erträglicher. „Wann hast du ihn eigentlich geschlagen? Als er dich zu seinem Weib erklärte, oder als er von seinen Ideen der Hochzeitsdekoration sprach?“ hakte Alistair witzelnd nach. In fast regelmäßigen Abständen scherzten sie über das, was sie nunmehr zurückließen. Ihre Vergangenheit hatte sich vorgedrängelt, die Arme geöffnet und allen Ernstes geglaubt, sie würde freudig daher springen und zurücknehmen, was ihr damals verloren ging. Nur... dass Ashes diesen Weg selbst gewählt hatte. „Ich bin dafür, wir nehmen keine Aufträge mehr von Elben an.“ „Ach komm schon, das wäre unfair. Niemand gerät so leicht in Schwierigkeiten, wir würden viele lustige Aufträge verpassen – wie du siehst. Ich bin nur dafür, dass wir in Zukunft darauf bestehen, vorher zu erfahren, worum es geht. Ach und bitte: Sollte sich irgendwann mal meine Familie melden, erinnere mich daran, dass ich dich ihnen vorstelle... wenn sie sich im Ton vergreifen, musst du dich nicht mal zurückhalten...“ erwiderte Alistair und grinste breit vor sich hin, „Vielleicht sollten wir auch einfach deine alte Heimat besuchen und dort den Bund eingehen?“ Allein ihr Blick sprach Bände und brachte ihn erneut zum lachen. Nein, Ashes war ganz sicher nicht der Typ für sittsame Sesshaftigkeit, Hausbau, Familie und ein stetiges Leben. „Naja, eines muss man denen lassen – sie haben schöne, weiche Betten...“ resümierte Alistair mit frivolem Grinsen. Eine Weile wanderten sie wieder ruhiger einher, die Bäume wurden kleiner, wirkten jünger. Der Waldrand, so schien es, war nicht mehr allzu weit entfernt. „Du, sag mal... gestern auf der Feier hat mich ein Elb angesprochen. Ich habe mit ihm getrunken und geredet und da kam irgendwie eine Frage auf. Was findest du... eigentlich an mir?“ Einen Moment herrschte gespannte Stille. Alistair wusste nicht, in wiefern er nun zu viel gewagt hatte, überlegte bereits einen Schritt zurück zu gehen, abzulenken, das Thema zu begraben. Es war ihm fast schon peinlich, Gedanken anzusprechen, die ihren Beginn im Zustand der Trunkenheit gefunden hatten. Dennoch antwortete ihm Ashes – und das auf mehr als überraschende Art. „Weil du mich neugierig gemacht hast.“ Waren das nicht genau seine Worte gewesen? Er blickte sie von der Seite an, musterte sie, versuchte zu begreifen. Das gelang ihm erst, als das Grinsen auf ihren Lippen langsam durchbrach und sie die Fassade nicht mehr aufrecht zu halten fähig war. „Du hast mich belauscht?!“ fragte Alistair fast schon empört, in erster Linie jedoch ungläubig und überrascht. „Ich saß hinter dir.“ „Und du hast kein Wort gesagt?... Warum warst du überhaupt da?“ „Hey, da gab’s Wein!“ Beide lachten einen Moment auf, ehe Alistair eine weitere Möglichkeit bewusst wurde. „Dass ich dich neugierig gemacht hätte... hast du das jetzt nur gesagt, weil ich das sagte, oder weil es so ist...?“ Ashes aber erlaubte sich ihren Spaß – einmal mehr auf seine Kosten. Sie zwinkerte ihm fast schon verschwörerisch zu, ehe sie ihren Schritt ein wenig beschleunigte. Einen Moment lang hing Alistair hinterher, versuchte ihre Geste irgendwie brauchbar zu deuten, aber dafür war sie viel zu unklar und überhaupt wollte er eine Antwort...! Hastig holte er auf, begann sie mit Fragen zu löchern und plapperte in einem fort. Sie ließen eine Episode zurück. Eine Szenerie von Unzähligen, die sie erlebt hatten, die sie geteilt hatten in einem Leben, das sie gemeinsam führten. Sie würden die Geschehnisse vergessen. Wenn sie die nächsten Aufträge bestritten, im nächsten Gasthaus einkehrten. Irgendwann kämen sie zurück, bei einem guten Krug Schnaps oder Wein, vielleicht in einem Monat, vielleicht erst in Jahren, dann würden sie lachen und sich über diese Begebenheiten lustig machen. Damit war immerhin alles wieder beim Alten. Kapitel 8: Königin Saeryleth ---------------------------- „Runter!“ keifte Thorin gerade noch rechtzeitig, warf sich zur Seite und stieß Snorri mit der Schulter aus seiner Bahn. Der Zwerg purzelte einen halben Meter weit. Das Scheppern seiner Rüstung hallte lautstark in den Gängen und verlassenen Räumen wieder. Murrend und unheilige Flüche ausstoßend, dass ein gestandener Seemann rot geworden wäre, rappelte sich der Krieger wieder auf und versuchte schnellstmöglich seine verlorene Geschwindigkeit wieder herein zu holen. Thorin hatte rechtzeitig die Kurve bekommen, sich trotz seines Manövers fangen können und rannte nun schon ein paar Meter vor ihm daher. Den Speer ignorierend, der lautstark dorthin gescheppert war, wo Snorri gestanden hätte, setzte sich der Kämpfer wieder in Bewegung. „Ninafer, schneller!“ trieb Thorin den nächsten Streiter ihrer Gruppe an. Es war die reinste Hetzjagd. Ninquîel und Raven musste der Anführer des Tross wenigstens nicht antreiben, und gegen Drakimh hegte er im Moment genug Groll, dass es ihm fast gleich war, ob er nun zurück blieb und einer marodierenden Horde Untoter in die Hände fiel. Doch ausgerechnet der Magier, das Schlusslicht der Flüchtlinge, vermochte sich bislang stets eine Armlänge vor der Woge ihnen nacheilender Leichen zu halten. Thorin eilte um eine Ecke, wich geschickt unter einem Schwertstreich hindurch und schlug mit der Kraft eines schweren rechten Hakens zu. Das halb verrottete Skelett brach auseinander, Knochen, Rüstungsteile und Schild stürzten scheppernd ineinander zusammen. „Los, los, los, hier lang!“ peitschte der Axtträger seine Meute auf und wies ihnen die Richtung. Hatte der Weg zum vermeindlichen Ziel sie nur wenige Minuten gekostet, so schienen die Gänge sich jetzt endlos zu ziehen. Ja als würden sie geradewegs vermeiden wollen, ihre Beute wieder ziehen zu lassen. Er wartete. Snorri und Raven passierten, Ninquîel und Ninafer waren die Nächsten. Erst als Drakimh um die Ecke gehechtet kam, setzte sich auch Thorin wieder in Bewegung. „Wenn ich das nächste Mal sage, du sollst das verdammte Buch liegen lassen, dann lass es liegen!!“ keifte der Krieger den Magier an. Drakimh aber zog die Arme fester um den unmessbar wertvollen Schatz vor seiner Brust, klammerte sich trotzigen Blickes an das alte, verstaubte Werk, als wäre es seine Rettung. „Das ist den Aufwand wert!“ erwiderte er in dem Versuch, seine Torheit zu rechtfertigen, „Außerdem hat DAS ja keiner kommen sehen können!“ wollte er weiterhin einwenden und vollführte im rennen eine halbe Geste, um hinter sich zu deuten. Einen Augenblick überkam Thorin das tiefe Verlangen, Drakimh an der Schulter zu packen und gegen die Wand zu werfen. Die Untoten würden ihn einholen und sonstwas mit ihm anstellen. Im besten Fall – für Drakimh – ihn einfach töten und das Buch nehmen. Oder sie machten ihn zu einem der Ihren, oder sie zerfetzten ihn regelrecht, doch der Krieger war es leid, die mangelnde Erfahrung dieses ach so großen Magiers und deren Konsequenzen zu tragen. „Nicht absehbar? NICHT ABSEHBAR? Das ist kein Stapel verwitterter Pergamente, die irgendwo in den ganzen Bibliotheken verrotteten, das ist ein Buch! Bei Mermerus, denkst du auch nach? Es lag in einem runden, zeremoniell wirkenden Raum auf einem einzelnen Sockel im Zentrum, die ganze Anlage gruppiert sich um diesen Raum und du... du nimmst es einfach...!“ Thorin war nicht fähig, nicht einmal mit seiner Stimmgewalt, die Fassungslosigkeit auszudrücken, die ihn befallen hatte. Schon als Drakimh mit einem bedrohlichen Leuchten in den Augen auf den Podest zugetreten war, hatte der Krieger Schlimmes geahnt, aber es war zu spät gewesen. Er hätte den Magier nicht mehr rechtzeitig erreichen, von dieser Torheit abhalten können. Einmal das Buch angehoben, wurde scheinbar ein Mechanismus in Gang gesetzt, eine uralte Falle. Zweifellos hatte sie mit Magie zutun – was sonst konnte diese halb vermoderten Leichen so agil herum rennen lassen. Sie waren aus unzähligen Zimmern und Grabkammern gebrochen, wie eine Flut hatten sie sich hinter ihnen geschlossen. Bisher hatten sie wenigstens das Glück genießen können, dass ihnen von vorne keine zweite Menge entgegen kam, um ihnen den Weg abzuschneiden, aber all das hätte vermieden werden können, wenn der Magier nur wenigstens dieses eine Mal eine allzu offensichtliche Falle erkannt hätte. Aber nein, wozu auch, wäre ja langweilig! Der Axtträger sah schließlich davon ab, den Magier zu opfern, blickte ihn lediglich ein letztes Mal zornig an, ehe er ein Stück aufholte und sich wieder zur Führungsposition der Gruppe begab. „Ich sag dir, wir müssen links!“ knurrte Snorri felsenfest überzeugt in seinem Disput mit Raven. Das Ende des Ganges war absehbar: Eine T-Kreuzung und auch Thorin wusste beim besten Willen nicht mehr, welchen Pfad sie einschlagen mussten. Raven hingegen bestand auf dem rechten Weg. „Wir gehen links...“ entschied der Krieger kurzentschlossen. Der Grund war gleichermaßen simpel wie irreführend: Auf der linken Seite hingen die gleichen Wandhalterungen mit den scheinbar seit Ewigkeiten ununterbrochen brennenden Pechfackeln, zweifellos die gleiche Art von Magie, die den ganzen Ort umgab, doch während die rechten Fackeln einfach nur brannten, hatten die zur linken Seite geflackert – vielleicht ein Luftzug, ein Windhauch, ein Zeichen des dichten, fast undurchdringlichen Dschungels, der den Tempel umgab. Wie hatten sie nur auf die Idee kommen können, dass es ein guter Auftrag wäre? Natürlich hatte alles simpel begonnen. Die größten Miseren, das wusste Thorin inzwischen, begannen immer ganz simpel. Ein Gasthaus, ein enttäuschter Kapitän, mit dem sie eine Runde tranken und sich von ihm sein Leid klagen ließen. Seit sie die Kreuzwegfeste übernommen und damit eine passable Zuflucht für die ihnen folgenden Widerstandkämpfer gefunden hatten, war das vordringlichste Problem Geld geworden. Eine Armee wollte ernährt werden und nur wenige Händler wagten unter dem Ladentisch genug Waren zu verschieben, um hunderte Mäuler zu stopfen. Medea tat ihr Möglichstes, doch Tiere mussten sich vermehren, aufwachsen, Nachkommen zeugen. Das dauerte Jahre und die Bestände ihres Waldes gaben längst nicht genug her. Auch der geringfügige Ackerbau, Elbenmagie hin oder her, reichte nicht aus. Neben der Ernährung war dann noch das Problem, alle Rebellen mit Waffen und Rüstungen eindecken zu müssen – nach Möglichkeit zudem keine drittklassige Ware, die beim ersten Gefecht auseinander fallen würde. Von den zahlreichen nötigen Bauarbeiten, um die verwitterte Feste wieder in Stand zu setzen, ganz abgesehen. Sie brauchten allerhand Ziegel, Backsteine, Metalle, Granit, ein eigener Steinbruch wäre praktisch gewesen! Seit sie sich dem Untergrund angeschlossen hatten, gab es zwar erstmals Hoffnung, wirklich etwas bewegen zu können, aber mit dieser Entscheidung war auch alles viel komplizierter geworden – und die ruhigen Nächte sorglosen Schlafes damit deutlich rarer. Der Kapitän hatte ihnen von einer Expedition seines Bruders erzählt. Gewaltige Goldreserven im Dienste des Königs von A nach B bringen. Natürlich war das Schiff bei den Stürmen rund um Lumiéls Küste, die in letzter Zeit bemerkenswert an Häufigkeit zugenommen hatten, irgendwo gekentert. Ein paar Magier hatten für einen Gutteil eines Geldes einen Zauber gesprochen und so immerhin herausgefunden, dass das Schiff auf dieser Insel gelandet war. Allerdings hätte Thorin sich vielleicht damals schon denken sollen, dass es nicht so leicht werden würde, wie es klang. ‚Mal eben hinsegeln, Fracht abholen, zurück segeln und ein Viertel des Goldes als Bezahlung behalten‘ klang zwar schön... war aber offensichtlich nicht ganz richtig. Sie hatten nicht mit Überlebenden gerechnet. Vermutlich waren Liam und die anderen längst damit fertig, den Inhalt des Wracks an der Küste umzuladen auf ihr eigenes Schiff – eine weitere Investition, die noch nicht ganz bezahlt war. Überlebenden nachjagen. Das stand nicht im Vertrag, war kein Teil ihres Abkommens, ihres Auftrages. Raven hatte von Anfang an davor gewarnt, diesem Irren nachzujagen, aber nein, er wollte ja unbedingt helfen. Natürlich ihr zuliebe. Sie hatte sich Sorgen gemacht, was ihm im Dschungel alles passieren könnte. Man sollte ihn doch lieber einfangen und zurück bringen. Prima. Bis zu diesem vermaledeiten Tempel waren sie ihm gefolgt, nur um hier die Spur zu verlieren. Ninquîels elbische Augen waren gut – aber trotz ihrer visionären Gabe und den Vorzügen ihres Volkes, allmächtig war sie eben auch nicht. „Sackgasse!“ rief Raven von vorne missmutig und riss Thorin damit aus seinen Gedanken. Er stürmte im Sprint ein gutes Stück vorwärts. Sie waren tatsächlich in die Falle gelaufen, hätten den rechten Weg einschlagen sollen, was Raven auch prompt anmerkte. „Jaja, ist ja gut, darüber können wir uns später streiten!“ fluchte Thorin und warf einen Blick zurück. Die Gruppe sammelte sich in der kleinen Bibliothek, noch war von den Untoten nichts zu sehen, doch es war nur eine Frage der Zeit und ihr Vorsprung schmolz beständig. Zudem wussten sie nicht, ob der Feind ihnen in die grüne Hölle dort draußen folgen würde – und wie gut und schnell sie da voran kämen. Sie hatten für ein paar Meter vom Strand hierher Stunden gebraucht und der Rückweg würde vermutlich nur minimal besser voran kommen. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg...“ murrte Thorin verbissenen Gesichtsausdruckes und blickte zu Snorri herab, „Erinnerst du dich noch an Katar?“ „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ „Willst du warten, bis man dir an der Hüfte rumkaut?“ Der Zwerg murrte unzufrieden, schien aber einverstanden. Sie zählten gemeinsam herab. Drei... zwei... eins. Mit einem raschen Sprint stürmten sie auf die marode aussehende Wand zu. Drakimh wollte eben ansetzen, sie darüber zu belehren, wie maßlos dumm das war – verkniff sich solche Worte zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber lieber. Die Struktur des Tempels war alt, so furchtbar alt, dass ihnen gut und gerne alles über dem Kopf zusammenbrechen könnte, wenn sie hier einfach eine Wand einreißen würden. Doch davon ließen sich die Beiden nicht stören. Sie donnerten mit voller Wucht gegen die schweren Steine, die allzu porös geworden hinweg brachen. In einer Wolke aus Steinsplittern, dem Staub der Zeit und zerbröckeltem Mörtel brachen Snorri und Thorin in einen neuen Raum hinein. Offenbar eine gewaltige Halle mit mehreren Zugängen. Als die Staubwolke sich legte und der Tempel noch nicht so klang, als würde er einbrechen, folgten ihnen die anderen nach. Thorins Kopf war nun von einer kleinen Platzwunde verziert, seine Rüstung wies ein paar unschöne Schrammen auf und von der übel schmerzenden Rippe fing er lieber nicht an – aber sie hatten einen Weg, waren der Sackgasse entkommen. „Los, da lang!“ wies Thorin den Tross an und deutete die längliche Halle hinab. Raven und Ninquîel eilten voraus, Drakimh folgte dichtauf. Der Zwerg und sein alter Waffenfreund entschieden, diesmal selbst das Rücklicht zu bilden. Obgleich sie beide Ninafer zur Eile antrieben, schien es fast, als wolle die junge Adelsdame stehen bleiben und sich an der oppulenten Größe und verwitterten Glorie dieser Halle weiden. Alte, zerschlissene Teppiche an den Wänden zeugten von einem triumphalen Zeitalter, in dem dieser Tempel das Zentrum von... irgendwas war. Kleine Gravuren auf dem Boden schienen ihre Aufmerksamkeit ebenso zu fesseln wie die hohen Kreuzbogengewölbe der Decke. Sie blieben erst stehen, als sie fast vier Fünftel der Halle durchquert hatten. Hinter ihnen strömten tatsächlich bereits die Untoten durch das frisch entstandene Loch und sammelten sich zu einer neuen Meute zusammen, rostige Speere, schartige Schwerter und Schilde, die mehr Löcher als Metall hatten. Dennoch waren sie in ihrer Masse gefährlich und selbst das stumpfste Schwert konnte töten. Trotz der nahenden Bedrohung hielten sie einen Augenblick inne. Ein fast schon magischer Moment. Sie blickten empor zu zwei Statuen, die an jeder Seite der Halle sich erhaben in die Höhe reckten. Abbildungen einer Frau in Robe, die in einer ehrwürdigen Geste die Hand hob, als wollte sie ihnen bedeuten, stehen zu bleiben. „Wer... ist das?“ kam es atemlos, aber dennoch sichtlich beeindruckt von der Halbelbe. Niemand sagte etwas, obwohl die Antwort durchaus bekannt war. Ninafer setzte sich schließlich als Erste wieder in Bewegung. Langsam, gemächlich, trat sie über eine Linie am Boden hinweg. Die Hände vor der Brust gefaltet, schritt sie auf eine verwitterte, halb weggebrochene Struktur am Ende der Halle zu. „Ninafer!“ rief Thorin aus, kaum dass er ihren Kurs bemerkte. Das fehlte ihnen jetzt noch – eine weitere Falle! Er eilte ihr nach und kaum, dass er den ersten Schritt tat, schienen auch die anderen aus ihrer Starre der Faszination zu erwachen. Ninafer sagte nichts, reagierte nicht – ganz so, als wäre sie in Trance, in einem tiefen Traum gefangen. Sie schritt auf das Konstrukt zu und erst, als Thorin es näher zu betrachten wagte, fiel seine Sorge langsam von ihm ab. „Das kann nicht dein Ernst sein?!“ fuhr er die Giftkundige an, doch sie strafte ihn mit Ignoranz. Vor dem, was einstmals ein Altar war, kniete die frühere Jüngerin Ereshkigals nieder. Sie zog aus einer zerborstenen Schale etwas hervor, ließ es von Drakimh auf ihre Bitte hin mit einer kleinen Flamme entzünden und steckte das rasch abbrennende Etwas in eine Schale, die in einer zeremoniellen Anordnung unterhalb des Altars stand. Ein schwerer Geruch ätherischer Öle breitete sich aus, während Ninafer leise Gebete sprach, die Thorin nicht kannte, nie vernommen hatte und in der Aufregung der gegenwärtigen Situation auch weiterhin nur als nutzloses Gemurmel wahrnahm. Sie wussten es nicht. Keiner von ihnen wusste es, nur die führere Jüngerin hatte erkannt, dass sie in einem sehr sehr alten Kloster ihrer Göttin standen. Während sie die Hallen durchschritten hatten, in allen Gängen nach dem vermissten Überlebenden suchten, hatte Ninafer es immer wieder geahnt. All die Zimmer, die so aussahen, als wären sie für das Behandeln von Verwundeten eingerichtet worden, die Räume mit Töpfen voller Salben und Balsam, die unzähligen Grabhügel, die Bibliotheken und Gärten – alles war größer, älter, anders, und doch waren die Parallelen zu ihrem einstigen Kloster unabstreitbar. „Was geht hier vor sich?“ verlangte Raven harsch zu wissen und hielt den Blick auf die Meute der Untoten gerichtet. Thorin folgte ihrem Blick und erstarrte in Staunen. Eben jene feine Linie, gezogen zwischen den aufragenden Statuen, die Ereshkigal selbst darstellten, schien den Untoten ein Hindernis. Sie standen dort, dicht beieinander, schienen die Grenze nicht überschreiten zu wagen, harrten aus. Die gesamte Masse füllte fast die Halle und es wurden noch immer mehr und mehr – doch sie kamen nicht näher. Als sie ihre Gebete beendet hatte, erhob sich Ninafer. „Dieser Ort hat viel Schreckliches erlebt, die Gefallenen leiden noch immer die Qualen der Vergangenheit, sind wütend und rastlos.“ merkte sie mit einem allzu traurigen Blick an. Sie sah hinüber zu der Horde verwitterter Kadaver. Die Magie hielt den Zahn der Zeit von ihnen fern, zumindest eine Weile, aber gewiss nicht für ewig. In hundert Jahren, vielleicht erst in tausend, würde jede Leiche und jeder Tote in dieser Abtei restlos zu Staub zerfallen sein. Doch das würde keineswegs die Erlösung dieses Ortes von einem alten Fluch bedeuten, im Gegenteil – die Geister wären dann körperlos, würden Unglückselige als Erscheinungen ängstigen oder, schlimmer noch, in sie fahren, sie zu Besessenen machen, die durch ihren Wahnsinn starben. Dieser Ort hatte alle Güte verloren, die ihm einst anhaftete. „Wir sollten gehen.“ flüsterte die frühere Jüngerin schweren Gemütes. Kaum jemand achtete darauf, doch Thorin bemerkte das leichte Zittern in ihrer Stimme. Sie hatte keine Angst mehr – sie trauerte. Als er sich abwandte, um der Gruppe einen neuen Weg zu zeigen, eine neue Richtung einzuschlagen, bemerkte er den gläsernen Glanz in ihren Augen. Sie bedauerte, diesem verfluchten Ort und seinen Gefangenen nicht helfen zu können. „Dort rüber, los.“ wies Thorin den Tross an. Langsam setzten sich alle wieder in Bewegung, verschwanden durch einen Seitengang. Er jedoch blieb, wartete, bis er einen kurzen Moment mit Ninafer allein war. Langsam trat er an sie heran, hob die Hand an ihre Wange, strich darüber. Mit dem Daumen fing er die erste Träne ab, wischte sie hinfort. „Alles in Ordnung?“ erkundigte er sich leise. Ninafer schüttelte den Kopf, trat näher, vergrub das Gesicht an seiner Brust. Thorin legte die Arme um sie, nahm sich einen Moment die Zeit, wartete. Er wusste nicht, dass sich für Ninafer in diesen Momenten vieles offenbarte. Das Leid Zahlloser. Die Dinge, die diesem Ort widerfahren waren. Ob die Geister es ihr flüsterten oder ihre Göttin sie damit quälte, hätte die Giftmischerin selbst nicht zu beantworten gewusst. Thorin erahnte ihr Leid lediglich. „Na komm, wir verschwinden von hier.“ Langsam schob er sie von sich, strich ihr neuerlich über die Wange. Wie sie zu ihm aufsah, die feinen Züge ihres Gesichts, so rein und unschuldig wirkend. Thorin geriet in Versuchung, sie zu küssen, wider der Situation und aller Umstände. „Kommt schon, dafür habt ihr später noch Zeit!“ plärrte in diesem Moment Snorris Stimme durch die Halle. Mit einem ertappten Lächeln ließ Thorin den Kopf hängen, nickte Ninafer schließlich zu und folgte dem Zwerg. Sie hatten diesmal den richtigen Weg gefunden – er führte nach draußen, zurück in das undurchdringliche Dickicht. „Ich schwöre, wenn wir das nächste Mal irgendwo sind, lasse ich dich an den Mast binden, damit du keinen Unfug anstellen kannst!“ rügte Thorin Drakimh abschließend. Sie traten gerade die Stufen der alten Anlage herab, schienen nun den Ärger überstanden zu haben. Ein paar Stunden noch, dann wären sie wieder auf dem Schiff und in Sicherheit, würden der Küste des Hauptatolls entgegen segeln, den Fund abliefern, die Beute einstreichen und damit... irgendwas anstellen – sie hatten ja schließlich genug Löcher, die es zu stopfen galt. Gerade schien es, als würde der Tag eine gute Wendung nehmen, da erstarrte die gesamte Gruppe. Speere kamen zum Vorschein, jede Menge sogar, dazu einige Bögen und all diese Waffen, die ihnen entgegen gestreckt waren, schlichen langsam samt ihrer Träger aus dem dichten Buschwerk der grünen Hölle auf sie zu. Vom ersten Augenblick an war klar, dass ein Kampf keinen Sieg bringen würde – es waren einfach zu viele Gegner. Thorin musterte die Fremden. Sie trugen kaum mehr als Lendenschurz, die Schilde schienen aus Rinden, Bast und Hölzern zu bestehen, selbst die Speer – und Pfeilspitzen waren aus Stein geschlagen. Offenkundig handelte es sich bei den Fremden um eines der mysteriösen Völker, die angeblich auf den Inseln lebten. Nun, zumindest wäre mit dieser unerfreulichen Begegnung geklärt, dass sie eben kein Mythos waren... Ob sie wohl eine vernünftige, zivilisierte Sprache beherrschten? „Leute, wir haben gerade erst eine Horde ziemlich übel gelaunter Leichen hinter uns, wir wollen wirklich keinen Ärger, wir versuchen einfach nur, zu unserem Schiff zurück zu kommen, okay?“ Die steinernen Mienen waren für Thorin in gewissem Maße enttäuschend – man verstand offensichtlich kein einziges Wort. Raven wollte nach ihren Schwertern greifen, die Kampflust stand ihr in den Zügen geschrieben, doch prompt waren fünf Speerträger bei ihr und hielten ihr die Klingen gegen Brust und Kehle, dass sie langsam wieder die Hände dorthin hob, wo sie jeder gut sehen konnte. „Okay, die verstehen kein Wort... ich bin für Vorschläge offen...“ nuschelte Thorin leise und zwängte sich ein scheinheiliges Lächeln auf die Lippen, um die Eingeborenen in Sicherheit zu wiegen. „Ich bin jedenfalls nicht einer Horde Leichen entkommen, um jetzt von so ein paar Halbnackten gebraten zu werden!“ knurrte Snorri grimmig und gab sich auch keinerlei Mühe, seinen Unwillen gegenüber dem Naturvolk irgendwie zu verbergen. „Wir könnten rennen... also... in den Wald... äh... Dschungel. Ich hätte da einen exzellenten Zauber, den ich damals von-“ „Gekauft!“ fiel Thorin Drakimh ins Wort, ehe dieser beginnen konnte, die gesamte Herkunftsgeschichte seiner kleinen Sprüche aufzuzählen, „Bist also doch für was zu gebrauchen. Sag Bescheid, wann es losgehen kann.“ Der Magier konzentrierte sich, schloss die Augen und begann sich den nötigen Spruch ins Gedächtnis zu bringen. Für die Anderen hieß das, unruhig ausharren und warten, hoffen, dass sie nicht in der Zwischenzeit angegriffen wurden. Ohnehin war es merkwürdig – man hatte sie eingekreist, umstellt, aber nun schien völliger Stillstand zu herrschen. Man verstand sie nicht, man brachte sie nicht weg, griff sie nicht an. Als würden die Eingeborenen auf etwas warten. Und tatsächlich trag wenige Augenblicke später ein weiterer Fremder aus dem Dickicht hervor, doch er unterschied sich erheblich von seinen Kameraden. Eine schwere Maske aus schwarzen Federn war über seinen Kopf gestülpt und verdeckte die halbe Brust, aus geschnitztem Holz und mit Kohle bemalt, hatten sie einen Schnabel geformt – der scheinbare Anführer dieser Gruppe trat als Krähe oder Rabe verkleidet vor sie. Er hielt einen schweren Stab in der Hand, den er als Gehstütze gebrauchte, obgleich ersichtlich war, dass dieses Ding auch gut und gerne als Waffe dienlich sein könnte. Sein Körper war mit verschiedenen Farben, Mustern und Symbolen bemalt. Die Arme, Brust und Bauch, Beine, kein Fleck seines Leibes schien ohne diese merkwürdigen Zeichnungen auszukommen. Thorin reimte sich nach einem alten Schema alles zusammen, was er wissen musste. Wenn man einer Gruppe Feinde begegnete, war der, der unikat aussah, eine besondere Waffe, Rüstung, Kopfschmuck oder Kriegsbemalung trug, der Anführer, der Schamane, der Kommandeur – was auch immer. Der, den man töten musste, um die ganze Befehlskette einstürzen zu lassen. Leider heilt sich diese Möchtegernkrähe im Hintergrund, betrachtete neugierig die Gruppe. Er schritt hinter der Linie seiner Krieger entlang, nahm sich für jeden der Eindringlinge Zeit, ihn einzeln zu mustern. Bevor er fertig war und danach irgendetwas befehlen konnte – mochte Arimasper wissen, was der mit ihnen vor haben könnte! – gab Drakimh das Signal zur Flucht. Ein greller Lichtblitz, der die Sonne für einen Sekundenbruchteil konkurrenzunfähig erscheinen ließ, leuchtete auf und ließ die Eingeborenen zurückschrecken. Die Speere hoben sich, die Bögen senkten sich – und Thorins gesamte Gruppe stob auseinander. Sie verschwanden im Dickicht, hasteten rasch davon, zumindest so schnell wie ihre Kondition und das Unterholz es eben zuließen. Erst nach einer guten halben Stunde hielten sie auf einer kleinen Lichtung inne. „Alle da?“ keuchte Thorin, leicht gebeugt die Hände auf die Oberschenkel gestützt und hob den Blick, um sich selbst zu überzeugen. Blutrünstige Kämpferin? Vorhanden. Mürrischer Zwerg? Vorhanden. Vorlaute Halbelbe? Vorhanden. Naiver Magier? Vorhanden. Attraktive Giftmischerin? Vorha- wo bei Ceteus war Ninafer? „Was zum... wo ist Ninafer? Habt ihr sie gesehen? Wann habt ihr sie verloren?“ erkundigte sich Thorin hektisch, doch niemand wusste auf seine Fragen zu antworten. Alles war so schnell vonstatten gegangen, der Blitz, die Flucht, viel Grün und keine Zeit, mal eben nachzuzählen, ob noch alle da sind. Dabei war Ninafer gar nicht geflohen. Die hatte das ‚Startsignal‘ irgendwie... verpasst. War stehen geblieben und hatte sich sogar redlich gewundert, warum denn plötzlich alle weg waren. „Verdammt!“ presste Thorin hervor, „Also... gut... wir... wir brauchen einen Plan, wir müssen zurück.“ Ein Seufzen ging durch die Runde. „Vielleicht sollten wir sie an den Mast binden und nicht den Magier... jedes Mal lässt die sich verschleppen...“ murrte Snorri, dem das ständige Hin – und Hergerenne sichtlich die ohnehin fragilen Nerven angriff. Thorin wagte keine Widerworte, doch an der Notwendigkeit einer Rettung bestand kein Zweifel. Wer wusste schon, was diese Eingeborenen mit ihr vor hatten? Vielleicht würden sie sie rituell opfern oder lebendig begraben oder in einen Kochtopf werfen, sie hatten in den letzten Jahren zu viele Merkwürdigkeiten erlebt, um an der reinen Möglichkeit solcher Dinge nicht mehr zu zweifeln. „Nin‘, ich brauche deine Augen!“ begann Thorin an die Halbelbe gerichtet. Schon mehr als einmal hatte sich das Mischblut als eine passable Fährtenleserin erwiesen. Nicht nur ihre Visionen trugen dazu bei, sondern gerade in einer solchen Umgebung auch ihr elbisches Blut, das sie auf jeden geknickten Grashalm und jede zertretene Blume hinwies. Allerdings, wie Thorin nach einigen Stunden feststellen durfte, hatten sie die einheimische Bevölkerung sichtlich unterschätzt – die waren nämlich keineswegs dumm und lebten schon seit unzähligen Generationen in diesem Dickicht. Sie hatten falsche Fährten gelegt und die Truppe damit mehrfach im Kreis geführt, wobei es vor lauter Grün und Bäumen schwer war, zu erkennen, wann sie eine Stelle zum zweiten, dritten oder vierten Mal passierten. Doch gegen frühen Abend gelang es ihnen schließlich, das Lager der Einheimischen zu finden. Eine einfache Ansammlung von Hütten auf einer Fläche, die offenbar vom letzten Waldbrand gerodet worden war. Vielleicht zogen sie beständig umher, vielleicht war dies nur eine Art ‚Zwischenlager‘ und sie lebten in irgendwelchen Höhlen, das gesamte Drumherum war Thorin völlig egal. Man spürte ihm die Ungeduld an, seine Nerven waren gespannt und seine Erwartungen führten zu einer gewissen Gereiztheit. Er wollte Ninafer zurück, und das nicht erst in Stunden, sondern am besten VOR Stunden. Aus dem Dickicht heraus spähten sie auf den Platz hinaus. Zahllose der Eingeborenen hatten sich dort versammelt, warum auch immer. Doch vermutlich war es der Großteil der Bevölkerung – und damit vermutlich auch alle, die fähig waren, Waffen zu führen. Sie zogen sich ein kleines Stück in den Dschungel zurück, um nicht überraschend entdeckt zu werden, während sie ihren Plan schmiedeten. „Also Folgendes: Sie rechnen offenbar nicht mit uns, das wird unsere Hauptwaffe. Wir fallen ihnen mit viel Geschrei brachial in den Rücken, töten so viele, wie wir können und mit etwas Glück jagen wir dem Rest mit dem Gehabe genug Angst ein, damit sie fliehen. Wir packen Ninafer und sehen zu, dass wir schnellstmöglich zum Schiff kommen. Alle alles verstanden?“ Thorin wartete, bis er von jedem ein Nicken geerntet hatte. Leise schlichen sie zurück zur Lagergrenze, machten sich bereit und schlichen dann so vorsichtig und lautlos wie möglich an die ersten Hütten heran. Sie gingen an ihren Wänden in Deckung, bereiteten sich auf den Sturm vor, holten Luft, versuchten, ihre Nerven zu beruhigen. „Los!“ rief Thorin als Startschuss. Mit geradezu archaischem Gebrüll stürmte die Meute auf den Platz – und erstarrte. Ihr Plan war ohnehin von Anfang an zum scheitern verdammt gewesen, wie sie später erfuhren. Man hatte ihre Gegenwart in der Nähe des Lagers bemerkt, da hatten sie noch eine ganze Stunde gebraucht, es zu finden. Von den Wachposten und Spähern jedoch hatten weder Ninquîel noch Raven etwas mitbekommen. Der nächste Punkt war der, dass sich niemand an ihrem Hereinplatzen zu stören schien, Gebrüll und Überraschung hin oder her. Stattdessen kniete die gesamte, versammelte Meute auf dem Platz, hob und senkte die Oberkörper in einer Art von Anbetung, die dem Zentrum des Dorfes galt. Ein steinerner Sockel, verziert mit Tierschädeln, die Treppen überzogen mit Fellen, führte zu einem prunkvollen Stück, das in seiner Form doch stark an einen Thron erinnerte. Und auf dem saß niemand Geringeres als Ninafer. Die Adlige trug eine goldene Krone, besetzt mit zahllosen Edelsteinen – zweifellos ein Fundstück aus der Fracht des gestrandeten Schiffes, ebenso wie das Geschmeide um Hals und Handgelenke. Ihre Robe hingegen hatte sie einbüßen müssen, trug stattdessen einen weitläufigen Talar in feinsten Stoffen, pupur und gold. „Das... ist... unerwartet.“ merkte Ninquîel schmunzelnd an. „Wow.“ war hingegen Drakimhs einzige Bemerkung, dessen Blick sichtlich an Ninafer klebte. Thorin hätte es ihm übel nehmen wollen, doch er hatte dafür gar keine Zeit – ihm erging es nämlich keinen Deut besser. „War ja klar. Wir hetzen uns ab und sie lässt sich in aller Ruhe anbeten.“ nuschelte Snorri mürrisch, zog sein kleines Notfallfässchen hervor und nahm einen kräftigen Hieb, um den Frust herunter zu spülen. Es war Ninafer, die ihnen schließlich zugestand, an den Feierlichkeiten teilhaben zu dürfen. Man hielt die Eindringlinge von ihr fern, anfangs, bis sie dem Schamanen des Stammes erklärt hatte, dass es sich dabei um ihre Freunde handelte. Am Ende saßen sie um eine der Feuerstellen herum, noch immer ruhten ungläubige Blicke auf Ninafer, die sich des ganzen Rummels wegen tatsächlich ein wenig genierte. „Wieso hast du uns nicht gesagt, dass du deren Sprache sprichst?“ kam es zunächst von Ninquîel, die – anders als der Rest der Gruppe – herzlich auflachte, als Ninafer mit einem freudigen Lächeln und einem Schulterzucken antwortete, dass sie ja niemand danach gefragt hätte. „Und woher kannst du die Sprache?“ wollte Thorin daraufhin wissen, der langsam aus seiner Starre zu erwachen schien. „Also vor ein paar Jahren, da waren diese Räuber, und die-“ „Okay, reicht, den Rest kann ich mir denken...“ wimmelte Thorin ungläubig den Kopf schüttelnd ab. Wie schaffte diese Frau es eigentlich ständig, in die diffusesten und unglaubwürdigsten Geschichten verwickelt zu werden? Wenn sie wieder daheim in der Feste wären und erzählen würden, dass Ninafer zur Göttin eines Stammes von Ereshkigal anbetenden Urwaldbewohnern aufgestiegen war, würden die Anderen doch lachen und sich über den köstlichen Witz amüsieren! Sowas glaubt einem doch keiner! Snorri hingegen schien sich allmählich mit den Tortouren des Tages abzufinden. Die Einheimischen brauten aus irgendeiner Frucht ein Gesöff, das ihn laut eigenen Worten stark an den Schnaps Nothrends erinnerte, weshalb er auch binnen kürzester Zeit bester Laune war und sein kleines, angeschlagenes Notfallfässchen wieder auffüllte. „Wieso haben die dich zu... ihrer Königin gemacht? Ich kann das nicht mal aussprechen, ohne das es lächerlich klingt...“ erkundigte sich Thorin und versuchte noch immer mit der neuen Lage fertig zu werden. Irgendwie wollte er das alles einfach nicht glauben. Es war ja nun längst nicht das erste Mal, dass Ninafer verschleppt wurde, entführt, verloren ging, sich verlief oder dergleichen. Begonnen hatte es mit Phillipes Kerker, Dann war sie Brautgeschenk eines Zentrauren gewesen, von Harpyien gefangen worden, hatte sich an Bord eines Sklavenhändlerschiffes locken lassen, war der Stadtwache in die Hände gelaufen und ständig hatte Thorin sie irgendwie wieder befreien müssen. Das hatte sich zu einer schlechten Angewohnheit entwickelt, wie ihm schien, aber das hier... war was anderes. Deutlich anders. „Ich habe in der alten Abtei ein Gebet für die rastlosen Verdammten gesprochen und ihnen damit Einhalt geboten, das hat sie... beeindruckt. Als ich ihnen dann erzählte, woher ich die Gebete kenne... ich glaube, sie sind schon vor langer Zeit auf den alten Tempel gestoßen, er muss sogar schon vor ihrem Volk hier gewesen sein. Sie haben die Ruine entdeckt und erkundet, die Wandmalereien, die Texte. Ich weiß nicht, wie viel davon sie verstanden haben, aber irgendwann begannen sie, Ereshkigal zu verehren. Ihr Schamane verfügt sogar tatsächlich über ihre Gunst, das ist ganz erstaunlich!“ Thorin lachte herzlich. Erstaunlich, ja, das traf den Punkt ganz gut. Zu Ehren der neuen Königin wurde ein Fest abgehalten, neben oppulentem Mahl, an dem sich Raven und Snorri gütlich taten, wurde das Gebräu ausgeschenkt. Eine Reihe von Trommeln und anderen, merkwürdig fremdartig aussehenden Instrumenten hielt her, um dem Tanz und Gesang einen stetigen Rhythmus zu geben und nach und nach vermochte auch Thorin die Reste der Anspannung fallen zu lassen. Ninafer war offensichtlich nicht mehr in Gefahr, was gleichermaßen für sie selbst galt. Nach der ganzen Aufregung dieses Tages hatte er es sich vielleicht auch verdient, mal an einer Feier teil zu haben, ausgelassen zu sein, ohne sich Sorgen um die Probleme des nächsten Tages machen zu müssen. Er ließ sich im Verlaufe des Abends ein paar Worte der fremden Sprache beibringen, trank mit Snorri ‚auf die gute alte Zeit‘ und sah seinem alten Waffenbruder zu, wie er mit Raven versuchte, den Einheimischen Sinn und Regeln eines Wettessens beizubringen. Ninquîel hingegen unterhielt sich mit Drakimh, offenbar über das Buch, das er ergattert hatte. Allein wenn er den alten Einband sah, kroch etwas unterschwellige Wut empor – weshalb Thorin die Gesellschaft des Magiers vorläufig mied. Mit fortschreitender Stunde wurde der Dschungel dunkler, aber keineswegs leiser. Die Geräusche der Vögel und vorsichtiger Jäger änderten sich, weil nun andere Arten auf die Hatz gingen, doch der Dschungel schlief nie. Auf dem Festplatz indes wurde es leerer. Immer mehr der Feiernden zogen sich zurück. Selbst Ninquîel, Drakimh und Raven hatten bereits ihre Lager aufgesucht. Snorri trank gerade den zehnten Eingeborenen unter den Tisch und Thorin beließ es dabei, am Feuer zu sitzen und Ninafer zuzusehen. Sie ließ sich ein paar Schritte und Tänze von den anderen Frauen des Stammes beibringen, zog sie konzentriert nach und lachte herzlich auf, wann immer ihr ein Missgeschick widerfuhr. Dennoch zeigte sie ein überragendes Talent dafür, sich derlei anzueignen. Bald schon tanzte sie mit ein paar der Frauen gemeinsam, ein exotisch anmutender Ausdruckstanz, passend zu der fremdartigen Kultur und Lebensweise dieses Volkes. Thorin war gefesselt von diesem Anblick, vom Rhythmus, den Bewegungen, von Ninafers Anblick. Er hatte sich um sie bemüht. Oft genug und anfangs auch blamabel genug. Es hatte eine kleine Ewigkeit gedauert, ehe beide einander eingestanden, dass ihre Herzen einander näher waren, als es zunächst den Anschein hatte. Dennoch waren sie bislang nicht zusammen gekommen – ein Umstand, der Thorin in fast regelmäßigen Abständen grämte. Er hatte keine Zeit für Sehnsucht, für Liebe und Leidenschaft, es gab ein Land zu retten, eine Revolution aufzubauen... aber das änderte nichts an der Kälte einsamer Nächte und eben jenen schmachtenden Blicken, wie er sie auch jetzt wieder der Frau zukommen ließ, die sich dort so grazil und wendig bewegte. Die Nacht brach herein, Ninafer beendete erschöpft ihre Tanzrunde und entließ auch die Letzten in Richtung ihrer Schlaflager. Thorin erhob sich, spähte umher und bemerkte, dass sogar Snorri verschwunden war. Im Schein des Feuers trat er ihr gegenüber. „Das war beeindruckend.“ lobte er, was er die ganze Zeit verfolgt hatte und trieb Ninafer damit sichtlich die Schamesröte ins Gesicht. Sie bedankte sich kleinlaut, nästelte nervös mit den Fingern am Stoff des Talars herum. „Es ist spät... wir sollten schlafen gehen. Ich... bring dich hin.“ wagte Thorin schließlich den Vorstoß und versuchte sich an dem Balanceakt, das freundliche Lächeln nicht allzu frivol abgleiten zu lassen. Er trat ihr näher, nahe genug, um zu beobachten, wie die zarte Röte in ihren Wangen trotz der Dunkelheit, nur vom flackernden Schein des Feuers durchbrochen, noch an Intensität gewann. „I-Ich bin jetzt eine Königin...!“ wandte sie leise ein, als würde ihm das etwas bedeuten müssen, ihn von irgendetwas abhalten. Thorin aber strich mit dem Handrücken über ihre Wange. „Ich weiß.“ Seine Worte, sein Tonfall, erstmals seit ansehnlich langer Zeit schaffte er es tatsächlich, Ninafer genug zu entwaffnen, damit sie sprachlos wurde. Sie blickte zu Boden, wich ihm aus, bis er ihr Kinn empor drückte. Ihre Lippen waren weich. Der erste Eindruck, den er bekam und den er am längsten behalten würde. Warm, weich, sie schmeckten süß von dem Gebräu, das sie getrunken hatte. Ninafer wich nicht aus, scheute nicht zurück. Er spürte eine gewisse Euphorie aufsteigen, spürte sein Herz rascher schlagen, als er den Arm um sie legte, den zierlichen Leib der einstigen Adligen an sich zog. Zeit wurde zu einem zähflüssigen Konzept, bedeutungslos. Als sie sich voneinander lösten, lächelte Thorin auf eine Weise, wie man es nur allzu selten an ihm sah. Er war... froh. Glücklich. Erfüllt. Einen Moment genoss er ihre Nähe, genoss es, in ihren Augen zu versinken, ehe er sich in die Hocke begab, ihre Frage danach, was er vor habe, strikt ignorierte und sie sich über die Schulter legte. Als er sich aufrichtete, war ein überrascht-erschrockenes „Huch!“ Ninafers erste Reaktion, ehe sie halbherzig auf seinen Rücken einschlug und ihm ‚befahl‘, sie wieder herab zu lassen. Das sei einer Königin nämlich gar nicht würdig, wie ein Sack Mehl herumgetragen zu werden und überhaupt gehöre sich das nicht! „Jajaja...“ wimmelte Thorin lediglich breit grinsend ab und schleppte sie in eine der Hütten. Ganz die neue Königin, hatte man ihr ein eigenes Reich zugestanden, mit für die einfachen Verhältnisse des Stammes recht viel Spielraum. Thorin ließ sie wieder auf ihre Füße und wartete ab. „Na los, raus...!“ wies Ninafer ihn an. Er zuckte mit den Schultern, grinste wissend und kehrte sich ab. Kaum einen Schritt weit kam er, da fragte sie ihn, ob er tatsächlich einfach so gehen würde. „Du hast mich doch weggeschickt, oder nicht?“ „Machst du denn alles, was ich sage?“ „Probier es doch aus?“ Einen Moment kehrte eine fast schon peinlich berührte Stille in die kleine Hütte ein. Sie wagte nicht, traute sich nicht – so fürchtete Thorin. Er wollte das kleine Katz- und Mausspiel gerade beenden, als sie doch noch die Stimme erhob. „Dann komm wieder her.“ Wie angewiesen, wandte er sich um, trat wieder auf sie zu und verharrte wartend. Er wollte sie ein wenig necken, sehen, wie weit sie bereit war, ihre Wünsche in Worte zu kleiden. Sie sah zu ihm auf, offensichtlich auf eine Hilfe hoffend, die nicht kam, zierte sich, es auszusprechen. Wie verwunderlich das doch war, nach allem, was er über sie gehört und erfahren hatte. Ninafer, die eine Bande Möchtegernräuber damit verschreckte, indem sie in ihr Lager trat und alle Hüllen fallen ließ. Wie lange sie schweigend einander gegenüber standen, wusste Thorin nicht zu sagen. Eine gefühlte Ewigkeit. „Nun küss mich doch endlich...“ murmelte die frisch ernannte Königin kleinlaut und spähte erneut mit geröteten Wangen zu Boden. „Ich dachte schon, du sagst es nie...“ erwiderte Thorin lächelnd. Er genoss den Kuss, verlor sich darin. Der zierliche Leib Ninafers drängte sich gegen den Seinen, wurde von seinen Armen umfangen, gehalten. Seine Finger fuhren über ihren Nacken, ihre Schultern, schoben den Stoff langsam herab. Sie zögerte und er hielt inne, wartete ab, bis sie selbst sich aus dem Talar zu schälen begann. Sich der eigenen Rüstung zu entledigen, war längst nicht so schwierig und zeitzehrend, wie es das war, versuchte man sie überhaupt erst anzulegen. Riemen, Gurte, Schnallen – einfach lösen, fallen lassen, fertig. Während Ninafer sich unter Thorins durchaus von Zeit zu Zeit amüsiertem Blick daran zu schaffen machte, genoss er den sich bietenden Anblick. Sie hatte viel durchlitten, ihr ganzes Leben lang, vom Zeitpunkt des Zwischenfalls im Kloster über Phillipes krankes Spielzimmer bis hin in die jüngste Zeit. Die Geschichte hatte ihre Spuren auf Ninafers Haut hinterlassen, doch kein Makel vermochte zu verbergen, was für eine ansehnliche Frau sie war. Langsam drängte er sie zurück, löschte das letzte Feuer im Zimmer. Dunkelheit brach ein, Augenblicke, in denen seine anderen Sinne ihm alles Nötige vermittelten. Er ruhte an ihrer Seite, spürte ihre Haut unter seinen Fingerspitzen, fuhr ihren Hals herab, Schlüsselbein, Brust, Bauch. Sie zog die Luft hörbar ein, als er über ihre Hüfte strich, die Außenseite ihrer Schenkel herab – und nach einer Wende an der Innenseite herauf. Ein leises Seufzen füllte den Raum. Er zog sie auf die Seite, dass sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber lagen, streichelte über ihre Flanke. Schließlich zog er ihr oberes Bein über die Seinen, winkelte es an, erstickte ihr Aufstöhnen mit einem Kuss, als er sich ihrer bemächtigte. Das sanfte Wiegen einer lange vergessenen Melodie hing ihm in den Ohren. Ihr Stöhnen und Keuchen hatte sich nahtlos in diesen Rhythmus eingefügt, ihn ergänzt, als hätte es sich allzeit so gehört. Das Lied verfolgte ihn. Er erinnerte sich nach all den Jahrhunderten nicht mehr, woher er es kannte. Ninafer war Musik, wunderschön, einmalig, rührend, sie konnte ihn mit einer Glückseligkeit erfüllen, die er viel zu lange Zeit für unmöglich, für unwiederbringlich gehalten hatte. Er liebte sie und dieses Wissen, diese Erkenntnis, die sich so klar durchsetzte, schmerzte, ängstigte ihn. Er hatte in seinem Leben bisher alles verloren, das er je zu lieben gewagt hatte. Er wollte sie nicht verlieren, um keinen Preis der Welt – und doch ließ er sich nun auf sie ein. War es töricht, zu hoffen, dass es dieses eine Mal anders laufen würde? Thorin strich über ihre Schläfe. Ein dünner, noch warmer Schweißfilm stand ihr auf der Haut. Ihr betörender Duft hing ihm in der Nase, während er kleine Küsse auf ihrer Schulter und ihrem Hals verteilte. „Versprich mir etwas... ja?“ bat er sich leise aus. „Was?“ flüsterte sie zurück. „Lass mich nicht allein.“ Thorin hasste Momente wie diese. Er hasste sie, weil er sie fürchtete. In einer Welt wie dieser, das hatte er bitter lernen müssen, bedeutete jeder Moment, in dem man Schwäche eingestand, dass irgendjemand es bemerkte und einen fertig zu machen versuchte. Entweder aus eigenem Interesse oder... einfach nur so. Einzugestehen, dass er all die Jahrzehnte allein war, selbst in feuchtfröhlicher Gesellschaft stets einsam, war eine Schwäche. Er war unsicher, wenn es zu solchen Augenblicken kam. Schwäche einzugestehen war nicht sein Metier, über Gefühle zu reden erst Recht nicht. Wenn er wütend war, schlug er zu oder schrie jemanden an. Wenn er Angst hatte, ignorierte er es so gut es eben ging. Aber er redete nicht darüber. Ninafer schien sein Unbehagen zu spüren. Sie ruhte halb auf ihm, drückte sich nunmehr vom Grund ab, spähte ihm wider der Dunkelheit in die Augen. „Du weißt, dass ich das nicht versprechen kann...“ Ihr Flüstern trug die Wahrheit in sich. Natürlich konnte sie nichts versprechen. Es wäre dumm und naiv, das zu glauben, darauf zu hoffen. Dennoch hätte es ihm vielleicht etwas Frieden geschenkt, sich in diesen trügerischen Glauben zu hüllen, dass alles gut werden würde, einfach gut werden musste, weil sie es ihm zugesichert hatte. Es waren schwere Zeiten und ihnen stand das Schlimmste noch bevor – Thorin belog sich darüber nicht. Aber er würde alles überleben, alles durchstehen, wenn sie nur bliebe. Als sein Unbehagen ihm zu groß, zu unerträglich wurde, tat Thorin, was er in melancholischen oder emotionalen Momenten immer zu tun geneigt war – mit einer Prise Humor ablenken. „Dann versprich mir wenigstens, dass du dich in Zukunft nicht mehr ständig verschleppen lässt...“ stichelte er, rang sich ein freches Grinsen ab und hauchte ihr erneut einen Kuss auf, als sie Widerworte einlegen wollte. Die Nacht zog dahin. Thorin hielt Ninafer bei sich, wärmte sie, genoss es, mit der Hand über ihren Leib zu streichen, das Gefühl ihrer Haut auskosten zu können. Sie schlief, tief, fest, selig. Doch er selbst fand keine Ruhe. Das Geschehen der vergangenen Stunden hielt ihn ebenso wach wie die Fragen, die seinen Verstand traktierten. Wie sehr hatte er diesen Moment herbeigesehnt, all die Wochen und Monate über. Und jetzt? Jetzt fürchtete er, das zerbrechliche Gut, das er erlangt hatte, zu verlieren. Sollte er zulassen, dass diese Furcht sein Denken und Handeln bestimmte? Er beobachtete sie beim Schlafen, versuchte sich von ihrem regelmäßigen Atem einlullen zu lassen, selbst Ruhe zu finden. Doch diese Nacht war ihm kein Schlaf vergönnt. Am nächsten Morgen erwachte sie in seinen Armen, räkelte sich, lächelte verträumt, nur um sich erneut für ein paar Augenblicke an ihn zu schmiegen. Sie sammelten ihre Habe zusammen, kleideten sich an – natürlich nicht, ohne dass Thorin Ninafer mit ein paar Kommentaren neckte, woraufhin sie ihm Teile seiner Rüstung entgegen warf, denen er nur mühsam ausweichen konnte. Angesichts der Hilfe durch den Stamm war der Rückweg zur Küste und zu ihrem Schiff erstaunlich leicht. Liam und die Anderen erwarteten sie bereits und machten große Augen, als Ninafer in ihrem Talar mit einem ansehnlichen Gefolge dunkelhäutiger Anhänger aus dem Dschungel trat. Die Fracht war längst verladen, die Segel wurden gesetzt. In ein oder zwei Tagen wären sie zurück in Lumiél, dem zivilisierten Teil des Inselreiches. Thorin warf einen Blick auf die Seekarte, auf der Liam ihren Kurs vermerkt hatte, doch seine Gedanken schweiften beständig ab. Er schob es auf das ungewohnte, regelmäßige Schaukeln des Schiffes, dass er auch diese Nacht kaum richtigen Schlaf fand. Schließlich trieb ihn seine Rastlosigkeit nach einem Tag der Arbeit an Deck in Ninafers Kabine. „Ich wollte... was machst du da?“ setzte er an und stockte, als er sie vor ihrem Spiegeltisch vorfand, wie sie mit Stößel und Mörser ein paar nussähnlich scheinende Früchte zerkleinerte. Ohne sich an seiner Gegenwart zu stören, setzte sie die Arbeit vor, lächelte ihm freudig entgegen und gab das Zerriebene in ein Glas. Selbiges ergreifend, erhob sie sich von ihrem Platz und kam auf ihn zu. „Ich wollte auch schon vorbei schauen, dieser Schamane war sehr freundlich, er gab mir verschiedene Nüsse mit. Vielleicht könnten wir die auf den Feldern... anbauen? Ein paar davon wirken auf Blutungen stillend, wenn man sie als Muß auflegt, ein paar wirken stark betäubend.“ Nach der Erklärung hielt sie ihm lächelnd das Glas entgegen. Thorin nahm es an, roch daran und blickte skeptisch über den Rand zu ihr. Er erinnerte sich noch zu gut, dass sie mehrfach versucht hatte, ihn zu vergiften, nur um zu beweisen, dass sie mit ihrer Vermutung, er könne nicht sterben, richtig lag. Die Krämpfe danach waren elend gewesen und hatten ihn tagelang geschwächt! „Und das hier ist... was?“ „Trink!“ forderte sei ihn neugierig auf. Davon ausgehend, dass kein erneuter Giftanschlag auf ihn warten würde, kam Thorin schließlich der Aufforderung nach. Tatsächlich schmeckte es einfach nur nach Traubensaft – von den vermeindlichen Nüssen fehlte jede Spur. „Und was war das nun?“ wollte er noch immer wissen, da begann Ninafer bereits breit zu grinsen. „Nun ja, er sagte, ein paar der Früchte wirken aphrodisierend...“ merkte sie mit leichter Röte an. Thorin hingegen traute seinen Ohren nicht, wollte gerade Protest einlegen, dass sie ihn das einfach so trinken ließ, konnte sie doch unmöglich ausreichend über Dosierung und Zubereitung in der kurzen Zeit erfahren haben – also musste es mal wieder einer ihrer ‚Feldtests‘ sein. Doch kaum dass er den Mund zum reden öffnete, verspürte er nur noch eine sich rasend ausbreitende Kälte und Taubheit. Schon im nächsten Moment kippte Thorin im Türrahmen um. Ninafer hingegen warf einen sichtlich überraschten Blick auf das nunmehr zerbrochene Glas. „Hm... die falsche Sorte?“ rätselte sie kleinlaut... Kapitel 9: Gezeitenwechsel -------------------------- Immer schon hatte er gespürt, dass er anders behandelt wurde. Seine hohe Geburt sei der Grund, so hatten es ihm die ängstlichen Kammerdiener erzählt. Doch er wusste einfach, dass sie ihn belogen. Die Naivität, die sich andere Achtjährige leisten konnten, war ihm rasch und mit harter, strenger Hand aberzogen worden. Mit anderen Kindern spielen? Gewiss nicht! Es gab Unterricht, zu jeder freien Stunde, Teilnahme an diplomatischen Besuchen und Protokollführungen. All die Dinge, die ihn tagtäglich langweilten. Doch heute war anders. Er hatte am morgen seine Amme erwischt, wie sie sich in das Zimmer seines Vaters zu schleichen versucht hatte. „Niemand stört den König!“ hatte er sie lauthals angeherrscht. Wenn selbst er Prügel bezog, weil er seines Vaters Schlaf störte, dann durfte es dieses Weibsbild erst Recht nicht! Wo käme der Staat denn hin, wenn jede Zofe und Magd tun und lassen dürfe, wie ihr der Sinn stand?! Am Nachmittag aber trieb er sich in den Gärten jenseits der Festung herum. Die Apfelbäume trugen ihre Früchte zur Schau und auch nur einen davon zu stehlen endete in der Regel damit, eine Hand zu verlieren. Dabei war es von des Königs Gnade abhängig, ob man den Verwandten und Freunden des Verurteilten zuvor noch die Gnade gewährte, Verbandszeug herbei zu bringen. Sollte die Strafe aber sofort vollstreckt werden, musste der Querulant oftmals zusehen, dass er zu einem Medicus kam, bevor ihm das Blut ausging. Er aber verlor sich zwischen den Wiesen in seiner Melancholie. Das rotblonde Haar setzte sich kurzgeschnitten und allzu chaotisch von der grünen Wiese ab und unterhalb der wachen Augen zog sich eine kleine Schar von Sommersprossen jenseits der Nasenflügel dahin. Er vermutete, dass man ihn deshalb anders behandelte. Doch heute wollte er es wissen. Hastig rappelte der Bursche sich auf, stürzte zum Eingang der Festung herauf – nur um rasch umzukehren und die Perücke aus dem Gras aufzulesen. Sein Vater mochte es nicht, wenn er sich ohne sie zeigte und ein kleiner Hof, da wurde mehr geflüstert als in der ganzen restlichen Stadt. Das falsche Haarteil zurecht schiebend und schon jetzt der sich aufstauenden Hitze wegen ächzend, raste der Junge wieder den Pfad herauf. Durch zahllose Korridore wanderte er, immer zügigen Schrittes über den dicken Samtteppich, aber ohne dabei zu rennen. Das letzte Mal hätte er fast eine Vase umgerannt und hatte auch dafür seine Rüge bekommen – drei Tage ohne Abendbrot zu Bett gehen. Er fand seine Amme beim Vorbereiten der Wäsche vor. Worte fielen, seine, ihre, er verstand sie nicht genau, zu undeutlich war alles, doch dann wurde mit einem Schlag der Schleier hinfort gerissen, die Welt klarte auf – und er hörte jenen einen Satz. „Bei Damaste, bei Eurer Geburt habe ich seiner Majestät schon mein Beileid ausgesprochen – Ihr tragt ein böses Omen und werdet uns nur Verderben bringen!“ Er spürte, wie er zu zittern begann, wie die Tränen in seinen Augen aufstiegen, hörte sich Verwünschungen spüren. Die Amme zuckte zusammen, erkannte, dass sie sich deutlich im Ton vergriffen hatte, und das zugleich der falschen Person gegenüber. Doch er war nicht fähig, seine Macht zu erkennen, die Möglichkeiten, die ihm offen standen, um sie zu bestrafen. Einzig fluchen tat er, dann stürmte er davon, seine wackelig gewordenen Beine trugen ihn schneller und schneller voran, bis hin zum Zimmer seines Vaters. Er drückte ungeniert die Klinken herab und stürmte in den Schlafsaal. „Ich bin nicht schlecht!“ keifte er den träge erwachenden Monarchen an. Erst die Reaktionslosigkeit seines Vaters versetzte ihm den eigentlichen Schlag. Tief in der Nacht schreckte Phillipe in seinem Bett auf. Wo war er? Was war geschehen? Der zwölfjährige Junge sah sich hektisch um. Sein Bett erkannte er. Dann die Portraits von seinem Vater an den Wänden, die edel eingefassten Türrahmen, die unbezahlbare Handwerkskunst der Stühle in der Raumecke, die antiquierte Kommode. Er war im Schloss, in seinem Zimmer. Mit schwerem Seufzen ließ er sich in die Kissen zurück fallen. Die kostbaren Nachtstunden waren dahin. Ein Alptraum, nicht mehr – das versuchte er sich einzureden. Aber er wusste, dass es das nicht war. Er war tatsächlich vor vier Jahren in das Zimmer seines Vaters gestürmt und hatte Prügel dafür bezogen, ihn zu wecken und obendrein sein Personal mit Fragen zu belästigen. Vorsichtig schob Phillipe die Füße aus dem Bett, schob sie unter seidenem Stoff teuerster Art aus fernen Ländern hervor und tippte mit leisen, vorsichtigen Schritten über die Dielen seines Zimmers zum Fenster. Der Mond stand klar und groß am Himmel, kaum eine der zahlreich verteilten Wolken wagte sein Antlitz zu verdecken. Damaste, die Herrin des Mondes, die Schutzpatronin der Familien, Hüterin der Kinder und Schwangeren. Im Stillen machte sich der Knabe Gedanken darüber, dass er seine Mutter nie kennen gelernt hatte. Ob er wirklich verflucht war? Er verstand es nach all den Jahren noch immer nicht. Durch seinen Ausbruch hatte sich nur eines geändert: Man mied ihn noch mehr. Die Kammerdiener schlichen vor ihm davon, sobald sie konnten, die Mägde senkten scheu den Blick und selbst seine Lehrer wagten nie, ihn zu berühren. Die Prügel auszuteilen, das war Aufgabe des königlichen Beraters. Ein fetter, feister Kerl mit fleischigen Pranken. Phillipe schüttelte sich vor Ekel. Sein Blick fiel dabei zur Seite, vorbei an edlem Mobiliar, hin zu der Kommode. Auf ihr ruhte ein Ständer, darauf fein drapiert die Perücke. Goldenes Haar, in schwungvollen Wellen und schulterlang. Er hatte sie erst hassen gelernt und dann versucht, sich mit ihr zu arrangieren. Was sollte er auch sonst tun? Vor drei Jahren hatte er sie verbrennen wollen. Und was war passiert? Man hatte ihn grob gepackt, stetig vor gehen lassen zum Gemach seines Vaters, immer an die Schulter geschubst, bis er dort vor einen Schrank gestellt wurde. Seine Majestät persönlich zog die Türen auf und verpasste ihm eine Schelle, dass er zu Boden geworfen wurde – noch ehe er begriff, dass er auf ein endloses Repertoire der ewig gleichen Perücken starrte. Er würde sie niemals los werden. Der Gedanke hatte ihn damals so hart getroffen, dass er überlegte, den Schrank in Brand zu stecken. Doch dabei hätte sein Vater sterben können und das wollte er nicht... trotz des Umstandes, dass dieser ihn nicht einmal als Mensch zu sehen schien. Die wenigen Stunden bis zum Morgengrauen zogen rasch dahin und Phillipe erwartete seinen Vater im Stillen. Er saß an der Kommode, starrte in den Spiegel. Rotblonde Haare, wirr und widerspenstig und lauter Punkte im Gesicht. Wie hatte er dieses Bild zu hassen begonnen. Niemand würde ihn so behandeln, wenn er nur anders aussehen würde! Es klopfte. Sein Vater trat ein, suchte ihn im Bett. Sein Blick fand ihn vor der Kommode. „Mach dich fertig.“ lautete die Begrüßung dieses Morgens. Kein Lob, das er so früh schon auf war. Wozu auch. Der Knabe begann stattdessen mit dem, was er gelernt hatte, was ihm bis zur Schmerzgrenze in endlosen Stunden von den Kammerdienern beigebracht worden war. Kämmen, parfümieren, anlegen, die Perücke aufsetzen, straff ziehen, nachprüfen. Dann kam das Puder. Es musste genug sein, um all die verräterischen Flecken verschwinden zu lassen. Die Prozedur dauerte fast eine Stunde – und das jeden Morgen. Dennoch empfand er eine gewisse Genugtuung dabei, das verhasste Gesicht immer mehr verschwinden zu sehen. Wenn er so hinaus trat, das hatte er inzwischen begriffen, dann war er kein 'Ding', kein 'dunkles Omen', wie seine Amme ihn damals genannt hatte. Dann war er seines Vaters Sohn, eine ernstzunehmende Persönlichkeit. „Du wirst heute lernen, wie die Mägde ihren Lohn verdienen.“ wies ihn des Königs Berater an. Schon früh am Morgen schnaufend und bei jedem Schritt keuchend, wälzte er sich den Gang herab. Phillipe durfte nicht zurück fallen und nicht voraus eilen, dann gäbe es Hiebe, aber neben diesem Monstrum zu laufen, machte ihm Angst. Er malte sich aus, wie es wäre, wenn dieses Ungetüm einfach umkippt. Der flachste Thronfolger der Welt. Seine schmächtige Gestalt schüttelte sich nicht einmal in einem unterdrückten Kichern, geschweige denn einem Lachen. Zu viel Zeit war darauf verwendet worden, ihm die Kontrolle über sich zu geben. Er Lachen und Kichern wie dumme Bauernkinder, das geziemte sich keines Thronerben. Dennoch empfand er ein gewisses Amüsement. Im Stillen – wie immer. Die Mägde waren heute also dran. Der Bursche wollte seufzen, konnte sich aber im letzten Moment beherrschen. Die Kammerdiener waren es letzte Woche, die Knappen die Woche davor. Wozu lernte er, womit sich der Pöbel herum trieb? Solange sie ihre Arbeit gut taten, sollten sie angemessenen Lohn bekommen und sobald sie das nicht mehr taten, gebührte dem faulen Pack sowieso nur die Peitsche oder der Strang. Zumindest dahingehend war sein Vater mit ihm zufrieden: Er zeigte die gleiche Härte, Konsequenz und Unnachgiebigkeit im Umgang mit einem Volk, das seinem Vater nach 'einfach eine starke Hand braucht'. Der Tag war noch nicht weit voran geschritten, da schlich Phillipe sich davon. Die Mägde hatten Angst vor ihm, das spürte er, und obwohl er das Gefühl mochte, langweilte es ihn doch zu sehr, sich ihre belanglosen Arbeiten den ganzen Tag anzuschauen. Stattdessen erkundete er die Burg. Weder sein Vater noch dessen Berater noch die Kammerdiener kannten jeden Raum darin und so war es nicht verwunderlich, dass der gelangweilte Bursche schließlich vor eine Tür trat, die bis dato nur einem Menschen bekannt war. Ein merkwürdiges altes Schloss versperrte den Durchgang. Mehrere Hebel und Riegel, die in scheinbar wahlloser Art an der Tür angebracht waren und allesamt ein komplexes Mosaik aus Mechanik ergaben. Phillipe besah sich die Tür sehr genau, doch es gab keine Kerben, keine Inschriften, nichts. Nur eine eiserne Tür mit einer Menge Hebel und Riegel. Schließlich erinnerte er sich eines Satzes, den sein Vater bei guter Laune hatte fallen lassen. „Du bist ein Thronerbe. Du kannst in diesem Land gehen, wohin du willst.“ Natürlich hatte er rasch lernen müssen, dass dem nicht so war. Man ließ ihn nicht einmal die Wehrmauer passieren und die Stadt erkunden. Aber vielleicht galt dieser Satz ja zumindest innerhalb der Mauern? Er wollte es herausfinden. Phillipe mühte sich an den Hebeln ab, versuchte die schweren Riegel weg zu schieben, doch seine Kraft reichte nicht. Überhaupt kam es ihm vor, als würden die Metalle sich weigern, als wären sie verrostet und blockiert. In einem letzten, von Unmut begleiteten Versuch wollte er eines der Zahnrädchen drehen und schnitt sich daran den Finger. Als das Blut aber das Metall besudelte, begann das Zahnrad sich zu drehen, die Hebel sich langsam aus den Ankern zu hieven und die Riegel sich zu entsperren. Ein Klirren und Rattern und Scharren erfüllte den kleinen Treppengang, der von den Vorratskammern hierher geführt hatte, dass Phillipe schon glaubte, man müsse ihn hören. Unweigerlich wandte er sich um, blickte die Stufen hinauf, doch dort oben war nichts und niemand zu sehen oder zu hören. Dann verstarben die Geräusche so rasch, wie sie eingesetzt hatten. Die Tür hörte er leise quietschend aufschwingen und spürte noch im gleichen Moment einen starken Luftsog. Muffiger, abgestandener Geruch drang aus dem Spalt hervor, als die verbrauchte Luft daraufhin entwich. Und wieder der Sog. Eine weitere Wolke des verbrauchten Gestanks – ein Wechsel schien entstanden, den Phillipe mit Schrecken zu erkennen glaubte. Die Geräusche stammten von der Luft, die in den Raum gesaugt und von dort heraus gestoßen wurde, es war nur die Luft... oder war es doch Atem? Langsam, wie in Trance, wandte sich der Knabe zu der Tür um. Sie schwang weiter auf, ganz zaghaft und leise quietschend, dahinter streckte sich eine gähnende Schwärze, die schier undurchdringlich zu sein schien. Erst als er in eben jener Finsternis eine Bewegung zu sehen glaubte, stürzte der Bursche panisch die Stufen herauf. Drei Mal legte er sich auf der Treppe lang, ehe er durch die Holztür hastete und sie ins Schloss warf. „Was habe ich euch gesagt, wo ihr zu sein habt?“ keifte der Kämmerer sofort und packte ihn noch beim Ohr, als Phillipe sich gerade versichern wollte, dass die Tür wirklich zu blieb. Vorsichtigen Schrittes trat er immer weiter von ihr zurück, da erwischte ihn der Bedienstete. Kein Wort wurde über den Treppengang und die Tür verloren, nicht von dem Jungen, der nicht wusste, was er denn hätte erzählen sollen, noch von des Königs Getreuem. Doch sein Schweigen galt nicht für das leise Wimmern, dass ihm trotz aller Beherrschung vom Schmerz der Bestrafung aus der Kehle trieben wurde. Zwei Monate später waren die Tür und der Treppengang vergessen. „Die Arbeit der Bellatoren beobachten“, so lautete sein neuster Auftrag. Gelangweilt in der Wachstube herum sitzen und den Tag vertrödeln, so gedachte der Bursche selbst es zu nennen. Die Stunden zogen quälend langsam herum. Die Wachen wagten ihn nicht anzusprechen, wollten mit ihm nichts zu tun haben, schroff und kaltschnäuzig antworteten sie ihm auf Fragen, so beschied Phillipe, sich wie Luft zu verhalten und das schien offenkundig allen nur allzu Recht. Als er sich an diesem Abend in seine Gemächer begab, da wurde er bereits erwartet. Schon als er die Tür öffnete und eine Gestalt am Fenster sah, blickte er sich um. Es standen Wachen im Flur, der Fremde konnte unmöglich unbemerkt herein gekommen sein. Ein weiterer 'Lehrer' also, den sein Vater ihm sandte? Zögerlich trat die schmächtige Figur ein und schloss die Tür hinter sich. „Ihr wünscht?“ erkundigte er sich so freundlich, wie es ihm die Laune noch zuließ. Als der Besucher sich umdrehte, erschrak der junge Knabe gar. Eine solche Gestalt, bei Leibe, hatte er noch nie gesehen! Die Wangen eingefallen wie von hohem Alter, spannte über kahlem Schädel und dürren Händen eine totenbleiche Haut, während die Augen von einem kränklich wirkenden Gelbton unruhig herum starrten und alles zu durchbohren schienen. „Mit Wünschen sollte man vorsichtig sein, meint ihr nicht auch?“ erwiderte der Besucher mit einer schauderhaften Stimme. Ganz schrecklich leise sprach er, schien die Lippen kaum zu bewegen, und doch hörte man seine Stimme nur zu deutlich. Darin lag ein Klang, so sanftmütig wie kratzend, so schwächlich wie stark. Noch ehe Phillipe entscheiden konnte, ob er doch die Wache rufen und jenen hinaus werfen lassen sollte, trat die fremde Gestalt ein paar Schritte vom Fenster hinfort. Fast schien es, als würde er die Schatten des Zimmers anziehen. „Ich bin hier, um euch zu unterrichten.“ erklärte die kränkliche Gestalt. Phillipe seufzte innerlich enerviert, behielt aber seine starre Fassade bei. Also doch ein Lehrer. Da hatte sein Vater ihm ja eine schöne Vogelscheuche geschickt! „Wenn ihr es wünscht.“ setzte der Fremde verspätet nach – und nun stutzte der rothaarige Knabe. Wenn er es wünschte? Sein Vater hatte ihm noch nie die Wahl gelassen, ob und was er lernen wollte. „Worin gedenkt ihr mich zu unterrichten?“ verlangte Phillipe zu wissen und taxierte den Fremden mit genauen Blicken. Doch der lumpige schwarze Mantel ließ kaum etwas von der Gestalt erahnen. Seine Finte indes schien durchschaut, als der Lehrer zu lächeln begann. „Ich kann euch die Politik lehren, ich kann euch zeigen, wie man Freunde gewinnt, die wichtig und nützlich sind, ich kann euch zeigen, wie ein Mann zu Ansehen kommt, wie man ein Volk lenkt, wie man in der ganzen Welt zu Ruhm kommt und seinen Namen in den Geschichtsbüchern verewigt.“ Die Erklärung des Besuchers schien verlockend zu sein. Wider aller Kontrolle vermochte der Knabe nicht zu verhindern, dass seine Augen zu leuchten begannen. Da kam diese erbärmliche Gestalt daher und bot ihm an, ihn all das Wissen zu lehren, dass er in den Jahren ersehnt, nach dem er so sehr gedürstet hatte? Sein Vater hatte ihm nie Gelegenheit geboten, sich als würdiger Sohn und Nachfolger zu beweisen. War dies etwa seine Chance? Dennoch kannte Phillipe mit seinen zarten zwölf Jahren seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass dieser 'Lehrer' nicht von ihm geschickt worden war. „Wer seid ihr...?“ verlangte der Bursche in einem letzten Aufbegehren seiner Skepsis zu wissen. „Ich? Oh, ich bin gänzlich unbedeutend, glaubt mir. Ich bin viel gereist, habe die Welt gesehen, viele Völker kennen gelernt. Ich stand eurem Vater eine Weile als Berater zur Seite, bis er entschied, sich meiner Dienste entledigen zu wollen.“ Ein früherer Berater? Phillipe stutzte und blickte erneut zur Tür. Die Wachen waren nur einen Ruf entfernt. „Dann steht ihr nicht in meines Vaters Diensten?“ verlangte der Knabe zu wissen und funkelte den Fremden so bedrohlich an, wie er es nur konnte. Dieser aber setzte völlig unbeeindruckt ein geradezu schelmisches Lächeln auf die schmalen, blutleer wirkenden Lippen und verneigte seine ausgemergelte Gestalt. „Aus meiner gemeinsamen Zeit mit eurem Vater kenne ich so manchen Gang im Schloss, der nicht bewacht wird. Aus Kostengründen. Ihr könnt nun entscheiden, ob ihr die Wachen rufen und mich verraten wollt. Dann werdet ihr viele Jahre noch eures Vaters unerwünschter Sohn sein, bis er eines Tages entscheidet, euch als Bedrohung zu sehen. Oder ihr lernt von mir alles, was ihr braucht und wissen wollt, um eines Tages selbst die Krone zu tragen.“ „Und eure ach so bescheidene Position bei dieser Posse wäre dann...?“ Ein humorloses, kaltes Lachen erschütterte den Raum, als Phillipe sofort seine Einwände vorbrachte. Obwohl der Bursche fürchtete, man könne die Erheiterung dieser Vogelscheuche auf dem Gang gehört haben, reagierte keine der Wachen entsprechend. „Ich bin gänzlich bescheiden. Mehr als ein Berater verlangte es mich nie zu sein.“ Phillipe wandte sich nunmehr gänzlich von der Tür ab. Mit einigen Schritten durchmaß er den Raum bis zum Fenster. Er blickte hinaus auf den Hain von Apfelbäumen, auf die Wehrmauer und die unerreichbar fern scheinende Stadt, die er noch nie betreten durfte. Als er sich herum wandte, sein Blick die dürre Gestalt erfasste, die so kriecherisch scheinend die Schultern hängen ließ und leicht gebeugt ging, schlich sich doch noch ein Lächeln auf die jugendlichen Lippen. „Wie ist dein Name?“ wollte Phillipe wissen. Der Fremde aber verneigte sich tief und einen Moment, so glaubte der Bursche, habe er sogar eine gewisse Genugtuung in dessen Gesicht erkannt. „Nennt mich Celsor, mein Herr... stets zu euren Diensten.“ Noch am gleichen Abend hatte der Unterricht begonnen. Für Phillipe stellte dies den Wendepunkt seiner eigenen Geschichte dar. Der Kämmerer und sein Vater erfuhren nichts, bemerkten nichts. Selbst für die Mägde und Kammerdiener, für die Wachen und Höflinge schien der Fremde der reinste Geist zu sein. Der Thronerbe tat, was man ihm auftrug, ehe er jeden Abend geradezu nach Wissen gierend in seine Gemächer stürzte. Er lernte über die verschiedenen Formen eines Staates, wie effektiv diese jeweiligen waren, lernte, wie eine gute Wirtschaft funktionierte, wann ein Volk in Aufruhr geriet, welche Verträge von Vorteil waren, welche man besser ausschlug. Celsor, so schien es Phillipe, würde niemals sein Wissen zurückhalten oder sich verweigern, es mit ihm zu teilen. Hatte der junge Knabe anfangs noch Ekel verspürt, einen inneren Widerstand gegen die abstoßende Gestalt seines Lehrers, so saßen sie nach wenigen Wochen schon Seite an Seite an der Kommode und blätterten in alten Büchern, die Celsor mitbrachte. Nur die Götter allein mochten wissen, woher er sie nahm – aus seines Vaters Bibliotheken, das wusste Phillipe, stammten sie zumindest nicht. „Und wenn ein Sklavenhändler um Audienz ersucht, mit einer Garde von vier Leibwächtern, was tut ihr dann?“ verlangte die dürre Gestalt zu wissen. Phillipes nunmehr dreizehn Sommer messende Stirn legte sich in Falten. „Ich gewähre sie ihm, verdopple aber die Wachen und lasse ihn wissen, dass er keine Sklaven mitbringen darf und nach Waffen durchsucht werden wird. Wenn er mir einen Vertrag vorlegt, nehme ich mir die Zeit, ihn zu lesen und sollte er angreifen, statuiere ich ein Exemplar.“ „Sehr gut – nur, dass es 'Exempel' heißt.“ Phillipe wiederholte das schwierige Wort, rügte sich innerlich für sein Ungeschick und erfreute sich doch zugleich. Hatten sein Vater oder der Kämmerer oder die unzähligen Lehrer ihn jemals gelobt? Er hatte ja gar nicht geahnt, welch ein Ansporn ein einfaches 'sehr gut' sein konnte. Sein Blick wanderte zum Fenster. Sie standen weit offen und dennoch schien es nur noch wärmer und wärmer zu werden. Phillipe blickte Celsor an, zweifelnd, abschätzend. Dieser Fremde war ohne das Wissen seines Vaters in das Schloss eingedrungen! Wenn man ihn fand, würde man ihn aufknüpfen. Bestenfalls. So entschied er, die Maskerade fallen zu lassen – zumindest einen Teil davon. Der Hitze wegen zog der Bursche die Perücke von seinem Haupt und wischte sich nachlässig einen Gutteil des Puders aus dem Gesicht. Noch während er das Haarteil auf dem Ständer drapierte, bemerkte er den Blick seines Lehrers. Darin sah er nicht den Ekel, den seine Amme gezeigt hatte, nicht die Geringschätzung des Kämmerers oder den Zorn seines Vaters. Etwas anderes lag in diesen widerlichen Augen... „Ich verbiete euch, darüber ein Wort zu verlieren!“ ereiferte sich Phillipe in der Unsicherheit, nicht zu wissen, was er da in den fremden Augen sah. Celsors Mundwinkel aber hoben sich unmerklich. „Ihr müsst deshalb viel erduldet haben. In anderen Teilen der Welt ist das völlig normal. Zweifellos hatte eure Mutter rotes Haar, nicht wahr? Schade, dass es hier als schlechtes Zeichen gilt. Dieses rückständige Volk ist so arm und kleinlich in seinem Geiste...“ flüsterte die dürre Gestalt daher. Phillipe jedoch sah sich nur an all die Hass – und Spottreden erinnert, die er hinter verschlossenen Türen gehört hatte, an die Blicke und das Zurückweichen, wenn man ihm zu nahe gekommen war. Seine Mutter hatte an all dem Schuld getragen, ihr allein verdankte er diese Strafe! Und das Volk war es, das es erst zur Strafe machte. Wie hatte Celsor gesagt? Arm und kleinlich im Geiste. Phillipe nickte andächtig, ehe er sich erhob und an das Fenster trat. Dort unten, irgendwo, da waren sie und wälzten sich im Dreck. Sie soffen sich den Verstand weg, sie hurten herum und zeugten Bastarde, die einem Ork ähnlicher waren als einem Menschen. Primitiv, wertlos... ekelhaft. Und doch, so hatten die Lektionen ihm bewiesen, unabdingbar. Ein König war nur König, wenn er jemanden hatte, den er beherrschen konnte. Der Besitzer eines leeren Flecken Land war noch lange kein König, sonst hätte jeder tumbe Bauer Anspruch auf diesen Titel. Celsor hatte das Volk einst verglichen mit einer Herde Schafe. So nützlich sie auch waren, als Nahrung, ihre Wolle, Milch, so maßlos dumm waren sie auch und bedurften der Führung durch eine starke, disziplinierte Hand. Nur Kontrolle konnte ihrer Idiotie Einhalt gebieten. Der junge Knabe bemerkte nicht einmal, dass sein Drang, die Stadt zu erkunden, sich völlig verflüchtigt hatte. La Coeur war ihm egal geworden. Wozu sollte er sich ansehen, was dort war, wenn er es hören und riechen konnte, wenn er hören und riechen musste, dass jedes Wort von Celsors Lippen über das Leben jenseits der Wehrmauern völlig richtig sein musste? Seine Majestät der König gab einen Ball für die Aristokratie Lumiéls. Phillipe sah diese Anlässe nicht länger als fade Veranstaltungen höfischer Langeweile, sondern dank Celsors Lehren als Gelegenheit. Wie hatte ein Berater es ihm beigebracht? „Ein Ball bedeutet, dass die einflussreichsten Familien und die wertvollsten Verbündeten an einem Abend an einem Ort zusammen kommen. Lerne über sie so viel du kannst, präsentiere dich gut und mache dir Freunde. Du wirst kaum eine bessere Gelegenheit bekommen.“ Getreu dieser Lektion erschien Phillipe in seiner feinsten Tracht, bemüht, seinem Vater den Rang abzulaufen. Er lauschte den Gesprächen von Generälen und Offizieren, begrüßte in aller Höflichkeit die feinen Damen und hörte sich die Beschwerden und Ratschläge der Kaufleute an. Nun, auf ganz andere Weise motiviert, empfand Phillipe ein tatsächliches Interesse an all diesen Dingen, die ihn zuvor stets gelangweilt hatten. Ein gutes, starkes Heer, so hatte eine Lektion gelautet, war die sichernde Rückhand jeder guten Regentschaft. So war es unabdingbar, den Generälen zu lauschen, Fragen zu stellen. Wie sich zeigte, waren diese tatsächlich von Phillipes Neugier angetan – offenbar ignorierte der König schon zu oft und zu lange ihre Anliegen. Aus einer Laune heraus sicherte der Knabe ihnen zu, dass es Veränderungen geben werde, wenn er erst einmal die Krone trage. Ein einfacher Satz – der Stille nach sich zog und im Kreis der umstehenden ein anerkennendes Nicken provozierte. Fast den ganzen Abend lang unterhielt sich Phillipe mit der versammelten Gästeschaft seines Vaters. Es war unvermeidlich, dass ein Teil des Ansehens, das der Dreizehnjährige sich verdiente, auch seinem Vater zugeschrieben wurde. Doch darüber schwieg sich der Junge beharrlich aus. Stattdessen demonstrierte er mit dem von Celsor erlernten Wissen in mancher Debatte, dass er trotz seiner Jugend bereits wusste, wovon gesprochen wurde – und damit, dass er mehr wusste, als die Gäste und selbst sein Vater ihm zugetraut hätten. Es war der Kämmerer, der sich unauffällig in des Jungen Gegenwart aufgehalten hatte und schließlich seiner Majestät dem König und Phillipes Vater Bericht erstattete. Doch es wäre unschicklich gewesen, die Feier zu verlassen, also blieb nur das Vorhaben, den Schein zu wahren und seinen Burschen später zur Rede zu stellen. So mussten sie mit ansehen, wie Phillipe die Bekanntschaft der Lady Emilia Caluhn von Bres machte, einer Matrone aus hohem Hause, deren Adelsgeschlecht in Sundergrad beheimatet war und durch den Handel mit den dortigen Piraten reich wurde. Während Phillipe der festen Überzeugung war, die betagte Dame würde sich einem gealterten Schlachtross gleich durch die Menge bohren, erregte rasch darauf schon ihre Tochter Anna das Interesse des jungen Thronerben. Eine Weile versuchte Phillipe sich von dem Gespräch mit Emilia loszureißen oder Selbiges zumindest eher in die Richtung ihrer Tochter zu lenken, doch als ihm dies partout nicht gelang, entschuldigte sich Phillipe schlicht und zog verstimmt in einen ruhigeren Teil des Ballsaals davon. Sehr zu seiner Überraschung wurde er dort wiederum bereits erwartet. Eine Gestalt mit schwarzer Kutte saß an einem der Tische, von der gesamten Menge unbeachtet. Selbst als der Thronerbe sich zu ihm gesellte, schien sich niemand weiter dafür zu interessieren. „Habt ihr Gefallen an diesem Weib gefunden?“ erkundigte sich Celsor leise. Phillipe aber antwortete allein schon darin, kein Wort zu sagen, sondern Anna Caluhn von Bres nach zu starren. Ihre nachtschwarzen Haare wirbelten bei jeder Drehung des Tanzes und der ungewöhnlich dunkle Teint betonte die Exotik ihres Wesens. „Geht zu ihr und beginnt die nächste Lektion.“ forderte Celsor seinen Schüler auf. Phillipe nickte andächtig, ehe er sich tatsächlich erhob und seinen Weg durch die Menge suchte. Er versuchte zunächst, mit der Adelstochter ein Gespräch zu führen. Über die Politik, die Wirtschaft, den Staat, ihre Wünsche, mögliche Verträge – doch rasch zeigte sich, dass ein vierzehnjähriges Weib aus einer Sundergrader Familie, die mit Piraten verkehrte, nicht annähernd das gleiche im Kopf hatte wie er. Sie beschwerte sich über die viel zu langsame Musik, über den aufdringlichen Parfümgestank – weshalb Phillipe peinlich berührt einen Schritt von ihr abrückte – und über den Ball an sich. Es schien, als sei kein vernünftiges Thema mit ihr zu finden, bis Anna schließlich durchaus ein zumindest für sie interessantes Gespräch auftat: Phillipe selbst. Zunächst zog sie es lediglich vor, ihn damit zu behelligen, dass sein Aufzug schon längst aus der Mode gekommen sei und sie das wissen müsse, würde man in Sundergrad doch nur das Neuste tragen. Darüber hinaus merkte sie an, dass ein Mann in seinem Alter bereits einen guten Kopf größer als sie hätte sein müssen und warf in dem Dreizehnjährigen damit erstmals die Überlegung auf, warum er noch so 'klein' war. „Ach, nimm das doch ab, das ist ja lächerlich!“ erklärt sie schließlich herum gestikulierend und riss, noch bevor Phillipe einschreiten konnte, ihm die Perücke vom Schopf. Abgesehen davon, dass sie ein paar Haare erwischt hatte und der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb, wich Anna sofort von ihm zurück, als das Licht zahlloser Kerzen und Öllampen auf den rotblonden Schopf fiel. „Ih, wie hässlich!“ entfuhr es dem Mädchen, ehe sie den Kopf schief legte, „Da würde ich auch weinen müssen.“ schob sie andächtig gegen ihre Lippe tippend nach. Phillipe aber, das Gefühl der Bloßstellung nicht ertragend, stürzte aus dem Ballsaal. Durch unzählige Gänge und Korridore eilte er, ehe er sich in seinen Gemächern einschloss. Das Gesicht in der Decke vergraben, ließ er die Maskerade fallen. Er hörte keine Tür, keine Schritte, keinen Laut. Erst, als das Bett sich von neuem Gewicht belastet verschob, spürte der Bursche die Gegenwart eines anderen. „So. Und nun lass uns über Weiber reden, und warum du keine Mutter hattest...“ flüsterte die Stimme seines Lehrers ruhig wie eh und je daher. Phillipe wollte nicht lernen, nicht jetzt, nicht heute, am liebsten nie mehr, und doch hatte der Kämmerer ihm über die Jahre genug Pflichtbewusstsein eingedroschen, damit er sich artig aufsetzte, die Tränen von seinen Wangen wischte und neben Celsor Platz nahm. „Was denkst du, warum dein Vater kein Weib neben sich duldete? Oder warum er ohne Mutter aufwuchs? Was denkst du, warum die lange lange Linie der Könige stets vermied, eine Königin zu dulden? Eine jede starke Frau, das merke dir gut, ist eine Gefahr für den Regenten. Eine Königin begleitet ihren Gemahl zu Verhandlungen und Bällen wie diesem dort unten, sie lernt Generäle kennen und Kaufleute, sie kann ein todbringendes Netz aus Intrigen und Lügen zwischen ihren Freunden, Verbündeten, Feinden, ihrem Gemahl und sogar jenen drehen, denen sie ihren Körper als guten Lohn darbietet oder auch nur feiste Versprechungen von späterem Aufstieg. Nun magst du denken, dass man die Königin ja daheim lassen könne, doch ihr steht es ebenso zu, sich frei zu bewegen, zu gehen und zu sprechen, wohin und mit wem sie will – und niemand bekommt leichter die Gelegenheit, euer Leben zu beenden, als das Weib in eurem Bett. Was denkt ihr, warum Huren stets Frauenzimmer sind? Längst haben sie alle Ehre und Tugend verloren und nutzen in ihrer Hinterlist alles, was sie in die Finger bekommen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Denkt ihr, eure kleine Freundin dort unten hat aus einer Laune gehandelt? Woher wollt ihr wissen, dass ihre Mutter ihr nicht auftrug, euch zu denunzieren, damit ihr vor allen Gästen blamiert seid? Woher wollt ihr wissen, ob sie sich nicht einfach mit eurer Blamage den langweiligen Abend zu erheitern versuchte? Woher wollt ihr wissen... ob nicht vielleicht euer Vater selbst dies hat einfädeln lassen?“ Wie Hammerschläge schmetterte sich jeder Satz, jedes Wort, jede düstere Erkenntnis in den Geist des Thronerben. Er war hintergangen worden, belogen, betrogen, verkauft worden, weil er sich einen Moment der Schwäche geleistet hatte, weil er einen Augenblick nur nicht mehr der Thronerbe und künftige Regent hatte sein wollen, sondern ein Bursche, der ein Mädchen hübsch fand. Noch lange redete Celsor auf den flauer werdenden Verstand seines Schülers ein, bis selbst aus der Ballhalle alle Geräusche erstarben. Phillipe begab sich tief in der Nacht zu Bett, beseelt von dem Wunsch, Anna Caluhn von Bres Übles widerfahren zu lassen. „Was wünschst du ihr?“ erkundigte sich Celsor, im Begriff, die Tür zu öffnen und zu gehen. „Sie soll leiden!“ zischte der Rothaarige in der stillen Dunkelheit seines Zimmers. „Und wie sehr?“ „So wie ich gelitten habe!“ Phillipe bemerkte trotz der eingebrochenen Nacht, wie die Tür geschlossen wurde und Celsor sich erneut an ein Bett begab. Die kränkliche Gestalt ließ sich auf den Rand sinken und strich seinem Schüler in einer fast väterlichen Geste über das wirre, kurze Haar. „Nein. Bedenke: Wenn ihr sie nur so sehr leiden lässt, wie sie euch hat leiden lassen, dann seid ihr gleichauf. Sie kann hoffen, das nächste Mal davon zu kommen, sie kann hoffen, euch beim nächsten Mal schwer genug zu treffen, dass ihr zu solchen Wünschen nicht mehr fähig seid. Wenn ihr ihr etwas wünschst, dann müsst ihr selbst dann als Herrscher handeln, umsichtig denken! Straft sie normal und ihr erschaffst ein Gesetz. Aber straft sie hundertfach, und ihr statuierst ein Exempel an ihr und ihresgleichen, dass niemand mehr wagen würde, ihren Fehler zu wiederholen. Also frage ich euch erneut: Wie sehr soll sie leiden?“ Stille kehrte in das Zimmer ein. Phillipe überdachte Celsors Worte und befand sie für treffend und richtig. Es machte alles Sinn. „Hundertfach.“ presste der Thronfolger schließlich zwischen seinen Zähnen hervor. Celsor erhob sich von Phillipes Bett, wünschte ihm abermals eine angenehme Nachtruhe und entschwand. Der Knabe sah mühsam auf, blickte sich im Zimmer um – hatte er überhaupt die Tür auf und zu gehen hören? Eine Zofe war es, beauftragt, den Ballsaal zu säubern, die ein merkwürdiges Poltern und Gekicher hörte. Aus Angst vor einem Einbrecher oder gar Attentäter rief sie die Schlosswache zur Hilfe. Sieben schwer gewappnete Soldaten, die in ihrer Langeweile gefangen nur auf eine Gelegenheit warteten, stürmten herbei und traten die verriegelten Türen zu einer Vorratskammer ein. Anna Caluhn von Bres floh panisch aus dem Raum, stürzte die Flure entlang. Was würde ihre Mutter wohl sagen? Was würde der König denken? Das Ansehen ihrer Familie stand auf dem Spiel und dort standen drei Kammerdiener ohne ihre Beinkleider. Während man am nächsten Morgen drei Galgen in Nutzung gab, fehlte von dem jungen Mädchen jede Spur. Niemand konnte wissen, dass sie in der Stadt den falschen Männern in die Arme gerannt war. Erst Tage später traf Kunde ein, dass man sie am Hafen von Varakas gesehen habe, wie sie geschunden und einer Ware gleich verschnürt auf ein auslaufendes Sklavenhändlerschiff verladen wurde. Obwohl es niemand sagte, erinnerte sich die Gästeschaft des Balles noch gut an den Moment, als der gedemütigte Thronerbe überstürzt die Festivität verließ. Wozu hätten sie es auch aussprechen müssen? Phillipe sah die Veränderung jeden neuen Tag, wenn er durch die Korridore flanierte oder der Küche der Burg einen Besuch abstattete. Das Bild hatte sich stark verändert. Der Ekel und die Vorbehalte waren völlig verschwunden. Man redete noch immer nicht mit ihm, man mied ihn noch immer – aber diesmal nicht, weil er rotblondes Haar oder Sommersprossen hatte, dieses Mal scheuten alle aus purer Angst heraus, denn niemand war zu begreifen fähig, wie diese Ereignisse zusammen hingen. So, dachte sich Phillipe im Stillen, fühlte sich also Macht an... Erst zwei kurze Wochen lag der vierzehnte Geburtstag des Thronerben zurück. In den vergangenen nunmehr zwei Jahren hatte sich viel geändert und doch gab es augenscheinlich nur wenig, das nicht gleich geblieben war. Noch immer zog seine Majestät der König es vor, seinem Sohn nur durch den Kämmerer als Mittelsmann zumeist gleichermaßen ermüdende wie belanglose Arbeiten zukommen zu lassen, während sich im Anschluss an diese langwierigen Teile des Tages dann der weitaus interessantere Unterricht Celsors anschloss. In zwei Jahren, die die kränkliche Gestalt hier herum schlich, war er nie bemerkt worden und Phillipes allmählich aus kindlicher Naivität erwachender Verstand glaubte zu verstehen, wie das möglich war. Celsor hatte gelogen. Ganz simpel. Er nahm es ihm nicht übel, warum auch sollte er? Die Lüge, so hatte er gelernt, war eines der wichtigsten Werkzeuge jedes guten Herrschers und Diplomaten und warum sollte er sich beschweren, war diese Lüge doch keineswegs zu seinem Schaden? Zweifellos, so vermutete der rothaarige Bursche, gab es keine geheimen und aus Kostengründen unbewachten Gänge. Viel zu paranoid war sein Vater, als dass er dergleichen zulassen würde. Nein, Celsor musste ein Magier sein! Das würde auch erklären, warum er seinem Vater einst beratend beigestanden habe, denn inzwischen verstand der junge Mann sich darauf, Gespräche zu belauschen und obendrein auch zu verstehen. Seine Majestät hatte Angst, hauptsächlich vor der eigenen Endlichkeit, so wie es laut Celsor ein jedes sterbliche Lebewesen hatte, aber er fürchtete ebenso Gifte und Attentäter und alle, die seinem Leben vorzeitig ein Ende setzen könnten. Unlängst hatte Celsor Phillipe in die Praktiken eingeweiht, mit denen die großen Könige der Weltgeschichte ihrem Tod zu entkommen versuchten. Er hatte von Bädern in Jungfrauenblut gehört, von vergeblicher Jagd nach Einhörnern, von der Suche nach Wunsch – und Flaschengeistern. Sein Vater war weit weniger exzentrisch in seinem Streben nach Unsterblichkeit. Mit kleinen Mengen Arsen versuchte er sich gegen einen größeren Anschlag zu immunisieren, die Wachen wurden hart trainiert und waren jederzeit überall verfügbar und darüber hinaus unterhielt der König rege Korrespondenz mit allerhand zwielichtigen Magiern, die ihm helfen sollten, die Uhr seines Lebens anzuhalten, zurück zu stellen oder zumindest langsamer laufen zu lassen. „Warum hat er euch verstoßen?“ verlangte Phillipe zu erfahren. Celsor setzte sich neben seinen Schüler auf das Fensterbrett und vereinnahmte wie immer den schattigen Teil für sich. „Ich bot ihm wahre Unsterblichkeit zu einem geringen Preis, doch er misstraute mir. Ich vermag viel zu bewirken... aber er war nicht bereit, mir für meine Dienste die Rolle seines Beraters zuzugestehen. Ich glaube, er fürchtete mich, meine Erscheinung. Er wollte mich nicht den ganzen Tag um sich haben müssen.“ erklärte Celsor mit einem genüsslichen Lächeln. Es war unabstreitbar, dass er eine gewisse Genugtuung dabei empfand, vom König abgewiesen worden zu werden, nur um danach zu vernehmen, wie dessen Sohn seinen Vater nach diesen Worten leise einen Narren nannte. Ein Klopfen ließ das Gespräch ersterben. An diesem Tag hätte der Kämmerer frei haben sollen – wer wagte ihn nun zu belästigen? Zweifelnd blickte Phillipe zu Celsor. „Es ist unhöflich, nicht zu reagieren, obwohl man da ist.“ erklärte sein Lehrer lediglich. Also erhob sich der reifende Erbe und begab sich zur Tür. Ein letztes Mal wandte er sich sorgenvollen Blickes um – und fand das Zimmer leer. Ein Lächeln schlich über seine Züge, ehe er die Tür öffnete. Man holte ihn ab, zu einer Audienz bei seiner Majestät. Als Phillipe seinem Vater vorgeführt wurde, spürte er schon an dessen bohrendem Blick, dass ihm etwas missfiel. „Ihr habt nach mir schicken lassen, Vater?“ erkundigte sich Phillipe und verspürte eine merkwürdige Genugtuung, als er den Widerstand in des Königs Augen las, als dieser die Bezeichnung 'Vater' vernahm. „Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen. Ich hätte sie zu ignorieren gewusst, wäre es nur eines gewesen, doch sie häufen sich. Du sollst des Abends häufiger Selbstgespräche führen. Auf dem Ball sah ich dich mit den Kaufleuten reden und die Generäle trugen mir Lob über dein Verhalten zu. Die Zofen sprachen davon, dass du dich herrischer aufführst.“ Stille. Phillipe wusste, dass sein Vater erzürnt war und eine Antwort verlangte, doch der Erbe ließ ihn bewusst warten, hielt ihn hin und ließ ihn in seiner Wut gären, ehe er sich zu einer Antwort herab ließ. „Nun, Vater, wie ihr sagtet: Gerüchte und allerlei Hörensagen.“ Die Hände seines Vaters spannten sich noch ein Stück mehr, als sie es ohnehin schon taten. „Nach dem Missgeschick mit der Tochter der Caluhms beim Ball vergangenes Jahr ist ein Tumult entstanden, den ich noch immer nicht gänzlich zu legen vermochte. Angesichts des Lobes, das alle für dich übrig zu haben scheinen, erscheint es mir eine gute Idee, dich auf eine Seereise ins Ausland zu schicken. Du wirst einen Vertrag in meinem Namen unterzeichnen und zu mir bringen. Dabei wirst du beweisen können, dass du so viel Lobes auch wert bist.“ Phillipe spürte die Verachtung, die ihm aus der Stimme seines eigenen Vaters entgegen schwang. Nichts, was er nicht schon gewohnt gewesen wäre, hatte er eben dies doch all die Jahre nur als Widerstand oder Geringschätzung verkannt. Der heranreifende Mann verneigte sich vor dem Thron – dem Thron und nicht dessen Inhaber – und trat mit einem gleichgültigen „Wie ihr wünscht, Vater“ davon. Erst in den Räumen seines Gemaches ließ er die inzwischen zur Makellosigkeit herangereifte Maske fallen und ballte im eigenen Jähzorn die Fäuste. „Wie kann er es wagen...!“ fauchte Phillipe leise. Selbst als sich ihm die dürren, zerbrechlich wirkenden Finger seines Lehrers aus dem Nichts kommend auf die Schulter legten, beruhigte er sich nicht. „Ich will nicht verreisen!“ blaffte der Rotschopf und fixierte seinen Lehrer, als würde dieser seinen Befehl blindlings verstehen und sofort los ziehen, ihm die Welt zurecht zu biegen. Sein Lehrer jedoch schüttelte abwehrend den Kopf und trat dann an Phillipe vorbei. „Er wird eure Reise planen müssen,“ begann Celsor scheinbar laut denkend in den Raum zu sprechen, während er das Zimmer gemächlichen Ganges durchschritt, „und ich bin durchaus in der Lage, ihm diese Planung zu erschweren. Ein paar Wochen werde ich herausschinden können – nicht mehr. Aber diese Reise ist nicht euer Problem. Ihr werdet, so es nach seinem Wunsch verläuft, nicht lebend zurückkehren. Zudem giert die Amme schon lange danach, einen Bastard aus seinem Schoße in die Welt zu setzen. Allein in den letzten zwei Jahren wäre es ihnen zwei Mal fast gelungen, hätte ich nicht einen kleinen Zusatz in ihr Wasser gegeben, dass dem Kind das Leben nahm. Wenn er einen Erben bekommt, ob Bastard oder nicht, was glaubt ihr wohl, wie rasch ihr 'verschwinden' würdet? Erinnert euch der Lektionen, die ich euch zur Blutfolge erteilte, statt mich so entgeistert anzustarren. Für falsche Skrupel und Höflichkeiten ist kein Platz mehr, euer Vater hat begonnen, euch als Gefahr zu sehen. Ihr müsst handeln... und ich habe hier, was ihr dazu braucht.“ Celsor übergab seinem Schüler ein Pergament. Schon als Phillipe den rauen Stoff berührte, schauderte er unter der unnatürlichen Kälte, die das Papier abzugeben schien. Als er trotz allen Unbehagens die Rolle entfaltete, fand er darauf in einem verzerrten Schwarz geschrieben das Rezept eines Giftes, wie er allein anhand der ersten zwei Zutaten erkannte. Nachdem er alles sorgfältig gelesen hatte, die Ingredienzien, die Mengenangaben, die Zubereitung, war er sich sogar sicher, dass es ein überaus wirksames und rasches Gift sein musste. Immerhin sprach der letzte Absatz davon, dass das Rezept eine Phiole ergebe, aber nur ein Tropfen in den Brunnen reiche, um eine ganze Festung auszulöschen. „Zuvor müsst ihr natürlich eine kleine Reise tätigen. Der Kämmerer wird einem unschönen Unfall erliegen, er hat das Viergespann nicht kommen sehen, aber während der König mit der Suche nach gutem Ersatz beschäftigt ist – und bei seinem Verfolgungswahn wird ihn das viel Zeit und Konzentration kosten – werde ihr das Land durchreisen müssen. Eure wichtigsten Ziele sind Samara und Sundergrad. Dort leben viele Adels – und Offiziersfamilien, manche kennt ihr noch vom Ball. Versprecht ihnen alles, was immer sie wollen – denkt an meine Lektionen! -, aber gewinnt ihr Vertrauen. Wenn ihr euren Vater stürzten wollt, braucht ihr Hilfe.“ „Ich will ihn aber nicht stürzen!“ verweigerte sich Phillipe entschieden. Es war eine Sache, viel zu lernen und einem dummen Weib die Qualen des Sklavinnendaseins zu bringen, aber etwas völlig anderes, den eigenen Vater zu töten – ganz gleich wie sehr dieser den eigenen Sohn verachtete. „Ihr habt nicht die Wahl. Ihr wollt leben, das weiß ich, sehe es euch an – und solange ihr das wollt, steht nunmehr nur die Wahl zwischen euch oder ihm.“ erwiderte Celsor entschlossen. Er schlug das zurückgewiesene Pergament aus, ließ es unbeachtet zu Boden sinken und schritt durch die Tür nach draußen. Phillipe wusste auch ohne sich umzudrehen, dass die Wachen ihn nie zu Gesicht bekommen hatten. Verlassen stand er dort, blickte zweifelnd auf das Pergament am Boden. Versuchte sein Vater tatsächlich, ihn unter dubiosen Umständen los zu werden? Andererseits, nach allem, wie er ihm begegnet war, stellte sich da nicht eher die Frage, warum dieser weichliche Narr erst jetzt so handelte und dergleichen Prävention nicht schon viel früher in Betracht gezogen hatte? Phillipe hob langsam die eisig kalte Papierseite vom Boden auf. Die Amme versuchte also, ein Kind von seinem Vater zu erpressen? Seit wann ließ sich seine Majestät – ein König! - auf das Geschmeiß von Huren aus dem Pöbel ein? War er so verzweifelt oder seines eigenen Sohnes so überdrüssig? Vielleicht waren die hinterhältigen Verführungskünste der Vettel auch einfach nur so effektiv... es spielte keine Rolle. „Jetzt nicht mehr.“ setzte Phillipe flüsternd nach, während seine Augen erneut über die Zeilen des Pergaments huschten. Fast vier Wochen dauerte die Reise Phillipes durch das Land. Mit einer Kutsche, aus der er sich nur traute, wenn sie das Grundstück eines weiteren Generals, Offiziers oder Grafen betreten hatten, preschte er von Stadt zu Stadt und gab in unzähligen Siedlungen zudem zahlreiche Schreiben mit dem königlichen Siegel auf, die von Eilboten an alle anderen relevanten Ansprechpartner versandt wurden. Einem jeden Brief, gerissen formuliert, lag zudem die Bitte bei, alle Antworten nach Sundergrad zu schicken – seiner letzten Station vor der straffen Heimreise. Es gelang Phillipe, viele ranghohe Generäle für sich zu gewinnen. Viele der Kaufleute hingegen brachten zum Ausdruck, ihn aus Vermeidung des Risikos nicht zu unterstützen, einem eventuellen Herrschaftswechsel jedoch gewiss auch nicht im Wege stehen zu wollen. Feiglinge allesamt, wie Philippe befand. Als er wieder in La Coeur eintraf, berief ihn sein Vater noch am selben Abend zu sich. „Ich habe dir die Reise nicht erlaubt.“ herrschte der König ihn an. „Ich weiß, Vater.“ Stille. Die Feindseligkeiten zwischen beiden waren nunmehr eher offener als verdeckter Natur, boshaft stierte seine Majestät seinen Sprössling an, während dieser völliger Ruhe um Erlaubnis bat, sich entfernen zu dürfen. „Ja, geh!“ herrschte sein Vater ihn mit einer Geste davon scheuchend, „Ach und... Phillipe?... Du brichst morgen auf. In fünf Tagen geht dein Schiff von Varakas aus.“ „Wie du wünschst, Vater.“ Als der einst schuldlose Bube aufbrach, die Thronhalle zu verlassen, ließ er seinen Vater in einem Zustand, gefangen zwischen Verzweiflung und Zorn, zurück. Er wusste darum, wusste, welche Qual er seinem Vater bereitete, nun, da er zu erkennen begann, dass die Schritte, die er selbst eingeleitet hatte, seinen Sohn nicht nur ebenso zum handeln zwangen, sondern, dass dieser wider seiner Einschätzung auch durchaus dazu bereit war. Doch offenen Konflikt wollte sich der König trotz allem nicht leisten – es wäre eine zu schmachvolle Blöße vor dem Volk und seinen Verbündeten gewesen, hätte er seinen Sohn per offiziellem Dekret inhaftieren und ein Urteil an ihm vollstrecken lassen. Ein wissendes Lächeln hob Phillipes Mundwinkel, als er den Blick seines Vaters auf sich haften spürte. Ein nie erlebtes Hochgefühl beschlich ihn – sein Plan würde aufgehen. Er hatte zahllose Händler, Aristokraten und Offiziere auf seiner Seite, er hatte seinen scheinbar schier allwissenden Celsor als Berater und Lehrer, er hatte von eben jenem alles Nötige gelernt, um selbst die Krone zu tragen und heute, da sein Vater an ihm scheitern würde, war der Tag gekommen, der Tag, an dem all die Jahre der Verachtung und Ablehnung, der Geringschätzung und des Verweigerns abgerechnet werden würden. „Alles ist bereit.“ eröffnete Phillipe, als er seine Gemächer betrat. Wo Celsor sich befand, wusste er nicht, glaubte aber schon zu ahnen, dass dieser ihn hörte, weil er, wenngleich auch nicht sichtbar, doch irgendwie irgendwo anwesend war. Tatsächlich erschien der Lehrmeister wenig später und lächelte mild. „Ich habe die Zutaten dabei.“ ließ der vermeindliche Magier seinen Musterschüler wissen, der daraufhin jedoch mit breitem Grinsen den Kopf schüttelte. „Nein, nicht nötig. Ausnahmsweise haben mir die Lektionen des fetten Kämmerers etwas gebracht. Ich habe mich bei den Mägden in der Küche eingeschlichen. Sie werden heute Abend einen exzellenten Wein feil bieten, der wahrlich seines Gaumens würdig ist.“ offenbarte der Knabe. Tatsächlich las er das erste Mal in den zwei Jahren, die sie einander kannten, ein maßloses Erstaunen aus dem fahlen Gesicht seines Beraters – und verspürte einen grenzenlosen Stolz darüber, als dieser anerkennend nickte. Trotzdem, als sei es eine Art Übung für Phillipes Fingerfertigkeiten, nutzten sie Celsors mitgebrachte Vorräte und mischten das Gift erneut. Der Erbe erinnerte sich noch gut daran, wie das eisig kalte Pergament die Wirkung des Giftes in umschweifigen, ausufernden Tiraden beschrieben hatte. Krämpfe waren nur der Anfang. Ein stechender Schmerz an vielerlei Stellen des Leibes, Atemnot und Kraftlosigkeit, ehe man Blut erbrach – in rauen Mengen. Zudem strömte es auch aus Augen, Ohren, Nase, praktisch jeder Öffnung des Körpers zu seiner Umwelt. Ein ekelhaftes Gift mit widerwärtiger Wirkung – und es erschien ihm nur angemessen, dass es heute serviert werden würde, war ihm beim Lauschen und Schleichen in der Küche doch zu Ohren gekommen, dass die Amme sich heute Nacht mit einer Tinktur, die die Fruchtbarkeit steigern solle und ein halbes Vermögen verschlungen habe, zu den Gemächern seiner Majestät schleichen wolle. Sollte dieses Hurenpack nur gemeinsam krepieren! Gemeinsam mischten sie das Gift ein weiteres Mal an um Phillipes einzige Waffe zur Selbstverteidigung, mit der er nur dank Celsors Lehre umzugehen gelernt hatte, damit zu beschichten: Einen kleinen, unscheinbaren Dolch, der scharf und spitz in jedem noch so straffen Gewand einen unauffälligen Platz finden würde. Es waren Schreie, die Phillipe zu tiefer Nachtstunde aus dem Schlaf rissen. Er schreckte im Bett auf, die Stirn feucht von den Alpträumen vergangener Jahre, von Träumen über herab gerissene Perücken, spöttische Blicke und den schmerzenden Klang von Verachtung aus einer Stimme, die mit Stolz hätte belegt sein sollen. Rasch entwand er sich dem Wust aus Decken und trat an die Tür, da die Schreie nicht abreißen wollten. Er griff nach der Klinke... und hielt inne. Wer schrie, wusste er nicht. Wohl eine Magd oder Zofe. Das 'Warum' hingegen konnte er sich gut vorstellen. Sein Blick wanderte zur Kommode. Ja – es war Zeit. Er zündete die kleine Öllampe an, drapierte sie vor dem Spiegel und setzte sich. In aller Eile und ohne es dabei jedoch an Sorgfalt mangeln zu lassen, legte er Puder auf sein Gesicht, bis die hässlichen Flecken verschwunden waren, zog die Perücke über das unliebsame Haar, bis dessen Sturheit zur Gänze verschwunden war. Er kleidete sich in seine edelste Tracht und trat, eine gute halbe Stunde später, erneut zur Tür. Als er die Gänge entlang schritt, folgten ihm zweifelnde Blicke der Wachen. Phillipe merkte sich ein jedes ihrer Gesichter – ab morgen würden sie die Schweine schrubben dürfen. Vorsichtig und mit der Eleganz eines jungen Knaben schob er sich durch die Menge der entsetzten Gesichter und trat in die offene Flügeltür. Die Laken des königlichen Schlafgemaches waren rot, die Decke, die Kissen, alles schwamm im royalen Blut. Der König war in den Qualen der Krämpfe erstarrt, die Hand zur Tür gereckt, das Gesicht noch vom stummen, gequälten Schrei verzerrt. Die Amme aber, die ihn geboren, aufgezogen und in seines Vaters Auftrag ernährt und erzogen hatte, ruhte auf seinem Schoß. Das Haar klebte von Blut, das es offenbar sogar durch die Poren ihrer Haut getrieben hatte. Unter einem überraschten Ausruf wich die Menge abermals auseinander, als sich eine zweite Gestalt herbei schob. Niemand hatte je dieses kränkliche Geschöpf im Schloss gesehen, niemand wusste, wie er hierher gelangt war, doch die bleiche Gestalt, die alle umstehenden zu ekeln schien, gesellte sich neben den Knaben und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ist es vorbei?“ verlangte Phillipe ungerührt von den umstehenden Mithörern zu wissen, wenn ab dieser Stunde waren sie alle sein Eigen und würden selbst dann nur widersprechen dürfen, wenn er es ihnen gestattete – und darauf würden sie fortan lange warten können! „Nein. Jetzt hat eure Herrschaft begonnen.“ antwortete des neuen Königs Berater und ergötzte sich am Blutbad gleichermaßen wie am eifrigen, zufriedenen Funkeln in den Augen seines Schülers. Kapitel 10: Verführung leicht gemacht ------------------------------------- Es beginnt harmlos. Das tut es schließlich immer. Ein zaghaftes Klopfen an der Tür kündigt sie an. „Herein.“ säuselt er nicht ohne das Gefühl der Vorfreude darin mitschwingen zu lassen. Ebenso zögerlich wird die Türklinke herab gedrückt. Er folgt der Bewegung des durch Alter und Nutzung abgegriffenen, beschlagenen Messings und sieht zu, wie das Holzbrett, schnörkellos und von der einfachen Bauweise, wie man es nur im Gasthaus eines Dorfes erwarten kann, langsam aufgedrückt wird. Ein Traum tritt in sein Zimmer. Sie trägt einen wundervollen Stoff, dünner als Haut. Eben jene schimmert verführerisch unter der kaum merklichen Lage hervor. Ohnehin lässt dieses Gewand mehr zu sehen, als es verdeckt. Die Tür schließt sich wieder, doch er bleibt sitzen. Der Höflichkeiten wurde an diesem Tage wirklich schon genug gezollt. Stattdessen wandern seine Augen zu ihrer zierlichen Hand, deren Finger sich nur langsam von der Klinke lösen. Sie schreitet auf ihn zu – nicht rasch genug für seinen Geschmack. Die Ungeduld packt ihn, steigert seine Erwartungen, seine Vorfreude, seine Qual, hier sitzen zu bleiben und nur geduldig beobachten zu wollen. Schließlich kommt sie vor ihm an, bleibt am Rande des Bettes stehen, auf dessen Kante er sich gesetzt hat. Jene filigranen Finger wandern aufwärts, gleiten geräuschlos über den kaum existenten Stoff höher, über ihre Hüfte, ihren Bauch, zwischen ihren Brüsten hindurch. Die Linke und die Rechte, sie treffen sich in ihrem Nacken, lösen eine kleine Schnalle, die des ganzen Gewandes Zauber offenbart. Mit einem leisen, kaum beschreibbaren Geräusch gleitet der Stoff herab. Seine Augen folgen ihm, weiden sich an dem Anblick, wie er widerstandslos über die Konturen zieht. Sein Blick füllt sich mit einer gewissen Sehnsucht. Wie gerne würde er es dem Stoff gleich tun, über ihre Haut herab gleiten. Doch er ist guter Dinge – genau das wird er schließlich auch tun! Nur, dass er anders enden wird. Nicht am Boden liegend, unbeachtet zu ihren Füßen, während die Vergnüglichkeiten sich verlagern. Vorsichtig hebt er das eigene Gewicht von der gut gefüllten Matratze. Schon ist sie kleiner als er, blicken seine braunen Augen in ihr exotisches Grün. Die Pracht ihrer Mähne, gefangen und nach Befreiung lechzend, gebunden von dem schönen Sammelsorium an Haarbändern. Er umschließt sie mit seinen Armen, umfängt den zierlichen Körper, streift über diese Pracht, zieht Band für Band lose, lässt es das Schicksal des hauchdünnen Gewandes teilen. Sie schüttelt einen Moment ihren Kopf. Nicht als Zeichen der Verneinung und Ablehnung – sie befreit ihre Haare von der aufgezwungenen Form. Wild und ungestüm wirkt sie nun. Rot wie Feuer fließt ihre Mähne über ihre Schultern, ihren Rücken herab, reicht ihr fast bis zur Hüfte. Darin scheint die gleiche Glut zu lodern, die nun in ihren Augen steht. Das wenige Licht der kleinen Öllampe bricht sich darin, scheint darauf aus, sie funkeln zu lassen. Er hebt die Hände zu ihrem Leib, bar aller Verhüllungen, dafür aber voll der Verlockung. Seine Finger gleiten ihre Konturen ab, ohne sie auch nur eine Sekunde zu berühren. Solche Schönheit will bestaunt werden, ehe man erwägt, der Schritte mehr zu setzen. Doch sie greift vor, packt ihn an seinem Gewand. Wie oft hat er andere dafür schon abgestraft? Hat Intrigen gesponnen, die sie furchtbar viel Geld kosteten, mancher verlor vielleicht sogar sein Leben, nur weil sie gewagt hatten, die Heiligkeit dieses Gewandes mit ihren schmutzigen, dessen unwürdigen Fingern zu beflecken. Doch hier? Hier zählte etwas anderes. Sie zerknitterte es, verzerrte es und nichts hätte ihm gleichgültiger sein können. Ihre Lippen trafen die Seinen, ließen ihn eintauchen in das weite Meer ihres Verlangens, heiß brennendes Begehren in jedem Atemzug. Das Gewand abzulegen, war ihm ein Leichtes. Schon zu lange trug er es, zu viel Übung war mit den Knotungen und Riemen verbunden. Noch während auch sein Stoff fällt, deutlich schwerer, geräuschvoller, reckt sie einen Finger nur der Öllampe zu. Ein kurzes Zischen und das Licht erstirbt. Dunkelheit füllt den Raum nun aus, eine Schwärze, die dankbar alle Geheimnisse schluckt. Er umfasst ihre Schultern, fernab aller Zurückhaltung, wendet das Blatt, wendet sich und sie, drückt den zierlichen Leib mit sanfter Bestimmung herab. Sie folgt, bereitwillig, lässt sich führen. Seine Augen bräuchten Zeit, sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen – doch er gibt sie ihnen nicht. Wozu auch? Er hört, wie das Bett ihr Gewicht aufnimmt, das kaum der Rede wert ist, folgt der verführerischen Spur ihres Duftes. Weitere Küsse folgen, sie kichert verhalten und leise, als er absetzt und ihre Nase mit seinen Lippen liebkost. Ein Geräusch, das ihn in Verzückung geraten lässt. Schon zu lange ist seine letzte Eroberung her – sie wird etwas Besonderes, war es wohl schon von Anfang an. Er senkt sich tiefer, streicht mit seinen Lippen über ihren Hals, lauscht zufrieden den wohligen Geräuschen, die aus ihrer Kehle dringen. Sein Mund umschließt die jungen Knospen eines frischen Lebens, der sengende Brand in seinem Inneren wird angefacht von ihrem Aufkeuchen. Sie ist unerfahren, man spürt es in jeder Faser, jeder Bewegung, jedem Geräusch – ein Reiz mehr, der ihn verlockt. Doch Geduld und Konzentration wurden ihm auf die Jahre angelernt. Er wird nichts überstürzen. Das wäre nur zum Schaden, für sie, für ihn, abträglich ihres Vergnügens, von dem sie nicht wissen konnten, ob es dessen eine Wiederholung geben würde. Er hatte diese Unverbindlichkeit immer geschätzt, doch hier bedauerte er sie erstmals. Er würde ihr noch so viel zeigen und lehren können. Seine Lippen folgen den Bahnen, die seine Hände vorzeichnen. Ihre zarten Finger vergreifen sich in seinem Haarschopf. Er muss schmunzeln, als sie atemlos ein leises „Nicht...!“ hervor bringt. Ein Widerstand, kaum der Rede wert, schmilzt dahin, kaum dass er die Fingerspitzen sanft über ihre Scham herab wandern lässt. Sie verspannt sich einen Moment, doch nur Sekundenbruchteile später öffnet sie sich, reckt sich ihm entgegen, will mehr des Gefühls, dass er ihr verschafft. Langsam bahnt er sich seinen Weg zurück, aufwärts – geben und nehmen. Ein deutlich lauteres, ungezügelteres Stöhnen dringt in den Raum, dieses Mal aus zwei Kehlen, als- „Alandor!“ Der Bannwirker schreckte in seinem Bett auf. Desorientiert spähte er umher. Was war geschehen? Wo war Vivica hin? Warum war es schon taghell? … Und warum saß Suzuri auf seinem Bett? Oh bei Jebis, hatte sie etwa-? „Hast du schlecht geträumt?“ fragte ihn das Phönixkind bar jeder Verdächtigung oder Unterstellung. Einmal mehr war der Magier dankbar um das unschuldige, vertrauensselige Wesen der jungen Frau. Er schüttelte träge den Kopf, versuchte sich zu ordnen, sich über die Geschehnisse klar zu werden. Vivica... sie hatte sein Zimmer nie betreten, nicht wahr? Ein resignierendes Seufzen drang aus seiner Kehle. Schade. Wirklich schade. Aber was nicht ist, kann ja bekanntlich noch werden. Sein Blick fällt zum Fenster heraus. Ein altbekannter Anblick: Schneewehen, die rhythmisch im Takt des auf- und abschwellenden Windes gegen das Fenster peitschen. Sie wollen alles und jeden ersticken mit ihrer eisigen Kälte, doch die Feuer und die Wände toten Holzes halten sie davon ab. Seit sie die Schneegrenze passiert hatten, schien das Wetter ihnen nicht wohlgesonnen. Lange hatte Alandor vermutet, es handle sich vielleicht um das Hexenwerk von Beatrix, vielleicht auch um die Magien der zwei Halbelben Elena und Artasis. Vivica hatte ihm oft zu erklären versucht, dass das mehr oder minder der Normalzustand hier oben war, doch erst nach der zwanzigsten oder dreißigsten Wiederholung dessen hatte er seine Verdächtigungen schließlich aufgegeben und ihr geglaubt. Schöner wurde es davon natürlich trotzdem nicht. Sie verloren mit jedem Tag, den sie hier festsaßen, kostbare Zeit. Vom Geld für Unterkunft und Verpflegung ganz abgesehen. Fünf Silberlinge pro Tag und Nacht – der Wirt beutete offensichtlich die Notsituation seiner Gäste schamlos aus. Doch noch hatten sie genug Geld und Alandor sah sich nicht genötigt, einzuschreiten. Noch immer blickte Suzuri ihn skeptisch an. Er wehrte mit einer Handgeste ihre Neugier ab, ehe er wohlwollenden Lächelns den Kopf schüttelte. „Nein nein, alles in Ordnung.“ besänftigte er sie. Langsam schälte sich der Magier aus dem Bett hervor. Er trug der Kälte wegen noch immer genug Kleider am Leib, um sich dessen nicht schämen zu müssen. Kaum stand er im Raum, überzog das erste Frösteln ihn, fiel sein Blick auf den braunen, mit goldenen Ornamenten verzierten Lederband, der aufgeschlagen am Boden lag. Sein Buch... es musste ihm in der Nacht aus den Händen geglitten sein. Verflixt, war er wieder über seinen Studien eingeschlafen! Vorsichtig hob er es auf, strich fast liebevoll über den Buchrücken, ehe er es zuklappte und auf dem Nachttisch lagerte. Zumindest so lange, bis er sein restliches Gewand angelegt hatte und es in einer der Innentaschen verstecken konnte. Niemals würde er es allein lassen, niemals würde er jemand anderem einen Blick hinein gewähren. Nicht für Suzuri, nicht für Vivica, nicht mal für einen anderen Magier. Alandor versuchte sich einen Tagesplan zurecht zu legen. Was tun? Dieser verdammte Rotzlöffel von 'Adamant' hatte ihnen gestern gute Unterhaltung geboten. Mit Kartenspielen, die so offensichtlich getürkt waren, mit Rätseln, uralten Witzen und drittklassigen Showeinlagen. Er war dessen überdrüssig. Und sein verdammter Köter räucherte jede noch so resistente Ratte in diesem Haus mit seinem bloßen Geruch aus. Das riesige Vieh traute sich natürlich bei dem Wetter auch nicht lange raus. Zumindest hatte der Köter gelernt, dass man besser Abstand vom Talar eines Magiers hielt. Zum Glück für alle Beteiligten. Er entschied sich, zumindest erst einmal frühstücken zu gehen. „Hast du schon etwas gegessen?“ erkundigte sich Alandor und wandte sich zu Suzuri um. Das Phönixkind saß bereits wieder auf ihrem Stuhl am Fenster und sah voller Faszination den Schneeflocken beim Fallen zu, wie die Eiseskälte schöne Muster auf die Scheiben zeichnete, wie Schneewehen sich anschickten, ganze Häuser zu begraben. Einen Moment trat ein warmes Lächeln auf die Lippen des Magiers. Es musste wundervoll sein, von diesen einfachen Dingen der Natur noch so fasziniert zu werden wie es sonst nur die Kinder und Narren können. Zumindest hatte Suzuri damit nie ein Problem, sich Beschäftigung zu verschaffen. Der Magier ließ das Mädchen allein zurück und schritt die Stufen der Treppe herab. Der Schankraum war so leer wie gestern schon. Nicht weiter verwunderlich – bei diesem Treiben kamen und gingen wohl eher keine Gäste. Zu Alandors Überraschung saß Vivica allein an einem der Tische. Nun gut, Blitze war da. Aber dieses stinkende, fette Ding wertete der Magier nicht als Gesellschaft. Obwohl die Führerin durch das tödliche Weiß der Nordlande das von Zeit zu Zeit durchaus anders zu sehen schien. Guter Dinge und froh über die vermutlich kurze Zeit zu zweit, nahm Alandor mit höflicher Frage nach einem freien Platz den Stuhl ihr gegenüber ein. „Ist denn der 'Herr Adamant' noch nicht wach?“ erkundigte sich der Bannwirker. Dieser vorlaute Bengel hatte ihn von Anfang an nicht ausstehen können... was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Dreh- und Angelpunkt dieser Ablehnung war Vivica... beide wussten es, keiner sprach es aus. Nicht einmal seinen wirklichen Namen hatte dieser Lausebub ihm verraten. Aber Adamant? Für einen derartigen Rotzlöffel? Wohl kaum! Das konnte unmöglich sein richtige Name sein. Vermutlich zockte er leichtgläubige Reisende auf diese Weise ab und schmeichelte sich mit diesem wohligen Klang bei naiven Mädchen ein. Sein richtiger Name, so vermutete Alandor, dürfte weitaus trivialer und peinlicher sein. „Gut geschlafen?“ begann der Magier das Gespräch, während er dem Wirt mit einfachen Handgesten deutete, ihm ein Frühstück zu bringen – das 'Übliche'. Traurig, dass sie schon lange genug hier waren, damit der hagere Mann wusste, was damit gemeint war. Während jenseits der Theke eine gewisse Geschäftigkeit in die Küche Einzug hielt, ergriff eine gewisse Ungeduld Alandor. Der Traum war nicht verflogen und verwischt worden, wie es nach dem Aufwachen sonst immer der Fall war. Er musste sich regelrecht zwingen, ihr nicht auf allzu unschickliche Stellen abwärts ihres Schultergürtels zu starren. „Vivica, wir... kamen doch bisher recht gut miteinander aus, nicht wahr?“ erkundigte sich Alandor scheinheilig lächelnd, „Zweifellos hast du bereits erkannt, dass ich es durchaus gut mit dir meine. Ich könnte dir noch vieles lehren, wenn du mich lässt.“ setzte der Magier mit kurzen Unterbrechungen an. Wie schnell und wie weit konnte er vorzustoßen wagen, ohne ihr Misstrauen zu erwecken? Der Wirt brachte ihm einen Teller und den Krug mit Met, doch Alandor ignorierte das Essen vorläufig, das verführerisch warm vor ihm dampfte. „Nun, du brauchst keine Bedenken zu haben. Zweifellos könntest du schlechtere oder hässlichere Lehrer haben.“ setzte der Bannwirker fort und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Sie war eine Frau – zweifellos hatte sie ganz von selbst bemerkt, wie gutaussehend er war. Daran führte beim schwachen Geschlecht ohnehin nur selten ein Weg vorbei, doch umgekehrt sprach bei Weitem nicht jede holde Dame auch Alandors Sinne an. Obgleich Vivica sich mit der neu entstandenen Situation ein wenig überfordert zu geben schien, schreckte das den Magier nicht im Geringsten ab. Sie zu überrumpeln, war vielleicht auch eine Strategie? Immerhin kannte er sie inzwischen gut – oder zumindest gut genug, um zu wissen, dass ihr reines Pflichtbewusstsein sie dazu bringen würde, jede Absprache zu halten, die sie jetzt trafen. „Was hältst du also davon,...“ setzte Alandor an und stockte. Wie sollte er den Satz beenden? Wenn du heute Abend zu mir aufs Zimmer kommst? Nein. Viel zu verfänglich, viel zu offensichtlich. Wenn wir uns heute Abend in meinem Zimmer treffen? Immer noch zu offensichtlich. „... wenn ich dir heute Abend ein paar Dinge zeige? Ich verspreche dir, es tut nicht weh und wird sich für dich lohnen!“ erklärte Alandor und zielte bewusst darauf ab, es wie die seichte Andeutung eines Witzes klingen zu lassen. Er durfte ihr nur nicht vermitteln, dass es manchem Weib durchaus Schmerz bereiten konnte, aber das wiederum war oftmals von ihnen selbst abhängig, davon, wie gut sie sich lösen konnten. Tatsächlich vollbrachte der Magier das Kunststück, sie zu einer Zustimmung zu bewegen. Sichtlich zufrieden mit sich und seinem Erfolg, widmete er sich nun dem inzwischen nur noch lauwarmen Frühstück. Kalbsbraten, Kartoffeln und Gemüse in einer ziemlich öligen Soße. Nun – es ginge schlimmer. In manchen Gasthöfen außerhalb Lumiéls hatten sie Fraß serviert bekommen, den vermutlich sogar Blitze wieder ausgespuckt hätte. Und inzwischen wusste Alandor, dass dieses Ungetüm so ziemlich alles fraß. … sogar seinen Beutel mit teilweise giftigen Kräutern. Dummes Vieh! Die Magenschmerzen, die ihn danach einen ganzen Tag hatten heulen und wimmern lassen, hatte er sich wohl recht verdient. Genauso, wie der ach so große Adamant verdient hatte, den dadurch bedingten Durchfall seines Köters zu bereinigen. Dielen schrubben, stundenlang, und mit eisiger, von Schneeflocken erfüllter Luft das Zimmer auslüften. Das schadenfrohe Lächeln, das schon damals seine Lippen gezeichnet hatte, kehrte auf Alandors Miene zurück, während er in jener schönen Erinnerung schwelgend den Köter zu Vivicas Füßen musterte und zugleich auf einem Stück zarten Kalbsfleisch herum kaute. Zumindest hoffte er, dass es Kalb war. Kaum diesen Gedanken gehegt, blickte der Magier skeptisch auf das Fleisch, das vor ihm auf dem Teller lag und in der Soße schwamm. Hm. Sicher war sicher. Mit der Gabel schob er es vorsichtig an den Rand, strich die durchaus wohlschmeckende Soße davon herab und begnügte sich mit dem verbleibenden Rest. Es war nur zu Alandors Vorteil, dass er nie erfahren sollte, dass er sich mehr Sorgen um die Soße als um das Fleisch hätte machen sollen. Nachdem er sein Frühstück beendet hatte, spülte er mit einem kräftigen Schluck des süßen, vom Tonkrug heiß gehaltenen Honigweins nach. Und wenn man schon auf den Teufel schimpfte, kam er natürlich lautstark die Treppe herab gepoltert. Obwohl er das Elend eigentlich gar nicht wirklich sehen wollte, drehte er sich dennoch um und nuschelte eine eher unwillige Begrüßung, während 'Adamant' sich gänzlich ohne jede Höflichkeit oder Frage nach einem freien Platz einfach einen Stuhl von einem anderen Tisch hinzu zog, seinem Stinker einen Tritt verpasste und die Füße unter dessen bulligen, wärmenden Leib schob. Natürlich grinste er wieder über beide Ohren. Alandor kannte das – das war dieses Gossengrinsen, wie es die verwilderten Buben in Sundergrads Hinterhöfen gelernt hatten. Damit nahmen sie ahnungslose Reisende aus, indem sie die Ablenkung spielten, während ihre Freunde alles aus den offenen Taschen klaubten. Andererseits war Adamants Haut zu hell für eine Herkunft aus Sundergrad. Aber Gossenratten wie ihn gab es gewiss überall. Auch der Neuankömmling bestellte sich ein Frühstück und kaum, dass es ihm geliefert worden war, zeigte er einmal mehr jeglichen Mangel an Manieren und Respekt. Mit der Gabel und etwas zu viel Anlauf schnappte er sich das verschmähte Stück Fleisch von Alandors Teller. Obwohl der Bannwirker einen Moment die blanke Wut in sich aufsteigen spürte, konnte er sie dennoch bändigen. Diese hirnlose Aktion hatte die wenigen Soßenreste auf dem Tisch herum spritzen lassen. Sich zu zähmen, wäre gewiss nicht mehr möglich gewesen, hätte diese zwar wohlschmeckende, aber dennoch recht ölige und damit hartnäckige Pampe den Weg auf sein Gewand gefunden! Adamant hingegen war das völlig gleich. Er schnitt sich ein Stück dessen, was ihm nicht gehörte ab und stopfte es sich sichtlich zufriedenen Gesichts in den Mund, nur um wenig später die Miene in Ekel zu verziehen. „Bah, is' ja kalt!“ maulte der Gauner. Mit der Gabel packte er das frisch ergatterte und sofort verschmähte Stück, sah sich nach dem Wirt um und ließ es unter dem Tisch verschwinden. Sekunden später zog er die leere, aber Sabberfäden ziehende Gabel wieder hervor, die er sich mit völliger Selbstverständlichkeit an der Hose abstrich. Alandor wollte vor Ekel am liebsten mit dem Stuhl einen guten Satz zur Seite tun, doch er sah trotzig und stur gar nicht ein, warum er einem solchen Rüpel auch nur den kleinsten Raum gewähren sollte. Darüber hinaus zeigte dieser Bursche auch sonst weder Tischmanieren, noch sonstige Spuren guten Benehmens. Als er seine Mahlzeit eingenommen hatte, ließ er vom Wirt abräumen, nur um Sekunden später ein paar schäbige, abgegriffene und zweifellos gezinkte Karten auf den Tisch zu packen. Oh bitte! Alandor rollte mit den Augen und war sich ziemlich sicher, dass der ach so große Adamant das auch bemerkt hatte. Doch davon ließ er sich natürlich nicht stören, denn die Einzige am Tisch, die das wiederum nicht registriert hatte, war Vivica – die bereits voller Spannung auf die Karten zu warten schien. Der Bannwirker hatte fast etwas Mitleid mit diesem 'Adamant'. Ein halbgarer Knilch wie der war praktisch chancenlos gegen ihn. Zweifellos spielte Vivica seine dumme kleine Scharade auch nur mit, ihm ihm nicht allzu schmerzlich das Herz zu brechen. Während Alandor seinen Gedanken nachhing und eher teilnahmslos die den Besitzer wechselnden Karten anstarrte, kehrte auch Suzuri wieder in den Schankraum ein. Sie nahm sich einen Stuhl, setzte sich zu ihnen an den kleinen Rundtisch, an dem es doch inzwischen recht... kuschlig wurde. Obwohl zweifellos keine Absicht, fiel dem Bannwirker doch auf, dass sie sich genau zwischen Vivica und ihm drapierte. Es hätte ihm zum Verdruss gereichen können, saß dieser Adamant doch zu seiner Rechten, doch Suzuri schmiegte sich an seinen Arm und erinnerte ihn damit daran, dass es durchaus angenehme Gesellschaft gab. Er strich dem Phönixkind über das Haupt und schüttelte ungläubig den Kopf, als er bemerkte, dass auch sie auf den angeblichen Zauber dieses abgekarteten Spieles herein fiel. So blieb ihm keine Wahl, als fast geschlagene drei Stunden dort still sitzen zu bleiben und zuzusehen, wie Vivica sich ausnehmen ließ und Adamant sie hin und wieder auch mal gewinnen ließ. Man musste das Publikum ja bei Laune halten, nicht wahr? Während dieser Zeit wälzte der Magier wieder und wieder seine Zaubersprüche, rief sie sich in den Geist, in ihrer genauen Abfolge, ihrem Wortlaut, der nötigen Intonation. Vielleicht würden sie die nächsten Tage den einen oder anderen Spruch brauchen. Seine Zauber waren bisher dazu gedacht gewesen, Angreifer abzuwehren und Schläge zu blocken, doch gerade mit der starren Schildwand ließe sich auch eine Lawine aufhalten – zumindest kurzzeitig. „Es hat zu schneien aufgehört.“ konstatierte der Wirt trocken. Es war offensichtlich, dass er darüber nicht im Ansatz so erfreut war, wie er es sein sollte. Nun musste er die Preise wieder auf ein moderates Niveau herunter schrauben. Natürlich schmeckte ihm das nicht. Alandor hingegen sprang regelrecht freudig auf. Zeitvertreib! Hinaus gehen! Weg von diesem... nun, raus eben. „Es fängt heute aber wieder an.“ setzte Vivica dagegen, ohne einen Blick aus dem Fenster geworfen zu haben, ohne auch nur von ihren Karten aufzusehen, „Erst morgen hört es wirklich auf.“ beendete sie ihre Prophezeiung. Woher sie das wusste, konnte Alandor nicht bestimmen. Doch dieses Mädchen war hier, im hohen Norden, geboren worden. Weit nördlicher sogar, als sie es bisher geschafft hatten. Sie kannte das Wetter und seine Kapriolen zweifellos besser als der Wirt, der seiner dunklen Hautfarbe nach eindeutig nicht aus dieser Gegend kam. „Ich werde mich draußen einmal umschauen.“ bemerkte Alandor und erhob sich von seinem Stuhl. Fast wollte er etwas abfällig schnaufen, als die erhoffte Reaktion ausblieb. Natürlich, von Adamant bekam er genau, was er erwartet hatte – Ignoranz. Aber Vivica und Suzuri waren offenkundig zu sehr von diesem dämlichen Spiel fasziniert. Mürrischer Miene zog der Magier zur Türe hin und trat hinaus ins Freie. Fast augenblicklich umschloss kalter Schnee seine Füße und Beine bis auf die Hälfte der Strecke zum Knie. Er watete hindurch, ohne sich daran zu stören. Das Kaminfeuer im Gasthaus hatte gut vorgewärmt und etwas frische Luft schadete ihm nicht. Nun... vielleicht doch? Eine Erkältung wäre nun wirklich unschön. Langsam kramte der Bannwirker sein Buch aus der Innentasche hervor, durchblätterte die vielen Zeiten. Einige davon waren bereits beschrieben worden. Zauber, die er unterwegs aufgeschnappt hatte. Dabei war das festhalten eines Zaubers viel viel schwieriger, als man es sich vorstellte. Man konnte nicht einfach ein paar Worte notieren und hatte damit einen neuen Zauber im Repertoire. Ganz abgesehen davon, dass er gelernt werden musste, um ihn fehlerfrei sprechen zu können, brauchte es weit mehr als das. Es gab Schrift und es gab Schrift – die eine war gedacht, um zu informieren und zu unterhalten, die andere war für all jene bestimmt, die Magie wirken konnten. Schrift, die einen Zauber einzufangen versuchte, musste komplexer sein. Denn darin musste auch festgelegt werden, wie man die Formel sprechen musste. Sprachrhythmik und Melodieführung waren bei vielen Zaubern entscheidend, vor allem bei elbischen Sprüchen. Kein Wunder – in diversen Sagen und Märchen tanzten und sangen sich die Spitzohren rund um die Welt. Darüber hinaus verfügte jeder Spruch über eine Grundmotivation. Offensive Magie musste immer auf dem Gefühl aufbauen, schaden zu wollen. Defensivsprüche mussten auf der Grundlage des Verteidigens gesprochen werden. Für einen klugen Magier mit kühlem Kopf war es ein Geringes, die nötige emotionale Grundlage aus seinen Erinnerungen hervor zu kramen und darauf aufbauend den Spruch zu wirken, aber wenn man einen neuen Spruch erlernen wollte, musste man sich zunächst eingehend mit diesem beschäftigen, um herauszufinden, welche Grundlage dieser denn benötigte. Alandor fand schließlich, was er gesucht hatte. Er konzentrierte sich, flüsterte leise ein paar Worte und spürte, wie Wärme durch seine Glieder floss. Kälte zu bannen, war nicht schwer. Sie jedoch dauerhaft fern zu halten, war unmöglich. Er hatte sich damit einen guten Teil Kraft genommen, um sich zwei, höchstens drei Stunden Wärme zu erkaufen. Hier draußen war das fast wertlos, weil es den ganzen Tag eisig kalt war – deshalb hatte ihm das Erlernen dieses Zaubers auch weit weniger weitergeholfen, als er zunächst gedacht und gehofft hatte. Doch jetzt nützte es. Der Magier umrundete in dem Bestreben, sich die Beine zu vertreten, die eine oder andere Hütte, bis er schließlich überrascht feststellte, dass auch das Dorf mit dem Verebben des Schnees wieder zu neuem, begierigem Leben erwacht war: Man hatte den Marktplatz wieder geöffnet. Erstaunt wanderte er zwischen den mitten in den Schnee gesetzten Buden umher und betrachtete sich die darin feilgebotenen Waren. Leder, Felle, Mützen, Haarschmuck, Federn, Schuhwerk. Alandor kaufte bei einer der Einheimischen ein paar farbige Bänder, in der Absicht, sie zu späterem Zeitpunkt Vivica zu schenken. Vielleicht vorher, vielleicht als kleines Andenken danach. Neben den Buden, in denen Hasenfleisch und eher säuerlich schmeckende Rüben angeboten wurden, fand der Magier jedoch auch einen Laden, der weitaus exotischere Früchte feil bot. Woher auch immer er seine Waren bezog, sie waren eindeutig südländischer Natur. Der Besitzer eben dieser Waren schien sich über Alandors offenkundiges Interesse zu freuen, immerhin waren Magier dem äußeren Erscheinungsbild nach wohlhabende Leute. Und exotische Waren wie diese waren nicht billig in Beschaffung und Transport, von der Lagerung in solch eisigen Gefilden ganz zu schweigen. Der Bannwirker strich gedankenverloren über das rissige, teilweise aufgesplitterte Holz der Kisten, in denen sich die Kostbarkeiten befanden. Erdbeeren gab es hier, Äpfel, sogar eine Staude voll Bananen, deren grüne Farbe sie allerdings als unreif verrieten. Nun... er würde eine kaufen und sie diesem Köter verfüttern können. Dann hätte er gleich die nächsten, üblen Bauchschmerzen. Während Alandor einen ausgiebigen Moment mit diesem verlockenden Gedanken an den nächsten Augenblick ausufernder Schadenfreude dachte, entschied er dennoch, die Details seines Traumes zu variieren. Wenn ihm diese wundervolle Nacht schon so lebendig erhalten geblieben war, egal ob es nun tatsächlich stattgefunden hatte oder nicht, dann würde er sich auch das Recht heraus nehmen können, diese Szenerie etwas zu verändern. Also beschied er, Vivica auf ganz andere Weise zu verführen und das Programm, seinen 'Lehrplan', anders aufzubauen – gemessen an den Früchten in diesem Laden wohl deutlich exotischer. Mit einem kleinen Flechtenkorb wurde er zum Dank für seinen großzügigen Einkauf belohnt. Darin konnte er auch gleich alles transportieren – Erdbeeren, zwei Äpfel in feinstem Rot und ein paar merkwürdige kleine gelbe Dinger, die im ersten Moment sehr sauer waren, ehe sie eine durchweg süßliche, angenehm frühlingshafte Note entfalteten. Nicht einmal der Händler konnte ihm sagen, wie diese Früchte hießen oder woher sie kamen – sie waren ein Sonderangebot seines Zulieferers gewesen. Zufrieden und bester Dinge schickte sich Alandor langsam an, wieder ins Gasthaus zurückzukehren. Er hatte alles bekommen, was er wollte, war sogar so ein nachsichtiger Mensch gewesen, diese Töle nicht für die eigene Dummheit zu bestrafen und mit einer Banane zu füttern. Er war ja so ein guter Mensch. Sichtlich mit sich und der Welt, wie sie aktuell war, einverstanden, öffnete er die Tür zur Schankstube, nur um Suzuri, Vivica und Adamant in völlig unveränderter Lage am Tisch vorzufinden. Nun, auch gut, nein, umso besser sogar! So waren sie wenigstens nicht neugierig, was er in dem Korb mit sich herum schleppte. Zwar linste Adamant einen Moment in seine Richtung und war offenbar auch gewillt, nach dem Korb zu fragen, doch Vivica schien zu glauben, sie hätte ein gutes Blatt. Offenkundig ließ der Gauner sie wieder mal gewinnen und das gerade jetzt. Sie forderte ungeduldig seine Aufmerksamkeit mit dem Satz ein, dass er sich gar nicht vor der Niederlage zu drücken brauche. Alandor hingegen war fest überzeugt, dass Vivica etwas ahnte und ihm bewusst in die Hände spielte. Kluges Mädchen, er würde ihr dafür danken müssen. Vielleicht sollte er sie dafür noch ein bisschen mehr verwöhnen... oder etwas länger. Leise strebte der Magier gezielt der Treppe zu und verstand die Stufen nach oben. Sie knarrten natürlich, wie es altes Dielenholz unter der Kälte nur zu gerne tat und fast glaubte er, die Aufmerksamkeit der anderen damit ungewollt auf sich zu ziehen, doch offenkundig war dieses schnöde Kartenspiel einfach zu 'toll'. Der Korb mitsamt seines Inhaltes wurde, einmal im Zimmer angelangt, unter dem Bett positioniert. Es sollte niemand einfach so hier hinein stolpern und gleich alles offen liegend vorfinden. Man wusste schließlich nicht, was in den Stunden bis zum Abend noch alles geschehen konnte. Als das Werk vollbracht war, sah sich Alandor aufmerksam im Raum um. Er würde ihn etwas herrichten müssen, nicht wahr? Also schob er den Nachttisch auf die andere Seite des Bettes. Hievte den Tisch auf die andere Raumseite. Er schob das Bett ein Stück näher zur Tür, rückte den Nachttisch hinterdrein. Bei der ganzen Neupositionierung der Möbel geriet er tatsächlich etwas ins Schwitzen, immerhin waren die Einrichtungsgegenstände aus massivem Holz und fühlten sich an, als handle es sich dabei um Steineiche. Mit der neuen Anordnung im Raum zufrieden, begab er sich wieder hinunter in die Schenke und gesellte sich lächelnd zurück an den Tisch. Seine gute Laune, da war er fest entschlossen und überzeugt, konnte ihm nun nicht einmal mehr die lästige Gegenwart dieses Adamant zerstören. Suzuri suchte erneut die Nähe zu ihm und der Tag zog dahin. Nach Alandors Geschmack zwar deutlich zu langsam, aber er gestand sich ein, dass das nur die drängelnde Ungeduld in ihm war, die sich Platz zu schaffen versuchte. Er würde sie heute Abend wegsperren müssen, sich maßregelnd zur Ausdauer und Raison bekehren müssen. Vorschnelles Handeln war schließlich bestenfalls einer dummen Hexe würdig, aber doch nicht eines Magiers der Zirkel! Sich selbst bekräftigend, verfolgte Alandor das Kartenspiel und versuchte, Adamants Tricks aufzudecken. Er war sich sicher, dass die Spiele gefälscht waren, allesamt, nur wie? Der Mechanismus hinter diesen Betrügereien hatte ihn schon damals interessiert, als einer seiner Kollegen ein nicht unerhebliches Vermögen in einer Taverne in Sundergrad verzockte. Der Magier war sich gar nicht bewusst gewesen, dass er immer mehr und mehr Geld verlor, so geschickt stellte es der Betrüger an. So ungern Alandor es auch zugab, auch an Adamants Geschick ließ sich nur schwerlich zweifeln – er kam einfach nicht dahinter, wie es funktionierte. Das schürte seinen Unwillen gegenüber diesem vorlauten Bengel nur noch mehr, doch wusste der Magier sich zu beherrschen. Die Stunden zogen dahin, es gab Mittag, es gab eine Getränkerunde zum Nachmittag. „Du könntest heut' Abend mal zu mir kommen, dann zeige ich dir ein paar Tricks, wie du dein Spiel verbesserst!“ bot Adamant Vivica plötzlich an. Alandor glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Dieses miese, kleine, rotzfreche Stück von einer Gossenratte! Äußerlich die Ruhe selbst, hob der Bannwirker nicht ohne ein gewisses, süffisantes Lächeln zu einer Antwort an, ehe Vivica etwas sagen konnte. „Vielleicht später... irgendwann mal. Ich sicherte ihr bereits zu, ihr etwas zu zeigen.“ konstatierte der Magier in aller Ruhe. Oh wie er es liebte, diesen Moment, wenn der Gegner zu begreifen begann! Unter Magiern waren Intrigen längst keine Seltenheit, aber der Bezwungene gab dem Sieger nur höchst selten die Genugtuung, ihn leiden und untergehen zu sehen. Adamant hingegen war nicht durch den harten Unterricht eines Magiers geschult worden, ihm fehlte es an der nötigen Konzentration und Selbstbeherrschung. Der Bannwirker sah ihm an, wie er innerlich wütete. Und natürlich ging es bei seinem scheinheiligen Versuch nur um 'Kartentricks'. Oh bitte, nicht einmal Suzuri hätte ihm das geglaubt! „Kann ich dann vielleicht ein paar Tricks lernen?“ tönte es wie zum Spott von seiner Linken. Ungläubig blickte Alandor in das freudestrahlende Gesicht des Phönixkindes. Nun, andererseits... Adamant beließ es tatsächlich dabei. Alandor war sich ziemlich sicher, dass er versuchen würde, Vivica zu überreden, sollte er nur die kleinste Chance dazu bekommen. Gewiss war das nordische Mädchen von starkem Geist und Finesse, aber man musste ja keine unnötigen Risiken eingehen. Eine Grundlektion der Magierausbildung. Demgemäß hielt sich der Magier fortwährend am Tisch und in Vivicas Nähe. Seine Beute würde ihm so ein halbgarer Knabe aus irgendeinem Rattenloch gewiss nicht abjagen! Der Tag alterte mit wachsender Stunde zunehmend rascher, das Abendbrot wurde aufgetafelt und Alandor ergötzte sich daran, immer wieder die stechenden Blicke Adamants zu spüren. Der pure Neid, dessen war er sich sicher. Dummer kleiner Junge – er hatte noch viel zu lernen! Als der Bannwirker die Zeit schließlich für gekommen hielt und ein gewisses Grundmaß an Nervosität und Vorfreude sich in seinen Innereien eingrub, erhob er sich von seinem Platz. „Ich denke, ich werde mich nun zurückziehen.“, richtete er an die gesamte Gruppe, „Ich erwarte dann deine Ankunft.“ setzte er nach und hielt eine Sekunde länger als nötig Blickkontakt zu Vivica. Ein spöttisches Lächeln, mehr erübrigte er nicht für Adamant, ehe er sich zurückzog. Schon als er die Treppe hinauf schritt und zum Tisch zurück blickte, glaubte er den Burschen dabei zu sehen, wie er auf die Rothaarige einredete. Sie aber schüttelte den Kopf. Kluges Mädchen, das wusste er ja von Anfang an! Kaum in seinem Zimmer angelangt, verfiel der Magier in eine gewisse Hektik, die zu zügeln ihm kaum möglich war. Er zog den geflochtenen Korb unter dem Bett hervor und bemerkte, dass man im zarten, flackernden Licht der Öllampe sehen konnte, wo die Möbel zuvor gestanden hatten. Seufzend versuchte Alandor über die Abdrücke zu wischen, doch natürlich änderte das nicht das Geringste. Blieb also zu hoffen, dass Vivica es entweder nicht bemerken oder zumindest sich nicht daran stören würde. Er drapierte die Früchte in einer kleinen, einfachen Holzschale auf dem Nachttisch und legte ein kleines Messer dazu. Sie wären zweifellos ein süßer, willkommener Garant für Neugier und spielerisches Entdecken – beiderseits. Durch einen Seitenblick bemerkte er obendrein die Karaffe, die neben dem Bett stand. Darin befand sich Milch, das wusste er, weil er sie heute früh verschmäht hatte. Offenkundig eine Nachlässigkeit des Wirtes, sie hier einfach stehen zu lassen! Alandor hob das tönerne Gefäß an und roch an der Milch. Gut, frisch. Ziegenmilch war etwas herber im Geschmack, kräftiger. Aber zweifellos wusste das kaum jemand besser als Vivica. Der Gedanke, sie möglicherweise ebenso zu benutzen, kam Alandor in den Sinn. Er wurde für gut befunden, weshalb er entschied, dass die Milch zu diesem Zwecke zumindest, rein der Genießbarkeit wegen, etwas kühler sein sollte. Also öffnete er das Fenster, lüftete nochmals durch und ließ die Karaffe zeitgleich direkt davor stehen. Tatsächlich hatte sich die Rothaarige nicht geirrt – es hatte wieder mit schneien angefangen. Alandor machte sich die gedankliche Notiz, das Fenster rechtzeitig zu schließen. Nass würde es da sowieso werden, durch die wegschmelzenden Flocken, die herein geweht wurden, aber besser nass, als dass er das Fenster zu lange offen ließ und sich eine weiße Schicht absetzen würde. Was galt es noch zu tun? Sein Blick schweifte umher. Die Öllampe brannte und hatte noch genug Brennstoff für weitere zwei oder drei Stunden. Das Bett stand richtig, Früchte und Messer lagen bereit, die Milch kühlte. Er rief sich seinen Traum abermals ins Gedächtnis. Inzwischen war er fest überzeugt, dass es sich um so etwas wie eine Vision oder Prophezeiung handeln musste. Allerdings war sie in einem Punkt nicht ganz eindeutig, oder besser gesagt, recht unglaubwürdig. Sein Gewand ließ sich in der Tat weit schwerer ablegen, Übung hin oder her, als es in eben diesem Traum geschehen war. Das wäre eine nicht unerhebliche Verzögerung, die möglicherweise befähigt wäre, die Atmosphäre dieses wundervollen Schauspiels zu stören. Das wiederum war natürlich vollkommen inakzeptabel! Der Bannwirker entschied daher, einen gewissen Teil der Arbeit vorher bereits zu erledigen. Mühselig schälte er sich aus den diversen Lagen des Stoffes. Obwohl man das nicht sah, gab es mehr Schnallen und Riemen daran, als mancher vermuten würde. Immerhin mussten diese Gewänder ja auch irgendwie zusammengehalten werden und ein Grundmaß an Schutz bieten. Sein Buch dagegen, das war noch ein Problem. Der Blick des Magiers schweifte im Raum umher. Er würde es unmöglich irgendwo offen herumliegen lassen können. Also verstaute er es in der Schublade des Nachttisches, die zunächst ganz furchtbar störrisch einfach klemmte. Ein paar gezielte Schläge brachten seine Faust dazu, fürchterlich zu schmerzen, weshalb er dagegen trat. Dann knackte etwas sehr bedenklich, aber zumindest ging die Schublade nun auf. Er packte den dicken, braunen Wälzer hinein, schob die Lade zu und schloss sie ab. Der Schlüssel... nun... den verstaute er in den Innentaschen der Lagen von Stoff, die er bereits abgelegt hatte. Es würde ja wohl niemand seine Kleider durchwühlen, oder? Zumindest würde er das dann mitbekommen. Gerade war er mit sich zufrieden, betrachtete die Schublade, die er heldenhaft bezwungen hatte, als ein Windstoß ihn auf etwas ganz anderes aufmerksam machte. Er konnte zwar gerade noch die Karaffe vom Sturz abhalten, schlitterte aber unsanft über den Dielenboden und legte sich hin – die Tonform dabei wie ein Heiligtum über sich erhoben haltend. Ein Teil der Milch schwappte über den Rand und besudelte die verbliebenen Stofflagen. Fluchend richtete Alandor sich auf, schloss zunächst das Fenster und drapierte den Krug auf dem Nachttisch neben der Holzschale mit Früchten. Er sah sich nun genötigt, weitere Stoffschichten abzulegen, kurzum alle, denn sie hatten sich mit der Milch vollgesogen. Solch unschöne Flecken konnten Eindrücke hinterlassen, Telete allein mochte wissen, was Vivica dann von ihm dachte! Also verband er das Ungeschick gleich mit dem Notwendigen und fügte der Milch, die in den Stoff gedrungen war, gleich noch das Schmelzwasser unter dem nunmehr geschlossenen Fenster hinzu. Zweifellos ein demütigender Anblick, dachte sich der Magier resignierend. Da robbte ein Bannwirker splitternackt über den Boden und tupfte mit seinen Kleidern Schneewasser auf. Ganz reizend. Vielleicht meinten die Götter es nicht so gut mit ihm? Er richtete sich nach getanem Werk wieder auf und wollte gerade überlegen, wie es weitergehen sollte. Zunächst stopfte er die besudelten Stoffschichten wenig zimperlich einfach unter das Bett. Nur konnte er sich wohl kaum so präsentieren, nicht wahr? Er hob die äußeren Lagen wieder vom Boden, die er zu seinem Glück abgelegt hatte, bevor die Götter sich ihre Späße mit ihm erlaubten. Gerade im Begriff, sie sich anlegen zu wollen, klopfte es an der Tür. Eine Mischung aus Panik und Hektik ergriff Alandor, als er den Kopf herum riss und die Klinke anstarrte. Keine Vorfreude, keine hochgepriesenen Erwartungen, aber dennoch drückte sie sich langsam herab, wurde das Holz ein Stück aufgeschoben. Nicht gut! Im Unwissen, wie er nun am besten reagieren sollte, ließ er den Stoff in seinen Händen wieder fallen. Ihn anzulegen, blieb nun sowieso keine Zeit mehr. Er drapierte sich rasch auf dem Bett, bemüht, wenig zu zeigen, aber viel zu bieten. Immerhin hatte er ja nicht gelogen, er sah verdammt gut aus, unzählige Weiber hatten ihm das bestätigt! Die Frage war nur, ob er Vivica damit ausreichend beeindrucken konnte. Die Antwort erfolgte, kaum dass die Rothaarige zögerlich den Kopf in den Raum hinein steckte. Ein erstickter, wohl mehrheitlich von Überraschung geprägter Aufschrei, gefühlte hundert Entschuldigungen, ehe sie die Tür zu zerrte, regelrecht ins Schloss riss und ihre Schritte sich rasch und rascher auf dem Gang entfernten. Zurück blieb Alandor, der sich auf dem Bett aufrichtete, hervor rutschte und auf der Bettkante Platz nahm. Ein resigniertes Seufzen drang aus seiner Kehle. „Vielen herzlichen Dank.“ grummelte er ins Nichts und beschwerte sich damit bei den Göttern, die mit ihrem Amüsement seine Chance verdorben hatten. Zumindest für heute, jawohl! Er würde sich doch nicht so einfach klein kriegen lassen. Schritte hatte er keine gehört, und dennoch öffnete sich die Tür ein weiteres Mal. „Dora?“ klang die leise Frage von der Pforte her. Alandor antwortete nicht. Nur ein bitteres Lächeln zog über seine Lippen. Aber natürlich. Suzuri. Wer auch sonst. Eigentlich würde es ihn nicht wundern, wenn sich Adamant nun gleich hinter ihr durch die Tür schieben würde. Wenn die Götter jemanden blamieren wollten, dann scheinbar richtig. Keine halben Sachen, was? Das Phönixkind schloss die Tür hinter sich und tippelte leise zum Bett herüber, ohne jedwede Scheu oder Hektik. Sie setzte sich zu ihm, umgriff seinen Arm und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, wie sie es schon unzählige Male getan hatte. Nur hatte er da meistens Kleidung am Leib gehabt. „Was machst du denn hier?“ erkundigte sich der Magier, bemüht, es weder vorwurfsvoll noch ablehnend klingen zu lassen. Es überraschte ihn ohnehin, dass nicht auch sie einfach geschrien hatte und des Raumes geflohen war. Vermutlich machte Vivica in diesen Augenblicken ihrem Entsetzen Platz, indem sie alles brühwarm Adamant ins Ohr flötete. „Es ist kalt.“ antwortete Suzuri. Natürlich ist es das. Da draußen herrschte ewiger Schnee, er hatte gelüftet und er trug noch immer keine Kleidung. Wie hätte es da auch warm sein können. Eine Reihe von Gedanken, einer resignierender als der Nächste, durchkreuzten wie Perlen auf einer Kette fein säuberlich aufgefädelt seinen Kopf. Wie sollte er ihr jetzt am besten antworten, ohne dabei allein durch seinen Unterton seine Enttäuschung zu vermitteln? Doch gerade, als er sich zumindest zu einem Versuch aufraffen wollte, spürte er eine Kraft. Suzuri zog ihn mit sanftem Druck etwas zurück. Verwundert, was das sollte, hob er den Blick erstmals wieder vom Boden und suchte die Augen des Phönixkindes. Doch kaum ihren Blick gekreuzt, schwang sich die junge Frau bereits herum. Die Schenkel über den Seinen gespreizt, drückte sie ihn den ersten Kuss stehlend auf die Matratze zurück. Im ersten Moment überwogen Überraschung und Erstaunen Verlangen bei weitem. Im ersten Moment... Kapitel 11: Stille Lasten ------------------------- Es heißt, jeder trägt so sein Päckchen. Die Götter selbst hätten es einem Wesen aufgelastet, um es zu prüfen. Dabei würde niemand je eine Last tragen, die er nicht irgendwie bewältigen könnte. Denn die Götter sind weise und irren nie. Ich hielt das schon immer für die wahnwitzigen Märchen verzweifelter Dorftrottel. Wenn dann nämlich tatsächlich mal jemand unter seiner ach so tragbaren Last einbrach, dann war es 'der Wille der Götter', dass er zu Mermerus aufsteigt. Aber sicher doch. Jedes Leben endet irgendwann. Und in Tagen wie diesen, da enden sie oft unschön, voll von Bedauern, Schmerz und Zorn. Mein Leben war lang, weit länger, als es normalen Menschen zugedacht ist. Aber es ist auch schon lange her, dass ich aufhörte, ein 'normaler' Mensch zu sein. Mein ganzes Leben verschrieb ich der einen Sache: Die Welt sicherer zu machen. Sicherer vor der Urgewalt darin, sicherer vor der Kraft, deren Zugriff scheinbar willkürlich unter den Neugeborenen aller Rassen verteilt wurde: Magie. Die Essenz jedes Zaubers, der Kern aller Tinkturen, das Gewebe zwischen den Welten. Es gibt zu viele Elemente in dieser Welt, die sie sträflich missbrauchen, gegen gute Kräfte richten oder von der Macht, die sie bietet, verführt werden. Ich wollte dem Einhalt gebieten, mögen die Götter wissen, wie ich das eigentlich überhaupt je erreichen wollte! Ich wünschte, ich hätte auf diesem Pfad keine Fehler gemacht. Ich wünschte, ich könnte jetzt die Augen schließen, das Ende empfangen und frei von jeglichem Bedauern sein. Aber... dieser Tage stirbt niemand, ohne zu bedauern... Es begann früher, viele viele Jahre früher. Ich war noch jung und wusste eigentlich nicht so Recht, was ich mit mir anfangen sollte. Meine Familie schwelgte in Reichtum, 'Lamerak' war ein weithin bekannter Name in Samara. Meinem Vater gehörten ein paar Schmieden und Gießereien, er schien zudem ihren Lebensstil bis zu einem gewissen Grad übernommen zu haben – immerhin prägten Muskeln und Körperfülle seine Kontur. Ich erinnere mich kaum noch an sein Gesicht oder an seine Stimme, aber ich weiß, dass mein Vater Erfolg liebte, über alles sogar. Er liebte das Geld aus seinen Schmieden, weil es ihm zeigte, dass sie Erfolg hatten. Er liebte es, sich selbst in den großen Spiegeln der Eingangshalle unseres Hauses zu betrachten, weil er darin einen erfolgreichen Mann sah. Er liebte es ebenso, wenn ich erfolgreich heim kehrte und berichtete, dass der Priester erfreut über meine Neugier und meinen wachen Verstand war. Ich glaube heute sogar, dass mein Vater meinen Erfolg mehr liebte als mich selbst. Mehr noch – ich bezweifle, dass er sich je als Vater sah. Ich war sein Sohn, keine Frage. Er baute Hoffnungen auf ein Imperium auf meine Schultern. Eines Tages, da würde ich sein Lebenswerk erben und ihm damit zu Unsterblichkeit verhelfen, denn meine Kinder würden seine Strebsamkeit erben, seine Intelligenz, seinen unbändigen Willen und würden sein Lebenswerk weiter führen, weiter und weiter und weiter. Ich weiß nicht, was wirklich in seinem Kopf vor sich ging. Wir hatten nie ein gutes Verhältnis, kalt und distanziert ging es daheim zu. Wie hätte es nach meiner Geburt aber auch anders sein können? Ich war der Sohn einer Hexe. Sie hatte sich lange verstecken können, hatte meinen Vater und Dutzende anderer über ihre Natur getäuscht. Es dauerte Jahre, ehe die Zirkel ihr auf die Schliche kamen und eine Hochschwangere in Ketten abführten. Sie wehrte sich, wie ich hörte, und das nicht zu wenig. Doch um ihres Kindes willen – meinetwegen – tötete man sie nicht. Es blieb immerhin die Hoffnung, dass ich ein normaler Mensch werden würde. Oder zumindest potenzieller Nachschub für die Linien der Magier. Als man nach meiner Geburt keine nennenswerten magischen Potenziale feststellte, wurde ich meinem Vater zurückgegeben. Natürlich hatte der Pläne. Er hatte für alle seine Güter Pläne. Und er investierte gut in sie. Ich denke, das war letztlich die Rolle, die mir zukam. Auch das sollte aber nicht so bleiben. Es kommt nicht selten vor, das magische Potenziale 'schlummern'. Sie ruhen und erwachen erst, wenn sie in einem bestimmten alter durch Schlüsselerlebnisse geweckt werden. Ich habe vor einigen Jahren eine interessante Abhandlung eines Kollegen dazu lesen dürfen. Faszinierender Stoff, wenn auch ziemlich trocken. Andererseits – ich sollte froh sein, überhaupt lesen zu können. Das war nämlich in den Plänen meines Vaters nicht enthalten. Er hatte es nie gelernt, warum sollte ich es da können? Mögen die Götter wissen, wie er ohne die Schrift je so erfolgreich werden konnte. Aber als ich unabsichtlich meinen ersten Zauber wirkte und einen Rüpel von mir weg drückte, als er mich schlagen wollte, da dauerte es nicht lange, ehe die Zirkelmagier wieder auftauchten und die Pläne meines Vaters abermals ruinierten. Dass er von ihrem Erscheinen wenig begeistert war, sollte nicht verwundern. In Lumiél gibt es nicht viele Möglichkeiten, sich ausbilden zu lassen. Es gibt in diesem wundervollen, kleinen und abgelegenen Flecken Land keine Akademie, keine Schulen, keine großen Bibliotheken und Archive. Nur zwei Erzmagier, die hier ihre Türme errichtet haben. Die stolze Präsenz der Zirkel in Lumiél besteht aus zwei Exzentrikern, von denen man eigentlich nur Übles hörte. Mir war das egal – ich konnte fort von zu Hause. Den Luxus, den ich dort erfahren hatte, lernte ich in den ersten Tagen rasch schätzen... wenn auch zu spät. Man brachte mich nach Osten zu einem Mann, den ich Zeit meines Lebens nur mit 'Meister Halon' ansprechen durfte. Selbst viele Jahre später, als ich meine Prüfung abgelegt und mich als vollwertiger Magier bewiesen hatte, war er noch immer der Meister. Ich lernte, mein weiches Bett zu vermissen. Die warme, angenehme Matratze. Die dicken Federbetten, ganz frei von stacheligen Souvenirs. Ich lernte, ausgiebige, warme Mahlzeiten zu beliebigen Tageszeiten zu vermissen – und etwas, das ich bis dahin gar nicht wirklich wahrgenommen hatte... Freizeit. Meister Halon nahm nur selten Schüler auf. Alle paar Jahrhunderte, so sagte er uns mal. Er war immer zu sehr mit seinen Studien beschäftigt. Ein alter, zotteliger Mann, etwas klein geraten, etwas breit geraten. Man hätte ihn für einen Zwerg halten können. Das wurde noch unterstützt von diesem Bart – dicht, dick, weiß und buschig, zog er sich fast bis zu seinen Fußspitzen herab und sah schlimmer aus als die verwilderte Rosenhecke hinter dem alten Herrenhaus, das eigentlich einst hätte mir gehören sollen. Doch mit dem Tag, als zwei fremde Männer in langen Talaren mich bei diesem imposant aufragenden Turm absetzten, änderten sich die Besitzrechte. Mir gehörte nichts mehr, ich hatte mit diesem einen, unschuldigen Zauber alle Besitzrechte verloren. Dafür jedoch gehörte ich nunmehr nicht länger meinem Vater... sondern Meister Halon. Er erwies sich als das, was ich am wenigsten mochte und zu dieser Zeit am meisten brauchte: Eine strenge, führende Hand in meinem Leben. Statt Flausen im Kopf, hatte ich die ersten drei Jahre gar nichts mehr im Kopf. Es war einfach keine Zeit, keine Energie übrig, um noch Streiche zu spielen oder kindisch herum zu tollen. Ich musste rechnen und lesen lernen, im zweiten Jahr kam das Schreiben dazu, ich musste seine Tinkturen und Reagenzien einordnen, seine Laborausstattungen waschen, abstauben, sortieren, seine Bibliothek hüten – und fast der ganze Turm, über sieben Stockwerke hinweg, war eine Bibliothek! Meister Halon hatte einen dieser Mephiten. Bei jenen Erzmagi, die sich einen Turm errichten, sind Mephiten ja unglaublich beliebt. Sie sind unterwürfig, brauchen wenig Schlaf und Nahrung, sind recht geschwätzig und absolut loyal. Damit ersetzen sie eine Chimäre aus Hund, Katze und Papagei mit deutlich weniger Aufwand. Bei so vielen Vorteilen stört es auch niemanden, dass diese Dinger eigentlich niedere Dämonen sind. Meister Halons Mephit war... nervig. Gelinde gesagt. All die Streiche, die ich hatte spielen wollen, schienen diesem Ding ebenfalls durch den Kopf zu wandern. Nur, dass es jetzt jemand anders gab, der die Regale putzen musste – was dem Mephit genug Zeit gab, seinerseits mir all die Streiche zu spielen. Ich lernte über die Jahre, dieses kleine Ding zu hassen. Glücklicherweise gab es im vierten Jahr einen kleinen... Unfall. Ein Fläschchen Feenstaub und ein paar andere Reagenzien entglitten rein zufällig meinen Händen und verpassten diesem Ding einen Juckreiz, dass es sich eine Woche lang fast das Fleisch von den Knochen kratzte. Danach hielten wir respektvollen Abstand voneinander. Meine tatsächliche Ausbildung begann erst im vierten Jahr. Ich konnte lesen, schreiben und rechnen – nach Meister Halons Philosophie waren damit die nötigsten Grundlagen gelegt. Auch zu diesem Zeitpunkt erst lernte ich Daevorn richtig kennen. Er war in meinem Alter, also noch ein Kind, und jeden Abend, wenn wir in unser gemeinsames Zimmer schlurften, wortlos und erschöpft, sah ich in seinen Augen, wie ähnlich er mir war. Er wollte frei sein, Streiche spielen, herum tollen – es hätte ihm sogar gereicht, einfach nur ein paar freundliche Worte mit mir zu wechseln. Für den Anfang. Aber dazu kamen wir einfach nicht. Wie ich, so glaubte ich damals zumindest, kam auch er aus Verhältnissen, die ihm nicht ermöglichten, zu tun, was er wollte. Doch im vierten Jahr wurde es besser. Wir mussten nicht mehr ständig Regale putzen und Glaskolben ausspülen, dafür war nun dieser kleine, gehässige Dämon wieder eingeteilt. Wir beschäftigten uns mit den Grundlagen der Magie. Schon das Wort drückte uns ein Funkeln in die Augen und breites Lächeln auf die zerschlissenen, aufgekauten Lippen. Daevorn war von diesen Dingen genauso begeistert wie ich – und wusste darüber genauso wenig. Magi, das waren diese noblen Herrschaften in ihren schönen, weitläufigen Gewändern, die edel redeten und denen die Frauen zu Füßen lagen. Außerdem waren sie berühmt, einfach jeder mochte sie und sie kämpften für das Gute in der Welt. Irgendwie so etwas dachten wir uns wohl. Meister Halon führte uns in eine völlig neue Welt. Jeden Tag zu frühsten Stunden lernten wir emsig, ehe er uns entließ. Die ersten Wochen und Monate versuchten wir, uns die Zeit zu vertreiben, doch im Turm gab es nicht viel. Die Bibliothek mit ihren staubigen Wälzern hatten wir wirklich über und in die Laboratorien durften wir nicht ohne den Meister. Ganz zu schweigen vom Verlassen des Turmes. Also änderte sich unser Rhythmus. Wir saßen mit den Büchern auf unseren Betten, erklärten uns gegenseitig, was wir gelernt hatten, versuchten eine Materie zu begreifen, die tiefer ging, als unser Verstand zu diesen jungen Jahren zu graben fähig war. Jeden Abend legten wir uns zur Ruhe, den Kopf voll wirrer Fragen und voller Ungeduld auf die nächsten Stunden. Wir lechzten förmlich nach Wissen über diese erstaunliche Welt. Im sechsten Jahr hatten wir die Grundlagen hinter uns. Wir glaubten nun junge Männer zu sein, mit unseren stolzen vierzehn Jahren. Daevorn gab ständig damit an, dass seine langen Haare inzwischen nicht mehr dunkelbraun, sondern kohlrabenschwarz waren und ich... nun, ich schwieg mich über die Veränderungen aus, die ich an mir feststellte. Sie erschienen mir irgendwie... peinlich. Zumal ich, ganz der Magier, völlig analytisch feststellte, dass mir zu den peinlichsten Situationen und Begebenheiten beständig ein Mädchen einfiel, das ich häufiger in der Nachbarschaft sah, als ich noch daheim wohnte. Vielleicht war es auch umgekehrt und diese Peinlichkeit ergab sich erst, nachdem ich an sie dachte... Daevorn und ich hatten uns angefreundet. Mehr als das – wir waren wie Brüder. Wir sprachen gemeinsam unsere ersten Zauber und landeten gemeinsam mit blutigen Nasen am Boden, weil die Silben grässlich schlecht betont waren und der Zauber daneben ging. Damit lernten wir auch gleich, was ein Patzer für einen Magier bedeutete. Wir lernten den Unterschied zwischen Magie und Hexerei kennen, wir lernten, wie unbeständig Zauber waren, die ihre Kraft aus Gefühlen schöpften. Wir lernten das Gewebe kennen und erspüren. Mit der Zeit traten auch Präferenzen hervor. Mein Bedürfnis, mich und andere abzusichern, zeigte sich letztlich in einer großen Begabung in der Schule der Bannsprüche, während Daevorn mit seiner Faszination ein reges Interesse für die Beschwörungen entwickelte. Und auch darüber hörten wir genug: Die 'dunklen' und die 'lichten' Künste. Sie alle waren Schulen der Magie und durften legitim unterrichtet werden, sie alle waren Magier der Zirkel und dennoch gab es Schulen, denen man mit größerer Vorsicht begegnete als anderen. Die dunkle Nekromantie stand allem voran. Der Erzmagier im Turm des Abends an der Südwestküste Lumiéls hatte sich ihr verschrieben. Sie beschrieb die Kunst, sich mit Schmerz, Leid und Tod zu befassen – wie man sie zufügte, verstärkte, kontrollierte. Meister Halon sprach stets voller Verachtung für diesen Mann, dessen Namen er dennoch nie zu erwähnen wagte. Er selbst hatte sich der lichten Nekromantie verschrieben. Das Bekämpfen von Wunden und Krankheiten auf magische Weise – und er war ein Virtuose auf seinem Gebiet. Wir mussten nie leiden, wenn wir uns in Eile die Knie aufgeschlagen hatten... Daevorns Wahl gab dem Meister stets ein wenig zu denken. Beschwörung, so lehrte er uns, sei eine machtvolle Schule und Macht verführe die Menschen, wo sie nur könne. Natürlich konnte man Geister beschwören, Tiere oder die Götter anrufen. Aber viele Beschwörer begannen irgendwann, die verpöhnten Wege einzuschlagen. Man könnte schließlich auch einen Geist in einen lebenden Körper beschwören – was für die Dauer des Zaubers den darin wohnenden Geist einsperren und in eine untätige, ohnmächtige Beobachterrolle zwingen würde. Ein grausames Schicksal. Überboten wurde diese Bedrohung nur von dem Potenzial, Risse im Gewebe zu schaffen, durch die ein Beschwörer Dämonen rufen konnte. Kreaturen, die unglaublich schwer zu kontrollieren seien – weshalb es so wenige Beschwörer gab. Die Meisten starben bei ihren Experimenten... Daevorn schreckte nichts davon ab. Unerschütterlich war er frohen Mutes und steckte mich damit an. Wir würden es schaffen, wir würden unsere Prüfungen ablegen und dann... ja, dann würden wir in die Welt hinaus ziehen, uns Mädchen suchen, zwei, fünf, warum nicht hundert? Wir würden herum ziehen und Gutes tun, fremde Orte schauen und alle Welt würde uns lieben, weil wir Magier sind. So viel hatte sich in den Jahren wohl doch nicht verändert. Dafür ging es umso schneller, als der Wandel erst einmal Einzug hielt. Wir, die wir Brüder waren, hatten alles geteilt. Unser Essen, unseren Schlaf, unsere Lehrstunden, unseren Schmerz und unser Gelächter. Meister Halon lehrte uns die Theorie, aber weder war er in Beschwörer, noch ein Bannwirker – nein, nach den Stunden beim Meister saßen wir in der großen Bibliothek, ließen uns von seinem verflixten Mephiten die Bücher bringen – murrend und maulend zumeist! - und erprobten alles selbst. Unzählige Fehlschläge. Brennende Seiten, gelöschte Lampen im ganzen Turm, sogar ein kleiner Wirbelsturm im Inneren des Bauwerkes. Zahllose Patzer und ihre Folgen. Aber mit jedem Fehlschlag wurden wir besser. Irgendwann standen wir in der großen Bibliothek einander gegenüber, die Bücher festen Griffes in den Händen und schmetterten mit Zaubern aufeinander ein, die wir direkt von den Pergamentseiten zogen. Daevorn beschwor seine Kreaturen, Geister und Phänomene, während ich seine Zauber unterdrückte und seine Kreaturen bannte. Es war die schönste Zeit meines Lebens, so glaubte ich. Eines Tages aber kam Daevorn zu mir. Er sah reumütig drein. Nach acht Jahren, die wir zusammen lebten, konnte ich das an seinen dunklen Augen ablesen. Nur zögerlich und mit deutlichem Unbehagen gestand er mir, dass er ein Geheimnis vor mit gehütet hatte. Er brauchte mir nicht einmal sagen, was es war – ich wollte es nicht hören. Allein, dass er eines behalten hatte, entsetzte mich. Zutiefst entrüstet, schrie ich ihn an, was er nur für ein Freund sei, ehe ich wutentbrannt den Raum verließ. Daevorn kannte mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich selten zu solchen Ausbrüchen neigte. Also ließ er mich ziehen, bis ich mich wieder beruhigt hätte. Das dauerte immerhin zwei Mondzyklen. In dieser Zeit sprach ich kein Wort mit ihm. Ich übte meine Zauber allein – was denkbar unsinnig war – und strafte ihn mit Missachtung. Er versuchte hin und wieder, sich zu entschuldigen, aber ich wollte... ich wollte ihn nicht mehr mögen. Ich wollte ihm jegliches Vertrauen und alle Sympathie entziehen. Eines Abends aber, da packte er mich am Kragen meiner Kutte, bevor ich in unseren Schlafsaal schlüpfen konnte. Unter meinem Gemaule und Gezeter, eine Hexe möge ihn holen oder die Zirkel ihn als Abtrünnigen entlarven, zerrte er mich wortlos hinter sich her, einen Gang entlang, den ich noch nicht kannte. Wie sich herausstellte, hatte Daevorn einen Geheimgang entdeckt, den selbst Meister Halon mit fortschreitendem Alter trotz der theoretischen Unsterblichkeit irgendwann einfach vergessen hatte. Er führte direkt in die Freiheit, an den Fuß des Berges, auf dem der Turm des Morgens stand. Ich kann selbst heute kaum beschreiben, was für ein Gefühl das war. Sieben lange Jahre hatten wir nur die Wände des Turmes gesehen, hier und da aus dem Fenster geblickt und sonst unsere Jugend damit zugebracht, die Nase tief in Bücher zu stecken. Und nun stand ich dort... frische, klare Meerluft zog mir in salzigen Wehen um die Nase, das kleine Dorf Ilmwacht schmiegte sich unter uns an den felsigen Fuß des Hügels und ein kleiner Steinpass führte scheinbar direkt zum Pöbel herab. Über uns funkelten in eisiger Spätherbstluft die klaren Sterne an einem wolkenfreien Himmel und Damaste erstrahlte in voller Pracht. Es war... erstaunlich. Keinem Lebewesen, so lehren es die Magier, ist es vergönnt, die Zeit zu manipulieren. Geschöpfe, die mit dieser Gabe geboren werden, sind zu Hohem bestimmt... oder verschwinden unter merkwürdigen Umständen. Nur die Chronisten können Zeit beherrschen. Dennoch kam es mit in diesem Augenblick so vor, als würden sich die Sekunden in Tage dehnen, nur, um mir die Schönheit dieses Augenblickes noch ein kleines bisschen länger zu bewahren – und ich war überwältigt, dankbar und überwältigt. Demgemäß dauerte es sehr lange, ehe ich das kleine, zärtliche Licht bemerkte, das sich wie Ilmwacht an den Fels schmiegte... nur das es deutlich näher war und von einer kleinen, vor Kälte zitternden Hand gehalten wurde. Daevorn winkte mir zu, ich solle ihm folgen und obwohl mein Pflichtbewusstsein in diesen Sekunden einen riesigen Tumult veranstaltete und mich mit bleischwerem Gewissen zum Turm aufsehen ließ – als würde Meister Halon strafenden Blickes auf uns herab blicken! -, folgte ich seinem Hinweis. Aus dem Dunkel schälte sich eine Gestalt, die eben jenes Licht, gefangen in einer schlicht verzierten Öllampe, vor sich her trug. Ich weiß noch, wie Daevorn etwas geflüstert hatte, Beschwichtigungen und Beruhigungen, Zusicherungen, dass es nichts zu fürchten gäbe. Kurz darauf schob sich ein Mädchen in den schwachen Schein des Lichtes. Auf dieser schattigen Seite der Bergwand hätte ich es nicht für möglich gehalten, doch die Schwärze ihres Haares setzte sich sogar noch gegen die Dunkelheit der Nacht ab, die aus allen Ritzen zu kriechen schien. Lang lag es in sanft geschwungenen Wellen über ihrer Schulter, während dunkle Augen voller Leben und ungestümer Neugier mich unverhohlen musterten. Bei den Göttern, was war ich neidisch! Daevorn strolchte hier draußen herum, die Götter mochten wissen, wie lange schon, und hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich das schönste Mädchen aus Ilmwacht zum Weib zu erwählen! Einen ausgiebigen Moment kämpfte ich mit dem Wunsch, meinen Freund gallig anzustarren, doch selbst hätte ich mich dazu durchringen können, wäre ich nicht fähig gewesen, den Blick von ihr zu wenden. Es lag solcher Liebreiz in ihren zarten, jungen Zügen, solche Wildheit in ihrem Blick. Die Tage darauf kämpfte ich mit großen Zweifeln. Ich zweifelte dabei hauptsächlich an mir selbst. Wie konnte ich es wagen, ihm streitig zu machen, was er beanspruchte? Dieses Mädchen war ihm zugetan, ich hatte es daran sehen können, wie sie miteinander umgingen. Vertraut, ohne jede Scheu vor Berührungen oder Nähe. Sie mussten einander schon lange kennen... oder zumindest sehr gut. Ein Teil von mir trug Daevorn das tatsächlich nach, lange noch, nachdem er mir den Geheimgang offenbart hatte. Damit änderten sich unsere Tagesrhythmen ein weiteres Mal. Wir lernten, wir übten – wir schlichen uns davon. Meister Halon schien es entweder nicht zu bemerken, oder er interessierte sich nicht sonderlich dafür. Erst viel später erfuhr ich den Grund dafür. Die Ausbildung eines Magiers dauerte so lange, wie sie eben dauerte. Wann er reif für die Prüfung war, das entschied allein der Meister. Und wenn dieser glaubte, der Adept sei nie bereit dafür, würde der Schüler eben sterben und all sein Wissen oder Nichtwissen mit sich nehmen, ohne je die volle Magierwürde erlangt zu haben. Wir hätten bis zu unserem Tod in diesem Turm festsitzen können, hätte Meister Halon es so gewollt. Erst in der dritten Woche wagte das fremde Mädchen auch mit mir zu reden. Sie stellte sich mir als Althana vor und allein der Klang ihrer Stimme verzauberte mich aufs Neue. So weich und geschwungen wie der Gang einer Katze, aber so kraftvoll wie der Hammerschlag eines Schmiedes. Sie musste die Göttin Telete sein, fleischgeworden – ich hätte es beschworen! Wozu die Jugend einen doch reißt. Vermutlich gelten die jungen Magier gerade deshalb als ungestüme Schürzenjäger. Nach so vielen Jahren der Isolation und Kontemplation wirkt jedes Weib aufreizend. Wenn es noch dazu so jung und schön ist... Althana eröffnete uns eine ganze neue Welt, so wie Meister Halon es getan hatte. Wobei sie uns genau genommen 'nur' zurückführte in die alte Welt, aus der wir vor so vielen Jahren gekommen waren, um den Turm zu beziehen. Wir hatten vergessen, wie gut es tut, mit nackten Füßen nach einem Regenfall über die Wiesen zu rennen, wie gut es tut, lachend einander durch das Geäst eines alten Baumes zu jagen. Wir hatten den Spaß vergessen, den es bereitete, auf einem Dorffest zu essen, zu reden und zu tanzen. Jedes Mal, wenn wir uns Kleider von einer Wäscheleine stahlen, um damit unerkannt im Dorf laufen zu können, jagte unser Puls in die Höhe. Althana und Daevorn stifteten mich in jenem Jahr zu viel Unsinn an. Es war fast, als hätten wir zwei Brüder unsere lang verlorene Schwester gefunden. Wobei ich dennoch nie zu vergessen versuchte, wem Althana zugehörig war. Sie nicht selbst für mich zu fordern, war ein ständiger Kampf gegen mich selbst. Immer wieder bildete ich mir ein, sie würde gezielt Witze über mich oder uns machen, mich herausfordern und provozieren. Zweifellos meine Einbildungskraft, meine Imagination. Nicht mehr als Wunschdenken. Daevorn schien das hingegen anders zu sehen. Ich spürte, dass es ihm nicht behagte, wie ich seine Auserwählte ansah. Ich wusste, dass es ihm nicht gefiel, wo ich sie berührte, wenn wir einander über die Wiese jagten und ich als Jäger meine Beute griff. Ich wusste, sah und spürte das alles... und obwohl ich versuchte, mich zu zügeln, gab es einen Teil in mir, der drängte und meine Vernunft außer Acht zu lassen versuchte. Ich begehrte sie, ich wollte sie für mich. Irgendwann... schlich ich mich allein davon. Althana harrte dort, wo sie immer war – als hätte sie mit meiner Entscheidung gerechnet. Wir zogen zu zweit los, wir jagten einander über die Wiesen, wälzten uns im Gras, zeichneten nebeneinander liegend mit unseren Fingern Sternenbilder an den Nachthimmel und schlichen uns auf die Feste in Ilmwacht. Natürlich konnte ich das vor Daevorn nicht geheim halten. Er war wütend, er schrie mich an, klagte mich an und dann... Stille. Er sprach noch mit mir, aber er beschränkte sich auf das Nötigste. Er lernte in diesen Monaten härter als je zuvor, vergrub sich die Abende noch tiefer in den Bergen aus Büchern und lehnte beharrlich ab, wenn ich ihn bat, mit mir zu kommen. Ich aber ließ mich von einem bockigen Jungen mit gebrochenem Herzen nicht aufhalten. Ich zog mit Althana durch die Gassen und um die Häuser. Ich fühlte mich wie im Himmel – Mermerus hatte meine Seele schon zu meinen sterblichen Zeiten erlöst! Ich weiß noch heute, wie es sich anfühlte, als wir bei einer Schlenderei durch das Dorf zwei Äpfel an einem Stand einsteckten und sie rasch mein Handgelenk griff, um mich nach dem Diebstahl in eine Gasse zu ziehen. Ich weiß, wie ihre Augen strahlten, voller unbedarfter Freude, als sie bei einem Fest zu Ehren Damaste' um das Feuer tanzte und alle Männer sie gebannt beobachteten, weil man in jedem ihrer Schritte ihren ungebrochenen Lebenswillen erkennen konnte. Und ich erinnere mich an den Klang meines eigenen Gekichers, als ich den Neid in den Blicken der anderen 'Dorfschönheiten' sah. Obwohl mir klar wurde, das Althana unmöglich aus Ilmwacht stammen konnte, fragte ich sie nie danach. Ich fragte auch nicht, was sie mit Daevorn verband... rückblickend betrachtet, hätte ich mich schämen müssen. Bei aller Faszination für ihren Anblick und ihr Wesen, fragte ich viel zu wenig. Gerade für einen Magier eigentlich eine Kapitalsünde. Aber ich wollte gar nicht wissen, woher sie kam oder was sie mit Daevorn verband. Es reichte mir völlig, dass sie da war, bei mir. Ein halbes Jahr kannte ich sie, da gestand sie mir, dass sie mich mochte. Ich war wie verzückt und wusste nichts Gescheites zu antworten, weshalb ich ihr ein unsicheres, völlig unüberlegtes 'Ich weiß' entgegen nuschelte. Althana zeigte sich von meiner Großspurigkeit amüsiert, lachte glockenhell auf und musste selbst dann noch grinsen, als wir den steinigen Weg zur Geheimtür des Turmes wieder empor schritten und sie mich verabschiedete. Als ich mich an diesem Abend in unsere Schlafkammer stahl, wurde ich zu meinem Leidwesen erwartet. Daevorn hatte es nicht einfach auf sich beruhen lassen können – warum auch. Er hatte Meister Halon davon erzählt. Davon, wie ich einen geheimen Gang gefunden hätte, ihn regelmäßig nutzen würde, um mich davon zu schleichen, davon, wie ich ihn dazu hatte überreden wollen. Womit auch immer Daevorn dieses kleine Mistvieh bestochen hatte – der Mephit stimmte ihm zu. Meister Halons Blick zeugte zwar von Misstrauen gegenüber den Worten Daevorns, nahm er solche Anschuldigungen doch sehr ernst, doch dafür traute er seinem kleinen Diener. Zur Strafe wurde ich zurückgeworfen in mein erstes Lehrjahr. Früh erschien ich zum Unterricht, ehe ich anfangen musste, die Regale abzustauben, die Glaskolben in den Laboratorien zu sortieren und die Tinkturen in die Halter einzusortieren. Egal, wie oft ich Meister Halon um Vergebung bat, er blieb hart und meinte immer wieder, dass es nicht tragbar sei, dass ein Adept, der einst die Würde eines Magiers tragen wolle, seinen Kopf mit Verantwortungslosigkeit und Flausen fülle. Daevorn dagegen, dessen war ich mir voller Zorn sicher, stahl sich nun wieder jede Nacht davon, um Althana für sich zurück zu erobern. Dieser miese kleine Hund! Oh was wünschte ich ihm seinerzeit doch nicht alles an den Hals. Ich bedauerte zutiefst, dass ich keine guten, vernünftigen Flüche beherrschte. Ein weiteres Jahr zog auf diese Weise dahin. Es verging quälend langsam. Tag für Tag für Tag die selbe Arbeit und immer wieder zog es meine Gedanken zu ihr zurück. Was sie jetzt wohl tat? Ob Daevorn bei ihr war? Ob es ihr gut ging? Ob sie an mich dachte? Zeit, so lernte ich in den Jahren, bekommt nicht jedem Geist gut. Viele verändert es, manche positiv, andere nicht. Ich gehörte wohl zu Letzteren. Ich hatte mit einem Schlag viel zu viel Zeit, über Daevorn nachzudenken, über ihn, Meister Halon und Althana. Ich fühlte mich schrecklich ungerecht behandelt und versuchte mit allen Mitteln, meinen Status aufzuheben. Dazu musste ich ja nur Gnade im Angesicht des Meisters finden – also tat ich, was Daevorn zuvor getan hatte. Ich vergrub nach all den anstrengenden Hausarbeiten die Nase tief in den Büchern. Oftmals schlief ich sogar in der Bibliothek ein und verpasste fast den Unterricht. Ich lernte alles, was ich finden konnte und was mir nützlich sein konnte. Bannmagie, wie man offensive Zauber blockte, wie man defensive Zauber hinfort fegte, wie man beschworene Kreaturen bannte, indem man die Zauber nicht auf sie selbst, sondern auf ihre Beschwörer warf, ich lernte über das Gewebe der Magie und studierte verschiedene Theorien zur Herkunft der Dämonen, ich las Texte über Schnitter, Mephiten und Drachendämonen, verschlang alle Informationen über die fernen Barbarenländer, den Aufbau der Zirkel und über die Notwendigkeit, Hexen das Handwerk zu legen. Ich eignete es mir an – das Wissen, die Ansichten, die Überzeugungen. Logik wurde meine neue Waffe, mein Verstand ein zwergischer Mechanismus aus Metall und Zahnrädern. Nach einem Jahr gelang es mir, Meister Halon davon zu überzeugen, dass mich keinerlei Emotionalität bewog, dass ich frei war von allem, was aus mir einen 'liederlichen, sorglosen Magier und zukünftigen Abtrünnigen' würde machen können. Meine Sanktion wurde aufgehoben. Ich war wieder frei – und ich plante. Unlängst ging ich nicht mehr davon aus, dass Althana auf mich warten würde. Ich war gereift, nunmehr stolze neunzehn Jahre alt und glaubte die Welt verstanden zu haben. Sie war eine reizende junge Frau voller Leben und Lust, sie würde nicht auf einen bettelarmen Adepten warten, der hinter irgendwelchen Mauern brav dem Wort seines Meisters folgte. Nein, gewiss, sie würde Daevorn nachlaufen oder dem Sohn des Schmiedes oder irgendwem – die Namen waren mir egal. Ich wollte sie nur leiden lassen. Zugegeben, kein ehrbares Ziel. Und bestimmt keines Magiers oder Adepten würdig. Aber dieser Wunsch hatte mich lernen und studieren lassen, er hatte mich mit weniger Schlaf konstant gute Leistungen bringen und eisern mein Ziel verfolgen lassen. Wie genau ich meine Rache einfordern wollte, war mir nicht klar. Ich würde sie nicht töten. Jemandem ernstlichen Schaden zuzufügen, das war nie meine Absicht. Aber ich wollte, dass sie den Schmerz verstanden, den ich empfand. Vielleicht konnte ich Althana ja weglocken und ihnen die Nachricht zukommen lassen, sie sei tödlich verunglückt? Oh was hätten sie für Gesichter gezogen! Entsetzt, schockiert, hätten sie die Gesichter in die Hände gegraben und geweint wie nie zuvor. Es war der erste Abend im Sommer, als ich den Geheimgang wieder nutzte. Ich hatte mich gut vorbereitet: Ein Zauber dämpfte meine Schritte, ein zweiter lenkte das Licht von mir ab und ließ mich als kaum erkennbaren Schatten herum huschen. Auf diese Weise vor Entdeckung geschützt, schlich ich die steinernen Gänge entlang und fand die Tür unverschlossen. Entweder hatte Meister Halon uns zu sehr vertraut, er prüfte uns oder... er war tatsächlich einfach alt und senil. Zu meiner Überraschung war Althana es, die mich erwartete. Nicht Meister Halon, strengen, strafenden Blickes, und nicht Daevorn, schadenfroh grinsend. Wie bei unserem ersten Treffen, hielt sie die Lampe zögerlich hoch und wartete dort im Schatten des Berges. Ich flüsterte ungläubig ihren Namen – und Sekunden später eilte sie im seidigen Mondlicht zu mir herauf. Sie fiel mir in die Arme, drückte sich an mich, flüsterte von Sehnsucht, das sie mich vermisst und um mein Wohl gefürchtet hatte. Ich gestehe, ich war noch immer jung und das Blut kochte in meinen Adern. Ich hörte nur die Hälfte dessen, was sie mir zuflüsterte, denn mein ganzer Körper versteifte sich, wohl spürend, wie der Ihre sich verändert hatte. War sie vor einem Jahr noch ein schönes Mädchen gewesen, war sie nun eine Frau geworden – und was für eine! Doch ich wollte mich nicht beirren lassen. Das Jahr hatte meinen Geist geformt und obgleich diese Form mir selbst noch unbekannt war, wollte ich nicht zulassen, auf einen heimtückischen Trick Daevorns herein zu fallen. Was, wenn Meister Halon uns beobachtete? Oder Daevorn nur darauf wartete, hervor zu springen und mich für meine naive Torheit auszulachen? Nein, gewiss, ich würde mich nicht so einfach zum Fisch am Haken degradieren lassen! Althana spürte meine Vorbehalte, meine Zurückhaltung. Sie fragte danach, doch ich gab ihr eine ausweichende Antwort. Schon ihrem Blick sah ich an, das sie damit nicht zufrieden war. Sie nahm mich bei der Hand wie schon ein Jahr zuvor, zog mich den Pfad herab und leuchtete uns den Weg. Die Falle, was immer ich auch erwartet hatte, schnappte nicht zu. Das tat sie bis zuletzt nicht, obwohl ich fest damit gerechnet hatte. Althana führte mich nach Ilmwacht, dem kleinen Dorf am Fuß des Hügels. Immer schon hatten die Menschen dort eine merkwürdige Einstellung zu Meister Halon. Ein paar verehrten den alten Weisen, oder manchmal auch den weisen Alten, für seine Heilkünste. Sie sprachen voller Respekt und Ehrfurcht von der Macht des Erzmagiers und von der Wichtigkeit der Zirkel. Der Großteil dagegen – und es hatte Jahre gebraucht, ehe ich diesen feinen Unterschied bemerkte – sprach voller Angst vom Meister des Turmes und seinesgleichen. Wie schon unzählige Male zuvor, stahlen wir uns aus einem Hinterhof von einer Wäscheleine Kleider. Ich musste Althana helfen, ihr Kleid zu schnüren, was mich neuerlich in Versuchung brachte, Daevorn, Meister Halon und jedwede möglicherweise drohende Gefahr zu vergessen, mich wie zuvor gedankenlos und frei Althana und dem Genuss ihrer Gesellschaft hinzugeben. Doch ich maßregelte mich erfolgreich. Als ich in die Kleider schlüpfte, die ich auserwählt hatte, stellte ich frustriert fest, dass sie noch klamm waren. Ich würde mir Tod und Teufel holen, ganz zu schweigen davon, dass ich Meister Halon unmöglich erklären konnte, wie ich mich in einem warmen, trockenen Gemäuer hatte erkälten können. Althanas Idee zur Lösung des Problemes war... gleichermaßen schlicht wie beschämend. Sie meinte, es bräuchte nur genug Wärme, um die Kleider zu trocknen, und wenn ich nicht freiwillig ins Feuer springen wolle, gäbe es da nur eine Option. Mit eben diesen Worten presste sie sich dicht an mich, schlang die Arme um meinen Rücken blickte zu mir auf. Die Unschuld, die mich einst an diesem Blick fasziniert hatte, war gewichen. Ich zweifelte nicht an ihrer Ehre und Tugend, aber auch ihr Geist war gereift und hatte gewisse Dinge erkannt, die sie nun mit der mir schon von früher bekannten Lebenslust umzusetzen versuchte. Nur handelte es sich hierbei nicht um Zauber, die man brav von einer Buchseite ablas, um dann das katastrophale Scheitern zu sehen. Hier ging es um Althana – die Frau, die ich trotz allem noch immer liebte. Hier ging es obendrein um ein Gebiet, auf dem ich nichts wusste und von dem ich nichts verstand. Beides erschreckte mich gleichermaßen, doch davon merkte sie mir wohl nichts an. Nein, es war meine kühle, analytische Distanziertheit, die sie grämte und verärgerte. Sie ließ von mir ab, nur um mir mitzuteilen, was für ein furchtbarer Spielverderber ich geworden sei. Bei diesen Worten schien sich der letzte Rest Junge in mir angesprochen zu fühlen und widersprach vehement. Dieses Aufleben schien sie hoffen zu lassen, dass es da noch etwas von dem Alandor Lamerak zu retten gab, den sie kennen und lieben gelernt hatte. Erneut griff sie mich am Handgelenk. Ihre Finger waren schmal, ihre Haut schien mir sogar noch etwas weicher geworden, während sie mich mit sanfter Gewalt davon zog. Wir schlichen uns auf ein kleines Fest, das zu Ehren Eumenes' veranstaltet wurde. Es gab dort Wein... und Althana stahl eine der Karaffen. Mit unserer Beute zogen wir davon, verkrochen uns ungesehen in einer Scheune auf dem Heuboden. Ich hieß das nicht gut, nichts von alledem. Man sollte nicht stehlen, nicht einmal solchen einfältigen Narren wie denen, die dort unten ausgelassen feierten. Man sollte sich auch nicht auf fremdem Grund verstecken, ungefragt und ungebeten. Aber waren wir nicht genau deshalb dort gelandet? Weil ich so ein... Spielverderber geworden war? Ich wollte ihren Mühen zumindest eine Chance geben und zog mit, als sie mir die tönerne Karaffe entgegen hielt. Der süße Geschmack auf meiner Zunge ließ mich einen Augenblick vergessen, weshalb ich eigentlich hier war, was ich bezwecken wollte, was ich für große Pläne hatte. Ich nahm noch einen Schluck, doch statt nur zögerlich daran zu nippen, trank ich in vollen Zügen. Althana hielt den Blick auf mich geheftet und schien mehr als zufrieden mit ihrem Werk zu sein. Einen Augenblick beschlich mich Argwohn, setzte ich die Karaffe ab und wollte mich schon fragen, ob sie das alles vielleicht vorbereitet hatte. Die Hilfe von ein, zwei Dorfbewohnern, vielleicht noch Daevorn, und schon trank ich vergifteten Wein? Nein. So hinterhältig konnte sie nicht sein, völlig unmöglich... Althana bekräftigte meine Hoffnungen, als sie selbst den Krug nahm und in nicht minder großen Zügen meinem Vorsprung nachsetzte. Ich verfolgte gebannt jede Bewegung der Muskeln an ihrem zarten Hals, hielt ihrem Blick stand, während sie trank. Ich spürte, wie ich errötete und hoffte, dass die Dunkelheit der Scheune mich schützen würde. Andererseits hätte ich es besser wissen sollen – die Latten des Daches saßen beim besten Willen nicht stimmig, ich konnte immerhin meinerseits erkennen, wie sie errötete. Des Weines wegen, wie ich anfangs vermutete. Zwei Mal wechselte der Krug noch den Besitzer, ehe Althana das leere Gefäß zur Seite stellte und mich so selig angrinste, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Vermutlich erging es mir nicht besser – zumindest fühlte ich mich merkwürdig beschwingt, leicht und fröhlich. Jedweder Gedanke an Daevorn, Meister Halon, sogar an die Menschen, die direkt vor der Scheune ihr dummes kleines Fest feierten, all das war vergessen. Es gab nur sie, mich und einen Geschmack, so süß, dass ich nicht dachte, das ich ihn in Worte hätte fassen können. Auf ihre Frage hin, wie es mir geschmeckt hätte, vermochte ich aber genau das plötzlich in erstaunlich klaren Worten: „Es schmeckt so, wie ich mir einen Kuss von diesen Lippen vorstelle...“ nuschelte ich leise. Ich weiß noch, wie sie die Stirn kraus zog, sich umsah und allen Ernstes fragte, welche Lippen ich meinte. Als ich den Arm hob und auf die Ihren deutete, den Finger Millimeter von ihrer warmen Haut entfernt, kicherte sie vergnügt, ganz wie das Mädchen, das ich vor über einem Jahr kennengelernt hatte. Sie beugte sich vor, gab mir einen Kuss auf die Fingerspitze und ließ mich noch weiter errötend zurück – zumindest für die wenigen Sekunden, die sie brauchte, um ihr langsam reifendes Vorhaben umzusetzen. Mit wenig Geschick, wie es der Einfluss von Wein so bedingte, richtete sie sich auf. Sie stieß den Tonkrug um, der über den Heuboden kugelte, herab fiel und auf dem Boden zerklirrte. Einen Moment lauschte ich angespannt, ob man uns gehört hatte, uns nun suchen würde. Sofort waren meine Gedanken wieder bei Meister Halon und der drohenden Strafe, doch Althana kicherte nur vergnügt, begab sich zu mir und ließ sich wieder sinken – ein wenig zu schwungvoll vielleicht. In dem Versuch, das, was ich für einen Sturz hielt, abzufedern, griff ich ihre Taille und versuchte sie wenigens ins Heu zu zerren, damit sie nicht mit dem Kopf auf die Dielen schlug. Das gelang mir sogar besser als erwartet. Ich ruhte nun halb auf ihr und der Versuch, mich zu entfernen und auf gebührliche Distanz zu ihr zu gehen, scheiterte an ihrem Arm. Sie hielt mich schlicht und ergreifend fest. „Geh nicht...“ flüsterte sie leise und ich gehorchte ihr aufs Wort. Sie zog mich noch ein Stück herab, ich musste einen Arm neben ihrem Kopf auf den Boden stützen, um nicht gänzlich auf sie zu stürzen. Ich sah an ihrem Hals, wie ihr Puls sich beschleunigte, ich sah an ihren Wangen, wie sie weiter errötete und doch begriff ich die Umstände erst, als sie sich die wenigen Zentimeter empor reckte und mich küsste. Ihre Lippen waren unbeschreiblich. Der Kuss einer Nymphe konnte nicht schöner sein. Warm, weich, anheimelnd – und so süß wie Wein. Ich beschloss in diesen Sekunden, diese Lippen zu lieben, wie ich sie liebte. Meine Hand vergrub sich in ihrem rabenschwarzen Haar, während ich gierig die Küsse von ihren Lippen sog. Wir ließen nicht voneinander ab und heute wage ich nicht mehr zu vermuten, was uns zum aufhören brachte. Wurde uns schwindlig vom küssen oder vom Wein? Sie lächelte mich an, strahlte glückselig. Einen Augenblick schloss sie die Augen, schien einem fernen Traum nachzuhängen. Als Althana sich wieder erhob, schien sie wie verwandelt. Völlig lautlos glitt sie aus dem Stroh herauf und selbst wie die einzelnen Halme aus ihrem Haar und von ihrem Kleid fielen schien nur Teil einer wunderbaren Choreographie zu sein. Sie trat einen Schritt von mir weg und ich glaubte, die Sehnsucht nach ihrer Nähe und Wärme würde mich zerreißen. Ich reckte den Arm – jeder Meter zwischen uns war ein Meter zu viel. Ich wollte noch so viel mehr. Langsam erhob ich mich, wenn auch unwillig, schritt ihr nach und machte mir nicht einmal in dem Moment Sorgen, als sie dicht an die Kante des Heubodens trat. Direkt daneben lehnte die Leiter und es würde bei einem Sturz gefährlich tief hinab gehen. Dennoch trat ich neben sie, wohlwissend, dass ich alles andere als schwindelfrei war. Althana lächelte mir zärtlich zu, als sie den Kopf zur Seite neigte und mich mit einem langen, musternden Blick bedachte. „Komm, ich will dir etwas zeigen“, sagte sie zu mir. Ihre Stimme war kaum mehr als das Hauchen eines lauen Sommerwindes. Ich gesellte mich zu ihr, dicht und Seite an Seite, standen wir dort und starrten hinab in die Tiefe der Scheune. Althana schloss die Augen und ich begann zu rätseln, was sie mir denn würde zeigen wollen. Es brauchte eine Weile, ehe ich erkannte, was sie mir zeigte – und noch viel länger, ehe ich begriff, dass wir beide das Gleiche sahen und das eben doch nicht taten. Unter der dünnen Decke aus Stroh und Heu, das den Hallenboden gleichmäßig wirken ließ, schien sich etwas zu bewegen. Langsam schob sich eine Gravur heraus, drückte sich das Erdreich auseinander, so schien es. Als mir die Erkenntnis dämmerte, gefror mir das Blut in den Adern. Sie tat es. Sie tat das wirklich, es war kein Traum. Selbst der dumpfe Schleier des seichten Wohlgefallens, bewirkt von Wein und Vergnügen, konnte nicht über mein nacktes Entsetzen hinweg täuschen. Althana stand neben mir und allein die Macht ihres Willens manipulierte den Boden dort unten. Ich wusste nicht, welcher magischen Schule diese Kunst entsprang – aber ich wusste zumindest, dass es sich um Magie handeln musste. Sie zauberte. Die Frau, in die ich mich verliebt hatte, die erste Frau, der mein Herz gehörte... stand neben mir und wirkte Magie. Sie trug keinen Siegelring, sie trug keinen Talar, bei Jebis und Mermerus, sie trug gar nichts, das sie jemals als eine Angehörige der Zirkel hätte ausweisen können. Mit einem Schlag schienen unzählige Details ein so viel klareres Bild zu ergeben. Ihre Scheu und Geheimniskrämerei, ihr Misstrauen, die Wildheit in ihrem Blick und ihrem Gebaren,... bei der Heiligkeit des geschriebenen Wortes, hatten mich die Götter denn nur verflucht? Ich stand neben einer Hexe. Und mit einem Schlag fühlte ich mich schrecklich dumm, schwach, klein und schutzlos. Wer konnte schon wissen, wie alt sie wirklich war? Wer konnte sagen, über welch furchterregende Mächte sie gebot? Sie hätte mich mit einem Zwinkern zerschmettern können, oder nicht? Hexen waren Monstrositäten. Selbst wenn sie sich in ein schönes Antlitz kleideten oder sich den Mantel der Unschuld umlegten, irgendwann offenbarten sie ihre grausame Natur. Sie waren unstet, sie waren wie die See, rau, ungebändigt und eine Gefahr für jeden, der darauf ein geregeltes Leben zu führen versuchte. Sie waren das personifizierte Chaos – sie waren Feinde aller Zirkelmagier. Warum war sie hier? Warum, bei Mermerus, hatte sie ausgerechnet hierher kommen müssen? Mir viel Daevorn wieder ein. Er hatte sie zuerst kennen gelernt. Er hatte sie mir vorgestellt, voller Begeisterung, er war vertraut mit ihr umgegangen, hatte ihre Nähe ohne jede Scheu gesucht. Sie verführte erst ihn, dann mich? Welcher Zufall sollte das sein, der eine Hexe zu einem Magierturm brachte, wo sie sich ebenso zufällig die Verbundenheit der einzigen zwei Lehrlinge seit vielen Jahrzehnten erschlich? Nein, es gab keine Chance, das anders zu deuten. Althana war hier, um Meister Halon zu gefährden. Vielleicht wollte sie ihn umbringen, vielleicht Schlimmeres – wer die Magie studiert, der lernt, dass es weit grässlichere Schicksale gibt als den Tod. Wir waren ihre Eintrittskarte. Wir würden ihr dazu verhelfen, den Meister in seinem eigenen Turm zu schlagen. Und Althana selbst? Sie blickte auf ihr Werk und sah ein Herz, das sich in grober Form gegen den Untergrund abhob. Sie sah etwas, das sie für mich geschaffen hatte. Einen Beweis ihrer Zuneigung. Was war ich doch blind gewesen, verbohrt in meinem Wahn. Doch es ist dieser Wahn, der allen Magiern zueigen ist. Das stete Misstrauen, die Furcht und nicht zuletzt, das von den Lehrmeistern eingebläute Wissen um die Bedrohlichkeit einer 'Wilden' wie Althana. Ich kletterte die Leiter herunter, flog über die Sprossen. Althana sprach meinen Namen, zunächst verwirrt, doch schon als ich das Scheunentor erreichte, hörte ich Angst aus ihrer Stimme heraus. Sie versuchte selbst jetzt noch mich zu täuschen, mich einzubinden in ihre heimtückischen Pläne – wie konnte es auch anders sein! Ich stürzte durch das Dorf, panisch, scherte mich nicht um die irritierten Blicke der Feiernden, der Ammen und Bauern. Tumbes Volk, geistlos und primitiv! Wie lange schon mochten sie eine Hexe dulden, ohne diese Gefahr in ihrer Mitte zu ahnen? Narren! Wären sie nur einen Funken gebildeter, hätten sie sie erkennen und alles Übel abwenden können. Sie hätten alles Übel... von mir abwenden können. Ich hatte mich davon geschlichen. Oft genug. Ich hatte den Meister belogen, ich hatte mich auf eine Hexe eingelassen. Da würde viel Strafe auf mich warten, doch in diesen Sekunden, in denen ich durch Ilmwacht jagte, war mir das gleich. Jede Strafe, ich würde sie mit Kusshand annehmen, wenn ich es nur lebend bis zu Meister Halon schaffen würde. Eine Hexe, hier in Ilmwacht! Er würde wissen, wie weiter zu verfahren war. Tatsächlich erreichte ich den Bergpass. Fliegen oder teleportieren konnte sie also nicht – na immerhin etwas! Ich stürzte den Steilpass hinauf, legte mich oft genug der Länge nach hin. Ich erfuhr erst viele Jahre später durch eine Verkettung von Zufällen, was Althana aufgehalten hatte. Während ich in meine Vermutungen verrannt zum Turm hinauf stürzte, hatte sie keinen Versuch unternommen, mich aufzuhalten. Sie saß einfach auf dem Heuboden, ließ die zierlichen Beine herab baumeln und weinte haltlos, weil sie glaubte, ich hätte das Herz, das sie mir anbot, zurückgewiesen. Ihr Herz. Als ich die Tür erreichte, riss ich sie auf, stürzte hinein und schrie lauthals nach Meister Halon. Der alte Mann schlief bereits und stürzte hektisch aus seinem Schlafzimmer, die Kleider nicht gerichtet und liederlich verzogen, während er mich bei den Schultern packte und nach der Art des Unglückes fragte. Da ich allein erschien, vermutete er, Daevorn hätte sich selbst in eine andere Dimension verbannt. Umso überraschter war seine alte, von Falten durchzogene Miene, als ich etwas von einer Hexe in Ilmwacht stammelte. Er zog mich skeptischen Blickes den Gang entlang in sein Zimmer, drückte mich auf einen Sitz und forderte mich auf, alles zu erzählen – von Anfang an. Egal, wie oft ich betonte, das dafür keine Zeit sei, er verlangte es. Also holte ich aus, holte weit aus und beichtete ihm alles. Wie ich es erwartet hatte, war der Meister nicht gerade angetan von meinem Ungehorsam. Nachdem er die bereits erwartete Strafe verhängt hatte, drängte ich ihn, etwas zu unternehmen, ehe Althana uns alle in den Untergang reißen könnte. Der Meister aber zog nur die Brauen grüblerisch zusammen und musterte mich eingehend. „Klingt nach einem hübschen jungen Ding, das seinen Weg noch sucht. Sie hat keinem was getan. Falls sie eine Hexe ist – falls -, dann verdient sie die Gelegenheit, einzusehen, wie wenig Wahl ihr bleibt. Aber für mich klingt es, als würdest du dich nur an Daevorn rächen wollen. Jungchen, es ist nicht klug, sich auf dieses Niveau zu begeben! Rache geziemt nicht der Würde eines Magiers.“ Egal, wie sehr ich ihm auch widersprach – er führte mich stets auf meine eigenen Worte zurück. Warum hatte ich den Turm erneut verlassen? Weil ich Daevorn leiden lassen wollte. In festem Glauben, er hätte mir Althana entrissen, wollte ich ihm eins auswischen. Meister Halon glaubte fest, dass dem immer noch so war – und möglicherweise die gesamte Hexengeschichte nur meiner Fantasie entspringen würde. Vielleicht hätte ich warten sollen. Doch ich wurde so unglaublich geschickt und über alle Maßen diplomatisch aus der Zimmertür komplementiert, dass das völlige Chaos meiner Gefühle nicht einfach nur überhand nahm, sondern obendrein gefährlich umschlug. Ich war außer mir! Man nahm mich nicht ernst, man hörte mir nicht zu, und das, obwohl ich in bestem Wissen und Gewissen vor einer großen Bedrohung warnen wollte. Noch in der gleichen Nacht schrieb ich einen Brief, dessen Zeilen von meiner Wut und meiner Empörung gezeichnet waren. Ich sandte ihn mit Meister Halons Mephiten, dem ich mit meiner Erzählung über eine Hexe und sein mögliches Schicksal in dieser Geschichte genug Angst machen konnte, damit er das Risiko einging. Danach wurde es stiller und stiller. Die ersten Tage waren geprägt von meiner Ungeduld. Ich nahm am Unterricht kaum Teil, ich lernte nur mäßig, starrte ständig aus den wenigen Fenstern und hielt nach diesem kleinen Dämon Ausschau. Ich saß unruhig auf meinem Bett und all meine Gedanken kreisten um Althana, um die Wärme ihrer Küsse, um die Versprechen ihrer Blicke, um die Wildheit ihres Tanzes am Feuer. Ich liebte sie so sehr – wie hatte sie mir das antun können? Jeden Abend sah ich Daevorn, wie er sich davon schlich. Er glaubte, ich würde es nicht bemerken. Ich stellte mich schlafend oder tat, als würde ich völlig in den Büchern versinken. Doch ich warnte ihn nicht. Woher hätte ich wissen sollen, ob Althanas Einfluss über ihn nicht schon zu stark war? Vielleicht gehorchte er ihr schon aufs Wort, dressiert wie ein kleiner Hund? Ich durfte nicht zulassen, dass ich ihr in die Hände fiel. Meister Halon wäre völlig schutzlos – gerade jetzt, wo selbst dieser lästige Mephit weg war. Also harrte ich der Dinge. Aus Tagen wurden Wochen und ich begann zu vergessen. Meine Strafe war Arbeit, zusätzlich zu meinem Unterricht. Ich besaß weder die Zeit, noch die Kraft, alle Erinnerungen beisammen zu halten. Die vermutlich mächtige, vermutlich grausame und vermutlich verschlagene Hexe Althana geriet in den Hintergrund, bis sie meinen Gedanken völlig entglitt. Da war nur noch dieses schöne Mädchen, das ich vermisste. Die Wochen zogen dahin und ich vergaß sogar, warum ich jeden Tag keine Zeit fand, zu ihr zu gehen. Ich wollte es, nahm es mir vor, sobald ich diese Strafe überstanden hätte. Ich würde putzen und sortieren und irgendwann, wenn der Meister mir vergab, würde ich sie wiedersehen und meine Sehnsucht stillen. Ich witzelte sogar mit mir selber, dass ich mir nicht zu viele Strafen erlauben sollte – irgendwann würde sie nicht mehr warten. Meine Gram, mein Ärger und Zorn, meine Verletzung... alles war wie weggewischt. Vergessen durch ein paar Tage Ruhe und viel Arbeit. Hätte ich doch nur gewartet. Die Realität holte mich ein, als der Mephit zurückkehrte. Nach fast drei Mondzyklen. Doch er kam nicht allein. Sieben Herren begleiteten ihn. Ihre Mienen waren wart und wirkten so kalt wie Stahl, ihr durchdringender, bohrender Blick fuhr ab- und geringschätzig über die Einrichtung, über die Bücherei, über Meister Halon, Daevorn... und mich. Zu keinem Zeitpunkt habe ich zuvor oder danach je erlebt, dass Meister Halon derartig... unterwürfig war. Er verneigte sich tief vor dem Fremden, der sich als Anführer dieser Delegation heraus tat. Sein schwarzer Spitzbart unterstrich nur den Eindruck, den jeder dieser sieben Herren erweckte: Linkisch und unsympathisch. Man hätte ihnen nicht einmal einen Stein anvertrauen wollen. „Meister Konstantin.“ stellte sich der Spitzbart mit völlig gleichgültiger Stimme vor, ehe er selbige zu überraschend kraftvoller Lautstärke hob, „Uns wurde zugetragen, dass es in diesem Hause starke Verfehlungen gegeben habe. Die Magi von Ordewey entsenden ihre Grüße – und diese Delegation, der vererbten Brut Gerechtigkeit zu bringen!“ Egal, wie grässlich ich ihn fand – seine Ansprache beeindruckte. Natürlich wusste ich damals nichts mit dem Namen anzufangen. Ordewey, das war... irgendwo auf einer Landkarte. Heute kenne ich mich besser aus. Ordewey gilt als die Quelle der Magier und Hexen. Kein Land beheimatet so viele Schulen und Türme, kein Land bringt so viele hervor, die zur Nutzung der Magie befähigt sind. Allein um ihre eigene Macht und ihren Fortbestand zu sichern, würden die Zirkel eher die restliche Welt verbrennen lassen, als auch nur den Gedanken in Erwägung zu ziehen, Ordewey aufzugeben. Seit Jahrhunderten gilt es als frei von jeglicher Hexerei – die Kontrolle der Zirkel ist so allumfassend, dass die befähigten Kinder noch aus den Krippen geholt werden. Meister Halon schreckte unter den Worten von Meister Konstantin zurück. Eine Rüge unter Magiern sieht in der Regel anders aus als die Schelte des Schmiedes für seinen Lehrling. Allein, dass das Wort 'Verfehlungen' so offen fallen gelassen wurde, sagt schon, dass es mehr als nur einen Verdacht gab. Wie hätte ich ahnen können, dass mein Bestreben, meinem Meister zu helfen, ihn an den Rand der Gesellschaft der Zirkelmagi bringen würde? Wir wurden in unser Zimmer gescheucht, während Meister Konstantin und Meister Halon sich unterhielten. Die verbliebenen sechs Magier harrten in unserem Zimmer aus und nicht zu Unrecht wurden wir das Gefühl nicht los, dass sie hier waren, um uns im Auge zu behalten. Von draußen vernahmen wir kein Wort. Hatten die dicken Wände und Türen uns früher den seligen Schlaf erlaubt, verfluchten wir sie nun. Doch wozu spreche ich noch vom 'wir'? Mit Daevorn hatte ich nicht mehr viel zu schaffen. Gewiss stören wir uns in diesen Minuten beide an den gleichen Dingen, doch wann immer er sich von seiner offensichtlichen Gefangennahme losreißen konnte, traktierte er mich mit bitterbösen Blicken. Er wusste, dass ich für die Gegenwart der Magier verantwortlich war. Als die Tür sich öffnete, traten die zwei verbliebenen Meister ein. Der Herr des Turmes wirkte abgekämpft, erschöpft – als wäre er um Jahrzehnte gealtert. Meister Konstantin hingegen entließ ein zufriedenes Schnaufen, ehe er uns mit seinem Blick durchbohrte und uns zum reden aufforderte. Als ich mich dazu bereit erklärte, trennte man uns und brachte den überraschend schweigsamen Daevorn davon. Ich erzählte auch ihm alles. Jedoch nicht mehr, weil ich glaubte, das Richtige zu tun. Ich hatte diesen Mann hierher geholt, mit einem weitschweifigen Brief. Hätte ich ihm nun gesagt, dass es ein Irrtum sei... er hätte mich leiden lassen. Er hätte mir nicht geglaubt und hätte mir zugefügt, was auch immer Meister Halon so zugesetzt hatte – und ich wäre gewiss nicht fähig gewesen, dieses was-auch-immer so leicht wegzustecken. Ich musste diese Sache, die ich begonnen hatte, durchziehen. Also verriet ich ihm alles. Meister Konstantin lauschte aufmerksam und mit einer starren, gleichgültig erscheinenden Miene. Selten warf er Zwischenfragen ein, deren Natur mir schon hätten deutlich machen müssen, worauf es hinaus laufen würde. Über welche Kräfte gebot Althana? Wie alt war sie? Wie bewusst war sie sich ihrer Magie? Als sie kommentarlos den Raum verließen, sprang ich auf. Einer der Magier blieb zurück und sollte mich scheinbar bewachen. „Was werden sie mit ihr tun?“ fuhr ich ihn schroff an. Offenbar war er es nicht gewohnt, von einem Adepten derartig bar aller Höflichkeiten angefaucht zu werden. Er stutzte, blickte mich mit der gleichen, abschätzigen Art an, ehe er mir erwiderte, dass die Zirkel ihre Möglichkeiten hätten, eine Hexe unschädlich zu machen. Sie würde überleben, wenn sie sich nicht zur Wehr setzte. Man würde das, was sie gefährlich machte, entfernen. Danach würde sie ihr Leben leben können. Das klang doch gar nicht so schlecht, oder? Sie wäre keine Gefahr mehr und ich würde mich angemessen bei ihr entschuldigen, mich um sie bemühen können. Wenn nötig, bis an das Ende meiner Tage – irgendwann würde sie mir schon vergeben. Sie würde einsehen, dass ich keine andere Wahl hatte. Gewiss. Als der Magier aber sah, wie sich meine Züge entspannten, zog ein fast hämisches Lächeln über sein Gesicht und formte es zur Grimasse. „Das ist nichts, was man sich ansehen sollte – nicht freiwillig.“ warnte er mich. Hatte mich eben noch das Gefühl der Erleichterung beflügelt, verspannte sich nun jeder Nerv umso mehr. Was hatte das zu bedeuten? Dieser Magier war eingebildet genug, nicht damit zu rechnen, das ich ihn angreifen würde. Ich rammte ihm mein Knie in die Leiste und quetschte mich durch den Türspalt nach draußen. Ich musste Althana... ja, was eigentlich? Sie sehen? Sie warnen? Ich glaube, ich wollte sie zur Aufgabe bewegen. Ein Teil von mir wusste es einfach, wusste, dass sie sich niemals ergeben würde. Ich jagte auf den Geheimgang zu – und wurde gleich zweifach umgerannt. Zur Rechten stürmte ein Schatten hervor, der sich offenbar weit weniger um mich scherte, dafür aber um den Ausgang, den auch ich zu erreichen beabsichtigt hatte. Zur Linken dagegen warf sich ein zweiter Magier auf mich, der offenbar als Reserve für seinen Kollegen an Ort und Stelle belassen worden war. Ein kurzes Gerangel dreier Leiber ergab sich, bis der Magier mich zu fassen bekam und zu Boden drückte – während Daevorn sich erhob und dem Ausgang entgegen stürzte. „Wenn sie meiner Schwester ein Haar krümmen, bist du ein toter Mann!“ hörte ich ihn kreischen, während er zur Tür rannte. Der Sturz hatte mich mit dem Kopf aufschlagen lassen, ich fühlte mich benommen, betäubt. Langsam sickerten seine Worte in meinen Kopf. Toter Mann... ich war ein toter Mann... wenn... seiner Schwester etwas geschehe. Schwester? Er hatte doch gar keine... Die bitterste Erkenntnis ist nicht jene, die sich anschleicht oder jene, die einen mit voller Wucht trifft. Die bitterste Erkenntnis ist die, die in Kaskaden auf einen Geist trifft und ihn Welle um Welle belehrt, dass seine Verzweiflung hohl ist, weil es eben doch immer noch schlimmer und schlimmer geht. Seine Schwester? Althana? Wie blind war ich doch gewesen! Hätte es mir nicht auffallen müssen? Die Vertrautheit, die mangelnde Scheu trotz ihrer Jugend, das rabenschwarze Haar und dieses wilde Leben in ihren Blicken... ich hatte es einfach nicht begriffen. Althana und Daevorn stammten beide aus Ordewey. Ihre Eltern hatten ihr ganzes Hab und Gut aufgegeben, um ihre Kinder vor den Magiern zu verstecken und außer Landes zu bringen. In ein Land, in dem die Zirkel kaum vertreten waren, kaum Macht hatten – nach Lumiél. Mermerus allein mochte wissen, wie es geschah, doch Daevorn wurde erkannt. Man griff ihn auf und brachte ihn gegen seinen Willen zu Meister Halon, dem seine Ausbildung übertragen wurde. Natürlich war seine Zwillingsschwester nie fern. Wie hätte sie auch den einzigen Blutsverwandten im Stich lassen können, der ihr noch geblieben war? Ich versuchte mich zu befreien. Alle Verwünschungen brachten nichts, so wie die Beschwörungen des Magiers, ich möge doch zur Vernunft kommen, mich nicht beruhigen konnten. Schließlich wuchtete ich meinen Kopf empor. Der Schmerz blitzte durch meinen Schädel, als er die Stirn des Magiers traf. Zum Glück erging es ihm nicht anders. Ich rappelte mich mühsam auf, entkam seinem Versuch, mich zu greifen und rannte Daevorn nach. Ich hastete durch die Tür und eilte den Steilhang herab. Oft genug stürzte ich, schlug mir die Knie auf, scheuerte mit blanker Haut über rauen Fels, zerschliss meine Kutte und jagte doch immer schneller gen Ilmwacht. Wie ausgestorben lag das Dorf in den Mittagsstunden da. Niemand an der Arbeit, die Esse in der Schmiede glomm unbenutzt, kein Hammerschlag war zu hören. Wo waren sie alle? Ich entdeckte die Meute außerhalb des Dorfes. Wie die Schaulustigen hatten sie sich versammelt und wagten sich nicht näher. Die fünf Magier aus Ordewey hatten Althana gestellt und eingekreist. Mit gehetztem Blick wich sie immer weiter zurück, versuchte die Magier im Blick zu halten, die sie langsam umstellten und das Netz zuzogen. „Weib, wehre dich nicht und du wirst leben können!“ dröhnte Meister Konstantins Stimme kalt. Ich glaubte zu hören, dass es ihm doch lieber wäre, würde sie sich wehren. Seine Verachtung triefte aus seinem Blick. Althana aber erwiderte nichts, sie starrte nur in eine Richtung. Zu mir. Es war ein Wechsel zwischen uns. Ich beschwor sie, aufzugeben. Ich beschwor sie, am Leben zu bleiben, damit ich alles in meiner Macht stehende tun könne, um mich zu entschuldigen, um meinen Fehler zu beheben, ich beschwor sie, mir zu vergeben und nun keine Dummheit zu machen. Althana hingegen... selbst die verblasste Erinnerung daran droht mir heute noch das Herz zu zerreißen. Sie war nicht wütend – und hatte doch allen Grund dazu. Ich hatte sie verraten, ich hatte ihr Leben zerstört, weil ich mich zurückgesetzt und von ihrer Geheimniskrämerei betrogen fühlte. Und sie? Ihr Blick war voller Bedauern. Dort, in ihren wilden, dunklen Augen war kein Platz für Hass und Verachtung. Sie liebte mich... selbst jetzt noch... und sie bedauerte, dass das, was zwischen uns war, keine Chance erhalten würde, sich zu entfalten. Sie reckte Meister Konstantin stolz das Kinn entgegen. Ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihre Herausforderung annahm. Sie hob die Hände. Ich könnte selbst heute nicht sagen, ob sie tatsächlich einen Zauber vorbereitete. Doch Meister Konstantin reagierte schneller. Er hatte einfach schon zu viel Erfahrung darin, Hexen zu jagen, zu stellen... und zu bezwingen. Auf die eine oder andere Weise. Er schleuderte ihr seine Zauber entgegen, ließ seine Mitstreiter jeden ihrer Abwehrversuche hinweg fegen, ehe er einen Spruch verwendete, den sogar ich kannte. Die Bannmauer – eine einfache, physische Barriere, unsichtbar und von vorbestimmten Ausmaßen, die bewegt werden konnte. Meister Kontantin erschuf zwei derer – eine vor, eine hinter Althana. Man konnte nicht einmal sehen, wie schnell alles ging. Einen kurzen Augenblick nur zog er die zwei Mauern aufeinander zu – doch die wirkenden Kräfte genügten völlig. Unzählige Knochen in ihrem Leib gaben unter dem Druck nach. Althana war tot, noch bevor ihr Leib zu Boden sank. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was dann geschah. Ein dumpfer Schleier legt sich über mein Gedächtnis und versucht, mir das Schlimmste zu ersparen. Ich sah sie dort liegen, ich hörte mich schreien, sah mich weinen, fühlte mich nicht mehr meinem Körper zugehörig. Irgendwie... losgelöst. Ich sah sie dort liegen und betete zu allen Göttern, deren Namen ich kannte, dass dies nur ein grässlicher Alptraum sei. Ich hörte Daevorn aufschreien, sah ihn auf die Magier zustürmen, wie er ihnen zahllose Zauber entgegen schmetterte. In seinen Händen lag eines der Bücher, mit denen wir immer trainiert hatten. Durch den dumpfen Schleier meiner Wahrnehmung wünschte ich ihm Glück – obwohl ich wusste, dass sein Hass auch mir galt. Wenn er diese Magier hätte töten können, ich wäre der Nächste gewesen. Ich hätte ihm selbst dann Glück gewünscht. Aber natürlich war er chancenlos. Ein Adept, der sich mit gleich fünf Zirkelmagi aus Ordewey anlegte? Da hätte Ceteus auch Mermerus' bester Trinkkumpane sein können! Sie griffen ihn auf. Daevorn wehrte sich. Erst mit Magie, dann mit Händen und Füßen. Ihm war alles egal – seine Schwester, bildschön und leichenblass, ruhte dort am Boden, während ihr Körper langsam seine kostbare Wärme verlor. Sie schlugen ihm die Nase blutig, seine Lippe platzte auf und er wehrte sich weiter. Er teilte übel aus, bis einer der Magier die Geduld verlor und so lange auf ihn einschlug, bis er nicht mehr zu zucken wagte. Man brachte ihn weg, schleifte ihn an den Handgelenken über den Boden in Richtung des Turmes von Meister Halon. Als man ihn an mir vorbei schleppte, blickte er zu mir auf. Die Augen blutunterlaufen, verquollen und die Wangen nass von Tränen, erteilte er mir den ersten und letzten Befehl unserer verwelkten Freundschaft. „Bring sie zurück!“ forderte er mit zitternder Stimme. Noch während er seinen Kollegen folgte, zog Meister Konstantin eine Tasche mit Instrumenten hervor, Kurbeln, kleine Hämmerchen, Nägel – Geräte, die nicht nur grässlich aussahen. Ihnen haftete auch der Geruch von Blut an. Ich sah Daevorn nie wieder. Laut dem Mephiten hatte er 'die Methoden der Zirkel' wohl überlebt. Mehr wagte dieser kleine Dämon nicht zu sagen, sah er mir doch an, dass ein weiteres Wort seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Ich hatte alles zerstört, alles verloren. Den Respekt und die Würde meines Meisters – in Trümmer gelegt. Die erste gute Freundschaft in meinem Leben – zerstört. Meine erste Liebe – tot. Sie hatte mir eine ganze Welt eröffnet, mir ihr Herz angeboten... und ich habe es ihr mit Verrat vergolten. Dieser Tage stirbt niemand, ohne zu bedauern. Kapitel 12: Schuld verjährt nicht --------------------------------- Elben. Es gibt sie in fast allen Ländern der bekannten Welt, in groß, in klein, es gibt sie mit hellen Hautfarben und dunklen Tönen, manche tragen sogar den Grünschimmer der Wälder in ihrem Antlitz. Die Einen behauen und formen das Holz mit Werkzeugen, die Anderen erbitten den Bau aller Dinge, die sie zum überleben bedürfen, von den Waldgeistern. Es heißt, außer den Dryaden hätte kein Volk eine solch starke Bindung zur Natur. Sie nennen sich 'das hohe Volk'. Ein Zeichen ihrer Geringschätzung für die anderen – die 'niederen' Völker. Sie nennen sich das Volk des Lichts um sich abzugrenzen gegen ihre gefallenen, verstoßenen Brüder, die in den Schatten der Welt ihr Dasein als gedungene Mörder und Häretiker fristen müssen. Die Welt kennt die Elben nur zu gut. Unter vielen Völkern sind sie als arrogant verschrien, als blasiert, distanziert, kalt. Sie gelten als ruhig – so ruhig, das ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen und mit Problemen umzugehen, jeden Zwerg in Minuten zur Weißglut treibt. Eine einzige Enklave der Elben fordert mehr Raum für sich ein, als es eine Stadt der Menschen vermag – und bietet dennoch nie so viele Bewohner auf. Die Magier unterscheiden strikt zwischen den Begriffen der Unverwundbarkeit und der Unsterblichkeit. Während ein Unverwundbarer sich bis zu seinem natürlichen Ende bester Gesundheit erfreuen darf, weil ihn weder Krankheit noch Klinge je verletzen werden, werden die Elben niemals den Tod durch ihr Alter erfahren. Sie erwachen im Stadium der Kleinsten, wie jedes Volk, sie wachsen empor, lernen, ihr Geist wird geschult vom Leben und ihren Lehrmeistern – und irgendwann, so scheint es, stoppt dieser Prozess einfach. Natürlich entwickelt ihr Geist sich stetig weiter. Vielen alten Elben, so heißt es, kann man anmerken, dass ihre Geister alt geworden sind, starr und unflexibel. Sie hängen den zahllosen Jahrhunderten der Erinnerungen nach, bedauern den Verlust alter Traditionen, an die sich Jüngere nicht einmal erinnern können. Selbst die langlebigen Zwerge sterben eines Tages an ihrem Alter. Wenn die Falten sich tief in ihre Gesichter graben, ihr Durst nachlässt und ihre Arme nicht mehr die alte Kraft aufbringen, dann wissen sie, das ihre Zeit gekommen ist. Falten zeichnen auch die Gesichter der Alten des hohen Volkes, doch Ereshkigal scheint kein Interesse daran zu hegen, sie zu sich zu nehmen. Damit stellen sie eine Ausnahme dar, etwas Unikates unter all den bekannten Völkern der Welt. Gerade Menschen tragen oftmals ein skurriles, völlig verzerrtes Bild der Elben in sich. Als 'Spitzohren' und ähnliches verschrien, kursieren Geschichten über fortwährende Singerei, über endlose Feste und Tänze, die gleichermaßen ansehnlich wie strikt reglementiert sind. Unter Elben zu leben, so schrieb einst ein Wandersmann, ist so, als würde man sich freiwillig in Ketten legen lassen. Nicht nur ihre Geringschätzung für die kurzlebigeren Völker tragen zu diesem Empfinden bei – es ist auch ihr ausgeprägtes Misstrauen. Bedenkt man sich eine Weile, wie dies Hand in Hand geht, kann man zumindest Letzteres vielleicht verstehen. Ein Mensch sieht ein Problem und handelt gemäß seinem Gusto. Zwerge sehen ein Problem und wägen gut ab, ehe sie handeln. Die Elben aber gehen noch einen Schritt weiter. Von Natur aus unsterblich, haben sie nicht das 'Glück', zu sterben, bevor sie die Konsequenzen ihrer Entscheidungen sehen. Über Jahrhunderte und Jahrtausende kann ein falsch geführter Pfeil, ein unbedacht gesprochener Satz oder auch nur die Entscheidung zwischen dem linken und dem rechten Pfad verheerende Folgen entwickeln. Und sie, die sich als erhoben betrachten, als gesegnet und erkorene Hüter des Gleichgewichtes, wollen sich zweifellos schon ihres Rufes wegen keine Fehler leisten. Falael Aldalithe gehörte zu eben jenen Alten seines Volkes. Sein Geist war starr geworden, bar aller Kompromissbereitschaft. Er hing die Mehrheit seiner Tage den vergangenen Zeiten nach und sah unter müden, aber wachsamen Augen, wie die Geschicke der Welt sich wandelten. Obwohl Falael erst fünfzehnhundert Jahre maß – für sein Volk stattlich, aber längst noch nicht 'alt' -, war sein Geist geprägt von tiefer Melancholie und einer Verzweiflung, die nie Worte fand. Unter seinesgleichen fand er tiefsten Respekt für die Leistungen vergangener Tage, denn in eben jenen Zeiten, denen er nachtrauerte, war er Führer der Elben von Esgaroth gewesen. Er hatte das hohe Volk in Lumiél beschützt und bewahrt, seine Geschicke gelenkt und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Es waren schwierige Zeiten gewesen, voll von schwierigen Entscheidungen, doch hatte er nicht immer sein Volk zu beschützen gewusst? Hatte er nicht alles in seiner Macht stehende getan, um zu retten, was zu retten war? Man zollte ihm Respekt, ebenso, wie man ihn mied. Anerkennung und Distanzierung gingen für den Hausherrn Aldalithe Hand in Hand. Kein Wunsch wurde ihm vom neuen Rat je abgeschlagen und dennoch spürte er in seinem Herzen die Zerrissenheit, die tiefe Kluft, die die Vergangenheit geschlagen hatte. Er harrte auf der einen Seite aus, während sein Volk auf der Anderen stand. Dies ist die Geschichte eines einzigen Tages vor sechshundert Jahren – eines Tages aus Falaels Leben. Am Ende dieses Tages aber sollte von dem Elb, der er einst war, kaum noch etwas übrig sein. Früher Morgen. Man spürte es an der klammen Kälte, die es mit sich brachte, wenn Tau und Dunst sich vereinten. Ein dicker, kalter Neben stieg von den Mooren her auf und schickte sich an, den Boden zu verschlingen. Sollte er nur – Esgaroth lag sicher. Nicht nur, weil die Häuser der Hohen sich in den Kronen der Bäume bargen, sondern darüber hinaus, weil unzählige Jäger das Gebiet gut im Auge behielten. Seit Jahrhunderten wurden sie ausgebildet, kannten jeden Baum, jeden Zweig. Ihren wachsamen Augen entging nichts und diese Vorsicht, gepaart mit ihrer Kompromisslosigkeit gegenüber Eindringlingen, hatte den Elben von Esgaroth schon seit vielen Jahrhunderten friedlichen Schlaf beschert. Nicht aber für Falael. Die Alten, so sagt man sich unter seinem Volk, brauchen weniger Schlaf. Er bezweifelt das. Nacht für Nacht legt er sich zu Bett, legt sich zu seiner Gefährtin und seiner Tochter, schließt die Augen und schläft wenige Stunden, bis die Nacht ihn mit Dunkelheit, Kälte und der Enge seiner Gedanken wieder unter den Wachenden willkommen heißt. Er sieht Gesichter, spürt den Schweiß auf seiner Stirn, wenn er einen bestimmten Satz spricht. Manchmal, da schreckt er regelrecht auf. Zeiten, in denen Kythaela ihn beruhigen musste. Dann sprach sie mit ihrer sanftmütigen Stimme auf ihn ein und beschwor, dass es nur ein Traum war. Dabei war es viel mehr als das. Es waren Erinnerungen. Auch diese Nacht erwachte Falael, weil die vergangenen Zeiten ihm keine Ruhe ließen. Viele Jahrzehnte war es schon her, dass er zu bedauern begonnen hatte. Er bedauerte dabei keineswegs die Entscheidungen, die er getroffen hatte – er bedauerte nur, dass Elben nicht ihres Alters wegen scheiden konnten. Hätte er sich das Leben genommen? Niemals. Es gab unter den Ihren kaum ein größeres Verbrechen, als ein Leben zu nehmen, wenn es unnötig war. Zumal es Leilatha gab. Sie war noch zarte sechzig Jahre alt, ungestüm und voll der Ungeduld, die der Jugend zueigen war. Wie hätte er sie in einem solch empfindlichen Stadium ihres Lebens allein lassen können? Die Zeiten waren merkwürdig gnädig gewesen. Schon vor fünfzig Jahren hatte es begonnen. Afamraíl, ein entfernter Cousin, war verschwunden. Die Gemeinde der Elben war nie groß genug gewesen, um zahlreiche Verluste zu verkraften. Kriege hatten für die Elben daher immer schon eine gesonderte, besonders schwerwiegende Bedeutung. Aber das, das war kein Krieg. Zumindest hatte es nicht so begonnen. Afamraíl war als Händler tätig gewesen, als er verschwand. Im Dienste des neuen Königs hatte er sich gut bezahlen lassen, um zwischen den Menschen und den Elben zu verhandeln. Bessere Preise für elbische Waren, weniger Steuern im Gegenzug. Es schien zum Nutzen aller. Lange glaubte Falael, sie hätten sich vielleicht geirrt. Menschen waren so schrecklich kurzlebig und daher so unglaublich impulsiv. Sie handelten, ohne die Folgen ihres Handelns gründlich zu überdenken. Sie waren kaum mehr als Eintagsfliegen – sie mussten nur selten erkennen, welch weite Kreise ihr Tun zog. Vielleicht hatte ein aufgebrachter Ehemann Falael erschlagen, weil er nach dessen Ansicht zu höflich zu seiner Frau gewesen war? Vielleicht hatte der König es sich anders überlegt? Bei diesem Volk konnte man es einfach nicht wissen. Natürlich hatte Afamraíls Verschwinden Folgen. Es wurde eine Beschwerde beim König eingereicht, es wurde eine Untersuchung angestrengt, die Stadtwache bemüht. Unzählige Jäger wurden ausgeschickt, den Spuren Afamraíls zu folgen, doch die Ergebnisse waren... ernüchternd. Bis nach Varakas konnte man seine Spur zurück verfolgen, doch dann? Sie verlor sich im Sand, wie die Menschen zu sagen pflegten. Zufrieden war damit niemand gewesen. Seine Verwandten am wenigsten. Man hatte den Rat beschworen, zu handeln, die Menschen unter Druck zu setzen. Sie wussten etwas, sie mussten einfach! Falael hatte damals schon seine Zweifel geäußert. Es sah den Menschen nicht ähnlich, jemanden verschwinden zu lassen. Ihn ausweiden und wie Barbaren auf Spieße gesteckt durch die Provinzen tragen – ja, das wäre dem schon nahe gekommen. Oder ihn in Einzelteilen in die Enklaven der Elben senden, um dem hohen Volk deutlich zu machen, auf welchem Platz der neue König sie sehen wollte. Aber Afamraíl hätte nützlich für sie sein können. Als Verschwundener gab es keinen Druck von ihm, keinen Schock, nur... Fragezeichen. Danach wurde es wieder ruhig, lange Zeit sogar – nach Maßstäben der Menschen. Fünfzehn Jahre lang starb kein Elb, ohne dass dem Rat nicht bekannt geworden wäre, wie er den Tod fand. Dann aber starb der Hausherr Ondoren. Ein alter Veteran, der sich wenige Freunde, aber viele Neider gemacht hatte. Er galt als verbittert und zynisch – was für einen Elb ungewöhnlich war. Man hatte ihn in seinem eigenen Haus gefunden, am Arbeitstisch sitzend über den Plänen zur Erweiterung der Siedlung in Nephilim. Die Pergamente waren unlesbar von seinem Blut. Es hatte den Tisch getränkt, den Stuhl, seine Kleider, die Dielen des Bodens, es war bis in die Wurzeln des Baumes gedrungen, der sein Haus trug. Jemand hatte ihm den Kopf und beide Hände abgeschlagen und fein säuberlich, wie eine Trophäe, die nachlässig vergessen wurde, auf dem Tisch aufgereiht. Ein Aufruhr ging durch das Volk, Bemühungen wurden angestellt, doch selbst die besten Jäger fanden keine Spur, die verwertbar war. Nicht auf dem Boden, nicht im Geäst, nicht einmal im Zimmer des Hausherrn Ondoren selbst. Die Unruhe legte sich nicht. Erst Afamraíl, den die Elben trotz der fünfzehn vergangenen Jahre längst noch nicht vergessen hatten, und nun der Nächste. Gab es Grund zur Sorge? Fünfzehn Jahre waren kein Zeitraum für einen Menschen. Keine dieser Eintagsfliegen hätte die nötige Ausdauer und Zielstrebigkeit, um eine Fehde so lange zu treiben und zu planen. Vielleicht ein Zwerg, der den Verlust eines Verwandten in der Viervölkerschlacht bei Samara nicht hatte verkraften können? Diese Vermutungen führten zu nichts – außer der Abkühlung des Verhältnisses zwischen Elben und Zwergen. Da das ohnehin nie sonderlich herzlich gewesen, lief es nunmehr auf einen beinahe-Stilltand hinaus. Weitere zehn Jahre zogen ins Land und die Unruhe schien sich nicht legen zu wollen. Es war kein Gespräch, das aller Tage zum Vorschein kam, doch das Thema fand alle paar Monate unter vorgehaltener Hand seinen Platz und zirkulierte im hohen Volk Lumiéls. Man fürchtete den nächsten Anschlag, den nächsten Verschwundenen, den nächsten Toten. Ein Geist ging um, der spurlos verschwand – das war die eigentliche Bedrohung. Ein Zwerg war nicht achtsam und kundig genug, so vorzugehen, dass selbst die besten elbischen Jäger aufgeben mussten. Was also trug sich hier zu? Es gab Gerüchte über einen Fremden, der vor einigen Jahren mit einem Piratenschiff nach Sundergrad gekommen sei. Hier und da sähe man ihn in Tavernen, stillschweigend wie eine Mauer in der dunkelsten Ecke sitzend, während er auf etwas zu warten schiene. Von Zeit zu Zeit würde er Fragen stellen – Fragen, die das Gerücht überhaupt erst in die Enklaven der Elben getragen hatten. Fragen über elbische Häuser, über Namen, über... Aufenthaltsorte. Die meisten Menschen waren nicht fähig, darüber Aussagen zu treffen. Elben gingen sparsam mit Informationen um – nicht jeder dahergelaufene Händler musste ihren Familiennamen erfahren oder überhaupt wissen, mit wem er es zu tun hatte. Afamraíl ergab plötzlich als erstes Ziel überaus viel Sinn – als Kontakt zwischen Elben und Menschen war er zweifellos am leichtesten aufzuspüren gewesen. Und der Herr des Hauses Ondoren? Man bräuchte nur Zwerge nach ihren Kriegsgeschichten fragen... und diese kleinen, raffgierigen Bärte auf Beinen sah man oft genug in den Tavernen der Menschen, wo sie sich über die Qualität des Bieres das Maul zerrissen und selbiges dennoch mit dem Verspotteten bis zum Anschlag füllten. Wieder wurden Forderungen laut. Doch der Rat wehrte sie ab – das hohe Volk würde gewiss keinen Gerüchten aus den Kehlen betrunkener Kurzlebiger nachgehen. Jedwede Untersuchung in der Richtung sei verboten, man wolle das ohnehin gespannte Verhältnis zum Königshaus nicht weiter verschlechtern, indem man möglicherweise unnötiges Blutvergießen provoziere. Unzufriedenheit machte sich breit. Falael hingegen, obgleich er die Entscheidung des Rates ebenso für falsch hielt, wartete einfach ab. Es waren zu wenige Informationen, um etwas Sinnvolles aus alledem schließen zu können. Selbst als Yalathanil verschwand – ein Angehöriger aus dem Hause Aldalithe und damit entfernt dem Blute Falaels zugehörig -, verweigerte der Rat eine Untersuchung der Gerüchte. Man bemühte sich, Yalathanil zu finden und tatsächlich barg man zumindest Spuren. Die Jäger verfolgten das dünne Etwas an Informationen, das sich ihnen bot, bis in entlegene Sumpfgebiete. Sie fanden Yalathanils Köcher, einen Bogen, dessen Holz von einer Klinge gespaltet worden war und mehrere Pfeile, die sich blindlings in Baumrinden gefressen hatten. Ein Kampf musste stattgefunden haben – von von dem Vermissten selbst fehlte weiterhin jede Spur. Das Moor habe ihn sich geholt. Er hätte wohl mit den Pfeilen versucht, sich zu retten – das Seil, das daran gebunden war, sei bei seinem Versuch, sich zu retten, wohl abgerissen. Es war längst deutlich, dass der Rat den eigenen Worten nicht mehr glaubte. Aber was hätten sie ihrem Volk anderes sagen sollen? Sie konnten keinen offenen Krieg mit den Menschen riskieren, das würde Hunderte oder Tausende töten, es würde ihr Volk nachhaltig schwächen, wenn nicht sogar vernichten. Und bisher waren es ja auch nur zwei Verschwundene und ein Toter... Wann aber waren es genug, um ein Handeln zu rechtfertigen? Fragen wie diese wurden laut und verhallten ohne Antwort des Rates. Man war sich nicht länger einig. Falael hingegen harrte aus. Afamraíl, Ondoren, Yalathanil... es war noch nicht deutlich, aber eine erste Ahnung beschlich den Elb. Er sprach darüber mit niemandem, wollte seine ohnehin wacklige Stellung im Sozialgefüge Esgaroths nicht noch weiter zum schlechten verkehren. Wenn er nun große Worte speien würde und der Rat ihn daraufhin um Beweise ersuchen würde, dann wäre es vorbei mit dem Respekt, den die alten Tage ihm noch einbrachten. Nein, er brauchte mehr Informationen. Und er sollte sie bekommen. Von Afamraíls Verschwinden an bis zu jenem frühen Morgen, da er vor allen anderen Elben Esgaroths erwachte, vergingen fünfzig Jahre. Eine ganze Generation der Menschen wurde geboren, wuchs auf, alterte und starb. Dreiundzwanzig elbische Leben kostete diese Spanne. Dreiundzwanzig Namen, die sich in das Gedächtnis und den Zeitgeist der Elben Lumiéls einbrannten. Fünfzehn Familien, die Verluste beklagten und Trauerfeiern ausrichten mussten. Dabei waren sie, nach Falaels Meinung, noch gut weggekommen. Die Familie Latholeas war vollständig ausgelöscht worden – Nanaletha und ihre zwei Brüder lagen grässlich entstellt auf dem Boden ihrer Gemächer. Aber wer immer ihnen das zugefügt hatte... die fünf Wachen, die um das Haus postiert waren, hatte der Angreifer am Leben gelassen. Was bedeutete das? Jemand ging zielgerichtet vor. Es war kein verschlagener, langfristig angelegter Plan zur Ausrottung der Elben. Jemand hatte es auf ganz bestimmte Namen, Gesichter und Familien abgesehen. Und Falael wusste nun, was sie alle verband. Noch immer schwieg er sich aus, weihte niemanden ein. Sein Wissen hätte Leben retten können – vielleicht zumindest. Aber er hatte sich ausgeschwiegen. Warum? Nein, um Respekt ging es hierbei schon lange nicht mehr. Er wollte wieder friedlich schlafen können. Er wollte die Augen schließen, seine Tochter Leilatha lachen hören, mit seinem Weib intime Momente der Verbundenheit teilen und sich wohl fühlen. Er wollte schlafen können, eine ganze Nacht, am besten noch viel länger. Was war er über die Jahrhunderte doch müde geworden! Zu sehen, wie so viele gute Seelen für das Wohl ihres Volkes und die Geschicke der Welt arbeiteten, nur damit so kurzsichtige Wesen wie die Menschen oder schlimmer noch, 'Zufälle', alles wieder rückgängig machten. Als würden die Alven nicht wollen, dass man ihnen ins Handwerk pfuschte. Falael ging im tiefsten Maße egoistisch vor, das versuchte er sich nicht zu verheimlichen. Er tötete seinesgleichen – indirekt. Aber das war nun einmal der Preis, den er zu zahlen hatte. Der Preis, sein Volk gerettet zu haben. Als er der Gedanken und Erinnerungen überdrüssig war, erhob sich die lange, dünne Gestalt im Bett und schlug die dünne Decke aus gewobenen Fasern zurück. Kythalea schlief selig. Ein Anblick, der ihm das Herz wärmte. Sie war so schön, so jung in ihrem Herzen – sie war der Grund, dass er noch nicht aufgegeben hatte. Langsam erhob Falael sich aus dem Bett. Seine Gefährtin wandte sich um, tastete im Schlaf nach seinem Leib und fand ihn nicht. Ein Augenblick des Mitleides und Zögerns, doch er würde nicht zu ihr zurückkehren. Er musste sie beschützen, das hatte er bei ihrer Weihe geschworen. Leilatha ebenso – wie könnte er wagen, ihr junges Leben in Gefahr zu bringen? Seine Finger versteiften sich, als sie das Holz des Fensterbrettes umschlossen. Unter den dicken, schweren Vorhängen wehte der Wind ungehindert von Glas oder Holzläden in das Zimmer. Falael schob sie ein Stück auf, genoss die Klarheit, die die Kühle in seine Gedanken trug. Er musste sie beschützen, um jeden Preis. Fast war ihm, als könne er die Zukunft sehen. Dreiundzwanzig Namen, dreiundzwanzig und einer noch. Falael Aldalithe, er fehlte. Dessen war sich der alte Elb sicher. Ein Gefühl von Beklemmung befiel ihn. Unbehagen, ganz so, als würde ihn jemand beobachten. Er wandte sich um, seine elbischen Augen tasteten ohne jede Mühe in der fahlen Dunkelheit des Raumes das Zimmer ab. War es schon so weit? War er hier? Nein. Nichts. Doch glaubte er, den Blick nun im Rücken zu spüren... vom Fenster her? Erneut warf er einen Blick in die Wälder Esgaroths. Die Kronen lagen friedlich da, kein Wind wagte auch nur ein Blatt zu zupfen. Tief unten aber, da war kein Boden. Das Moor sandte den Morgennebel, um den Wald bis auf halbe Höhe der Bäume zu verschlucken. War er dort? Starrte er zu ihm herauf? „Du siehst Gespenster.“ flüsterte Falael resignierend. Er zog den Vorhang wieder zu – seine Gefährtin sollte ihren Schlaf genießen können. Er selbst hatte noch viel zu tun. Seine Schritte trugen ihn zur Tür. Er legte sich sein Gewand an, trat hinaus in den taufrischen Morgen. Geschäftige Schritte führten ihn über die brückenähnlichen Konstruktionen und stabil miteinander verwachsenen Äste zu seinen Zielen. Die Kammer des Rates war sein erster Anlaufpunkt, doch die Stadt schlief noch. Also kehrte er in den nördlichsten Zipfel der Stadt ein. Hier erhob sich ein Baum, der in zwanzig oder dreißig Jahren ein neues Haus tragen sollte. Noch ließ man ihm Zeit, sich zu stärken. Es sollte Leilathas Haus werden. Vierzig Jahre würde ein Baumeister sich mit den Waldgeistern und der Essenz des Baumes verständigen, um das Haus zu formen. Wenn es fertig war, wäre Leilatha nicht nur bereit, auszuziehen – sie wäre auch bereit, den Bund einzugehen. Vielleicht fände sie sogar einen Gefährten, der ihm zusprechen würde. Für Falael ein schöner Gedanke, obgleich es ihn bekümmerte, dass er diese Zeit wohl nicht mehr erleben würde. Fünfzig Jahre seit dem ersten Verschwundenen, aber wer immer unter den Elben wütete, lernte sich immer sicherer zu bewegen. Es verging zusehens weniger Zeit bis zum nächsten Anschlag. Vor einem Mondzyklus erst hatte es Rhespen getroffen, einen jungen Elb aus Xeranor. Falael stand dort, wo die Stadt endete und die wilde Natur begann. Seine Füße balancierten völlig mühelos an der Kante des letzten Astes, während sein Blick den Baum abfuhr, der einst ein neues Heim bergen sollte. Stark, groß und breit war er. Er würde Halt für ein großes und stabiles Haus bieten, vielleicht sogar größer als das, dass er selbst dereinst bezogen hatte und noch immer bewohnte. Falael setzte sich, ließ die Beine ins Leere baumeln und hing seinen Gedanken nach. Gedanken über Esgaroths Zukunft, das Schicksal der Elben, über die Zukunft seiner Gefährtin, seiner Tochter – über die Zukunft des Rates. Was würde geschehen, wenn auch er verschwand? Schlimmstenfalls würde der Rat dann anfangen, eine Entscheidung zu treffen. Es würde Krieg geben, unzählige Tote. Das galt es natürlich zu verhindern. Eben jene Überlegungen weckten eine gewisse Geschäftigkeit in Falael. Er erhob sich wieder, wandte sich von Leilathas zukünftigem Heim ab und ließ seine Füße ihn erneut zur Ratskammer tragen. Tatsächlich hatte die reine Grübelei fast zwei Stunden ins Land ziehen lassen, sodass Esgaroth langsam erwachte. Der Rat, allzeit geschäftig wie die Vögel im Frühling, war bereits wieder dabei, die Geschicke der Elben zu besprechen. Seit einigen unschönen Zwischenfällen mit unruhigen und aufgebrachten Bürgern, in deren Zusammenhang völlig ungerechtfertigt Falaels Name fiel, wagte der alte Elb es nicht mehr, dem Rat persönlich unter die Augen zu treten. Also ging er vor der Tür auf und ab, geradezu ungeduldig. Er ignorierte die neugierigen Blicke der wenigen, die zu dieser Zeit seinen Weg kreuzten, ignorierte ihre Wünsche eines guten Morgens oder quittierte sie bestenfalls mit einem Brummen. Da hatte er fünfzehnhundert Jahre gelebt und nun beschlich ihn das Gefühl, ihm würde die Zeit davon laufen! Es dauerte seine Zeit, bis der Rat eine erste Pause einlegte. Falael hielt sich hinter den kunstvoll gewachsenen, verzierten Türen der Kammer und beobachtete die Persönlichkeiten, die selbige verließen, um frische Luft zu atmen und der Enge der Politik zu entkommen. Erst als ein bestimmtes Gewand auftauchte, trat er eilig einen Schritt vor und klopfte jenem kurz auf die Schulter. Das Ratsmitglied war ein alter Bekannter Falaels und schuldete ihm noch einen Gefallen – immerhin hatte der alte Elb ihn vor über dreihundert Jahren mit seiner heutigen Gefährtin bekannt gemacht. „Falael! Was treibst du dich zu solchen Zeiten hier herum?... Du siehst besorgt aus. Kann ich etwas für dich tun?“ grüßte ihn Talearan. Immer schon hatte er diese Gabe gehabt, die Mimik und Gestik eines Lebewesens auszulesen wie die kalligraphischen Zeilen eines guten Buches. Falael bewunderte diese Gabe – sie war ihm selbst nicht zueigen. Dennoch musste er mit einem bitteren Lächeln den Kopf schütteln – was er sich zu solchen Zeiten hier herumtreibe? Es war nur zu gut zu hören, was wirklich hinter dieser Frage stand. Talearan war unsicher. Er war noch nicht lange im Rat und ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, man könne ihn hier sehen, zusammen mit dem Mann, der – völlig zu Unrecht, was aber keine Rolle spielte – ständig in einem Atemzug mit den Unruhestiftern genannt wurde. „Tatsächlich könntest du das. Sei versichert, es wird dich nicht viel kosten und danach... sind alle Schulden beglichen.“ bot Falael großmütig an und versuchte, nicht erzürnt zu sein, als Talearan geradezu übermütig zu strahlen begann. Freunde legten nicht jedes Wort und jeden Gefallen auf eine Goldwaage und waren bestrebt, immer einen Ausgleich zu erzielen. Zumindest wusste Falael damit, woran er bei jenem Herrn Ratsmitglied war. Oder besser, woran er bei ihm jetzt war – immerhin hatte sich das früher einmal anders dargestellt. „Ich möchte, dass du Kythaela und Leilatha heute aufsuchst und zur dir einlädst. Bitte sie, bei dir zu übernachten. Lass dir etwas einfallen, einen Vorwand – sowohl dafür, dass sie übernachten, als auch dafür, warum ich daran nicht teilhaben sollte. Meinetwegen erkläre ihnen, dass du versuchst, die Gerüchte um mich zu zerstreuen, es aber einen falschen Eindruck erwecken könne, wenn ich dabei wäre. Ich bin mir sicher, dir fällt etwas ein.“ Natürlich war Talearan neugierig – trotz seiner Befürchtungen, die Achtung der anderen Ratsmitglieder zu sehen. Ein Elb wie Falael, der so sehr mit seiner Gefährtin verbunden war und sogar das Glück der Elternschaft genoss, was könnte den dazu bringen, seine Familie los werden zu wollen? Es musste mehr dahinter stecken! Doch wie Talearan es erwartet hatte – wenngleich dennoch zu seinem Verdruss -, erwies sich Falael als sehr unwillig, Auskünfte zu erteilen und weitere Details heraus zu geben. Klar wurde dem Ratsmitglied lediglich, dass es Falael ernst war, dass es zumindest seiner Meinung nach von größter Wichtigkeit war. Ja, der alte Elb sah irgendwie verhärmt aus, besorgt und... angespannt. Noch während er Falael seine Bitte zusicherte, notierte sich Talearan, heute Abend zwei Wachen vor seiner Tür abzustellen. Dieser Tage waren viele nervös und fürchteten um ihr Leben, aber Falael gehörte in der Regel nicht zu jenen, die grundlos besorgt waren. Vielleicht galt es, diese Sorge zu teilen. Falael dagegen bedankte sich aufrichtig. Er sah Talearan zu, wie er ihm den Rücken kehrte und seinen Weg ging. Der alte Elb dagegen trat aus dem Schatten der Tore der Ratskammer hervor, umrundete diese und betrat die Kammer. Nun, da sie leer war, gab es keinen Blick, den er zu scheuen hatte. Die Pause würde eine Weile andauern, genug Zeit, sich umzusehen und... in Erinnerungen zu schwelgen. Die lange Tafel, deren Beine sich knorrig erhoben und zu einer breiten, rindenlosen Fläche auswuchsen. Die Sitze, die auf gleiche Weise aus dem Boden wuchsen, die wundervollen Täfelungen, die Ranken, die eng umeinander geschlungen einer gewaltigen, geschlossenen Blüte gleich Wände und Decke gleichermaßen bildeten. In diesem Raum hatte er vor vielen vielen Jahren gestanden, Befehle erteilt, Rat empfangen und die Geschicke Tausender gelenkt. Er bedauerte, diese Aufgabe abgetreten zu haben. Natürlich hatte das seine Gründe gehabt – dennoch war sein Leben nach dem Vorstand des Rates merkwürdig leer gewesen. Vielleicht, so hatte Falael lange befürchtet, war er den Menschen gar nicht so unähnlich. Vielleicht hatte er sich an die Macht gewöhnt, wollte sie inne halten, mehren? Auch solche Gedanken ließen ihn manche Nacht aufwachen. Als er glaubte, die Ratsmitglieder zu hören, verabschiedete er sich. Er trat hinter den einen Stuhl am Kopf der Tafel, strich mit den Fingerspitzen darüber, er spürte die Maserung des Holzes, die Altersringe des urtümlichen Baumes, der so freundlich war, ihnen die Ratshalle zu bieten. Letztlich verließ er die Halle gerade rechtzeitig, nickte fast demütigen Blickes den einkehrenden Ratsmitgliedern zu, die ihn mit teils gleichgültigen, teils gereizten Blicken betrachteten. Seine nächsten Schritte waren nicht minder wichtig. Er suchte alte Freunde der Familie Aldalithe auf. Er informierte einen Jugendfreund, dass er sich im Ernstfall gut um seine Gefährtin kümmern soll, gab Leilathas Amme Bescheid, dass sie ein Auge auf seine Tochter haben müsse. Er benachrichtigte viele Bekannte und Freunde – und ließ einen jeden von ihnen im Dunkel. Keine Antworten, keine Erklärungen. Dafür war kein Platz. Zu gegebener Zeit, so meinte er, würde sich jede Frage ganz von allein klären. Das war zwar im Sinne des elbischen Volksgeistes, stimmte aber keinen ruhiger. Meist waren es sorgenschwere Blicke, die ihm an diesem Tag folgten. Doch je mehr der Punkte auf seiner gedanklichen Liste er abstrich, umso ruhiger wurde Falael selbst. Es war fast, als würde er eine Reise vorbereiten. Du, hüte mein Kind. Du, achte auf mein Weib. Du, halte mein Haus ordentlich und sauber. Ja – als würde man eine Reise planen. Wohin es ging, das war noch nicht ganz klar. Aber zumindest würde mit dem Beginn seiner Reise eine lange Kette von Grausamkeiten endlich enden. So war er auf seine alten Tage seinem Volk doch noch ein letztes Mal dienlich – er gab ihnen die Ruhe und den Frieden zurück, der ihnen inne wohnen sollte. Vielleicht nicht sofort, aber die Jahrzehnte nach ihm sollten ihm Recht geben, da war er sich sicher. Leider gelang Falaels Plan jedoch nicht zur Gänze. Leilatha spürte ihn gegen Nachmittag auf, als er gerade das Haus seiner Schwester verließ. Sie rief ihn Vater, rannte zu ihm und sprang ihm in die Arme. Falael fing sie auf, wirbelte sie ein, zwei Mal im Kreis, ehe er sie wieder absetzte. Sie ernteten skeptische Blicke – nicht zum ersten Mal. Vielleicht hatte er sie ein oder zwei Mal zu oft mit nach Westen in die Lande der Menschen mitgenommen, aber dennoch musste er diesen Kurzlebigen zugute halten, dass sie eine herzlichere Art an sich hatten, als es unter seinesgleichen der Fall war. Leilatha hatte sich diese Wesenheit scheinbar ebenso als positiv angenommen. „Du solltest doch gar nicht hier sein! Hast du denn keinen Unterricht?“ rügte Falael streng, doch seine Tochter strahlte über das ganze Gesicht. Voll inbrünstigem Stolz erzählte sie ihm von dem Wettbewerb, den ihr Lehrmeister ausgerufen hätte. Der Schüler, der zuerst einen Pfeil direkt ins Ziel lenke, hätte den restlichen Tag frei – und natürlich hatte sie gewonnen. Eines Tages, so fing Leilatha vorsichtig an, würde sie eine Verteidigerin ihres Volkes werden wollen. Falael mied dieses Thema – es führte zu oft zum Streit. Die Elben waren kein aggressives Volk. Sie bildeten keine Soldaten aus, keine Krieger und Söldner. Sie schulten Verteidiger, die bereit waren, mit den nötigen Mitteln ihrem Volk zu Hilfe zu eilen – sei es mit Worten, Magie, Schwert oder Bogen. Ganz im Geiste der Elben, war ihnen untersagt, Leben zu nehmen, wenn es nicht absolut notwendig oder unausweichlich war. Leilatha hatte kein Interesse an Kampf und Krieg, aber wie ihr Vater schon vor ihr, wünschte sie ihrem Volk zu dienen. Eben diese Stelle machte es für Falael oftmals schwer, ihr zu widersprechen. Er wollte nicht, dass sie sich dafür ausbilden ließ, konnte ihr aber auch nicht versprechen, dass es dereinst im Rat einen Platz für sie geben würde. Gewiss gäbe es noch andere Wege, ihrem Volk zu dienen. Die Baumeister, die mit den Wäldern sprachen, um die Enklaven zu vergrößern, brauchten stetig neue Anwärter. Die Jäger konnten eine so geschickte Schützin auch zweifellos gut gebrauchen. Doch das waren Dinge, von denen seine Tochter nichts wissen wollte. Also wich er auch dieses Mal aus. Er lobte ihren Erfolg im Wettbewerb und ließ sich von Leilatha dazu überreden, mit ihr eigene kleine Wettbewerbe auszutragen. Sie warfen Klingen aus Knochen, schossen mit dem Bogen und übten sich darin, wer zuerst vom einen Ende der Stadt zum anderen käme. Natürlich geziemte sich das nicht, solch einen Radau zu veranstalten – aber Falael scherte sich dieser Tage wenig darum, was sich gehörte und was nicht. Er genoss die Zeit mit seiner Tochter auf die Weise, die ihm die Beste schien. Als es langsam Abend wurde, verweilte sie noch neben ihm. Nun saßen sie zusammen am Nordende Esgaroths und blickten gemeinsam auf den Baum, der erst noch wachsen musste, ehe er Teil der Stadt werden würde. Sie schwiegen und niemanden störte das. Leilatha lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters, seufzte schwer und flüsterte leise einen Dank an Phylia, dass der Wald ihrem Volk ein solch friedfertiges, gerechtes Leben ermögliche. Falael dagegen war erfüllt von Stolz, zu sehen, zu hören und zu spüren, was für eine großartige Tochter er da herangezogen hatte – wenngleich das auch bei Leibe nicht allein sein Verdienst war. „Leilatha, da bist du ja!“ erklang eine Stimme. Beide aus dem Hause Aldalithe wandten sich um, nur um das Ratsmitglied zu erblicken. Talearan war gekommen, die Bitte Falaels zu erfüllen. Seine Gefährtin hatte er bereits auf dem Markt vorgefunden und überreden können, nun war es aber an der Zeit, Vater und Tochter zu trennen. „Deine Mutter wünscht dich zu sehen. Ich versicherte, dich zu finden – sie wartet bei mir daheim!“ erklärte Talearan freundlich. Gelogen war das nicht – nur geschickt ausgedrückt. Leilatha, die noch zu jung war, um ein Gespür für diese Tricksereien zu haben, nickte ergiebig, wie es sich gegenüber einer Respektsperson gehörte. Sie erhob sich zusammen mit Falael, doch als sie gehen wollte, hielt der alte Elb sie am Handgelenk zurück. Verwirrt flüsterte sie seinen Namen, doch die damit zum Ausdruck gebrachte Frage ignorierend, trat Falael an sie heran, fasste ihren Kopf in seine Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Überbringe deiner Mutter Grüße. Ich habe noch etwas zu erledigen.“ trug der alte Elb ihr auf, „Und nimm das. Es ist... nur eine Kleinigkeit.“ Derartige Bekundungen von Zuneigung waren unter den Elben zwar nicht unüblich, sie derartig öffentlich auszutragen hingegen schon. Demgemäß errötete Leilatha sogar ein Stück weit, unsicher, ob sie sich nun bei ihrem Vater bedanken oder beim Ratsmitglied beschämt entschuldigen sollte – der Effekt verstärkte sich nur noch, als Falael ihr auf seine letzten Worte hin eine fein verzierte Haarspange aus Ebenholz in die zierlichen Hände drückte. Ein gutmütiges Lächeln ihres Vaters begleitete dieses Geschenk. „Ist schon gut.“ beschwichtigte Talearan, als hätte er die Gedanken der Jugendlichen lesen können. Sie nickte zögerlich und ging ihrer Wege. Nur einen Moment blieben Falael und sein ehemaliger Freund allein in der aufziehenden Abenddämmerung zurück, blickten einander tief in die Augen, erforschten das Wesen des Anderen. Talearan wurde aus dem Alten einfach nicht schlau – eine Wand, eine Blockade. Er verbarg etwas, das er für wichtig hielt, wollte aber kein Wort darüber verlieren. Falael dagegen sah, dass Talearan, egal was er von ihm selbst nun hielt, sich gut um alles kümmern würde. Um das Haus, um seine Gefährtin, um Leilatha. Ihre Trennung voneinander basierte tatsächlich nur auf Politik und der Unannehmlichkeit, dass er an Einfluss verlieren würde, wären seine Bande zu Falael zu stark. Der Gedankengang, einem der Seinen zur Last geworden zu sein, gleich ob verschuldet oder nicht, war für Falael fast beschämend. Immer hatte er sich für die Seinen stark gemacht und nun musste er einen Freund ziehen lassen, weil er unbequem geworden war. Wortlos trennten sie sich und der alte Elb suchte seinen Weg heimwärts. Es war Zeit, schlafen zu gehen. Vielleicht irrte er sich, vielleicht würde heute Nacht gar nichts geschehen. Vielleicht erst morgen, in einer Woche, einem Monat, einem Jahrzehnt. Was dann? Er würde ausziehen müssen. Weit hinfort von den Seinen, um diesem Spuk ein Ende zu setzen. Und wenn es gar nicht um ihn ging? Dann würde er ein Leben in ständiger Angst führen, und das völlig grundlos. Aber so war es nicht. Er spürte es, er ahnte es, er sah in der Liste der dreiundzwanzig Namen die Zusammenhänge ganz deutlich herausstechen. Es konnte einfach kein Zufall sein. Zufall gab es nicht – es gab nur lange Ketten von Reaktionen und Bedingungen, die sich der eigenen Wahrnehmung oder der eigenen Befähigung, etwas zu begreifen, entzogen. Und weil sich damit schlecht umgehen ließ, nannte man das einfach 'Zufall'. Als er die Tür lautlos hinter sich schloss, schweifte sein Blick durch den kleinen Vorraum. Ein Tisch, drei Sitzplätze, ein paar Regale, auf denen alte Bücher lagen. Texte über seine Wanderjahre, Tagebücher seiner Gefährtin über ihre Zeit als Abenteurerin, Lexika und Folianten über verschiedene Kapitel der elbischen Geschichte und Kultur, über alte Traditionen, sogar eine staubige alte Historie. Nichts Außergewöhnliches. Wie oft hatten sie hier gemeinsam gespeist? Es herrschte immer Ruhe und Stille, bis Leilatha irgendeinen Witz erzählte, den sie irgendwo aufgeschnappt hatte. Seine Gefährtin war sehr bemüht, sich gut zu stellen und den Erwartungen zu entsprechen, demgemäß lachte sie nur selten – meist, wenn der Witz ihre Selbstbeherrschung überwand. Falael hatte sich allzeit schon weniger Mühe gegeben, irgendwelchen Anforderungen zu entsprechen. Die Welt wurde nicht von denen geformt, die ihre Regeln einhielten, sondern von jenen, die neue Regeln schrieben. Falael begab sich in das zweite Zimmer des Hauses. Das Bett nahm einen Großteil des Raumes ein, nahe am Fenster. Er zog die Vorhänge wieder zu, sperrte die Kälte hinter den dicken, schweren Vorhang aus. Seine Schritte durchmaßen den Raum, trugen ihm viele Erinnerungen zu. Er vermisste die Zeiten, als man noch zu ihm aufsah. Vorsichtig nahm er an seinem Arbeitstisch Platz. Hatte man vor fünfunddreißig Jahren nicht den Hausherrn Ondoren an seinem Tisch vorgefunden? Was für ein grausames, hässliches Ende er doch gefunden hatte. Ob es ihm genauso ergehen würde? Falael löschte alle Lichter im Haus. Es blieben nur drei Öllampen zurück. Eine stand beim Fenster, die Zweite auf dem Regal neben der Tür und die Dritte beleuchtete den Tisch, auf dem er kalligraphisch die Feder über das Pergament führte. Mit größter Sorgfalt achtete er darauf, das kein einziger Tropfen der kostbaren Tinte herab fiel und möglicherweise sein Werk verschmutzte. Er zog die Linien in alter Übung, ausladend, weit geschwungen und verziert. Vieler Worte bedurfte es nicht. Jene, die zurück blieben, würden daraus alles schlussfolgern können, was nötig war, um den Elben Lumiéls wieder Frieden zu bringen. Mit der Nacht kehrte Stille in Esgaroth ein. Entgegen den Vermutungen der Menschen, mussten Elben nicht alle zwei Stunden singen und tanzen, um zu überleben. Gewiss hatten sie dahingehend Recht, das elbische Feste sehr auf diese zwei Besonderheiten ausgelegt waren und auch insgesamt üppiger ausfielen, doch wenn die Nacht herein brach und es keinen Feiertag gab, dann legte sich nach einem geschäftigen Tag auch eine elbische Enklave zur Ruhe. Dass sein Gefühl ihn nicht betrogen hatte, begriff Falael in dem Moment, als die Öllampe beim Fenster zu Boden stürzte. Der schwere Vorhang hatte sich unter einem Windstoß aufgebläht und das fragile Gefäß zu Boden gestürzt. Der Kristall zersprang in unzählige Stücke, das Öl geriet in Brand und richtete binnen kürzester Zeit ein heilloses Chaos an. Natürlich war das nichts, was auf einen Angriff hinwies – obwohl es schon merkwürdig war, dass ein einzelner, obendrein in einer windstillen Nacht auftauchender Hauch die schweren Vorhänge so aufblähen konnte, die sogar im Winter die Eiseskälte fern hielten. Falael jedoch war lediglich um sein Haus besorgt. Das würde ihm jetzt noch fehlen – ein Brand! Zumal sich das Feuer schlimmstenfalls auf die ganze Stadt würde ausbreiten können. Was die Leute dann erst sagen würden! Da verhielt er sich den ganzen Tag merkwürdig und dann, welch Zufall, brannte ein Haus ab und riss halb Esgaroth in die Flammenhölle. Nein, so konnte es natürlich nicht enden! Er eilte vom Tisch zum Bett, packte die fasrige Decke und warf sie auf den kleinen, brennenden Ölfleck. Ohne Luftzufuhr erstickte das Feuer trotz der Hitze des Öls fast sofort. Um sicher zu gehen, tastete Falael auf Knien am Boden kauernd die Decke ab. Er durfte nicht riskieren, dass die Decke möglicherweise durch die Hitze, die das Öl schon entwickelt hatte, sich entzünden würde – dann wäre alles durch einen Versuch, das Feuer zu löschen, nur noch schlimmer geworden! Just als zufrieden feststellte, dass die Gefahr durch einen Brand scheinbar bezwungen war, erstarrte Falael. Dem alten Elb gefror regelrecht das Blut in den Adern. Da war es wieder – das Gefühl, angestarrt zu werden. Aus allen Richtungen des Raumes schien es zu kommen. Vorsichtig, ja fast schon ängstlich, hob der alte Elb den Blick zum Fenster. Ein hauchdünner Spalt nur zwischen den zwei schweren Vorhängen, doch... da war nichts. Bewaldete Äste und jenseits derer, freier, klarer Sternenhimmel. Allerdings war das Gefühl nicht weg. Und mit dem Heben des Kopfes hatte er noch etwas bemerkt. Es war ungewöhnlich dunkel im Zimmer. Ohne sich aufzurichten, wandte er den Kopf zur Seite. Er konnte alles halbwegs einsortieren: Etwas Licht gab es noch. Und dem Kreis nach, der noch beleuchtet wurde, musste die Lampe auf dem Tisch noch brennen. Doch was war mit der Lampe auf dem Regal? Falael spürte, wie sich die wenigen, kurzen Härchen in seinem Nacken und auf seinen Armen aufstellten. Seine Kehle wurde trocken, schien sich zuzuschnüren, während sein Puls einen kräftigen Satz nach oben machte. Da war keine Tür mehr. Nur ein großes, schwarz klaffendes Loch in einer kaum sichtbaren Wand. Als würde die Nacht selbst jene Seite des Zimmers verschlucken wollen. Wie lange er in die Schwärze der Türöffnung starrte, wusste Falael nicht. Es kam ihm wie Stunden vor. Er wusste, dass er die Tür geschlossen hatte, als er ins Zimmer gekommen war. War er noch allein hier? Eine Bewegung beantwortete ihm die Frage. Da war jemand, eindeutig. Falael versuchte, sich zusammen zu reißen. Er wollte eine Frage stellen, aber sein Körper verweigerte ihm den Dienst und brachte keinen Ton hervor. Er schloss die Augen wenige Sekunden, versuchte sich zu konzentrieren. „Wer... bist du?“ flüsterte er fast tonlos der Dunkelheit entgegen. Doch die Schwärze antwortete nicht. Eine erneute Bewegung brachte den Boden kurz zum vibrieren. Etwas Schweres war auf die Dielen getroffen. Wenn das ein Schritt war, musste es sich bei diesem Eindringling um einen Troll handeln! Kurz darauf erneut ein dumpfes Aufprallen. Eine Kontur schälte sich langsam aus der Schwärze der offenen Tür. Den Umrissen nach hätte es ein Ork sein können! Die Oberarme, der Torso... kein Elb, niemals, und viel zu groß für einen Zwerg. „Deine Berater – tot.“ sprach eine tiefe, durchdringende Stimme. „Wer bist du?“ wiederholte Falael atemlos. „Deine Generäle – tot.“ Ein Schaudern brachte Falael zum zittern. Was hatte das alles zu bedeuten? Sein Geist raste und hatte die Wahrheit völlig verdrängt, die er den ganzen Tag bleischwer auf seinen Schultern gespürt hatte. Hier und jetzt bestätigte sich seine Befürchtung und er war unfähig, es zu erkennen. „Wovon sprichst du?“ „Dein Rat – tot.“ setzte das tiefe Brummen ungerührt fort. Mit jedem Satz aber trug ein Schritt die Gestalt tiefer in den Raum, weiter aus dem Dunkel hervor. Falaels Blick fiel auf massive, schwere Plattenpanzerstiefel. Daher das klapperne Geräusch, daher das Gewicht – denn an die Stiefel schloss sich noch mehr Metall an. Eine Rüstung wie diese hatte Falael nie gesehen. Er kannte allerhand kuriose Erzählungen über Menschen und Zwerge, die solche massiven Panzer trugen, hätte aber nie geglaubt, dass ein lebendes Wesen fähig wäre, sich mit so viel Metall am Körper überhaupt noch vernünftig bewegen zu können. „Was willst du von mir?“ brachte Falael hervor. Seine Stimme zitterte wie Espenlaub. „Vergeltung.“ antwortete ihm der Gerüstete und trat mit einem weiteren Schritt aus dem Schatten hervor. Ein massiver Plattenpanzer schob sich wie das Schuppenkleid einer Schlange über den gesamten Torso, verbarg auch Arme und Beine, zog sich sogar bis zum Hals herauf, wo es nahtlos in einen angepassten, offenkundig persönlich zugeschnittenen Helm überging. Falael hatte für Schmiedekunst nie etwas übrig gehabt – wie die meisten Elben befand er das Entreißen der Metalle aus dem Erdboden und das gewaltsame Formen unter Schmiedehammer und Glut für viel zu archaisch. Doch die Rüstung entrückte ohnehin völlig seinem Interesse, als der Eindringling die Hand hob. Im dünnen Licht der letzten Öllampe leuchtete etwas Weißes in jenem massiven Panzerhandschuh auf. Falael versuchte es zu erkennen, bis der Fremde es zwischen zwei Finger nahm und ihm gut sichtbar entgegen hielt. Der alte Elb wurde kreidebleich. Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Tränen stiegen Falael in die Augen, als die Erkenntnis sich unaufhaltsam und grausam ihren Weg bahnte. „Was bist du nur für ein Monster...?“ brachte der Elb unter haltlosen Tränen hervor, während er unbeholfen noch immer am Boden kniend die Hand nach der Ebenholzspange reckte. Leilatha... was hatte dieses Ungetüm getan, um an sein Geschenk zu kommen? Doch ehe er vorsichtig das Schmuckstück dem Panzerhandschuh abnehmen konnte, schloss dieser sich unerbittlich. Das Geräusch brechenden Holzes ließ Falael zurückfahren, er fiel ungalant auf seinen Hintern und bekam von dem Fremden zugeworfen, was von Leilathas Haarspange noch übrig war. Holzsplitter und ein grobes Stück – Falael hoffte und betete, doch die kleinen, rötlichen Flecken auf dem Holz ließen auch ihn das Schlimmste ahnen. Der Eindringling hob die schwer gepanzerten Hände langsam zu seinem eigenen Helm und zog das metallische Konstrukt samt des eingenähten Kettensaumes von seinem Schopf herab. Als das Schmiedewerk dumpf und schwer auf den Boden aufschlug, traute der Elb seinen Augen nicht. Ein Monster musste er sein, ein Dämon, den tiefsten Niederhöllen entstiegen! Nur eine von den Göttern geächtete Kreatur konnte fähig sein, seine Gefährtin, seine Tochter anzurühren, unschuldige Wesen, die nie einem Leben etwas getan hatten, nur eine solche, unheilige Kreatur konnte solche Geduld und Ausdauer beweisen! Doch vor ihm stand ein Mensch. Unter dem kahlen Schädel zogen sich Augenbrauen fest zusammen. Augen, die ihn voll des inbrünstigen Hasses traktierten, durchbohrten. „Was... was hast du... getan...?“ stammelte der alte Elb zusammen. Er spürte, wie sein Herz sich verkrampfte, wie es aus dem Takt geriet. Das Atmen fiel ihm schwerer und schwerer, während er mit zitternden Händen nach den Überresten der Haarspange griff. „Vor dreihundert Jahren töteten Orks mein Weib und meine Tochter. Jetzt sind wir quitt.“ spuckte der Eindringling ihm leise und sichtlich um Beherrschung bemüht entgegen. Falael hingegen erstarrte in nacktem Entsetzen. Der Damm brach. Die Informationen drangen auf ihn ein, die Erkenntnis überflutete, was an gesunder Vernunft noch übrig geblieben war. Nacht um Nacht wachte er auf und erinnerte sich an die Zeiten, als er dem Rat vorstand, als er die Befehle gab und die Geschicke der Elben Lumiéls lenkte. Nacht um Nacht warf er sich wieder vor, zu welchem Preis er vor dreihundert Jahren ein Volk vor einer Bedrohung in Sicherheit gebracht hatte. Er hatte das Risiko für sein Volk gegen Ströme aus Blut der Menschen getauscht... er hatte den Befehl gegeben. Dreiundzwanzig Namen. Leilatha und Kythaela waren tot. Es würde keinen vierundzwanzigsten Namen geben. Der Fremde spuckte auf den Dielenboden, ehe er sich umwandte. Ein schweres Vibrieren der Dielen unter jedem Schritt. Falael war unfähig, sich zu bewegen. Dieses Monster... verschwand einfach in die Dunkelheit. Am nächsten Morgen fand man Falael Aldalithe in seinem Haus vor. Es gab keine Spuren eines Eindringlings, aber der Hausherr und frühere Vorstand des Rates war kaum mehr ein Schatten seiner selbst. Sein Geist, so berichtete ein Heiler voller Sorge, sei zerrüttet, ja regelrecht zerschmettert. Seine Gefährtin und seine Tochter indes, fand man nicht. Sie waren als Gäste zu einem der Ratsmitglieder geladen worden, doch während Falaels Gefährtin aus dem Haus verschwand, war seine Tochter dort nie angekommen. Zwei Wochen später lief ein Schiff in Varakas aus. Ein groß gewachsener, stämmiger Mann stand an Deck. Er fühlte sich kein bisschen besser. Lange stand er am Heck, sah Lumiél in die Ferne rücken, sah das Land kleiner und kleiner werden. Er verließ es zum letzten Mal. Wann immer ihm danach war, warf er etwas ins Meer. Einen Schuppenhandschuh. Einen Panzerstiefel. Ein Kettenhemd. Eine blutige, große Streitaxt. Sollte Eumenes ihren Spaß damit haben. Er strich sich mit der prankenhaften Hand über den kahlen Schädel, rieb sich den Nacken. „Ey, Thorin! Die Crew wartet schon! Erzähl uns ein paar Geschichten, dann kannste was von unserem Branntwein haben!“ rief ihm ein Matrose zu... Kapitel 13: Schnipseljagd ------------------------- Schon seit Tagen sahen sie nichts anderes als Wüste. Sand, noch mehr Sand und ab und an mal einen verdorrt wirkenden kleinen Busch, der seit Jahren auf den kostbaren Moment der seltenen Regenbrüche wartete, um dann in voller Blütenpracht zu erstrahlen. Die Wüste schien indes tot zu sein, doch gerade einer aus jener Gruppe hatte lernen müssen, dass dem sehr zu seinem Verdruss nicht so war. „Ich halte das immer noch für eine wirklich, wirklich, wirklich schlechte Idee.“ merkte Alandor an und wischte sich zum wiederholten Male mit dem inzwischen völlig klammen Tuch über die verschwitzte Stirn. Hier im Süden erwies sich sein mehrlagiges, weites Gewand als deutlicher Nachteil. Andererseits erging es Vivica nicht besser – die junge Frau weigerte sich beharrlich, auch nur ein Stück ihrer Kleidung abzulegen, und das, obwohl ihr ein Tuch wohl schon nicht mehr geholfen hätte. „Das erwähnst du jetzt zum dritten Mal – heute. Sieben Mal gestern, und... wie oft davor?“ erkundigte sich Vivica ächzend. „Dreizehn Mal.“ warf Adamant fröhlich ein. Er war aus der gesamten Gruppe wohl so ziemlich der Einzige, der sich hierbei wohl fühlte. Anders als die Ortsunkundigen, wusste er durchaus dem zu folgen, was angeblich eine Händlerstraße sei. Natürlich hätten Diebe und Räuber sie gern belagert, aber welcher Narr war schon dumm genug, seine Überfälle mitten in der Wüste zu positionieren, wo es nicht einmal genug Nahrung und Wasser für das eigene Überleben gab? Mochte Jebis wissen, wie die Zentauren und Menschen hier überlebten! Blitze litt unter der stechenden Sonne nicht minder. Er hechelte, was seine lapprige, sabbernde Zunge her gab und dennoch wirkten seine Schritte vorsichtig – als würde er befürchten, jede Sekunde umzufallen. Selbst Suzuri, die als Phönix dem reinen Feuer entsprang, schien sich gequält zu fühlen. Allerdings, so vermutete der Magier, lag das wohl eher an der Aussicht, die sich ihnen bot. Weit im Süden ragten gewaltige Mauern vor ihnen auf. Sie hatten schon von Sundergrad gehört, bei den Göttern, wer hatte das nicht? Die massiven Mauern waren so dick wie ein Haus, in ihrem Inneren waren Waffenkammern, Wehrgänge, Schießscharten und sogar Ruheräume untergebracht. Sie würden jedem Ansturm Stand halten können und nicht zuletzt waren die Sundergrader Bogenschützen die besten Fernkämpfer ganz Lumiéls. Allerdings, wenn man den Gerüchten glauben konnte, würden dieser Tage keine der besagten, berühmten Schützen auf den Wehrgängen patrouillieren oder in den Ruhekammern ihr Nickerchen nehmen. Einige Händler und Reisende waren ihnen entgegen gekommen, hier und da hatte man um Proviant oder ein paar Kleinigkeiten gefeilscht – hauptsächlich Adamant, der sich nicht zu schade war, die Händler nach Strich und Faden auszunehmen und über den Tisch zu ziehen. Sie berichteten alle vom selben: Sundergrad sei 'gefallen'. Die Piraten hätten ihre jahrzehntelangen Streitigkeiten begraben, einen der Ihren gekrönt und sich gegen die Stadtwache erhoben. Marodierende Horden, die durch die Gassen zogen und Straßenkämpfe gegen die mit der neuen Situation völlig überforderte Stadtwache begonnen. Immer weiter musste diese sich zurückziehen, immer mehr Männer fielen. Angeblich unterstützten sogar die Gilden der Diebe und Assassinen das ganze Treiben mit Informationen und Waffen – das sah diesen Opportunisten ähnlich! Was genau Alandor zu erwarten hatte, war ihm nicht klar. War es wohl für niemanden hier, selbst Adamant nicht, der Sundergrad über alles liebte. Einst war die Stadt das größte Handelszentrum des Landes gewesen, tausende Gulden hatten dort täglich den Besitzer gewechselt – einige hundert davon nicht ganz freiwillig und mit Wissen des ehemaligen Eigentümers. Und nun? Obwohl die Händler mit Sorge und Furcht sprachen, von Kämpfen, von Blutströmen in den Rinnsalen der Straßen und roten Pfützen in den Gassen, sah man doch ein unterschwelliges Leuchten in ihren Augen. Die Stadtwache hatte den Händlern stets einen hohen Zoll, Steuern und Gebühren abverlangt. Es war mehr als offensichtlich, dass die Händlergilde darin nun eine Chance gekommen sah, sich ein wenig zu befreien und noch ein kleines Stück reicher zu werden. „Versucht bitte, euch halbwegs zivilisiert zu benehmen. Ich möchte nicht mehr Ärger provozieren, als nötig.“ merkte Alandor an, blickte dabei gezielt zu Badai und Adamant – die sich beide natürlich irgendwie auf merkwürdige Weise gar nicht angesprochen fühlten – und versuchte nebenbei das mulmige Gefühl zu ignorieren, das sich einstellte, sobald er zu den größer werdenden Mauern spähte. Als sie diese erreichten, zeichneten sich die Unterschiede schon deutlich ab. Keine muskulösen Figuren in standardisierten Rüstungen, die kerzengerade mit der Hellebarde in der Hand am Tor Wache hielten. Stattdessen eine kleine Traube schäbig wirkender, linkisch lächelnder Gauner mit Kopftüchern, fauligen Zahnstummeln und Krummsäbeln unter ihren bunten Gurten. Gar keine Frage: Piratenpack! Schon im Näherkommen erkannte Alandor, dass zumindest vorläufig keine Bedrohung zu schmälern war – die Piraten lachten, aus vollster Kehle. Anfangs vermutete der Magier, einer von ihnen hätte einen der berühmten, schmutzigen Piratenwitze gerissen, doch als sie noch näher kamen und deren Art einer 'Zollkontrolle' erreichten, bemerkte er, wie ihre Blicke immer wieder zu ihnen herüber wanderten. Der Bannwirker versuchte den Augenpaaren zu folgen und musste feststellen, dass offenbar Vivica Grund ihres Amüsements war. „Das wird unschön...“ merkte er resignierend und halblaut an. Suzuri wollte gerade fragen, was er damit meinte, als Adamant – offenbar ausnahmsweise mal genauso aufmerksam – sich bereits von seinem Kamel schwang und eifrig zu den Piraten herüber stakste. „Peter...!“ versuchte Vivica ihn noch aufzuhalten, doch da landete der auch schon den ersten Treffer und schickte einen der Halunken mit einem Kinnhaken zu Boden. Alandor hingegen stutzte – der ach so große Herr Adamant hieß... PETER? Ein hämisches Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Gut zu wissen... Adamant hingegen ging nach seiner altbewährten Regel vor: Wer kleiner oder schmächtiger als er selbst war – im Idealfall sogar beides – der konnte auch niedergerungen und für seine Frechheiten bestraft werden, jawoll! Dumm nur, dass er die Piraten offenkundig für dümmer hielt, als sie waren. Die drei am Eingang, mit denen er sich inzwischen eine stattliche Prügelei lieferte, waren nur der Köder für die letzten überlebenden Wächter, die vielleicht aus Sundergrad zu entkommen versuchten. Demgemäß war Alandor nicht im geringsten überrascht, als mehr und mehr aus den Gängen der Wehrmauer herbei strömten. „Hilf mir verdammt nochmal!“ maulte der mitten im Gefecht dem Bannwirker zu und verteilte weiter empfindliche Treffer, wie er sie auch einstecken musste. Alandor dagegen schüttelte nur resignierend den Kopf. „Glaubt der wirklich, dass ich ihm helfe?“ nuschelte er leise vor sich hin und ignorierte dabei geflissentlich die Blicke, die Vivica ihm zuteil werden ließ. Nein, er würde sich gewiss nicht einmischen. In Zadiora hatte Badai Streit angefangen und ihn selbst ausbügeln müssen. In Norwingen hatte Vivica Ärger verursacht und... nun gut, da hatte er sich eingemischt. Aber dafür gab es gute Gründe! Und hier würde... Peter... eben seinen Ärger selbst ausbaden. Als dieser schließlich von einer Reihe von üblen Treffern zu Boden geschickt wurde, die schon so schmerzhaft aussahen, dass Vivica das Gesicht verzog, begab sich Alandor von seinem Kamel herab und bedeutete Suzuri, einen Moment zu warten. „Da haste davon, Maulheld! Denkste wo, is deine Maua, oda was?“ blaffte einer der Piraten, während er sich die aufgeplatzte Lippe mit dem Handrücken abwischte. Adamant dagegen schien irgendwie nicht mehr fähig, einen seiner üblichen, schnippischen Kommentare zu erwidern – gut so, vermutlich hätte man ihn sonst noch totgeprügelt. Als der Bannwirker hingegen heran trat, richteten sich die Blicke der Piraten auf ihn. Sie waren warm gelaufen, sie waren angriffslustig – und sie warteten auf ein einziges, falsches Wort. Alandor hingegen rang sich ein freundliches Lächeln ab. Ein dutzend Piraten war eigentlich keine Herausforderung – ihnen gegenüber freundlich zu bleiben, obwohl Dummheit, mangelnde Hygiene und Dreck einem förmlich entgegen schrien, wenn man sie nur ansah... das war wiederum durchaus eine. „Ich wünsche den Herrn einen guten Tag und bitte zu bedenken, dass dieser Bursche nichts mit mir gemein hat. Er... reist lediglich die selbe Route.“ merkte Alandor zunächst an und blickte erneut kopfschüttelnd auf den ach so großen Herrn Adamant herab. Dann jedoch brachte er aus seinem Beutel eine Gulde zum Vorschein – und schon hatte er die Aufmerksamkeit der Halsabschneider ganz für sich. „Die sollteste uns gebe!“ forderte einer der Piraten, „Un alle annern och!“ setzte ein Zweiter nach. Alandor dagegen hätte lachen wollen – was dachte dieses Pack eigentlich, mit wem es hier sprach? Einem schnöseligen Adligen aus Samara, der seinen Hintern nichtmal gegen Ganovenpack zu verteidigen wusste? „Meine Herrn, als Magier der Zirkel bin ich keine leichte Beute und selbst, wenn dem so wäre, würden die Zirkel ganz Sundergrad niederbrennen, nur um zu zeigen, was für eine dumme Idee es ist, sich mit ihnen oder ihresgleichen anzulegen. Wenn ihr das Risiko einzugehen bereit seid, versucht es ruhig, doch ihr könnt diese Münze verdienen – mit nur wenigen Worten, geformt zu einer Antwort auf meine Frage.“ Einmal mehr wurde deutlich, dass Alandor zu den Menschen gehörte, die sich selbst gern reden hörten. Seine Stimme entwickelte sogar eine gewisse, melodiöse Führung und er gewann sichtlich an Selbstsicherheit, während er dort stand und gemächlich über die Folgen eines Angriffes referierte. Die Piraten dagegen wussten offenbar nicht so recht zu reagieren – solches Geschwafel hörten sie nicht aller Tage, eher sowas wie „Bitte lasst mich am Leben!“ oder dergleichen. Doch zumindest einer begriff, dass sie einfach nur antworten mussten, um die Münze zu bekommen. „Wat willst'n wiss'n?“ Bei Jebis, es war ihm so zuwider, mit solchem Pack auch nur zu reden...! „Eine Gruppe kam kürzlich hierher. Zwei Zwerge, zwei Elben, zwei Menschen, ein Tiefling. Wo sind sie hin?“ verlangte Alandor geradezu autoritär zu wissen. Ein paar der Männer schienen sich von seinem Tonfall offenkundig provoziert zu fühlen, weshalb der Magier die Münze über seine Fingerrücken tanzen ließ – Ablenkung war alles! „Ah die! Jo, sin' hier durch. Ham' nach so'nem Typ jefragt, wie hieß'er noch? Gillian? 'N Spitzohr!“ antwortete einer der Männer. Noch während Alandor sich umwandte, erschallte natürlich die Frage nach der Münze – die der Bannwirker souverän und als Teil seiner kleinen Theateraufführung über seine Schulter nach hinten schnippte. Erst als der Zirkelmagier wieder den Kamelrücken erklommen hatte, schienen die Piraten das Hauptproblem ihres Handels mit dem Fremden zu bemerken: Eine Münze für zwölf Mann? Fast augenblicklich begann die Schlägerei von Neuem. Alandor dagegen lenkte sein Tier durch den Torbogen des Wehrganges, sichtlich erfreut über die Dummheit anderer, darüber, endlich von diesem Pack weg zu kommen und obendrein keinen Wegezoll bezahlen zu müssen – der hätte nämlich für fünf Personen ungefähr eine Gulde gekostet... „Heda, Köter!“ richtete Alandor eine Etage tiefer. Trotz des tiefen, kehligen Knurrens hob Blitze dennoch den Kopf. Er schien inzwischen begriffen zu haben, dass der Magier mit diesem abfälligen Ton grundsätzlich nur ihn oder seinen Herrn bedachte – und Letzterer war gerade nicht da. „Geh und sorg dafür, dass dieser Idiot uns nicht noch mehr Zeit kostet!“ trug der Magier dem Hund auf. Tatsächlich jagte Blitze davon, um wenig später Adamant anzuschleifen – mit dem Kragen von dessen Weste in seinem sabbertriefenden Maul zog er den Körper des Bewusstlosen herbei. Für Alandor ein geradezu erhabener, wundervoll amüsanter Anblick. Zumindest bis zu dem Moment, an dem Vivica sich auf ebene Erde begab und ihre letzten Wasserreserven darauf verwendete, dieses ständig quakende Großmaul zu wecken. Schade eigentlich... „Du kostest mich Zeit. Schon wieder.“ merkte Alandor an, kaum dass Adamant wieder fähig schien, sich zu erheben. Natürlich jammerte der erstmal darüber, dass seine Weste ihm nun am Nacken klebe und ganz furchtbar nach Hundeschnauze müffeln würde – aber nach Meinung des Magiers war das für Adamants Bouquet eine Steigerung. Indes musste der Bannwirker zumindest nicht mehr betonen, was seine Worte zu bedeuten hatten. Adamant war geduldet, vorläufig, und das wiederum verdankte er einzig Vivica. Diese Vereinbarung würde aber aufgelöst werden, sollte dieser Idiot das Vorankommen weiter verzögern. Duncan durfte seinen Vorsprung nicht zu weit ausbauen! Natürlich begann, kaum dass Peter wieder klar denken konnte, sofort der nächste Streit. „Wir gehören dir doch nicht, verdammt!“ maulte der Straßenjunge herum und zweifellos wäre der Streit aus eskaliert, hätte es da nicht einen schlichtenden Zwischenfall gegeben. Die ganze Zeit schon hatte sich Vivica irgendwie nicht wohl gefühlt. Es war schrecklich, in den eigenen Statuten gefangen zu sein. Ihre Erziehung machte ihr deutlich, was angemessen und erträglich war und demgemäß auch, was es nicht war. Sie konnte einfach keine Kleidung ablegen. Es wäre ungebührlich gewesen, sich so zu entblößen! Nun allerdings begriff sie langsam, dass die Wüstensonne sie in die Knie zwingen würde. Während Adamant erwachte und der Streit entbrannte, versuchte sie mehrfach, auf sich aufmerksam zu machen, aber sie war einfach zu höflich und zu zurückhaltend, um sich mit der nötigen Dominanz bemerkbar zu machen. Das wiederum erreichte sie erst, als die Sonne sie tatsächlich bezwang – und Vivica schlichtweg umkippte. Sofort schwiegen die Männer betroffen und eilten herbei. Das letzte Wasser war für Adamant verbraucht worden, weshalb dieser seinerseits nicht zögerte, Wasser zu beschaffen. Auch Suzuri begab sich zu Vivica und betrachtete sie sorgenvoll. Die Fragen in ihrem Blick versuchte Alandor zu ignorieren – für den Moment gab es Wichtigeres. Eigentlich hatte er beabsichtigt, sie einiger Lagen ihrer Kleidung zu entledigen, aber irgendwie fand er keinen sinnvollen 'Anfang', und war nicht gewillt, einfach an ihrer Kleidung herum zu rupfen – was das schließlich für einen Eindruck erwecken würde! Dann jedoch kehrte Adamant zurück, mit einer Blechkelle voll Wasser, das er Jebis weiß wo her bekommen hatte. „Du willst ihr doch nicht ernsthaft diese Brühe ins Gesicht kippen?“ fuhr der Magier ihn an, doch noch während Adamant zurück blaffte, ob der Herr Zirkelmagier denn eine bessere Idee hätte, tat er genau das. So folgte auf einen Kreislaufschock gleich der Nächste und Vivica fuhr nach Luft schnappend auf. „Hey Schwesterchen!“ begrüßte Adamant sie breit lächelnd mit diesem für ihn typischen Gossencharme, „Tief einatmen! Riechst du Sundergrad? Wir haben es geschafft!“ versuchte er einer etwas verwirrt drein schauenden Nordfrau eine Orientierungshilfe zu geben. Alandor indes versuchte genau das zu vermeiden – tief einatmen. Denn bei allem Verständnis für das Gefühl von Heimat und Verbundenheit, jeder Atemzug war ihm die reinste Qual. Die Stadt platzte aus allen Nähten und man roch so viele Schweißnoten, wie es hier Salz-, Gewürz- und Dreckgerüche gab. Vom unerträglichen Gestank diverser Felle und Tiere ganz zu schweigen... nein, tief einatmen würde er hier ganz sicher nicht! Andererseits... Peter passte hierher. Ja, wirklich – als hätte das Mosaik sein letztes Stück zurück bekommen. „Adamant, auf ein Wort.“ bat der Magier und ignorierte den sichtlich enervierten Blick des linkischen Hundes völlig. Ohne dessen Leistung bei der Rettung Vivicas nur im Geringsten zu erwähnen oder zu berücksichtigen, fuhr der Magier schlicht fort und kam auf die essenziellen Punkte zu sprechen. „Wenn sie in diesem Aufzug bleibt, wird sie uns alle zwei Straßen umkippen.“ merkte der Magier an. Blicke beider Männer fielen zurück auf Vivica, die sichtlich neugierig von Suzuris Fragensturm davon abgehalten wurde, sich zu ihnen zu begeben und ihre Unterhaltung zu verfolgen. Adamant hingegen musterte nunmehr den Bannwirker selbst, ehe er sichtlich einverstanden nickte. Fast augenblicklich machte sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht breit, das Alandor nur vermuten ließ, dass das – wie könnte es auch jemals anders sein – nur erneut zu Schwierigkeiten führen würde. Gemeinsam schritten sie durch die Gassen und Straßen der Stadt auf der Suche nach einem Laden, der ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprach. Eben dies fanden sie letztlich in einer kleinen Winkelgasse: Eine Handlung für Stoffe und Kleider aller Art. Gegen einen geradezu horrenten Aufpreis könne man auch Maßanfertigungen schneidern lassen, wie der Inhaber ihnen stolz versicherte. Alandors Blick auf den wuchtigen Bauch und die Finger, die fast so stark waren wie seine eigenen Handgelenke, ließen ihn jedoch daran zweifeln, dass er diese Kleider dann selbst fertigen würde. Ohnehin waren sie nicht hier, um ein paar Tage zu bleiben und sich die Schönheiten der Stadt anzusehen. Sehr zu Vivicas Verdruss. Suzuri indes hielt sich stets dicht bei Alandor. Anders als der Magier, der lediglich die Diebe seines Buches wegen und den Dreck seiner Kleidung wegen fürchtete und deshalb Sundergrad als Ganzes ablehnte, hatte das Phönixkind natürlich panische Angst vor dem ständigen, allgegenwärtigen Gedränge und Geschiebe, welches das Straßenbild Sundergrads dominierte. Während Alandor und Suzuri auf einem Stuhlpaar Platz nahmen, eilte Peter beständig im Laden herum und schleppte Vivica ständig neue Kleider an, die sie in einer kleinen Ecke, durch einen schweren Vorhang getrennt, anprobierte. Die meisten gab sie kommentarlos zurück, ohne sich auch nur darin sehen zu lassen. Nach dem dreißigsten Stück und der ersten Spur, das sogar Adamants Geduld mit Vivica nicht unendlich war, fragte die junge Frau schließlich, ob es nicht auch Kleider gäbe, die weniger freizügig wären. Peter hingegen lachte herzlich auf und verbrachte die nächsten Minuten damit, ihr zu erklären, das eben jene Freizügigkeit der Sinn der Sache sei – man würde weniger überhitzen, je weniger Stoff man am Leib trage, zumal das natürlich auch weniger wiegen würde, dann wäre da noch der rein optische Effekt und überhaupt...! Er beschwatzte die junge Frau so lange, bis sie sich für eines der von ihr abgelehnten Kleider zu entscheiden gewillt war. Alandor verfolgte diese Szenerie voller Amüsement. Einerseits hätte er Adamant nicht zugetraut, halbwegs vernünftig argumentieren zu können, andererseits unterhielt ihn schon Vivicas bloßer Widerspruch. Die Frage, ob sie lieber sterben oder sich nackt vor eine Menge stellen würde, schien dabei für den Magier besonders amüsant – vermutlich würde auf diese Frage hin eine sehr lange Bedenkzeit folgen und bei Jebis, er hätte nicht sagen können, was letztlich Vivicas Antwort gewesen wäre. Als die Rothaarige sich schließlich entschied, ihre Tracht zu offenbaren, zog sie den Vorhang zurück. Bei diesem Anblick musste selbst Alandor einen Moment schwer schlucken. Vivica war allzeit in seinen Augen ein schönes Weib gewesen, aber nun schmiegten sich Seidenstoffe an ihre Haut, die ihre Blässe in einem Kontrast hervorhoben, ihre kupferrote Mähne geradezu leuchten ließen und zudem weit mehr Haut zeigten, als man es von der jungen Frau bis dato zu sehen gewohnt war. Adamant erging es natürlich nicht anders, jedoch mit einem nicht unerheblichen Unterschied. „Wow!“ gab der Sundergrader Straßenköter seinen völlig unqualifizierten Kommentar von sich. Vivica errötete in einem Maß, dass man hätte meinen müssen, ihr würde gleich das Blut durch die Poren treten. Der Mager hingegen tat, was sich geziemte – er schwieg still und genoss den Anblick ohne derartig vulgäre Bemerkungen. Adamant hingegen konnte natürlich, wie überraschend, den Schnabel nicht halten und erging sich in einer gleichermaßen profanen wie ermüdenden Aneinanderkettung von Lobpreisungen, billigen Komplimenten und dergleichen Firlefanz, der zu Alandors Verdruss jedoch einmal mehr Vivicas Aufmerksamkeit und Wohlgefallen fand. War es nicht bedauerlich, wie leicht schöne Frauen sich von schmierigen Burschen umwerben ließen? „Das ist... einfach nur... wow...! Ich nenn' dich nie wieder Schwesterchen!“ versprach Adamant feist grinsend, „Das ist...“ setzte er erneut an, doch diesmal erhob sich Alandor aus seinem Stuhl und trat ebenfalls herbei. „... eine ausgezeichnete Wahl. Das Kleid steht euch gut und vermag die Exotik deiner Herkunft noch zu unterstreichen.“ beendete der Magier und warf einen geradezu spöttischen Blick zu Peter. Der hingegen streckte ihm, natürlich von Vivica ungesehen, die Zunge heraus und drohte ihm gar mit der Faust. Einen Augenblick schien der Bursche sich tatsächlich zu überlegen, ob er ihm nicht eine Abreibung verpassen sollte, doch inzwischen gab es in seinem Gedächtnis genug Erinnerungen diesbezüglich, die ihn daran erinnerten, was für eine dumme Idee das wäre. „Peter...?“ fragte Vivica nach einer scheinbaren Unendlichkeit, als sie ihre Stimme wieder fand. „Ja?“ „Könntest du mal... also... da ist am Rücken so eine Schleife...“ brachte die Rothaarige unter sichtlicher Mühe hervor. Ihr war die Situation offenkundig mehr als peinlich und erst in diesem Moment bemerkte Alandor, dass ihr Rücken tatsächlich mehr als luftig gehalten war. Offenkundig waren zwei Bänder dazu gedacht, zumindest einen Teil dessen mittels des an sie geknüpften Stoffes abzudecken, doch sie hatte sich eben schlecht selbst den Rücken binden können. Warum sie allerdings nicht Suzuri bat... ein Umstand, der Alandors Frustration nur weiter steigerte. Peter natürlich grinste wie ein Honigkuchenpferd, trat näher an sie heran und bewies Alandor einmal mehr, wie peinlich direkt dieser Junge war. Er hätte sich einen schönen Anblick bescheren können, hätte er die junge Frau umrundet und ihr die Bänder verknotet. Aber nein, er griff gleich nach den Sternen, trat so nah, dass sie zweifellos jeden Dreckkrumen in seinem Gesicht zählen konnte und legte die Arme um ihre Taille, als würde er blindlings alles bewerkstelligen können. Tatsächlich – sehr zu Alandors Missfallen – gelang ihm sogar, die Bände geschickt zu verknoten. Doch statt dann von der Rothaarigen abzulassen, hielt er sich in ihrer Nähe. Mit jeder Sekunde, die verging, spürte man die Ladung stärker, die sich im Raum aufzubauen schien. Ein Prickeln, das einem durch die Haut jagte, wenn man die Beiden so betrachtete. Alandor hingegen schob das auf diese Echse, die es gestern am Lagerfeuer gab und die möglicherweise nicht ganz ungiftig war... Dann musste der große Adamant es natürlich übertreiben. Statt einen Moment solcher Intimität zu bewahren, ging er den nächsten Schritt, neigte das Haupt und stahl sich einen Kuss von Vivicas Lippen. Alandor vermochte nicht zu sehen, wo Peters Hände waren – oder wohin sie sich bewegten -, er war zu überrascht, erschrocken, ja geradezu empört über die sich ihm bietende Szene... zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Vivica Peter plötzlich mit Nachdruck von sich schob, voll ausholte und ihm eine Ohrfeige verpasste, die man sicherlich durch die geschlossene Tür auf der Straße noch hatte hören können...! Das wiederum ließ den Magier nun seinerseits breit und schadenfroh grinsen, während er dem Händler, der mit sichtlichem Gefallen das Treiben verfolgt hatte, das Kleid bezahlte. Als sie den Laden verließen, wurden sie sehr zum Missfallen Alandors bereits erwartet. Es geschah... schnell. Um genau zu sein, viel zu schnell. Badai war der Erste, der über die Türschwelle trat und 'verschwand'. Man zerrte ihn zur Seite und schlug ihn mit einem gezielten Knüppelhieb bewusstlos. Als Adamant hinaus trat, entging er geschickt dem ersten Schlag und konnte genug Alarm schlagen, um Alandor vorzuwarnen. Der Magier jedoch schaltete nicht schnell genug und wandte sich in bitterer Erkenntnis dem Stoffhändler zu, der lediglich feist grinsend zum Abschied winkte. Dann spürte der Bannwirker nur noch einen dumpfen Schmerzblitz im Hinterkopf. Er hörte Adamant kreischen und fluchen, hörte die Schreie der Frauen, ehe es dunkel wurde. Den Aufprall am Boden spürte er noch, das war es dann auch. … Das Erste, was er wieder wahr nahm, war ein widerwärtiger Gestank, der so vermutlich sogar die Dämonen der Niederhöllen bezwungen hätte! „Runter von mir, oder ich schleudere dich ins Meer...!“ raunte der Magier und versuchte seine Kopfschmerzen zu ignorieren. Blitze kläffte zufrieden und trottete zu Adamant zurück, der bereits sichtlich länger bei Bewusstsein versuchte, irgendetwas mit Badai zu besprechen. Als Alandor sich erhob, übernahm er – zumindest seiner Ansicht nach – automatisch wieder die Führung. „Wir müssen den Spuren folgen. Am besten quetschen wir diesen Händler aus.“ schlug er vor, unwissend, dass die Beiden längst so schlau gewesen waren. Nur, dass von dem Händler inzwischen jede Spur fehlte – wie unerwartet. Vermutlich waren sie auch deshalb direkt in der Gasse vor dem Laden erwacht. Wie Alandor es bereits vermutet hatte, fehlte von Vivica und Suzuri jede Spur. Verdammte Piraten! Die waren sich nicht mal für Sklavenhandel zu schade... „Ich weiß, wo der Markt ist!“ warf Adamant schließlich ein. Badai hingegen brachte seine Bedenken hervor, dass sie dadurch erneut Zeit verlieren würden, doch ausnahmsweise musste der Zirkelmagier mit diesem Gossenköter konform gehen. Er ließ sich von Peter führen, durch mehrere Straßen und Gassen, bis sich die verwinkelten, verschachtelten Häuserfronten direkt vor ihnen zu einem breiten Platz öffneten. Es schien, als hätten die Sklavenhändler keine Zeit zu verlieren – man war von der Jagd und dem Einfangen offenbar recht zügig zum Verkauf übergegangen. Adamant, Badai und Alandor drängten sich in die große, gaffende Masse, während die ersten 'Stücke' des Tages vorgeführt wurden. Aus der Masse heraus johlte hier und da mal jemand, während die Meisten anderen sich darauf beschränkten, Gebote abzugeben. Oben auf der hölzernen Tribüne stand nicht nur eine dralle Brünette und ein Muskelberg, der Fluchtambitionen eindämmte, sondern auch der Auktionator, der mit Federkiel, Tintenfass und Pergament die Gebote festhielt. Sobald ein Zuschlag erteilt wurde, begab sich der Käufer auf die Tribüne, entlohnte den Schreiber und nahm seinen neusten Besitz mit. Zu Alandors Schrecken musste er erkennen, dass hier keineswegs Monster und Dämonen standen. Händler, Adlige, Reisende, Piraten sicherlich auch – doch ein Sklave war teuer und ein solcher Markt lockte daher nur ein bestimmtes Klientel an. „Sag mal, woher weißt du eigentlich, dass der Markt hier ist?“ verlangte Alandor zu wissen, doch Peter blockte mit Stillschweigen ab und drängelte sich weiter zur Tribüne vor. Sie hatten bereits bemerkt, dass es in dieser Menge mehr Waffen als Käufer gab und obendrein sicherlich noch an den Zugängen Wachen standen. Selbst Adamant war, seinem Blick nach zu urteilen, klar, dass hier nichts mit Gewalt gewonnen werden konnte. Direkt vor der Tribüne angekommen, wurde ein breit gebauter Mann mit fast schwarzer Hautfarbe an eine... Frau? So ganz eindeutig war nicht, wer oder was ihn da eigentlich kaufte, und genau das schien dem Sklaven auch sichtlich zu schaffen zu machen. Dennoch gab es keinen Widerstand. Wohin hätte er auch fliehen sollen? Die Blutflecken am Boden zeugten davon, was mit Sklaven geschah, die sich weigerten. Alandor war bei Leibe nicht wohl bei alledem. Wo waren Suzuri und Vivica? Hatte man sie bereits verkauft? Er versuchte herauszufinden, woher man die Sklaven holte, doch durch die dichte Menge konnte er nichts erspähen. Sein Plan indes reifte immer weiter. Ursprünglich hatte er vor gehabt, seinen Bann für Körpertaubheit einzusetzen, um die Menge auf dem gesamten Platz zu betäuben. Aber das hätte ihnen nur wenige Sekunden gebracht, bei weitem nicht genug Zeit, und obendrein wären sie möglicherweise auch mit betäubt worden. Der alternative Plan hatte nicht weniger Schwachstellen, wirkte jedoch auf Alandor dennoch irgendwie erfolgversprechender: Sie würden Vivica und Suzuri 'kaufen', um jeden Preis, dann zu ihnen auf die Tribüne gehen, um ihr Gut entgegen zu nehmen. Dann mussten sie nur den Schreiber und diesen Muskelberg ausschalten und die zwei Treppen sichern. Mit seiner, Vivicas und Suzuris Magie, Adamants großem Mundwerk und Badais Klinge wären sie dann vielleicht eindrucksvoll genug, um den Platz unbelästigt verlassen zu dürfen. Adamant war von diesem 'Plan' nicht wirklich begeistert, sah allerdings zumindest auch keine brauchbarere Alternative dazu, weshalb er letztlich zustimmte. Dann war auch schon der Moment gekommen, in dem der Schreiber lauthals plärrend die nächsten 'Objekte' ankündigte. Es war schrecklich, zu sehen, wie die zwei Frauen vorgeführt wurden. Suzuri zitterte wie Espenlaub, wich geradezu panisch vor der Berührung durch den Muskelberg, der sie in Position hatte schieben wollen, zurück und schien recht nahe am Gedanken der todbringenden Flucht zu sein. Vivica hingegen wirkte überraschend gefasst, bedachte man sich ihre Lage – allerdings ging ihr Blick immer wieder zu Suzuri. Sie schien auf sie einzureden, aber gegen das Gejohle und die Gebote konnte man nicht verstehen, was. Wie Vieh wurden sie angepriesen. Ihr Alter, ihre Schönheit, keine Narben, keine Knochenbrüche, gute Gesundheit... Alandor konnte die Rede kaum ertragen, so sehr ballte sich Wut, Verachtung und Verzweiflung in seinem Inneren zu einem Knoten zusammen, der sich in körperlichem Schmerz Ausdruck verlieh. Er wollte diesen Mann zerreißen... er wollte zwei Barrieren nehmen und ihn dazwischen zerquetschen... möglich wäre es allemal gewesen! Doch die langjährige Übung und Erfahrung half Alandor, sich zu zügeln und zu beherrschen. Stattdessen gaben sie das erste Gebot ab – zwanzig Gulden. Der Schreiber belächelte sie, da kam schon das Nächste – einhundert Gulden. Da musste der Magier doch schlucken. Gut, zwanzig Gulden hätten sie auch sowieso nicht aufbringen können, aber erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, in welchen Dimensionen hier gehandelt wurde. Das nächste Gebot waren einhundertfünfzig Gulden, zweihundertfünfzig, vierhundert. „Eintausend Gulden!“ hörte Alandor sich selbst rufen und schluckte schwer. Bei Jebis, er würde es wirklich tun... umzingelt von Piraten und Händlern und die Götter allein mochten wissen, was noch alles... „Fünftausend Gulden!“ rief jemand aus den hinteren Reihen. Alandor klappte fast der Kiefer auf – Adamant besaß weniger Beherrschung, ihm entfuhr ein leises „Bei Lenikki!“. Doch beide wandten sich um, zu überrascht, zu überfordert, um noch ein weiteres Gebot abzugeben. Sie wollten wissen, wer bereit war, zweitausendfünfhundert Gulden für eine der Frauen zu bezahlen. Natürlich hätte man es sich vorher denken können: Einer der Piraten schälte sich aus der Masse, groß, breit gebaut und von beeindruckender Statur. Er trat auf die Tribüne und entrichtete mit einem Säckchen Diamanten seinen Preis, ehe er an den Muskelberg heran trat. Dieser übergab ihm zwei eiserne Ketten, die im Verlauf ihrer Glieder zu den Metallkragen führten, die nunmehr um Vivicas und Suzuris Hälse lagen. Mit einem ruppigen Zug zottelte der Pirat die zwei Frauen hinter sich her und führte sie von der Treppe herab. Einer der anderen Piraten aus der Menge war jedoch dumm genug und konnte seine Finger nicht bei sich lassen. Suzuri schrie halb panisch auf und wich sofort zu Vivica zurück, während der Käufer jedoch inne hielt. Er wandte sich um, schritt auf die Frauen zu und musterte sie grimmig. „Wer?“ verlangte er zu wissen. Doch während Suzuri, festen Glaubens, ihr neuer Besitzer würde sie für ihren Schrei bestrafen wollen, sich dazu ausschwieg, deutete Vivica auf den Burschen, der das Phönixkind betatscht hatte. Harsche, schwere Schritte, ein kurzes Gestammel einer halbgaren Entschuldigung und ein Schlag, dass man hören konnte, dass diese Nase nicht nur einen Bruch erlitten hatte, waren die direkte Folge dessen. Angesichts solcher kompromisslosen Brutalität schluckte Alandor erneut. Als Bannmagier wusste er, wie man sich solche Berge vom Leib hielt, doch hier galt es nicht nur, ihn zu bezwingen, sondern sich aus einer feindlichen Menge frei zu wühlen! „Wir müssen jetzt zuschlagen!“ merkte Badai ungeduldig an. Der Bannwirker nickte nur zögerlich und begann, sich in Richtung der kleinen Meute durchzudrängeln, dicht von Adamant und Badai gefolgt. Zur Überraschung des Magiers jedoch, steuerte der Pirat direkt auf die Seitengasse aus, über die sie den Markt überhaupt erst erreicht hatten – und niemand folgte ihm. Das brachte Alandor wiederum auf einen neuen Plan... C, sozusagen. Sie würden zulassen, dass er den Markt verließ und ihn in der Gasse angreifen. Mit etwas Glück würde niemand diesen Kampf bemerken und sie konnten mit den 'Sklavinnen' entkommen. Immer wieder verloren sie den Käufer trotz seiner stattlichen Größe im Gedränge aus den Augen, weshalb Alandor sich bemühte, rasch aufzuholen. Und dann... endete plötzlich die Masse. Sie stolperten direkt aus der dichten Traube aus Schnaps-, Schweiß- und Meergeruch hinaus... und starrten in sieben Pistolenläufe. „Oh...“ merkte da sogar der Magier wortkarg an. Er hob die Hände, in dem Versuch, die Freibeuter zu beruhigen, die ihm nun gegenüber standen. Unter ihnen war auch der Bulle, der Suzuri und Vivica gekauft hatte. Noch immer hielt er mit der Rechten die Eisenketten, die ihre Gefangenschaft verdeutlichten. Zur Überraschung aller jedoch, schälte sich hinter seinem Rücken eine andere Gestalt hervor. Eine zierlich wirkende Elbe mit feuerrotem Haar und der ihrem Volk zueigenen, schmächtigen Gestalt. Einzig ihr Blick zeugte von der Härte, die das Piratenleben forderte. „Hm. Das kommt... unerwartet.“ merkte die Fremde sichtlich amüsiert an und betrachtete Badai, Adamant und Alandor eindringlich und ohne jede Hast. „Lasst sie gehen! Sie gehören euch nicht!“ fuhr Peter die Fremde herrisch an. Seine Ungeduld, so bedauerte der Magier insgeheim, würde sie noch Kopf und Kragen kosten! Ihr Gegenüber hingegen schien sich daran nicht wirklich zu stören, lächelte er belustigt und setzte dann zu einer einfachen und recht anschaulichen Erklärung an. „Du siehst aus, als kennst du diese Stadt. Dann solltest du wissen, dass mir ihre Brüste gehören, dass mir ihre Lippen gehören, dass mir ihr Unterleib gehört, und wenn ich das will, dann gehört mir jeder Arsch in ganz Sundergrad!“ säuselte die Elbe und bleckte amüsiert über Adamants kläglichen Versuch die Zähne, „Machen wir es kurz und einfach: Ich frage, ihr antwortet. Einverstanden?“ Peter schien natürlich nicht gewillt, sich so einfach abspeisen zu lassen. Die Pistolenläufe schienen ihn da wenig zu interessieren, offenbar ging es ums Prinzip – eine Frau, eine Elbe, eine kleinere und schmächtigere Person als er es war, verwies ihn hier ohne größere Probleme auf seinen Platz. Doch noch bevor dieser vorlaute Bursche ihre Situation verschlechtern konnte, bejahte Alandor die Frage. „Ausgezeichnet. Gehören die Beiden zu euch?“ „Ja.“ „Und ihr wolltet meinen ersten Maat angreifen, um sie zurück zu bekommen?“ „Ja.“ „Seid ihr ein Magier?“ „Ja.“ Alandor war sich nicht ganz sicher, wohin das alles führen sollte – aber noch lebten sie. Diese Elbe musste also etwas mit ihnen vor haben, oder nicht? Warum sonst ließ sie ihre Männer nicht einfach den Abzug drücken? Das gab ihnen zumindest einen Hoffnungsschimmer, eine Chance. Insgeheim bereitete Alandor jedoch auch schon Plan B vor... eine Bannmauer, mit der er sich und seine Begleiter im Notfall gegen die Kugeln würde schützen können. Dann würde er sie fallen lassen und- Die Klinge an seinem Hals ließ ihn erstarren und die Augen aufreißen. Einen kurzen Moment nur war er in Gedanken und Plänen versunken. Offenbar hatte die Elbe die Zeit genutzt, rasch heran zu preschen. „Lass das!“ „Was?“ „Du bereitest einen Zauber vor. Ich bin nicht blöd – lass das!“ fuhr die Elbe ihn an. Alandor war danach, zu seufzen, doch er fürchtete zu sehr, sich den Hals dann an ihrer Klinge aufzuschneiden – sie fühlte sich recht scharf an. Entsprechend ließ er seine Bemühungen vorläufig fallen, ebenso, wie die Elbe das Messer senkte. „Brav so. Interessiert an einem Geschäft? Ich biete euch die Freiheit eurer zwei Begleiterinnen an. Im Gegenzug... werdet ihr für mich eine Kleinigkeit erledigen.“ Da war der Punkt also gekommen – es ging ums Geschäft. Wie hätte es auch anders sein können! Peter wollte sich bereits wieder hervor tun, um die Führung zu übernehmen. Im Feilschen, das gestand Alandor ihm zu, war er unschlagbar. Aber diese Verhandlungen würden nicht so ablaufen, wie er es sich erhoffte. Die Elbe schien Peter mit einem Blick zu durchschauen – und wollte die Verhandlung nur mit dem Magier führen. „Was soll getan werden?“ erkundigte sich der Bannwirker zunächst vorsorglich. Immerhin musste ihre Leistung ja irgendetwas um die fünftausend Gulden wert sein. Woher hätte Alandor auch wissen können, dass sie mit Shandra vom Rotflaggenclan verhandelten, mit der Piratenkönigin von Sundergrad... woher hätte er wissen sollen, dass die Piratenclans die Verkäufe führten und Shandra damit praktisch 'sich selbst' etwas abgekauft hätte, also letztlich nichts würde bezahlen müssen? Eben dieser Umstand ließ die Elbe so breit lächeln. Sie würde die Leistungen hier völlig umsonst bekommen, so wie es sich ihrer Meinung nach ohnehin gehörte. „Es ist jemand in der Stadt. Niemand weiß, wie er aussieht oder was genau er ist. Er rennt ständig in einer schwarzen Kutte herum – bei diesen Temperaturen recht auffällig. Seit Tagen traktiert er meine Männer. Er versenkte ein Schiff, er meuchelte mehrere Leute in einer Taverne dahin, er hat ein paar Sklaven befreit. Bis jetzt nichts, was mir schmerzlich ins Fleisch schneiden würde, aber... er ist lästig. Und er wildert in meinem Revier, in meiner verdammten Stadt! Er beherrscht Magie, stark genug, dass ich mit ihm nicht fertig werde. Zumal er schwierig aufzuspüren ist. Er scheint irgendeinen Plan zu verfolgen, aber ich weiß nicht, welchen. Ist mir auch egal – ich will ihn einfach tot sehen!“ So lag das also! Je mehr Alandor hörte, umso mehr entspannte sich sein bis dato verkrampftes Gemüt. Die Pistolenläufe? Die erschreckten ihn nicht mehr. Weshalb auch – diese Elbe konnte es sich gar nicht leisten, sie abzuschießen. Sie war auf sie angewiesen...! Allerdings berunruhigte ihn dafür der Gedanke, wofür er hier eingespannt werden sollte. Eine Jagd quer durch Sundergrad nach einem... Magier? Nein, wohl eher nicht. Das Vorgehen klang nicht nach einem Anhänger der Zirkel. Ein Abtrünniger vielleicht? Oder ein Hexer. Da war ein Detail... das ihn irritierte. Es erinnerte ihn an etwas, aber noch vermochte er nicht zu sagen, was ihn an dieser Geschichte so verstörte. Stattdessen lehnte er sich weit aus dem Fenster und versuchte zu prüfen, wie nötig diese Elbe ihre Hilfe wirklich hatte. „Das ist nicht genug.“ „Bitte?“ „Unsere Begleiterinnen überlasst ihr uns sofort. Sie sind im Kampf sowieso unverzichtbar. Darüber hinaus verlangen wir ein Schiff und einen Steuermann, der sich in den nördlichen Gewässern auskennt. Und Seekarten.“ Alandors harscher Vorstoß schien die Elbe einen Moment aus der Fassung zu bringen, ehe sich ein breites, zufriedenes Grinsen auf ihre dünnen Lippen legte. Jetzt, bei Lenikki, sprachen sie endlich die selbe Sprache! Sie ließ sich seinen 'Vorschlag' durch den Kopf gehen. Ein Schiff war eine große Investition und wenn sie es übergab, würde sie es vermutlich nie wieder sehen. Seekarten dagegen waren leicht zu beschaffen. Aber einen Steuermann? Keiner von ihren Leuten wäre dümmlich genug, diese merkwürdige Bande zu begleiten! Ein kurzes Hin und her zwischen beiden entspann sich und letztlich verblieben sie so, wie Alandor es erwartet hatte – Schiff und Karten bekämen sie, Suzuri und Vivica wurden die Halseisen abgenommen, doch einen Steuermann mussten sie selbst auftreiben. Per Handschlag besiegelten Alandor und Shandra das Geschäft – unter mulmigen Blicken, sowohl der Piraten als auch seiner eigenen Gefährten. Zumindest für den Moment war Alandor fest überzeugt, dass Jebis ihm ein Geschenk hatte zuteil werden lassen. Die Frauen waren wieder, wo sie hingehörten: Frei und an seiner Seite. Noch dazu würden sie kein Vermögen für einen wahnsinnigen Kapitän und seine Crew ausgeben und das Risiko eingehen müssen, in nördlichen Gewässern einfach über Bord geworden zu werden, denn nun hatten sie ihr eigenes Schiff! Nur der Steuermann war noch ein Problem, aber... man konnte den Göttern ja schließlich nicht abverlangen, dass sie sich um jedes Detail kümmern würden. Shandra nannte dem Tross einige Orte, an denen der Unbekannte bereits zugeschlagen hatte und so machte sich der Bannwirker in Begleitung auf, sich diese Szenerien näher anzusehen. Die erste Station war eine Gasse. Sie war bereits 'aufgeräumt' worden. Nur das Blut zeugte noch von dem Gemetzel, das hier stattgefunden haben musste. Warum sollte jemand, der über solche Mächte gebot, sich damit herum plagen, einzelne Sklaven zu befreien? Die Elbe hatte sich geweigert, ihnen zu sagen, um wen es sich bei diesen Sklaven handelte – und nicht zuletzt deshalb vermutete Alandor, dass genau dies die Antwort geboten hätte. So jedoch war dieser Schauplatz wertlos. Der zweite Ort des Geschehens war einer der Hafenstegs. Jenseits des flachen Wassers ragte ein Nest an einem Mast aus dem Wasser, unterhalb der Oberfläche zeichnete sich sogar noch ein gespanntes Segel ab – das versenkte Schiff offenkundig. Es war noch am Pier liegend gesunken. Für Vivica und Suzuri deutlich unerträglicher war da der Anblick am Pier selbst. Ein Berg von Körpern, die aufgeschichtet wurden. Aus einer nahe am Steg gelegenen Taverne schleppten Piraten mit ernsten, grimmigen Gesichtern immer mehr Tote aus dem Haus und drapierten sie auf dem Berg. Letztlich würde man sie entweder auf See bestatten, damit sie in Eumenes' Reich eingehen konnten, oder man würde den Haufen einfach mit etwas Schwung in das Hafenwasser entsorgen. Wobei das zwar einfacher, aber ziemlich dumm wäre. Alandor scherte sich jedoch nicht um die mögliche Seuchengefahr – ihn interessierten die Wunden der Toten. Nicht zuletzt deshalb... weil es keine gab. Dutzende Leichen, ihre Grimassen in Schrecken und nackter Panik erstarrt, aber keiner von ihnen zeigte auch nur ein Zeichen eines Kampfes. Sicherlich, Narben gab es viele – die Meisten jedoch alt und verheilt. Der Bannwirker überwand sich sogar weit genug, einen der Toten am Hals zu berühren – und das erst ließ ihn die Geschichte der Elbe ernst nehmen. Es waren die flüchtigen, sich rasch auflösenden Abdrücke magischer Energien, die sich an den Körpern fanden. Sie waren auf gewaltsame Weise durch Magie getötet worden und der Masse an Opfern nach, ging das sehr schnell. Niemand war aus dem Gasthaus entkommen. Alandor trat von dem Berg zurück zu seinen Gefährten und war heilfroh, dass die salzige Seeluft sogar den Leichengestank übertünchte. Gemeinsam begaben sie sich trotz Vivicas und Suzuris Widerwillen in die Spelunke. „Seht euch um, seid gründlich, aber vorsichtig!“ mahnte der Magier und versuchte, irgendeine verwertbare Spur zu finden. Badai und Adamant, beide ergriffen von der mehr als gedrückten Grabesstimmung, begaben sich nach oben, während Suzuri und Vivica die Räumlichkeiten der Wirtsfamilie durchsuchten. Alandor verblieb im Hauptraum der Schenke und sah sich die Anordnung von Stühlen und Tischen an. „Heda, könntet ihr mir vielleicht helfen?“ sprach der Bannwirker nach einigen Minuten der Ratlosigkeit einen der Piraten an, die die Leichen hinaus trugen. Unwillig ließ der von seiner Arbeit ab und gesellte sich abseits zu Alandor. „Was gibt’s?“ „Was wisst ihr über den Angriff hier?“ „Muss schnell gegangen sein. Alle Lampen im Haus war'n gelöscht als wir kamen un' die Leute lagen tot verstreut 'rum, hingen über dem Geländer, über dem Tresen, lagen unter'n Tischen. Oben in einem der Zimmer wurd'ne echt üble Sauerei angerichtet! Blut und Gedärme überall. Wie in'er Gasse drüben beim Markt, wo dieser Hurenbock die ganzen Leute abjeschlachtet hat.“ „Ihr meint... die befreiten Sklaven?“ „Befreit? Pah!“ mit dieser abfälligen Antwort spuckte der Freibeuter sehr zu Alandors Ekel auf den Dielenboden und schüttelte den Kopf, „Alles Blödsinn! Man hat s'e nur nich' jefunden, das is' alles. Sind tot, jede Wette druff. Gillians Truppe hätte versucht, die Stadt zu verlassen, aber weder am Hafen noch am Tor ham' wir sie jeseh'n. Ich sag euch: Die sin' tot!... Noch wees'et keiner, aber wenn 'de mich fragst, da oben hat's seinen ersten Maat zerlegt!“ Letztlich, so ungern Alandor es auch zugab, verdankten sie den relevanten Durchbruch diesem Halunken. Damit hatten sie erstmals eine feste Spur: Wer oder was auch immer dieser Kuttenträger war, er jagte die Crew dieses 'Gillian'. In Folge dieser Erkenntnis ließ sich Alandor alles über Gillian erzählen, was der Pirat wusste. Ein alter Elb, der den Clans eine Menge Geld schuldete, für seine raue und schweigsame Art bekannt war und dessen Schiff man als Ausgleich für seine Schulden übernommen hatte. Offenbar war er nach Sundergrad zurückgekehrt in der Hoffnung, mit dem Fürstenmedaillon zum Piratenkönig zu werden, was seine Schulden natürlich nichtig gemacht hätte. Doch irgendetwas musste schief gelaufen sein – das Medaillon wurde verkauft, und zwar nicht an ihn. Damit saß er ziemlich schnell übel in der Tinte, verkroch sich bei alten Bekannten, in Tavernen, Gasthäusern. Seine Crew zerstreute sich rasch in dem Versuch, den Piraten zu entkommen. Die Meisten griff man auf und verkaufte sie als Sklaven an einen Fürsten aus Übersee, der jedoch samt seiner Geleitschaft in einer Gasse abgeschlachtet wurde. Die Crewmitglieder hingegen verschwanden. Danach folgten mehrere Attentate, quer über die Stadt verteilt, bis hin zu dem Gemetzel in der Taverne. Von Gillian selbst fehlte jedoch jede Spur, wie es schien. Alandor bedankte sich mit einem Silberling für die Auskunftsfreude des Freibeuters, der daraufhin lediglich zurück gab, das alles besser sei als den ganzen Tag die Leichen seiner Kameraden auf den Steg hinaus zu schleppen. Die Gruppe hingegen verließ die Taverne wieder und beriet sich vor der Szenerie des Hafens, in dem unzählige Piraten- und Handelsschiffe be- und entladen wurden. „Wenn Gillian noch lebt, müssen wir ihn finden. Er ist das nächste Ziel, möglicherweise das Letzte, bevor unser Unbekannter verschwindet und der Deal platzt. Ich möchte nicht erleben, was diese Elbe macht, wenn sie das mitbekommt...“ eröffnete Alandor und blickte in die Runde. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er diesen entmachteten Kapitän finden sollte. Badai begann von Spuren zu faseln und Adamant warf ein, dass er 'Kontakte' befragen könne. „Wenn sein Schiff noch im Hafen ist, sollten wir da vielleicht einfach mal nachschauen...?“ hakte Vivica etwas unsicher nach. Binnen eines Wimpernschlages wanderten die Blicke in Erkenntnis getränkt zu ihr. Sie hatte eine grandiose Idee gehabt – und wurde trotzdem rot. „Ich... mein' ja nur...“ schob sie leise nach. Der Kapitän, ohne Schiff, ohne Crew, versoffen und abgewrackt... natürlich würde es ihn zum Symbol seines einstigen, freien Lebens zurückziehen, oder nicht? Zumindest erschien das allen am wahrscheinlichsten, weshalb sie beschlossen, diesem Gedanken nachzuspüren. Bis zum Abend hieß das, ruhig zu bleiben. Zwar gingen sie anfangs noch dem Alternativplan nach, Schenken und Gasthäuser nach dem Verbleib des alten Seebären zu fragen, doch erwiesen sich die Sundergrader Wirte allesamt als ein recht eigenbrödlerisches und verschwiegenes Völkchen, dessen Zungen, wie in der Stadt nur zu oft der Fall, er vom Glanz feiner Münzen gelockert wurde. Alle Schenken Sundergrads auszufragen hieße, sich völlig jeder Zahlungsmöglichkeit zu berauben, weshalb sie auf Adamants Verweigerung, noch einen weiteren Schritt zu tun, schließlich in einem der Häuser inne hielten und bis zum Abend ausharrten. Vivica wusste sich diese Zeit damit zu vertreiben, dass sie dicht bei Adamant versuchte, allen Blicken und Annäherungsversuchen des hiesigen Pöbels zu entkommen und zugleich in seinen Kartentricks wenigstens ein klein wenig Ablenkung zu finden, während Suzuri dicht bei Alandor blieb und ihn hauptsächlich mit der wiederkehrenden, immer anders formulierten Frage traktierte, wann sie die Stadt denn endlich verlassen konnten. Badai war angesichts seines ständig voll scheinenden Bierkruges der Einzige, der sich zumindest etwas zu amüsieren schien, während den anderen doch eine gewisse, nicht weichende Anspannung anzumerken war. Sie verblieben immerhin in der Stadt, weil sie für eine Elbe einen Kampf gegen jemanden austragen sollten, den sie selbst zu bezwingen nicht fähig war. Entweder war diese Elbe also sehr schwach... oder der Magier verflixt stark. Alandor hatte derweil endlich heraus gefunden, welches Detail der Erzählung ihn so gestört hatte. Es war die schwarze Kutte gewesen, in Verbindung damit, dass niemand wusste, woher dieser Fremde kam, wohin er ging oder wer er war. Es gab Geschichten und Gerüchte über solche Figuren, doch zumeist hielt man sie für Märchen. Oftmals lag man damit richtig – aber eben nicht immer. Und die Leichen, verstreut quer über die Straßen Sundergrads, sprachen dafür, dass es sich hierbei nicht um eine der Geschichtchen zur seichten Unterhaltung handelte. Als sie aufbrachen, fühlten sie sich dennoch bestärkt. Vielleicht lag es an der Ruhepause, am gestärkten Magen oder den angenehm kühl wirkenden Abendwinden, doch die Spannung schien sich trotz des nahenden Kampfes eher ab- als aufzubauen. Es brauchte nicht viel Zeit, um die Docks zu finden. Schwieriger war es da schon, sich zu Gillians Schiff durchzufragen, ohne zu viel über die eigenen Beweggründe zu verraten und weil Peter diese Stadt, seine zwielichtigen Bewohner und deren hinterlistige Art nun einmal bestens kannte, überließ Alandor diese Aufgabe auch genau deshalb ihm. Ihr Weg führte sie bis an den Pier, an dem ein geisterhaft leeres Schiff vor ihnen aufragte. Die Planke führte bis aufs Deck und dort verstärkte sich nur der unheimliche Eindruck. „Geht ihr runter und seht euch um, jeden Winkel, jeden Frachtraum.“ teilte Alandor die Aufgaben zu. Niemand wollte länger als nötig an Bord bleiben, weshalb sie sich zerstreuten und damit deutlich zügiger Raum für Raum absuchten. Das Schiff erwies sich dabei als größer, als es zunächst von außen wirkte. Alandor begutachtete die Kapitänskajüte, ließ – wohl sehr zu Badais Bedauern – den guten Rum stehen und nahm stattdessen das kleine Säckchen mit, dessen Inhalt ihre Reisekasse aufstocken würde. Eigentlich ein Wunder, dass die Piraten es bei ihrer Übernahme nicht gefunden hatten... oder aber, es lag hier nur deshalb so offen herum, weil Gillian tatsächlich an Bord war. Als hätte dieser Gedanke das Stichwort gegeben, hörte er Adamant verhalten rufen. Nach und nach fand sich die Gruppe auf Deck wieder zusammen und begutachtete den 'Fang' Peters. Er hielt einen alten, offenkundig sturzbetrunkenen Elb am Kragen gepackt, dessen blaues Auge irgendwie verdächtig frisch aussah... „Musste das sein?“ fuhr Alandor ihn ungehalten an und versuchte, dem Spitzohr aufzuhelfen, nur um festzustellen, dass dieser sehr eigenwillige Vertreter des 'hohen Volkes' dank des Suffes sofort wieder in sich zusammen klappte wie ein Messer. Sonderlich hilfreich im Sinne von gelieferten Antworten oder Informationen war der alte Kapitän damit leider nicht. Andererseits war das auch gar nicht nötig – Alandor hatte ihr Vorgehen als Rohfassung längst im Kopf und nun, da sie das zentrale Element seines Planes aufgegriffen hatten – den Köder – konnte dieser auch ohne weitere Verzögerungen umgesetzt werden. „Kommt her, wir müssen die Rollen verteilen!“ merkte der Bannwirker an und wartete, bis alle dicht genug bei ihm waren. Er rechnete zwar nicht mit hellhörigen Ohren jenseits des Steges, aber wenn es sich bei ihrem Feind wirklich um das vermutete, was er befürchtete, dann konnte man im Grunde nicht vorsichtig genug sein. Als er seine Vermutung offenbarte, reagierten alle so, wie er es erwartet hatte. Vivica stutzte ungläubig, Adamant wollte sich sogar sichtlich amüsiert darüber auslassen, dass der große Herr Zirkelmagier sich gerade völlig lächerlich mache und Badai und Suzuri blickten so elend fragend drein, dass ihnen ihre Absicht praktisch auf die Stirn geschrieben stand. Aber während Suzuri sich in Geduld übte, musste Badai dergleichen natürlich ausformulieren. „Was ist ein 'Ceteusdiener'?“ Pläne, so war Alandor fest überzeugt, waren bei einem größeren Kampf gegen einen Feind, dem man das erste Mal gegenüber stand, eigentlich das wichtigste Rüstzeug. Sie konnten nicht nur über Sieg oder Niederlage entscheiden, nein, ganz klar – sie taten es! Wer ohne einen guten Plan in einen solchen Kampf stolperte, war auf Gedeih und Verderb der Gnade seines Feindes ausgeliefert. Demgemäß scheute Alandor nicht davor zurück, jedes Detail doppelt und dreifach zu erklären, damit jeder seine Rolle verinnerlicht hatte. Zufrieden waren gerade Badai und Adamant mit ihren Rollen nicht, auch Suzuri wirkte eher zögerlich, aber andererseits... was hatten sie für eine Alternative? Zumal Alandors Pläne bisher gut funktioniert hatten. So kam es, dass die zwei Opportunisten johlend und gröhlend durch die Seitengassen zogen, immer Gillian zwischen sich gestützt. Der gute Rum aus der Kapitänskajüte hatte es doch noch in ihren Besitz geschafft und wurde hier und da kurz an die Lippen gesetzt, ohne nur einen Schluck zu nehmen – einzig der alte Elb trank sich um Kopf und Kragen. Fast durch halb Sundergrad mussten sie dieses mehr als lächerliche Schauspiel führen, ehe sich der gewünschte Effekt endlich einstellte: Die Schatten der Gasse schienen sich zu verdichten, wurden zu undurchdringlichen Wänden, die zusammen mit den Häusern um sie herum einen Käfig bildeten. In eben diesen Käfig trat, wie aus der schwarzen, nebulösen Wand herausgeschält, die Gestalt, die sie gesucht hatten. Bleiche, ausgemergelt wirkende Hände reckten sich und deuteten auf den Elb, ehe sich die Hand umdrehte und eine Geste vollführte, die andeutete, dass sie eben diesen ihm übergeben sollten. Badai und Adamant versuchten zwar, rein ihrer Neugier wegen, mit dem Unbekannten zu sprechen oder wenigstens unter die schwarze Kapuze zu blicken, doch dergleichen gelang ihnen einfach nicht, weshalb sie die Arme des Kapitäns, der sich auf ihre Schultern stützte, nun schlicht abluden und ihn wie einen Sack Mehl fallen ließen. Erst als sie sich aufbauten, ganz ohne verräterisches Wanken und Lallen, begann dem Feind klar zu werden, dass er in eine Falle gelaufen war. „Jetzt!“ rief Badai gehorsam aus. Der nächtliche Wind trug geflüsterte Worte herbei, die vermummte Gestalt fuhr herum, gewillt, diese Frechheit mit dem Tod zu vergüten, als er auch schon von Alandors Magie getroffen wurde. Der Magier hatte eine flexible Schale um ihren Gegner errichtet, die ihn sowohl am fliehen, als auch am Wirken seiner eigenen Magien hindern würde – ein Zauber, der den Bannwirker jedoch einiges an Kraft und Energie abverlangte und selbst dann nicht lange aufrecht erhalten werden konnte. „Jetzt!“ ertönte es nunmehr von Alandor. Auf das abgesprochene Kommando hin traten Vivica und Suzuri auf der anderen Seite der Gasse hervor und schlossen damit ihrerseits einen Käfig um den Feind. Nun kam der mehr als riskante Teil: Suzuris Magie war instabil und unterlag nur bedingt ihrer Kontrolle und Alandor war sehr zu seinem Leidwesen fest überzeugt, dass auch Vivicas Macht nur begrenzt war. Dennoch versuchten sich beide darin, den Kuttenträger in die Knie zu zwingen. Ihre Zauber passierten die Schilde Alandors mühelos – der Bann war eine Einbahnstraße, alles rein, nichts raus. Dennoch gelang es ihnen nicht, schnell genug so viel Schaden auszuteilen, wie nötig war. Vor der geplanten Zeit brach Alandors Schild zusammen, ebenso, wie der Magier in die Knie brach. Er hatte sich schlicht überschätzt. Seine Stirn stand von kaltem Schweiß, seine Hände gruben sich taub und zitternd in die Erde, während der Magier desorientiert sich auf den Gassenboden übergab. Für den Feind war das der Moment, zurück zu schlagen. Zumindest hätte er das sein sollen. An dieser Stelle hätte der Kampf für den Magier und seine Gruppe entschieden werden sollen. Und aus eben diesem Grund waren Badai und Adamant unzufrieden – ihre Rollen waren lächerlich. Nun jedoch zeigte sich, dass Alandor nicht ganz der Narr war, wie sie es vermutet hatten. Nun griff der 'Plan B'. Badais erster Schwerthieb traf den Gegner empfindlich und obgleich die Wunde oberflächlich war, zerstörte es doch die Konzentration des Feindes. Kaum den Vorteil der Reichweite einer Klinge ausgenutzt, war Adamant bereits nah genug herbei. Kleiner als er, schmächtiger als er – konnte man schaffen! Der erste Fausthieb traf das, was Peter für die Nase hielt. Zumindest hoffte er das – wer wusste schon, was für ein Gesicht unter der Kutte lag? Er setzte sofort zum nächsten Schlag an, ebenso, wie Badai zu einem Stoß ausholte, doch da riss der Fremde die Arme in die Breite und ließ sich zurück fallen. Er verschmolz binnen eines Wimpernschlages mit der Schwärze der Wände, den Schatten der Gasse. Das nächste Geräusch waren die Schreie der Frauen, als die Dunkelheit selbst ihnen näher rückte, sie umkreiste. Formlose Schatten ohne jede Substanz schlangen sich um ihre Gelenke, zerrten mit unnatürlicher Kraft daran, als wollten sie sie in Stücke reißen – was der Wahrheit erschreckend nah kam. Plötzlich gab es einen weiteren Aufschrei, dunkler, männlich – und nicht weit entfernt. Blitze hatte sich angeschlichen, die Götter allein mochten wissen wie, und sich auf einen Feind geworfen, den niemand mehr zu sehen fähig war. Er hatte die verhüllte Gestalt zu Boden gerissen und sich mit seinen kräftigen Kiefern in dessen Schulter verbissen, nur um nun mit nicht unerheblicher Kraft daran zu rütteln und zu reißen. „Gut so, alter Junge!“ feuerte Peter seinen Begleiter an und eilte zu den Frauen, während Badai sich um den Gegner zu kümmern gedachte. Der Feind versuchte sich dem Biss des Hundes zu entziehen, doch je mehr er sich wehrte, umso fester schraubten sich die Kiefer zusammen. Selbst die Versuche, den Hund von sich zu schlagen, die Schatten, die auf das Tier einschlugen wie Fausthagel, schienen Blitze eher wütender und starrsinniger zu machen. Zuletzt senkte sich Badais Klinge nieder und durchbrach das, was Halswirbel und Kehle ausmachte. Erst als die Gegenwehrversuche, das Geschrei und auch das letzte Zucken dieses Körpers endete, ließ der massige Hund von seiner Beute ab. Badai zog sein Schwert zurück und die Gruppe sammelte sich um Alandor, der nur sehr mühsam wieder auf die Beine kam. „Haben wir es geschafft...?“ erkundigte sich der Magier sichtlich mitgenommen. Als hätte er diese Bestätigung gebraucht, kam Blitze daher und präsentierte ihm und auch seinem Herrchen stolz seinen neusten Fang – im Maul ein Handgelenk, an dem noch der komplette, bezwungene Gegner hing. „Musst du nur ständig auf allem rumkauen!“ maßregelte Adamant und musste, allein dieses ulkigen Anblickes wegen, letzthin doch lachen. Kapitel 14: Alte Wunden ----------------------- Rache war immer so eine Sache. Thorin konnte sich wohl mit am wenigsten leisten, über jene zu urteilen, denen es danach verlangte. Gleichwohl aber, wusste der Krieger auch mehr darüber als kaum ein anderer. Er kannte das brennende Verlangen, die eigenen Hände im Blut eines Feindes zu baden, er kannte die Begierde nach dem Blick in fremde Augen, wie sie voller Angst, Verzweiflung und Entsetzen Ereshkigals Schatten aufziehen sahen. Und er kannte den faden, schalen Geschmack, wenn man das einstige Ziel der eigenen Rachewünsche zu Boden sinken ließ, sich erhob und einen Blick um sich herum warf. Die Welt hatte sich nicht verändert, der Schmerz war nicht verschwunden, eigentlich... hatte man trotz solch starker Gefühle und deren zielstrebiger Umsetzung nicht das Geringste bewirkt. Nur ein weiteres Leben, das ausgelöscht war. Nicht mehr, nicht weniger. Trotz alledem wusste der Kahlköpfige aber auch, dass Rache durchaus eine Triebfeder dieser Welt war. Er selbst hatte Rache geschworen, nicht nur einem einzelnen Wesen gegenüber, sondern einem ganzen Volk – und er hatte die Welt verändert! Wenn auch nicht allein... Doch konnte er Ninafer vorwerfen, was sie zu tun, welche Pfade sie zu schreiten bereit war? Wohl kaum. Seit der Begegnung mit Duncan hatte es deutlich mehr Momente der Schwäche in ihrer sonst so höflichen, dennoch aber auch etwas distanziert wirkenden Mauer gegeben. Sie bröckelte vor sich hin, ihr Schutzwall, der ihr all die Jahre geholfen hatte, das Unrecht zu ertragen, das man vor ihren Augen verübte, das ihr zu Ohren kam, das sie... am eigenen Leib erfahren musste. Ihr Geist war angeschlagen? Vielleicht. Aber er war nicht zerstört. Duncan jedoch schien etwas in Bewegung gesetzt zu haben. Vielleicht war Ninafers Wunsch weit mehr als nur Rache – vielleicht war es ihr Versuch, das, was er zu bewirken versuchte, aufzuhalten. Und bei Arimasper, wer war er schon, zu wissen, ob das funktionieren konnte? Sein Blick fiel lediglich auf die gähnende Schwärze vor ihm. Glitschige, flache Treppen führten tief hinab in die Eingeweide der Erde. Ceteus selbst hätte da unten hausen können – sie wussten nicht, was sie erwarten würde. Bis hierher hatten sie die Spur verfolgt, aber nun stand es schwierig um ihr Vorankommen. Es wurde gezögert, alle spürten es – selbst Ninafer hielt inne, zauderte, blickte den Tunnel hinab, der sich in den kleinen Hügel mitten im Nirgendwo der weiten Grassteppe gefressen hatte. Vorsichtig trat der Krieger an die Adlige heran. Er wollte ihr helfen, gleichwohl sie aber nicht erschrecken. „Noch können wir umkehren.“ merkte er leise an. Die Anderen mussten nichts von diesem Gespräch erfahren, sie mussten keines seiner oder ihrer Worte hören. Diskretion, ausnahmsweise. Sie blickte zu ihm auf, der Blick glasig. Hatte sie in Erinnerungen fest gehangen? Hatte er sie befreit oder gestört? Der Wunsch, sich zu entschuldigen, war nicht unerheblich – doch Thorin unterdrückte ihn. Bisher hatte sie meist zu sagen gewusst, wann ihr etwas nicht recht war. Dieses Mal schüttelte sie einfach nur den Kopf und obwohl er verstand, wollte er sicher gehen. „Wir wissen nicht, was uns dort unten erwartet.“ „Eine Falle.“ gab Ninafer zu seiner Überraschung völlig gleichmütig wieder. Die ganzen Tage über hatte er es bereits geahnt. Duncan bereitete etwas vor. Die Spur war zu deutlich, sie war einfach zu leicht zu verfolgen. Nicht er hatte das festgestellt – ihm war es nur recht gewesen, einer leicht lesbaren Spur nachzujagen. Tokhtora hatte es angemerkt. Diese verdammte Grünhaut. Er traute ihr keinen Fingerbreit, aber – und das musste selbst Thorin zugestehen – diese Wilde aus den Dschungeln am Ende der Welt verstand sich nun einmal besser darauf, Spuren zu deuten und zu erkennen, ob sie glaubwürdig waren, oder ob man sie mit Absicht hinterlassen hatte. Wenn hier wirklich Letzteres der Fall war, würde sie dort unten tatsächlich keine angenehme Überraschung erwarten. Doch woher wusste Ninafer davon? Die verdammte Grünhaut hatte ihm das 'im Vertrauen' gesagt – als wenn er jemals einem Ork trauen würde! Offensichtlich hatte sie ein gutes Gespür. Oder sie stand in Kontakt zu Ereshkigal – wer wusste das schon? Thorin hatte gelernt, dass man sich bei Ninafer sicher sein konnte, dass es nichts gab, dessen man sich bei ihr wirklich sicher sein konnte. Das war zumindest bisher die einzige wirkliche Konstante, die er erkannt hatte. Immerhin hatte er sie inzwischen sogar schon wütend erlebt – und war doch zuvor fest überzeugt gewesen, das sei bei ihrem hin und wieder recht unbedarften Wesen unmöglich. Offenbar sammelte sich die Adlige nur, bis sie voran schritt, von Thorin gefolgt auf den gähnenden Schlund zu. Sie zog eine der gelöschten Pechfackeln hervor und hielt sie Raven entgegen. „Ich bin kein Feuerstein.“ schnauzte die Kriegerin und kam der stillen Aufforderung dennoch nach. Thorin hingegen bemühte sich, zu schweigen, unauffällig zu bleiben, sich im Hintergrund zu halten. Er verstand sich gut mit Ninafer – und dem nach, wie Raven der Adligen in letzter Zeit gegenüber trat, vielleicht ihrer Meinung nach etwas zu gut. Dabei gab es eigentlich keinerlei Besitzansprüche, die hier irgendwer hätte geltend machen können. Zugegeben, zu Beginn der Reise, die ersten Tage und Wochen, hatte Raven eine nicht unerhebliche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Aber das hatte sich auch wieder gelegt. Wenn er das Bett mit einer Frau teilte, verlangte es ihn danach, die Wärme eines anderen Körpers zu spüren – doch Raven war so kalt wie eine Herbstnacht. In seinem Leben hatte er viel gesehen und erlebt, was ihn nachhaltig verändert hatte. Raven erging es genauso und hatte diese Parallele anfangs noch für Annäherung gesorgt, war sie inzwischen ein weiterer Teil des Mosaiks, der den Abstand aufrecht erhielt: Thorin erinnerte sich an den 'Blutengel', wie Raven in manchen Landstrichen genannt wurde. Er hatte sie nie zuvor persönlich gesehen oder getroffen, aber er erinnerte sich an die Geschichten, die Märchen, die Gerüchte. Es war viel Gutes dabei, sicherlich... aber eben nicht nur. Und manche der Gräueltaten, die man ihr nachsagte, waren... inakzeptabel. Selbst für einen Mann wie ihn, der es sich möglicherweise nicht leisten sollte, über die Grausamkeit und Skrupellosigkeit anderer zu richten. Und dann war da noch ihr Blutdurst. Thorin kannte sich mit Magie nicht aus. Er wusste, was die Zirkel über Hexer propagierten und glaubte dem nicht wirklich. Blasierte Herren in Talaren, die glaubten, man würde sie überall wie Könige behandeln oder hätte das zumindest gefälligst zu tun? Nein, das war auch nur ein Verbund von Egomanen. Besonders mächtige Egomanen vielleicht, aber das änderte nichts an ihrem Wesen. Sie waren gefährlich, vermutlich genauso gefährlich wie die Hexen und Hexer, die sie so verteufelten. Dann waren da noch die Dämonen. Gefährliches Pack aus den Niederhöllen, hieß es. Er verstand nicht wirklich, woher sie kamen – obwohl man hier und da versucht hatte, ihm das zu erklären. Dämonen waren unheilige, verdorbene Kreaturen, die in diese Welt einfielen und nur Schaden verursachten. Natürlich klang das schrecklich voreingenommen, doch Tatsache war, dass der Axtträger in seinem Leben einige Dämonen getroffen und bekämpft hatte. Keinen davon hatte er je auch nur ein Wort sprechen hören – vielleicht waren sie dazu auch gar nicht fähig? -, aber jeder von ihnen hatte alles und jeden angegriffen. Und Blut spielte nach Thorins Wissen und Vermutungen immer eine negative Rolle bei soetwas. In Ritualen half es, Dämonen zu beschwören. Abtrünnigen Magi half es, dunkle Zauber zu weben. Manche Wesen zogen ihre Kraft daraus – so wie Raven. Man konnte über Magie, die Zirkel, Dämonen und die Zusammenhänge von Ravens Blutdurst sagen, was immer man wollte – Blut zu trinken und sich damit zu stärken konnte einfach kein Merkmal der 'Guten' sein. Kein rechtschaffenes Wesen würde von den Göttern derartig gestraft werden. Also musste etwas Böses am Werk sein. Entgegen landläufiger Meinungen war das nichts, das Thorin irgendwie anzog. Wie erwartet, richtete Raven kurz nach ihrer kleinen, verbalen Attacke den Blick geradezu nach Unterstützung heischend gen Thorin, der seinerseits die Regung rechtzeitig mitbekam und so unauffällig wie möglich zur Seite spähte – demonstrativ für 'ich habe nichts gesehen'. Eigentlich schrecklich, zu was für kindischen Aktionen er hier getrieben wurde, doch er würde sich ganz sicher nicht in die zermalmende Kluft der Streitigkeiten zwischen zwei Weibern werfen. Sowas ging immer schlecht aus... in der Regel für den Mann. „Ich gehe vor.“ konstatierte der Krieger knapp, winkte Tokhtora und Orykene heran und nahm Ninafer die Fackel ab. Natürlich sträubte sie sich einen Moment. „Was immer dort unten lauert – mich kann es überraschen, aber nicht töten. Und ich bin besser gepanzert und ausgerüstet.“ ließ er die Adlige wissen. Argumente, denen es durchaus nicht an Vernunft fehlte, weshalb sie ihren Griff schließlich löste und die Führung abgab. Thorin schritt die ersten Stufen herab und versuchte zu ignorieren, dass Raven sich mit zweifellos selbstzufriedener Miene hinter ihn drängte. Stufe um Stufe ging es tiefer in das Erdreich. Die Luft wurde stickiger, wärmer und roch zunehmend abgestandener. Dort unten mussten Katakomben oder dergleichen liegen, aber wer würde so tief graben? Zwerge? Die hätten einen ordentlichen Tunnel angelegt, vermutlich groß genug für einen Drachen, eine gute Treppe, die zu jeder Tages- und Nachtzeit beleuchtet wäre und Tore, die nicht einfach halb aus den Angeln gerissen offen stehen würden. Selbst für Goblins war dies einfach nicht die richtige Bauweise. Wissen, das Thorin für sich behielt. Es nützte niemandem, zu erfahren, von wem dieser Gang nicht stammte. Eine kurze Bewegung aus dem Augenwinkel ließ den Krieger gerade noch rechtzeitig reagieren. Er warf die Fackel, flüsterte leise Ninafers Namen und griff beherzt zu. Die Adlige verstand dank des Echos im Gang jedes Wort klar und deutlich und schaffte es, das lodernde Stück pechgetränkter Leinen am Stock aufzufangen. Thorin dagegen hatte weniger Glück – Raven war auf den Treppen ausgerutscht, schlitterte dank der merkwürdig schleimig wirkenden Oberfläche zwei Stufen herab und wäre wohl bis ans Ende der Treppe gerutscht, hätte der Krieger nicht zugegriffen. Dummerweise konnte auch er ihr Gewicht nicht einfach aufhalten und wieder auf die Beine ziehen. Stattdessen verlor auch er seinen Halt und wurde mitgezogen. Auf einer der Stufen kam das Knäuel aus Menschen endlich zum Stillstand. Thorins Lederrüstung hatte keinen Ton von sich gegeben, aber Ravens Panzer hatte eine hübsche Geräuschkulisse geschaffen, als Warnung für jeden dort unten, dass Eindringlinge auf dem Weg waren – wie überaus unerfreulich! Dementsprechend war Thorin auch alles andere als gut gelaunt, als er die Endsituation dieser Rutschpartie erkannte. Er lag auf dem Rücken, Raven hockte mit zufriedenem Grinsen über ihm und machte keine Anstalten, sich zu erheben. Konnte sie allen Ernstes selbst hier und jetzt daran denken...? Ihr Grinsen schien dafür zu sprechen. Der Kahlköpfige allerdings war nicht für dergleichen Scherze aufgelegt. Er spürte diesen glitschigen Überzug der Treppen an der Haut seines Hinterkopfes, wie die Feuchte langsam durch den Lederpanzer in die Leinen darunter drang und obendrein war ihm nur zu gut bewusst, dass jedes Wesen in dem Gewölbe nun vorgewarnt wäre. Mochte Raven sich darum auch keine Gedanken machen – als vermutlich Unsterbliche würde sie ja so oder so wieder heraus kommen -, doch er hatte die Verantwortung nicht nur für sie und ihr Wohl. Er musste sich auch um Ninafer und Orykene sorgen, ja, sogar um die verdammte Tokhtora. Es war schon das reinste Glück gewesen, dass die Grünhaut und Ninafer Pan hatten überreden können, im Gasthaus bei der Wirtin auszuharren. Sonst würde er sich auch noch mit einem unerfahrenen, tollpatschigen Kind hier unten herum plagen müssen...! Natürlich erreichte Ninafer die Beiden just in dem Moment, als Thorin Raven von sich herunter schieben wollte. Sie sagte nichts, ihre Miene verriet nichts, bei den Göttern, es schien sie nicht im Geringsten zu interessieren. Vielleicht war es gerade das, was den Krieger seinerseits störte. Aber mehr als das, beschämte ihn die Situation. Etwas ruppiger als vielleicht nötig, schob er Raven von sich – die selbst das nicht persönlich zu nehmen schien. Er richtete sich wieder auf, nahm Ninafer dankend die stumm dargebotene Fackel wieder ab und führte die Gruppe bis an den ohnehin nicht mehr weit entfernten Absatz des Tunnels. Wie sich nun zeigte, gab es hier unten tatsächlich ein recht ausuferndes System von Katakomben und Grabkammern. Sie folgten leisen Schrittes den Gängen, mussten manches Mal abwägen, welchen Abzweig sie nehmen sollten. Es schien sich um ein ganzes Labyrinth zu handeln. Wer jedoch in den unzähligen Steinsärgen ruhte, das wusste niemand zu sagen – die Schrift, oder vielleicht waren es auch Runen, kam niemandem bekannt vor und konnte daher auch nicht gelesen werden. Sie traten nach einer ansehnlichen Reise schließlich vor eine große, doppelflügelige Tür aus massivem Metall. Wie viel Zeit sie gebraucht hatten, hierher zu kommen, war ihnen nicht bewusst. Unter Tage verlor man nur allzu rasch das Zeitgefühl. Ninafer studierte derweil schweigend und Seite an Seite mit Tokhtora die Verzierungen des Tores. Gravuren schienen eine Geschichte zu erzählen, von Göttern, Tod und Schande. Doch wessen Geschichte es war, wurde nicht deutlich. Nach einem kurzen Rat beschloss die Gruppe, es mit dieser Kammer zu versuchen. Sie wollten nicht die Grabesruhe der Verstorbenen stören – möglicherweise löste das Fallen aus oder ließ alte Magien aufleben, wer konnte das schon sagen? Noch dazu hatte keiner von ihnen mehr den Rückweg vollständig im Kopf. Aber Ninafer war nach wie vor nicht bereit, die Jagd aufzugeben. Noch nicht. Also postierte Thorin Tokhtora an der einen Tür, Ninafer an der anderen, während er mit Raven Seite an Seite die Waffen gestreckt abwartete. Auf sein Nicken hin zogen die zwei Frauen die schweren Metallflügel langsam nach außen hin auf. „Deckung!“ konnte Thorin noch mit fluchendem Ton rufen, ehe er auch bereits zur Seite sprang. Raven tat es ihm gleich – wenn auch, Arimasper sei Dank, zur anderen Seite. Orykene dagegen kreischte auf in einer Art, die den Axtträger doch sehr an Empörung erinnerte, ehe sie sich geschickt duckte und dann zur Seite schritt. Ein kleiner Pfeilhagel prasselte durch die aufgezogene Tür gegen die Wand des Ganges. Noch während Thorin sich erhob, verebbte die Attacke, während aus dem Raum eine tiefe, durchdringende Stimme ertönte, die langsam an Stärke und Volumen gewann. Der Krieger sah einen Moment nur in Ninafers Gesicht und konnte alles Nötige daraus ablesen. Ihre Hände versteiften sich um den Eisenring der Türhälfte, ihre Miene war zu einem schmerzvollen Ausdruck verzogen – sie kannte diese Stimme, sie kannte sie deutlich zu gut. Geradezu gemächlich schritten Thorin und Raven, von den anderen dreien gefolgt, in den Raum hinein. Er entpuppte sich als gewaltige, runde Kammer, die sich sicher zwanzig Meter und mehr in die Höhe wölbte. Ein Rundgang aus stützenden Säulen hielt den Raum wider der drückenden Erdmassen darüber aufrecht und weitere Steinsärge standen an den Wänden jenseits des von den Säulen skizzierten Ganges. In seiner Mitte jedoch erhob sich auf drei breiten, flachen Treppen eine Art von Altar. Einstmals mochte das Buch, das nun zerstört, zerbröckelt und zu Staub zerfallen am Boden lag, auf eben diesem Altar geruht haben, doch der Quell dieser Stimme und Ninafers Pein hatte offensichtlich den Podest für anderes benötigt und daher ohne jede Rücksicht 'freigeräumt'. Direkt hinter dem Aufbau erhob sich die beeindruckende Figur eines Zentauren. Rajah Tascana, seines Zeichens totgeglaubter Ehrenkrieger der Stämme von Rhovanion. Auch Thorin und Ninafer hatten ihn tot geglaubt. Bei ihrem ersten Treffen mit Duncan war es zum Kampf gekommen. Ninafer durfte es sich selbst verdanken, dass sie die Stärke gezeigt hatte, Orykene zu beeindrucken, denn seit die Harpyie die junge Adlige respektierte, hatte sich Ninafers Sortiment an Giften fast verdoppelt – darunter auch das berüchtigte, 'typische' Harpyiengift, das man in der Wüste in unzähligen Wasservorkommen an der Oberfläche fand. Das Gift, mit dem die Vogelweiber seit Jahrhunderten Tausende von Zentauren in den sicheren Tod schickten – das Gift, das Rajah Tascana eigentlich schon bei ihrem letzten Kampf nieder gestreckt hatte. Wie war das möglich? Noch immer zeichneten sich die violett verfärbten Adern an seinem gesamten Körper ab. Lediglich sein Pferderumpf war von kurzem, aber dichtem Leder bedeckt, das es dem Gift unmöglich machte, zu demonstrieren, dass es auch den letzten Winkel seines Fleisches durchdrungen hatte. Wie bei Ereshkigal war das möglich? „Ist er untot?“ erkundigte sich Thorin leise und blickte zu Ninafer, die einen Moment zweifelte, dann jedoch den Kopf schüttelte – wenige Sekunden, bevor Rajahs hämisches Gelächter aufbrandete. „Untot? Gewürm wie ihr könnte nie begreifen, nie wahrhaftig erfassen, über welche Mächte ich gebiete! Leben zu nehmen und zu geben, gebührt allein mir. Es war mein Wille, dass er überlebt und er tat es. Selbst jetzt noch, da das Gift zu wirken versucht und gegen die Magien in jeder Faser Muskeln und jedem Tropfen Blut ankämpft, ist es einzig mein Wille, der seine Wirkung zurück treibt!“ donnerte die grollende Stimme des Zentauren im Raum auf und ab. Thorin interessierte sich weit weniger für die rhetorischen Reden, die ihr Feind dort oben schwang. Rajah hatte sich bereits verraten – 'dass er überlebt'? Er sah die Marionette, sah das Spielzeug, doch wo war der Puppenspieler...? Er musste nahe sein, musste sie sehen können... oder etwa nicht? Einen Moment lang verfluchte Thorin, dass er Magie nie wirklich verstanden hatte, ihr Wirken, ihre Strukturen – sonst hätte er möglicherweise abschätzen können, wie weit Duncans Macht über seine Gefährten wirklich reichte und damit rätseln können, wo sich dieser Hurenbock befinden musste... Noch während er überlegte und rätselte, schweifte sein Blick mit aller gebotenen Wachsamkeit durch den Raum. Hellrote Kerzen erleuchteten die Krypta. Sie standen aber nicht in den Halterungen, die eine jede der Säulen barg, sondern auf dem Boden und wirkten... neu. Noch dazu schien eine dünne Spur sich über den Boden zu ziehen, aber das mangelnde Licht ließ kaum zu, zu erkennen, worum es sich dabei handelte. Es war Orykene, die das Gemisch erkannte. Die Instinkte der Jägerin machten sich einmal mehr bezahlt, als sie zu Thorin und Ninafer heran trat. „Wachs, Blut und Knochenmehl...“ flüsterte sie leise in warnendem Ton und deutete auf die Kerzen. Da begann Thorin zu begreifen, was hier vor sich ging – doch es war bereits zu spät. Er wirbelte herum, wollte gerade den ersten Schritt setzen, da begannen die Zwerge all ihre Kraft aufzuwenden. Bis hierhin war es ihnen gelungen, die zwei Torflügel lautlos wieder zuzuschieben und nun, da Thorin sie bei ihrem Schaffen entdeckt hatte, mussten sie sich keine Mühe um Heimlichkeit mehr geben. Sie drückten die Tür wieder ins Schloss und von außen schien ein schwerer Riegel vorgeschoben zu werden. Sie waren gefangen. Das akzeptierend, wandten sich die Blicke wieder Rajah zu. Warum war er noch hier drinnen? Natürlich war die Frage nur für Orykene und Raven erheblich. Tokhtora ahnte es aufgrund ihrer Natur als Schamanin, Ninafer spürte, wie dünn der Schleier zum Totenreich hier war und Thorin... nun, er kannte das Gemisch, aus dem die Kerzen bestanden. Er hatte in seinem Leben auch oft genug gegen Magi kämpfen müssen, ein oder zwei Mal sogar gegen Beschwörer und Nekromanten. Bei eben diesen war dieses Gemisch recht beliebt – es eignete sich für Rituale, die mit Dämonen oder Untoten zu tun hatten. Tatsächlich begann Rajahs Stimme sich zu einem rituellen Gesang aufzuschwingen. Raven und Orykene stürmten vor, um ihn zu unterbrechen, ihn zu töten, bevor er was-auch-immer tun konnte, doch der Zentaure warf ihnen etwas entgegen. Fest überzeugt, es handle sich um Waffen, wichen die Angreifer aus... und ein paar harmlose Knochenstücke fielen zu Boden. Entnommen aus den Gruften um sie herum, begann der Ritus die alten Geister zu zwingen, die einstmals ihrem längst verfallenen Fleisch inne gewohnt hatten. Die winzigen Knochensplitter begannen zu wuchern und zu wachsen, stülpten sich aus dem Nichts heraus auf, bis die skelettierten Schablonen sich vom Untod befallen erhoben, dem Wort ihres Meisters zu dienen. Thorin hingegen staunte nicht schlecht. Zu sehen, wie Untote beschworen wurden, war nichts Neues für ihn, doch er hätte nicht erwartet, dass es sich bei dieser Gruft, bei den Hunderten von Toten, die hier unten ihre Ruhe fanden, ausgerechnet um Drakoiden handelte. Doch dort vor ihm standen sie. Zwölf Skelette, deren großer Bau, ihre Körperhaltung, die Schwanzknochen es deutlich machten. Das Echsenvolk musste also einstmals auch im Grünland heimisch gewesen sein. Wie lange das wohl her war? Fragen, die man später würde stellen können. Vorläufig galt es, der prophezeiten Falle zu entgehen und in diesem Kampf hatte Ninafer denkbar schlechte Chancen – Skelette interessierten sich nicht sonderlich dafür, vergiftet zu werden. Der Kampf entbrannte binnen Sekunden. Raven zerschmetterte ohne große Mühe zwei Feinde mit einem gekonnten Streich, doch kaum, dass die Knochen zu Boden stürzten, bauten sie sich von allein wieder zusammen, um den Kampf sofort wieder aufzunehmen. Sie begriffen alle rasch, dass Rajahs anhaltender ritueller Gesang die Quelle der Magie war, doch es war unmöglich geworden, an den Zentauren heran zu kommen. Gleichwohl, wie die Drakoidenskelette angriffen, verteidigten sie auch ihren Schöpfer. Immer wieder rannten die Angreifer gegen die knöcherne Mauer, versuchten sich eine Schneise zu schlagen und zu ihm durchdringen zu können. Dabei war das Durchbrechen zwar schwierig, aber nicht das Schwerste: Schon im letzten Kampf hatte Rajah bewiesen, was für unglaubliche, rohe Kräfte er aufbieten konnte. Mit einem seiner muskulösen Arme hatte er eine fast zwei Meter lange Wächteraxt herum gewirbelt und damit alle auf Distanz gehalten. Dieses Mal würde es ihnen wohl nicht so leicht fallen, ihn zu bezwingen. „Orykene, links, Tokhtora, rechts!“ befahl Thorin. Inzwischen hatten sie genug Kämpfe Seite an Seite bestritten, um das Wort des Anführers nicht mehr anzuzweifeln, seine Befehle aber rasch genug in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Die Harpyie scherte nach links aus, in dem scheinbaren Versuch, die Linie der Feinde einfach zu umgehen, ebenso, wie die Schamanin es auf der Rechten tat. Damit lenkten sie ein paar der Drakoiden ab, während Raven sich die Taktik begreifend neben Thorin gesellte und durchzuschlagen versuchte. Rücken an Rücken trieben die Beiden sich wie ein Keil in die gegnerische Front und versuchten, den Klauen, Mäulern und Schwänzen auszuweichen, die nach ihnen schlugen, bissen und stachen. Rajah aber war keineswegs dumm. Wobei – er vielleicht schon, Duncan jedoch nicht. Der wahre Meister erkannte ohne große Mühe, welche Strategie seine Feinde verfolgten und nutzte seinerseits einen geradezu trivialen Trick, um ihren Angriff zu unterbrechen. Zwei der Zentauren lösten sich aus der Gruppe und machten Jagd auf Ninafer. Die Adlige war nicht gerüstet und auch nicht wirklich bewaffnet. Sie hatte die Zeit damit verbracht, ihr kostbar verziertes Rohr hervor zu ziehen und einen kleinen Metalldorn mit hübsch anzusehendem Haarschweif hinein zu stopfen, vorsichtig und dennoch um Eile bemüht. Das Gift war stark und konzentriert genug, um den Zentauren binnen weniger Augenblicke zu Boden zu bringen – zumindest theoretisch. Der Adligen war einfach kein anderer Weg eingefallen, sich hier und jetzt nützlich zu machen. Als sie jedoch die Drakoiden nahen sah, musste sie ihr vorhaben abbrechen. Nicht nur, dass es ihr an freiem Schussfeld mangelte – sie konnte sich nicht selbst gegen diese Kreaturen verteidigen. Thorin bemerkte ihre missliche Lage, doch er war zu stark von den Drakoiden umkämpft. „Raven, Anlauf!“ lautete der nächste Befehl. Die Kriegerin nahm Abstand, um dann auf ihn zu zu rennen. Im richtigen Moment packte er ihre vorgestreckten Handgelenke und griff um wenige Zentimeter an den darin gehaltenen Klingen vorbei. Sein ganzes Körpergewicht lehnte er zurück, um das geradezu spektakuläre Manöver zu ermöglichen: Er vollführte eine volle Drehung, in deren Verlauf es Raven gelang, zwei der Skelette durch gezielte Tritte gegen ihre knöchernen Schädel auszuschalten, ehe er ihre Handgelenke los ließ und sie damit zielsicher über die Reihen der Feinde hinweg warf. Die Drakoiden stoben auseinander, ließen von Orykene, Tokhtora und dem Axtträger ab, um einen Schutzwall um Rajah zu bilden und Raven anzugreifen. Kostbare Augenblicke, die Thorin zu nutzen gedachte, doch schon als er sich Ninafer zuwandte, erkannte er mit Grauen, dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. Die zwei Skelette hatten die Adlige eingekreist und an der Wand in Bedrängnis gebracht. Just als der Krieger sich in Bewegung setzte, preschten sie mit ihren Klauen und Zähnen vor, um die junge Frau in Stücke zu reißen. “Nein...!“ Wie eine Endlosschleife wanderte die Beschwörung durch seinen Kopf. So durfte es nicht enden...! Doch Ninafer geschah nichts. Die Skelette berührten die Adlige... und zerfielen zu dem Staub, aus dem man sie einst erweckt hatte. Kreidebleich und zitternd senkte Ninafer die zum Schutz erhobenen Arme wieder. Während Thorin nicht das Geringste verstand, so begann doch die Adlige rasch zu begreifen, was vor sich ging. Es mochte sein, dass sie die Priesterinnenweihe nie abgeschlossen hatte – doch warum auch immer, Ereshkigal schien sich weder für diesen Aspekt noch für den Umstand ihrer Abwendung von den Göttern tatsächlich zu interessieren. Was jedoch über die Herrin des Todes bekannt war: Sie teilte den gleichen abgrundtiefen Hass auf den Untod, der auch ihrem Vater Mermerus innewohnte. Und Ninafer, so schien es, hatte soeben für die Göttin als Möglichkeit agiert, zwei Untote zu vernichten, unabhängig davon, ob sie nur beschworen waren oder sich dies freiwillig aufgelastet hatten. „Ich brauche ein freies Schussfeld...“ kommentierte die Adlige noch immer reichlich blass, als Thorin bei ihr ankam. Er prüfte einen Moment, ob sie tatsächlich unverletzt war, ehe er nickte und sich dem noch immer hinter ihm tobenden Kampf wieder zuwandte. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Rajah mit der Situation überfordert war: Die, die gerade noch am schwächsten gewirkt hatte, schien nun im ganzen Raum die einzige tatsächliche Bedrohung zu sein. Er konnte seine beschworenen Diener nicht gegen sie schicken, weil sie machtlos waren, gleichwohl konnte er aber die anderen vier Angreifer nicht ignorieren. Es gelang der Gruppe, Rajah zu umzingeln und seinen Wall aus Skeletten von vier verschiedenen Seiten zu traktieren, was den Zentaurenschamanen zunehmend in die Defensive brachte. Vermutlich hätten sie stundenlang so kämpfen können. Die Skelettkrieger ermüdeten nicht, Thorin und seine Streiter schon. Sie hätten verloren... doch den Zauber für zehn Skelette aufrecht zu erhalten, kostete Rajah ungemeine Kräfte, eben jene, die er benötigt hätte, um sich selbst noch zu verteidigen. Was Duncan deshalb unternahm, sah Duncan auch ähnlich: Er ließ seinen Streiter fallen. In einem günstigen Augenblick befahl Thorin den Vormarsch. Mit verstärkter Mühe preschten die vier Angreifer gegen die Linien und auch, wenn sie noch immer nicht durch dringen konnten, gelang es ihnen doch, Ninafer eine freie Bahn zu verschaffen. Ein kurzer Luftstoß in das an ihre Lippen gesetzte Röhrchen und die Metallnadel schoss schnurgerade direkt in den Hals des Zentauren. Duncan hätte nun die Kräfte für die Beschwörung aufbieten müssen, zusätzlich zu der Kraft, die nötig war, um gleich zwei Dosierungen dieses überaus tödlichen Giftes aufzuhalten. Möglicherweise hätte er diese Kraft gehabt – sie hierfür zu opfern, für die reine Chance, diese Farce noch ein wenig länger zu betreiben und auf einen Sieg hoffen zu können, war es ihm jedoch einfach nicht wert. Rajahs röhrender Gesang verstummte und damit endete auch der Zauber. Die Drakoidenkrieger erzitterten, ehe sie vor ihren Augen wieder zerfielen und kaum mehr als die kleinen Knöchelchen zurück ließen, die zu Beginn aus den zwölf Särgen der Kammer entwendet worden waren. Der Zentaure jedoch blickte sich um, desorientiert, hektisch. Er begriff nicht, wo er war, was er hier tat. Zu viele Jahre war es her, dass er die Kontrolle über seinen Körper hatte, zu viele Jahre, dass er zu eigenen Gedanken, einem eigenen Willen befähigt war. Von der wiedergewonnenen Freiheit überfordert, trat etwas in die Augen des Zentauren, das man bei diesem stolzen Volk selten sah: Angst. Doch noch bevor er auch nur eine Frage an die Figuren richten konnte, die ihn umkreisten, an diese Fremden, die er nie gesehen hatte, bemerkte er das Zittern in seinen Beinen, das Brennen in seinen Adern, das sich schmerzhaft durch seinen ganzen Körper zog. Er spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte, wie jeder Atemzug zur Qual wurde. Rajah Tascana verendete einsam, weitab seiner Heimat und seines Volkes in den vergessenen Grüften einer untergegangenen Zivilisation... Es hatte fast eine Stunde gedauert, ehe Raven mit ihrer Feuermagie ein Loch in die Tür und den davor klemmenden Riegel hatte brennen können. Und bei den Göttern, keiner der anderen Vier wollte auch nur ein Wort darüber verlieren, dass sie sich zwecks dessen am Blut des Zentauren bedienen musste, um sich selbst die nötige Kraft und Stärke dafür zu verleihen. Sie waren einfach nur froh, dass sie dem abgestandenen Geruch nach Verwesung, Tod und Staub endlich entkamen, als der Metallriegel durch brannte, die zwei Teile zu Boden krachten und sie die Tür wieder aufschieben konnten. Danach folgte der lange und beschwerliche Weg zurück zur Oberfläche. Duncan und seine Truppe hatten auf ihrem Rückweg alle Fackeln gelöscht und Thorin befürchtete nicht ganz zu Unrecht, dass ihre Fackel absterben würde, bevor sie den Ausgang gefunden hatten. Zwar entzündeten sie die alten Fackeln erneut, allein schon um rechtzeitig zu bemerken, wann sie einen Korridor bereits schon einmal durchwandert hatten, aber wenn diese Fackeln schon Jahrhunderte oder sogar noch länger hier hingen, wie viel Öl mochte in ihnen dann wohl noch übrig sein? Tatsächlich schafften sie es mehrfach, sich zu verlaufen, ehe sie den Treppenabsatz fanden. Just in dem Moment natürlich, als die Fackel in tiefen Blautönen ihr letztes Glimmen von sich gab und dann erlöschte. „Dicht zusammen bleiben!“ forderte Thorin seine Kameraden auf, während sie sich die schlierige Treppe wieder empor kämpften. Das Tageslicht erwies sich als blendend – und das, obwohl bereits der Abend dämmerte. Fast einen ganzen Tag hatten sie dort unten verbracht. Vor dem Höhleneingang ruhten sie sich aus, sogen die frische Luft tief in ihre Lungen und versuchten sich langsam wieder an das Tageslicht zu gewöhnen. Wie sollte es weiter gehen? Die von Ninafer erstrebte Konfrontation hatte es nicht gegeben. Eine Falle, gewiss, ein weiterer Toter, sicherlich. Raven hatte die Tore wieder zugeschoben und mit dem Rest der Kraft, die Rajahs Blut ihr verliehen hatte, einige Stellen des Türspaltes verschmolzen. So schnell sollte dieser Zentaure also nicht zurückkehren – im Idealfall natürlich gar nicht. Doch die eigentliche Sorge des Kriegers galt nicht einer möglichen, zweiten Wiederauferstehung des Schamanen, sondern Ninafer. Sie hatte nicht gejubelt, war nicht in Feierlaune, sie lächelte nicht einmal. Erwartet hatte er dergleichen natürlich nicht, ganz im Gegenteil. Er glaubte zu wissen, wie sie sich fühlte. Sie hatte diesen Kampf herausgefordert und Duncan war schon wieder entkommen. Mehr als das – sie hatte einen seiner Handlanger getötet, seinen derer, die ihr Leben zerstört hatten. Doch als er zu Boden sank... hatte sie nur Angst und Verzweiflung in seinen Augen lesen können. Er starb als freies Wesen, unwissend über die Gräuel, die er verübt hatte und daher auch ohne jedwedes Bedauern, ohne Reue, ohne Schuldgefühle. Die Kreatur, die von Ninafers Gift dahin gerafft worden war, war nicht der Zentaure, der sie in ihrem Kloster gepeinigt hatte. Dieses Monster hatte Duncan in dem Moment getötet, als er die Kontrolle über Rajah aufgab. Eine zweifellos bittere, enttäuschende Erkenntnis. Wie oft würde es ihr noch so ergehen? Wie oft würde Duncan ihr die Befriedigung vorenthalten, sich tatsächlich zu rächen? Wie viele Marionetten würde er skrupellos opfern, ehe er selbst endlich in den Ring treten würde? Wie viel Tod, Kampf und Leid war noch nötig, um diesem Monster endlich das Handwerk zu legen? Thorin erwog, zu ihr zu gehen. Er wollte sie trösten, er wollte ihr Beistand anbieten, er wollte irgendetwas für sie tun. Doch seine Erinnerungen berichteten ihm davon, wie er sich damals gefühlt hatte. Wie er auf Hilfe reagiert hatte. Und schließlich musste er einsehen, dass es wohl nichts gab, das ihr helfen konnte. Nicht jetzt. Wie sehr er sich damit irrte, dass schon eine freundlich gemeinte Frage nach ihrem Wohl Ninafer möglicherweise abgelenkt hätte, dessen war sich der Krieger nicht bewusst – weil er zu sehr von seinen Erinnerungen ausging. Tokhtora und Orykene wurden gesandt, um Pan aus dem Gasthaus zu holen. Sie entschieden, dass sie die Reise fortsetzen würden, noch heute. Tatsächlich konnten sie auch noch ein gutes Stück zurücklegen, ehe sie an einem Waldrand in Flussnähe ihre Zelte aufschlugen. Orykene sammelte im Wald ein paar Steine zur Begrenzung des Feuers zusammen, während sie sich mit Tokhtora darüber unterhielt, wie frustrierend der Kampf gegen diese Skelette war – immerhin gab es da kein Fleisch, in das man seine Klauen, Krallen und Zähne rammen konnte. Das war einfach kein Kampf, der ihr gefallen konnte. Die Schamanin selbst sammelte derweil Äste und Laub zusammen und zündete mit Ravens Hilfe das kleine Lagerfeuer an, über dem Ninafer in geradezu professioneller Manier einige der Vorräte zu einer exzellenten Suppe verarbeitete. Gesättigt, von den Strapazen befreit und müde, begann sich das Lager etwas zu zerstreuen. Tokhtora erteilte Pan weitere Lehren darüber, wie man sich als Wolf eigentlich hätte verhalten sollen, während Orykene Raven über irgendetwas auszufragen schien. Zurück blieben Ninafer und Thorin, die beide in Gedanken und Erinnerungen verloren in die Glut starrten. Der Abend zog dahin, Tokhtora und Pan begaben sich zu Bett. Nicht lange und auch Orykene folgte ihrem Beispiel. Thorin war sich durchaus darüber im Klaren, dass damit erneut eine eher gespannte Stimmung aufkam. Ninafer bekam von alledem vermutlich nichts mit – unbedarft blickte sie in die Flammen und versuchte vermutlich sich davon zu überzeugen, dass sie richtig gehandelt hatte. Raven jedoch konnte man an der Stirn ablesen, dass sie sich wünschte, die Adlige würde ebenfalls ihr Zelt aufsuchen. Thorin wusste, worauf das dann hinaus laufen würde: Die Art von Gesprächen, die zu führen er hasste. Wie fühlst du denn? Für wen fühlst du was? Warum nicht ich? Debatten, die einfach überflüssig waren. Früher hatte er sich darum ganz gut drücken können. Er hatte als Tagelöhner einem Bauern auf seinem Feld bei der Ernte geholfen, hatte für Viehzüchter einen Bullen aus dem Nachbardorf abgeholt und dafür Speis und Trank bekommen, natürlich auch eine Kammer für die Übernachtung. Es war hin und wieder vorgekommen, dass sich die Töchter dieser Farmer und Züchter für ihn interessierten. Trotz seiner niederen Arbeiten als Tagelöhner hatte Thorin etwas an sich, das nach Abenteuer zu schreien schien. Ein Zug, der einige junge Damen in seinen Bann zog. In der Regel machte Thorin es vom Aussehen der Töchter abhängig, ob er seine Kammer des Nachts verschloss oder eben nicht. Dort gab es keine Debatten über Gefühlslagen. Sie schlichen sich lautlos durch die Flure, kannten jede knarrende Diele und schlüpften wie Schatten durch die Türen, die sie sorgfältig schlossen – und dann meist ihrerseits mit dem Schlüssel abriegelten. Auf diese Weise hatte Thorin schon manches Mädchen zur Frau gemacht, doch wider ihrer verklärten Vorstellungen von Romantik, war er danach nicht unsterblich in sie verliebt und hatte den Rest seines Lebens mit ihnen teilen wollen. Nein, er verbrachte die Nacht mit ihnen, schlief und genoss ihre Wärme im Bett, sandte sie im frühen Morgengrauen in ihre eigenen Kammern zurück und tat, als sei nichts gewesen. Er bedankte sich für die Dienste des Bauern, wünschte seinem Weib gute Jahre und der Tochter Erfolg, ehe er sein Bündel packte und weiter zog. Das Leben war zu dieser Zeit viel einfacher gewesen. Er hatte solchen Debatten mit einem zufrieden lächelnden Gesicht davon laufen können. Doch jetzt reiste er eben nicht mehr allein. Es gab Weiber in seiner Gruppe, für die er die Verantwortung trug, für die er sich ebenso erwärmen konnte, wie es umgekehrt der Fall war. Das machte alles... schrecklich kompliziert. Wenn er jetzt einfach weiterwandern würde, gäbe es unweigerlich Probleme. Nicht nur, dass sie ihn einholen könnten und dann berechtigt erbost wären – er hatte die Führung übernommen. Er war für ihr Schicksal verantwortlich, für das Wohlergehen jedes Einzelnen. Er konnte sich nicht einfach des Nachts davon schleichen. Also erhob sich Thorin, entbot seine Wünsche für die Nacht und zog sich ebenfalls zurück. Er ignorierte Ravens sichtliche Enttäuschung gekonnt, verkroch sich in dem kleinen Zelt und legte sich zur Ruhe. Tatsächlich brauchte es nach diesem Tag nicht viel, damit er in einen tiefen Schlaf fiel. Er trug keine Rüstung mehr, die Axt war verschwunden. Es störte ihn nicht. Wie hätte es das auch tun sollen – er wusste nicht, dass er je eine Rüstung oder eine Axt getragen hätte. Nein, er stand hier auf dem Acker seines Landes, schritt zwischen den kleinen Erdhügeln einher und bewunderte zufrieden das wachsende Grün, das sich tapfer und zielstrebig durch den Boden schob und die lehmigen Erdkrumen bei Seite drängte. Das Land nördlich von La Coeur war immer schon sehr fruchtbar gewesen, so wie die ganze Grünlandebene – nur dass dieser Boden von den Zwillingsströmen gespeist wurde, die La Coeur umschlossen. Mehr Wasser, guter Boden, viel Sonne. Hier gedieh fast alles. Anders als die meisten anderen Farmer, pflanzte Thorin nicht einfach nur Weizen oder Rüben. Er wechselte. Zweimal im Jahr konnte er ernten, so gut war der Boden, und jedes Mal sähte er eine andere Pflanze aus. Er hatte es auch schon mit Mais probiert, einem seltsamen neuen Gezücht, das auf La Coeurs Markt angeboten worden war und angeblich direkt von den Sundergrader Handelsschiffen stammte. Auch aus diesen Keimlingen würde eine gute Ernte werden. Er würde sie gedeihen sehen, er würde sie hüten und pflegen. Irgendwann im Herbst wurde es dann Zeit, die Vorräte anzulegen, das Letzte zu verkaufen und sich für den Winter zu rüsten. Dann würde er wieder verstärkt seinem Weib bei den Stallungen helfen. Das Vieh füttern, den Mist beseitigen und dafür sorgen, dass es reichlich Nachwuchs gab. Schweine und Ziegen hatten sie, auch eine Milchkuh. Thorin wollte sich vor einer Weile Schafe zulegen, doch seine Liebste hatte Widerspruch eingelegt. Gerade im Sommer, während die Felder gedeihen, musste sie die Ställe allein bewältigen – zumindest, so weit es eben möglich und machbar war. Der Gedanke jedoch, Schafe zu schären, behagte ihr gar nicht. Während er so durch die Reihen seiner Pflanzen schritt, sah er seine Tochter. Sie trug ein weißes Kleid, bunte Bänder in ihren Haaren wehten im Wind auf und ab, wie sie durch die Felder sprang und dem Haus entgegen rannte. Unruhe kam in ihm auf. Diese zierliche kleine Gestalt, der Dreh- und Angelpunkt seiner Welt... sie rannte auf das Haus zu. Er wusste nicht, warum. Was störte ihn daran? Aber eine dunkle Ahnung machte sich breit. Sie durfte das Haus nicht betreten. Bei den Göttern, sie durfte das Haus nur nicht betreten! Thorin rief ihren Namen, schrie aus vollster Kehle. Eine Stimme, die man bis ins Schloss seiner Majestät hätte hören müssen. Aber seine Tochter reagierte nicht. Sie lachte, jagte einem Schmetterling nach, hüpfte auf und ab, nur um den Versuch, ihn zu fangen, sogleich wieder aufzugeben und weiter der Haustür entgegen zu jagen. Thorin setzte sich in Bewegung. Langsamer Trab, er rief ihren Namen, sah sie immer näher an das Gebäude kommen, schrie erneut, begann zu rennen. Seine Lungen schmerzten, so viel verlangte er sich ab. Er stürmte voran, wissend, dass er sie nicht mehr rechtzeitig erreichen würde. Direkt vor seiner Nase schwang die Tür zu. Niemand stand dahinter, niemand hätte sie schließen können. Zweifel, Unbehagen, dunkle Ahnungen. Sie befielen ihn, als er die Hand hob, groß, grob, rau. Er griff nach dem Metall, drückte die Klinke langsam herab und stieß die Tür mit wenig Schwung auf. Er sog Luft ein und obgleich er handeln wollte – sein Körper verweigerte sich. Keinen Schritt vorwärts konnte er mehr setzen, nicht vor dem fliehen, was sich ihm darbot. Es gab kein Entrinnen, nur Schmerz, nur Verzweiflung. Orks standen dort. Sie standen auf dem Grund und Boden seiner Wohnstube, Schlamm von seinen Feldern klebte an ihren Stiefeln und hinterließ Spuren auf den Dielen, die seine Hände gelegt hatten. Sie hielten sein Weib gepackt, verdrehten ihr den Arm auf dem Rücken, dass man ihrem Gesicht den Schmerz ablesen konnte. Was hatten sie vor? Er hörte Stimmen, Rufe, Befehle, alle undeutlich. Kein Wort von dem, was dort drinnen gesprochen wurde, verstand er. Nur die Gesten. Dort war eine Frau, grüne Haut, schwarze Augen. Sie wirkte überraschend schlank für einen Ork. Sie gab die Befehle, kommandierte ihre Kameraden herum. Einer der Eindringlinge umrundete sein Weib, riss ihr gebeugt die Füße vom Boden. Sie drückten sie nieder, auf die Dielen seiner Wohnstube. Einer hielt ihre Hände gepackt, ein Schrei drang aus ihrer Kehle – die Türen des Kleiderschrankes sprangen auf. Seine Tochter stürzte herbei, schrie nach ihrer Mutter, schlug mit kraftlosen Fäusten auf einen der Orks ein, der lachend ausholte, das Mädchen mit einem donnernden Schlag zu Boden schickte. Sie kopierten, was sie mit seiner Liebsten getan hatten – einer hielt ihre dünnen Ärmchen fest, einer ihre Beine. Was sollte das werden? Ein neues Kommando ertönte, unverständlich, von einem merkwürdigen Rauschen verwaschen. Die Orks, die die Beine seiner zwei Frauen hielten, ließen los. Waren sie etwa zur Vernunft gekommen? Weit gefehlt! Sie packten ihre Knie, zwangen ihre Schenkel auseinander. Nacktes Entsetzen, Panik, Verzweiflung. Thorin schrie, mühte alle Kräfte, hob den Arm, schlug gegen den Türrahmen, wollte hinein, wollte helfen, sie stoppen, ihnen die Kehlen aufreißen schon für den bloßen Gedanken an das, was sie zu tun beabsichtigten. Sie waren unschuldig, sie hatten niemandem je ein Leid getan! Warum geschah all das? Womit hatten sie das verdient? Der weibliche Ork wandte sich ihm zu, ihre leeren, schwarzen Augen starrten ihn an. Bisher war er ein Geist gewesen. Unfähig, etwas zu berühren, unfähig, wahrgenommen zu werden... warum jetzt? Warum konnte sie ihn sehen? Verstand sie ihn? Thorin tat, was ihm möglich war. Er flehte sie an. Er bot ihr alles, was er besaß. Sie sollte nur sein Weib und seine Tochter gehen lassen. Um der Götter willen, er würde ihr alles geben, was immer sie verlangte...! Seine Frau wand sich unter der Gewalt, versuchte ihre Arme zu befreien, warf den Kopf hin und her – bis auch sie Thorin ansah. Ihre Lippen flüsterten haltlos, Tränen der Panik rannen über ihre Wangen. Er wusste, was sie sagte. Nicht, weil er es hörte. Er kannte diese Lippen, liebte sie aus vollstem Herzen, hatte sie unzählige Male geschmeckt und doch nie genug davon bekommen – er wusste, was sie sagte. Hilf mir. Der Ork setzt sich in Bewegung, wendet sich der Tür zu. Gut so. Verhandeln, erpressen, einerlei – seiner Familie durfte nichts zustoßen! Sie griff das Türholz und Thorin begann innerlich zu verzweifeln. Er glaubte zu wissen, was jetzt kommt. Bei den Göttern, habt Gnade...! Ein letztes Kommando verlässt ihre Lippen. Er sieht noch, wie sein Weib, sein Mädchen sich aufbäumen, das Kreuz durchstrecken, vor Pein, vor Schmerz, wie sie aus vollster Kehle schreien, um Hilfe, um Gnade – um einen schnellen Tod. Die Tür schließt sich vor seinen Augen. Gepeinigt schreckte Thorin aus dem Schlaf. Kalter Schweiß rann ihm von der Stirn, sein ganzes Lager war zerwühlt. Orks... es ging ihm nicht aus dem Kopf. Das Bild wollte nicht weichen. Die Erinnerungen an den Alptraum verschwammen, wurden überdeckt vom Rauschen des nahen Flusses, aber das Bild... es haftete ihm an, es wollte ihn quälen, noch lange nachdem er erwacht war. Die Götter waren grausam. Thorin erhob sich, sah nichts und stolpert dennoch aus dem Zelt. Erst, als die kalte Nachtluft ihn empfängt, spürt er den gnadenlosen, harten Griff seiner Hand um das vertraute Leder, spürte er das Gewicht der Axt in seiner Hand. Das musste ein Ende finden! Es musste einfach enden... er konnte nicht... er würde nicht... Langsam schritt er auf Tokhtoras Zelt zu. Sie war nicht dort gewesen, dafür war es zu lange her. Aber sie war eine von ihnen, sie war ein Ork, sie war ein Monster wie alle ihres Volkes, sie hatte den Tod verdient wie alle ihres Volkes. Die Kälte schickte sich an, wollte ihn zittern lassen, doch die schiere Spannung seiner Muskeln verhinderte es. Er schritt durch das Lager, bereit, hier und jetzt das Blut eines Orks zu vergießen, als ihm plötzlich jemand den Weg versperrte. „Lass das.“ erklangen milde Worte. Thorin, der blind für jede Veränderung seiner Umgebung gewesen, blickte herab, empfing Ninafers sanften Ton, die Bitte hinter ihren Worten. Er sagte nichts. Nur Bosheiten und Zeugnisses seines Zornes und eines Hasses, der älter als manches Reich war, hätten in diesem Moment über seine Lippen kommen können. „Es muss eine sehr alte Wunde sein... alt, aber nie verheilt.“ flüsterte die Adlige leise, hob ihre zierliche Hand und legte sie auf Thorins linker Brust ab, „Noch mehr Leben auszulöschen, wird keine Toten zurück holen.“ setzte sie leise und von seiner Schweigsamkeit völlig unbeirrt nach. Thorin aber stutzte. Er hatte es nie erklärt, hatte nie ein Wort dazu verloren. Woher konnte sie wissen, das- „Es ist die Art, wie du sie ansiehst. Wie du mit ihr redest. Wie du dich im Schlaf windest, jede Nacht.“ erklärte die Adlige leise flüsternd. Wie leicht es doch war, zu vergessen, dass dieses unscheinbare Weib in ihm lesen konnte. Wann und wie sie diese Fähigkeit erworben hatte, war dem Krieger schleierhaft – doch die Existenz dieser Gabe war hiermit einmal mehr unbestreitbar. Was aber sollte er ihr antworten? Sein Blutdurst begann bereits abzuebben, hatte schon in dem Moment zu versiegen begonnen, als sie seinen Weg blockiert hatte. Er schwieg weiter. Doch die Axt senkte sich, seine weiß hervor getretenen Knöchel verschwanden, als der Griff sich etwas lockerte, als sein Körper sich etwas entspannte. Sie hatte Recht – das würde niemanden zurück bringen. Das hatte es damals nicht getan und würde es auch heute nicht. Widerstandslos ließ er sich von Ninafer zu seinem Zelt zurück bringen. Sie begab sich sogar einen Moment mit hinein, beobachtete, wie der Krieger sich wieder hinlegte – die Axt dennoch allzeit in Reichweite. Als sie gehen wollte, spürte sie Widerstand. Thorin hielt ihr Handgelenk, hielt sie zurück. Mehr als das. Noch während Ninafer ihr Vorhaben aufzugeben schien, zog der Krieger sie sanft zu sich herab. Kein Wort fiel, keine Bitte oder ein vorsichtiges Abtasten, keine Versicherung, ob er für oder wider ihres Willens handelte, ehe er seine Lippen auf die Ihren setzte. Ein Kuss, der nur wenige Augenblicke Bestand hatte – doch das Gefühl, das Thorin befiel, als er sein Ende fand, war allzu vertraut. Das Gefühl, von diesem Geschmack nie genug bekommen zu können. Es versetzte ihm einen kleinen Stich im Herzen. „Ich danke dir.“ flüsterte er der Adligen leise zu und strich ihr über die Wange. In all den Jahren hatte er sich gehen lassen, viel Unrecht getan. Es war niemand da gewesen, der ihn davon hätte abhalten können. Und nun machte es manchmal den Eindruck, als hätten die Götter ihm Ninafer gesandt, um das klägliche Bisschen zu retten, das von seinem Seelenheil noch übrig war. Selbst wider der Nachtdunkelheit konnte er sehen, wie sie errötete. Kein Wort kam über ihre Lippen, nur ein zögerliches Nicken, ehe sie sich erhob. Dieses Mal ließ er sie ziehen. Nur, dass sie dennoch nicht weit kam. Thorin entspannte sich, rechnete damit, wieder einschlafen zu können, vielleicht in etwas friedlichere Träume abzutauchen, doch draußen hörte er Geraschel, Schritte – und ein überraschtes 'Huch' von Ninafer. Das allein hätte ihn nicht weiter besorgt. Die ersten Worte aus fremder Kehle hingegen taten das durchaus. „Hör mir gut zu...!“ klangen die Worte in bedrohlichem Ton, „Wenn du auch nur noch ein einziges Mal nur einen Finger an ihn legst, dann-“ zischte Raven die Adlige auf kürzeste Distanz an, während die Wut in ihren Augen zu funkeln schien. „Dann was?“ unterbrach Thorin sie plötzlich. Beide Frauen schienen davon gleichermaßen überrascht, als der Krieger sich abermals aus seinem Zelt begab. Als wäre eine derartige Demonstration nötig gewesen, trat er schräg hinter Ninafer und gab damit ein Bild ab, das Raven nur umso weniger behagte. „Soweit ich mich erinnere... treffe ich meine Entscheidungen noch immer selbst.“ ließ Thorin die Eifersüchtige wissen und störte sich nicht im Geringsten daran, mit welcher Miene sie den Rückzug antrat. Kapitel 15: Entbehrung und Entbehrlichkeit ------------------------------------------ Für den Spähertrupp, der schon seit zwei Tagen Ashes und ihre Anhängsel im Blick behielt, war es zweifellos ein überaus merkwürdiger Anblick, wie sich diese Gruppe zerlumpt und dennoch eisern durch die allmählich wieder dichter werdende Vegetation schleppte. Man sah ihnen an, dass sie schreckliche Dinge erlebt hatten. Im Köcher der Elbe fehlte auch der letzte Pfeil, am Gurt der Armbrustbolzen war keine Lasche besetzt, jedes Raubtier im Umkreis einer Meile konnte noch das verdorbene Blut an ihrer Klinge riechen. Der junge Mann, der zu ihrer Rechten einher trabte, wirkte ausgelaugt, die Platzwunde an seinem Kopf unversorgt. Zu ihrer Linken, leicht zurück gefallen, schritt eine Menschenfrau, ihre Kleider zerrissen, ein paar unschöne Kratzer und Wunden am Leib verteilt, die die umliegende Haut einfärbten. Und selbst dem Mädchen, das der Gruppe als Schlusslicht folgte, konnte man ansehen, wie lang die Reise durch die Wüste gewesen sein musste. Ihr fehlte die fröhliche Geschwätzigkeit, die Kindern sonst zueigen war, sie schritt einfach stumpf einher. Nun – Fremde eben. Was hatten sie auch erwartet? Die Wüste kämpfte alles und jeden nieder. Die Einzigen, die sich darin wirklich behaupten konnten, waren die Zentauren, die Harpyien, ab und an auch ein kleiner Menschenstamm. Ohne einen Führer war es ein Wunder, dass sie es überhaupt bis an die Grenzen Lithlads geschafft hatten und der einzige Grund, warum der Spähertrupp den zwei Menschen nicht längst die Brust mit Pfeilen durchsiebt hatte war der Umstand, dass die zwei Elben in ihrer Gegenwart ein gewisses, für die Späher unverständliches Maß an Wertschätzung für diese Menschen übrig zu haben schienen. Obwohl es ja nicht einmal zwei Elben waren – dem Kind sah man nur zu gut an, dass sich Menschenblut in ihren Adern befand, das die Reinheit ihres hohen Volkes besudelte. Denn wenn die Elben von Lithlad eines nicht mochten – dann waren es Menschen. Die Zölle, die seine Majestät erhob, waren mehr als dreist und er verweigerte jeden Kompromiss. Regelmäßig kam es zu Zusammenstößen der elbischen Bevölkerung mit den Soldaten der Stadtwache, die seine Majestät in einem klobigen Bauwerk aus dem Boden entrissenen Steinen untergebracht hatte. 'Zum Schutz der Interessen des Landes', hatte man ihnen gesagt. 'Verdammte Eindringlinge', hörte man in den Häusern unter vorgehaltener Hand. Dennoch war die xenophobe Ader der Elben von Lithlad noch nicht so ausgeprägt wie in Kaderalith. Dort hätte man den gesamten Trupp erschossen – die Menschen zur Wahrung der eigenen Sicherheit, die Elben als Lehre für alle Anhänger des hohen Volkes, die sich mit derlei niederem Gezücht freiwillig abgaben. Als das Mädchen entkräftet zusammen brach, wollte einer der Elben einschreiten. Einzig der Kommandant des Spähertrupps hielt ihn zurück, packte ihn an der Schulter und schüttelte stumm den Kopf. Körperkontakt war eine Intimität, die Elben schätzten ihre Privatsphäre – nur ein Kommandeur oder ein sonstiger Ranghöherer hatte das Recht, ungefragt in den Raum eines anderen einzudringen. Aber selbst dann wurde dieser als extrem erachtete Schritt nur aus guten Gründen getan. Sie waren als Beobachter hier. Späher. Einzugreifen war nicht ihre Order. Also harrten sie aus, sahen zu, wie der Mann zurück schritt und trotz seines lädierten Körpers sich das Gewicht des halbelbischen Mädchens auflud. Zu viert schritten sie der Stadtgrenze immer näher, einer Grenze, die bestenfalls die Elbe zu erkennen fähig war. Wo der sich aufbauende Wald in bewohntes Gebiet über ging, konnten wohl nur ihre Sinne erfassen, während die Menschen stupide einher stampften – blind und grobschlächtig, wie es ihrer bemitleidenswerten Spezies zueigen war. „Es wird Zeit.“ flüsterte der Kommandeur. Die Späher rückten ab, huschten wie Schatten flink von Deckung zu Deckung. Mühelos überholten sie den kleinen Tross Fremdlinge, jagten davon und gaben in der Stadt dem dortigen Rat Bescheid. Das der Kommandeur der Stadtwache zugegen war, war allzeit ein Ärgernis. Aber seine Majestät hatte mit Gewalt durchgesetzt, dass er bei jeder Ratssitzung präsent sein musste – und die Elben waren nicht bereit, noch mehr Leben zu riskieren, um ihn und seine Männer zu verjagen. Alles wurde vorbereitet. Bewaffnete Verteidiger wurden zur Stadtgrenze entsandt, um die Fremden willkommen zu heißen. Zumindest sagte der Ratsälteste dies dem Kommandeur. Hinter den für die Stadtwache unbekannten Kulissen hieß das, man würde sie in Gewahrsam nehmen, bis ihre Motive erforscht waren. Bei Menschen ging man besser kein Risiko ein! Tatsächlich leisteten Ashes und ihre Gefährten keinerlei Widerstand. Ohne Murren und Zetern ließen sie sich voran führen. Die Elbe drohte zwar halbherzig mit Zorn und Vergeltung, als man ihre Waffen forderte, doch letztlich legte auch sie alles ab und übergab sich in die Obhut der Verteidiger Lithlads. Für die Gefangenen, die sie nun im Grunde vorläufig waren, behandelte man sie dennoch erstaunlich gut. Ihnen wurde ein gemeinsames Zimmer zugewiesen, mit weichen Betten, ihnen wurde zu baden und sich zu reinigen gewährt, man erlaubte ihnen auch, sich frei in der Stadt zu bewegen – natürlich mit 'Eskorte'. Alistairs Eskorte wurde auf drei Mann verstärkt, nachdem dieser es tatsächlich irgendwie geschafft hatte, binnen einer Stunde seiner Wache drei Mal 'abhanden' zu kommen. Natürlich steckte auch hinter dieser scheinbaren Wohlgesonnenheit mehr. Würden sie sich frei bewegen können, würden die Gründe ihres Hierseins ganz von allein zutage treten. Diese Annahme erwies sich sogar als richtig – Ashes zog durch Lithlad und besuchte ein paar Händler. Sie war frisch gewaschen, trug gesäuberte Kleider, aber nichts konnte darüber hinweg täuschen, dass ihre Kräfte noch immer nicht erholt waren. Dennoch kaufte sie Proviant, kaufte Bolzen, Pfeile, zwei kleine Dolche und schleppte alles wieder zu ihrem Zimmer zurück, ohne die dargebotene Hilfe der Wachen anzunehmen. Ganz im Gegenteil – wo der schlüpfrige Mensch eine ungeahnte Faszination für das hohe Volk, seine Bauweise, Kultur und Erscheinung an den Tag legte, erwies sich das Mitglied ihrer eigenen Rasse als überaus... borstig, missmutig, ja regelrecht feindselig. Die Wachen ließen ihre gelegentlichen, verbalen Seitenhiebe über sich ergehen, doch nur zu gern hätten sie mit ihren Kollegen getauscht. Einer der anderen Wächter hielt das Mädchen im Auge, die das Zimmer nicht verließ. Sie saß am Fenster, sah in die Stadt hinaus und träumte scheinbar vor sich hin. Ein zweiter Wächter begleitete die Menschenfrau, die zusammen mit Alistair die Stadt durchstreifte, sie regelrecht erkundete – zumindest bis zu dem Punkt, an dem klar wurde, dass auch diese beiden letztlich nicht der faszinierenden Bauweise wegen hierher gekommen waren, sondern durchaus die Erfüllung eines Zieles suchten. Sie fanden sie am Hafen. Lithlad verfügte über große Stege, die weit ins Meer reichten und einer stattlichen Flotte elbischer Schiffe Heimat boten. Sie waren von unterschiedlicher Größe und Bauart, längst nicht jedes davon war hochseetauglich – und genau danach schienen die beiden Fremden Ausschau zu halten. Die Frau erwies sich indes als deutlich fachkundiger und lehnte mit einem Kopfschütteln manches Schiff ab, welches Alistair ihr mit einem Fingerzeig wies. Schließlich fanden sie ein Schiff, auf das sie sich einigen konnten. Da kein Kapitän in Sichtweite war, wandten sie sich an ihre Eskorte, die mehr als unwillig Auskunft gab. Was wollten diese Fremden am Hafen? Kein elbischer Kapitän aus Lithlad wäre bereit, Menschen zu transportieren! Allerdings schienen die zwei Reisenden überrascht, als ihnen die Antwort gegeben wurde: Lithlads Flotte gehörte nicht mehreren Kapitänen, die ihre Crews in Eigenverantwortung führten. Die Flotte wurde gebaut, unterhalten und entsendet vom Rat der Stadt selbst. Die zwei Menschen ließen sich zu ihrer Unterkunft zurück bringen, wo sie kurze Rücksprache mit der Elbe und dem Mädchen hielten. Als geschlossene Gruppe traten sie daraufhin vor ihre Wachen und erbaten eine Audienz beim Rat. Fast hätte der Kommandant der Eskorte lachen wollen, hielt er dergleichen Anliegen, gerade von einer reinblütigen Elbe vorgebracht, doch für einen Witz. Was sonst hätte es auch sein sollen? Aber allein, wie Ashes die Miene verzog, ließ ihn lediglich trocken schlucken, statt auch nur zu grinsen. Er bat sich Zeit aus, verstärkte – rein der Sicherheit wegen – die Zahl der Verteidiger, die diese vom Wohnraum der Stadt isolierten Räumlichkeiten bewachten und begab sich selbst zur Ratskammer. Tatsächlich schien den Fremden das Glück hold, denn er traf den Rat Lithlads, als sie eine Thematik gerade beendeten. „Die Fremden erbitten das Gehör des Rates.“ brachte der Kommandant seinen eingeforderten Bericht hervor. Ein Runzeln und skeptische Blicke waren das Resultat dieser Worte. Fremde, die vor den Rat treten wollten? Menschen zudem? Unmöglich! Ausgeschlossen! Zufrieden kehrte der Kommandant zurück und berichtete diesen Narren von der Antwort des Rates – nur, um ein schweres Seufzen fahren zu lassen. Ihm hätte klar sein müssen, dass diese Sache damit nicht abgeschlossen war. Nein, Ashes trat vor ihn, funkelte ihn an, dass selbst er, mit all seinen Wachen im Rücken, es einen Moment mit der Angst zu tun bekam, ehe er ihre Worte vernahm. Dann würde sie eben allein vor den Rat treten. Sie. Ausgerechnet sie, die auf Elben so gut zu sprechen war wie Zwerge auf Orks! Obendrein fühlte er sich auf schrecklich demütigende Weise zum Laufburschen degradiert. Dennoch wagte der Kommandant nicht, Ashes zu widersprechen. Zudem – was hätte er denn auch Besseres zu tun gehabt? Da konnte er sich ja auch die Beine vertreten. Doch alle Versuche, sich selbst über seine Laufarbeit zu belügen, schlugen fehl. Die Antwort des Rates war diesmal eine Andere – sie solle vortreten und ihr Anliegen präsentieren. Schon als er mit diesen Worten im Gedächtnis zur Unterkunft der Gefangenen zurückkehrte, ahnte er, wer diese unangenehme Person eskortieren musste. Wie erwartet, war er es. Ashes ließ sich jedoch erstaunlich still zum Rat führen. Offenkundig konnte sie alledem nichts abgewinnen, nicht dem Volk, nicht der Stadt, nicht der wundervollen Bauweise von durch Magie gewobenem Holz und Stein. Starren Blickes geradeaus und ein stetiges Murren auf dem grimmigen Gesicht, schien sie den Zeitpunkt ihrer Abreise kaum erwarten zu können. Als sie vor den Rat trat, vor die Führerschaft Lithlads, erwies sich Ashes als gleichermaßen rüde wie unhöflich. Sie forderte ein Schiff aus dem Hafen Lithlads – zu seinem Unglück war der Kommandant der Wache auch noch fähig, es bei seinem Namen zu nennen. Ashes erklärte, sie würden eine Überfahrt nach Varakas tätigen und wenn kein Kapitän dies zu tun bereit sei, würde sie notfalls das Schiff kaufen. Die absolute Art, mit der die Elbe sprach, beeindruckte sogar den Rat. Und diese Elben waren Jahrtausende alt! Einen Moment herrschte peinlich berührtes Schweigen, Nachdenklichkeit, ehe man sich Zeit ausbat. Ashes schien das nicht recht zu sein, dennoch trat sie ab und ließ sich widerstandslos zurück führen. Die Nacht verlief erstaunlich ruhig. Alle vier Gefangenen begaben sich zu Bett und schliefen einfach. Ihre Gegenwart unter der Obhut der Verteidiger der Stadt schien sie nicht weiter zu stören – nach allen Strapazen der letzten Zeit waren sie wohl einfach zu erschöpft, um noch große Ansprüche zu stellen. Zumindest wurde die Schicht damit deutlich entspannter und es gab auch kein Gerenne mehr, um irgendwen um irgendwas zu bitten. Bereits am nächsten Morgen war die Entscheidung gefällt. Ashes wurde erneut vor den Rat gebeten und die erste Frage erschien dem Kommandanten recht untypisch für den Rat: Wie sie das Schiff bezahlen wolle. Spielte man hier denn tatsächlich mit dem Gedanken, ein Schiff der Flotte zu verkaufen? Waren sie schon so tief gesunken? Die Elbe aber zog ohne ein Lächeln, ohne irgendeine Regung ihrer Mimik, einen kleinen Lederbeutel von ihrem Gürtel und zurrte ihn auf. Ihre Finger entnahmen einen einzigen Stein dem Säckchen. Sie hielt ihn hoch, gegen das Licht – das wie von einem Prisma gespalten in alle Richtungen strahlte und funkelte. Ein Diamant. Während der Rat sich davon unbeeindruckt stellte, musste der Kommandant der Eskorte und sogar der Befehlshaber der Wache schwer schlucken bei der Vorstellung, dass das gesamte Ledersäckchen voll von diesen Steinen war. Das mussten tausend Gulden sein! „Fünftausend Gulden.“ korrigierte Ashes, als hätte sie die jämmerliche Fehlschätzung aus den Gedanken der Beobachter wahrgenommen. Der Rat erklärte sich tatsächlich einverstanden. Nicht damit, das Schiff zu verkaufen – aber für diesen Preis würden sie eine Crew, einen Kapitän und Proviant bereit stellen, um sie nach Varakas zu bringen. Von fünftausend Gulden ließe sich nämlich zumindest eine Weile in Frieden leben, ohne ständig darüber nachsinnen zu müssen, woher man die nächsten Steuern und Abgaben bekommen sollte. Denn trotz des großen Hafens und der Werft war Lithlad alles andere als ein Handelsplatz – die Elben blieben gerne unter sich. Vielleicht spielte auch eben das eine Rolle bei der Entscheidung des Rates – man wollte die Menschen aus der Stadt haben. „Eines muss man denen lassen – sie verschwenden keine Zeit.“ griente Alistair breit. Er suchte Zustimmung, suchte wenigstens den Ansatz eines Lächelns in Ashes' Gesicht, doch der Elbe schien der Sinn so gar nicht nach guter Laune zu stehen. „Hm.“ brummte sie nur. Da nützte es dem Dieb auch nichts, dass zumindest Kat lächelte und zustimmend nickte. Die Wachen brachten sie bis zum Hafen. Den ganzen Tag lang hatte man das Schiff beladen, nun war es pünktlich zum Sonnenuntergang bereit, abzulegen. Alistair entging nicht, wie die Eskorte sie dabei immer fein säuberlich im Blick behielt. Jeder Schritt, jede Bewegung. Vermutlich hatten sie Angst, er würde ihnen noch einmal entkommen. Oder sie fürchteten, Ashes ohnehin recht angeschlagene Geduld würde sich wie Sand zwischen den Fingern verlieren und sie würde doch noch irgendwen anspringen, um ihm die Seele aus dem Leib zu prügeln. Dabei empfand der Dieb den Anblick der Wachen als recht unterhaltsam. Man sah an Elben nur selten Metallrüstungen und gerade in den Armeen der Menschen waren diese Rüstungen rein pragmatisch. Hier aber fanden sich auf den Armschienen, Brustpanzern und Helmen feinste Verzierungen und Ornamente – als wäre jede Rüstung für sich ein Kunstwerk. Insgeheim trauerte der Dieb noch immer dem Säckchen voller Diamanten hinterher, das er hatte lassen müssen, damit sie von hier weg kamen. Andererseits lag ihm auch der Gedanke nahe, dass diese fünftausend Gulden ja von Ashes Anteil abgezogen werden könnten. Dann hätte sie jetzt eben nur noch siebentausendfünfhundert Gulden und er noch die volle Summe. Das wäre doch ein gutes Geschäft... allerdings sollte er ihr das wohl nicht gerade jetzt auf die Nase binden. Überhaupt sollte er das nicht unnötig erwähnen, sondern einfach im Hinterkopf als kleine Notiz abspeichern. Als sie die Küste erreichten und der Hafen sich ins Meer zu schlängeln begann, öffnete sich der Wald zunehmend. Die Flotte Lithlads war ein beeindruckender Anblick, unabhängig davon, wie oft man sie sah – glaubte Alistair zumindest jetzt, da er sie erst zum zweiten Mal so in Frieden im seichten Wellengang vor sich hin schunkeln sah. Wie es wohl aussehen würde, wenn diese Flotte zu einem Gefecht in See stach? Sie wurden bis zum Steg geleitet. Vermutlich sollte sich niemand zufällig oder 'zufällig' an Bord eines anderen Schiffes verirren. Trotz dieses offensichtlichen Misstrauens waren die Elben überraschend freundlich gewesen, zumindest empfand Alistair es so, der vor lauter Faszination blind für all die Spitzen und versteckten Anfeindungen war. Die elbische Crew indes versuchte die vier Passagiere nach bestem Wissen und Gewissen zu ignorieren. Sie wurden in zwei Kammern unter Deck einquartiert und der elbische Kapitän machte ihnen deutlich, dass er sie nicht öfter als unbedingt notwendig an Deck sehen wollte. Nun, 'nicht öfter als nötig' war ja sehr flexibel. Alistair hingegen ließ es sich nicht nehmen, zunächst einmal die Kabine zu betrachten, die er mit Ashes teilte. Die Einrichtung war ansehnlich, nicht prunkvoll, aber dennoch eleganter als er es von Gillians Schiff in Erinnerung hatte. Es gab einen hübschen kleinen Handspiegel, dem der Langfinger schon jetzt die gedankliche Notiz verpasste, dass er bei seiner Abreise in Varakas nicht mehr auffindbar sein würde. Überhaupt legte sich der Dieb bei seinem durch das Zimmer schweifenden Blick schon eine Liste zurecht, was sich wie wo alles unauffällig vom Schiff transportieren ließe. Irgendwie mussten sie ja das verlorene Säckchen Diamanten wenigstens anteilig wieder zurück holen, oder nicht? Obwohl es da gewinnbringender wäre, nicht nur Teile der Einrichtung, sondern gleich das ganze Schiff samt Crew zu verkaufen... auf den Sklavenmärkten in Sundergrad wäre das sicherlich kein Problem und es würde zweifellos Ashes' Laune heben, zu sehen, wie das wimmernde Pack an neue Besitzer überstellt wurde...! Die Aussicht gefiel dem schmächtigen Nordmann ebenso. Er lehnte sich auf das Fensterbrett, weich, warm wie es nur Holz sein konnte, und blickte hinaus auf den Wellengang. Die Fenster schienen eine eigenartige Kristallstruktur zu sein – jedenfalls war es kein normales Glas. Vielleicht könnte er... nein, zu groß. Das würde auffallen. Wirklich frustrierend war für den Dieb an der ach so schönen Einrichtung nur ein Umstand: In diesem Zimmer gab es zwei Betten. In einer Zeit, die nun schon wieder Jahre her zu sein schien, 'damals in Ahil-Tar', hatte Ashes ihm angedroht, dass Narus Gegenwart bedeuten würde, dass er sich nicht auf irgendwelche Liebeleien zu freuen brauchte. Und tatsächlich hatte die Elbe ihn eiskalt aufs Trockene gesetzt. Gut, zugegeben, der Höllenschlund war nicht unbedingt das schönste Gebiet gewesen. Man musste schon üblen Notstand haben, in einer solchen Umgebung auf romantische Gedanken zu kommen. Dennoch hatte sie seine Annäherungsversuche stets blockiert – und das, obwohl sie zweifellos wusste, was er wollte. Und hier nun bot sich ihr erneut die Gelegenheit, ihm auszuweichen. Obwohl – selbst wenn es nur ein Bett gegeben hätte, vermutlich hätte sie ihn einfach auf dem Boden schlafen lassen. Vielleicht war es so tatsächlich besser. Der Umstand allein jedoch ließ Alistair einmal mehr mit dem Gedanken spielen, Naru irgendwie 'los zu werden'. Denn so hatte er sich das ganz sicher nicht gedacht, als er ihrem verflixten Hundeblick nachgegeben hatte. Erst ein Poltern und unterdrücktes Stöhnen direkt vor der Tür der Kabine ließ den Dieb wieder in das Hier und Jetzt zurückkehren. Irgendwie klang das... verdächtig. Er begab sich zurück zum Einlass der Kabine und spähte durch den noch offenen Türspalt hinaus auf den Gang. Als hätte er es erwartet, fand er Ashes mit geballter Faust und ein Mitglied der elbischen Crew mit blutender Nase am Boden. Sie zerrte ihn gerade am Kragen seines Hemdes ein Stück empor und holte zum nächsten Schlag aus, als Alistair sich vorsichtig räusperte. „Probleme?“ hakte er vorsichtig nach. Ashes schüttelte den Kopf – natürlich, für sie wäre so ein Wicht nie ein Problem. Vielleicht hätte er eher nach dem Grund des Kampfes fragen sollen, auch wenn diese Auseinandersetzung mit einem Kampf so viel gemein hatte wie eine Schlacht mit einem Gemetzel. „Fass mich noch mal an, und ich breche dir Knochen, von denen du nicht mal wusstest!“ zischte die Elbe und funkelte dem Crewmitglied auf kürzeste Distanz zu. Dem bleichen Gesicht, den aufgerissenen Augen und dem hastigen Nicken des Elben nach glaubte er im Moment wohl, Ashes sei von einem Dämon besessen. Sie ließ ihn los, oder besser, stieß ihn regelrecht zu Boden, dass er sich den Hinterkopf rieb und schritt über ihn hinweg auf Alistair zu. Der Langfinger kam nicht umhin, sich mühsam ein Lächeln nebst Kopfschütteln zu verkneifen, als sich die Mundwinkel der Elbe leicht hoben. Er hatte es doch gewusst. Sie wollte sich abreagieren, irgendwie, an irgendwem. Und ihre Vorliebe für ihr eigenes Volk war dabei natürlich geradezu... günstig. Der Dieb begann sich sogar zu fragen, ob der Elb sie überhaupt tatsächlich berührt hatte, oder ob sie sich auf den durchaus recht engen Gängen des Schiffes einfach zwangsläufig nahe gekommen waren. Ohnehin war es ihm eigentlich egal, so lange er nicht ihre Faust zu spüren bekam. Die kannte er nämlich schon – und sie war schlagkräftig und schmerzhaft. Ashes schob die Tür auf und trat an Alistair vorbei in die Kabine. Mit ein paar eher gemurrten als genuschelten Worten tat sie den Einrichtungsstil als 'weibisch' ab und legte einen Teil ihres Gepäcks ab – den, den sie nicht mehr brauchen würde. Was im Grunde bedeutete, dass sie kaum etwas in der Kabine zurück ließ. Ihre Waffen, ihr Vermögen, ihr Panzer, das alles blieb an Ort und Stelle. Gemeinsam begaben sie sich nach oben und ignorierten dabei beide voller Wonne die missmutigen Blicke des elbischen Kapitäns, der schon jetzt froh war, sie in wenigen Tagen wieder los zu sein. Immerhin war dieses Schiff eines der Schnellsten der elbischen Flotte, sie würden in vier oder fünf Tagen Varakas erreicht haben. Der Dieb strich gedankenversunken mit den Fingern über das Holz der Reling. Ein schönes Gefühl. Das Holz war nicht gehobelt worden, man hatte es nicht geschliffen. Lenikki mochte wissen, was man sich unter einer 'elbischen Werft' vorzustellen hatte. Vielleicht eine Horde von Ältesten, die mit ihren Magien den Boden vollpumpten, damit die starken Wurzeln darin keinen Baum, sondern ein Schiff formten? Wer wusste das schon so genau. Jedenfalls würde das erklären, warum die Schränke, das Bett, der Tisch, warum das Mobiliar der Kabinen keine Einzelteile waren, die man hinein geräumt hatte, sondern feste Bestandteile der Wände und Dielen des Schiffes. Lediglich die Stühle waren lose Einzelstücke – wohl aus dem pragmatischen Grund, dass man sie verschieben können sollte. Ashes dagegen schien sich weit weniger dafür zu interessieren, wie die Schiffe entstanden. Sie blickte in das Meerwasser hinab, blickte der weiten, endlos scheinenden See entgegen, dem Sonnenuntergang, der die wenigen Wolkenfetzen in tiefes Blutrot färbte, dem Hafen, der immer kleiner wurde und sich aus dem Sichtfeld schob. Sie hatten es geschafft. Bei den Göttern, den Ahnen und allen Geistern – sie hatten es geschafft. Und keine Kraft der Welt würde sie je wieder zu diesem Ort zurück bringen können. Der Höllenschlund, so hatte sich gezeigt, trug seinen Namen zu Recht. Da war Alistair fast in Hochstimmung bei dem Gedanken, dass es als nächste Station nach Lairuinen ging, zurück in seine alte Heimat. Denn egal, wie die Leute dort auch reagieren mochten – wobei er da eine klare Vorstellung hatte -, es konnte nicht schlimmer sein als das, was sie soeben hinter sich ließen. Was genau in Ashes vor sich ging, als sie ihren Blick in die Ferne schweifen ließ, vermochte der Dieb nicht zu sagen. Vielleicht bedauerte sie Efsane. Die zwei Frauen hatten über die Dauer ihrer Reise doch eine Art von Verbindung geschaffen, wie sie für Ashes selten war. Vielleicht bedauerte sie auch die Entscheidung, die sie getroffen hatte... oder sie war einfach nur froh, Lithlad endlich hinter sich zu lassen. Ashes zog sich zurück unter Deck. Sie wollte ihre Waffen prüfen. Verständlich – der Bogen hatte viel durchmachen müssen, sie musste die Sehne prüfen, den Halt und die Straffung. Auch die Armbrust musste von Zeit zu Zeit gewartet werden und ihrem Schwert täte es nicht schlecht, wenn das alte Blut endlich abgewaschen werden würde. Allerdings war das nichts, das für Alistair genug Faszination aufbot, sein Interesse lange zu halten – entsprechend nickte er nur verstehend und verweilte länger an Deck. Die Zeit verlor sich, das Rot der Wolken wurde dunkler, ging allmählich in einen Lilaton über, dann Blau. Dunkelheit zog auf, färbte das Wasser zunehmend schwarz. Auch die Crew zog sich nach und nach zurück, bis nur noch ein kleiner Rumpf an Deck blieb, die man an einer Hand hätte abzählen können. „Das Wasser ist unruhig... aufgewühlt. Wir sollten vorsichtig sein.“ orakelte ein Elb, der sich ungefragt zu ihm gesellte und in die Schwärze am Schiffsrumpf herab spähte. Alistair hingegen zuckte mit den Schultern. Bei Lenikki, was sollte ihnen schon noch widerfahren? Nichts würde sie noch überraschen können. Sie hatten mit Naga gerungen, sie hatten eine Seeschlange in die Knie gezwungen, sie hatten mit einem Drachen gesprochen und ganze Dämonenhorden bezwungen. Was immer dieser Elb auch fürchtete – Alistair war sicher, dass sie damit fertig werden würden. Zudem stand ihm danach nicht der Sinn, weder nach Gespräch noch nach Gesellschaft. Entsprechend stieß er sich wortlos von der Reling ab, ließ den Elb allein zurück, der weiter in das Meer starrte und trat die Stufen zum Ruder empor. Der Steuermann war Alistairs bisheriger Erfahrung nach ein recht schweigsamer Geselle – allerdings, wie sich zeigte, schien das nicht für Elben zu gelten. „Eure Begleiterin wirkt angespannt.“ bemerkte er. Alistair, der sonst immer und allzeit gut gelaunt war, stand kurz davor, genervt zu seufzen. Warum musste hier jeder irgendwelche Kommentare dazu abgeben, wie sie aussahen oder was ihnen bevor stand oder dergleichen? Reichte es nicht, dass sie Übles hinter sich hatten? Konnten sie nicht wenigstens ein paar Tage Ruhe einfordern, ehe ihnen der Rest der Welt wieder zu Leibe rücken konnte? Aber es wurde schlimmer. Offenkundig hielt der Elb sich dazu berufen, genau das zu tun, was die Welt von Elben erwartete – er stimmte einen Gesang an. Alistair zeigte sich einen kurzen Moment davon angetan, doch die Melodie klang ihm irgendwie zu traurig und schlug ihm auf sein ohnehin etwas lädiertes Gemüt, weshalb er beschloss, sich unter Deck zu begeben. Schon auf halbem Weg zur Kabine kam ihm Ashes entgegen. „Ich breche ihm alle Knochen!“ fauchte die Elbe mit Zornesglühen in den Augen. Einen kurzen Moment rang Alistair mit dem übermächtigen Impuls, sich rasch an die Wand pressen zu wollen, um ihr ja nicht im Wege zu stehen, doch er konnte ihn bezwingen. Stattdessen streckte er die Arme vor und versuchte, Ashes aufzuhalten. „Beruhige dich! Was ist denn los?“ versuchte er in Erfahrung zu bringen. Natürlich hatte er das klassische Problem, dass er eben kein Spitzohr war. Seine Ohren waren nicht fähig, den Gesang selbst hier unter Deck noch zu hören – anders als Ashes. Seine Sprachkenntnisse waren auch zudem nicht ausreichend, um zu erkennen, worum es in diesem Gesang ging – anders als Ashes. „Er singt von mir!“ fauchte sie aufgebracht. Die Erklärung hätte Alistair fast lachen lassen. Ja, natürlich tat er das. Hatte er nicht genau das irgendwie indirekt angedeutet? Eure Begleiterin wirkt angespannt. Trällern wir ein fröhliches Elbenliedchen, um sie wieder lächeln zu lassen...! Vermutlich würde Ashes tatsächlich lächeln – sobald sie ihm alle Zähne ausgeschlagen hatte. „Beruhige dich!“ wiederholte Alistair und versuchte mühsam, Ashes davon abzuhalten, dass sie sich einfach an ihm vorbei schob. Sie wussten beide, dass es mühelos im Bereich ihrer Körperkräfte lag, ihn notfalls sogar einfach an die Wand zu schieben und vorbei zu gehen, oder ihn notfalls den halben Gang abwärts zu werfen, damit er lernte, ihr gefälligst nicht im Weg zu stehen – wobei Alistair sich gerade in diesem Punkt bisher als sehr lernresistent erwiesen hatte. Doch sie sah von derlei Aktionen ab. „Hör dir das Gejammer doch mal an! Warum verteidigst du den?“ fuhr sie ihn noch immer aufgebracht an. Alistair versuchte ihr zu erklären, dass er keineswegs den Elben in Schutz nahm, sondern viel eher auf die eigenen Privilegien bedacht war. Aktuell hatten sie ein schönes Zimmer mit Aussicht und durften sich frei bewegen. Wenn sie nun dem Steuermann das Kreuz brach, würde man sie vermutlich in die bordeigene Gefängniszelle werfen. Schlimmstenfalls getrennt, und noch schlimmer – eventuell mit einem kleinen Sängertrio, zu Unterhaltung und Folter gleichermaßen. „Außerdem... kannst du dich nicht einfach damit begnügen, ihm die Weichteile abzuschneiden?“ fügte Alistair letzthin nach einer kleinen Pause grinsend an. Ashes dagegen schien sich in ihrem Zorn nur unwesentlich beruhigt zu haben und funkelte noch immer aufgebracht die Treppen zum Deck empor. „So wie der singt, kann da nichts sein, für das es sich lohnen würde, ein Messer zu ziehen!“ keifte die Elbe. Einen kurzen Moment Schweigen, in der Alistair scheinbar seine Mimik völlig entglitt und in unterschiedliche Zustände wechselte, uneinig, was er nun zum Ausdruck bringen wollte, ehe der Langfinger aus vollster Kehle prustete. Seine Konzentration auf das Vorhaben, Ashes aufzuhalten, war völlig zerstreut. Einzig sein Lachen hallte durch die Gänge, es zwang ihn sogar so sehr, dass er sich krümmte, sich den Bauch hielt und sich gegen die Wand des Ganges rutschen ließ. Ashes hätte nun mühelos an ihm vorbei gekonnt, sicherlich – doch Alistairs herzhaftes Lachen schien etwas Ansteckendes an sich zu haben. Er konnte es natürlich nicht sehen, doch die unbändige Wut in ihrem Blick schmolz zügig dahin, bis auch sie zumindest schmunzelte. Es brauchte ein paar Augenblicke, ehe der Dieb sich wieder dazu befähigt sah, sich aufzurichten. „Brich ihm nicht die Knochen, ja?“ grinste Alistair nur schelmisch. „Ich hole mir nur seine Zunge...“ erwiderte Ashes sein Grinsen. Nunmehr ließ der Dieb sie auch ohne Widerstand passieren und wartete noch einen Moment ab. Der Gesang, den er einen Moment zu vernehmen glaubte, erstarb in dem Moment, als Ashes in die Nachtschwärze des Oberdecks trat. „Hey, du da.“, hörte er sie rufen, „Streck mal die Zunge raus!“ Kurz darauf erklang ein recht schmerzvoll klingender Schrei samt anschließendem Wimmern. Der Gedanke, wie der Elb tatsächlich dumm genug war, ihrer schauspielerisch perfekt freundlichen Bitte nachzukommen und sie ihm im Gegenzug gegen den Unterkiefer schlug – natürlich in einer Aufwärtsbewegung – war gleichermaßen amüsant, wie es dem Langfinger auch etwas Mitleid einflößte. Es war schon schmerzhaft genug, sich selbst auf die Zunge zu beißen, aber dann auch noch so? Zweifellos würde er die ganze Reise über kein Wort mehr sagen. Nicht nur, weil er sich das in Ashes Gegenwart wohl nicht mehr trauen würde, sondern auch, weil er es einfach nicht konnte. Vielleicht gab das der Elbe ein wenig Ruhe. Einen Moment wartete er noch, ehe sich Alistair wieder den Gang herab begab, immer in Richtung der eigenen Kabine, durch deren Tür er schließlich auch verschwand. Die kleine Öllampe brannte noch und warf ein warmes, wenn auch spärliches Licht durch den Raum. Der Nordmann entledigte sich seiner Kleider, wobei die kleinen Säckchen mit Diamanten genauso unter sein Kopfkissen wanderten wie es der Dolch tat, dessen Klingengravur ihm noch einen kurzen Moment des Innehaltens und der Erinnerungen an Sundergrad abrangen. Damals war alles noch so schön einfach gewesen. Dorthin gehen, die Person ausquetschen, dorthin gehen, den Gegenstand klauen, und immer schnell genug sein, um den Verfolgern davon zu jagen. Schließlich schlüpfte der Dieb unter die Decke und wartete. Allzu lange musste er nicht ausharren, bis Ashes kam. Für Alistair war es die reinste Augenweide, wie sie begann, ihre Panzerung abzulegen. Die Waffen waren natürlich rasch verstaut – wie auch er, besaß sie ebenso die Angewohnheit, etwas der Verteidigung Dienliches immer in Reichweite zu behalten. Danach jedoch löste sie die Schnallen und Schnürungen ihres blattgrünen Panzers, legte Teil um Teil ab und brachte fast mehr Haut zum Vorschein, als der Langfinger in seiner gegenwärtigen Agonie zu ertragen fähig war. Einen Moment glaubte er sogar, dass sie sich Zeit ließ – wohlwissend um seine Reaktion, seine Blicke, die auf ihr ruhten. Aber das war ein subjektiver Eindruck, musste es einfach sein. Es wäre zu demütigend gewesen, sich einzugestehen, dass er ihr mit Haut und Haar verfallen war, sie das bestens wusste und ihn nach Belieben zappeln ließ. Ein derartiges Maß an Kontrolle wollte er ihr trotz allem nicht zugestehen. Dann jedoch wandte sich Ashes um, aalte sich einen Moment regelrecht im Anblick des Diebes, dem die Augen über gingen. Sekunden nur, die viel zu schnell verflogen, ehe sie das Licht löschte. Ein starkes Gefühl von Frustration und Enttäuschung machte sich breit, als die Dunkelheit das Zimmer verschlang. „Könnten wir nicht-“ setzte Alistair leise flüsternd an, doch da fiel ihm Ashes mit einem simplen „Nein.“ ins Wort. „Aber sie ist doch-“ „Genau nebenan und sehr hellhörig, da hast du völlig Recht, es wäre einfach anstandslos...!“ Sie wehrte ihn schon wieder ab. Nicht, dass er der ewigen Versuche müde werden würde – das keineswegs. Aber es war schlichtweg frustrierend. Zumal er sich sicher war, dass er sie wider der Dunkelheit, vielleicht lag es ja auch an ihrem Tonfall?, hatte breit grinsen sehen. Sie bestrafte ihn immer noch dafür, dass er Naru mitgenommen hatte. Verflixt – so nachtragend war sie schon lange nicht mehr gewesen. Und das letzte Mal hatte es ihn 'lediglich' Geld gekostet. Und etwas Proviant. Und Bequemlichkeit. Resignierend ließ er sich in das Bett sinken. Es war weich, es roch gut, es umschmeichelte seine Haut – und er hatte für all das kaum mehr als ein unzufriedenes, leises Seufzen übrig. Zweifellos trug selbst das zu Ashes' Amüsement bei, immerhin war sie verflixt hellhörig. Was nützte ihm das bequemste Bett und die tiefe Nacht, wenn er sie allein verbringen musste? Gut, zugegeben, bis vor nicht allzu langer Zeit hatte er die Nächte immer allein zugebracht. Aber das hatte sich eben geändert. Wie sagte man so schön? Er hatte Blut geleckt? Eigentlich ein ziemlich merkwürdiger, ja regelrecht verstörender Vergleich, aber er traf den Kern: Er war in einen Genuss gekommen, den er nun nicht mehr hergeben wollte. Das zu bestimmen oblag aber zu allem Übel nicht seinem Wort. Alistair fiel nach fast einer Stunde in unruhigen und dennoch erholsamen Schlaf. Seine Körper sog aus jeder Minute der Entspannung das Maximum an möglicher Regeneration – der Höllenschlund hatte ihnen allen viel abverlangt. Die ersten drei Tage an Bord verliefen erstaunlich reibungslos. Gelegentlich eckte Ashes mit ein paar Crewmitgliedern an, was sich letztlich darin äußerte, dass der Kapitän die Order erteilte, man möge sich von ihr fern halten. Vermutlich wollte er nicht riskieren, dass sich noch mehr seiner Männer zu den drei Matrosen gesellen mussten, die verletzt unter Deck ihr kläglich-langweiliges Dasein fristen mussten. Andererseits durfte er sie auch weder einsperren noch von Bord werfen, wie sie durch diese Zwischenfälle erfuhren – der Kapitän hatte die klare Order, sie nach Varakas zu bringen und schien gewillt, diesen Befehl auf jeden Fall auszuführen. Naru entwickelte in dieser Zeit eine geradezu ungesunde Faszination für die versiegelten Frachträume, die sich in den untersten Decks des Schiffes befanden. Vermutlich war das Schloss nach allem, was Alistair ihr beigebracht hatte, keine große Herausforderung mehr für sie, allerdings gab es Wachen, die dort regelmäßig ihren Gang absolvierten, ein Zauber lag auf dem Metall der Türklinke und man behielt sie ohnehin im Auge, also verbrachte sie ihre Zeit damit, herum zu streunen und auf die richtige Gelegenheit zu warten. Kat indes schien ganz andere Gedanken zu wälzen. Die Mehrheit der Zeit verbrachte sie auf dem Oberdeck und machte sich in einer stillen Absprache mit dem Kapitän sogar nützlich. Sie sicherte die Taue, hielt im Krähennest Wache oder übernahm das Steuer. Natürlich immer unter Führung und Wache – man traute ihr trotz ihrer zur Schau gestellten Kenntnisse nicht zu, dass sie so weit sehen konnte wie ein Elb oder das sie fähig wäre, ein solches Schiff zu steuern. Sie schien sich daran jedoch wenig zu stören. Als ginge es ihr rein um das Gefühl, das Steuerrad zu lenken, als würden damit Erinnerungen zusammen fallen, die sie nicht auszusprechen gewillt war. Selbst dieser merkwürdige Elb, der am Tag ihrer Abreise noch von unruhigen Gewässern gebrabbelt hatte, schien sich mit seinen vagen Prophezeiungen zurück zu halten. Ohnehin war es schwer, ein Spitzohr vom anderen zu unterscheiden, zumindest für Alistair, doch bisher hatten sich keine größeren Probleme gezeigt: Sie waren gut voran gekommen, hatten mittelstarken Rückenwind, der die Segel hübsch aufplusterte, die Gewässer lagen friedlich da, die Wolken am Himmel hielten sich zurück. Vielleicht würde es endlich einmal eine ruhige Reise werden. Natürlich war das ein Irrtum... Es war Nacht. Noch anderthalb Tage und das Schiff würde Varakas erreichen. Droben am Himmel stand der Neumond, die Sterne versteckten sich schüchtern hinter den wenigen Wolkenfetzen, die schleierhaft halfen, die Dunkelheit auszubreiten. Drei Mann waren noch an Deck. Einer der Elben lehnte sich auf die Reling. Vor einigen Tagen hatte er in dem Versuch, einem Menschen Angst einzuflößen, von Gefahr gesprochen. Ein Plätschern ließ ihn aufhorchen. Er spähte herab auf die Wasseroberfläche. Schwarz lag sie da, unruhig. Seine elbischen Sinne halfen ihm, bis auf die Oberfläche herab zu spähen, aber er konnte das Schwarz nicht durchdringen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. So als ob... als ob ihn jemand anstarren würde. Er wandte sich um, blickte zu seinen Kameraden. Der Steuermann lenkte in aller Ruhe das Schiff. Der Dritte im Bunde schrubbte das Deck. Nein, die Quelle war nicht auf dem Schiff. Wieder wandte er sich um, blickte in die Tiefe hinab. Da bewegte sich etwas. „Hallo, schöner Mann...“ Ein leichtes Säuseln, ein zärtliches Wispern im Wind, so zerbrechlich, so wunderschön. Er stützte das Kinn auf die Hände, blickte verträumt herab. Nichts, was er sah, überraschte ihn, nichts erschreckte ihn. Sie kam näher, kletterte die Schiffswand herauf. Eine zärtliche Hand fuhr über seine Wange. Er störte sich nicht daran, wie kalt sie war, wie nass. Er wollte bei ihr bleiben. Ja, das war ein schöner Gedanke. Er würde fort ziehen. Wozu ein Haus in Lithlad? Er könnte mit ihr an der Küste wohnen. Sie würden ganze Zeitalter gemeinsam durchstreifen können. Was für prächtige Kinder sie wohl hätten...! Ihre Finger strichen sanft seinen Hals herab. Kleine, rötliche Spuren hinterließen sie auf seiner Haut. Selbst als ihre Finger sich vorsichtig in seinen Hals drückten, seinen Kehlkopf umschlossen, harrte er aus, blickte voller Hoffnungen und Erwartungen herab. Sie war so bildschön. Zweifellos würden ihre Kinder diese Schönheit erben. Er würde ihr helfen, bei allem... immer... überall... Ein kurzer Ruck, seine Augen weiteten sich. Schmerz flutete seinen ganzen Körper, als sie ihm seinen Kehlkopf aus dem Hals riss. Blut strömte in Sturzbächen aus der Kehle, rann die Schiffswand herab. Sie war so wunderschön... und so voll der Gnade. Woher hatte dieses perfekte Geschöpf nur wissen können, dass er des Lebens so überdrüssig war? Ja, eine Göttin musste sie sein, Fleisch geworden. Er war ihrer Gegenwart eigentlich gar nicht würdig. Selbst als der Blutverlust ihn immer stärker schwächte, er langsam an der Reling zusammen sank, waren seine letzten Gedanken voller Verehrung und Hingabe. Ehe sein Leib aber zur Gänze auf dem Deck ankam, wurde sein Handgelenk gepackt. Ein kraftvoller Zug zerrte den Körper des Elben langsam über Bord. Kein verräterisches Platschen, kein Aufschlag. Langsam wurde er herab gelassen, glitt in das Wasser, geführt von oben, entgegen genommen von unten. Zärtlicher, verheißungsvoller Gesang drang an die Ohren der anderen Beiden, machte sie blind und taub für alle Gefahren. Dieses wundervolle Lied... keine elbische Königin hätte so singen können! Sie begehrten sie, sie, die Quelle dieses Liedes war... langsam verließen sie ihre Posten, traten an die Reling heran. Ja, die Quelle. Sie musste irgendwo dort draußen sein, dort in der See. Keine Gewalt war im Spiel, als Hände nach ihnen griffen, sie über Bord zogen. Sie gaben sich völlig hin, ihrem Willen, ihrem Spiel, der eisigen Kälte ihres Gewässers. Dann kehrte Stille ein. Wenige Augenblicke nur, in denen das Steuerrad still stand, in denen das ganze Deck verwaist lag. Gespenstische Ruhe. Dann kamen sie, zogen sich über die Reling, ließen sich ungeschickt auf das Deck fallen. Mit ihren Fingern zogen sie feine Linien über ihre geschuppten Unterteile, zogen sie über die empfindliche Flosse herauf bis zu ihren Hüften. Das zarte Schuppenkleid riss auf, nur um sogleich abheilend sich wieder zu legen, die Flosse schien einzuschrumpfen, das schillernde Kleid ihrer Schuppen selbst begann an Glanz zu verlieren, sich zurück zu ziehen in das Fleisch, das unter ihnen lag. Am Ende blieben sie zurück, jene Gebilde, die man Beine nannte. Es war ungewohnt, nach so langer Zeit wieder zu laufen. Ein dutzend nackter Frauen erhob sich vorsichtig auf ihre wackeligen Beine. Sie zogen sich an der Reling oder an Tauen empor, versuchten sicheren Halt und Stand zu finden. Wie unbequem die Welt oberhalb des Wassers doch war, wie kompliziert und merkwürdig. In großem Bogen umgingen sie die Öllaternen. Offenes Feuer, Flammen, brennendes Licht – das war ihnen nicht geheuer. Vor der Luke zum Unterdeck versammelten sie sich. Eine dichte Traube, es erinnerte fast an Sklaven, die man zusammen trieb – sie schmiegten sich dicht aneinander. Keine von ihnen wollte länger als nötig von ihren Schwestern getrennt bleiben. Ein letztes Mal versicherten sie sich, dass jede von ihnen sicheren Halt gefunden hatte. Ein Nicken der Ersten, ehe ihre Lippen sich einen winzigen Spalt breit öffneten. Ein Gesang entströmte ihren Kehlen, der nicht natürlichen Ursprunges sein konnte. Die Melodie durchdrang jede Faser, verlockte mit Reizen und Ekstase, wie sie nur der wohlgeformte Leib eines Weibes bieten konnte, verlockte mit Träumen von Ruhm und Reichtum, verlockte mit dem Gedanken, alte Feinde zu besiegen und lange aufgeschobene Vorhaben zu einem bravourösen Ende zu bringen. Sie zogen die Treppe herab, in die Gänge, verteilten sich in den Kammern. Raum um Raum wurde überprüft. Die Crew war ihnen binnen Sekunden ergiebig, folgte ihnen blinden Vertrauens an Deck, ließ sich ohne Widerstand in die Hände ihrer Schwestern in der See übergeben, die sie in die Tiefe zogen. Nach und nach leerten sie das Schiff, die Decks, die Kammern. Eine der Ihren steuerte auf eine weitere Kammer zu. Ihre eigenen Ohren waren nicht befähigt, den Gesang in seiner vollen Wonne zu vernehmen, doch sie sah die Auswirkungen auf andere. Sie sah, wie die Elben sie vergötterten, ihr wohlgefällig zu Diensten waren, bereit, alles für sie zu tun. Vorsichtig schob sie die nächste Tür auf spähte mit ihren gelblichen Augen in das Dunkel dahinter. Ein Bett lag zerwühlt und leer, im Zweiten ruhte eine schlafende Gestalt. Alistair träumte. Es waren grässliche Träume gewesen, von Tod, Blut und Verderben, ein Alptraum über den Höllenschlund. Doch dann hatte sich etwas verändert. Etwas schien darauf einzuwirken. Die Bilder lösten sich auf, wie Metall, das eingeschmolzen wurde, verloren sie an Konturen, bis sie eine einheitliche, nichtssagende Masse bildeten, etwas, das weder erschrecken noch ängstigen konnte. Stattdessen zogen neue Bilder in seine Träume ein. Erinnerungen an die Überfahrt von Varakas nach Sundergrad. Sie hatten die Seeschlange bezwungen, er hatte sich endlich getraut, Ashes zu offenbaren, weshalb er allzeit gegen ihren Verschleiß an gut gebauten und hohlköpfigen Männern war, er erinnerte sich an den Geruch ihres Haares, an die rüde Art, mit der sie ihn auf das Bett gedrückt hatte. Ashes hielt die Kontrolle, sie hielt immer die Kontrolle. Er spürte ihre Berührungen, wie sie zunächst zart über seinen Hals strich, sich zu einem Kuss hinreißen ließ. Er war weit weniger zärtlich, eher fordernd. Es passte zu ihr. Seine Arme hoben sich, seine Hände fuhren ihren Rücken herab, glitten zu ihrem Becken. Er wollte sie, er wollte sie mit Haut und Haar, er wollte die Nacht mit ihr verbringen, die nächsten tausend Nächte, ach, warum nicht sein ganzes Leben! Selbst als Alistair die Augen schwerfällig öffnete, träumte er noch. Er raunte ihr leise ihren Namen zu. Fast kam er sich kläglich vor, sie so anzubetteln. Fast. Ashes drückte ihn erneut in die Matratze zurück, als er sich zu ihr aufrichten wollte, hob sich leicht von ihm. Enttäuschung, Resignation, er wollte nicht, dass sie ging, verfluchte jeden Zentimeter, der sie von ihm trennte. „Geh nicht...“ flüsterte er verhalten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als ihre Hand über seine Brust herab wanderte. Eine kurze Korrektur nur, die sein Herz einen Takt stolpern ließ, ehe es in einen deutlich rascheren Rhythmus hinein fand. Sie senkte sich wieder, gewährte ihm seinen Wunsch, ließ ihn einen Teil von ihr werden. Ein atemloses Keuchen drang aus seiner Kehle, als sie auf seinem Schoß aufsetzte. Er schämte sich. Ein Teil von ihm tat es zumindest. Denn obgleich sie so gnädig war, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, gierte er nur nach mehr. Mehr von ihr, mehr von ihrer Haut, ihrem Duft, ihren Küssen. Sie bewegte sich langsam, ließ ihr Becken auf und ab fahren, drohte ihm jede Kontrolle über sich selbst zu entreißen. Rasch zog sie das Tempo an, nahm sich, was sie begehrte und gab ihm damit zugleich, was er wünschte. Eine der Eindringlinge trat an die offen stehende Tür heran. Einen ausgiebigen Moment beobachtete sie das Treiben ihrer Schwester, unschlüssig, ob sie die Szenerie amüsant oder widerwärtig finden sollte. „Hör auf, mit ihm zu spielen.“ säuselte ihre Stimme lieblich. Ihre Schwester hielt inne, erstarrte in ihrem Ritt und wandte den Blick der Türe zu. Ein kaltes, grausames Lächeln umspielte ihre Lippen. Ein Kopfschütteln, mehr war nicht nötig, dann zog sich die Störende von der Tür zurück und schickte sich an, den Rest des Schiffes zu durchsuchen. Alistair begriff nicht, was Ashes dazu brachte, zu stoppen. Er erhob sich, flüsterte ihr zu, doch sie drückte ihn zurück. Vielleicht hatte sie sich entschieden, ihn zu erhören – sie setzte wieder ein, beugte sich tief vor, übergab ihm einen Funken von Kontrolle. Begierig nutzte Alistair diesen Funken bis an seine Grenzen aus, steigerte nun seinerseits die Geschwindigkeit, während seine Arme sie umschlangen. Ein Keuchen drang aus ihrer Kehle, spornte ihn nur noch weiter an. Sie richtete sich wieder auf – ein Moment des Bedauerns, ehe die Glückseligkeit wieder überwog. Er spürte die Grenzen seines eigenen Wohlgefallens nahen, die Ekstase, derer er dem eigenen Gefühl nach schon zu lange hatte entbehren müssen. Aufgebracht keuchte er ihren Namen, versuchte einen Moment länger die Kontrolle zu halten. Etwas besudelte ihn. Binnen Sekunden riss es das Bild in Fetzen. Nicht Gillians Schiff. Die Seeschlange war längst von Fischen zerlegt und gefressen worden. Und das... war nicht Ashes! Entsetzen machte sich breit, der Wunsch, zu fliehen, zu entkommen. Eine stattliche Reihe nadelspitzer Zähne blitzte ihm im dünnen Lichtschein entgegen. Ihre Haut hatte keinen Ton, der bei Menschen je vorkäme – zumindest nicht bei lebenden. Doch da war mehr. Je weiter sich Alistair von der Illusion entfernte, umso stärker fluteten die Details seinen Geist. Erst jetzt bemerkte er die Totenstille im Schiff – oder die Klinge, die am Hals der Sirene anlag. Ashes trat hinter dem Geschöpf der Meere einen Schritt näher, funkelte die Fremde voller Zorn und Verachtung an. Jemand hatte sich an ihrem Besitz vergriffen... „Sing!“ forderte sie harsch. Erst als die Sirene ein zweites Mal die Stimme erhob und Alistair zur Gänze einlullte, bemerkte der Dieb im Hinwegdämmern die Wunden, die jede ihrer Berührungen ihm zugefügt hatte, die Schnitte an Wange und Hals, die Stiche an seinen Schultern, der schmerzhaft tiefe Schnitt quer über seinen Bauch. Er bekam es mit der Angst zu tun, ehe der Wohlgefallen ihres Zaubers ihn wieder umfing. Während er erneut in Illusionen und Wunschgedanken abdriftete, entfaltete der Gesang seine Wirkung und begann, seine Wunden zu schließen. So, wie kein Mensch krankes oder halbtotes Vieh essen will, sorgen die Sirenen mit ihrem Gesang gleichermaßen dafür, dass ihnen ähnliches nicht widerfährt. Kaum aber, dass Ashes die 'Versorgung' seiner Wunden für ausreichend befand, durchtrennte ein kräftiger Ruck die Kehle der Sirene. Dunkelblaues Blut quoll dick daraus hervor, ehe die Elbe den baldigen Kadaver ruppig vom Bett stieß. „Ich... ich wusste nicht... ich wollte nicht...“ begann Alistair daher zu stammeln, als er zu begreifen begann, was abgelaufen war. Ashes aber verlor kein Wort darüber – sie klatschte ihm seine Kleider entgegen und erwiderte lediglich, dass noch mehr an Bord seien. Das Wichtigste zuerst – das verstand der Dieb trotz seiner tiefgreifenden Beschämung. Fast eine Stunde dauerte es, ehe sie gemeinsam auch die letzte Sirene vertrieben hatten. Dennoch war fast die gesamte Crew verschwunden. Spurlos – zweifellos ins Meer verschleppt. Doch wo waren Kat und Naru abgeblieben? Ein zweites Mal durchsuchten sie das Schiff, Kammer für Kammer. Schließlich kamen sie in den unteren Frachträumen an. Tatsächlich hatte Naru es geschafft, eines der Schlösser zu knacken – und in eben diesem Frachtraum fanden sie die Beiden. Offensichtlich waren sie den Sirenen über den Weg gelaufen, die es entweder schon vorher wussten, oder an diesen Beiden gelernt hatten: Sirenengesang wirkte nur auf Männer. Also hatte man beide kurzerhand geknebelt und gefesselt in einen der Frachträume eingesperrt. Die Götter allein mochten wissen, warum man sie überhaupt am Leben gelassen hatte. Ashes war gerade über Narus Überleben offensichtlich nicht sonderlich erfreut. Sie band Kat los und wies die Seeratte an, das Schiff zu übernehmen und besser in andere Gewässer zu steuern, ehe die Sirenen sich zu einem erneuten Angriff entscheiden konnten. Eifrig nickend, rieb sich der frisch gebackene Kapitän die noch von den Fesseln schmerzenden Handgelenke und zog dann hastig den Korridor herab in Richtung der Treppen zum Oberdeck. Zurück blieb Naru, reglos und wortlos. Sie sah erwartungsvoll zu dem Langfinger auf, fast schon dankbar, der sich gerade anschickte, das kleine Mädchen von seinen Fesseln zu befreien. „Alistair...“ säuselte es da hinter ihm. Der Dieb wandte sich um und erspähte Ashes im Türrahmen. Einen Moment begriff er nicht, was sie ihm vermitteln wollte, ehe sie plötzlich die Hand an der Seite ihrer Rüstung herab fahren ließ und eine der Schnallen aufschnappen ließ. Diese Geste und der verheißungsvolle Blick – mehr benötigte es gar nicht. „Ich... äh...“ brachte der Langfinger zögerlich hervor, wobei er versuchte, nach nicht in die Augen zu blicken, „... komme wieder... gleich... bald... versprochen!“ Noch während die Halbelbe ihren Unmut darüber zum Ausdruck brachte, indem sie recht lebhaft herum zappelte und irgendetwas in den Knebel nuschelte, zog sich der Nordmann zügig zurück. Er störte sich nicht einmal daran, dass die Elbe daraufhin die Frachtraumtür wieder ins Schloss fallen ließ. Würde er schon irgendwie aufbekommen, nachher, oder morgen, oder so... Wenige Augenblicke später schloss sich die nächste Tür. Ihre Kabine war das nicht – so weit hatten sie es nicht geschafft. Ohnehin lag da noch dieses tote Ding rum. Ashes drückte ihren Dieb auf das Bett nieder, doch Alistair durchkreuzte ihren Plan. Er zog die Elbe ihre Taille umgreifend mit sich, vermochte mit dem ihm eigenen Geschick sogar eine geradezu kunstvolle Wende zu inszenieren, dass sie nunmehr unter ihm ruhte. Gerade als sie die Lippen öffnete, zum Widerspruch, zu Anweisungen, mochten es die Götter wissen – kam der Langfinger ihr einmal mehr zuvor. Noch während er nun seinerseits ihr einen Kuss stahl, fuhren seine Hände ihren Hals herauf. Er ertastete ihr Ohr, die unzähligen kleinen Silberringe darin, spielte einen Moment daran herum, fuhr in einer zarten Geste über die empfindliche Stelle, unwissend, dass er sie damit nur anstachelte. Natürlich kam das Alistair mehr als gelegen – nur für Naru bedeutete das eine noch längere Wartezeit... Kapitel 16: Götter sterben nicht -------------------------------- Vermutlich dachten sich meine Eltern, dass es witzig sei, mich so zu nennen. Oder sie hatten Geschmacksverirrungen, wie ich sie in der Form bis zum heutigen Tage nur bei Goblins erlebte, die fette alte Huren als Schönheiten besprangen und ihr hysterisches Gekreische und die „Nimm das weg!“-Rufe für Liebeserklärungen hielten. Aber ich will nicht länger als nötig aufschieben, weshalb ich hier bin. Mein Name ist Tamm Malik. Und ich bin hier, um Zeugnis abzulegen. Beginnen wir, wie es sich dafür gehört, am Anfang. Ich war die Erfüllung aller Träume, die meine Eltern je hegten. Ein Sohn, ein Erstgeborener, ein Spross, der ihre Linie weiterführen würde. Man hatte mich nie zum Priester geschickt, mit ich dort lesen und schreiben lernte. Vielleicht lag es daran, dass unser Dorf zu klein war, um einen eigenen Tempel zu besitzen – oder mein Vater hielt es einfach nicht für nötig. In seinen Augen stand mein Weg fest, lange bevor ich dem Leib meiner Mutter entrissen wurde. Sie erzogen mich nach ihrem besten Wissen und Gewissen und ich war mir sicher, dass sie es gut meinten. Ich wuchs mit der Kunde über unsere heimischen Kräuter auf und half meinem Vater oft in seiner Schmiede. Genau das sollte mein Weg werden. Trotz meines wachen Geistes war ich als Kind fürchterlich unentschlossen – was meinem Vater natürlich gelegen kam. Ich war nicht ungeschickt, also führte er mich in das Handwerk ein. Ich lernte über viele Jahre den Hammer als Verlängerung meines Armes zu führen, um damit das Metall auf dem Schmiedeblock zu formen. Ich lernte, der heißen Esse zu widerstehen und Stunde um Stunde den harten Klang des Metalls zu ertragen – ja, ich lernte es sogar zu genießen. Nach dem Tod meiner Eltern erbte ich die Schmiede und ein neues Kapitel meines Lebens begann. Eine Weile erwies ich mich als guter Schmied. Nicht herausragend – aber ausreichend. Die Stadtwache des Dorfes ließ von mir ihre Schwerter und Rüstungen herstellen und ausbessern, Reisende ließen mich ihre Klingen schärfen und manchmal bestellte ein Händler eine solide, verstärkte Lederrüstung. Es waren gute Jahre, voller Arbeit und sich häufenden Vermögens – doch ich spürte, dass mein Leben leer war. Etwas Essenzielles fehlte darin. Obwohl mir mein Handwerk lag und ich Spaß an meiner Arbeit hatte, erwachte ich jeden Morgen mit diesem Gefühl, das ich erst in Worte fassen konnte, als ich eines Abends – ich wage ihn schicksalhaft zu nennen – auf das Lichterfest ging. Mein ganzes Dorf feierte dort ausgelassen. Natürlich, die Jugend etwas ausgelassener als der Rest, was wiederum sehr zum Verdruss der Alten gereichte. Aber es wurde Phylia gedacht, man sähte neu aus, es wurde gelacht, getrunken, getanzt. Ich war nie ein großer Freund von Festen, konnte dieser Ausgelassenheit nicht viel abgewinnen. Vermutlich war ich zu ernst dafür, zu... steif, um mich der agil um das Feuer springenden Gruppe anzuschließen, die kaum ein paar Jahre jünger waren als ich. Aber dann... sah ich sie. Ich verharrte an der Häuserwand, lehnte mich dagegen und konnte nicht anders, als ihr zuzusehen. Irinya war ihr Name, wie ich später erfuhr. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Grazil wie ein Reh sprang sie über das Feuer, tanzte mit den Burschen, deren Augen von wilden Träumen über Abenteuer, durchtriebene Nächte und Schwärmereien zeugten, doch sie blieb bei keinem. Sie tanzte und zog weiter und weiter. Es war das erste Mal, dass ich zu tanzen versuchte. Peinlich sondergleichen. Nicht nur, dass ich ihre Aufmerksamkeit nicht erringen konnte – ich bewies den anderen Burschen des Ortes, dass ich keinerlei Taktgefühl besaß. Sie lachten nicht, aber... ich spürte es an ihren Blicken. Ich wollte schon beschämt das Weite suchen, mich in meiner Schmiede einschließen und die Nacht hindurch auf Metall einschlagen, mich mit etwas umgeben, das ich kannte und konnte, als einer der Burschen demonstrierte, dass er zu viel vom Bier getrunken hatte. Er hielt sie fest, als sie weiter wollte, fluchte, als sie sich zu entwinden versuchte, er holte sogar zu einer Ohrfeige aus und blaffte sie an, was ein billiges Weib wie sie sich erlaube. Ich weiß bis heute nicht, was eigentlich in mich fuhr. Man lobte mich im Dorf stets dafür, so ein ruhiger, unauffälliger Geselle zu sein, doch schon als ich die Gefahr zu bemerken begann, erhob ich mich. Mechanisch, wie eine dieser zwergischen Erfindungen, und irgendwie unbewusst, als würde ich Träumen, als wäre ich gar nicht Herr meines Körpers. Ich schritt auf ihn zu und noch ehe ich mich versah, hielt ich sein Handgelenk gepackt. In seinem Suff erkannte er nicht einmal, mit wem er sich da anlegte und versuchte, statt ihr auf mich einzuschlagen. Das ist eben der Vorteil, wenn man täglich mit dem Schmiedehammer arbeitet. Die Kraft stählt den Leib. Mit nur einem Hieb brachte ich ihn zu Boden und seine Kameraden schleppten ihn sich tausend Mal für seine Verfehlungen entschuldigend davon. Doch für mich war das zu dem Zeitpunkt nicht mehr wichtig. Er war dumm gewesen, hatte sich betrunken. Er tat mir sogar leid, denn das Dorf war klein – und noch in zehn Jahren würde man sich an diesen Abend erinnern. Viel wichtiger aber war, dass ich erst in diesem Moment bemerkte, dass Irinya sich an meinen Arm schmiegte und lächelnd zu mir aufsah. Es hatte nicht einmal ein volles Jahr gedauert, da traten wir gemeinsam in Herothing vor den Priester und ließen die Weihe vollziehen. Ich war nun ein Mann, ich empfand des Morgens nicht mehr dieses Gefühl von Leere und ich begann, mein Leben zu planen. Ich gab die Schmiedearbeit auf, verkaufte das Werk samt Grund und Boden. Von dem Erlös konnten wir uns ein stattliches kleines Häuschen in Herothing leisten, dem nächstgelegenen größeren Ort. Die Stadt zog sich an der Steilküste entlang und grub sich in die Terrassen, die dort dem Meer zufielen. Herothing hatte einen wundervollen Leuchtturm, viele versteckte und uns neue Ecken und Winkel, die es zu erforschen galt, an denen man sich ungestört zurückziehen konnte – wir verliebten uns in die Stadt gleichermaßen, wie wir uns ineinander verliebt hatten. Zwei Jahre nach unserem Umzug schenkte sie mir das Anna, das Licht unseres Lebens. Ihr glockenhelles Lachen wusste jedem noch so griesgrämigen Fremden die Mundwinkel zu heben. Doch natürlich hatte ich auch Kosten. Zölle wollten bezahlt, Steuern entrichtet werden. Die Schmiede war fort und ich empfand meine mittelprächtigen Arbeiten nicht mehr als ausreichend. Es war Irinya, die mich auf die Idee brachte, der Stadtwache beizutreten. Gute Arbeitszeiten, guter Sold. Herothing war groß, aber ruhig. Der Hafen war zu klein für große Handelsschiffe und zu arm für Piraten, die Stadt selbst war zu abgelegen für breite Handelsrouten – die Wachen führten ein stilles, ruhiges Leben. Ein paar Diebe, meist altbekannte Gesichter, waren unser größtes Problem. Es war für mich keine Herausforderung, angenommen zu werden und binnen fünf Jahren war ich einer der ranghöchsten Offiziere. Es fehlte uns an nichts. Und dann... dann kam dieser Bote. Ich erinnere mich noch schmerzlich genau. Es war der dreiunddreißigste Tag im fünften Monat. Der Herbst hielt Einzug und draußen begannen die ersten Bäume ein buntes Kleid anzulegen. Die See wurde wieder etwas rauer und wir mussten die jungen Mädchen und Burschen davon abhalten, von den Stegen ins Meer zu springen – denn so lustig und erholsam das im Sommer war, die Strömung nahm im Herbst zu und riss sie schlimmstenfalls hinaus. Es war Abend, meine Schicht hätte in kaum einer Stunde ohnehin ihr Ende gefunden. Der Torwächter wäre hinaus gezogen, hätte die Laternen anzuzünden begonnen, das Stadttor geschlossen und dann über alle Eingänge und Ausreisenden Buch geführt. Es hätte ein Abend wie jeder andere werden können. Doch die Tür wurde aufgerissen. Ein Wind zog herein, dessen herbstliche Frische in Kontrast zur Wärme unserer beheizten Stube stand. Ich schrak ein wenig auf, sortierte mich und stand auf. Vielleicht würde wieder jemand darüber klagen, dass die Karren zu nah an seinem Fenster vorbei poltern würden und ich müsste erklären, dass die Terrassen der Stadt nun einmal nicht breiter werden würden, nur weil er sich darüber beschwerte. Doch der Mann, der eintrat, war anders. Man sah ihm an, dass er fremd war, dass er... nicht hierher gehörte. Ein Bote, wie das Pferd vor der Tür verriet. Selbst als er im Türrahmen stand, hielt er noch die Zügel in der Hand. Es schien, als würde er sie nur widerstrebend abgeben. Dann trat er ein, sah sich um, taxierte uns sieben, die wir Abendwache hielten. Er übergab mir eine Schriftrolle mit dem königlichen Wachssiegel, nachdem ich mich vor ihm aufgebaut und damit die wortlos in seinen Augen stehende Frage nach der Hierarchie geklärt hatte. Keine Erklärungen, keine Worte des Fremden, der seine ganze Gestalt in einem weiten Umhang verhüllte. Er ließ mich nicht einmal sein Gesicht sehen. Er gab mir die Rolle, kehrte um und verschwand wieder. Ich riss die Tür auf, spähte ihm nach, doch dieser Bursche war furchtbar flink – er saß schon hoch zu Ross, hatte das Tier bereits gewendet und jagte es den Pfad hinauf. Das war vielleicht ein merkwürdiger Auftritt! Ich kam in die Stube zurück und wir witzelten über den Burschen. Dennoch wurde mir die Kehle trocken, als ich das Wachssiegel betrachtete. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, wie es sich für Offiziere und vertrauliche Nachrichten gehörte, brach sorgfältig das Siegel und begann, das Pergament zu lesen. Ich musste die Zeilen doppelt und dreifach überfliegen, denn obwohl mein Weib sich mühte, vermochte sie mich das Lesen doch längst nicht so gut zu lehren, wie es der Priester wohl in meinen Jugendjahren vermocht hätte. Doch ich begriff, was darin geschrieben stand. Ein königliches Edikt. Seine Majestät Phillipe der Dritte erließ den Ausruf durch das ganze Königreich, dass er sich selbst zur Gottheit seines Volkes ernannte. Die Tempel würden gemäß des neuen Gesetzes umgebaut werden müssen, die Priester wurden aus den Diensten entlassen, nein mehr noch – man räumte ihnen die Frist eines Mondzyklus ein, um ihre Tätigkeiten einzustellen oder des Landes zu fliehen. Der Alte Glaube war zur Blasphemie erklärt worden. Ich hatte dem Tempel als Kind nicht besucht, hatte die Priester nur als schweigsame, freundliche Herren und Damen kennen gelernt, mit denen ich nie viel zu tun hatte. Ihr Bedarf an Waffen und Rüstungen war... null. Aber ich wusste, dass ich damit allein stand. Ganz Lumiél glaubte daran. Ganz Lumiél flehte Mermerus um die Befriedigung von Rachegelüsten an, Elben knieten nieder und baten Telete um Segen für den Tanz mit ihrer Angebeteten, ja selbst mein eigenes Eheweib kniete jeden Abend an unserem Bett nieder und dankte Damaste für den Segen unseres Kindes und die Gesundheit unserer Familie. Doch es war viel schlimmer als das. Mein Weib, das mochte nur ich sehen, wenn sie zu jenen betete, die nun per Gesetz aus dem Land verbannt worden waren. Aber in Herothing gab es einen Tempel, und jeder Tempel hatte einen Vorstand. Alienna war, wie es sich für eine Hafenstadt gehörte, eine Anhängerin Eumenes'. Aber für sie war das nicht einfach irgendeine absurde Zauberei, es war kein 'Beruf', wie ich ihn ausübte. Für sie war Eumenes Priesterin zu sein eine Berufung, für sie war dies Glaube, blinde Hingabe und Vertrauen in Kräfte jenseits unserer Vorstellungskraft. Alienna hatte sich ganz diesem System verschrieben, sie war überzeugt von der Existenz einer Gottheit, die wie ihresgleichen ihre Gegenwart nur alle paar Jahrhunderte unter Beweis stellte – Zeiträume, die uns Menschen nur allzu rasch vergessen ließen, was die Augen unserer Ururahnen geschaut hatten. Ich wusste von Anfang an, dass es Probleme geben würde. Ich sah, wie man die Kunde abschrieb, wie meine Männer Witze rissen über die Weiber, die in Zukunft vor einem Bildnis seiner Majestät niederknien und um Kindersegen bitten würden. Ich maßregelte sie, wies sie scharfen Tones zurecht. Nicht nur, weil ich es musste, weil es meine Pflicht war. Nein – nur ein einziger Mann musste das sehen, hören, erleben... und dem Falschen davon berichten, und plötzlich hieße es, die Stadtwache von Herothing sei durch und durch von Blasphemikern besetzt. Jeder meiner Männer hatte ein Weib, hatte Kinder. Ich musste sie anfahren, allein um ihnen zu helfen, um sie zu beschützen – vor ihrer eigenen Kurzsichtigkeit. Und ich sah, wie Alienna die Kunde las, die nun an jeder Laterne angenagelt hing. Ich sah, wie ihre Miene sich in Empörung verzog, wie Wut darin aufflackerte und sie voller Verachtung auf den Boden spuckte. Ich sah, wie sie jeden Tag die Mädchen empfing und ihnen gut zusprach, wie sie den Männern ihren Segen erteilte, damit ihre Fischerboote mit reichem Fang und wohlbehalten zurückkehren würden. Ich sah, wie sie auf das Meer hinaus spähte und auf eine Unterstützung zu hoffen schien, die einfach nicht kam. Als der Mondzyklus vorbei war, der letzte Sandkorn im Stundenglas fiel, wusste ich, was zu tun war. Zwei Tage schob ich die Pflicht vor mir her und quälte mich mit meinem Gewissen. Ich konnte nicht ruhen – seine Majestät war bekannt dafür, keine angenehme Gesellschaft zu sein. Ich wollte nicht, dass ich, einer meiner Männer oder sonst irgendjemand als ein Exempel herhalten musste für jene, die sich dem königlichen Willen widersetzten. Also sammelte ich meine Männer zusammen. Wir betraten Aliennas Tempel. Sie stand uns nicht im Weg, als wir die Gemälde abnahmen. Sie sagte kein Wort, als wir gemäß unseren Befehlen die Skulpturen zertrümmerten. Und obwohl wir immer freundlich zueinander waren, war ihr Blick hart wie Stein und kalt wie die See, als wir abzogen und ich mich zu entschuldigen versuchte. Ich glaube, sie spürte, wie schrecklich ich mich in meiner Haut fühlte – aber sie konnte, nein, sie durfte darauf einfach keine Rücksicht nehmen. Die Wochen darauf waren... schwierig. Ich hörte immer wieder von meinen Männern, dass sie Alienna erwischt hätten. Sie würde noch immer in Eumenes Namen predigen, sie würde noch immer den Fischern ihren Segen aussprechen. Sie handelte wider des Edikts seiner göttlichen Majestät, sie... machte sich schuldig des Hochverrates. Ich beschwichtigte sie, sagte ihnen, ich würde mit ihr reden. Viel zu lange schob ich dieses Gespräch vor mir her, nur um sie irgendwann zufällig auf dem Markt zu treffen. Ich bat sie zu mir in eine ruhige Ecke und sie folgte ohne Widerstand. Ich erklärte ihr alles, beim Stolz meines Weibes, ich versuchte es zumindest. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie verstand, was ich ihr zu sagen versuchte. Sie sagte nicht ein einziges Wort, reagierte in keiner Weise – und wenige Tage später hörte ich, dass sie weiterhin in Eumenes Namen predige. Es nahm kein Ende. Mehrfach versuchte ich, sie zu überreden. Als ich ihr vorschlug, sie könne doch ihren Glauben waren, aber zumindest dem Schein nach seiner Majestät dienen, erhielt ich die erste, tatsächliche Reaktion von ihr – und mir brannte die Wange von ihrer kräftigen Antwort. Ich hätte sie wegen Angriffes auf die Stadtwache festnehmen können. Man hätte sie sogar als Rebellin verurteilen und hinrichten lassen können, repräsentierten wir doch das Gesetz seiner Majestät. Ich gab ihr Chancen, wieder und wieder, aber sie schlug alles in den Wind. Erst, als ich schweren Herzens die Order ausgab, sie bei der nächsten Gelegenheit einzusperren, wendete sich das Blatt. Alienna verschwand. Gleichwohl, wie es mich bekümmerte, erfreute es mich auch. Ich wagte zu hoffen, sie hätte eines der kleinen Schiffe genommen und wäre mit dem Segen ihrer Göttin hinaus aufs Meer oder hätte die Stadt nach Süden verlassen. Aber ich irrte. Meine Männer berichteten weiter davon, wie sie ihren 'Pflichten' nachging. Sie ließ sich nicht mehr beim Tempel oder in dessen Nähe blicken. Ihr Haus hatte sie aufgegeben. Ich war ratlos – wo schlief sie? Woher bezog sie frische Kleider? Wo aß sie – und was? Ich musste die Stadt durchsuchen lassen. Niemand sollte mir oder meinen Männern vorwerfen können, wir hätten nicht alles unternommen. Natürlich war keiner von uns sehr ambitioniert. Alienna war eine kluge und geschickte Frau, sie hatte uns allen schon das eine oder andere Mal geholfen und nur zu gut erinnerten wir uns, wie sie in kalten Winternächten kleine Bündel von Kräutern und Gewürzen in die Wache gebracht hatte, damit wir uns wohlduftenden Tee brühen konnten, der uns über die eisigen Nächte rettete. Doch nun war die Lage eine andere. Alienna entkam uns immer wieder, schlüpfte durch die Maschen. Ich begriff bis zuletzt nicht, wie ihr das gelungen war. Heute bin ich klüger – es war Herothing. Die Stadt, die zu bewachen ich verpflichtet war, die ganze Stadt, die dem Edikt seiner Majestät zu folgen hatte, hatte eine Blasphemikerin gedeckt, hatte ihr Zuflucht gewährt, sie vor uns versteckt, ihre Wäsche gewaschen, ihren Magen gefüllt, ihr ein Bett gestellt. Hätte ich gewusst, welchen Zusammenhalt es in der Stadt gab, hätte ich nie erwogen, das zu tun, was ich im Frühjahr des Folgejahres schließlich tat. Ich schrieb einen Brief an die Stadtwache von La Coeur, sprach von einer Priesterin, die sich weigere, den Alten Glauben aufzugeben und zu konvertieren. Ich weiß nicht, was an Alienna ihnen solch furchtbare Angst machte, doch offenkundig befanden sei es für nötig, rasch und strikt gegen sie vorzugehen. Zwei Wochen zogen ins Land und ich hoffte schon, man hätte die Sache für zu unwichtig erklärt. Alienna könnte weiter ihr Versteckspiel treiben, meine Männer würden sie nicht mehr suchen, nicht mehr jagen, nicht einmal mehr irgendwie belästigen müssen – es wäre Frieden. Ruhe würde wieder einkehren. In ihr Leben, in meines, in das meiner Männer. Doch die Antwort kam. Wieder war es ein Abend, wieder wurde die Tür ohne Aufforderung geöffnet und wieder ließ mich der Wind schaudern. Doch als ich mich diesmal vor dem Eintretenden aufbaute, da war ich es, der schwer zu schlucken hatte. „Kommandant Azar.“ grollte die dunkle Stimme daher. Mein Blick zog langsam von den schweren Plattenstiefeln über die voll gepanzerten Beine, den Brustpanzer bis hinauf zu seinem Helm. Er sah mich nicht an. Wie ein Monolith stand er da und sein kalter, harter Blick ging schnurgerade an mir vorbei. Ich hielt mich für groß gewachsen und kräftig – aber gegen diesen Hünen war ich schmächtig. Genau das ließ auch meine Männer totenstill ausharren. Außerdem erkannten sie wohl die Gravur auf seiner Brustplatte. Ich zumindest wusste, was dieses Symbol bedeutete. Kommandant Azar war kein Mitglied der Stadtwache von La Coeur – anders als die fünf Mann, die ihm den Rücken deckten. Nein, Azar war einer der Bellatoren. Ein Elitekrieger seiner Majestät – die Spitze dessen, was das Heer Lumiéls aufbieten konnte. Er war kein Wachmann... er war ein Kriegsveteran. Jeder Bellator musste mehrere Jahre Erfahrung in Offensivkämpfen aufweisen können, jeder von ihnen musste beweisen, dass er notfalls aus einer Tonscherbe eines zerbrochenen Kruges eine tödliche Nahkampfwaffe machen konnte. Bellatoren waren die Auslese derer, denen der Kontakt mit Krieg, Tod und der Grausamkeit in Reinform nicht den Verstand zerschmettert, sondern ihn gestählt hatte. Ich begriff, dass selbst meine Männer und ich gemeinsam diesen einen Mann unmöglich hätten bezwingen können – selbst wenn unser aller Leben davon abgehangen hätte. Ein Mann wie Azar hatte Dinge gesehen, erlebt, getan, die eine Stadtwache nie wieder ruhig schlafen lassen würde. Allein, dass er hier war, ängstigte mich schrecklich. Warum hatte man ihn geschickt? Bellatoren waren nicht nur respektiert für ihre Erfahrung und ihre Kampfkünste, sie waren nicht zu Unrecht auch gefürchtet, weil sich in ihren Methoden und Taktiken die Grausamkeit der Kriege, die sie erlebt und durchlitten hatten, stets wieder niederschlug. Es war nie gut, einem der Ihren zu begegnen. „Kommandant Tamm Malik?“ donnerte die Stimme Azars. Ich zuckte zusammen, als mein Name fiel. Einen Moment wollte ich gar nicht antworten. Was, wenn er meinetwegen hier war? Fast automatisch begann ich fieberhaft zu überlegen. Hatte ich mir etwas zu Schulden kommen lassen? Waren sie hier, um mich dafür zu bestrafen, weil ich es nicht vollbracht hatte, Alienna zu fangen? „J-Ja?“ erwiderte ich verunsichert. Ich versuchte nicht einmal zu verbergen, dass ich vor diesem Mann Angst hatte. Sein Blick, sein Ton, seine Körperhaltung... alles an ihm wirkte bedrohlich. Gefährlich. „Seine Majestät wünscht, dass an der Priesterin ein Exempel statuiert wird. Wir werden sie einfangen und nach La Coeur transportieren. Ihr werdet uns unterstützen.“ konstatierte der Bellator. Dabei ließ Azar keinerlei Raum für Widerspruch. Es würde geschehen wie er es sagte – alles andere wäre zweifellos abträglich der eigenen Gesundheit. Entsprechend nickte ich nur schwach und erkundigte mich kleinlaut, ob meine Männer nicht ebenso helfen könnten. Azar jedoch hob kaum merklich eine der schwarzen, buschigen Augenbrauen seiner zerfurchten Stirn entgegen und blickte an mir vorbei auf den Haufen meiner Männer. „Wird nicht nötig sein. Wir können keinem trauen. Eurer Erklärung nach bekommt sie möglicherweise Hilfe. Vielleicht von hier.“ „Aber-“ Ich sah meine Männer angegriffen, bedroht regelrecht! Verräter? In meiner Wachstube? Niemals! Doch schon nach dem ersten Wort traf mich sein Blick wie ein Schwertstreich. Ich verstummte. „Und was ist mit mir?“ brachte ich nach einer Weile hervor. Ich wollte nicht bei Azar bleiben. Also schien es mir sinnvoll, ihn darauf hinzuweisen, dass mir dann natürlich zweifellos auch nicht getraut werden konnte. Doch der Bellator schnaufte nur verächtlich. „Ihr denkt nicht nach.“ maulte er mich an. Ich verschwendete seine Zeit, indem er mir meine Dummheit erklären musste – genau so klang sein Tonfall. „Von euch stammte der Brief. Und selbst wenn... einen von euch werden wir schon im Auge behalten können. Los, Abmarsch.“ „Ihr wollt heute noch dort raus? Aber es ist Abend, die Dämmerung längst eingebrochen, wir-“ Ich hatte wirklich beste Absichten. Im Dunkeln würde niemand etwas sehen, bei Leibe, da ließen sich keine Spuren finden. Ich war mir dessen absolut sicher – nur hatte meine Meinung kein Gewicht. Azar knurrte mich an, wie ein ausgehungerter Wolf wohl den Buben, der sich im Wald verirrt hatte. Meine Einwände waren belanglos, unwichtig – ihm egal. Was blieb mir da schon noch groß für eine Wahl? Ich übergab das Kommando an einen meiner Männer und verließ die Stube. Wind zog durch jeden noch so dünnen Spalt der Panzerung und ließ mich frieren. Hatte das Leben als Stadtwache mich so verweichlicht? Oder hatten die zahllosen Kriege Azar so entmenschlicht? Ich führte die schrecklich schweigsame Bande von sechs Männern durch Herothing die Terrassen der Stadt hinab. Ich kam mir furchtbar vor, wie diese Jagdhunde, die man vor ein Gespann von Pferden und Jägern laufen ließ, damit sie der Spur folgten. Unzählige Erinnerungen kamen empor, wie ich diesen Weg ging, wieder und wieder. Aber die Gesellschaft war angenehmer gewesen. Wir hatten Witze über das Wetter gerissen, oder uns über den alten Wirrkopf unterhalten, der ständig unverständliches Zeug vor sich hin brabbelte, mit seinem kaputten Schiff ein paar Meter aufs Meer hinaus fuhr und trotzdem ständig mit reichem Fang heim kehrte. Es waren schöne Zeiten gewesen. Und jetzt kroch mir die Kälte in die Glieder, ich glaubte einen bohrenden Blick im Nacken zu spüren und führte eine Gruppe durch die Gassen, die so finster drein sah, dass man sie für gedungene Mörder hätte halten können. Mir war bei der Sache einfach nicht wohl und egal, wie oft ich mir einzureden versuchte, dass ich nur meine Pflicht tat – es machte die Sache nicht besser. Azar ließ sich von mir bis zum Tempel führen. Dann schickte er mich heim. Wie das Kind, das ab diesem Punkt nur noch im Weg war. 'Hast du brav gemacht, aber ab jetzt übernehmen die großen Jungs'. Hätte er es nicht wenigstens unterlassen können, mich so zu demütigen? Ich wusste nicht, was er zu finden hoffte. Seine Leute begannen, den Tempel in Augenschein zu nehmen, verstreuten sich im Innenraum, in den Kammern, während Azar dort stand, wie eine Statue, und so lange keine Regung tat, bis ich mich abwandte und heim trottete. Ich hörte nur noch, wie die Tür des Tempels sich hinter mir schloss und schon als ich an diesem Abend zu meinem Weib ins Bett stieg ahnte ich, dass die nächsten Tage und Wochen fürchterlich werden würden. Ich bat Irinya, nicht zu Damaste zu beten, solange Azar in der Stadt war. Wir wohnten im ersten Stock, aber es hätte mich irgendwie nicht einmal überrascht, hätte er einen seiner Männer mit einer Leiter zu meinem Haus geschickt, um zu prüfen, wie vertrauenswürdig ich war. Ihr war nicht wohl dabei, Damaste so zu vernachlässigen, doch offenbar musste ich kreidebleich sein. Vielleicht hatte sie mir auch einfach die aufrichtige Sorge angehört – jedenfalls sicherte sie es mir schweren Herzens zu. Unser Engel schlief längst und auch wir lagen bei gelöschtem Licht in unserem Bett, doch ich fand keine Ruhe. Ich fragte mein Weib um Rat, legte ihr alles offen dar. Wider der Dunkelheit sah ich in ihren Augen, dass sie zu verstehen begann, was mich so besorgte. Man würde Alienna Schreckliches antun. Und egal, wie sehr ich mich da heraus reden wollte – ich trug daran die Schuld. Vielleicht hatte ich ihr nie Böses gewollt, vielleicht hatte ich ihr Chancen gegeben, aber trotz alledem war für die sich anbahnende Eskalation einzig ich verantwortlich. Sie riet mir zu, Azar auszubremsen. Ich sei noch immer die Macht des Königs in dieser Stadt. Ich würde die Einwohner kennen, die Winkelgassen, die Waschweiber, die Lügenmäuler. Ich hätte die Macht, ihn zu bremsen, sollte er zu eifrig werden, und die Autorität seiner Majestät des Gottkönigs von Lumiél, um ihm notfalls auch Einhalt zu gebieten. Sicher war ich mir da nicht, aber ich hoffte inständig, sie hätte Recht. Die Nacht verstrich und der nächste Morgen brach an. Schon als ich die kleine Wachstube aufsuchte, sah ich an den mürrischen, missmutigen Mienen meiner Männer, dass etwas nicht stimmte. „Warum so verdrießlich?“ erkundigte ich mich und wurde mit Fingerdeut auf den hinteren Teil verwiesen. Ohne ein Wort, aber doch deutlich angespannter, trat ich durch den Gang zu den Zellen. Ich sah einige junge Burschen hinter Gittern, sah unseren wirren Fischersmann, ich sah eines der Waschweiber. Den Burschen leuchteten stattliche blaue Male auf den Armen, der Fischersmann hielt sich sogar die noch immer blutende Nase, während das Weib nur auf der Bank saß, das Gesicht in den Händen vergraben und haltlos schluchzend und weinend. „Was geht hier vor sich?“ verlangte ich zu wissen. Da sah sie auf und ich gewahrte, dass auch das Weib ein Veilchen hatte. „Sie verschweigen etwas. Ich bringe sie zum reden.“ grollte Azars Stimme aus einer Ecke des Raumes, in der er sich gerade an einer Schüssel in aller Ruhe das Blut von den Fingerknöcheln wusch. „Man schlägt keine Frauen...“ warf ich ihm leise vor. Ich hatte Angst vor ihm, sicherlich – aber hier und jetzt war ich auch wütend. Er griff die Bürger meiner Stadt an! Er sperrte sie in meine Zellen! Und all das ohne mir auch nur ein einziges Wort davon zu sagen! Dabei hatte ich bei meinem Vorwurf schon unterschlagen, dass sie obendrein nicht nur harmlos und unbewaffnet war, sondern zu allem Überfluss mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht das Geringste wusste. Azars Antwort aber ließ mich schweigen, ja, sie jagte mir sogar eine Gänsehaut über den Rücken, wie er sich langsam erstarrend nach einer kurzen Pause zu mir umwandte, wie sein Blick mich durchbohrte und er völlig kalt sagte: „Ich schon, wenn es nötig ist.“ Ich glaube, es war dieser Moment, als mir einmal mehr bewusst wurde, dass ich keinen Mann von Recht und Ordnung in die Stadt gebracht hatte, sondern einen Soldaten, einen Befehlsempfänger... der möglicherweise mehr Monster war, als man es Alienna unterstellte. Ich sah zu den Inhaftierten, ich sah zu Azar, wie das Blut das Wasser in der Schale färbte, wie ihre hoffnungsvollen, ängstlichen Blicke auf mir ruhten. Sie warteten. Dass ich eingreifen würde, sie befreien würde, das Schlimmste von ihnen abhalten würde. Machtlosigkeit. Das war alles, was ich dem entgegen setzen konnte. Ich, Kommandant der Stadtwache von Herothing, war machtlos. Wegen eines Mannes. „Wenn ihr mir nicht helft, dann steht mir gefälligst nicht im Weg.“ ließ Azar nach einer Weile verlauten. Irritiert von dieser unterschwelligen Drohung wandte ich mich ihm erneut zu. Offenbar hatte er den Blickwechsel zwischen mit und den 'Gefangenen' bemerkt und mich fröstelte bei dem Gedanken, dass ein Mann mit seiner Erfahrung und seinem Wissen jeden meiner Gedanken lesen konnte wie die Zeilen in einem offenen Buch. Er wusste, dass ich daran dachte, ihn aufzuhalten, ihn auszubremsen, diesen Leuten aus ihrer Not zu helfen. Er wusste es... und es gefiel ihm überhaupt nicht. Ich mischte mich in seine Arbeit ein. „Ich kann das nicht zulassen.“ schob ich schließlich unter Aufbietung aller Tapferkeit hervor – die sich sehr zu meinem Leidwesen irgendwie irgendwo verkrochen zu haben schien. Azar jedoch reagierte zunächst gar nicht. Der Bellator trocknete sich in aller Ruhe die Hände ab, legte neue Bandagen an und schritt dann ruhig zu mir herüber. Wir standen beieinander, fast hätte es kollegial wirken können, doch ich wusste, wie sehr dieser Eindruck täuschte. „Ihr verschwendet euren Atem und meine Zeit. Ersteres wäre mir gleich – Letzteres ist es nicht. Ihr werdet jetzt gehen. Ich werde mein Verhör fortsetzen und euch zu gegebener Zeit über die Erkenntnisse informieren. Entweder das, oder ihr werdet deren Platz einnehmen, bevor ich zu ihnen komme. Ihr könnt euch also nur Ärger ersparen, wenn ihr jetzt geht.“ Es war geradezu erstaunlich, wie ruhig seine Stimme klang, wie gleichgültig, wie... gelangweilt. Ihm machte das alles nichts aus. Er spielte das nicht einfach nur. Er hatte wirklich keinerlei Skrupel, einer Frau das Auge zuschwellen zu lassen, einem Burschen mit einem präzisen Griff eine Rippe zu brechen oder einen Mann mit dem Schädel gegen eine Wand zu schlagen – und er hatte auch keinerlei Skrupel, mir, einer Stadtwache, einem Kommandanten und Offizier, genau das Gleiche anzudrohen, sollte ich ihm weiterhin im Weg stehen und seine Zeit vergeuden. Ich trat den Rückzug an. Selbst mit meinen Männern hätte ich diesen Einen nicht bezwingen können. Wie sollte ich es da erst allein schaffen, ihm die Stirn zu bieten? Ich sah das Entsetzen, die nackte Panik in den Augen der Gefangenen, ich sah, wie sie zu zittern begannen, als Azar näher an die Gitterstäbe trat und ich wusste: Sie würden ihm alles erzählen. Alles. Alles, was sie wussten, alles, was er hören wollte, alles, was er sie sagen lassen wollte. Ich hatte die Tür noch nicht einmal geschlossen, da hörte ich den ersten Schmerzschrei. Leise, gedämpft – als hätte jemand dafür gesorgt, das man ihn nicht im ganzen Haus würde hören können. Vermutlich hatte Kommandant Azar auch dafür seine Methoden. Ja, dessen war ich mir sogar sicher. Er war hier das wahre Monster. Und ich, ich Narr hatte ihn entfesselt, ich hatte ihn auf meine Stadt losgelassen, auf meine Bürger, die zu schützen ich geschworen hatte... Tatsächlich bekam Azar die Antworten, die er gesucht hatte. Er wirkte sogar ein wenig erschöpft, als er die hinteren Zimmer verließ und zu mir und meinen Männern in die Schankstube trat. Seine Kameraden erhoben sich wie auf ein stilles Kommando und machten sich zum Abmarsch bereit. Ich sandte meine Männer in die hinteren Zimmer, um seine Opfer zu versorgen, um ihre Wunden zu reinigen, sie notfalls zu einem Heiler zu bringen. Ich... ich war naiv. Fünf Menschen hatte er einsperren lassen. Aber nur drei von ihnen verließen die Kerkerzellen lebend, und selbst die waren in einem grässlichen Zustand. Ich war nicht selbst dabei, Azar befahl mir, ihn zu begleiten. Ich hörte nur später von meinen Männern, dass sie den Raum betreten und ihren Augen nicht getraut hatten. Zwei von ihnen übergaben sich sogar, einen Dritten mussten sie von den Knien wieder auf die Füße zerren, weil er geradezu hysterisch zu Ereshkigal gebetet hatte, sie möge Gnade haben. Ich weiß nicht, was sie sahen. Allein zu hören, wie sie reagierten, lässt mich noch heute schaudern. Als ich zurück kam, da hatten sie alles beseitigt, die Gitter, die Wände, den Boden geschrubbt, die Überlebenden zum städtischen Heiler gebracht, den Raum durchgelüftet. Aber meine Stunden waren deshalb nicht erholsamer. Azar hatte die Information erhalten, dass Alienna sich in der Nähe des unteren Marktplatzes aufhielt. Sie würde in den umgebenden Häusern und Gassen Schutz suchen. Näher jedoch hatte er es nicht eingrenzen können. Ich dachte, wir würden die Häuser durchsuchen. Ich dachte, wir würden Fallen auswerfen. Die Gassen im Auge behalten. Ich dachte, wir würden mit humanen Mitteln vorgehen. Auch das hätte ich nach allem, was schon geschehen war, besser wissen sollen. Er schrie ihren Namen. Selbst in dieser Lautstärke klang seine Stimme wie Donnergrollen, wie das Röhren eines Bären. Er befahl ihr, sich zu zeigen und zu ergeben. Anfangs wollte ich darüber lachen. Glaubte er wirklich, das würde funktionieren? Nur seine imposante Gestalt, und schon kuschte die Priesterin, die genau wusste, dass der Tod auf sie wartete? Doch dann packte Azar völlig wahllos eine junge Frau, die an einem Töpferstand einen Krug hatte erstehen wollen. „Kommt heraus, oder ihr Tod ist eure Last!“ schrie der Kommandant. Ich dachte zunächst, ich hätte mich verhört. Doch die Härte und Gleichgültigkeit in seinem Gesicht lehrte mich anderes. Also hoffte ich, er würde bluffen. Lügen. Ihr etwas vor machen. Er zählte abwärts. Zehn. Neun. Acht. Bis zur eins. Einen Versuch, so dachte ich mir, war es ja vielleicht wert und Alienna würde eventuell- Dann sah ich nur noch einen Ruck seines Armes, wie die gezackte Klinge sich in Blut tränkte, wie eine Kluft die Kehle des jungen Weibes aufriss. Ihr Wimmern versiegte, ihre Tränen versiegten und das atemlose Ausharren der Umstehenden schlug in blankes Entsetzen um. Jenes Weib war wohl so alt wie Irinya, als ich sie kennen lernte. War vielleicht auch sie auserkoren worden, beim Lichterfest die Rolle der Phylia zu spielen? Hatte auch ihretwegen eine Junge sich um sie geprügelt? Hätte sie einst eine Familie gegründet, ihrem Gatten eine bildschöne Tochter geschenkt? Jetzt nicht mehr. Azar stieß sie achtlos zu Boden, in den Staub der Fugen zwischen den Pflastersteinen. Seine Männer zuckten nicht einmal mit der Wimper. Vermutlich kannten sie Kommandant Azar und seine Methoden bereits. Ich aber war sprachlos, fassungslos, ich... konnte nicht einmal reagieren. Ich starrte auf sie nieder, versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging, was er getan hatte, was er war... Zeit, die der Bellator nutzte. Er packte aus der sich zerstreuenden Menge wahllos den Nächsten. Diesmal einen der Händler. Er zuckte vor der blutverklebten Klinge an seinem Hals zurück, doch Azar drückte sie ihm so nah an die Haut, dass ich glaubte, schon die Zacken der Schwertschneide mussten sich in die Haut bohren. „Wenn ich auch ihn töten muss, bist du schon zweier Morde schuldig! Und wenn nötig, werde ich die Türen der Häuser eintreten und ihre Kinder an den Haaren hier auf den Marktplatz zerren!“ schrie Azar in den inzwischen menschenleeren Marktplatz hinaus. Und ich zweifelte keine Sekunde, dass er das tun würde. Er war einer dieser Männer, die nach der Philosophie lebten und handelten, dass man eine Drohung niemals aussprechen sollte, wenn man nicht auch bereit war, sie umzusetzen. Auch bei diesem Händler begann er zu zählen. Von zehn abwärts – und er kam nur bis vier. Ich wusste nicht einmal, ob ich erleichtert oder entsetzt sein sollte, als Alienna zwischen den Häusern hervor trat und sich stellte. Sie befahl Azar Einhalt und ungerührt von ihrer stolzen Erscheinung oder ihrem gebieterischen Ton, stieß er den Händler auf die Leiche der Frau zu Boden, scherte sich einen Dreck um sie oder ihn und setzte mit kurzen, langsamen Schritten auf sie zu. Alienna wich vor ihm nicht zurück. Sie wusste, dass es kein Entkommen für sie gab. Wie ich, hatte auch die Priesterin geschworen, das Leben und Glück dieser Leute zu bewahren und zu beschützen. Wenn sie jetzt floh, müsste sich der Kommandant nicht einmal die Mühe machen, ihr nachzujagen – obwohl er das mit seinen Künsten in der Spurenleserei sicherlich vermocht hätte. Nein, er würde einfach eine Tür eintreten, ein kleines Kind bei seinen Haaren packen, es hier heraus zerren und zählen. Wieder und wieder. Bis sie sich stellen würde... oder bis halb Herothing einen Leichenteppich auf diesem Markt bilden würde. Sie zuckte nicht einmal, als er sich wie ein Bär vor ihr aufbaute, die Hand hob, langsam. Der schwere Panzerhandschuh klapperte kurz, als er sie nieder sausen ließ. Eine Schelle, die ihr die Wange aufriss, sie mit voller Wucht traf und gegen die Hauswand schleuderte. Reglos blieb die Priesterin am Boden liegen. „Ihr werdet uns nach La Coeur begleiten und dem Prozess beiwohnen. Eure Aussage könnte nötig sein.“ wies Azar mich an, als wäre ich ein Laufbursche oder Tagelöhner. Dennoch war ich folgsam. Ich hatte gesehen, was für ein Mensch er war, gesehen, zu was er fähig war. Ich fürchtete Azar. Seine Männer verschnürten Alienna, knebelten die Priesterin und fädelten sie auf einem langen, stabilen Stab auf wie die Kriegsbeute eines Barbarenstammes. Selbst jetzt, nach dem, was der Kommandant wohl als 'getane Arbeit' bezeichnen würde, erlaubte er sich keinerlei Zeichen von Zufriedenheit. Kein Lächeln, kein Spruch, kein Wort mehr als nötig – und es war gar keines nötig. Er schritt voran, seine Männer folgten, ich trottete hinterher. Wir brachten Alienna aus der Stadt und folgten eine Weile dem Küstenverlauf nordwärts. Erst mit der Handelsstraße würden wir nach Osten einkehren und direkt auf La Coeur zuhalten. Doch ich unterschätzte den Kampfgeist und Lebenswillen Aliennas. Wir waren drei Tage unterwegs, da riss sie sich los. Ich begriff nicht sofort, wie sie das vollbracht hatte. Erst nach und nach fiel mir wieder ein, wie Azars Männer sich am Lagerfeuer über die klamme Morgen- und Abendluft beschwert hatten, wie sie über die merkwürdig rasch dahin schrumpfenden Wasservorräte klagten. Alienna war Priesterin von Eumenes', der Herrin der See. War es vielleicht wirklich möglich, dass ihre Göttin ihr half, das Element zu zähmen, das so vielen Leben schenkte und es auch wieder nahm? Ihre Seile zumindest waren nass, aufgeweicht, weit mehr, als sie es hätten sein dürfen. Fast einen halben Mondzyklus lang jagten wir die Priesterin durch das karge, leere Land. Sümpfe, Moore, Graslandsteppen. Wir hielten uns in Nähe der Küste und die Stimmung war mehr als angespannt. Nicht nur einmal schlug der Kommandant einen seiner Männer für eine Frechheit, eine Beschwerde, einen Kommentar, die Suche aufzugeben. Ihm war eine Gefangene entwischt – offenbar nahm der Bellator das nicht nur ernst, sondern obendrein persönlich. Sie hatte ihn mit ihrer Flucht in seiner Ehre angegriffen, seinen Stolz verletzt. Ich wusste, dass es für Alienna damit nur noch schlimmer werden würde und hoffte inständig, sie wäre längst über alle Berge geflohen. Nach Herothing und mit dem Schiff davon, nach Sundergrad, La Coeur, in den Untergrund – ganz egal! Hauptsache, wir würden sie nicht wieder sehen. Doch Kommandant Azar war Soldat... und Jäger. Er las ihre Spuren aus und seinem Eifer nach zu urteilen, vermochte Alienna es nicht, den Abstand zwischen ihr und uns zu vergrößern. Wir verfolgten ihre Spuren bis zu einem flachen Teil der Küste, an dem ein paar vereinzelte Fischerhütten herum standen. Die meisten Boote, die im Sand lagen, waren morsch oder verfallen. Viele der Hütten verwaist, eingestürzt – gute, aber gefährliche Verstecke. Ich befürchtete es und meine Befürchtung sollte sich bestätigen. In einem dieser Holzverschläge entdeckten wir Alienna. Nicht, weil wir sie sahen, sondern weil ihre Spuren uns direkt dorthin führten. „Du und du, ihr bleibt hier.“ befahl Azar mit der mir inzwischen so vertrauten Kälte und wies damit mich und einen seiner Männer an, die Position zu halten. Inzwischen hatte ich trotz meiner Angst und meines Unbehagens einen Weg gefunden, mit diesem Monster auszukommen: Ich hielt mich im Lager abseits, ich bildete stets die Nachhut und ich sagte kein einziges Wort. Ein Geist hätte nicht unauffälliger sein können. Umso überraschter war ich, als der mir zugeteilte Wachmann nickte und dann – unter Azars Blick – die ihm zugewiesene Position verließ und irgendwo neben dem Haus verschwand. Was hatte das zu bedeuten? War das 'Du bleibst hier!' der Soldaten ein anderes als bei der Wache? Einen kurzen Moment musterte Azar mich noch kritisch, dann trat er in das Haus. Ich hörte einige Sekunden nichts, dann Getrappel, berstendes Holz, etwas wurde umgeworfen, ein Splittern von Scherben, das Keuchen und Ächzen einer tiefen Stimme, das nach Schmerz und Verletzung klang. Machte eine einzelne Frau ihnen so viel Ärger? Die Neugier ließ mich meine eigenen Regeln brechen und ich trat zu ihnen ein. Vier Soldaten hatten Alienna eingekreist, der Fünfte lag am Boden in einer Mischung aus den Resten eines morschen Stuhles und Tonscherben, er regte sich, schien aber kaum noch fähig, aufzustehen. „Raus hier!“ kreischte Azar mich voller Zorn an, kaum dass er meine Gegenwart bemerkte. Ich zuckte zusammen, warf einen Blick zu Alienna. „Ich flehe dich an... mach es nicht noch schlimmer...“ bat ich sie leise. Die Priesterin aber reckte trotzig und stolz das Kinn – und strafte mich weiter mit Schweigen und Ignoranz. Ganz anders als Azar, der ein Messer präzise in den Türrahmen direkt neben mir schleuderte. Ich hatte keine Ahnung, woher er das Ding hatte, aber die Botschaft war angekommen: Raus hier, ich sage es nicht noch einmal. Ich zog mich zurück, schloss die Tür, wie ich angewiesen wurde. Ich hörte, wie sie sich auf Alienna warfen, ich hörte Kampfgeräusche. Dann kehrte eine Weile Stille ein. Was ich dann vernahm, war... anders. Ich versuchte es zu verdrängen. Ich versuchte, mich auf das Rauschen des Meeres hinter mir zu konzentrieren. Ich versuchte, mir einzureden, dass es ein Aufbäumen Aliennas war, ein erneut ausbrechender Kampf, ein Gerangel um die Oberhand. Doch wen wollte ich hier belügen? Hier, irgendwo an der Küste, an einem gottverlassenen, seelenlosen Flecken Strand. Dieses Keuchen gehörte einer männlichen Kehle, dieser gedämpfte Schrei Aliennas entstammte keinem Wutausbruch. Ich weiß nicht, wie lange sie sie quälten. Es spielte auch keine Rolle. Irgendetwas, das spürte ich zu deutlich, starb. Etwas in mir ging zu Grunde, in diesen Augenblicken, etwas zersprang, barst in tausend Teile wie es zuvor der Krug auf dem Schädel des Soldaten getan hatte. Was dort drinnen geschah, war nicht richtig. Es war... solche Bestien hätten wir ersäuft und ohne Beerdigung verfaulen lassen. Ich hätte selbst die Gebete beaufsichtigt, die an Mermerus gerichtet ihre Verdammung erbaten. Doch es waren nicht die Soldaten, die hier zu leiden hatten. Was dort hinter dieser Tür geschah war... … es war einfach wider des göttlichen Willens. Ich, der ich nie an die Alten Gottheiten geglaubt hatte, flehte sie nun an. Nicht auf Knien, mit gefalteten Händen, wie meine Frau es tat, wenn sie Damaste für unsere Gesundheit dankte. Nein. Ganz unspektakulär. Im Stehen. Im Stillen. Ich flehte zu Ereshkigal, sie möge Alienna erlösen. Zu Mermerus, er möge über ihre Peiniger richten. Sogar zu Ceteus, er möge ihnen ihre verdorbenen Seelen entreißen und sie für sich einfordern, hier und jetzt. Nichts davon geschah. Aber das hielt mich auch nicht davon ab, für Alienna zu beten. Es schien eine Ewigkeit zu sein, bis das Keuchen von einem dumpfen Aufschlag unterbrochen wurde. Befehle wurden gebrüllt, ein Mann schrie wie von Sinnen. Ich spürte es sofort: Chaos brach aus. Etwas ging dort drinnen nicht länger nach ihrer Vorstellung. Bereits als ich die Tür aufbrach, die man mit einem morschen Stuhl verstellt hatte, sah ich weit mehr als ich hatte sehen wollen. Es lagen zu viele Rüstungsteile verstreut. Auch Aliennas Priesterrobe lag zerrissen am Boden – darauf ruhte mit verzerrtem Gesicht einer der Soldaten. In seiner Brust klafften stattliche Löcher, deren Herkunft ich mir nicht erklären konnte. Von Alienna und Azar jedoch fehlte jede Spur – ich hörte aber das Gerangel hinter dem Haus und begann zu begreifen, was der Befehl des Kommandanten eigentlich bedeutet hatte. Stellung halten. Das war kein 'Bleib genau hier stehen'. Das war ein 'sorg dafür, dass wir ihr nicht wieder über fünfzehn Tage nachrennen müssen'. Der Soldat, der mit mir Wache hatte halten sollen, hatte sich nicht einfach zurückgezogen, um die schöne Aussicht auf das Meer zu bewundern. Er hatte das Haus umrundet, Stellung bezogen am einzigen Fenster, durch das man noch entkommen konnte – und genau dort hatte er die Fliehende erwartet und mit einem schweren Schlag in Empfang genommen. Als ich hinter dem Haus ankam, sah ich Azar, wie er Aliennas Schopf packte, sie halb von den Knien in die Höhe riss und mit einem Faustschlag sofort wieder zu Boden schickte. Ich sah unzählige Blutergüsse auf ihrem nunmehr hüllenlosen Leib, sah Kratzspuren, Schürfwunden. Sie versuchte, davon zu kriechen und Azar holte Schwung. Er trat ihr in den Bauch, einmal, zweimal, dreimal. Sie spuckte Blut und er holte mit dem Handschuh erneut aus. Das musste einfach ein Ende finden. Ich weiß nicht, was ich mir dabei dachte, aber ich packte sein Handgelenk und noch während er verwundert den Kopf wandte, holte ich meinerseits aus. Der Schlag traf ihn mit voller Kraft – und doch schien Kommandant Azar das kaum zu berühren. Er trat einen Schritt zurück, fing sein Gleichgewicht wieder und funkelte mich mit einem Zorn an, von dem ich wusste, dass er meinen Tod bedeutete. „Ihr habt schon viel zu lange weit mehr als das verdient!“ spie ich ihm entgegen und goss Öl ins Feuer. Alienna schaffte es, sich aufzurichten, ein paar Schritte weit zu humpeln. Azars Männer waren zu abgelenkt von der Szenerie zwischen ihm und mir – zu... belustigt. Von meinem erbärmlichen Versuch, sie daran zu erinnern, das Gerechtigkeit und Gewissen mehr waren als hohle Phrasen. Zu lange schon hatte ich diesen Gräueltaten beigewohnt, ohne einzuschreiten. Ich hatte verraten, worauf ich mich hatte einschwören lassen: Den Schutz der Bewohner Herothings. Denn Alienna gehörte dorthin wie jeder andere Bürger. „Kommandant!“ wies ihn einer seiner Soldaten schließlich an. „Was ist?“ fauchte der Bellator, nunmehr gänzlich bar seiner sonstigen Gleichgültigkeit und Ruhe. Sein Untergebener war darüber offenbar ebenso erschrocken, bedeutete ihm aber, das Alienna offenbar einen weiteren Fluchtversuch unternahm. Alle sechs wandten sich daraufhin der Küste zu. Die Priesterin floh in Richtung des Meeres – wie töricht! Azar blickte erneut zu mir. „Sie kommt nicht weit – und ihr werdet zusehen!“ heischte er mich an. Von seinen Mannen gefolgt, schritt der Kommandant auf Alienna zu. Längst war sie weit genug entfernt, damit ich nicht mehr hören konnte, was sie sprach, nicht mehr sehen konnte, wie sie sich gab – doch ich erkannte, dass sie selbst jetzt, zerschunden, gedemütigt und entkräftet, noch immer stolz das Kinn zu recken wagte. „An euren Händen klebt zu viel Blut und Unschuld anderer...“ schrie Alienna ihn plötzlich aus voller Kehle an. Ich sah, wie Azar sich vor Lachen einen Moment krümmte. Weg war die Fassade des wortkargen Veteranen – und nun entblößte er die grausame Fratze, die darunter lauerte. „Wer soll euch denn jetzt noch helfen? Eure Götter sind tot, Hure!“ Ich schluckte schwer. Ich weiß nicht mehr genau, warum... aber ich hatte das Gefühl, Kommandant Azar hätte gerade einen schrecklichen Fehler begangen. Nicht, dass es der Erste gewesen wäre, dessen Zeuge ich wurde. Aber dieser, das spürte ich irgendwie, würde ihn teuer zu stehen kommen. Und tatsächlich traute ich meinen Augen nicht, als ich sah, wie das Wasser hinter Alienna sich wölbte. Anfangs war es unscheinbar – eine etwas größere Welle, so schien es, die am Ufer zerschellen und im Sand versickern würde. Doch die Woge hob sich und hob sich, ohne den Strand zu erreichen. Ich bin kaum fähig, zu beschreiben, was geschah, ohne das es lächerlich und nichtig klingt. Meine Worte können dem nicht gerecht werden. Ich sah, wie Eumenes selbst sich aus dem Meer hob. Oder vielleicht war es das Abbild Aliennas – ich weiß es nicht. Ein Kopf von der Größe eines Hauses, ein schlanker Hals, ein zierlicher Körper, bis zum Bauchnabel hob sich eine gewaltige Figur aus Salzwasser direkt an der Küste empor. Selbst Azar und seine Männer waren angesichts dieses Spektakels verstummt und erstarrt. Ich glaubte zu spüren, das Alienna mich ansah. Ich kann es nicht beschwören, doch... ich glaubte es zu spüren. Die gewaltige Wasserfigur aber hob ihre Arme, ballte die schlanken Finger zu Fäusten und ließ sie in einem einzigen, vernichtenden Schlag nieder schmettern. Noch in der Bewegung verhärtete sich das Salzwasser zu Eis. Ich glaubte stets zu wissen, dass das unmöglich sei. Ozeane gefroren nicht. Nie. Doch diese Figur konnte es. Sie zermalmte Azar und seine Männer und so sehr mir das Herz davon blutet, ich fürchte, sie zermalmte auch Alienna. Als die Figur zersprang, sich auflöste und in das Meer zurückkehrte, das Eis wieder schmolz, da blieb nur der Strand zurück. Leer. Ich fand kein Blut, ich fand kein Teil ihrer Rüstungen. Nur Sand. Mindestens vier Tage war ich von Herothing entfernt. Ich hatte keinen Proviant. Ich hatte kein Wasser. Ich hatte keine Hoffnung. Und ich hatte keinen Rat. Nach allem, was ich gesehen und erlebt hatte, wusste ich nicht, ob ich überhaupt heim kehren wollte. Ich wusste nicht, ob ich über die Schwelle meines Hauses treten, mein Weib umarmen und meinem Mädchen einen Kuss auf die Stirn geben konnte. Ich war mir nicht sicher, ob ich nach dem, was ich dort gesehen hatte, je wieder normal würde leben können. Meine Schritte waren fremdgesteuert. Wie im Traum wankte ich die Küste entlang nach Süden. Ich wusste, dass ich es nicht schaffen würde – nicht so. Alle paar hundert Meter legte ich Ballast ab. Meine Beinschienen. Die Armschoner. Meine Brustplatte. Das Schwert. Den Helm. Irgendwo tief in meinem Herzen wusste ich, begriff ich, dass ich ihr opferte. Eumenes – Alieanna – beiden. Ich opferte ihnen den Letzten, der Schuld an ihrem Tod und ihrer Folter trug. Ich opferte ihnen den Kommandanten der Stadtwache von Herothing. Denn als ich die Tore der Stadt durchschritt war von dem Offizier nichts mehr übrig. Alles, was mich zu ihm gemacht hatte, hatte ich abgelegt und bereitwillig, ohne Verwunderung und ohne Überraschung, der See übergeben. Ich hatte gesehen, wie Wasser, das kaum eine Handbreit tief war, schwere Rüstungsteile wie Federn vom Strand hob und weit hinaus trug, wo es in den Tiefen ihres Reiches verschwand. Ich kehrte heim als Tamm Malik, Gatte, Vater, einstmals mäßiger Schmied. Vielleicht würde ich das auch wieder sein – ein Schmied. Oder ich würde mich als Fischer versuchen. Doch mit der Wache... mit der hatte ich abgeschlossen. Mit Azar. Mit dem Heer. Selbst mit seiner Majestät, möge Ceteus seine Seele holen. Wer solche Männer bezahlte, auszeichnete, sich als Garde hielt und reinen Gewissens entsandte, der hatte es verdient. Und nun knie ich hier vor euch, eure Exzellenz, knie im Staub der altehrwürdigen Stufen eures Tempels, erzähle euch meine Geschichte und flehe euch an. Nehmt mir die Last von meinen Schultern, die dort liegt, selbst nachdem der Kommandant Tamm Malik geopfert ward. Nehmt mir die Last, die ich trage, weil ich eine ehrbare Priesterin eures Ordens in den Tod stieß... Kapitel 17: Lehrstunden ----------------------- Gut, zugegeben, das hier entsprach nicht annähernd dem, was er sich eigentlich vorgestellt hatte, doch immerhin musste der Magier zugeben, dass er es gerade mit der Gesellschaft weitaus schlimmer hätte treffen können. Ein Blick seiner Augen wanderte zur Linken, fuhr beschämend langsam von Vivicas banal einfachem Schuhwerk über ihre Kleider, die zierlichen Hände und schmalen Arme, die sanfte Wölbung ihrer Brust, ihren schlanken Hals bis hin zu ihrer leuchtenden, kupferroten Mähne, die das letzte Licht des Tages zu einem furiosen Spiel einfing. Ja, doch, er hätte es weit schlimmer treffen können. „Und trotzdem sag' ich dir: Wenn der mich noch ein einziges Mal 'Freundchen' genannt hätte, wäre er achtkant durch die Eingangshalle geflogen!“ grollte de Bannwirker noch immer ein wenig. Vivica hingegen schien das alles mehr als amüsant zu finden, konnte sie doch selbst jetzt ihr Kichern kaum unterdrücken. „Er hat es doch nicht böse gemeint! Er mochte dich eben.“ erwiderte sie scheinheilig lächelnd. „Ja, klar... er mochte mein Geld, mehr nicht.“ antwortete Alandor zügig und versuchte, damit dem leidigen Thema einen ungefähren Abschluss zu geben. Es war ja schon schlimm genug, dass sie beide einfach wie Kinder, die bei einem miesen Streich erwischt worden waren, zurück nach Hause ins Bettchen geschickt worden waren. Ihr Weg trug sie langsam zwischen den verschiedenen Ständen entlang. Bis zur einsetzenden Dämmerung tauschten und handelten die Einwohner des Dorfes ihre Waren miteinander und boten sie den wenigen Reisenden feil, die sich auf dem Weg nach Norden hierher wagten. Das Meiste davon war in Alandors Augen vor allem eines: Unnützer Bauernramsch. Seine Vorliebe dafür, auf dem rumzuhacken, was man gemeinhin 'das einfache Volk' nannte, war inzwischen bekannt geworden und gerade Vivica neigte dazu, ihn dafür zu maßregeln. Schließlich waren viele dieser Menschen nicht selbst dafür verantwortlich, dass sie in den Genuss von eher wenig bis schlimmstenfalls gar keiner Bildung kamen. Gerade in so kleinen Dörfern machte es keinen Sinn, einen Tempel zu errichten. Hier gab es schließlich nicht einmal eine richtige Wache! In einem der Wohnhäuser in der oberen Wohnung hatten sich ein paar Leute versammelt, die im Namen seiner Majestät, aber viel wichtiger noch, im Namen des Wohlbefindens des ganzen Dorfes, ein wenig mit ihren Keulen und drittklassig gearbeiteten Schwertern herum fuchtelten. Panzerungen hatten sie keine – das funktionierte hier eher nach dem Prinzip 'der größte Knüppel gewinnt'. Weisungsbefugnis hatten sie indes auch keine. Das Dorf war einfach zu klein, es gab keine 'offizielle' Wache. Nur ein paar Selbsternannte, mit denen allerdings jeder hier zufrieden zu sein schien. Vielleicht, weil die Meisten hier das Dorf noch nie verlassen und mal eine richtige Wache gesehen hatten... verdammtes, inzestuöses Pack. „Du lästerst schon wieder.“ wies Vivica ihn strengen Blickes zurecht. Die Art, wie sie ihn rügend ansah, wie sie seine Gedanken erahnte, ließ den Magier verräterisch auflachen und er hob beschwichtigend die Hände, zum Zeichen, dass er es aufgeben würde. Zumindest vorerst. Stattdessen streiften sie in einen kleinen Laden und Vivica verlor sich im Sortiment der dortigen Kleidung. Irgendwie war es eigentümlich, ihr dabei zuzusehen. In La Coeur, Samara und Sundergrad, den kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Zentren Lumiéls, da konnte man auch solche kleinen, verträumt eingerichteten Läden in Winkelgassen finden, mit ihren schrulligen alten Verkäufern und dem breiten Sortiment hochwertiger Waren. Diese Läden waren die Geheimtipps der Gesellschaft. Der Feineren natürlich vornehmlich. Aber hier? Am... Gesäß der Welt? Da fand sich zwar ein kleiner Laden mit hochwertiger Ware, aber dabei handelte es sich natürlich um Fellmützen, um Handschuhe, schweres, gefüttertes Schuhwerk und Jacken, die selbst eine Vivica Aandergast wie eine übersättigte Theaterwalküre hätten aussehen lassen. Nur vermied Alandor eben, ihr das zu sagen, als sie strahlenden Lächelns ein Teil ums Andere hervor zog. Er hatte sich Kraft seiner Intelligenz schon genug zusammen reimen können, um zu wissen, dass Vivica einfach schrecklich 'verzogen' worden war. Gewiss, diese Elbe Nerwen hatte eine gute Seele aus ihr gemacht, ein anständiges Weib mit guter Form, Sinn für Arbeit und Gerechtigkeit. Aber es gab einfach zu viele Bereiche, in denen die alte Nerwen es offenkundig übertrieben hatte. Blöße war einer davon. Alandor mochte sich gar nicht vorstellen, wie es werden würde, sollte er mit Vivica jemals nach Süden reisen. Was, wenn sie die Wüsten passieren mussten? Vermutlich würde sie lieber völlig dehydriert vom Reittier kippen und dort an einem Hitzschlag sterben, als zuzulassen, dass man sie auch nur aus einer einzigen Lage ihrer dicken Kleider auswickelte. Denn – bei Jebis, welch sträflicher Gedanke! - man könne ja sonst ihre Schulter entblößt sehen... Ein weiteres Schmunzeln dränge sich dem Bannwirker auf, als Vivica mit einer neuen Mütze bereit war, das Geschäft zu verlassen. Er hoffte inständig, dass sie ihn nur nicht fragen würde, wie ihr das Stück zu Gesicht stand. Er hatte sich schließlich vorgenommen, die junge Frau nach Möglichkeit nicht zu belügen. Sie setzten ihre kleine Promenade durch die Händlerstraße fort, hielten an diesem Stand, hielten an jenem Stand, besahen sich Schmuck aus Holz und Glas – niemand war hier oben dumm genug, Metall zu verwenden –, rochen an ätherischen Ölen und Mixturen. Als Vivica weiter zog und sich für eine Reihe von Stoffen und Tüchern zu begeistern begann, trat Alandor dagegen es sich noch einmal überlegend zu dem Stand mit den Tinkturen zurück. „Sagt, wie viel dafür?“ erkundigte er sich bei der Händlerin und deutete auf eines der kleinen, braunen Fläschchen. Der Preis von einer halben Gulde war geradezu unverschämt für diese winzige Menge, doch hier oben, so weit nördlich, konnte er noch dazu in dieser Menge von Ungebildeten einfach seinen 'Ich bin Magier!'-Bonus nicht ausspielen. Entsprechend wechselten die fünf Silberlinge den Besitzer, die Händlerin dankte inständig und Alandor nuschelte ein paar unfreundliche Worte, die sie wohl ebenso als Dank auffasste, da sie sie offenbar nicht wirklich verstanden hatte. Auch gut. Das Fläschchen wanderte in eine der zahllosen, verschlungenen und geheimen Taschen seines Gewandes, ehe er wieder zu Vivica aufschloss. „Das willst du doch nicht wirklich kaufen, oder?“ erkundigte er sich und betrachtete argwöhnisch ein merkwürdiges Kartenset, das in ihren Händen ruhte. Er hatte schon an der leichten Röte in ihrem Gesicht gesehen, dass damit irgendetwas nicht stimmen konnte und als sie ihm die bebilderte Seite entgegen hielt, begriff er auch sofort, was es war. Da hatte sich irgendein selbsternannter Künstler tatsächlich die ziemlich umfangreiche Mühe gemacht, jede einzelne Karte mit unterschiedlichen Bildern zu verzieren. Und jedes dieser Bilder war geradezu fragwürdig freizügig geraten. „Für Peter, vielleicht?“ nuschelte Vivica unsicher. Alandor dagegen spürte schon den Widerstand, der sich aufbaute, wenn dieser Name auch nur genannt wurde. Was war er froh, das dieser Tölpel gerade beschäftigt war. Vermutlich sogar ziemlich gut. Sie waren Duncan bis hierher gefolgt. Was er hier gewollt hatte, war selbst den Einwohnern nicht ganz klar geworden. Er hatte ein paar Kleinigkeiten auf dem Markt erstanden, aber es erschien sogar den Nicht-Magiern in ihrer Gruppe mehr als merkwürdig, dass sich auf kuriose Weise keiner der Händler, Bauern oder sonstigen Bewohner erinnern konnte, welchen Utensilien genau ihr Interesse gegolten hatte. Vielleicht waren es Zutaten für ein Ritual, das Rajah oder Akasch durchführen sollten, vielleicht war es auch nur Proviant gewesen. Es gab nur einen, der darüber eine Aussage treffen konnte. Seinen Namen wusste im Dorf keiner. Man nannte ihn einfach 'Exekutor'. Er war einstmals ein Bruder des Ordus Haereticus, ein Hexen- und Abtrünnigenjäger. Angeblich sogar einer ihrer Besten, zumindest seinerzeit. Doch der Exekutor hatte sich von seinem Leben zurückgezogen. Das geschah in den Zirkeln durchaus hin und wieder. Magier waren letztlich auch nur Lebewesen, die liebten wie jeder andere... und sie litten wie jeder andere. Das Tonikum, das größte Geheimnis der Zirkel, verlieh jedem, der die Ausbildung beendete, ein langes, möglicherweise sogar grenzenloses Leben. Doch mehr als vier Jahrtausende wurde noch kein Magier alt. Das lag gemeinhin nicht nur daran, dass selbst Magier nicht unverwundbar waren und gelegentlich in Kriegen, Überfällen und Attentaten ihr Leben ließen. Nein, so viele Dekaden und Generationen vorbei ziehen zu sehen, hatte einen eigentümlichen Effekt, gerade auf Geister, die für solche Lebensspannen nicht gedacht waren. Manchen befiel der Wahnsinn oder er wurde immer exzentrischer und verschrobener. Das war noch die milde Variante, die deutlich häufiger vorkam. Andere wurden depressiv und suchten den Tod in jedem Winkel der Welt – und wer lange genug sucht, wird immer fündig. Was jedoch häufiger vor kam war, dass die Magier sich bewusst dazu entschieden, das Tonikum nicht mehr zu verwenden. Sie besaßen das Rezept, sie besaßen die Mittel – aber sie stellten es nicht mehr her und verwendeten es nicht. Sie ließen zu, dass die angehaltene Uhr ihres Organismus begann, sich wieder leise tickend weiter zu drehen, lebten ihr Leben bis zu seinem Ende und schieden dann dahin. Oftmals war eine verflossene Liebschaft der Grund dafür. Eigene Kinder, die man hatte aufwachsen, altern und sterben sehen. Das Eheweib, das selbst nur schwer damit zurecht kam, dass der Geliebte selbst nach zwanzig Jahren noch das gleiche Gesicht trug. Gründe gab es viele, die Unsterblichkeit aufgeben zu wollen. Alandor verstand sie nicht – aber er wusste, dass es sie gab. Für andere. Er selbst genoss es, alle über sein Alter belügen zu können, ohne damit tatsächlich aufzufallen. Vielleicht würde ihn ein ähnliches Schicksal irgendwann einmal ereilen, wenn auch er sein Weib altern sah oder seine Kinder oder Kindeskinder zu Grabe tragen musste. Aber... wie wahrscheinlich war das schon! Der Exekutor zumindest schien eine ganz ähnliche Geschichte er- und durchlebt zu haben. Möglicherweise war es ein Weib, vielleicht ein Freund, vielleicht war er nach all den Jahrhunderten auch dessen überdrüssig geworden, mit jeder Faser seines brillianten Magiergeistes zu hassen, zu jagen und beständig nur Tod und Zerstörung zu bringen. Seine Gründe waren letztlich egal, denn ob Ruhestand oder nicht: Er wusste, warum Duncan in dieses verflixte Dorf gekommen war. Und man durfte ihn nicht unterschätzen. Obwohl er inzwischen ein alter Mann war, zumindest laut den Aussagen der Dörfler, konnte er zweifellos noch immer mächtige Zauber weben, die jeden in die Knie zwangen. Deshalb hatte man sie 'heim geschickt'. Wenn Vivica auch nur in die Nähe seines Hauses geraten wäre, weit draußen auf dem stark bewaldeten Hügel, zu dem zu allem Überfluss keine einzige verdammte Straße hinauf führte, dann hätte er sie gewittert, sie misstrauisch beäugt, ausgefragt, verdächtigt – und am Ende zweifellos als Hexe erkannt. Und Alandor? Nun, er war Magier, schön für ihn, ein Zirkelmagier. Aber das nützte auch nichts, wenn er mit einer Hexe reiste. Immerhin musste er das ja wissen, das hieße, er hätte sie gedeckt. Dann wäre er ein Abtrünniger und ihm stünde das gleiche Schicksal zu wie Vivica. Nein, es war trotz allem eine gute Entscheidung gewesen, die drei allein los zu schicken. Badai war erfahren und kräftig genug, sie mit seinem Schwert verteidigen zu können, Adamant war verschlagen genug, die Informationen schon irgendwie aus diesem Alten heraus locken zu können und Suzuri war... 'ein Geschenk'. Ein Ordensbruder seines Alters kannte zweifellos viel, hatte schon viel gesehen und erlebt. Er würde die Magie in Suzuri spüren, auch sie prüfen. Und sobald Adamant, ganz wie abgesprochen, darauf zu sprechen kam, dass sie ein Phönix sei, wäre er hellauf begeistert. Denn diese seltene, kostbare Rasse bekam man nicht alle Tage zu Gesicht. Er würde sie bewundern, er würde sie über ihre Natur ausfragen und sich darüber amüsieren, dass Suzuri kein Wort davon begriff und am Ende wäre er gut gelaunt und sturmreif für Adamants Tricks und Fragen. Ein guter, ausgewogener Plan. Bei dem sie hier unten bleiben und einkaufen gehen mussten. Aber nun ja – es hätte eben tatsächlich schlimmer sein können. „Komm schon, das ist der letzte Stand!“ schlug Vivica strahlend vor. „Einen Silberling für jedes Mal, wenn ich das auf irgendeinem Markt zu hören bekam und bekommen werde, dann bin ich reich, reich, reich!“ scherzte Alandor auflachend und gewahrte ihres verstimmten Blickes mit ungebrochenem Amüsement, „Nun gut, zeig her.“ fuhr er fort und folgte der Rothaarigen bis zum letzten Krämer. Ein buntes Sortiment aus 'allem, was du nicht brauchst' befand sich auf dem kleinen Holzaufbau und wurde von dem grauhaarigen Alten nach allen Regeln der Kunst feil geboten. Manches Mal leuchteten Vivicas Augen ein klein wenig zu enthusiastisch, sodass er sie ausbremsen musste, damit sie nicht ihre ganzen Ersparnisse verpulverte. So wie bei diesem Kartenspiel. Am Ende hatte es gereicht, das Alandor nachfragte, ob man die Ware zurücklegen lassen könne, auf das ein Freund sie später kaufe. Damit war der Händler natürlich zufrieden und hoffte darauf, später etwas einzunehmen. Für solchen Unrat konnte der ach so große Herr Adamant nämlich schön sein eigenes Geld verpulvern! Zwar hatte er Vivica angesehen, dass sie damit nicht ganz zufrieden war – immerhin wollte sie ihm das Spieleset ja eigentlich zum Geschenk machen -, aber sie hatte sich letztlich Alandors Lösung gefügt, was gewissermaßen beide zufrieden stimmte: Den Magier und Vivicas Geldbeutel. „Na komm, gehen wir endlich ins Gasthaus. Mir tun allmählich die Füße weh.“ merkte der Magier an und bot Vivica seinen Arm dar. Die junge Frau sah sich einen Augenblick verstohlen um, als könne jemand diese Szenerie als Peinlichkeit werten, ehe sie mit einem leisen Kichern seine Geste annahm und sich mit breitem Grinsen zu dem unscheinbaren Haus führen ließ. Letztlich unterschied sich das vermeintliche 'Gasthaus' nicht wirklich von den anderen Hütten. Ein Erdgeschoss, ein Obergeschoss. Es folgte sogar dem klassischen Aufbau: Unten die Gemächer des Wirtes und seiner Familie, die Küche, die Schenke, im Keller die Vorratslager und eine Treppe, die nach oben zu den Gasträumen führte. Gasthäuser waren in gewissem Sinne also tatsächlich irgendwie fast überall gleich, kannte man eines, kannte man alle. Wie es sich gehörte, zog Alandor vor Vivica die Tür auf, ließ sie zuerst eintreten und musste sogar im Stillen zugeben, dass ihm dabei das Herz aufblühte. Nicht etwa, weil sie über beide Ohren strahlte, sondern einfach, weil er trotz dieses rüpelhaften, ungebildeten Bauernmobs um sie herum dank ihr die Chance bekam, mal wieder seine guten Manieren und seine wohlgeratene Erziehung auszupacken. Es gab so selten die Möglichkeit, sich als ein Mitglied höherer Gesellschaft mit Anstand und Sitte auszuweisen – da bekam ihm das hier doch ganz gut. Er schritt selbst hinein, nachdem auch er fein säuberlich den noch immer anhaftenden Schnee halbherzig auf der Matte abgetreten hatte und zog die Tür zu. Weiße Pracht! Pah! Spätestens im Schankraum, gut beheizt von zwei an gegenüber liegenden Wandseiten angebrachten Kaminen, verkam jeder Rest von Schnee zu einer kleinen Pfütze, gern in Form des Abdruckes der jeweiligen Stiefel. Um eben dieses Schmelzwasser musste sich dann die Frau des Hauses kümmern. Nun, sie 'musste' eigentlich nicht. Obwohl der Wirt nicht das Einkommen besaß, sich eine Dienstmagd zu leisten, hätte es dennoch einfach dort bleiben können, aber irgendwie plagten die Gute beständig die Ängste, jemand könne auf den Pfützen ausrutschen und sich das Genick brechen. Alandor hatte das mehr als amüsant empfunden, als sie davon berichtete. Erst Vivicas Seitenhieb mit ihrem Ellbogen hatte ihn zur Raison gebracht und darauf aufmerksam gemacht, dass die Hausherrin das durchaus in vollstem Ernst meinte. Bauern. Das war eben einfach merkwürdiges Volk. Sie setzten sich direkt vor den Kamin und ließen zu, dass das prasselnde Feuer ihnen die Haut wärmte und den letzten Rest der kalten Luft verdampfen ließ. Alandor bestellte zwei Becher mit warmem Met und nahm Vivica gegenüber Platz. Anders als Peter, der Anstand vermutlich mit 'T' am Ende geschrieben hätte, wusste er nämlich, was sich gehörte. Ungefragt neben einer Dame Platz zu nehmen, zählte beispielsweise nicht dazu. Der Met kam und wärmte zusätzlich von innen. Zudem war Vivica recht empfänglich für die Süße des Getränks. „Was denkst du, wie lange sie wohl brauchen werden?“ erkundigte sie sich und nippte erneut an ihrem Becher. „Nun ja. Wenn der Exekutor wirklich schon so alt ist, könnte er ein wenig senil geworden sein. Möglicherweise muss er irgendwelche Notizen oder Aufzeichnungen suchen, vielleicht hat Adamant seinen Gossencharme auch einfach überschätzt. Es kann dauern.“ erwiderte Alandor und nahm, bei aller Sympathie, Vivicas Verziehen ihres Gesichtes mit völliger Gleichgültigkeit hin. Sie störte sich daran, dass er Peter immer noch als Gossenratte bezeichnete, aber in seinen Augen war das keine Beleidigung – er war nunmal einfach eine. Da brauchte man nichts daran herum deuteln oder zu beschönigen versuchen, er war eine und er würde auch immer eine bleiben. Sie stießen gemeinsam an und kurze Zeit später bahrte der Wirt auch mit breitem, zufriedenem Grinsen auf dem hageren Gesicht das bestellte Essen auf. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben, die Bestellung Alandors zu erfüllen. Zur Feier des doch recht erfolgreichen Tages hatte der Magier eine satte Gulde dafür springen lassen, das ein Tablett nach seinen Wünschen hergerichtet wurde. Der Rand war mit Gemüse nach Wahl garniert, eine dünne, würzige Soße zierte den Boden und wärmte damit das Fleisch von drei verschiedenen Tieren, alles recht mager und köstlich duftend. „Ausgezeichnet!“ lobte er den Mann, der so aussah, als würde er jede Sekunde vor Freude ein Tänzchen anfangen. Ehe es so weit kam, riskierte Alandor lieber, dass er vor Schreck in Ohnmacht fiel und steckte ihm aus reiner Zufriedenheit noch einen Silberling zu. Er sollte bei Gelegenheit darauf achten, es mit seiner Großzügigkeit nicht zu übertreiben, obwohl ihm inzwischen ja durchaus schon aufgefallen war, dass diese ihn seltsamerweise irgendwie immer in Nähe Vivicas oder generell in ihrem Beisein befiel. Den Gedanken, sie durch seine Güte und Großzügigkeit beeindrucken zu wollen, hatte er als völlig abwegigen Ansatz zurückgewiesen, so etwas war einfach lächerlich. „Dann mal guten Appetit!“ meinte er zu Vivica, ehe er sich nochmals an den Wirt wandte, „Ach seid so gut, könntet ihr vielleicht eine Karaffe mit Met her schaffen? Vielleicht auch eine Zweite mit Wein, für später.“ Zwar machte Vivica einen Moment große Augen, aber da Alandor kein weiteres Wort dazu verlor, begannen beide schließlich einfach zu essen. Tatsächlich dehnte sich das Mahl recht ansehnlich aus. Wie Alandor es erwartet hatte, schmeckte seine Bestellung nicht nur exzellent, man konnte zudem einfach schwer mit essen aufhören. Sie stopfte nicht so und führte zu diesem gesättigten Unwohlsein, wie es bei den überfetteten, öligen Speisen der Fall war, die man sonst serviert bekam. Auch Vivica schien das zu schätzen zu wissen. Während der fast zwei Stunden, in denen draußen das Licht verebbte und langsam die Kälte durch jeden Mauerspalt zu kriechen versuchte, unterhielten sie sich nebenbei über allerlei. Vor allem die Reise, die bisher hinter ihnen lag, aber sie riskierten auch einen Blick voraus. Die Hexe verlor sich schließlich irgendwann in Erklärungen über Schneestürme, Wendigos und Eisspalten, kam von da zu Nerwen und ihrem Heim, den harten, strengen Wintern und den anderen Elben von Xeranor. Der Bannwirker war dabei nicht nur rein aus Höflichkeit heraus schweigsam und unterbrach ihren immer größeren Rededrang und -fluss nicht, es gab nebenher noch den simplen Umstand, dass ihn all das tatsächlich interessierte. Wann diese Faszination aufgekommen war, wusste er selbst nicht so ganz zu sagen. Vermutlich hatte es schon ein gewisses Grundmaß dessen gegeben, als er in Zadiora durch die Tür trat und dieses wunderschöne Geschöpf erblickte. Aber nun gut, an irgendeinem Punkt hatte sich sein rein platonisches Interesse in eine Art von Wettstreit mit Adamant um Vivicas Gunst entwickelt. Mochten die Götter wissen, was dieser Junge von sich glaubte, dass er ernsthaft in Erwägung zog, er wäre eine gute Partie für... irgendwen. Wahrscheinlich machte er sich darüber nicht einmal Gedanken. Ja, das würde passen. Er lebte einfach vor sich hin, liebte und küsste und tanzte, wie, wann, wo und mit wem er wollte und scherte sich nicht um das 'morgen'. Das, genau das, war es, was ihn zu einer Gossenratte machte. Diese Einstellung, den nächsten Tag zu ignorieren. Alandors Pläne waren mehr als weitläufig und das waren sie, weil er sich sicher sein konnte, dass es für ihn noch viele Tage und Jahre geben würde. Jemand wie Adamant musste immer damit rechnen, morgen in irgendeiner Seitengasse mit durchschnittener Kehle aufzuwachen. Weil er großmäulig zu den falschen Leuten war, weil man ihn als Dieb oder Falschspieler entdeckt hatte, weil er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Wer so aufwuchs, der konnte einfach kein anständiger Mensch werden, es war also nicht einmal ein Wunder, dass er war... nun, wie er eben war. Die junge Nordhexe jedoch, das hatte Alandor in seiner Großzügigkeit beschlossen, verdiente einfach etwas Besseres als diesen Taugenichts. Man möge sich nur vorstellen, er würde ihr irgendwann ein Kind andrehen! Bei den Göttern, Adamant und eine Familie versorgen? Das würde in einer Katastrophe enden. Doch das waren alles Gedanken, die Alandor für sich behielt. Vivica mochte ihn, sie ließ sich leicht von seiner linkischen Art beeindrucken und er wollte ihr nicht unnötig Grund geben, Adamant zu hinterfragen. Er wusste von sich selbst und seiner verblassten Jugend, wie es war, wenn Illusionen zerbrachen, weil fremde Hände sie zu grob behandelt hatten. Eine Erfahrung, die er ihr ersparen würde, immerhin wusste er, das ihre Luftschlösser irgendwann ganz von allein einstürzen würden. „Bist du satt?“ erkundigte sich Alandor, als der Wirt mit zurückhaltendem Lächeln an sie beide heran trat. Vivica lehnte sich zurück, lächelte zufrieden und bedankte sich artig. Das war genauso gut wie ein 'ja'. Der Magier ließ daraufhin abräumen und nahm es mit einem wissenden Lächeln hin, dass der Wirt ihm erklärte, er würde diese Anordnung in seine Liste aufnehmen. Solle er nur, vermutlich käme so schnell niemand mehr, der eine solche Tafel zu schätzen wüsste. Bauern blieben eben doch lieber bei Fett und Öl. Schon bei dem Gedanken musste er frösteln. „Spielen wir ein Spiel.“ schlug der Magier nach einem Moment der Stille schließlich vor. Schon allein aus der Erfahrung mit Adamants Tricksereien heraus, die die junge Frau immer hatten begeistern können, war sie auch jetzt wieder Feuer und Flamme und straffte gespannten Blickes ihre Haltung. „Ich stelle eine Frage. Wenn du die richtige Antwort erraten kannst, stellst du die nächste Frage. Falls nicht, musst du einen Schluck trinken.“ erklärte er und deutete auf die zwei bereit stehenden Karaffen, „Umgekehrt natürlich genauso.“ setzte er nach. Vivica runzelte einen Moment die Stirn. Das waren doch deutlich andere Spiele als Adamant sie bisher vorzuführen geneigt war, dennoch unterschätzte sie, wohin das würde führen können und ließ sich bereitwillig darauf ein – mit der Bedingung, das nach drei falschen Fragen automatisch der andere dran sei. Das konnte Alandor auf sich sitzen lassen, mehr noch – es erfreute ihn, zu sehen, das Vivica mitdachte, denn schon seine erste Frage war... schwierig. „Wie alt bin ich?“ erkundigte sich der Bannwirker und lächelte geradezu verschlagen. „Dreißig?“ Erster Schluck. „Vierzig?“ Zweiter Schluck. Wobei Alandor herbei selbst fast aus allen Wolken fiel und sie am liebsten, nur zur Strafe, den ganzen Becher hätte exen lassen wollen. „Fünfunddreißig?“ Dritter Schluck. Damit war Vivica dran. Ihre erste Frage bezog sich darauf, in welcher Himmelsrichtung von Xeranor aus gesehen sich ihre Hütte wohl befunden hätte – und sie machte es ihm deutlich zu leicht. Alandor wusste, das Xeranor auf festem Grund stand, sie aber erzählt hatte, das ihre Hütte an der Klippe lag. Daher musste es nördlich sein. Eine Weile ging das Spiel hin und her, bis Vivica in Ermangelung einer neuen Frage sich Alandors Ansatz bediente und ihn ihr Alter raten ließ. „Vierzig!“ erklärte der Magier gelassen. Er lachte einen Augenblick später schon herzhaft auf, als Vivica geradezu empört nach Luft schnappte, während er in aller Seelenruhe gelassen nach dem Becher angelte. „Warum sagst du soetwas?“ warf sie ihm mit fast schon gekränktem Ton an den Kopf. Der Magier aber zuckte mit den Schultern, nahm seinen Schluck und erklärte ihr schelmisch lächelnd, dass er einfach Durst gehabt hätte. Es war überraschend, wie schnell sich mit solchen kleinen Spielchen die Stimmung essenziell auflockern ließ. Binnen einer Stunde musste die erste Karaffe mit Met wieder aufgefüllt werden. Sie spielten derweil mit Wein weiter, der Vivica offenbar trotz seines geringeren Alkoholgehaltes rascher in den Kopf stieg. Nun, vielleicht war es auch einfach die Tatsache, dass sie häufiger fehl lag als er. Zumindest war es eine Art von Trinkspiel, die in Tavernen von besoffenen Rüpeln erfunden worden war und Alandor trotzdem zusagte. Er sah darin – neben dem offensichtlichen Genuss guter Getränke – eine interessante Möglichkeit, mehr über seinen Gegenüber zu erfahren. Denn selbst, wenn man dreimal falsch riet, wusste man doch zumindest schon drei mögliche Antworten, die es eben nicht waren und hin und wieder kam es vor, gerade mit fortschreitender Stunde, dass sie die korrekte Antwort nachschoben. Überhaupt wandelte sich das Spiel zusehens. Hatten sie am Anfang sich recht strikt an das Spiel und seine Regeln gehalten, gingen sie nach den ersten zwei Krügen dazu über, weitschweifige Erklärungen darzubieten, um zu unterstreichen, warum eine Antwort falsch war und was eigentlich richtig gewesen wäre – und überhaupt! Wie viel er getrunken hatte, das war Alandor nicht so wirklich klar. Vivica jedoch, das wusste er, hatte mindestens das Doppelte zu sich genommen. „Wir... sollten eine kurze... Pause machen.“ schlug der Magier vor und grinste in sich hinein. Die Hexe stimmte ihm selig lächelnd zu und beide zogen sich einen Moment zurück, um ihre Notdurft zu verrichten, ehe sie sich wieder trafen. „Isch, Verzeihung, ich habe früher mal... äh... ich war mal jung. Also, in... Ausbildung, genau! Und da war diese große Bibliothek, in der wir ständig lernen mussten. Voller Bücher! Und da war eines, da stand... aller möglicher Unfug drin über... Handlesen und sowas.“ klaubte sich Alandor mühselig die Worte zusammen. Er brauchte nicht einmal ein einziges weiteres Wort über seine Gedanken verlieren, da streckte ihm Vivica bereitwillig die Hände entgegen. Sie legte sich fast auf den Tisch, damit er sich ihre Handflächen in Ruhe anschauen konnte. Doch Alandor schüttelte nur den Kopf – nach Empfinden seines Magens vielleicht ein klein wenig zu schnell. Er erhob sich, wankte einen Moment und entschuldigte sich selbst dafür, ehe er den Tisch umrundete, sie noch immer nach allen Regeln der Höflichkeit fragte, ob er sich neben sie setzen durfte und dann dort seinen Platz einnahm. Vorsichtig griff er ihre Hand. Sie war kühl, trotz des Feuers, das direkt in ihrem Rücken prasselte. Faszinierend... „Also, das ist... die Lebenslinie.“ erklärte der Magier und bestaunte einen Moment lang noch, wie es sich anfühlte, ihre zierliche, schmale Hand in der Seinen zu halten. Erst als Vivica fragte, wo man die denn sehen könne, kam er wieder halbwegs zu sich, drehte ihre Hand um und fuhr mit dem Zeigefinger um ihren Handballen herum, „Wenn sie lang ist, wirst du ein langes Leben haben. Ist sie unterbrochen, dann deutet das auf eine Störung hin, auf schwere Unfälle oder Krankheiten. Bei dir ist... alles gut.“ erklärte er zufrieden. Natürlich war das sowieso alles nur Humbug, der wie hartnäckige Gerüchte im Volk kursierten, aber zumindest war es witzig, wenn man dafür angetrunken genug war. Das Vivica vor sich hin kicherte, lag jedoch eher daran, dass er sie mit seiner geradezu zögerlichen Berührung gekitzelt hatte. Er war nur froh, dass sie nicht fragte, aus welcher Hand man das eigentlich ablas. Links oder rechts... er hatte es sich nie merken können. „Das hier,“ setzte er an und fuhr die kleine Linie ab, die sich von der Handwurzel bis zum Zentrum der Handfläche zog, „die steht für Glück und Erfolg. Sieht bei dir ein wenig... verwaschen aus. Hat auch ein paar Knicke drin. Naja. Das kennen wir ja, nicht?“ witzelte er. Einen Moment der Klarheit, mehr brauchte es nicht, da taten ihm seine Worte schrecklich leid. Er wollte sie nicht vor den Kopf stoßen und - Vivica kicherte. Nun gut. Dann konnte es ja so schlimm nicht gewesen sein... „Die hier, das ist die Linie für die Berufung.“ merkte er an und fuhr jene nach, die ihren Ursprung nahe, wenn nicht sogar in der Lebenslinie fand und sich fast bis zur anderen Seite der Handfläche zog, „Wie du siehst, bist du berufen. Zu... was auch immer. Jedenfalls bist du gut darin.“ erklärte er einen Moment grübelnd. So genau genommen, hatte Vivica keinen Beruf. Oder zählte 'Hexe' als Job? Wurde schlecht bezahlt, falls dem so war...! „Und die hier?“ hakte die Rothaarige ungeduldig nach und deutete auf die oberste Linie, die sich als Einzige von der gegenüberliegenden Handflächenseite oberhalb der Linie der Berufung entgegen zog. „Das, meine Liebe, ist... verdammt. Jetzt klingt das nicht mehr schön. Uhm, egal. Das ist jedenfalls die Liebeslinie. Bei dir sieht sie eher aus wie zwei Seile, die man umeinander verschlungen hat. Sowas wird in der Regel so gedeutet, dass du einen Mann und einen Liebhaber hast. Hm. Da du weder noch hast...“ ... stehst du zwischen zwei Stühlen... „... können wir das wohl ignorieren. Zumindest ist sie lang und stark.“ erklärte ihr der Magier zufrieden und strich darüber. Er war sich nicht ganz darüber einig, ob ihr Kichern, das nun schon erstaunlich oft zu hören gewesen war, am Alkohol lag oder an gewissen Assoziationen mit 'lang und stark'. Andererseits bezweifelte er, dass sie bei Nerwens Erziehung auch nur irgendetwas über Männer zu hören bekommen hatte. Außer natürlich das obligatorische 'böse, dreckig und brutal'. Es war schon merkwürdig genug, sich vorzustellen, wie eine Elbe so bitter und prüde hatte werden können...! „Du kannst jetzt loslassen, wenn du möchtest.“ drängte sich die leise, zarte Stimme der jungen Frau in seinen Verstand. Loslassen? Was- oh, ja. Ihre Hand. Er fuhr noch immer mit dem Finger über die Fläche, längst nicht mehr irgendwelchen dubiosen Linien folgend, glitt über ihre Handwurzel hinaus auf die feine, empfindliche Haut ihres Handgelenkes. Ein angenehmes Gefühl – für sie beide, wie Alandor feststellte, als er den Blick hob und Vivica dabei 'erwischte', wie sie auf ihrer Unterlippe herum kaute. Einen ausgiebigen Moment lang trat völlige Stille zwischen sie, während ihre Blicke sich kreuzten. Ein Moment, in dem die Zeit langsamer, irgendwie zäher zu fließen schien. Alandor war es nur Recht, der Augenblick konnte gar nicht lange genug andauern. „Ich...“ setzte er vorsichtig an, räusperte sich daraufhin und verlor doch nicht seine Sekunde den Blickkontakt, „Ich kenne noch andere... äh... Spiele.“ nuschelte er sein Angebot vor sich hin. Ihm war nicht ganz klar, ob Vivica wusste, worauf er hinaus wollte. Zumindest lächelte sie selig vor sich hin und nickte sogar einen Moment eifrig. Gut gut, dann... eben noch mehr... Spiele. Alandor ließ die Karaffen einfach stehen und liegen, wo sie eben waren. Draußen war die Nacht längst hereingebrochen. Wo immer Badai, Suzuri und Peter jetzt waren, zweifellos war der Abstieg durch den bewaldeten Hügel zu gefährlich. Sie hatten also alle Zeit der Welt. Alandor erhob sich von seinem Sitz, bemerkte zufrieden, wie Vivica es ihm gleich tat. Der Wirt kam ein letztes Mal um die Ecke. „Geh doch schon einmal nach oben, ich folge gleich.“ erklärte der Magier leise flüsternd, als könnte ein zu lautes Wort ihre zerbrechliche Zusage zunichte machen. Sie nickte mit einer Röte in der Wange, die von Vorahnung und Wein gleichermaßen hätte stammen können. Alandor hingegen wartete, bis der Wirt herangekommen war und flüsterte ihm zu, was er noch alles haben wolle. Mit einem dankbaren Lächeln nickte der Hausherr, nahm den Silberling entgegen und versprach, es baldestmöglich dezent auf das Zimmer zu liefern. Dann schlich sich auch der Magier aus dem damit verwaisten Schankraum. Oben wartete Vivica bereits vor der Tür des Zimmers, knetete mit ihren Händen herum, schien mehr als... nervös zu sein. Der Magier trat zu ihr, versank einen Moment in ihren Augen. Nur zwei magere Öllampen, die gut und gerne eine neue Füllung vertragen hätten, flackerten auf dem Gang und dennoch verzauberte ihn dieses exotische Grün. Zwei Mal fummelte er daher völlig ohne Orientierung mit dem Schlüssel in der Nähe des Schlosses herum, ehe er endlich den Blick abwenden und die Tür aufsperren konnte. Er ließ die Dame, wie es sich gehörte, zuerst eintreten und wollte die Tür gerade schließen, als der Wirt leise 'Herr!' flüsterte. Er nahm entgegen, worum er gebeten hatte, schob das Holz ins Schloss und sperrte mit dem Schlüssel das Zimmer ab. Die Mitbringsel landeten vorläufig auf dem kleinen Nachtschränkchen, das neben dem Bett ruhte. Vivica selbst dagegen stand in der Raummitte und sah ganz schrecklich verloren aus. Als wüsste sie, dass sie etwas tun sollte, könnte sich aber nicht erinnern, was dieses Etwas denn sein sollte. Der Bannwirker trat an sie heran, auf einen Meter vielleicht. Es mochte dunkel im Raum sein, weil keine Lampe brannte und dennoch... war sie wunderschön. Ihre blasse Haut setzte sich ohne Mühe gegen die Nacht ab. Noch einen Schritt wagte er sich näher, konnte er sie atmen hören, unruhig, aufgewühlt. Er überlegte, ob er es ihr anbieten sollte. Sag nein, wenn ich aufhören soll. Brich ab, wann immer du willst. Doch wozu? Vivica war nicht dumm und auf den Mund gefallen war sie schon gar nicht. Sie würde sich auszudrücken wissen, daran zweifelte Alandor nicht. Vielleicht bezweifelte er das auch zumindest teilweise aus Eigennutz heraus nicht, doch welche Rolle spielte das jetzt schon noch? Er hob seine Hände vorsichtig zu den Ihren, strich mit den Fingerspitzen ihre Unterarme herauf, spürte, wie die kleinen Härchen sich aufstellen und sah Vivica unter der zarten Berührung erschaudern. Er wollte ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Er würde nichts tun, das ihr schadete. Doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken – als hätte sein Körper längst registriert, dass an diesem Punkt kein einziges Wort mehr nötig war. Vorsichtig führte er seine Finger ihren Hals entlang, über ihre Wangen, umfasste sie mit der Wärme seiner Handflächen und trat den letzten Schritt an sie heran, der jedweden Raum zwischen ihnen auf null reduzierte. Er senkte das Haupt, wagte nur vorsichtig, sich ihr zu nähern, als könne sie zerbrechen. Eine vorsichtige Berührung, zärtlich, aber zögerlich. Wich sie zurück? Würde sich Widerstand in ihr regen? Einen quälend langen Moment ließ sie ihn im Ungewissen, schien in keiner Weise reagieren zu wollen. Vielleicht haderte sie mit sich selbst, wusste nicht recht, ob sie zulassen sollte, was hier geschah. Dann jedoch traf sie offenbar eine Entscheidung. Sie streckte sich ihm entgegen, war nicht länger nur das Weib, das geküsst wurde, sondern wurde selbst aktiv. Alandor schmeckte die Süße des Honigweines von ihren Lippen. Selbst jetzt noch war sie kühl wie ein Frühlingsmorgen. Er spürte, dass sie unsicher war. Es bedurfte keines großen Schatzes an Erfahrungen, um das zu bemerken und nach allem, was er zu hören bekommen hatte, über sie, über ihre Reise, über Nerwen, wie sie mit Blöße, mit Adamant, mit Suzuri und mit den Annäherungsversuchen anderer umging, war es auch keine Überraschung. Sie verließ sich auf ihn, in gewisser Weise. Darauf, dass er wusste, was er tat, drauf, dass er führen würde. Entgegen manchen Lumps, der das auszunutzen gewusst hätte, sah Alandor sich nicht in der Notwendigkeit, derlei Schindluder mit ihr zu treiben. Sie sollte es genießen, in vollsten Zügen. Seine Finger zogen wieder sanfte Bahnen ihren Hals herab, zogen über ihre Kleider. Lagen von Stoff, viel zu viele derer. Sie zeigte keinen Widerstand, als er die ersten Stücke dessen zu Boden sinken ließ. Wahrlich, gegen Kälte hatte sie sich gut geschützt – gegen ein rasches Entkleiden auch. Doch Alandor 'ertrug' es mit der stoischen Geduld eines Magiers, bis zu dem Moment, an dem nur ein letzter Hauch von Stoff ihre kühle Haut bedeckte. Erst, als seine Fingerspitzen sich darunter schoben, langsam das feine Gewebe zur Seite drückten, ihre Schultern herab, löste sie den Kuss. Widerstand zeigte sie nicht. Sie wehrte sich nicht, trat nicht zurück. Aber er hörte das leichte Zittern in ihrem Atem. Es konnte nicht von Kälte stammen – die zwei Kamine in der Schenke beheizten das ganze Haus recht ansehnlich. Er schob den Stoff herab, sie hob die Arme heraus, ließ zu, dass er ihn bis zu ihrer Hüfte nieder drückte. Dann hielt er von allein inne, fuhr mit der Linken über ihre Flanke, genoss das Gefühl, ihren Rücken unter seiner Hand zu spüren, während er sie an sich zog, sie in einen neuen Kuss verwickelte, ehe er seine Lippen langsam wandern ließ. Ihr zierlicher Hals erwies sich als überraschend sensitiv. Wie musste es für die Rothaarige wohl sein, fast vollständig entkleidet dort zu stehen, während der sonst so selbstgerechte Magier vor ihr nieder sank? Ein kurzer, leiser Laut nur drang aus ihrer Kehle, als er die Lippen um die Spitze ihrer Brust schloss. Alandor spürte, wie ihr Körper sich spannte, wie sie die Kontrolle zu behalten, leise zu bleiben versuchte. Es wurde tatsächlich zu einer Art von Spiel – seine Versuche, ihre Kontrolle über sich selbst zu brechen gegen ihre Bemühungen, genau diese aufrecht zu erhalten. Ein findiges Zungenspiel verschaffte ihm schließlich den ersten kleinen Sieg, als ein Seufzen aus ihrer Kehle drang, das sie unmöglich hatte halten oder herab schlucken können. Fast glaubte er, einen Funken Bedauern in ihren Augen zu lesen, als er sich langsam wieder erhob, in der Dunkelheit des Zimmers ihren Blick auffing. Sie drückte sich an ihn, wohl selbst nicht fähig, zu sagen, was sie wollte. Er konnte es ihr nicht verdenken – selbst ihn als Mann, der keine Nerwen hatte, war es lange Zeit schwer gefallen, seine Wünsche zu artikulieren. Er begann langsam, das eigene Gewand abzulegen. Obwohl es viele Lagen hatte, effektiv gegen Wärme und Hitze schützte, war es weit einfacher nieder zu lassen als Vivicas Kleidung. Sie hielt Abstand, das spürte er. Vielleicht aus Nervosität, aus Angst, aus Unsicherheit – es spielte keine Rolle. Kam sie nicht zu ihm, dann kam er eben zu ihr. Einen kurzen Moment schien es, als wollte sie vor ihm zurück weichen. Dann umfingen seine Arme ihren Leib, schob er sie mit sanftem Druck an sich. Sie wich nicht. Sträubte sich, versperrte sich, verspannte sich – einen Augenblick nur, dann löste sich dieser Widerstand auch schon. Wie der Lehrer, der dem Kind die Welt zu zeigen versuchte, nahm er sie bei der Hand, führte sie. Schulter, Brust, Bauch... Leiste. Vivica schrak nicht zurück. Nur ein knappes Kichern, das sie halb zurückdrängte, als sie seine Männlichkeit einen Moment umschloss. Für jemanden, der über all das praktisch nichts wusste, wie musste das dann wirken? Nun – bei genug Alkohol offenbar amüsant. Vielleicht auch ohne, aber dann wäre sie sehr wahrscheinlich niemals hier hoch gekommen. Einen Moment nur verharrte sie, kaum dass er ihr die weitere Führung verweigerte, ehe sie aus eigener Neugier heraus befühlte, was sich unter ihrer Hand regte. Nun war es an Alandor, einen Moment schwer und trocken zu schlucken. Ihre kühlen Finger erwiesen sich als geschickter, als sie wohl selbst ahnte und der sonst so gefestigte Magier musste einen Augenblick die Augen schließen und tief durchatmen. Neue Küsse entspannen sich zwischen Beiden, während Alandor sich mit einem ersten, winzigen Schritt in Bewegung setzte. Er zog Vivica dabei mit sich, bewegte sich mit ihr bis zum Bett, verkehrte indes ihre Positionen, sodass sie unter dem Halt seiner Linken auf ihrem Rücken langsam in die Federdecke sank, ohne auch nur einen Moment seiner Lippen entbehren zu müssen. Sie rutschte auf dem Schlafgestell höher, ließ ihn folgen. Keine Scheu mehr, wenn ihre Haut einander berührte, kein Widerstand mehr, wenn sie zögerlich, aber dennoch scheinbar mit einem gewissen Grundmaß an Neugier ihre Finger selbst umher streifen ließ. Erneut senkte der Magier sich herab, fuhr mit seinen Lippen diesmal eine zärtliche Spur über die andere Seite ihres Halses, genoss das leichte Seufzen in jedem Atemzug Vivicas. Er liebkoste ihr Schlüsselbein, ihre Brust, lächelte insgeheim in sich hinein, als ihre Hände sich in der Bettdecke verkrallten. Sie genoss es, glaubte er zu wissen, aus vollsten Zügen – und es wartete noch so viel mehr! Der Spur seiner Hände folgend, wanderte sein schwarzer Schopf weiter herab, über ihren Bauch und entlockte der jungen Frau ein leises Kichern. Soso – sie war also kitzlig. Eine gedankliche Notiz später verlagerte Alandor abermals seine Position, rutschte noch ein beachtliches Stück tiefer und traf hier erstmals auf Widerstand. Vivicas Leib verspannte sich, nur ein leises „Nicht...“ brachte sie hervor, atemlos und unschlüssig wie sie war. Der Bannwirker hingegen lächelte. Natürlich konnte sie das nicht sehen – das war auch gar nicht nötig. Er konnte sich vorstellen, was sie sich dachte. Hierzulande waren die Frauen übel gebeutelt. Die Stimme einer Frau war nie so viel Wert wie das Wort eines Mannes. Selbst ein bettelnder Tagelöhner stand noch über einer sittsamen Hausfrau. In diesem Punkt war Lumiél geradezu furchtbar rückständig – so, wie es auch viele andere Länder der nördlichen Hemisphäre waren. Im Süden sah diese Sache ganz anders aus. Dort war die Lage der Weiber... zweischneidiger. Einerseits konnte man sie erschreckend leicht käuflich erstehen. Es gab in vielen Städten und Ländern dort Märkte. Nicht nur für Sklaven – manche waren direkt auf die dort recht beliebte Haremsbildung ausgelegt und boten Frauen und Mädchen aus aller Herren Länder an. Manche waren von verarmten Familien gekauft worden, ging es einem jungen Mädchen in einem Harem doch recht gut, andere waren Kriegsbeute, die schon durch die Hände von fünf anderen Händlern gewandert waren. Wer sich jedoch einen Harem leisten konnte, der sorgte sich meist auch darum – die Frauen waren rundum versorgt, es ging ihnen gut, nur eben die leidliche Pflicht bestand, ihrem Herrn zu Diensten zu sein. Frauen außerhalb dieses Systems jedoch waren oftmals ihren Männern nicht nachgestellt. Viele arbeiteten als geschickte Händlerinnen, es gab Diplomatinnen, ja manche südliche Ländereien ließen sogar Frauen in den Heeren und Wachen zu. Ein weiteres Phänomen, das daraus resultierte, war der Umstand, dass die Hüfte einer Frau dort nicht als verwerflicher oder 'schmutziger' Ort galt. In Lumiél war es grundsätzlich eher verpöhnt, die Lippen, mit denen man küsste, aß und trank an einen Ort wie diesen zu setzen. Alandor selbst hatte diesen Glauben lange mit sich herum getragen wie Ballast, ehe seine Reisen ihn nach Süden führten und er... ganz andere Möglichkeiten kennen lernte, einem Weib das Gefühl von Ekstase nahe zu bringen. Er schob seine Hände unter ihren Schenkeln hindurch, bog sie um und umfasste die zarte junge Haut. Bei aller Kühle ihrer Natur als Firnhexe, hatte sich ihr Bauch und Schoß doch in einem Maß aufgeheizt, dass man sie guten Gewisens für einen normalen Menschen hätte halten können. Sie sträubte sich einen kurzen Moment, seinem Zug nachzugeben. „Ist schon gut... es wird dir gefallen.“ flüsterte Alandor leise und vermochte damit ihre Bedenken sicherlich nicht zu zerstreuen, aber doch zumindest zurück zu drängen. Vielleicht war es ihr auch schlicht unangenehm, dass ihr dabei eine Rolle zukam, die nicht darüber hinaus ging, dass sie dort lag und es geschehen ließ. Vermutlich ahnte sie nicht einmal tatsächlich, was er vor hatte, bis er seine Lippen auf ihre Scham setzte. Wenige Küsse nur, die ihn beständig herab führten, ehe er mit Wohlgefallen vernahm, wie Vivica scharf nach Luft sog. Alandor war alles andere als ein Chorknabe – er hatte gern und mit Wonne die Gesellschaft anderer Damen genossen. Nicht viele, dafür waren seine Reisen in der Regel zu turbulent und zu ermüdend, aber dennoch hatte es ihm einen gewissen Erfahrungsschatz eingebracht, den er nicht nur der Firnhexe voraus hatte, sondern viel mehr, von dem sie nun profitieren konnte. Er bot auf, was ihm an Geschick und Findigkeit oblag und spätestens, als seine Zungenspitze in die feuchte Hitze drang, krallte sie sich regelrecht in die Bettdecke, bäumte sich halb auf, das Kreuz hohl durchdrückend, während ihr jedwede Kontrolle gänzlich entglitt. Sie versuchte sich zu beherrschen, hatte es anfangs versucht, hatte es weiterhin versucht, würde es zweifellos bis zum Ende versuchen – doch ihr Erfolg dabei hielt sich längst in Grenzen. Mit einem amüsierten Grinsen gewahrte der Magier, wie die junge Frau das Kissen unter ihrem Kopf hervor zog und sich selbst auf das Gesicht drückte. Ein Anblick, wie er ihn so auch noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie atmete stoßweise, keuchte heiß in das Kissen hinein in der Hoffnung, die Geräusche, die sie möglicherweise für peinlich oder unangebracht hielt, irgendwie zu dämpfen. Der Bannwirker dagegen fand Gefallen daran. Ein Ansporn, eine Bestätigung seines Tuns – es motivierte. Doch hier und jetzt war nicht der Zeitpunkt, ihr das zu sagen oder gar zu erklären. Stattdessen entlockte er ihr weitere Laute, bezwang ihre inzwischen längst überflüssig gewordenen Versuche, sich zu zügeln und gewahrte mit einer gewissen Freude, wie sich letztlich gar ein Zittern durch ihren zarten Körper zog. Sie erschauderte am ganzen Leib, stöhnte heiser in das Kissen hinein, das längst ihrem Griff entglitten und zur Seite gerutscht war und versuchte in diesen kostbaren Sekunden nicht einmal, irgendeine Form von Kontrolle oder Widerstand aufzubauen. Stattdessen ließ sie sich treiben, gab sich hin – ließ Alandor gewähren, der noch immer sein Spiel trieb, ihr Empfinden weiter reizte und das kalte Brennen und Kribbeln, das durch ihren Leib jagte, weiter intensivierte. Als er von ihr abließ, war es ein Gnadenakt. Er hätte sie voran treiben können bis zu Gipfeln, die zu stürmen jetzt noch nicht nötig war. Es war die erste Lehrstunde – man wollte die Schülerin ja nicht gleich überfordern... Sie rang nach Atem, erschauderte hin und wieder noch immer in unwillkürlichen Abständen. Erst Recht, als der Magier sich neben sie begab, mit dem Zeigefinger eine zärtliche Spur von ihrem Bauch zu ihrer Brust zog und den Anblick der sich bildenden Gänsehaut genoss. Sie rollte sich auf die Seite, drückte sich an ihn, vielleicht in der vagen Hoffnung, er möge damit aufhören – doch schon rein des eigenen Amüsements halber vollführte er das gleiche Spiel nun auf ihrer Flanke, zog mit den Fingern eine hauchdünne Spur von ihrer Hüfte herauf. „Nicht...!“ nuschelte Vivica fast tonlos gegen seine Brust und zuckte abermals zusammen. Es war die reinste Augenweide, sie so zu sehen. Ihr Atem hatte sich kaum wieder in normale Gefilde begeben, da hob er ihr Kinn mit dem Finger empor, küsste sie erneut. Bereitwilliger als noch zuvor ließ sie sich auf das Spiel ein weiteres Mal ein. Die Pause war vorbei, zweite Stunde... Der Magier drückte sie sanft auf den Rücken zurück, folgte ihr, begab sich über den zierlichen Körper. Mit einer Hand stützte er sich vom Bett ab, die Andere wanderte zwischen ihren Leibern herab. Die Schenkel gespreizt, verharrte sie in Erwartung, bis zu dem Zeitpunkt, als etwas Fremdes in sie drang. Sie verzog einen Moment das Gesicht und er hielt inne. Sie entspannte sich, er drängte weiter. Das Spiel wiederholte sich drei mal, bis er auf Widerstand stieß. Nicht den ihres Willens, der sich unlängst hinter einen verklärten Schleier zurückgezogen hatte, sondern jenen ihres Körpers, der ihn dezent darauf aufmerksam machte, dass er umso behutsamer vorzugehen hatte, war er als ihr erster Mann doch maßgebend dafür, welche Erwartungen sie in Zukunft wohl mit sich tragen würde. Er harrte aus, verwob ihre Lippen in einen Kuss, tat, was ihm möglich war, um zu ihrer Entspannung beizutragen. Ein kurzer Ruck nur, ein leichter, leiser Schmerzlaut, ehe er wieder verharrte, wartete, ihr Zeit gab, sich daran zu gewöhnen. Es dauerte, doch er konnte sich gedulden, wie es sich für einen Magier eben gehörte. Oder für einen Mann mit Anstand. Als er einen leichten, langsamen Rhythmus aufzunehmen begann, löste sich die Verspannung ihres Körpers, zogen die letzten Spuren empfundenen Schmerzes aus ihrem Gesicht. Sie schlang die Arme um seinen Hals, reagierte wohl eher aus Instinkt und Reflex denn aus bewusster Entscheidung heraus, doch der sich von neuem aufbauenden Geräuschkulisse nach zu urteilen, fand auch dies durchaus Anklang und Wohlgefallen. Letzthin schloss sie gar die Schenkel um seine Hüfte – was Alandor ein erneutes Schmunzeln entlockt hätte, wäre sein Bewusstsein nicht selbst längst zur Seite getreten, um für den Genuss des Hier und Jetzt Platz zu schaffen. Die Nacht zog ins Land, Stille kehrte in das verschlossene Zimmer ein und nunmehr unter der Decke ruhte von Wärme umgeben dennoch ein kühler Leib. Selbst die spät sich erhebenden Strahlen der Morgensonne vermochten die junge Frau nicht wach zu kitzeln, die in den Stunden zuvor sich ihrer Kräfte zur Gänze entledigt hatte. Der Magier dagegen, der hinter ihr ruhte, ihre Taille mit einem Arm umfangen, kam mit dem wundervollen Duft ihres Haares in der Nase zu sich. Doch aller Wohlgefallen konnte nicht über die Kopfschmerzen hinweg täuschen. Verflixter Met! Er wurde sich nur langsam der Situation bewusst, in der er sich befand und sie war... potenziell verfänglich. Alandor erinnerte sich an alle Geschehnisse, jedes Detail und es ließ ihn wohlig schaudern, doch darüber hinaus wusste er auch noch, das Vivica ein gutes Stück mehr getrunken hatte – würde sie sich denn auch so gut erinnern? Würde sie ihm Vorwürfe machen? Bei Jebis, sie ruhten im gleichen Bett. Das würde ihm noch fehlen, dass sie panisch davon sprang und ihm sonstwas vorwarf, am besten lauststark genug, damit der Wirt glaubte, er müsse einschreiten, um das arme Ding vor einem skrupellosen Hund zu bewahren. Oh. Der Wirt. Alandors Blick wanderte die Federdecke herab. Ein paar kleinere Flecken inzwischen getrockneten Blutes verzierten die Decke. Nun, das war wohl unvermeidlich gewesen, doch... er hätte darüber irgendwie vorher nachdenken sollen. Alkohol, was für ein Dämon – er verlor dann ständig seine Weitsicht. Einen Moment plagte er sich mit dem Gedanken, ob es sinnvoll wäre, Vivica zu wecken, oder besser noch, sich aus dem Bett zu stehlen. Er verwarf den Gedanken, als eine erste Regung in den zierlichen Leib kam und sie sich auf den Rücken drehte, träge die Lider hebend – und sie mit einem Schlag aufreißend. „Was? Du... wo...“ setzte sie an, fuhr im Bett empor – und bereute es sofort. „Leg dich wieder hin und beruhige dich.“ flüsterte Alandor ihr zu. Obwohl Vivica diesmal weit mehr Widerstand zeigte als noch letzte Nacht, ließ sie sich dennoch zurück in das Kissen drücken und erlaubte dem Magier, sich aus dem Bett zu erheben. Wobei sie – kurios, wie diese Situation sich entwickelte – den Blick strikt von ihm abgewendet hielt. Aus den Mitbringseln des Wirtes vom Vorabend mischte der Magier nun das beste Mittel zur Katerbekämpfung, das er kannte. Notfalls könnte er ihr auch einen entsprechenden Zauber anbieten, den er vor zwei, drei Jahren als sehr nützlich befand und in sein Buch übertrug, aber dergleichen war natürlich die Notlösung. „Hier, trink das. Danach wird es dir etwas besser gehen.“ bot er ihr an. Die Hexe wirkte... mehr als nur skeptisch, zumal sie offenbar immer noch damit beschäftigt schien, diverse Eindrücke, Bilder und Gerüche des letzten Abends und der Nacht chronologisch einzuordnen. Dennoch nahm sie das Glas entgegen. „Du solltest dich noch etwas ausruhen. Du musst... ziemlich erschöpft sein.“ merkte der Bannwirker an und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Vivica dagegen nippte an dem Becher, schien am liebsten hinein kriechen zu wollen, um damit wenigstens die in ihre Wangen steigende Röte zu kaschieren. Kapitel 18: Des Königs langer Arm --------------------------------- Eine große Zahl schmaler, schwerer Samtteppiche verdeckten einen Großteil der dunkelgrauen Steinwände. In royalem Rot boten sie eine Zierde der sonst so tristen Gänge, die sich nur gelegentlich auflockerten, sei es durch eine Büste, ein Portrait seiner göttlichen Majestät oder eine Wache in schwerer Plattenpanzerrüstung. Seine Schritte wurden völlig vom weich gepolsterten Untergrund geschluckt. Wie ein Schatten schob sich die kränkliche Gestalt den Gang herab. Seine leichte Gangart wirkte hinkend, sein Buckel befremdlich und viele wichen spätestens dann in Ekel und Abscheu zurück, wenn sie seine totenbleiche Haut sahen, die eingefallenen Wangen, die ausgemergelten Hände, die rot geäderten Augen. Celsor war alles andere als ein schöner Anblick, nein. Vermutlich hätte sein schwacher, zerschundener Körper keine Stunde in der royalen Folterkammer überlebt, nicht einmal wenige Minuten. Doch Mitleid hatte mit ihm niemand. Dafür war er zu hässlich. Typisch Menschen. Aber es kam ihm zu Gute. So wurde niemand misstrauisch. Seit Jahren schon beriet er seine Majestät, er hatte viele Launen erlebt, viele Pläne begleitet und viele Komplotte geschmiedet. Er war als Einziger vor den Launen seiner Majestät sicher – halbwegs sicher. Dieses Mal bestand keine Gefahr. Es gab keine schlechte Kunde zu verbreiten, ganz im Gegenteil. Mit dem hochwertigen, ledernen Schuh aus einer der teuersten Schustereien La Coeurs trat die kränkliche Gestalt gegen das Tor der Thronhalle. Die Wachen im Inneren reagierten, wie es ihnen aufgetragen wurde: Sie zogen die schweren Eisenringe und öffneten für Celsor. Der Gottkönig Lumiéls saß auf seinem Thron, wirkte gelangweilt, wirkte unterfordert, wirkte, als könne er genau das gebrauchen, was Celsor zu bringen im Begriff war. Geradezu unterwürfig näherte sich die erbärmliche Gestalt dem Thron und wagte, wofür andere schon hingerichtet worden waren: Er stieg ohne Aufforderung seiner Majestät die flachen, breiten Stufen bis zum Thron herauf, um sich dort an die Seite des Selbigen zu stellen. „Majestät, es ist geschafft. Alle Vorbereitungen in Nothrend sind getroffen. Doch ohne unsere Hilfe wird er nicht überleben.“ krächzte die dünne Stimme. Ein jeder, der sie bisher vernommen hatte, war sich kurze Zeit darauf mit den Händen über die Arme gefahren, um wenigstens irgendetwas gegen die Gänsehaut zu unternehmen. Seine Majestät dagegen zeigte keine solche Reaktion. Er zog lediglich die Mundwinkel zu einem zufriedenen Lächeln empor. „Dann wünschen wir, dass ihr beginnt. Und so sich sein Überleben nicht sicher sagen lässt, wünschen wir, dass ihr dem entsprechend nachhelft. Fehler sind für uns nicht akzeptabel!“ befahl der selbsternannte Gott des kleinen Inselreiches. In nicht weniger unterwürfiger Haltung stimmte Celsor zufrieden zu, ehe er sich wieder die Stufen herab zu quälen schien und seinen Weg über den roten Samtteppich nach draußen suchte. Er hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Zweifellos war seine Majestät nun erfreut und würde die nächsten paar Tage nur bei grobem Unfug jemanden hinrichten lassen. Das wiederum interessierte Celsor nicht im Geringsten. Selbst hätte er die Stadt abbrennen lassen – sie waren alle entbehrlich. Einer dagegen war das im Moment nicht. Celsors Schritte trugen ihn einige Gänge und Korridore weiter. Das Schloss glich einem Labyrinth. Jede Wache musste die Winkel auswendig kennen. Sollten je Rebellen oder Aufständische einfallen und es bis ins Innere schaffen, mussten sie von den Irrgärten so lange wie möglich von seiner Majestät fern gehalten werden. Und die Wache und Garde bekam dadurch die Gelegenheit, zurück zu schlagen, mehrere Blockaden aufzubauen und sie in die Zange zu nehmen. La Coeur war praktisch bereits eine Festung und der Thronsaal für alle Feinde des Königs unerreichbar. In einem bestimmten Gang verharrte Celsor schließlich, wartend, ungeduldig. Sein Schuh hob sich, klopfte tonlos auf den Teppich nieder, wiederholte die Prozedur. Kerzen am Gangende begannen zu flackern, verloschen glimmend und zischend, bis auch die nächsten Lichter ausfielen. Eine Dunkelheit zog den Korridor herauf und verharrte exakt eine Lichtquelle von Celsor entfernt. „Trödel nicht herum, wir haben für solche Spielereien keine Zeit!“ maulte der zuvor noch so kränklich wirkende Berater des Puppenkönigs. Seine Haltung hob sich, der Buckel verschwand und seine Stimme gewann merklich an Kraft. Aus der finsteren Wand trat eine Gestalt heraus, totenblass, ausgemerkelte Wangen, rot geäderte Augen und skelettgleiche Hände. Eine schwarze Kutte verdeckte die restliche Gestalt, die Kapuze war tief genug herabgezogen, damit selbst Kopf und Gesicht völlig verhüllt waren. „Wie ihr befehlt, Meister.“ tönte die geisterhafte Stimme loyal. Celsor dagegen schien mit einer ungeduldigen Geste solche Formalitäten weg zu wischen. Es eilte und scheinbar war alle Welt um ihn herum zu unfähig, um das zu begreifen. Woher auch hätten sie es wissen sollen. Am Ende wäre es sein Kopf, der rollen könnte. „Du wirst aufbrechen, nach Nothrend. Finde Alric Graufaust. Du wirst ihn am Leben halten, um jeden Preis, und ihn bei seinem Vorhaben unterstützen.“ Offenkundig war der Diener gewillt, noch etwas dazu zu sagen, doch geradezu ungeduldig scheuchte Celsor ihn davon. Wie von magischer Hand erzwungen, flammten die verloschenen Kerzen neu auf, die Dunkelheit zerstreute sich völlig... und zurück blieb in jenem Korridor nur Celsor, dessen kränklich wirkende Gestalt zufrieden in Richtung der weniger verwaisten Teile des Schlosses humpelte. „Und ich sage dir, so einen Unfug habe ich nicht gehört, seit sie die verdammten Spitzohren aus Ammarath vertrieben haben!“ grollte Garwinn ungläubig. Doch weder Ragnar noch Snorri ließen sich davon beeindrucken, rissen weiter ihre Scherze und machten sich über das Unwissen des Schmiedes lustig. Unter anderen Umständen hätte das zu ernsten Streitereien, möglicherweise sogar potenziell tödlichen Kämpfen geführt, doch inzwischen reisten sie zu lange miteinander herum, um sich nicht in gewisser Weise in Freundschaft verbunden zu sein. „Wir müssten bald da sein.“ warf Thorin schließlich sichtlich schmunzelnd in das Gespräch ein. Er war mit Garwinn längst nicht so vertraut wie die zwei Zwerge, konnte jedoch nicht abstreiten, dass ihr kleiner Scherz durchaus seinen Unterhaltungseffekt hatte. „Ich kauf' dir mal 'n Stück Rinde, dann kannst du's ausprobieren!“ tönte Ragnar, um kurz darauf in schallendes Gelächter auszubrechen. Ein kräftiger Seitenhieb von Garwinn brachte ihn zumindest vorläufig wieder zum verstillen und keiner in der vierköpfigen Runde musste etwas sagen, damit klar wurde, dass sie zumindest vorläufig genug auf seine Kosten gelacht hatten. Gut gut, dafür bekäme er sicherlich in einer der Tavernen von Nothrend eine Runde ausgegeben, also ein kleines Fässchen. Tatsächlich hatte sich Thorin nicht geirrt. Ganz im Gegensatz zu den Zwergen, die an der Oberfläche recht verloren auf Karten starrten und sie nicht zu lesen wussten, hatte er weder seinen Orientierungssinn, noch seine Fähigkeiten eingebüßt. Sie marschierten den letzten Hügel herauf auf dem kleinen Kies- und Schotterweg, der als Handelsstraße genutzt wurde, und dann kam Nothrend in Sichtweite. Natürlich nicht die Stadt selbst – nur ihre gewaltigen Bollwerke. Viele Städte der Zwerge waren anders angelegt. Man hielt die Eingänge möglichst klein, um sie leichter verteidigen zu können und errichtete außerhalb kaum Mauern oder Türme. Varakas war dafür geradezu beispielhaft: Nur ein Erdhügel in der Landschaft, in dem ein großes, schweres Tor eingelassen war. Nothrend spottete dieser Bauweise. Es lag wie viele zwergische Siedlungen Lumiéls an der Steilküste des Hauptatolls und schmiegte sich an den nach Norden aufsteigenden Gebirgszug. Schwere Mauerwerke und Türme feinster, zwergischer Bauweise schirmten hier das große Tor ab und selbst, wenn ein Feind es unter zweifellos massiven Verlusten hätte passieren können, säße er direkt in der nächsten Falle. Jenseits des Tores führte eine Reihe von gleichartigen, aber schmalen Gängen in die Tiefe herab. Schweres Kriegsgerät hinab zu transportieren wäre nur in Einzelteilen möglich gewesen. Verließ man aber die Treppen, stand man auf einem halbrunden Platz, kaum groß genug für dreihundert Mann, von dem aus sich eine breite Brücke massiven Granits spannte. Drei Ochsenkarren hätten darauf parallel fahren können, doch vor dem Absturz hätte sie nur eine kleine Mauer geschützt, gerade hoch genug, um einem Zwerg Sicherheit und Halt zu bieten. Menschen würden ihrerseits nur zu leicht darüber stürzen und in der Tiefe verschwinden können. Unlängst war Nothrend so alt, dass niemand mehr wusste, was dort unten eigentlich war. Stein, Wasser, das spielte bei solchen Höhen für den Fallenden auch keine Rolle mehr. Erst wenn man diese Brücke passiert hätte, stand man vor dem tatsächlichen, eigentlichen Stadttor Nothrends. Zwei schwere Ballisten auf steinernen Sockeln schirmten das Tor zu beiden Seiten und waren nicht nur fähig, den halbrunden Platz auf der anderen Brückenseite ins Feuer zu nehmen, sondern auch die gesamte Brücke mit ihrer Ladung zu tränken – und gemäß der Rezepte, die die Zwerge von Goblins gekauft hatten, waren das leicht zerbrechliche, tönerne Gefäße, die beim Aufschlag ein Gemisch mit der Luft in Berührung brachten. Das Gemisch der linken Balliste setzte ein ätzendes Gas frei, das nach wenigen Minuten sogar begann, schwere Rüstungen anzunagen. Das rechte Geschütz dagegen feuerte eine Ladung, deren Chemikalie mit Luft in Kontakt geriet und eine heiße Stichflamme zutage förderte. Beide Abwehrstellungen könnten heranströmende Feinde vom Zeitpunkt, da sie die Treppen verließen, bis zu ihrer Ankunft am eigentlichen Stadttor in einem Nebel aus Feuer und Säure untergehen lassen. Allein die Kombination der Ballisten machte deutlich, dass die Schöpfer dieser schweren Verteidigungsstellungen einstmals nicht vor Menschen und Elben Angst hatten, sondern eher vor einer Gewalt, die sich eben nur durch diese zwei Elemente bezwingen ließ: Trolle. Hatte man dagegen einmal Nothrends eigentliches Stadttor durchschritten, stand man praktisch schon auf dem ersten Marktplatz, von dem sich in dichtem Gewimmel unzählige Gänge in mehrere Richtungen und Ebenen der Stadt abzweigten. Thorin kannte die Stadt, in der der Eisenhandclan beheimatet war. Auch die Donnerbärte hatten ihr ihren Sitz, wie er durch Ragnar erfahren hatte. Zwei der größten Clans in der Stadt und über alledem thronte der zwergische König in seiner altehrwürdigen Halle aus Stein. Es war keinem Fremden, ob Elb, ob Mensch, jemals gestattet worden, diese Halle zu betreten. Selbst Zwerge konnten hingerichtet werden, sollten sie leichtfertig einen Fuß hinein setzen. Dem König brachte man tiefsten Respekt entgegen – selbst, wenn man mit einer Führungsweise nicht einverstanden war. Zwergische Politik war ohnehin ein überraschend kompliziertes Konstrukt, das Thorin selbst in all seinen Jahren nie ganz durchschaut hatte. „Bier, Met, Schnaps, Wein, Rum, Sprit,...“ begann Snorri geradezu begeistert aufzuzählen, während er in Gedanken die großen Lager zwergischer Tavernen durch ging. All die Köstlichkeiten, die sie so lange hatten entbehren müssen. Menschengebräu war einfach nicht wert, 'Bier' genannt zu werden. Auch Thorin wusste das. „Du schuldest mir noch 'n Fass!“ brummte der alte Waffenbruder seinem langen Freund zu, der daraufhin auflachte. „Ich hoffte, du hättest es vergessen. Nein nein, natürlich bekommst du dein Fass.“ erwiderte Thorin. Trinkschulden waren Ehrenschulden – man wiegelte daraufhin nicht ab oder 'vergaß' sie. Das hätte einen Zwerg zutiefst beleidigt. Snorri hätte es verstehen können, doch Ragnar kannte den Langen noch nicht gut genug und sah entsprechend einen Moment überrascht, ja fast schon verärgert drein. Bisher hatte dieses lange Elend schließlich alle Zwergenbräuche zu respektieren gewusst – anders wäre er nicht zu der Einladung gekommen, ihnen hierher zu folgen. Schon als sie an die großen Mauer- und Turmwerke heran traten, die an der Oberfläche lagen, blockierte eine kleine Schar schwer gepanzerter Zwerge ihren weiteren Weg. „Ist das normal?“ erkundigte sich Thorin überrascht. Die Wachen an der Außenfassade der Stadt wurden sonst nur so stark gehalten, wenn Krieg aufzog. Er fühlte sich in seiner Sorge bestätigt, als Snorri zu ihm aufsah, offenkundig selbst unsicher, und schließlich mit einem Kopfschütteln verneinte. „Es tut gut, euch wieder zu sehen, Snorri Eisenhand!“ grüßte der Wachhauptmann den kleinen Tross, „Freut mich, dass ihr ihn finden konntet, Meisterschmied Garwinn. Und du? Hast deine Rüstung immer noch nicht bekommen, wie, Ragnar? Söhne Nothrends sind in diesen dunklen Zeiten immer gern gesehen! Aber den Langen da, lasst draußen!“ forderte der Wachmann und sah Thorin grimmig an, die Hand bereits an der Axt ruhend. „Er ist ein Freund Nothrends und aller Zwerge.“ beschwor Snorri den Hauptmann. Der blickte seinen Volksmann offenkundig überrascht an, ehe er Thorin erneut abschätzig musterte. Es war ihm offenkundig alles andere als Recht, einen Menschen in die Stadt zu lassen – ein verwirrender Umstand. Früher einmal hatte Nothrend neben Varakas zu einer der größeren zwergischen Siedlungen gehört, die stets gern und rege mit dem restlichen Reich Handel trieben. Was hatte sich also verändert? „Hmpf, meinetwegen. Aber haltet ihn an der Leine. Es ist dieser Tage nicht klug für einen Langen, den Fuß in die Stadt zu setzen. Passt auf ihn auf, sonst könnten wir ihm vielleicht nicht erlauben, ihn auch wieder hinaus zu tun.“ grollte der Wachhauptmann mürrisch und spuckte als Zeichen seiner Verachtung auf den Boden aus. Thorin spürte bereits, wie der Zorn in ihm aufzuwallen begann. Er war nicht gewillt, sich eine solche Behandlung gefallen zu lassen, nur weil ein Wachmann einen schlechten Tag hatte. Diesmal war es Ragnar, der rettend eingriff. „Was für Neuigkeiten gibt es denn?“ verlangte der zukünftige Than seines Clanes zu wissen. Offenkundig hatte er damit einen Nerv getroffen, denn der Hauptmann verzog geradezu bitter das Gesicht, als hätte ihm jemand einen üblen Leberhaken verpasst. Er warf erneut einen geringschätzigen Blick zu Thorin auf, ehe er mit den Schultern zuckte und sich gegen den Stein der hoch aufragenden Mauer lehnte. „'Seine Majestät' kommt. Die Langen schicken eine Armee, um Nothrend einzunehmen. Pah! Als wenn da eine Armee reichen würde! Vor einigen Tagen war ein Bote hier und forderte, unser König möge seine Krone nieder legen. Er sollte sich und sein Volk als Teil des Königreiches Lumiél anerkennen und damit unter die Staats- und Gerichtsbarkeit des Gottkönigs fallen. So... oder... irgendwie sowas hat er gesagt. Ich war betrunken. Jedenfalls drohte er mit Soldaten. In sieben Tagen sollen sie hier sein. Ich sage euch, sie werden ihre Knochen vom Boden aufsammeln! Zerschellen werden sie an unseren Schilden und Äxten! Verdammte Bastarde. Was glauben die eigentlich, wer sie sind? Außerdem wird der Graufaustclan unruhig. Der alte Balwig ist zu dement geworden, seine Zeit läuft ab. Alric kann es offenbar kaum erwarten. Seit Wochen drängt er auf Veränderungen und krächzt in der Ratshalle lauter herum als die anderen Politiker. Dabei gehört er nicht einmal zu ihnen. Aber jeden Morgen kommt er dorthin und plärrt wie ein wimmerndes Baby seine Befürchtungen herum. Wir haben schon überlegt, ob wir ihn nicht mal 'in Gewahrsam' nehmen sollten. Einfach nur lästig, diese Tage.“ maulte der Hauptmann überraschend gesprächig. Diesmal jedoch, trotz der offensichtlichen Provokationen, fiel es Thorin deutlich leichter, sich zurück zu halten. Nicht zuletzt, da es einen gut verständlichen Grund gab, warum der Wachmann solchen Unmut mit sich herum trug. Seine Majestät streckte also die Klauen nach Nothrend aus. Nun, früher oder später hatte das passieren müssen. Hier saß der König der Zwerge – würde er fallen, würden möglicherweise sehr bald auch die anderen Zwergensiedlungen fallen. Ohne einen König war die Herrschaftsfrage wichtiger als die Verteidigung, eine Schwäche, die Thorin immer schon in ihrem Aufbau gesehen hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Kindskopf darauf kam oder jemand mit mehr Verstand ihm diesen Hinweis gab. Doch wie, das verstand der Axtträger einfach nicht, wollte dieses Puppengesicht Nothrend einnehmen? Selbst seinem göttlichen Kinderverstand musste klar sein, dass man noch so viele Soldaten gegen die Mauern werfen konnte, sie würden als Matschflecken am Gestein enden. Nothrend war keine einfache Festung, es war eine regelrechte Bastion – und das schon an der Oberfläche. Die drei Zwerge dagegen schienen sich ganz andere Fragen zu stellen. Ob die Stadt fallen konnte, stand nicht zur Debatte und keinen interessierten dabei Phillipes Gedankengänge oder Pläne. Sie waren wahre Söhne des Steinvolkes und ihr Bestreben galt nur einer Richtung: „Wie können wir helfen?“ formulierte es Snorri schließlich entschlossener Stimmführung aus. Das schien, gemessen daran, wie sich die Barthaare um den Mund herum verzogen, dem Wachmann zumindest einen kleinen Funken Trost und etwas Freude zu bescheren. „So gehört sich das für Söhne des Steins!“ tönte der Hauptmann, „Wir haben einen Plan. Wir werden das große Tor offen lassen und alle Wachen vom äußeren Wall abziehen. Wir bauen die Barrikaden auf den Brücken auf. Spitze Holzpfähle nach vorne ragend, damit sie ins Verderben rennen, wenn sie vor dem Ballistenbeschuss fliehen. Sie können nicht die Treppen hoch – da drängen dann sicher die Nächsten runter, die noch nicht begriffen haben, was sie erwartet. Wer es bis zur Brücke schafft, kommt zu den Barrikaden. Jede zieht sich bis auf dreiviertel der Brückenbreite und ist wie es sich für zwergische Handarbeit gehört, grundsolide. Die Barrikaden werden immer auf wechselnden Seiten angebracht. Wenn sie die Brücke überqueren wollen, werden sie sich wie eine verdammte Schlange durchwinden müssen. Auf der ganzen Strecke haben wir sie im Feuer und falls es tatsächlich irgendwer lebend bis zum Tor schafft, werden die Verteidiger sie erwarten. Wir lassen das Stadttor offen stehen, dann können wir unsere Truppen bis auf den gesamten Marktplatz sammeln. Jeder Sohn Nothrends wird zur Axt greifen und diesen Hunden zeigen, dass man einen Zwerg nicht herausfordert!“ Es war nicht schwer zu hören, wie rasch der Wachhauptmann sich in Rage redete. Sein Hass gegen die Menschen musste älter sein als diese Situation und hatte vielleicht sogar nachvollziehbare Wurzeln, doch offenkundig galt sein Zorn der Frechheit Phillipes, die Zwerge aufzufordern, sie mögen ihre Eigenständigkeit aufgeben und zu ebenso braven Bürgern werden, wie die Elben es mehrheitlich getan hatten. Thorin dagegen dachte wesentlich kühler und pragmatischer. Der Plan war leichtsinnig. Bereits an den äußeren Bollwerken konnten sie mühelos standhalten, außer seine Majestät ließ schweres Belagerungsgerät auffahren. Dann hätte er die Armee jedoch bereits vor dem Boten entsenden müssen, denn kein Heerzug mit schwerem Gerät kam in sieben Tagen von La Coeur nach Nothrend. Andererseits – wäre das denn so verwunderlich? Er sammelte seine Truppen, sandte sie auf den Weg und noch während das Heer bereits marschierte, schickte er einen Boten vorneweg, um ihnen eine letzte Chance zu geben, von der er sowieso nicht erwartete, dass man sie akzeptieren würde. Nein – das klang tatsächlich nach einem guten Plan. Vielleicht sogar etwas zu gut, um aus Phillipes krankem Geist entsprungen zu sein. Jemand half ihm also. Oder die Armee war ohne schweres Gerät unterwegs. Dann war der Weg zwar zu meistern, der Angriff aber von vorn herein lächerlich. Vielleicht war es ein guter Plan, die äußeren Befestigungen zu verlassen und sie an der Brücke abzupassen. Dennoch hielt Thorin es für sehr gefährlich, das Stadttor offen stehen zu lassen. Sicherlich: Auf den Marktplatz passten dreimal so viele zwergische Krieger wie sie zwischen den Ballisten vor dem Tor Platz hätten, doch war eine solche Masse an Verteidigern notwendig? Das Stadttor war die letzte Linie, sollten die Brücke und die Ballisten fallen und da man kein schweres Gerät dort hinunter transportieren konnte, wären die Angreifer gezwungen, vor dem Tor auszuharren und auf eine gute Idee zu warten. So jedoch stand ihnen Tür und Tor offen. Doch er war ohnehin nicht in der Position, irgendwelche Anmerkungen zu machen. Die Zwerge würden sich selbst verteidigen und gerade in dieser Situation auf den Rat eines Langen spucken. „Wie kann ich helfen?“ erkundigte sich der Kahlköpfige daher schlicht. Das schien sogar den Hauptmann zu überraschen, der verwirrt nachfragte, ob es sein Ernst sei, dabei helfen zu wollen, seinesgleichen in die Knie zu zwingen. Er war sogar noch erstaunter, als Snorri ihm davon zu erzählen begann, dass es innerhalb der Menschen von Lumiél einige politische Gegenströmungen zu seiner Majestät gab und eben nicht jeder Mensch bedingungslos auf des Königs Seite stand. „Ja dann hoffen wir mal, dass sie ihre faulen Ärsche hoch kriegen und diesen Bastard vom Thron schubsen! Ha!“ merkte der Hauptmann daraufhin breit grinsend an und erklärte sich mit Thorins Angebot einverstanden. Während Snorri und Thorin sofort dazu übergingen, bei den Vorbereitungen zu helfen, zogen sich Ragnar und Garwinn einen Moment zurück. Der Lange und sein Waffenbruder halfen, die schweren Palisaden aufzubauen. Es waren offenbar ganze Baumstämme, die man einfach zurecht gehackt und vorne angespitzt hatte. Mit Mörtel, schweren Keilsteinen und allerhand Muskelkraft schichtete man das Gemisch zu einem für menschliche Verhältnisse ungefähr bauchhohen Wall auf. Dabei erwies es sich für die Zwerge als echter Gewinn, Thorin auf ihrer Seite zu haben – an ihm konnten sie 'messen', ob eine Palisade bereits groß genug war, oder ob noch mehr Pfähle und Steine aufgeschichtet werden mussten. Garwinn dagegen wusste, dass er kein Krieger war. Er kannte seinen Platz und genau deswegen traf er sich mit Ragnar kurze Zeit später auf dem Marktplatz hinter dem großen Stadttor. „Ich habe mit einem Vetter gesprochen. Er stellt mir seine Schmiede für diese Tage zur Verfügung. Pünktlich zum Schlachtbeginn kannst du eine neue Rüstung haben – und eine neue Waffe.“ offenbarte der Schmied seinem Landsmann, „Die Frage ist nun, was du haben willst. Ich kann dir in drei Tagen ein gutes Stück Arbeit für einhundert Gulden geben. Gut – so wie es jeder Schmied könnte. Gibst du mir zweitausend Gulden, schmiede ich dir eine Rüstung, die eines Thans würdig ist und gibst du mir fünftausend, schmiede ich dir etwas, das einem verdammten König gebühren würde!“ Garwinn machte keinen Hehl daraus, dass seine Preise horrent waren. Die reinste Halsabschneiderei. Er war der beste Schmied ganz Nothrends, möglicherweise sogar der beste Schmied im ganzen Zwergenreich Lumiéls. Er hatte den Schneid, die Fähigkeit und den Geschäftssinn, um solche Preise ohne Bedenken zu verlangen. Ragnar dagegen schluckte schwer. „Gib zu, dass das die Rache für die Witze ist, die wir über dich gerissen haben!“ brummte der Krieger verdrossen. Nur ein kurzes Zucken der Mundwinkel und Garwinn hatte sich verraten. Fünftausend Gulden war... happig. Gerade, da Ragnar eigentlich ein Waffenbruder war, ein Landsmann, ein Freund. Er hätte ihm dieses Stück, dessen Entwürfe bereits in seinem Kopf herum schwirrten, auch schon für dreitausend geben können. Schließlich zog der Zwerg einen schweren Beutel hervor. Garwinn nahm ihn entgegen und spähte hinein – Ragnars alte Rüstungsteile. Es war Tradition, dass man sie ein letztes Mal aufarbeitete, damit sie als Andenken in die Galerie der Ahnen des eigenen Clans gestellt werden konnten. „Das mache ich dir kostenlos.“ setzte der Schmied nach, um Ragnar zumindest diese geschätzten zehn Gulden zu ersparen. Dann nickte der Krieger, wenn auch schweren Herzens. Er versicherte Garwinn, dass ein paar Boten ihm seine Bezahlung bringen würden. Fünftausend Gulden neigten dazu, ein recht stattliches Eigengewicht zu entwickeln und dem Meisterschmied war schon jetzt klar, dass er das unmöglich auf seinen Reisen mitnehmen könnte. Andererseits war das so ein Thema für sich. Sie alle waren aus anderen Gründen hierher zurückgekehrt. Thorin wollte Nothrend wiedersehen, Snorri hatte letztlich doch eine Art von Heimweh entwickelt, Ragnar wollte die beste Schmiede für seine neue Rüstung und Garwinn hatte einfach nur den Auftrag seines Clans ausgeführt und seinen Vetter Snorri heim gebracht. Doch anders als Thorin, Ragnar und Snorri, gedachte Garwinn hier zu bleiben. Sie würden wieder los ziehen, den König ärgern und mit ihm Katz - und Maus spielen. Er aber war kein Krieger. Wie jeder gute Zwerg konnte er sich verteidigen, aber er war Schmied. Sein Platz war hinter der Esse, am Amboss, mit kräftigem Hammerschwung auf das Metall. Er hatte es ihnen noch nicht gesagt, doch dieser unliebsame Punkt würde kommen. Vorläufig jedoch schieden sich die zwei Landsmänner an dieser Stelle. Ragnar zog davon in die tieferen Ebenen westwärts, um seinem Clan die Order zu erteilen. Fünftausend Gulden war zwar längst nicht das gesamte Clanvermögen, aber es würde die Donnerbärte doch empfindlich treffen. Garwinn dagegen gedachte sich von diesem Erlös eine neue, eigene Schmiede bauen zu lassen. Er hatte viel gesehen, viel erlebt und dieser Ausflug an die Oberfläche hatte ihn in nicht unerheblichem Maße inspiriert. Er hatte Menschen und Elben kämpfen sehen, hatte erlebt, wie sie sich schützten und verteidigten, hatte ihre Befestigungsanlagen studieren können. Ihm waren dabei viele neue Ideen gekommen, wie er seinem Volk weiterhelfen konnte – sogar bis in die Offensive, sollte das je nötig sein. Der Schmied zog sich gen Osten zur Esse seines Vetters zurück und begann fast sofort das nötige Material zu bestellen und den Ofen anzuwerfen. Er hatte ein klares Bild vor Augen, wie Ragnar später aussehen würde – in seiner Rüstung. „Grutzl!“ rief Garwinn ungeduldig. Ein kleiner Goblin kam flink und unterwürfigen Blickes herbei geeilt. Wahrlich kein schöner Anblick. Zerfressene kleine Fledermausohren, schleimgrüne Haut und einige aufgekratzte Stellen, die verdächtig angenagt aussahen. Grutzl hatte sich für Garwinn als nützlicher Assistent erwiesen, trotz der Abartigkeit seines Aussehens. Er hatte ihn damals aus seinen Diensten entlassen müssen, als er des Auftrages seines Clans wegen die Schmiede schloss. Der Goblin war sichtlich erfreut gewesen, als sein alter Meister ihn gesucht hatte. „Bring mir zwei Fass. Schnaps und Met. Ich werde viel zu tun haben!“ orderte der Meisterschmied und warf einen ersten, zufriedenen Blick in die aufziehende Glut der Esse, während er das vertraute Gewicht des alten Eisenhand-Schmiedehammers in seiner rauen Pranke wog. Endlich daheim! Die Tage vergingen unter Tage immer schon anders als an der Oberfläche. Gearbeitet wurde, wenn man wach war, getrunken wurde, wenn man schläfig war, sei es, um zu erwachen oder gänzlich einzuschlafen. Aus der Eisenhandschmiede drang immer wieder, tagein, tagaus, das schwere Hämmern von Metall auf Metall. Manches Mal schwoll es an, wenn eine kleine, unscheinbare Kreatur auf einen kaum hörbaren Ruf hin durch den Türspalt hinein huschte. Gelegentlich hörte man das Wasser zischen, welches das Metall zu kühlen versuchte. Doch eines änderte sich nicht: Aus der Eisenschmiedesse quoll beständig dichter, dicker Rauch in den Himmel der Menschen auf. Thorin, Ragnar und Snorri dagegen hatten mit dem Aufbau der Palisaden gut zu tun. Die Brücke maß zweihundert Meter und alle paar Meter sollte ein weiteres Bollwerk aufgeschichtet werden. Noch dazu mussten die flachen Geländer hier und da begradigt und ausgebessert werden. Ja, die Arbeiten glichen an manchen Tagen fast schon einer Art von Hausputz, in der alte Pläne, die man vergessen hatte, neu zutage gefördert und schließlich doch noch abgearbeitet wurden. Sie erwachten, nahmen ein deftiges Mahl ein und gingen an die Arbeit. Kamen sie von der Brücke zurück, tranken sie einen guten Humpen und gingen wieder zu Bett. Es waren Tage, mit denen Thorin gut zurecht kam. Er hatte klare Anweisungen, einfache, aber fordernde Aufgaben und ein Dach über dem Kopf. Wahrlich, in den letzten Jahren hatte es genug Zeiten gegeben, in denen es ihm schlechter ergangen war. Tatsächlich waren die Zwerge so erstaunt über seinen Arbeitseifer, dass man ihm sogar ein Entgelt für seine Dienste anbot, doch Thorin schlug es aus. Nicht etwa, weil seine Reisekasse ein paar Münzen mehr nicht verkraftet hätte. Er hoffte auf mehr als nur Bezahlung. Wenn er den Zwergen beim Widerstand gegen die königlichen Truppen half, so wagte er zu vermuten, könnten sie ihm deutlich wohlgesonnener sein, wenn es eines Tages darum ginge, zurück zu schlagen, nach La Coeur zu marschieren und die verdammte Bastion mit Mann und Maus im Zwillingsstrom zu versenken! Ein kühner Plan, selbst für den kahlköpfigen Krieger. Vielleicht war das der Grund, weshalb er Snorri nicht darin einweihte. Oder es lag einfach an der täglichen Erschöpfung. „Ich sage dir, die Zwerge werden das nicht einfach aussitzen können! Das haben die Elben schon versucht.“ brachte Thorin ächzend hervor, während er mit Ragnars Hilfe einen weiteren Baumpfahl in Position brachte. Sie mussten ihn lange genug halten, damit der Baumeister ausreichend Stein und Mörtel darunter bringen konnte, damit das schwere Gewicht in Position bliebe, statt die bereits aufgeschichtete Mauer einzureißen. „Die Spitzohren?! Du vergleichst uns mit denen?“ keifte Ragnar von der Anstrengung schnaufend. Beiden lief der Schweiß, doch zumindest waren dies Arbeiten, mit denen sie sich auskannten. Sie hatten in den letzten Tagen verspürt, wie die Stimmung sich immer mehr abkühlte. Doch das war keineswegs etwas Positives. Zwergische Politik war laut und 'temperamentvoll'. Die sich ausbreitende Stille war kein Omen sanfter Veränderungen. Etwas lag in der Luft und dieser Alric Graufaust schien damit zu tun zu haben. Ratsmitglieder wurden schweigsamer, andere verschwanden sogar gänzlich. Wenn es diesem Emporkömmling gelänge, den Rat unter seine Kontrolle zu bringen, und das obendrein als Nichtratsmitglied, dann hätte er eine enorme Macht auf seiner Seite. Der König und der Rat waren die zwei gesetzgebenden, urteilenden und damit letztlich das Schicksal des Zwergenvolkes bestimmenden Organe ihrer Gesellschaft. Gewiss – ein Wort des Königs konnte einen einstimmigen Beschluss der Ratskammer zunichte machen, dennoch war diese Einflussnahme bedenklich. Snorri und Ragnar hatten es Thorin erklärt, bis auch dieser es verstanden hatte. Zwerge waren langlebig. Viele überdauerten anderthalb Jahrtausende, ehe sie am Alter starben. Alric aber war ungeduldig wie ein Mensch, er drängte, schob und zerrte, er war zu ungestüm. Eine typische Erscheinung bei Zwergen, gerade wenn sie noch nicht einmal ihre zweihundert Jahre vollendet hatten. Doch während die meisten jungen Zwerge von ihrem Clan gezähmt und belehrt wurden, war der Clanführer der Graufäuste dafür bereits zu alt. Er war dement geworden, wusste nicht mehr, mit wem er gerade sprach – unabhängig davon, ob man seinen Sohn, einen Fremden oder seinen König vor ihn gestellt hätte. Er vegetierte vor sich hin, natürlich in allen Ehren und von seiner Familie gepflegt, doch das Ende war absehbar. Es gab niemanden, der Alric als seinen direkten Nachfolger hätte ausbremsen können. Er wäre damit ein Ärgernis, ein Chaot, sicherlich. Doch diese Einflussnahme ließ auf tiefergreifende Probleme schließen. Entweder bekam er Hilfe, von irgendwem, oder aber, der Rat war tatsächlich gewillt, eine Entscheidung über das Knie zu brechen. Etwas, das der zwergischen Mentalität einfach völlig widersprach. Vielleicht fühlte sich das Volk des Steines inzwischen von seiner Majestät genug bedrängt, um endlich handeln zu wollen? Genau ließ sich das nicht sagen. Bisher hatten Alrics Aktionen kein klar erkennbares Ziel vermuten lassen. Zudem hatte man ihm nichts nachweisen können. Keine Erpressung, keine Entführung, kein Mord. Es war nicht klar, wie oder wohin die Ratsmitglieder verschwunden waren oder wie er andere Stimmen im Rat zum verstummen brachte. Doch als es begonnen hatte, waren sich alle einig: Dieser Taugenichts hatte nicht zu sagen. Und jetzt? Jetzt schwieg die eine Hälfte freiwillig und die andere aus der Befürchtung, ebenfalls bald irgendwie zu 'verschwinden'. Man hatte Angst vor ihm bekommen. Kein Zwerg würde je eingestehen, Angst zu haben. Sie würden es totargumentieren oder zornige Flüche brüllen. Aber für Thorin war die Lage klar – seit Alric zu agieren begonnen hatte, war es gefährlich geworden, ein Ratsmitglied zu sein. Nur der König schien nun noch als Bollwerk zwischen Alric und der Macht zu stehen. Diese Situation war mehr als heikel, doch keiner traute dem jungen Emporkömmling zu, dass er jeglichen Respekt verlieren würde, nicht nur vor den Traditionen der Zwerge, ihrer Lebensweise und Philosophie, sondern zudem auch noch vor dem König selbst. Dieser war mit seinen eintausendzweihundert Jahren gewiss alt – aber als Veteran unzähliger Schlachten und Kriege war er vorausschauend, weise und noch immer im Vollbesitz seines messerscharfen Verstandes. Er war ein Ideal für jeden Sohn des Steins. Thorin schwieg sich aus. Er wollte Ragnar ungern an den Kopf werfen, was er wusste. Die Elben, obgleich verweichlichte, weinerliche Chorknaben, waren nicht unfähig. Sie waren magisch begabt, allesamt, und exzellente Bogenschützen. Dennoch hatten sie sich gegen seine Majestät nicht durchzusetzen gewusst, schlimmer noch, wenn an den Gerüchten über Ammarath auch nur das kleinste Detail wahr war, dann hatte seine Majestät sie mit aller Härte und Gnadenlosigkeit auf ihren Platz verwiesen – und der war grundsätzlich für alle immer zu Füßen seines Thrones. Stattdessen warteten sie auf das Signal des Baumeisters, setzten dann vorsichtig den Stamm ab und ließen ihn dort ruhen. Während sie sich zu Snorri begaben und dem Krieger halfen, einige schwere Steine zur aktuellen Palisade zu schleppen, fing ihr Blick einen Zwerg ein, der es offenkundig recht eilig hatte. Er kam die Treppen herab, rannte über den halbrunden Platz durch die Palisaden hindurch, immer im Zick-Zack, bis er bei den auf der Brücke arbeitenden Zwergen angelangte. Sofort und in Ahnung von Neuigkeiten und Nachrichten, scharten sich die Arbeiter ebenso um den Boten wie die Wachen des großen Tores. „Sie kommen. Keinen halben Tagesmarsch von hier!“ warnte der Wachmann sie vor, „Hauptmann Morgrimm hat alle abgezogen, sie sollten bald hier sein.“ Das waren keine Nachrichten, die einer Katastrophe gleich kamen, aber doch zumindest ärgerlich. Die Zwerge hatten erst zwei Drittel der Brücke sichern können und offenkundig hatten sich des Königs Männer ein wenig beeilt. Vielleicht ahnten sie, was sie erwarten würde, oder schlimmer noch – sie wussten es aus einer zuverlässigen Quelle innerhalb der Stadt. Erneut keimten Bedenken in Thorin auf, das Tor offen stehen zu lassen. Was, wenn Alric Graufaust mit seiner Majestät Phillipe dem Dritten kooperierte? Wenn es ein geheimes Bündnis gab, irgendeine Form von Absprache? Schon als er am dritten Tag diese Theorie geäußert hatte, erntete er boshafte, strafende Blicke – sogar seitens Snorri. Kein Zwerg, so hieß es, würde jemals sein eigenes Volk verraten, schon gar nicht an einen Menschen. Niemand, selbst ein stürmischer, ungezogener Alric Graufaust nicht, war dazu dumm genug. Thorin hatte gelernt, seine Bedenken für sich zu behalten. Er wollte den Zwergen vertrauen, er wollte auf ihre Stärke und Beharrlichkeit vertrauen. Viele Jahrhunderte hatten sie Lumiél bevölkert, bereichert, hatten immer Stand gehalten, selbst wenn sie Schlachten verloren waren ihre Städte davon unangetastet geblieben. Wenn es dem König gelang, auch nur einen Fuß in Nothrend zu setzen, wäre das ein neuer Wendepunkt in der Geschichte – einer, den man keineswegs mit Freude erwähnen könnte. „Los los los, ihr faulen Bastarde eines Ziegenbocks! Wir haben keine Zeit mehr!“ brüllte der Baumeister über die Traube seiner Arbeiter hinweg. Zumindest sie begonnene Palisade noch zu vollenden – das war das neue Ziel. Umso weiter konnten die zwergischen Verteidiger auf die Brücke vorrücken und dort bereits das formen, was jedem Angreifer, der sich das Volk des Steins zum Feind gemacht hatte, zum verzweifeln brachte: Ein zwergisches Bollwerk. Ihre Schilde waren hoch und breit, ihre Äxte trugen oftmals zwei Klingen mit einem Dorn an der Spitze, ihre Hämmer waren von Runen unterstützt. Reihe um Reihe schoben sie sich vor, von ihren Schilden zur Gänze vor Pfeilen und Bolzen geschützt, ein schepperndes, klapperndes Gestell, jeder Zwerg trug mehr Metall als er selbst wog und ihre kraftvollen Arme machten es zur Gewissheit, das ihre Hiebe irgendetwas zerschmettern würden. An einer kleinen, zwergischen Stellung kam man nur schwer vorbei, man musste sie mit hohen Verlusten zermürben und aufreiben. Das Einzige, was ein solches Bollwerk aus Rüstungen, Schilden, Hämmern und nicht zuletzt ihren Trägern rasch zerschlagen konnte, waren Magier. Doch die Zirkel würden einen Teufel tun, ihre Neutralität aufzugeben und sich ausgerechnet einem Kind anzuschließen. Zumindest für diesen Umstand war Thorin mehr als dankbar. Denn Nothrend war groß – jeder Zwerg, der einem glücklichen feindlichen Hieb zum Opfer fallen würde, wurde schlichtweg ersetzt, indem die Reihe hinter ihm einen Schritt vor tat. Die Frontlinie würde sich nie verschieben, egal wie hoch der Berg der Leichen sich auftürmte. Zwergische Kriegskunst. Man musste sie einfach für solche Beharrlichkeit bewundern. Tatsächlich kamen wenig später die ersten Soldaten, die draußen an den Befestigungen Wache gehalten hatten. Sie verstärkten in völliger Selbstverständlichkeit ihre Kameraden am großen Tor und auch auf dem Marktplatz begannen sich bereits die ersten Söhne Nothrends zu versammeln, mit Äxten, Hämmern und sogar ein paar wenigen Lanzen unterschiedlichster Machart. Jeder Brustpanzer trug ein Clanwappen, jeder Helm war individuell verziert worden, das Kronjuwel einer guten Rüstung. Tatsächlich schob sich aus all diesem Gedränge just in dem Moment, als Thorin, Snorri und Ragnar ihre Arbeit beendeten und ihre Waffen holen wollten, Garwinn hervor. Der Meisterschmied ließ seinen getreuen Goblin einen Helm tragen, während zwei andere Zwerge die restlichen Teile schleppten. „Ragnar!“ rief der Meisterschmied und ließ die dreiköpfige Gruppe innehalten, „Da bist du ja. Dich zu finden ist schwerer, als bei Menschen gutes Bier aufzuspüren!“ maulte der Schmied, ehe seine Miene – zumindest nach zwergischen Verhältnissen – deutlich aufhellte, „Du wirst nicht glauben, was mir gelungen ist! Grutzl hat sich als nützlicher erwiesen, als ich es dachte. Er hat Verwandte in Poropay, musst du wissen.“ Es war für alle Anwesenden mehr als befremdlich, zu sehen, wie der Meisterschmied diesem kleinen, hässlichen Geschöpf den Kopf tätschelte, wie es sonst nur Menschen bei Hunden taten. Tatsächlich schien der Goblin damit aber über alle Maßen stolz und erfreut und reichte, auf einen dezenten Schubs seines Herrn hin, Ragnar den Helm. Ein mehr als prunkvolles Stück, das einem zukünftigen Than zur Ehre gereichte. „Dank einer Rezeptur dieser kleinen Grünlinge ist es mir gelungen, eine Legierung aus Adamantium und Gromril zu schmieden! Gestärkt von der Essenz einer Drachenschuppe und geformt von diesem Arm!“ protzte der Schmied voller Stolz und spannte die kräftigen Muskeln seiner Rechten an. Tatsächlich erweckte seine Erklärung das Interesse einiger umstehender Krieger und Arbeiter – denn bisher hatte es immer nur die Wahl gegeben: Adamantium oder Gromril. Das erste Material war flexibel und gegenüber Pfeilen und Bolzen schier undurchdringlich, weil es federte und niemals brach. Gromril dagegen war ein sehr harter, unnachgiebiger Stoff, er ließ sich von Bolzen und Lanzen durchschlagen, bot aber dank seiner massiven Stärke besten Schutz gegen Hiebe von Äxten, Hämmern und Schwertern auf. Bisher hatte es unter Zwergen im Allgemeinen und den Schmieden im Speziellen als völlig unmöglich gegolten, beide Materialien zu vereinen. Und nun kam Garwinn daher und behauptete, ihm sei es doch gelungen. Tatsächlich, nun, da die Zwerge den Helm näher betrachteten, schien er eine Spur heller zu schimmern, als es für eine reine Gromrilfertigung üblich war. „Und weil ich mir bei fünftausend Gulden fast wie ein Gauner vorkam, gibt es das hier.“ setzte Garwinn offenkundig bester Laune nach. Seine neue Rezeptur würde ihn zum reichsten Zwerg in ganz Lumiél machen, bei den Ahnen, er würde sich ein paar Städte kaufen können! Was waren da schon fünftausend Gulden? Nach und nach zog der Schmied aus den schweren Jutesäcken seiner zwei Gehilfen die Teile hervor. Armschienen, Beinschienen, schwere Panzerstiefel und Panzerhandschuhe und zuletzt schließlich den Brustharnisch mit dem Wappen der Donnerbärte. „Die Runen auf den Handschuhen verdoppeln die Kraft jedes Faustschlages, die Runen auf den Stiefeln werden nie zulassen, dass dich ein Gegner umwirft!“ erklärte Garwinn fast schon 'nebenbei'. Eher schien es, als würde er etwas suchen – und dann fand er eben dies. Aus dem zweiten Sack zog er einen Hammer hervor, der seinesgleichen suchte. Ein sanft geschwungener Dorn wuchs an einer Seite aus dem wuchtigen Metallblock, der am Kopf dieser vernichtenden Waffe prangerte. Kleine Runen waren auch hier auf das Metall geschmiedet worden, offenkundig von einem Meister, der die Runen bestens kannte. „Schwinge den Dorn niemals leichtfertig auf den Boden, hörst du?“ warnte Garwinn eindringlich, „Die Runen werden dann die Erde beben lassen – das ist weder ein Scherz noch eine Übertreibung. Dank deiner Stiefel wird es dich nicht treffen, aber du kannst davon ausgehen, dass deine Feinde zu kämpfen haben werden, um das Gleichgewicht zu wahren!“ Selbst Thorin stieß einen leisen Pfiff der Anerkennung aus, als er dieses Monstrum von einem Kriegshammer sah. Zudem machte die Rüstung, frisch geschmiedet und poliert, nicht minder einiges her. Ragnar war dagegen der Einzige, der völlig schwieg, während um ihn herum geraunt, gepfiffen und gestaunt wurde. Sogar manches Tuscheln erklang. Schließlich nahm der künftige Than der Donnerbärte den Hammer entgegen und wog das Schwergewicht in seinen Händen hin und her. Als er aufsah, den Schmied betrachtete, der ihm eine unikate Rüstung im Wert eines halben Königreiches übergeben hatte, da glaubte Thorin fast, Ragnar würde nun ernstlich Tränen vergießen. Doch der Krieger beherrschte sich, schwieg – obwohl sein Bart verräterisch zitterte. „Bei den Ahnen, Männer, tragt diesen stinkenden Bock in einen Zuber, staucht ihn durch und dann... dann steckt ihn da rein!“ befahl Garwinn und stützte sichtlich mit sich zufrieden die Fäuste in die Hüfte. Snorri lachte auf, als die Gehilfen des Schmiedes den noch immer sprachlosen Zwerg samt seiner neuen Rüstung davon führten. Den Hammer jedoch, den gab er nicht mehr aus der Hand. Wenige Stunden später hatten sich alle versammelt. Dicht gedrängt stand Zwerg an Zwerg, eine lange Zunge schimmernder Rüstungen und Schilde, von der Brücke durch den Torbogen bis auf den Markt hinein. Thorin stach aus der Menge sichtlich heraus, wie er dort im Zentrum der Meute stand. „Es wird mir eine Ehre sein, mit euch zu kämpfen.“ ließ er seine zwergischen Mitstreiter wissen. Snorri dagegen boxte ihn nur lächelnd in die Flanke. „Wie damals, huh?“ hakte er nach und grinste weiter vor sich hin, während er den Blick wieder gen Brücke straffte. Der Einzige, der in der angespannten Stille des Wartens einfach den Mund nicht halten konnte... war Ragnar. Der baldige Than zupfte an sich herum, drehte und wendete sich, begutachtete die Runen, die Schienen, die Lederriemen daran, einfach alles war die Arbeit eines Meisters. Kein Metallspan stand über, keine Lasche war schief eingebunden, nichts. Einfach makellos. Das ständige Klappern und Scheppern aus seiner Reihe entlockte Snorri und Thorin ein breites Grinsen. „He da vorn, halt die Füße still, sonst stellen wir dich hinten an und du darfst zusehen!“ blaffte Snorri amüsiert vor. Ragnars Antwort erfolgte sofort – die Herausforderung zum Kampf, es sofort auszutragen, jawohl! Ein Lachen ging durch die Reihen, doch obgleich von Erheiterung zeugend, spürte man auch die Anspannung darin. Wie das Warten auf den Sturm... Mit Wucht wurden die schweren Torflügel der Halle aufgestoßen. Ein einzelner Zwerg trat ein, ohne Rüstung, nur mit einer einfachen, kleinen Axt bewaffnet. Seine jungen Gesichtszüge verzogen sich, als er grimmigen Blickes die Thronhalle absuchte. Nur der steinerne Sitz und der alte Zausel darauf. Ausgezeichnet. Der König jedoch schärfte seine alt gewordenen Augen und erkannte den ungestümen Emporkömmling. „Alric Graufaust? Was habt ihr hier zu suchen?! Ich habe nicht nach euch schicken lassen!“ fuhr der König ihn barsch an und erhob sich von seinem Thron. „Das Volk des Steins wird sterben, weil ein alter Narr nicht fähig ist, die Zeichen der Veränderung zu deuten! Unsere Lebensweise muss sich wandeln, sonst werden wir in den Fluten der Zeit ersaufen und keiner wird sich erinnern, dass es uns einst gab.“ erklärte Alric, während er eisernen Schrittes, die Axt fest umschlossen, auf seinen König zuhielt. Wo die Wachen waren, die einstmals diesen Saal beschützt hatten, fragte der König nicht. Nach Alrics Worten war das Ausmaß seines Verrates bereits offensichtlich geworden. Voller Zorn packte der Veteran den schweren Streithammer, der neben seinem Thron lagerte und hielt ebenso auf den Jüngling zu. „Ich werde eure eure Taten bereuen lassen, wenn die Ahnen euch aus ihren Hallen verstoßen!“ stieß der König in kalter Wut einen der schlimmsten zwergischen Flüche aus. Nichts traf einen Sohn des Steins härter als die Angst, von den Ahnen verstoßen und als unwürdig befunden zu werden. Gerade jedoch, als Axt und Hammer einander hätten treffen sollen, riss plötzlich eine fremde Macht den König zurück. Vor Überraschung verlor er den Hammer aus seinen Händen, landete aufkeuchend auf dem Boden und schien unfähig, sich aufzubauen. Als der König den Kopf hob, schritt neben Alric jemand einher. „Du Narr! Was sucht dieser Mensch hier? Bist du völlig von Sinnen, Junge?“ Doch alle Versuche des Königs, dem Ungeduldigen in sein verkommenes Gewissen zu reden, scheiterten. Auf ein kaum wahrnehmbares Nicken des Fremden hin holte Alric mit der Axt weit aus. Unsichtbare Hände drückten den König nieder, klammerten sich an seine Kleider, hielten ihn am Boden gefangen – selbst dann noch war eher sich zu bewegen unfähig, als seine Glieder zu zucken versuchten in Ermangelung des Kopfes auf seinen Schultern. Nur die zierlich wirkende Krone, befleckt vom Blut, rollte über den nackten Stein zwischen den langen Festtafeln entlang, deren Stühle leer waren und doch Zeugen zu sein schienen. „Vielleicht solltet ihr die neue Order eurem Volk erklären,... König Alric Graufaust von Nothrend.“ erklang die dünne, kränklich wirkende Stimme des Fremden. Wie eine unheilvolle Melodie schwang sie im Raum auf und ab. Einzig Alric begann zu lächeln. Es war geschafft! Sein Plan hatte funktioniert! In völliger Ruhe und Geduld nahm er die Krone vom Boden, setzte sie auf den eigenen Haarschopf. Sie passte, sie passte ihm sogar so gut, dass der Schluss nicht fern lag, dass sie schon immer auf dieses Haupt gehört hatte. Rechtmäßig. „Haltet ein, Söhne Nothrends!“ tönte ein lauter Ruf. Die zwergische Front klapperte und schepperte, man wandte sich um, versuchte zuzuhören, „Haltet ein, Verteidiger des Steinvolkes! Unser König Alric Graufaust befiehlt, keinem Manne seiner göttlichen Majestät Phillipe dem Dritten ein Leid zuzufügen!“ verkündete der Bote. Die Reaktion der meisten Krieger war völlig identisch mit der Ragnars, Snorris und Thorins: Unverständnis, Verwirrung, aufklappende Kiefer und neben allerlei dunklen Vorahnungen – Sprachlosigkeit. König Alric? Seit wann das denn? Tatsächlich pakte der erstbeste Krieger, dem der Bote zu nahe kam, ihn beim Kragen und zerrte ihn mit zorniger Miene und drohendem Knurren von den Füßen. „Was faselst du da? Alric ist nicht unser König!“ blaffte der Krieger. Der Bote aber schlug dem Soldaten ohne Scheu ins Gesicht und spuckte gar auf ihn nieder. „Verräter wie du werden es bald schwer haben! Alric hat seinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron eingenommen. Der alte Narr ist tot und der Rat hat seine Krönung bestätigt!“ rief der Bote über das versammelte Heer hinweg. Raunen und Rufe, wütendes Geschrei, alles erschall durcheinander. Was war nun zu tun? Was sollten sie machen? Nur der König hatte die Macht, einen Befehl zu erteilen. Der Rat hatte Alric bestätigt, aber dieser war nur durch List und Mord dazu geworden, doch... Schiere Verwirrung brach über die Zwerge herein. Just in diesen Momenten schritten schwere Panzerstiefel die Stufen herab. Wie Ameisen strömten des Königs Soldaten die Treppengänge Nothrends herab. Sie sammelten sich nicht einmal – einer feinen, metallisch glänzenden Spur gleich zogen sie sich durch die Barrikaden. „Macht Platz für die Männer seiner Majestät, macht Platz für die Verbündeten eures Königs!“ forderte der Bote barsch. Es war ein Leichtes, zu erkennen, dass die Mehrheit der Zwerge ihn hätte aufknüpfen wollen. Es war ein Leichtes, den Hass in so vielen Augen zu lesen, das Verlangen, diesem Feind ohne Gnade das Leben zu nehmen. Und obwohl Thorin so viel Zorn, so viel Kampfeslust und Blutdurst sah... wich das zwergische Bollwerk. Die Soldaten des Königs traten an die erste Verteidigungslinie, ohne unter Beschuss geraten zu sein, und wenn auch maulend und murrend, so wichen die Zwerge auseinander und schufen einen Korridor, durch den die Soldaten seiner Majestät direkt nach Nothrend hinein spazieren konnten. Was in Arimaspers Namen ging hier vor sich? Thorin wusste nicht einmal zu sagen, ob er sich tatsächlich überrascht zeigen sollte von dem Anblick, der sich ihm bot. Keiner der Soldaten hatte sein Schwert gezogen, keiner von ihnen kam in schwerer Rüstung. Nein – was er hier sah, das waren keine Männer, die man in einen Feldzug gegen eine zwergische Siedlung führte. Was er hier sah, das waren Wachen. Das war eine Besatzungsmacht. Tatsächlich kamen die Soldaten auch nicht in der Anzahl einer ganzen Armee. Sie hatten ein einziges Regiment entsendet. Zugstärke. Genau eine Wachgarnison konnte man damit füllen – ausgelegt auf die Größe einer Stadt wie Nothrend. Dieser Krieg war vorbei, ohne dass es einen einzigen Verteidiger gegeben hätte, der fiel. Ohne, dass ein einziger Aggressor zu Schaden kam. Wie betäubt standen die meisten Zwerge da, starrten ungläubig zu Boden und versuchten die verächtlichen, belächelnden Blicke der Soldaten zu ignorieren, die an ihnen vorbei zogen. Wie war das möglich gewesen? Selbst Thorin wurde mit der Situation nicht fertig. Um Blut zu vergießen und ihre Heimat zu verteidigen, dafür waren alle her gekommen. Und jetzt sahen sie zu, wie man ihnen diese Heimat nahm. Völlig legitim. „Unser König befiehlt ebenso, dass das Heer sich wieder zerstreue und ein jeder seinen Pflichten nachgehe!“ verlangte der Bote weiterhin, als er bei Snorri und Thorin angelangte. Da tat sich der Waffenbruder Thorins hervor und packte den Boten beim Hals. „Ich werde meine Brüder rufen und diesem 'König' zeigen, wie leicht ein Umsturz sich wiederholen lässt!“ brüllte er ihm aufgebracht entgegen, der Bote aber, obgleich in unglücklich scheinender Lage, lachte laut auf. „Snorri Eisenhand, richtig? Was wagt ihr es, Hand an eures Königs Boten zu legen? Die Eisenhände waren einer der ersten Clans, die im Rat der Krönung zustimmten!“ offenbarte der Bote. Wie eine Faust ins Gesicht, so saßen diese Worte. Thorin sah seinen alten Freund zurücktaumeln, sah seine Kräfte verschwinden, versiegen. Der Bote setzte seinen Weg völlig unbekümmert fort, doch für Snorri war soeben die ganze Welt zusammen gebrochen. Sein Clan? Wieso sollte er das tun? „Ragnar!“ rief Thorin dem Krieger nach, der gerade finsterster Miene an ihnen vorbei stampfte, „Snorri, komm schon, wir müssen mit ihm!“ forderte Thorin seinen Waffenbruder auf, doch Snorri war nicht einmal ansprechbar. Obwohl ihn dabei ein schlechtes Gewissen packte, ließ er seinen Freund einen Moment allein und er jagte Ragnar allein nach. „Ich werde ihn töten.“ grollte der Krieger ohne auch nur zu dem Langen aufzublicken, „Und dann töte ich jeden Menschen in Nothrend.“ setzte er nach einer kleinen Pause nach, binnen derer er eisernen Schrittes auf die Thronhalle zusteuerte. „Ich helfe.“ erklärte Thorin nicht minder grimmig. Sie wollten gerade den Korridor zur Thronhalle einschlagen, als ihnen ein Wachmann entgegen kam. Nur mit Mühe gelang es ihm, Ragnar zu bremsen. Er schob regelrecht gegen ihn an, damit sie stehen blieben und einen Moment zuhören würden. „Ragnar, verschwende dein Leben nicht! Ein Magier der Menschen beschützt Alric, ich habe sie zehn Krieger töten sehen – selbst du hast keine Chance!“ warnte der Soldat ihn schwermütigen Tones. Er blickte zurück in die blutgetränkte Thronhalle, in der Alric selbstzufrieden auf dem steinernen Sockel saß. Ein Bild, das Thorin in dieser Weise nur geringfügig anders aus La Coeur kannte... „Diese Schlacht kann nicht gewonnen werden. Nicht hier, nicht jetzt. Lass uns Zeit, hilf uns, wir... finden eine Lösung.“ schlug der Soldat stattdessen verschwörerischen Tones vor. Thorin jedoch hatte genug gesehen und gehört. Hier gab es nichts mehr zu retten. Nothrend, und damit auf lange Sicht die Zwerge, waren gefallen. Kapitel 19: Wenn die Maus der Katze bester Freund wird ------------------------------------------------------ Die Sommer in Ulthwe hatten immer schon so ihre Eigenarten. Gestern noch wusste Alistair nicht, wo er sich am besten in Sicherheit bringen konnte, hatte es doch wolkenbruchartig geregnet, ja regelrecht 'aus allen Eimern geschüttet', dazu die stattlichen Blitze, die überall einschlugen. Und heute? Heute erfüllte eine etwas schiefe Melodie den Wald, den er durchstreifte, weil er sich von Sonnenschein wach gekitzelt und von einem guten Mahl gesättigt darin bestätigt sah, dass dieser Tag nur wundervoll werden konnte. Warum er nach Ulthwe gekommen war, daran konnte er sich nicht mehr so richtig erinnern. Es hatte bestimmt etwas mit Schätzen und Reichtum zutun, und mit Ruhm und Ehre und... solchem Zeug. Einen kurzen Moment riss der stetige Schritt ab, tippte sich der schmächtige Nordmann gegen die Schläfe, als könne er die Erinnerungen wachrütteln, ehe er lächelnd mit den Schultern zuckte. Nun, bis es ihm wieder einfallen würde, könnte er sich ja ein wenig umsehen und umhören. Bestimmt gab es hier auch genug, dass zu 'sehen' sich lohnen würde. Nach Meinung des blassen, gebürtigen Lumiél-Exilanten gab es mehrere Arten dessen, was der gemeine Pöbel einfach so in völliger Ahnungslosigkeit um die Klasse dieser Kunst als 'Dieb' bezeichnete. Es gab da die Trickser. Sie waren gerade in seiner Heimat in Sundergrad sehr beliebte Gesellen, immer lustig, immer ein paar freche, flappsige Sprüche auf den Lippen und niemals um eine Ausrede oder ein Spielchen verlegen. Sie kannten und konnten einfach schier alles – Federstich, Poker, Würfelspiele. Und für jedes Spiel hatte jeder Trickser so seine eigenen Taktiken entwickelt, um sich und seinem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Sie waren gutlaunige Unterhalter und in aller Regel nicht gefährlicher als eine um ihr Geld geprellte Hure, die wütend eine Vase warf und leere Drohungen über die Stadtwache ausstieß. Dann gab es da natürlich die Barden. Eigentlich sollte man sie wohl als eigenständig betrachten, aber Alistair hatte einfach schon zu oft erlebt, was die sehr geschätzten Herrschaften tatsächlich taten. Nicht nur mit Gesang und Gespiel das Volk unterhalten, in Tavernen hausieren und den Ertrag des Abends in der Kasse des Wirtes verdreifachen. Sie hörten zu, und bei Lenikki, das konnten sie verdammt gut! Gerüchte aus Bettlermäulern, brisante Informationen von den Lippen betrunkener Adliger und Wachmänner, sie hörten einfach alles. Wer zu einem Barden kam und genug Geld dabei hatte, der konnte sich sicher sein, dass er erfahren würde, was zu wissen er wünschte. Nur wenigen war diese Doppelnatur des Berufes jedoch völlig bewusst. Barden waren die Informationshändler dieser Welt. Die dritte Gruppe waren die Beutelschneider. Sie waren schon ein ganzes Stück gefährlicher. Während Barden sich in der Regel mit scheinheiliger Gutmütigkeit, Offenherzigkeit und notfalls subtil verabreichtem Gift halfen, waren Beutelschneider weit weniger... subtil. Generell waren sie in allem ein bisschen bösartiger als ihre Kollegen. Das Messer, mit dem sie die Stricke der Geldkatzen vom Gürtel trennten, landeten hin und wieder auch mal im Körper des Trägers oder an dessen Kehle, falls er den versuchten Diebstahl bemerkte und sich gar zu wehren versuchte. Sie besaßen nur selten Ehre – das konnten sie sich einfach nicht leisten – und von einem Kodex oder ähnlichen brauchte man da gar nicht anfangen. Sie waren die Art von Dieben, die die Gilden nicht in ihren Reihen sehen wollten, durch die sie aber leider mit am meisten verdienten – denn begabte Barden und nennenswert erfolgreiche Trickser gab es nur selten. Alistair selbst dagegen zählte sich eher zu einer vierten Gruppe. Er hatte viele Namen dafür. Unauffällige. Schattenschreiter – das klang fast schon episch. In Sundergrad hatte man sie einfach 'Schatten' genannt, aber das führte mit der Zeit doch eindeutig zu zu vielen Verwirrungen. Er war ein Bürger wie jeder andere, manchmal auch ein Reisender oder, wenn seine Laune ein solches Theaterspiel zuließ, ein Händler. Er zog umher, beglückte die Märkte mit seiner Aufmerksamkeit und wenn er ging, nun, dann fehlte hier und da etwas. Ein Leib Brot, ein paar Äpfel, eine Halskette, ein Ballen Stoff. Niemand verdächtigte ihn, weil niemand mitbekam, dass er es gewesen sein könnte. Er war unscheinbar, wirkte viel zu unauffällig. Keine großen Messer am Körper, keine Beutel auf dem Rücken, keine paranoiden Blicke, keine Kartenspiele, keine Lauten und Flöten. Seinesgleichen war das 'starke Rückgrat' der Diebesgilden, ganz egal, in welchem Land man sich umsah. Und Alistair, bei der Geldbörse der Götter, war der Beste unter ihnen allen! Zugegeben, das würde sich noch irgendwie beweisen müssen. Er hoffte auf einen großen Coup. Etwas, das ihn in der ganzen Welt berühmt machen würde. Natürlich nicht 'berühmt' wie 'berühmt', sondern berühmt wie 'da war etwas und niemand weiß wirklich, wer schuld ist'. Denn der beste Ruf, den ein Dieb haben kann ist, völlig unbekannt zu sein. Als Zeugnis, dass man ihn noch nie erwischt hatte. Alistairs Lebensmotto. Wobei er auch davon eine ganze Hand voll hatte und sie nach Belieben austauschte, sollte eine Situation es gerade erfordern. Sein leichter, gern mal etwas kopfloser Lebensstil hatte ihm hin und wieder ebenso Probleme eingebracht wie seine Neugier. Selbst wenn er in das Anwesen eines Adligen einbrach, mit unzähligen Schlössern und Türen gesichert, diverse Fallen auf dem ganzen Gelände, dann kam er nie umhin, diese Werke der Schmieden und Konstrukteure zu prüfen. War ihm ein Schloss neu? Kannte er diesen Aufbau einer Falle schon? Wenn ja, welche Stärken hatte sie, wo waren ihre Schwächen, wie konnte man sie ausschalten? Er lernte. Und seiner Vermutung nach würde er das sein ganzes Leben lang tun. Die Reichen dieser Welt wurden nie müde, gewaltige Geldsummen dafür auszugeben, dass man ihre gewaltigen Geldsummen irgendwie beschützte. Und so lange den Mechanikern neue Fallen und Schlösser einfielen, so lange hatten die Diebe zu lernen. „Ach verflixt!“ murmelte der Langfinger und starrte auf die Pfütze nieder, in deren schlammigem Grund sein Stiefel gerade versenkt worden war. Ein unachtsamer Tritt und nun spürte er, wie das Wasser des Miniaturpfuhls in seine Schuhe eindrang. Er hätte natürlich gar nichts spüren sollen – sollen. Leider waren die Schuhe ein wenig ramponiert von seinem letzten Ausflug. Er hatte ein Waffenlager der Stadtwache überfallen, um eine besondere Schriftrolle daraus zu stehlen. Eine der Fallen besaß die Eigenschaft, flache, geschliffene Klingenblätter zu verschießen wie eine Armbrust es mit Bolzen tat. Keine sonderlich raffinierte Falle, aber sie war schnell genug, ihn für einen Wimpernschlag in Bedrängnis zu bringen. Alistair hatte keinen Schaden genommen, aber seither besaßen seine Stiefel ein paar... Luftlöcher. „Jaja, lach du nur.“ nuschelte er dem kleinen Affenkopfanhänger entgegen, der ihm unter dem Leinenhemd hervor rutschte, kaum dass er sich herab beugte, um seinen Schuh zu befreien. Tatsächlich schien der Schlamm eine stattliche Saugkraft entwickelt zu haben und wollte das Leder nicht frei geben, bis der Dieb es mit einem kräftigeren Ruck versuchte und beinahe umkippte. Als er sich wieder aufrichtete und den Blick von seinem sauberen Stiefel zum Triefenden wandern ließ, lachte er leise auf. Lenikki mochte jene, die an ihn glaubten – aber das hieß noch lange nicht, dass er immer und allzeit schützend die Hand über sie hielt. Ganz im Gegenteil, der Gott der Händler, Diebe und Reisenden war ein gewitztes Kerlchen, das sich oftmals auf die Kosten anderer seine Späße erlaubte, ohne großartig über deren mögliche Konsequenzen nachzudenken und eigentlich fortwährend nur Dummheiten im Kopf hat. Vielleicht mochte Alistair ihn deshalb so sehr – sie waren einander in gewisser Weise ähnlich. Völlig unbekümmert von jenem schmatzenden Geräusch, das bei jedem Schritt entstand, setzte der Langfinger seinen Weg fort. Zu beiden Seiten lichtete sich langsam aber sicher der Wald, der Duft frischen Grases aber blieb haften und wurde von leichten, warmen Windstößen gelegentlich wieder neu belebt. Es war einfach ein wundervoller Tag! Und weiter den Weg herauf, da konnte er auch schon die Tore der Stadt sehen. Wegezoll war eine lästige Angelegenheit, aber irgendwie auch immer spaßig. Er hatte gelernt, daraus ein Spiel zu machen. Die Stadtwache nahm ihm Geld ab und seine Aufgabe war es, das und mehr unbemerkt zurück zu bekommen. Er hatte bisher immer gewonnen. „He da, Freund!“ rief plötzlich jemand von der Seite. Überrascht hielt der Dieb inne und sah zu, wie sich hinter ein paar im Wald verstreuten Findlingen drei Männer hervor bequemten. Sein geübtes Auge erfasste sofort alles, was zu wissen nötig war. Lumpen und Leinen, keine Rüstungen. Erde und Dreck im Gesicht, unrasiert, alte, rissige Gürtel und Schuhe, eine leicht rostige Schwertscheide an zwei der besagten Gürtel, ein Dolch am Dritten. Wegelagerer. „Hier wird Zoll erhoben, hörst du? Drei Silber!“ erklärte der Mittlere der Drei. Offenbar war er der Anführer der Bande und so, wie Alistair sich das zusammen reimte, verwunderte das auch keinesfalls. Seine Spießgesellen sahen nicht unbedingt sonderlich intelligent aus. Sonst wäre ihnen möglicherweise aufgefallen, dass die Stadtwache bereits ein Auge auf sie hatte und kaum dreihundert Meter entfernt am Tor der Siedlung stand. Natürlich gaffte sie nur – noch. Das hieße aber ebenso, dass er es nur bis zum Tor würde schaffen müssen, um diese Idioten zu lehren, dass sie ihre Überfälle besser tiefer im Wald ansiedelten. „Drei Silber?“ echote Alistair, „Meine Güte, die Zeiten werden auch immer teurer, was?“ Von seiner Antwort sichtlich irritiert, blickten die zwei Schwertträger zu ihrem Boss. Der hingegen fing diese Blicke auf und schien nicht minder aus dem Konzept gebracht. Normalerweise hätte dieser Fremde jetzt um Gnade betteln oder herrisch herum blöken müssen. Stattdessen klang es fast so, als würde er ihre zugegeben schlechte Show ernst nehmen – war er vielleicht ein wenig... dumm? „Tja, so ist das eben. Ulthwe lebt auch von der Hand im Mund.“ ließ ihn sein Gegenüber wissen. Soso. Die Hand im Mund. Alistair kam nicht umhin, zu vermuten, dass es sich bei diesem Narren vor ihm um ein Mitglied seiner Profession handelte. Entweder aber war dieser Dieb noch sehr jung oder sehr dumm... oder sehr betrunken. „Nun, dann denke ich, gehe ich wieder zurück. Wird sich sicher eine Stadt finden, die weniger verlangt.“ teilte Alistair ihnen freundlich lächelnd mit und verneigte sich sogar höflich, ehe er auf der Hacke Kehrt machte und ein paar Schritte weit ging. „H-H-hee!“ stammelte der Anführer des Trios hinter ihm, „H-Halt mal!“ Die Empörung in seiner Stimme ließ Alistair leise kichern. Was für ein Anfänger, einfach herrlich! Langsam drehte er sich wieder um und bemerkte, dass seine zwei Kumpane inzwischen ihre Schwerter gezogen hatten. Sie waren nicht wirklich in besserem Zustand als ihre Scheiden und mehr noch – daran, wie sie sie hielten, erkannte er, dass er es mit völlig ungelernten, untrainierten Kämpfern zutun hatte. Alistair war nicht erst seit zwei Tagen Dieb. Wäre dem so, hätte er es nicht geschafft, sich einen signierten Dolch des Anführers der Sundergrader Diebesgilde zu verschaffen. Er hatte schon gegen Krieger gekämpft, gegen 'echte' Krieger. Sie waren unangenehme Gesellen und in der Regel nicht sehr zu Späßen aufgelegt, wenn man ihnen ihr kostbar mit Blut und Tod und Gewalt erstrittenes Geld wegnahm. In der Regel waren die meisten von ihnen aber auch etwas... schlicht und... langsam im Kopf. Muskelmasse schien soetwas zwangsläufig nach sich zu ziehen. Aber sie konnten mit ihren Waffen umgehen. In gewissem Sinne machte das diese zwei Idioten nicht weniger gefährlich – sie waren aufgrund ihrer mangelnden Ausbildung unberechenbar. Allein daran, wie jemand ein Schwert hielt, konnte man meist schon grobe Aussagen über seinen Kampfstil treffen. Hier gab es aber keinen Stil, nur ein wirres 'wie halte ich das Ding richtig?'. „Bist du dir sicher, dass du mit den beiden da arbeiten willst? Die waren nicht mal klug genug, dich darauf hinzuweisen, dass dieser Ort für einen Überfall wirklich furchtbar schlecht gelegen ist...! Und außerdem bekommst du doch von mir sowieso nichts. Wenn du jetzt darauf bestehst, dann werden wir kämpfen, du landest am Boden und verbringst die Nacht in einer Zelle. Willst du das wirklich?“ Alistairs recht selbstsichere Warnung, gepaart mit seinem breiten, vergnügten Grinsen brachte die wackelige Fassade ihres Schauspiels erneut zum Einsturz. Doch diesmal fing sich der Grünschnabel schneller als zuvor. Geradezu empört richtete er sich zur vollen, wenig beeindruckende Größe auf und blaffte, wie er sich erdreisten könne, so zu reden, war er doch hier in der Unterzahl! Für den Nordmann nur ein weiterer Beweis, dass dieser Bengel einfach nicht wusste, wie ein guter Dieb agierte. Ein guter Dieb konnte sich in eine dicht gedrängte Menge aus Stadtwachen stellen, ohne aufzufallen und dabei in wenigen Minuten ein stattliches Vermögen erlangen. Zahlenverhältnisse waren dabei nicht relevant. Tatsächlich wurde es jetzt aber ernst. Das Lächeln auf Alistairs Lippen wich einem Seufzen, als die zwei Schwertträger vor stürmten. Der Erste lief schneller, versuchte den Dieb mit einem Horizontalhieb an Hals oder Schultern zu treffen. Menschen zu töten, war nicht Alistairs Art. Nicht nur, dass es zu viel Dreck machte und damit zu viele Spuren hinterließ. Es war auch noch ziemlich schwierig, jawohl! Er hatte vor langer Zeit ein einziges Mal versucht, einen Mann zu töten. Selbst nach drei Stichen, bei denen er den Dolch bis zum Heft in dessen Torso versenkt hatte, war dieser davon lediglich nur noch wütender geworden. Er hatte geblutet wie ein abgestochenes Schwein, wurde immer langsamer und langsamer, er war schließlich auch tatsächlich gestorben – aber bis dahin hatte er Alistair zu packen bekommen und ihm eine sehr lehrreiche Tracht Prügel verpasst. Töten war nicht so leicht, wie man glaubte. Selbst mit einem abgeschlagenen Arm blieb jemand am Leben, selbst von einer Lanze durchbohrt konnte jemand weiterkämpfen. Köpfen war natürlich eine andere Sache. Aber der Langfinger bezweifelte, dass diese Idioten genug Kraft und Schwung hatten, um ihm sein Hauptwerkzeug direkt zu entreißen. Um es aber nicht unnötig darauf ankommen zu lassen, duckte sich der Dieb unter der Klinge hindurch, vollführte eine ansehnliche Rolle auf dem aufgeweichten Boden und 'kugelte' direkt gegen die Beine des zweiten Angreifers. Der stolperte schlichtweg, verlor jegliches Gleichgewicht und machte sich auf dem matschigen Grund ordentlich lang. Alistair dagegen sprang wieder auf die Beine, grinste den Anführer des Trios an, ehe er seinen Schritt beschleunigte und auf ihn zu rannte. Unschlüssig, wie er damit umgehen sollte, sprang der Grünschnabel im letzten Moment zur Seite, nur um zu sehen, wie Alistair völlig ungerührt einfach weiter stürmte – einem Dreihundertmeterlauf der Stadtwache am Tor entgegen. „Schnell! Hinterher! Haltet ihn auf!“ blaffte der Anführer seinen zwei Kumpanen zu. Der Nordmann jedoch hatte immer schon flinke Beine gehabt und hielt seinen Vorsprung konstant. Die zwei Schwertträger, so bekam er es bei einem Seitenblick mit, bekamen es kurz vor der Schlusslinie mit der Angst zu tun und stoben zu beiden Seiten in den Wald hinein. Nur der Dieb blieb ihm auf den Fersen. Als er wieder nach vorne sah, bemerkte er zwar noch den Stein, konnte aber nicht mehr reagieren. Ein stolpern, ein hilfloses Rudern mit den Armen, ehe er stürzte. Es gelang ihm noch, sich im Fall zu drehen, sodass er auf dem Rücken aufkam. Mit Überraschung gewahrte er, wie zügig sein Gegner das genutzt hatte, um aufzuschließen. Ein kleines Stück weit rutschte der Langfinger über den Boden, sah seinen Gegner die Arme nach seinem Hals ausgestreckt näher kommen – bis die Szenerie einfach so kurios wurde, dass der Nordmann aus vollster Kehle zu lachen begann. Als seine Rutschpartie endete, fand er seinen Kopf zwischen zwei stämmigen Beinen wieder, die in schwer gepanzerte Stiefel mündeten. Über ihm stand der Torwächter, die Hellebarde erhoben, deren Klinge wiederum an der Kehle des anderen Diebes anlag – der in seiner Bewegung erstarrt noch immer zu versuchen schien, Alistair zu packen. „Na gut, ich geb's zu,“ setzte der Langfinger schelmisch grinsend an, „Ich bin am Boden gelandet. Aber nur, weil du geschummelt hast und weggesprungen bist. Die Nacht in der Zelle bekommst du trotzdem, wetten?“ „Und ob!“ mischte sich nun der Wächter ein und erteilte Kommandos, den Dolch abzulegen und zu folgen. Sein Kollege – eine Wache, die Alistair bis dato gar nicht bemerkt hatte – half ihm auf die Beine, während der Erste den Grünschnabel in Ketten legte und in Richtung der Wache abtransportierte. Damit verblieb der gebürtige Sohn Lairuinens allein mit dem zweiten Soldaten zurück. Drei Kupferstücke betrug der echte Wegezoll. Alistair bezahlte ihn mit einem freimütigen Lächeln. Der Tag war so gut gewesen, hatte ihm solchen Spaß beschert, da durfte er sich eigentlich nicht beschweren und auch nicht geizig sein. Als die Wache sich dann aber umdrehte und ein prall gefüllter Beutel einfach viel zu verlockend an seinem Gürtel herum klimperte, da konnte sich Alistair auch nicht helfen. Sowas grenzte an Fahrlässigkeit, das war ja regelrecht geschenkt! Einfach nur unverantwortlich. Er sollte ihn an sich nehmen, um ihn zu hüten und zu verwahren. Besser er als irgendwer sonst, nicht wahr? Und so schritt der Dieb seines Weges die Straße der Stadt entlang, grinste zufrieden und wog in seiner Hand das neue Gewicht, schätzend, wie viel sich darin wohl befinden mochte. Der Wachmann hatte ihm sogar noch einen schönen Tag gewünscht. Freundlicher Mensch, manierlich, wirklich lobenswert, traf man sowas unter Soldaten doch leider nur viel zu selten. Sein Blick indes versuchte, die neue Szenerie einzufangen. Die kleinen Fachwerkshäuschen wagten nur selten, sich höher als zwei Stockwerke zu erheben. Das Stadtbild wurde dafür geprägt von der Brauerei mit ihren drei Stockwerken, dem Tempel, der schier alles überragte und der Wache, die mit nur einem Stockwerk auf Bodenhöhe verhältnismäßig flach blieb. Eine ungewohnte Bauweise, wie Alistair sie so aus Lumiél nicht kannte. Überhaupt schien viel mehr wert auf Ästhetik gesetzt worden zu sein. Geschwungene Formen statt starrer Linien, Kreise und Ovale statt Rechtecke und Quader. Selbst die Fenster waren rund. Irgendwie ein lustiger Anblick, er sollte bei Gelegenheit einem der städtischen Zeichner ein Portrait des Stadtbildes stehlen. Ob es hier überhaupt Leute gab, die so etwas zeichneten? Vielleicht sollte er sich erstmal danach erkundigen, ehe er beschloss, Leute zu schröpfen, die es möglicherweise gar nicht gab. Sein Weg führte ihn tiefer in die Siedlung hinein, vorbei an all den Häusern, die seinen bewundernden, geradezu euphorischen Blick einfingen. Ulthwe war nicht das erste Land außerhalb Lumiéls, das Alistair besuchte, dennoch hatte er in keiner anderen Nation bisher solche Vielfalt in der Baukunst erleben dürfen. Das war einfach schier beeindruckend. Lange jedoch hielt seine Bewunderung auch nicht – wie so oft. Alistair war sehr leicht zu fesseln, aber man verlor seine Aufmerksamkeit auch recht zügig wieder. Als ihm erst einmal klar wurde, dass alle Häuser mehr oder minder im gleichen Stil errichtet worden waren, schien es einer gedanklichen Notiz gleich zu kommen, dass die Faszination des Stadtbildes sich damit zur Gänze erschöpft hätte. Daraufhin fragte er sich bei ein paar Einwohnern, die ihm hier und da entgegen kamen, bis zum Tempel durch. Der Bau war gewaltig und es schien tatsächlich, dass man den alten Gottheiten hier huldigen wollte. Kein leeres Gemurmel und eine soziale Pflicht, sondern tatsächlicher Glaube. Bemerkenswert. Ebenso wie der Umstand, dass der Tempel keiner speziellen Gottheit gewidmet war. Viel mehr handelte es sich um eine Schmelze, in der unzählige Kammern und Säle Möglichkeiten für alle Anhänger boten. Es gab für jeden Gott Priester in diesem Haus, die hier lebten, meditierten, ihre Schäfchen empfingen. Nun, außer natürlich für den alten Ceteus. Keiner mochte Spielverderber. In der verhältnismäßig kleinen Kammer, die Lenikki gewidmet war, gab es einen Springbrunnen. Natürlich wusste Alistair, was hier vor sich ging. Irgendwelche Händler kamen her, beteten um sichere Passage zum nächsten Marktplatz und warfen zum Dank für die hoffentlich erbrachte Leistung ein paar Münzen in den Brunnen, die dann der hiesige 'Priester' voller Wonne und Dankbarkeit wieder heraus fischen würde, um davon seine allabendliche Flasche Wein zu bezahlen. So oder zumindest so ähnlich würde das ablaufen. Doch Alistair hatte damit kein Problem. Er hatte heute einen guten Tag und war schon jetzt mehr als zufrieden mit den Chancen und Gelegenheiten, die Lenikki ihm beschert hatte. Da könnte er auch einem seiner Priester ein paar Münzen in den Rachen werfen. Entsprechend kniete er sich vor den Brunnen nieder, grinste breit in das Wasser und konnte es sich nicht verkneifen, ein paar Fratzen zu schneiden. In einer Kammer des Mermerus war sowas völlig undenkbar, eine Entwürdigung und Respektlosigkeit sondergleichen – glücklicherweise, so befand Alistair, war Lenikki eine umgängliche Gottheit und nicht so ein miesmuffeliger Spießer. Er ließ ein drei Silbermünzen – eben jene, die der Grünschnabel verlangt hatte – in den Brunnen fallen. Schließlich wollte er ja auch nicht wagen, gegenüber dem Affenkopf knausrig zu wirken. Das gehörte sich irgendwie auch nicht, Dasein als Langfinger hin oder her. Alistair erhob sich daraufhin, warf einen letzten Blick um sich, ob er den Priester vielleicht irgendwo sehen konnte und ging dann. Zweifellos behielt der nämlich den ganzen Tag den Brunnen im Auge und fischte das Geld heraus, sobald der Gast weg war – damit kein anderer auf diese dreiste Idee käme. Doch wer sein ganzes Leben ausschließlich Lenikki verschrieb, der war fast unsichtbar. Vom Priester fehlte jede Spur und der Nordmann nahm es hin. Er schritt wieder über den schwarzweiß gefliesten Marmorboden und bestaunte mit dergleichen, fast kindlich-unvoreingenommenen Begeisterung die zahllosen Skulpturen, die sich vor den Eingängen der Kammern erhoben. In Lumiéls Tempeln fand man nur sehr selten Abbildungen der Gottheiten. Hier jedoch markierte eine eindeutige Statue jeden Torbogen und gab damit Auskunft darüber, zu wem man hinter diesem Tor beten konnte. Natürlich waren die Männer alle stattlich gebaute, imposante Figuren und die Frauen rank und schlank. Ein wenig bezweifelte Alistair dieses Bild ja. Es gehörte sich nicht, über solche Sachen nachzudenken – sagten die Alten zumindest. Aber es kam ihm seltsam vor, das Damaste wie ein kleines Schulmädchen wirkte. Sie, die sie mit ihrer Macht die Familien beschützte. Sie sollte nicht aussehen, als würde sie sich an Mermerus Flanke klammern und gleich 'Beschütz mich!' quieken. Eher eine erhabene Frau voller Würde und Stolz, einer Königin vielleicht ähnlich. Und Phylia? Seit wann trug die bitte Kleider? Zweifellos hatte der Bildhauer zu viel Scheu oder hatte es gar so als Auftrag erhalten, sie zu verhüllen. Doch die Dryaden, die in ihrem Namen die Wälder und Ländereien der Welt bewachten, die neigten auch nicht gerade dazu, sich zu bedecken. Vermutlich schien es nicht geziemlich, eine splitternackte Frau in einer altehrwürdigen Halle aufzustellen. Das Arimasper dagegen einen Hammer trug und kein Schwert, war wohl eine Auslegungssache. Ulthwe besaß die weltbesten Hammerschmiede – zweifellos war es aus ihrer Warte völlig in Ordnung, dieses eher unwichtige Detail etwas zu verfälschen, um darin ihren Nationalstolz zum Ausdruck zu bringen. Während er so durch die nur leicht belebte Halle schritt und die Statuen studierte, bemerkte er mit einem leisen Rumoren erstmals, dass es wirklich langsam Zeit wurde, etwas zu essen. Er hatte zwar gut gefrühstückt, aber inzwischen ging es schon straff auf den Nachmittag zu und er hatte nichts zum Mittag bekommen. Schweinerei eigentlich! Der Langfinger beschleunigte seinen Schritt etwas und streifte schon kurze Zeit später wieder durch die Gassen, hier und da mit einem charmanten Lächeln einen Herrn nach dem Weg fragend. Er hätte natürlich auch die Damen ansprechen können. Aber mit den fetten Walküren und Waschweibern wollte er eigentlich nicht viel zu tun haben und im Gespräch mit den hübschen Maiden bekam er nur sehr selten ein paar anständige, vernünftige Sätze heraus. Eine leidige Sache, die ihm schon seit Jahren zu schaffen machte. Auf dem Markt angelangt, stellte er rasch fest, dass hier nicht unbedingt das gehandelt wurde, was er sich erwünschte. Pfannen, Hämmer, Schwerter, Rüstungen, Hufbeschläge, der ganze Markt war voller Stände für Eisenwaren. Natürlich, hin und wieder mischte sich ein Juwelier oder ein Schmuckhändler ein, gelegentlich verstreut fand man auch Stände, die etwas entfernt Essbares anboten, doch der Anblick dessen und der stetige Geruch von Metall, der in der Luft lag, raubten ihm irgendwie den Appetit. Das hier war eindeutig kein Ort, an dem er länger als nötig verbleiben wollte. Dementsprechend begann das Spiel von Neuem und dieses Mal fragte er sich lieber gleich zum Gasthaus durch. Sein Plan war sowieso der Alte – er würde sich einquartieren, würde mit sicherem Auftreten und freundlicher Miene aushandeln, im Nachhinein bezahlen zu dürfen und sich dann über die Dächer davon machen. Das hatte bisher immer geklappt. Warum auch für ein Zimmer zahlen, wenn man es mehr oder minder kostenlos bekommen konnte? Er fragte sich bis zu seinem Ziel ein weiteres Mal quer durch die halbe Stadt, ehe er vor dem richtigen Gebäude zum stehen kam. Das 'zum grünen Bullen' war angeblich ein Gasthaus gehobener Mittelklasse. Im Grunde hieße das, dass man die Bettler und Gauner weitestgehend draußen zu halten versuchte, anständige Mahlzeiten und brauchbares Bier servierte, Adlige und Reiche darin jedoch trotzdem kaum finden würde. Alistair war das relativ gleich – er war schließlich nicht hier, um sich eine weitere Gelegenheit auszusuchen, sondern, um für ein Dach über dem Kopf zu sorgen. In einer Stadt zu sein und draußen schlafen zu müssen war mehr als nur lästig. Er erinnerte sich noch an eine solche Nacht, in der er Unterschlupf in einer Scheune gefunden hatte. Dann war durch einen Streit zwischen dem betrunkenen Hausbesitzer und dem herum hurenden Eheweib Feuer ausgebrochen und er musste umziehen. Aber auch der Dachboden eines Hauses am anderen Ende der Stadt bot kaum Möglichkeiten, ruhig zu schlafen – in dieser Nacht hatte er mehr Meter gelaufen als Minuten geruht. Einfach schrecklich. Als er die Tür zum Schankraum aufstieß, bemerkte er mit einem zufriedenen Lächeln, dass sich manche Dinge einfach in allen Ländern bewährten. Die Pforte führte direkt zu einem Saal voller Tische und Stühle, in dessen Zentrum ein ausgefallener Kamin stand, der zu allen vier Seiten offen lag und heizte. Natürlich gab es auch einen Tresen mit ordentlich hohen Barhockern, hinter dem ein breiter, kräftig gebauter Wirt mit kahlem Schädel und breitem Geschäftslächeln an einem Fass den nächsten Krug abzapfte. Was natürlich auch nicht fehlen durfte, war die ansehnliche Magd, die mit drallem, aufgeschnürtem Busen mehr Augenweide bot als mancher der Anwesenden zu verkraften schien. Alistair hatte das nie in einem nennenswerten Maß beeindruckt – weder diese überborderte Weiblichkeit, noch deren schamlose Zurschaustellung. Er schloss die Tür hinter sich und sprach den Wirt leise, aber freundlich an. Wie immer schaffte er es mit Geschick und dem Eindruck eines harmlosen Bürgers, sich ein Quartier zu ergaunern, dass er erst am Tag seiner Abreise würde zahlen müssen. Einziger Haken: Das Essen und Trinken musste er wie alle anderen sofort ableisten. Nun gut, damit konnte er leben. Ulthwe war zwar vergleichsweise etwas teurer, was Lebensmittel anbelangte, aber dafür lag die Qualität auch entsprechend höher. Glückliche Kühne und Schweine oder irgendwie so etwas hatte ihm mal ein Betrunkener zu erzählen versucht. Noch während der Dieb auf seinen Krug mit Traubensaft und den Zimmerschlüssel wartete, ließ er seinen Blick durch die Runde schweifen. Trinker, gute Esser, ein Trickser drüben in der Ecke, der gerade eine kleine Bande Halbwüchsiger nach Strich und Faden ausnahm. Ein oder zwei Leute sahen aus, als könnten sie Beutelschneider sein, aber da wollte sich Alistair nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Tavernen waren, das stimmte durchaus, ein Sammelplatz für seinesgleichen. Viele Händler, hin und wieder Adlige – es gab immer eine Chance und hier fand man sie am leichtesten. Aber die Händler und Wirte wussten das natürlich ebenso. Vermutlich lag es daran, dass der Besitzer dieses Hauses so missmutig drein sah, als er dem Nordmann beides übergab und derweil etwas unaufmerksam zu dem Kartenspieler herüber schaute. Dem Langfinger war es indes egal, er hatte etwas viel Spannenderes bemerkt. Da saß eine Elbe im Raum. Seine Faszination für dieses Volk war eines der wenigen Dinge, die in all den Jahren keinen nicht unerheblichen Schwankungen unterworfen worden war. Stetig und konstant hatte ihn diese Rasse wieder und wieder angezogen. Ihre Kunst, ihre Musik, ihre Kampffertigkeiten, ihre Magie – ihr elegantes Aussehen. Doch diese Elbe, das sah er auf den ersten Blick, war anders. Deutlich anders! Sie trug eine Rüstung. An sich nicht verwunderlich, doch Elben waren nie sonderlich kräftig gebaut und bevorzugten daher leichte Kettenhemden oder Lederpanzer. Diese aber saß dort in einer schweren Plattenrüstung, eine Armbrust auf dem Rücken statt des üblichen Bogens und ein beeindruckendes Schwert an der Flanke. Sie trank mit einer Runde von Männern um die Wette, den sechs leeren Krügen vor ihr nach zu urteilen, und scheute sich nicht, zu rülpsen, wenn ihr das notwendig schien. Wann traf man schon in einem von Menschen dominierten und regierten Land auf eine schwer gepanzerte Elbe, die mit anderen Menschen völlig bar aller Manieren um die Wette trank? Alistair war mit einem Schlag völlig fasziniert von ihr. Zumal sie ein reichlich exotisches Aussehen hatte. Die langen, silberfarbenen Haare, die zwar schlanken, für eine Elbe aber dennoch kräftigen Konturen – sie imponierte ihm. Der Dieb nahm sich seines Kruges und Schlüssels an, ehe er sich einen Platz suchte, der seiner würdig war: In der Ecke des Raumes. Eine Wand sicherte ihm den Rücken, er hatte Blick auf die Tür und die gesamte Schenke, durch das Fenster auf der zweiten Wand konnte er hinaus sehen – und notfalls auch hinaus flüchten. Dennoch galt sein ganzes Interesse dieser Elbe. Wie fast alle, die in ihrem Leben noch nie bestohlen worden waren, trug auch sie töricht wie sie war, ihren Beutel an einer kleinen, ledernen Schnur direkt an ihrem Gürtel. Sieht voll aus... ging es dem Nordmann durch den Kopf, während er das kleine Ledersäckchen begutachtete. Er wandte neugierig den Blick, als die Tür sich erneut öffnete. Ein Bursche trat ein, etwas breiter als die Tagelöhner, gut zurecht gemacht. Sicherlich der Lehrling eines Schmiedes oder Handwerkers. Vor sich trug er einen Strauß Blumen einher, in sanftem Violett gehalten. Interessiert beobachtete der Langfinger, wie der Bursche sich durch die Tische schlängelte und direkt auf die Elbe zuhielt. Es war merkwürdig, zu sehen, wie eine Frau nicht vor Begeisterung aufsprang, sondern ihre Statur sich zunehmend verhärtete, so als sei sie... wütend? Der Jüngling begann etwas von der Schönheit ihrer Augen zu faseln – und nur Sekunden später schreckte sogar Alistair kurz zusammen, als ihre Faust sich völlig gnadenlos in seinen Bauch bohrte. Er ging keuchend auf die Knie, hielt mit zitternder Hand noch immer den Strauß fest, bis sie seinen Hemdkragen packte und ihn ruppig herab zerrte. Seine Stirn kollidierte mit der Bank und erst, als er ächzend zur Seite umkippte, verteilte sich der sich auflösende Strauß am Boden. Ei, was hatte die doch für Feuer! Völlig fasziniert, wenngleich auch mit gehörigem Respekt, beobachtete der Langfinger, wie das Opfer sich langsam kriechend davon machte, wieder aufrichtete und schließlich sichtlich gedemütigt durch die Tür wieder entschwand. Die Elbe hingegen orderte den nächsten Krug, warf noch einen letzten, abfälligen Blick auf die Blumen, ehe sie sogar darauf spukte. Das war eine unorthodoxe Reaktion, die Merkwürdigste gar, der er je hatte Zeuge werden dürfen! Normalerweise begannen die Weiber an dieser Stelle doch, dahin zu schmelzen und den Liebeshymnen ihrer Verehrer voller Begeisterung und verklärten Blickes zu lauschen... oder nicht? Als der neue Krug ankam, leerte sie ihn scheinbar bis zur Hälfte in nur einem Zug. Eindeutig – sie war wirklich und wahrhaftig anders als alle Elben, denen er bisher begegnet war. Alistair wurde sich nicht einmal bewusst, dass seine Neugier keinen Schwung verlor. Erst als die Magd mit einem breiten Lächeln das bestellte Essen vor ihm ablud, riss er seine Aufmerksamkeit notgedrungen los. „Ah, habt Dank, meine Dame.“ ließ der Dieb ihr lächelnd zuteil werden. „Kann eure Dame denn sonst noch etwas für euch tun?“ erwiderte die Magd mehrdeutig lächelnd. Allein, wie sie kurz bei 'eure Dame' gekichert hatte und die Art, wie sie ihn nun ansah, sorgten ohne jede Mühe dafür, dass Alistair sich mit einem Schlag mehr als unwohl fühlte. Nicht, dass er Vorurteile gegen leichte Mädchen hatte – keineswegs. Sie waren gerade in Sundergrad der Diebe beste Freunde gewesen. Wenn man kein Quartier für die Nacht fand, ging man in das Bordell. Nicht der Mädchen wegen, sondern, weil die Diebe dort gern gesehen waren. Es gab... Absprachen. Manche Gäste fanden ihre Geldbörsen einfach nicht wieder, aber die Weiber konnten daran unmöglich Schuld sein. Und im Gegenzug für Quartier und – sollte die Wache tatsächlich mal ihrem Dienst nachkommen – Versteck, wurde den Mädchen eben hin und wieder ebenso geholfen. Wenn ein Freier mal ungemütlich wurde, wenn ein Konkurrent frech wurde, oder sie bekamen ihre Dienste einfach von der Gilde ausbezahlt. Doch dieses Weib war eine Magd, keine Hure, und das hier war nicht Sundergrad. Demgemäß war ihm durchaus bewusst, worauf das Ganze hinauslaufen sollte. „Ich... ähm... also... wisst ihr... ich äh... ich...“ stammelte der Dieb vor sich hin. Er wollte nicht unhöflich scheinen, bei den Göttern, aber wie sollte er sie los werden, ohne sie vor den Kopf zu stoßen? Frauen waren bei soetwas... nun ja... empfindlich. Gerettet wurde er schließlich, als der Wirt nach ihr rief, gab es doch noch weitere Kunden, die bedient werden wollten. Mochte sich, so hoffte Alistair, ein anderer erbarmen und ihr diese Nacht Wärme und einen Grund zum aufschreien bieten. Allein von dem Gedanken fröstelte er einen Moment, ehe er Messer und Gabel packte und im Braten versenkte. Das Wundervolle an Ulthwe waren also glückliche Schweine. Nun ja, wie maß man denn, ob ein Schwein glücklich war? So ganz kam er dabei nicht zu einem stichhaltigen Ergebnis, aber der Braten war einfach wunderbar. Das Fleisch zerfiel auf der Zunge in seine Fasern und die Soße war würzig, ohne schwer oder fettig zu sein. Ein wahrer Genuss. Selbst dem Saft schmeckte man an, dass er nicht aus jahrelang abgestandenen Fässern stammte. Als der Abend sich nahte, empfand Alistair es langsam als angemessen, den Tag zu beenden. Er war gesättigt, draußen zog die Nacht auf und der Tag hatte ihn etwas träge werden lassen. Vorsichtig erhob er seinen Teller samt des Kruges. Er würde ihn selbst abgeben – Hauptsache, er musste nicht wieder mit dieser Magd reden. Entsprechend buxierte er ihn an den Tischen vorbei, die sich im Laufe der letzten Stunden doch ein wenig mehr gefüllt hatten und stellte beides auf dem Tresen ab. Das dargebotene Geld nahm der Wirt dankend entgegen, das Geschirr ließ er noch stehen. Auf seinem Weg dorthin jedoch war Alistair der frei baumelnde Geldbeutel der Börse wieder aufgefallen, hatte sein Weg ihn doch unweigerlich an ihr vorbei geführt. Inzwischen standen auf dem Tisch auch so viele Krüge, dass sie sich zweifellos restlos abgeschossen hatte. Ihre 'Gegenstreiter' tranken nicht mehr, die lagen teilweise schon auf oder unter dem Tisch und schliefen ihren Rausch aus. Die Gelegenheit war einfach perfekt. Es würde den Abend gut abrunden... und man sollte ja einem geschenkten Gaul bekanntlich nicht ins Maul schauen. Entsprechend tat er, als würde er seinen Tisch wieder aufsuchen wollen. Einen langsamen Schritt vorgebend, hatte er es ja nicht eilig, fand sich auch zügig ein Plan ein. Vorbei gehen, mit der kleinen Fingerklinge das Lederband durchtrennen, den Sack geräuschlos abfangen, weiterlaufen, Klinge und Säckchen vor seiner Flanke halten, sodass sie beides nicht zu Gesicht bekäme. In der Theorie ein guter Plan, geschah schließlich das, was Alistair nie erwartet hätte, das, was er für schlicht unmöglich gehalten hatte. Er griff soeben nach ihrem Geldbeutel, hatte schon eine kleine, aus leichten Metallen gefertigte Fingerkuppe auf dem Zeigefinger aufgesetzt, die einen scharfen Dorn als Schneidewerkzeug trug, als die Elbe plötzlich herum fuhr. „Unmöglich...“ brachte Alistair noch völlig überrascht hervor, ehe ihn die Kopfnuss der Elbe traf. Ein Schmerzblitz, er fühlte sich geblendet, sein Schädel dröhnte und nur mit Mühe fand er das Gleichgewicht, nach dem Zurücktaumeln nicht zu stürzen. Die Elbe aber war mit einer einzigen, fließenden Bewegung auf den Beinen. Wie in Lenikkis Namen konnte dieses Weib überhaupt noch stehen? Sie hatte praktisch fast ein ganzes Fass allein getrunken! Die Frage beschäftigte ihn selbst dann noch, als ihn ein Leberhaken übel traf und auf die Knie schickte. Ihr Tritt hingegen verfehlte sein Ziel. Alistair hatte seine Gedanken und Überlegungen bei Seite geschoben – es galt nun, erstmals zu entkommen. Eine Lektion, in der er sich schon lange nicht mehr hatte üben und beweisen müssen. Drei wuchtigen Schlägen und einem weiteren Tritt konnte er mühelos ausweichen. Er war flink und geschickt, trotz der beengten Verhältnisse. Das Problem war jedoch, dass jedes Mal, wenn er ihr entging, ihre Wut angefacht zu werden schien, was ihre Attacken nur noch verstärkte. Stille herrschte außerhalb des Gasthauses, die Stadt hatte sich langsam aber sicher zu Bett begeben. Die Märkte waren verwaist, die Wächter an den drei Stadttoren hielten still die erste Schicht ab und die meisten braven Bürger schliefen schon. Dann jedoch durchdrang das Geräusch des zerklirrenden Glases die Ruhe – und Alistair log in ansehnlichem Bogen durch das Fenster der Schenke nach draußen. Nach einer überaus unsanften Landung blickte er zu den Sternen auf. Ein schöner Anblick. Sie wirkten so nah und doch so fern, so friedlich. Fast hätte es ihn verlockt, darin ein paar Figuren zu suchen, so wie die Kinder immer irgendetwas in die Wolken hinein deuteten. Dann jedoch erinnerte er sich seiner Situation. Nun ja, die Elbe hatte ihn auf seinen Platz verwiesen und rausgeworfen. Damit war die Sache wohl erledigt. Schade eigentlich, nun müsste er wieder improvisieren, was seinen Schlafplatz anging. Langsam stützte Alistair sich mit den Ellbogen vom Boden ab. Ob es wohl noch ein anderes Gasthaus in der Stadt gab? Plötzlich wurde die Tür scheppernd aufgeworfen. Mit harschen, schweren Schritten kam die Elbe auf ihn zu und der Dieb begann zu begreifen, dass die Sache eben nicht erledigt war – zumindest nicht für sie. Sie packte den Kragen seines Hemdes, verdrehte ihre Faust und damit den Stoff und zog ihn ein Stück vom Boden hoch, nur um mit der freien Faust auszuholen. Oh das wird wehtun...! waren seine letzten Gedanken, ehe er das Bewusstsein verlor. „Verdammt, tut das weh!“ waren seine ersten Worte, kaum, dass er wieder zu sich kam. Schon als sein Bewusstsein vorsichtig die Fühler ausgestreckt hatte, war er fast schreckhaft aufgefahren und hatte es sofort bereut. Die Kopfschmerzen waren enorm und sein Schädel dröhnte noch weit schlimmer als nach ihrer Kopfnuss. Er versuchte sich einen klaren Verstand zu verschaffen, massierte über seine Schläfen, ehe er die Beine vom Bett herab schwang und dabei erstmals bemerkte, dass er in einem Bett gelegen hatte. Wo war er? Vorsichtig sah er sich um und der Schleier klarte langsam auf. Steinboden, Steinwand, Steinwand, Steinwand, Steindecke, Gitterstäbe, Bettgestell, Schreibtisch, Stuhl, Ei- Gitterstäbe? Langsam und ohne jede Hast erhob sich Alistair auf die Füße und blickte sich um. Nun, ganz offenkundig hatte ihn irgendjemand bei der Wache abgeliefert. „Oh das ist gut.“ merkte der Langfinger an und lächelte zufrieden. Immerhin besser, als hätte sie ihn ausgeraubt und liegen lassen. Obwohl er nicht zweifelte, dass die Wachen sehr aufmerksam seinen Besitz 'studiert' hatten, als man ihn hierher brachte. Wehe, wenn die seinen Dolch eingekreist hätten! Der gehörte ihm. Vorsichtig näherte er sich der ersten Wand, hinter der er den Himmel sehen konnte. Tatsächlich stellte er sich auf die Bank und just in diesem Moment grollte der Himmel, während die ersten Tropfen zu fallen begannen. Irgendwann am Abend musste es also begonnen haben, sich stetig zuzuziehen. Aber halt – hatte er nicht vorhin noch Sterne gesehen? Herrje, wie lange war er nur weggetreten? Zumindest hatte er nun einen Grund mehr, dankbar zu sein. Hier drinnen war es relativ warm und er war vor dem einsetzenden Regen geschützt. Außerdem hatte er einen schönen Blickwinkel auf das Gasthaus. Offenbar hatte man das zersprungene Fenster mit einer Reihe nicht perfekt abschließender Holzbretter vernagelt. Zwischen den Schlitzen drang noch immer das Licht heraus. Langsam wandte er sich der Zellentür zu und begutachtete diese. Das Schloss kannte er. „Ist da jemand?“ fragte er frei heraus und tatsächlich antwortete ihm jemand. Eine wohlbekannte Stimme. „Ja, du Idiot. Dank dir ist hier jemand.“ Ah ja, der Grünschnabel von heute Mittag. Wie schön, dass sie ihm noch nicht die Hand abgehackt hatten. Das war in Ulthwe die reguläre Strafe für Diebe und Wegelagerer. Natürlich verband man die Wunde sorgfältig, es sollte ja kein Todesurteil werden. Aber zumindest sollten die Leute leiden für ihre Taten. Leider verhinderte jede noch so gute Versorgung nur selten, dass die Wunde sich infizierte und Zeit ihres Lebens schrecklich schmerzen würde. Alistair war das Schicksal, das ihn erwartete, für den Moment jedoch egal. Die Elbe beherrschte seinen Kopf – und das nicht nur durch den Schmerz, der darin noch immer pochte. Wie hatte sie das geschafft? Niemand, bei Lenikkis grinsender Visage, niemand hatte ihn je erwischt! Er hatte alles beklaut. Elben, Zwerge, Menschen, Gnome, Goblins, sogar mal einen Ork, er hatte Bettler beklaut, Adlige, Huren, Wächter, Soldaten, alles und jeden. Und sie? Vollgesoffen bis unter den Scheitel, aber so zielsicher wie ein Pfeil von elbischer Sehne und so wuchtig wie der Hieb eines Ork. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen, oder? War sie eine Hellseherin? Hatte sie seinen Versuch erkannt? Hm nein, Hellseherei war Humbug. Oder vielleicht war sie ja... nein auch nicht. Zumindest ließ ihm das einfach keine Ruhe. Er musste einfach herausbekommen, wie sie das angestellt hatte. Ein dumpfes, entferntes Geräusch riss ihn schließlich aus seinen Gedanken. Zum 'Fenster' zurück gesprungen, sah er eben diese Elbe das Gasthaus verlassen und in Richtung des Stadttores davon ziehen. Nun ergriff ihn doch die Hektik und er bekam es plötzlich mit der Eile zu tun. Sie durfte nicht einfach so gehen, er musste doch vorher noch herausfinden, wie sie das angestellt hatte! „Glaubst du, Lenikki mag dich?“ erkundigte sich der Langfinger bei seinem Landsmann, während er aus einer eingenähten Stelle seiner Kleider eine Nadel hervor zog und damit im Schloss herum zu puhlen begann. „Heute vielleicht nicht. Falls ich es hier raus schaffe, dann morgen vielleicht wieder.“ erwiderte der Grünschnabel und entlockte dem Nordmann ein zufriedenes, schelmisches Grinsen. So war's Recht – nie auf die Sympathie des Affenkopfes spekulieren, nie sich darauf verlassen, dass er wohlwollend war. Aus diesem Dummkopf könnte noch etwas werden... aber dazu würde er seine zwei Hände behalten müssen. Alistair knackte ohne große Mühe das Schloss und verschwand unter den sichtlich irritierten Blicken seines 'Kameraden' im Vorraum, wo die Wache ihren Dienst verrichtete. Als er mit dem Schlüsselbund zurückkehrte, offensichtlich auch mit all seiner Habe, wuchs das Erstaunen des einstigen Anführers nur noch mehr. „Die Wache war kein Problem, der schläft.“ winkte Alistair ab, ehe man ihm hier irgendwelche Kräfte oder Fähigkeiten zuzuschreiben begann, „Du solltest dir fähigere Mitarbeiter suchen. Oder besser noch, versuche es zunächst allein. Übe da, wo du schnell entkommen kannst. Auf Märkten oder als Mitglied von Karawanen.“ Eigentlich wusste er auch nicht so ganz, warum er diesem Narren Tipps gab. Ob er sie nutzen könnte, war sowieso mehr als fraglich, aber... vielleicht hatte er ja eine zweite Chance verdient. Mochten die Götter das beurteilen! Zu zweit schlichen sie aus dem Haus der Wache heraus, unbemerkt und ungestört. Während sie sich still und einvernehmlich trennten – ganz ohne Dank – zog der Grünschnabel in Richtung eines ihm bekannten geheimen Schwachpunktes in der Stadtmauer davon, während Alistair völlig unbekümmert seinen Wegezoll am Tor entrichtete, sich einen letzten Lohnsack einer Wache vereinnahmte und dann so rasch wie möglich dem Pfad folgte. Es dauerte fast eine Stunde, und das bei diesem fürchterlichen Regen, bis er die Elbe eingeholt hatte. Sie bemerkte ihn, dessen war er sich völlig sicher, aber lange Zeit ignorierte sie einfach, dass er wie ein Schatten gut zwanzig Meter hinter ihr klebte. Als ihr das tief in der Nacht schließlich zu viel werden schien, hielt sie abrupt, kehrte um und baute sich vor ihm auf. Alistair war dieses Mal nicht zurück gewichen und obwohl sie erneut zuschlug und ihr Hieb ihn abermals auf die Knie schickte und nach Luft schnappen ließ, waren dies doch die ersten Worte, die sie wechselten, und damit ein Erfolg in seinen Augen. „Was muss ich tun, um dich wieder los zu werden?“ blaffte sie ihm sichtlich wenig erfreut über seine Gegenwart an. Natürlich wäre es dumm gewesen, ihr nun zu sagen, was sie dafür tun musste. Deshalb entschied er sich, etwas zu tun, das er nur sehr selten pflegte: Sich vorzustellen. „Mein Name ist Alistair.“ brachte er noch immer etwas keuchend hervor und wagte nicht, wieder aufzustehen. „Und warum sollte mich das interessieren?“ fuhr sie ihn abermals an. Doch als er weiterhin schwieg, schnaubte sie verächtlich, kehrte sich ab und hastete weiter des Weges. In den zahlreichen Tagen darauf versuchte sie mit allen Mitteln, ihn los zu werden. Sie marschierte wie ein Ork, der die rote Legion hinter sich vermutete. Sie schlief kaum, sie aß kaum, aber sie konnte ihn nicht abschütteln. Sie kreuzte durch Dörfer, versuchte es mit Winkelgassen, mit dem Gedränge auf Märkten, aber Alistair blieb ihr immer dicht auf den Fersen. Fast wunderte es ihn, dass sie ihn nicht einfach umbrachte. Oh natürlich hatte sie es ein paar Mal versucht. Drei oder vier Mal war sie umgekehrt, doch sie hatte ihn nicht zu packen bekommen. Irgendwie, angesichts der Dinge, die er in diesen Tagen von ihr sah, an ihr beobachtete, wirkten ihre Versuche, ihn zu fassen zu bekommen, auch recht lustlos und halbherzig. Er folgte ihr, gewiss, aber er kostete sie nichts, er verlangte nichts, sie musste nicht mit ihm reden und er mischte sich nicht ein. Ein lästiger Schatten vielleicht, aber am Ende doch nur ein Schatten. Das änderte sich jedoch, als sie ihrem Handwerk wieder nachzugehen begann. Sie war Söldnerin, wie er sich das so zusammen reimte. Menschen sprachen sie an, sie bekam manchmal einen Vorschuss, erledigte etwas – oder jemanden – und bekam den Lohn dafür. Die Leute, für die sie arbeiteten, sahen nicht unbedingt koscher aus, aber selbst wenn man sie zu betrügen versuchte, was durchaus einmal vorkam, wusste sie schon, wie sie an ihr Geld kam. Auf die gleiche Weise, so vermutete Alistair, hatte auch er 'fliegen gelernt'. Und dann, nach fast zwei Monaten, kam ein großer Auftrag. Was sie auf dem Anwesen dieses Kunstmäzens wollte, war dem Langfinger nicht ganz klar, doch er kannte sich mit solchem Gelände aus. Ohne ein Problem darin zu sehen, folgte er ihr über die hohe Mauer, schlich über den gut gepflegten Rasen und blieb immer außer Sichtweite der Wachen, die mit Bögen das Gelände patrouillierten. Natürlich fand er immer wieder Zeugnisse ihrer Gegenwart: Niedergeschlagene Wachen, breit getrampeltes Gras, tiefe Spuren ihrer Plattenstiefel. Sie war so unauffällig wie ein Troll, der sich zwischen Kendern zu verstecken versuchte. Er holte sie ein, als sie gerade die Eingangstür auftreten wollte. „Pssst, lass das!“ flüsterte er leise. Die Elbe senkte tatsächlich den Stiefel wieder, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn mehr als nur zornig an. „Was?“ keifte sie ungeduldig. Alistair schritt um die Ecke, hinter der er sich versteckt hatte und trat in den dämmrigen Schein einer kaum nützlichen Lampe, die über der Eingangstür baumelte. „Nicht bewegen, du stehst auf einem Auslöser.“ merkte er leise an und näherte sich vorsichtig. Die Elbe schien kein Wort zu verstehen, doch sie ließ ihn gewähren. Er näherte sich, kniete auf den Boden nieder und begann mit den Fingern vorsichtig ein paar feine Linien im Grund freizulegen. Erst da erkannte die Söldnerin das feine Gespinst von Drähten und Metallen. Mit je zwei Fingern drückte er bestimmte Stellen in den Boden und nickte ihr zu. „Jetzt weg.“ wies er sie leise an. Allein ihre Frage, ob er sich sicher sei – die zweifellos einzig ihrem eigenen Wohl galt – zeigte, dass sie noch nie mit Fallen in Berührung gekommen war. Zumindest nicht mit solchen. Allein um ihr zu beweisen, worauf sie da gestanden hatte, zog Alistair ein kleines Stück Holz herbei, richtete es so aus, wie er den Winkel vermutete – und ließ los. Ein kurzes Klicken, ein Zischen – und als er sich erhob, präsentierte er der Elbe das Holz, mit einem darin steckenden Metalldorn. „Die Spitze ist vergiftet. Mit viel Glück nur lähmend... mit Pech... naja...“ nuschelte er grinsend. „Glaub ja nicht, dass ich dir dafür was schulde!“ blaffte die Elbe ihn an und wollte ihn gerade sichtlich genervt von seiner Gegenwart zur Seite schieben, ehe Alistair ihrem Griff einmal mehr geschickt entkam – und sich wieder zwischen ihr und der Tür postierte. „Ich kann sie öffnen. Lautlos. Und spurlos.“ bot er ihr an. Zwar kam es ihm so vor, als würde sein schelmisches Lächeln sie nur noch mehr provozieren, aber vielleicht war es auch die Tatsache, dass er ihr subtiles Vorgehen anbot, obwohl sie direktes Ausüben von Gewalt gewohnt war. Immerhin mischte er sich gerade in ihre Belange ein. Etwas, das er zuvor peinlichst vermieden und damit diesen wackeligen Waffenstillstand hervorgerufen hatte. Doch er konnte einfach nicht zulassen, dass sie starb. Schon gar nicht durch eine Falle, die so trivial war, dass man sie mit zwei Fingern und ohne Werkzeug aushebeln konnte. Erst musste er herausfinden, wie sie es geschafft hatte, ihn zu erwischen. Die Situation mit der Falle zeigte ihm zumindest, dass sie hellseherisch so begabt war wie ein Stein im eigenständigen Fliegen. Mit einem abfälligen Schnauben und einer jovialen Geste lud sie ihn ein, sich am Schloss zu versuchen und wenige Augenblicke, nachdem Alistair sich vor den Mechanismus gekniet hatte, kapitulierte das Schloss vor ihm und die Tür sprang auf. Natürlich war die Elbe nicht begeistert, nicht überrascht, nicht dankbar. Aber allein dieses leichte Verziehen ihrer linken Augenbraue genügte ihm für den Anfang völlig. Der Langfinger war stolz auf sich, so stolz, wie er beim knacken eines so leichten Schlosses schon lange nicht mehr war. Ihr Blick wanderte vom Schloss zu der Falle am Boden und dann wieder zu ihm und dem Schloss. Sie spähte hinein, in einen langen Gang mit rotem Samtteppich, edlen Gemälden an den Wänden und Skulpturen. Es war fast, als könne er ihre Gedanken lesen, nur anhand des Blickes ihrer exotischen, violetten Augen. Sie überlegte, ob es noch mehr solcher Fallen hier geben könnte. Das Haus sah aus, als gehörte es einem Reichen. Und wo viel Geld war, war auch viel Bedürfnis nach Schutz. Dieses schmächtige, lästige Männlein hatte sich jedoch für den Anfang, trotz seiner fürchterlich enervierenden Eigenheiten, als nützlich erwiesen... „Alistair, hm?“ brummte ihre Stimme sichtlich unzufrieden. Der Dieb hingegen nickte breit grinsend. „Ashes.“ ließ sie ihn ihren Namen wissen, ehe ihre Hand ihn an der Schulter packte, umdrehte und in den Gang hinein stieß. „Gewöhn' dir dieses dämliche Grinsen ab.“ maulte sie noch leise, bevor die Tür ins Schloss fiel. In dieser Nacht rettete der schmächtige, lästige und fürchterlich nervige Bursche ihr mehr als nur ein Mal das Leben, ebenso, wie sie ihm die Haut rettete. Beiden war es mehr als unangenehm, doch als sie mitsamt der Beute das Gelände unbehelligt verließen, kein Alarm ausgelöst, keine Wachen auf ihren Fersen, da begannen sie einzusehen, dass sie sich als überraschend gutes Team bewiesen hatten – ein Umstand, der beiden noch viel weniger passte. Sie waren Einzelspieler. Ashes hatte immer allein ihre Kämpfe bestritten. Und Alistair hatte immer allein seine Kämpfe... zu vermeiden gewusst. Die Elbe löste ihren Auftrag ein, empfing ihre Bezahlung und behielt alles für sich. Der Dieb blieb an ihr kleben wie ein Schatten, nur lief er jetzt keine zwanzig Meter mehr hinter ihr... sondern nur noch fünf. Schon den dritten Auftrag danach nahmen sie gemeinsam an und teilten den Lohn drei zu eins auf – ein Verhältnis, das Alistair zwar nicht passte, aber anders als die Elbe brauchte er nur durch eine Gasse voller Menschen laufen, um reich am anderen Ende anzukommen. Das dämliche Grinsen jedoch gewöhnte er sich nie ab... Kapitel 20: Odyssee nach Tarmodyr --------------------------------- Schweigend saß sie auf dem Boden. Zugegeben, bar aller Kleidung war es ein wenig... unbequem. Orykene hatte als Jägerin ihres Volkes einen recht schlanken Körperbau, ein unangenehm spitzes Becken, das nun, unabhängig von ihrer Sitzhaltung, irgendwann nach ein paar Minuten immer zu schmerzen begann. Daran hätten diese Idioten wenigstens denken können, aber offenkundig scherte sich niemand weiter um ihr Wohlbefinden. Sie lauschte lediglich. Dem Trubel dort draußen. Stimmengewirr, manchmal Befehle, manchmal Gelächter. Einige rissen Witze über Delilah, andere sprachen ihr Misstrauen und ihre zeitgleiche Bewunderung für Nashatal aus. Vermutlich war das nicht weiter verwunderlich: Die Dryade war etwas, das Menschen nur aus Geschichten und Märchen kannten. Selbst die großen Haine Lumiéls wie der Stille Wald, die über eine eigene Dryade verfügten, waren so angelegt und organisiert, dass sich die Herrin dieser Tiere und Pflanzen nie Fremden zu Gesicht kommen ließ, außer, es gab dafür gute Gründe – und die gab es selten. So waren die Hüterinnen der Gesetze Phylias nach und nach in Vergessenheit geraten und zum Status eines Mythos aufgestiegen. Und jetzt wandelte eine von ihnen hier an Bord herum. Sie mussten sich nicht mehr verstecken: Die Mannschaft dieses Schiffes hatte von Anfang an gewusst, wen sie transportieren würden. Vermutlich war das auch der Grund, warum sie so lange hatten warten müssen. Abgesehen davon, dass Lumiéls Verteidigung hauptsächlich zur See ablief, das Bündnis mit den Piraten in Sundergrad ein wenig wackelig war und sie jede noch so kleine, hochseetaugliche Schaluppe gebrauchen konnten, war es obendrein schwer, bei diesen von Seemannsgarn verseuchten Idioten von Seefahrervolk ein paar zu finden, die bereit waren, Frauen zu befördern. Anders als bei den triebgesteuerten Crewmitgliedern – was wohl die Mehrheit war – stellte ihr Erscheinen den Kapitän vor noch mehr Probleme. Es war offensichtlich, dass die Dryaden ihren Legenden entsprachen. Sie waren Frauen von kleinem Wuchs, sehr stolz, mächtige Wesen, die ihre Füße im Namen einer Göttin auf diese Welt setzten – und sie liefen nackt umher. Als Teil des natürlichen Kreislaufes besaßen die Hüterinnen keinerlei Verständnis für die Notwendigkeit, sich zu kleiden. Kleidung störte in aller Regel, doch für den Kapitän des Schiffes bedeutete das, dass er seine Crew dringend bei Laune halten musste – sonst gäbe es schneller Tote, als man 'im Handumdrehen' sagen konnte. Nashatal war da ein guter Zusatz gewesen. Nicht, dass man Tieflingen mehr vertraute, keineswegs. Aber der Barde war genau das, was es an Bord so dringend benötigte: Ablenkung, Zerstreuung, Wohlgefallen. Er und seine Flöten und Trommeln und Streichinstrumente, man gab ihm etwas in die Hand und er lernte es zu spielen. Sogar die Orgel in der Kabine des Kapitäns beherrschte er inzwischen. Nashatal gab kleine 'Konzerte', er begleitete die allabendlichen Poker- und Würfelspiele mit Musik, er veranstaltete kleine Tanzabend und manchmal, wenn ihm danach war, bot er ein paar Einlagen, die wahrlich nur Tieflinge bieten konnten. Ihnen war die Magie von Täuschung und Illusion zueigen, es war also nicht schwer für ihn – so vermutete Orykene zumindest –, Phillipe darzustellen, wie er einen kräftigen Klaps auf den Hintern bekam, von einer drallen Amme, die ihn schlicht übers Knie gelegt hatte. In diesen Momenten hörte Orykene das Grölen und Dröhnen der Stimmen bis hier herab dringen, bis in den tiefsten Bauch des Schiffes. Inzwischen hatte sie einen Weg gefunden, mit dem verdammten Tiefling auszukommen. Sie mochte ihn nicht, das würde sie nie bestreiten, aber sie kam mit ihm aus. Er war ein Mann – das war schon sein erster Fehler. Praktisch eine Art von Geburtsmakel, fast wie eine fürchterliche, grässlich entstellende Behinderung. Der Hass auf alles Männliche war den Harpyien inzwischen, im Verlaufe so vieler Jahrhunderte, tief in Blut und Fleisch übergegangen. Und die Brutmütter, die für die Lehren und erzieherischen Methoden in ihrem Hort und damit essentiell für das Denken all ihrer Schwestern verantwortlich waren, taten nichts, um diesen Hass zu zerstreuen. Im Gegenteil, sie schürten ihn, sie ließen ihn nie verebben, nie sich beruhigen. So war auch Orykene in dem Glauben aufgewachsen, dass es kaum unwerteres Leben gab als das eines Mannes, dass selbst Tiere nicht so triebgesteuert sein konnten, das kein Mann je der Arbeit einer Frau gerecht werden könnte und dass selbst das hinterhältigste Grinsen nicht so nutz- und ehrlos sein konnte wie das Wort eines Mannes. Eine schwere Last, die gerade zu Beginn viel gewogen hatte. Nashatal war, irgendwie, gut mit der sonst so scheuen Delilah ausgekommen. Orykene konnte nicht behaupten, dass sie verstand, wie das hatte geschehen können. Die Hüterin scheute vor Menschen, vor Häusern, vor verarbeitetem Holz, vor schier allem. Vermutlich aber hatte der Tiefling sie einfach mit seinen dämlichen Stickereien von irgendwelchem Beutegetier beeindruckt. Aber sie kam mit ihm aus. Nashatal war ein Barde, das behauptete er immer wieder. Aber Tieflinge in ihrer Natur waren nun einmal neugierig und besaßen dieses unbestreitbare Talent, ihren neugierigen, oftmals nur gedanklichen Fragen auch eine befriedigende Antwort zu verpassen. Sie waren einfach dazu geboren worden, Informationen zu erlangen. 'Dinge' in Erfahrung zu bringen. Orykene als Jägerin ihres Volkes kannte viele Sitten und Bräuche der Menschen, aber wann immer sie sich offen zeigte, misstraute man ihr – nicht grundlos. Sie fraß für gewöhnlich Menschen, jagte sie, trank ihr Blut, verschwendete nichts vom Körper eines Beutetieres. Trotz all der Bemühungen, die Beute besser kennen zu lernen und zu verstehen, um sie noch effektiver jagen zu können, war ihr nicht einmal ein Bruchteil der menschlichen Traditionen und Gepflogenheiten bekannt. Nashatal dagegen hatte sich über viele Jahre hinweg heimlich eingefügt. Er bekam immer Antworten, mal so, mal so. Er trank mit jemandem, der etwas wusste, bis dieser zu sehr vom Alkohol vergiftet war, um noch klar denken zu können. Er spielte Würfel gegen einen, der etwas besaß und machte den erhofften Gegenstand zum Wetteinsatz. Ja, das Geschick der Tieflinge darin, etwas zu erlangen, war unbestreitbar. Und Orykene wusste ihrerseits, dieses Geschick zu nutzen. Genau das war die Basis, warum die Zwei überhaupt miteinander auskamen. Schon so oft hätte sie ihm nur zu gern die Kehle aufgerissen. Er balzte mit Delilah – immer noch. Jahre später, Jahre nach ihrem Kennenlernen. Zur Paarung war es noch nicht gekommen... vermutete Orykene zumindest. Delilah hatte kein Zeichen von Schwangerschaft oder Geburt gezeigt, aber vielleicht war die Dryade so sehr Teil des natürlichen Gefüges, so mächtig dank des Willens ihrer Göttin, dass sie auch über diesen Teil ihrer eigenen Natur verfügen konnte? Das Buhlen um die Aufmerksamkeit und Nähe der Hüterin hatte überhaupt erst zu derartigen Spannungen geführt. Ein Mann war einer Hüterin einfach nicht würdig, befand Orykene – noch heute. Und daran würde sich auch nie etwas ändern, aber dies war lediglich der Grund, den sie immer vorgeschoben hatte, wenn sie sich rechtfertigen musste, warum sie einmal mehr bewusst Nashatal in Schwierigkeiten brachte oder Schuld auf ihn abwälzte. Der zweite Punkt war einfach ihr Eigeninteresse. Sie war vom Hort getrennt, noch immer. Gewiss, über die Jahre hatte sich etwas entwickelt, das ihr ermöglichte, die Einsamkeit und Abgeschiedenheit von ihren Schwestern zu überleben. Sie begriff selbst noch nicht ganz, was es war oder wie es funktionierte, aber sie 'kam durch'. Delilah jedoch war eine starke Frau, in Macht und Willen, und darüber hinaus begriff sie die Art der Harpyien auf eine völlig einzigartige Weise – einfach, weil sie ihnen selbst so nahe stand, selbst so ein tief verwurzelter Teil der natürlichen Ordnung war. Orykene hatte ihre Nähe gesucht, mehrfach, doch für subtile Andeutungen war die Hüterin unzugänglich. Glücklicherweise galt das auch gegenüber Nashatal, sodass keiner von beiden Interessierten bisher auch nur einen Schritt vorwärts gekommen war – zu oft und zu intensiv stachen sie sich einfach gegenseitig damit aus, sich den Weg zu behindern. Nun jedoch hatte sich die Situation ein wenig... verändert. Sie waren auf dem Weg nach Tarmodyr. Ein sagenumwobenes Land, eigentlich längst vergessen und angeblich unerreichbar. Es gab viele Legenden über diesen Flecken Erde, aber sie waren so alt, dass selbst die Stammesvölker der Zentauren und Drakoiden sie kaum noch zu erzählen wussten. Sie hatten lange suchen müssen, um einzelne, bruchstückhafte Hinweise zu erlangen und als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, war es einem regelrechten Abenteuer gleich gekommen, den Versuch zu wagen, in Besitz einer Seekarte zu kommen, die die Route dorthin beschrieb. Es war teuer geworden, gefährlich gewesen und hatte viel Zeit gekostet und kaum hatten sie endlich die verflixte Karte in ihren Händen, kam Phillipe der Dritte, selbsternannter Gottkönig Lumiéls, mit großem Geschrei aus dem Exil zurück, in das er sich verkrochen hatte, als die Rebellen zuschlugen und seine verdorbenen Wurzeln im ganzen Land ausrissen. Er hatte Verstärkung dabei. Unzählige Schiffe. Sklavenhändler, Drow, Barbaren. Sie alle waren einstige Bündnispartner des kleinen Inselreiches und jeder von ihnen hoffte auf ein großes Stück vom Lumiélkuchen, wenn sie seiner Winzigkeit nur dazu verhalfen, wieder auf den Thron zu klettern. Zweifellos waren solche Absprachen und Zugeständnisse auch längst getroffen worden, doch umgekehrt verhielt es sich nicht anders. Die Rebellen waren nicht untätig gewesen und hatten ein Bündnis mit den Piraten von Sundergrad geschlossen. Freier Handel, niedrigere Zollabgaben, keine offizielle Überwachung. Die Piraten bekamen in vielerlei Belang völlig freie Hand zugestanden und mussten dafür nur eine einzige Klausel ihrerseits akzeptieren: Sie waren für die Verteidigung Lumiéls zur See zuständig. Ein durchaus vernünftiger Pakt und die Zeit zeigte, dass er auch tat, was man von ihm erhoffte: Er baute ein Bollwerk von plünderwilligen Piraten vor den Küsten des Landes auf, durch das kein Schiff dringen konnte. Nur wie lange würde das so bleiben? In all diesem Trubel war es überaus schwer gewesen, ein Schiff zu bekommen, eine Crew zusammen zu trommeln. Man brauchte gute Männer mit viel Erfahrung, denn war den Legenden um Tarmodyr zu trauen, dann waren die Gewässer unruhig und tückisch. Doch Lumiél brauchte neue Verbündete, der Staat konnte unmöglich das nächste Jahrzehnt überdauern, wenn niemand zu Hilfe eilte und dem Volk beistand, das sich frisch unter den Ketten der alten Tyrannei hervor gewühlt hatte. Aus Sicht Thorins und Ninafers war es mehr als logisch gewesen, Medea und Delilah, die Dryaden Lumiéls, um Hilfe zu bitten. Tarmodyr galt als die Quelle, als Heimatstätte, als Geburtsort der Dryaden. Nicht einer, nicht aller, es war... wie die Genesis. Wenn Phylia ein Heiligtum besaß, in dem sie, Göttin allen Lebenden die sie war, in Fleisch und Blut über den Boden wandelte, dann wäre es Tarmodyr. Die Mythen klangen also überaus verheißungsvoll. Aber kein Kapitän, der eine nackte Dryade und einen zwielichtigen Tiefling an Bord nahm, würde auch noch hinnehmen, dass eine Harpyie auf seinem Schiff frei umher lief. Deshalb saß sie hier, saß sich den Hintern wund, hielt die Augen geschlossen und bemühte sich, das Schaukeln des Schiffes im Wasser zu ignorieren. Es war dunkel, man hatte ihr keine Kerze in den abgelegenen Lagerraum gestellt. Wozu auch? Einerseits wollte niemand, dass die Harpyie in einem Anfall von Rachegelüsten das Schiff abbrannte und darüber hinaus glaubten manche der Männer zu wissen, dass Harpyien nachtaktive Jäger waren und daher auch in finsterster Dunkelheit bestens sehen konnten. Womit sie durchaus Recht hatten. Allerdings hatte Orykene die ersten Tage schon damit zugebracht, mehr oder minder gelangweilt alles anzustarren, was sich in diesem Raum befand. Hauptsächlich gesalzener Fisch in großen Fässern, ein bisschen Schießpulver, ein paar Regale mit Rum- und Weinflaschen. Deshalb ging immer mal wieder die Tür auf. Anfangs hatte sie noch interessiert getan und gehofft, man würde sie frei lassen, aber diese Erwartungen zerstreuten sich rasch. Nein – sie war in Ketten an Bord geführt worden, man hatte sie noch vor der Abfahrt in diesen Lagerraum gebracht, in den viel zu kleinen Metallkäfig gesperrt und da... hockte sie noch immer. Zugegeben, allein aufgrund der überaus unwürdigen Behandlung waren ihr durchaus schon ein paar Ideen bezüglich des Schwarzpulvers gekommen – aber es gab eben nicht einmal eine Kerze. Was wohl dieser verlauste Tiefling in den vergangenen Tagen mit Delilah getrieben hatte...? Wieder einmal hörte sie schwere Schritte. Die Tür wurde geöffnet, kurz nachdem die Schritte vor der Tür verstummten und daraufhin das helle Klimpern und Klirren der Schlüssel einsetzte. Jemand trat ein, sah sich zunächst um. Orykene öffnete die Augen nicht, wozu auch. Er würde sich eine Flasche holen oder etwas Fisch und wieder gehen. Anfangs hatten ein paar der Männer noch Witze gemacht, sie zu necken versucht. Letztlich war auch die Harpyie nackt an Bord gekommen, doch während Delilah frei herum lief und niemand ihre Macht bezweifelte, fühlten sich diese Narren beim Anblick einer vollbusigen Harpyie in einem soliden Stahlkäfig weitaus unantastbarer. Sie hatten sie mit einem Schürhaken aufzustacheln versucht, sie hatten sie mit Worten zu demütigen versucht. Das Resultat war einfach gewesen und hatte dafür gesorgt, dass sich die Crew lieber aus einem der anderen Frachträume bediente. Ihren Schrei hatte man selbst oben an Deck hören können, selbst die Möwen am Himmel waren einen Moment aus dem Takt ihres gleichmäßigen Flügelschlages geraten. Die zwei Idioten, die zu diesem Zeitpunkt in ihrem Lagerraum gewesen waren, gingen gepeinigt schreiend auf die Knie und die Jägerin war sich sicher: In deren Leben würde ihr Schrei das Letzte gewesen sein, das sie jemals hören würden. Es hatte ihr eine gewisse Befriedigung verschafft. Selbst durch ihre geschlossenen Lider konnte sie spüren, wie sie vom aus dem Flur einfallenden Licht geblendet wurde. Plötzlich veränderte sich aber die Situation erheblich: Der Fremde trat vor sie, direkt an den Käfig heran. Sein Schatten fiel auf sie und die Jägerin erlaubte sich, blinzelnd die Augen zu öffnen. Sie erkannte den Kapitän selbst. „Wenn ich öffne, wirst du mir die Kette geben und den Weg gehen, den ich dir vorgebe.“ forderte er, den Schlüssel in wartender Pose. Nun, was immer hier vor sich ging – vielleicht waren sie ja bereits am Ziel angelangt? -, Orykene gedachte sicherlich jede Chance zu nutzen, die ihr etwas Bewegung verschaffte. Als sie nickte und das Käfiggatter auf die Dielen schlug, schwer und dumpf, da erhob sie sich aus dem Käfig und bat sich einen Moment aus. Zufrieden schien er nicht, hatte aber wohl in Anbetracht ihrer Unterbringung Verständnis dafür. Sie streckte sich, ihre Arme, Beine, entfaltete die mächtigen Federschwingen, sodass ihre Erscheinung fast den gesamten Raum einnahm. Beim Nordwind, das war besser, so viel besser! Sie spürte, wie Lasten von ihr abfielen, wie Blut in ihre Unterbeine strömte und kleinere Verspannungen in Schultern und Nacken sich lösten. Die Flügel wieder angeschlagen, griff sie nach dem metallischen Halsband und reichte dem Kapitän die Kette. Er verdrehte den Anschluss, sodass die Kette ihrem Nacken entsprang und die Harpyie schritt gemäß seiner Anweisungen voran. Die Holzdielen des Schiffes gaben ein leises Klacken wieder, wann immer die scharfen Krallen und Klauen der Harpyie aufsetzten. Das Licht stammte von kleinen Laternen, betrieben mit Wachs, um nicht die Gefahr eines Ölbrandes zu riskieren. Er führte sie schweigend mehrere Korridore entlang und die Jägerin spürte, wie ihre Sinnesschärfe zurückkehrte. Sie roch Schweiß verschiedener Menschen, die Reste von warmen Mahlzeiten, den eigentümlichen Gestank eines Hundes, Ratten, erste Seeluft und dann nahm sie schließlich, noch immer tief im Schiff, erstmals den vertrauten und verachteten Geruch des Tieflings wahr. Sie hatte eine ganze Weile gebraucht, ihn sich einzuprägen. Nashatals Volk roch so viel anders, als die Harpyien es kannten und gewohnt waren. Es erinnerte leicht an Zwerge, erdig, wie feuchter Stein, doch das war wohl zurückzuführen auf ihre Gemeinsamkeit, Wohnorte unter Tage zu bevorzugen. Als man sie endlich an Deck brachte, erstarrte die Harpyie ungläubig. Sie hatte zunächst einige Momente gebraucht, um ins Licht zu blinzeln, aber nun eröffnete sich ihr ein Anblick, der sie beunruhigte. Die gesamte Crew hatte sich versammelt, alle trugen sie ihre Schwerter und Speere – und erst jetzt bemerkte die Harpyie die kleine Zwergenpistole im Halfter des Kapitäns. Man hatte also doch entschieden, sie auf offener See auszusetzen oder einfach ihren Kadaver für die Haie über Bord zu werfen. Nun – sollten sie es versuchen, sie würde viele von ihnen mit sich nehmen und- Doch ihre Gedanken erstarben abermals. In der Ferne erkannte sie Land, viel Land, aber was wichtiger war: Die Crew bildete einen Korridor für sie. Der Kapitän stieß sie an der Schulter vorwärts und scherte sich herzlichst wenig um ihr unwilliges Fauchen, stattdessen lotste er sie direkt auf die Schiffsflanke zu und schob sie bis an den Rand. Erst da wurde ihr klar, worum es hierbei ging: Man hatte eine kleine Schaluppe an der Flanke des Schiffes an schweren Winden und Seilen herabgelassen. Bis auf halbe Höhe bisher, aber es würde tiefer gehen. In dem Boot warteten bereits Delilah und Nashatal und alle beide zogen sie ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Was war hier los? „Was tut ihr?“ verlangte die Harpyie zu wissen, doch der Kapitän löste wortlos den Kragen von ihrem Hals. Der erste Offizier war es, der mit Erklärungen und Anweisungen an sie heran trat. „Die Gewässer sind zu gefährlich, wir lehnen euren Auftrag ab. Also steig in das Beiboot und verpisst euch von unserem Schiff!“ herrschte der schlaksige Kerl sie mit einem geradezu diebischen Grinsen an. Der Blick der Jägerin wanderte einen Moment herab zu ihren zwei Gefährten – und sogar Nashatal schien zu begreifen, das die Harpyie kurz davor war, sehr viele Kehlen aufzureißen, ehe sie an diversen Stich- und Hiebwunden sterben würde. „Orykene kommen runter!“ bat Delilah inständig. Nun gut... die See sollte sich diesen Bastard holen. Orykene wollte gerade herab springen, hockte bereits auf der Planke, als der erste Offizier sich erdreistete, ihr einen Klaps auf den blanken Hintern zu geben. Die Jägerin erstarrte in ihrer Bewegung und dann... ging alles wesentlich schneller als die Crew auch nur ansatzweise hatte reagieren können. Mit einem Ruck riss sie den Oberkörper herum, stieß die Klauen direkt in seine Kehle und sprang dann vorwärts in Richtung des kleinen Beibootes. Dabei zerrte sie den röchelnden und in den nächsten Minuten jämmerlich Verblutenden hinter sich her, direkt über die Reling. Sie landete grazil wie ein Sperling im Anflug auf dem Boot – während direkt neben ihr die Sitzbank zerschlagen wurde, als der erste Maat wie ein nasser Sack Mehl aufschlug. „Trophäe. Und Proviant.“ zischte die Harpyie auf Nashatals entsetzten Blick hin. Tatsächlich bemühten sich die Hüterin und der Barde daraufhin, die Seile rasch zu kappen. Das Boot wankte einen Moment, stürzte herab und schlug auf dem Wasser auf. Während die beiden sich mühten, mit den Rudern vom Hauptschiff weg zu kommen, flog ein erster Speer ihnen hinterher. Orykene richtete sich auf, beobachtete die Crew, die erzürnt und mit hassverzerrten Gesichtern versuchte, sie doch noch zu erwischen. Sie holte tief Luft – für Nashatal und Delilah das maßgebende Zeichen. Sie ließen die Ruder los und hielten sich so fest wie möglich die Ohren zu, Sekundenbruchteile, bevor Orykene ihren Schrei entfesselte. Das Geräusch war von der den Harpyien eigenen Magie begleitet, es brachte den Geist eines Menschen an den Rand des Wahnsinns, ließ in verängstigt und panisch völlig unrational handeln, sie hysterisch herum rennen. Je näher man der Quelle war, umso quälender wurde es, zuzuhören und befand man sich näher als zwei Meter, konnte man dabei sogar sterben. Die Crew jedoch ließ lediglich die Waffen sinken, ein paar bekamen tatsächlich die magisch eingeimpfte Panik zu spüren und rannten wie wild Schutz suchend in die tieferen Etagen des Schiffes. So vertrieb sie jeden noch so Kampfwilligen von der Reling und machte deutlich, wem der hinter ihr krächzend Verblutende nun gehörte. Als sie ihren Schrei beendete, wartete sie. Delilah und Nashatal gingen sofort wieder ans Werk, Abstand zwischen Schiff und Beiboot zu bringen, doch die Jägerin hielt Ausschau, ob einer der Verräter wagen würde, aus der ersten Lektion nichts zu lernen. Dem war nicht so: Die Crew drehte das Schiff und überließ die kleine Schaluppe sich selbst. Zufrieden wandte sich Orykene dem ersten Offizier zu. Sein Hals war völlig zerfetzt, er versuchte die Wunde abzudrücken, doch Blut quoll dick in unregelmäßigen Schlägen zwischen seinen Fingern hervor. „Du... bist Abschaum.“ spie sie ihn an und versenkte, als wäre eine Wunde nicht genug, die Klaue in seinem Bauch. Er hustete, spukte Blut aus und sah mit nacktem Entsetzen in den Augen, wie sie aus der aufgerissenen Bauchdecke Fetzen heraus wühlte, die zu seinen eigenen Innereien gehörten. Es war das letzte Bild in seinem Leben, bevor der Schock ihn in eine Ohnmacht sandte, aus der er nie wieder erwachte. Orykene jedoch tat, was ihr seit ein paar Tagen gefehlt hatte: Nahrung zu sich nehmen, um ihren Körper zu stärken. Man hatte ihr ein paar Mal gesalzenen Fisch angeboten, aber abgesehen davon, dass er durch die Massen an Salz für die Harpyie ungenießbar war, war Tage alter Fisch einfach nicht vergleichbar mit frischem, warmem Fleisch, das man frisch vom Knochen der erlegten Beute geschält hatte. Als die Harpyie sich einigermaßen gesättigt fühlte – immerhin musste sie zeitgleich die Balance halten zwischen ihrem noch flugfähigen Körpergewicht und der Nahrungsmenge, die ihr Magen zu fassen fähig war -, widmete sie sich erstmals ihren Gefährten. Nasthatal blickte noch immer sehr bemüht hinaus auf die See, vermutlich, um sich nicht ansehen zu müssen, wie sie ihren Grundbedürfnissen nachging. Einfältiger Narr! Glaubte er denn, es wäre ansehnlicher, schöner, kultivierter oder zivilisierter, ein erlegtes Beutetier vorher zu kochen, zu braten, in siedendes Wasser zu stopfen? Es unterschied sich nicht im Geringsten, es war nur die Zeitverschwendung einer der Bequemlichkeit dienenden Zubereitung, die sich Orykene und ihr Volk sparten. Oder er störte sich daran, dass sie einen Menschen fraß. Obwohl das auch irritierend war – er war ein Tiefling, also was kümmerte ihn das? Oder fürchtete er etwa, selbst demnächst auf der Speisekarte zu stehen? Nein, mit solch einem Happen wollte sie sich nicht den Magen verderben. Harpyien fraßen nicht, was sie verachteten. Gut, zugegeben – sie fraßen Männer. Aber keine Harpyie rührte das Fleisch eines Zentauren an. Und Orykene würde Nashatal nicht anrühren. Zumindest nicht, um ihn zu fressen. „Was meinte er mit gefährlichen Gewässern?“ verlangte die Harpyie schließlich zu wissen. Delilah versuchte gerade, sich eine Antwort zusammen zu reimen, entschied dann aber, das Nashatal darin schneller und geschickter war. Also zupfte sie an seinem Ärmel und der Tiefling starrte sehr bemüht zu Orykene, um seinen Blick ja nicht auf den Kadaver sinken zu lassen, der zwischen ihnen lag. „Strudel. Er meint Strudel. Sie bilden sich hier immer wieder und scheinen sich in alle Richtungen zu erstrecken, wie ein Ring, der das Land umgibt. Sie machen den Weg zwischen den Riffen gefährlich.“ Riffe? Die Harpyie widmete erstmals einen direkteren Blick in Richtung des Landes und begann zu erkennen, was gemeint war. Zahlreiche rundliche und spitze, scharfkantige, große, kleine und mehrstufige Felsgebilde hoben sich in völlig zufälliger Verteilung hier und da aus dem Wasser. Zweifellos war jede sichtbare Spitze nur die Andeutung eines großen Gesteinsmassivs unter der Wasseroberfläche und wie sie nun bei genauer Betrachtung erkennen konnte, waren sie auch längst nicht die Ersten, die versuchten, Tarmodyr zu erreichen. Zahllose Schiffswracks. Einige trieben zwischen den Riffs, andere saßen darauf auf. Sie waren in unterschiedlichen Zuständen. Zerborsten, zerbrochen, aufgeweicht. Je näher sie kamen, umso deutlicher wurde das Bild allgegenwärtiger Zerstörung. Trotz der Strudel und Riffe war das Land zu erreichen ihre einzige Chance. Darin waren sie sich selbst dann noch einig, als sie Zeugen wurden, wie sich kaum hundert Meter von ihnen entfernt die Meeresoberfläche tief zurück zog und eben einen jener Strudel ausformte. Wasser wurde in schieren Massen eingesogen, mochte Phylia wissen, wohin, ein paar Planken und Reste von Takelage wurden eingezogen, dann erstarb der Strudel wieder und ließ sanftes, gleichmütiges Gewässer zurück. Ein Schauspiel weniger Minuten, dem sie entkommen waren, weil sie sich außerhalb des Einflussbereiches befunden hatten. Was aber, wenn ein Strudel direkt unter ihnen erschien? Wohin würde es sie ziehen? Orykene erschauderte beim bloßen Gedanken. So, wie sie die Enge in großen Menschenmengen, Städten oder Häusern nicht leiden konnte, so mochte sie auch den Gedanken nicht, von Wassermassen allseitig umgeben und zerquetscht zu werden. Tragischerweise schien es, als sollten sie noch früher als erhofft herausfinden, was dann geschehen würde. Delilah merkte als erste noch recht erfreut an, dass es sie weniger Kraft kosten würde, das Schiff vorwärts zu bringen. Da wechselten der Tiefling und die Harpyie bereits alarmierte Blicke. Als er ihr dann auch noch zustimmen musste, erhoben sich Nashatal und Orykene und warfen einen Blick über den Bug voraus. Die Wasseroberfläche begann sich zu senken. Das Auge des Strudels war noch weit entfernt, aber... er war auch bedeutend größer als das dagegen winzig wirkende kleine Ding, das sie vor wenigen Minuten noch beobachtet hatten. „Wir müssen hier weg!“ erklärte die Harpyie und packte ihrerseits die zwei Ersatzruder. Sie hievte sie in das Gestänge und begann, mit Nashatal und Delilah im Takt zu schlagen, doch rasch zeigte sich, dass sie keine Chance hatten, gegen diese Naturgewalt anzukommen. Mehr noch: Orykenes Arme waren einfach zu schwach, um mit je einem ein Ruder zu bedienen. Ihr Nutzen erschöpfte sich also überaus rasch. „Was machen wir jetzt?“ brüllte Nashatal gegen das lauter werdende Tosen des in Bewegung geratenden Wassers an. Das Boot neigte sich bereits leicht, da ergriff die Harpyie den einzigen Schritt, der ihr noch in den Sinn kam. Sie lehnte sich über die Reling des kleinen Beibootes, die Klaue in der weit gestreckten Kehle vergraben, und spie so viel Fleisch aus, wie ihr Magen noch fasste – um jedes Gramm, das sie konnte, noch los zu werden. Kaum fertig, achtete sie nicht darauf, dass das fremde Blut und ein paar Fetzen des verspeisten Gewebes noch an ihrem Kinn klebten, erhob sie sich und breitete ihre Flügel aus. Mit mächtigen, schweren Schlägen kam sie langsam in die Luft, versuchte über der kleinen Schaluppe zu bleiben und packte mit den wesentlich stärkeren Beinen Delilah. Die Hüterin schrie vor Schmerz auf – die Krallen der Harpyie bohrten sich ohne den Schutz durch Panzerung oder Kleidung direkt in ihre Schulter. Die Dryade versuchte, sich an dem rettenden Bein festzuhalten und Orykene mühte sich, an Höhe zu gewinnen, während das Beiboot immer schneller vornüber kippte. Gerade Sekunden, bevor es im Strudel verschwand, in dem Orykene etwas zu sehen glaubte, sprang Nashatal empor – und bekam ihr anderes Bein zu fassen. Mit einem Ruck war sie zu schwer. Wenn es in Tarmodyr Dryaden gab, dann durfte Delilah nicht sterben. Sie war die Kontaktperson, die Einzige, die die fremden Hüterinnen verstehen und finden würde. Nashatal aber war verdammt nochmal entbehrlich! Sie ruckte, sie rüttelte, doch der Tiefling hielt sich geschickt fest und so blieb der Harpyie nichts anderes, als mit schweren, raschen Flügelschlägen einen sicheren Ort anzusteuern. Sie spürte das schmerzhafte Ziehen und Brennen in jeder Muskelfaser ihrer Beine, sie spürte, wie ihre Kräfte nur so dahin schwanden, wie sie immer schneller an Höhe verloren. Dieser verdammte, jämmerliche Mann, er würde noch alles zum Scheitern bringen! Just in dem Moment, in dem die Harpyie erkannte, dass sie sich völlig überlastete und sie den Ring des Riffs, der Tarmodyr umgab, niemals überfliegen können würden, zwang die Überlastung sie ohnehin in die Ohnmacht – und wie ein Stein stürzte die Harpyie samt ihrer Fracht herab. Die Ohnmacht dauerte nur Sekunden, der überaus schmerzhafte Aufschlag auf etwas Hartem riss sie mit vollem Bewusstsein in die Gegenwart zurück. Sie roch See, Salz, Wasser, Stein, Holz... Holz? Ihr flirrender Blick versuchte sich zu fokussieren, die zwei verschwommenen Bilder zu einem mit scharfen Konturen zu lagern und erfasste schließlich die Situation. Sie waren auf einem der aufgelaufenen Schiffswracks aufgeschlagen. Delilah lag nicht fern von ihr und richtete sich bereits ächzend auf – und Nashatals Hand konnte sie noch immer an ihrem Bein spüren. Die Harpyie sprang auf, rang mit der schieren Macht ihrer Wut jedes Schwindelgefühl nieder und riss den Barden auf die Füße. „Du bringst uns alle um!“ kreischte sie ihn voller Zorn an und wollte ihm bereits die Kehle aufreißen, als ihr ein gequälter Schrei aus der Kehle drang, der sogar sie selbst überraschte. Der Versuch, die linke Klaue zu haben, hatte ihr bewusst werden lassen, wie sie auf die Dielen des zerbrochenen Schiffes aufgeschlagen war: Mit der Schulter voran. Ihr Arm war ausgekugelt und der Schmerz, der sie nun durchfuhr, zwang die Harpyie in die Knie. Es rettete Nashatal das Leben. Delilah bemühte sich, ihrer Gefährtin zu helfen. Ihre kühlen Fingerspitzen streiften über die Haut der Jägerin und vermochten sie ein klein wenig zu beruhigen, ein Umstand, der nur wenige Sekunden anhielt. Delilah schien zu wissen, was geschehen war und auch, wie man etwas an diesem Zustand änderte. Ihre zierlichen Finger umschlossen Orykenes Handgelenk, ihre andere Hand drückte sich gegen ihre Schulter und schon während die Jägerin die Spannung in den Muskeln wachsen spürte, keimte ein unbändiges Maß an Angst und Nervosität auf. Verletzungen waren für Harpyien eine Katastrophe. Ihre Knochen waren leicht gebaut, um ihre Flugfähigkeit zu unterstützen, sie brachen schnell und in der Wüste hieß jede Verletzung, dass man sie aus eigener Kraft überleben musste oder so gut wie tot war. Es gab kein „krank sein“. Man heilte oder man starb. Ein einziger Ruck. Nashatal stolperte mehrere Schritte zurück, ehe er die Hände auf den Ohren hatte – Delilah hatte damit bereits gerechnet, ließ sie sofort los und presste ihre Finger mit aller Kraft auf ihre Ohrmuscheln. Der Schrei der Harpyie war diesmal keineswegs der einer auf der Pirsch befindlichen Jägerin, doch das änderte nichts an seiner Intensität, im Gegenteil. Jede Nuance von Qual und Schmerz lag darin und drang weit über das Riff und die tosenden Gewässer hinaus. Orykene verspürte eine aufkommende Leichtigkeit und wollte sich ihr entgegen strecken. Dass es eine einsetzende Ohnmacht war, begriff sie erst, als sie sich fallen spürte, ohne die Fähigkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Als sie nach einer traumlosen Phase geistiger Abwesenheit wieder langsam in ihren Leib zurück fand in im einsetzenden Morgengrauen ihres Körpergefühls die Klauen bewegte, glaubte die Harpyie bereits, sie würde wie schon zuvor nach wenigen Sekunden wieder zu sich kommen – doch dem war nicht so. Zunächst fiel ihr Blick auf ein paar gelbliche Augen, die sie besorgt musterten. Delilah hatte sich im Schneidersitz vor ihr niedergelassen und blickte sie vorsichtig an. „Orykene geht gut?“ erkundigte sich die Hüterin. Gute Frage. Die Harpyie hob mühsam den Kopf und erkannte, dass die Sonne ungewöhnlich flach am Horizont stand, viel zu flach, um nur wenige Augenblicke vom Stand des Eintrittes ihrer Ohnmacht entfernt zu sein. Nein mehr noch – die Reste der Sternbilder zeigten ihr sogar, dass die Sonne grundsätzlich auf der falschen Seite war. „Wie lange?“ erkundigte sich die Harpyie mit leiser, belegter Stimme. Die Antwort war, wie sie es erwartet hatte, einsilbig und frustrierend: „Morgen.“ Ja, das war also tatsächlich die Morgensonne. Wie... unschön. Langsam kehrten Orykenes Erinnerungen zurück und damit unweigerlich auch der Wunsch, Nashatal den Kopf abzureißen. „Wo ist er? Ich hoffe, du hast ihn ins Wasser geworfen!“ zischte die Jägerin und biss sich sogleich wieder auf die Zunge, als sie Delilahs Entsetzen sah. Sie wollte der Hüterin nicht zu nahe treten, sie mochte diesen Mann, wusste Phylia, warum. Und sie war völlig ahnungslos, welche Rivalitäten da ihretwegen entbrannt waren. Noch nach der ganzen Zeit, die sie schon zusammen reisten, begriff sie nicht, warum der Tiefling und die Harpyie so leidenschaftlich aufeinander einprügelten – egal in welcher Weise. Die Jägerin ließ sich von Delilah über den Status aufklären. Sie waren an Bord eines schief liegenden Wracks eines größeren Handelsschiffes, es war in der Mitte durchgebrochen und offenbar lag diese Hälfte, der vordere Teil, auf einem der Riffe auf. Das verschaffte ihnen zumindest Zeit, aber so, wie sich Orykene das anhand der Erzählungen schon zusammen gereimt hatte, war nichts an Bord, das ihnen auch nur im Ansatz helfen konnte. „Wie geht es deiner Wunde?“ erkundigte sich die Harpyie schuldbewussten Tones. Delilah wiegelte mit einem milden Lächeln ab und ließ ein paar der Ranken und Blätter bei Seite ziehen, die die Wunde noch immer verdeckten. „Heilt.“ meinte die Hüterin leise und versuchte der Harpyie zu vermitteln, dass es schon in Ordnung war, immerhin hatte die Hektik und Eile der Situation nicht viel Zeit für Absprachen und technische Finessen gelassen. „Da ist etwas im Wasser.“ erklärte die Jägerin daraufhin. Delilah sah sich um, blickte in alle Richtungen dem Gewässer entgegen und ließ Orykene damit tatsächlich einen Moment auflachen. Sie schüttelte dann den Kopf und versuchte, ihre Worte näher zu erklären. „In den Strudeln. Da ist etwas in den Strudeln. Ich glaube, es frisst die Schiffe, oder die Crew... vielleicht beides. Ich habe Zähne gesehen.“ erklärte die Harpyie in beiläufigem Ton. Was machte es auch für einen Unterschied? Ob sie nun von etwas gefressen oder von Wasser zerquetscht oder ersäuft wurden, am Ende war ein Tod so gut wie der andere. Nur das Sterben unterschied sich. Als ein Knarren ertönte, eilte auch Nashatal wieder herbei, etwas blass, etwas zerschunden und dem Blick und der Gestik nach ziemlich nervös. „Das schon ganze Nacht!“ eröffnete Delilah, als der Tiefling ihr schlicht hinein platzte und ins Wort fiel. „Wir sind zu schwer, das Wrack rutscht!“ eröffnete der Barde hektisch. Sogar die Hüterin schien den Inhalt seiner rasch daher geplapperten Worte zu begreifen und für Orykene hieß das einmal mehr, dass sie sich möglichst schnell etwas ausdenken mussten. Wenn das Wrack rutschte, und dieses Geräusch damit in Verbindung stand, es das also die ganze Nacht bereits tat – dann blieb vermutlich nicht viel Zeit, ehe das Holzkonstrukt vom Felsen gleiten würde. „Ihr wartet ihr, geht dort rüber. Ich komme im schnellen Anflug, ihr müsst springen, zupacken, euch festhalten. Meine Kräfte sind erschöpft, ich werde noch schneller stürzen als beim letzten Mal – danach müssen wir schwimmen. Ich trage uns so weit zum Ufer, wie ich kann.“ Delilah und Nashatal wogen ab, hofften auf Ideen, andere Pläne, doch ein weiteres Knarren und ein erster Ruck – als wolle jemand ihnen einen Anstoß geben – ließ sie nicken und sich in Position begeben. Die Harpyie hoffte, dass ein solcher Gleitflug sie weit genug vom Einflussgebiet der Kreatur hinweg tragen würde... wenn es denn überhaupt funktionierte. Sie erhob sich in die Lüfte, zog in weitschweifig kreisenden Bahnen immer höher und höher, flog etwas aufs Meer hinaus, ehe sie einen schnurgeraden Kurs in Richtung des Wracks wählte. Von oben sah sie das ganze Ausmaß deutlich besser: In der Tat schien es so, als sei ganz Tarmodyr von diesem Ring aus Riffen, Wracks und gelegentlich auftauchenden Strudeln umgeben. Und dort im Wasser, unterhalb der Riffe, war eine tiefe Schwärze... wie sie beispielsweise von einem Fremdkörper herrühren könnte. Orykene machte sich keine Gedanken darüber, was es war – es gab einfach zu viele seltsame Kreaturen auf der Welt. Aber sie wollte nicht in seine Fänge geraten. Zumindest sah sie auf diese Weise, dass, mit ein bisschen Glück, der Gleitflug sie tatsächlich außer Reichweite dieses Dings tragen würde. Mit ein bisschen Glück. Sie legte die Flügel, Arme und Beine an – wobei die linke Schulter noch immer fürchterlich schmerzte – und schoss pfeilschnell im Sturzflug auf das Wrack zu. Genau im richtigen Moment spreizte sie die Flügel und Beine leicht ab und dankte trotz des massiv aufbrandenden Schmerzes in ihrer Hüfte insgeheim Phylia und den Winden, dass ihr eben dieses Glück vergolten zu sein schien. Delilah und Nashatal schafften es, hochkonzentriert und mit bis zum zerreißen angespannten Nerven, genau im richtigen Moment zuzupacken. Ihr Gewicht hängte sich an die zierliche Harpyie, die den Katapulteffekt ausnutzend wieder ein gutes Stück in die Höhe schoss, dabei jedoch wesentlich weiter voran kam, als sie um das Gewinnen von Höhe bemüht war. Sie breitete, als der erneute Sinkflug einsetzte, die Flügel aus und versuchte ihn mit kräftigen Schlägen so lange wie möglich hinaus zu zögern, doch am Ende spürte sie ihre Kräfte aus ihrem Körper weichen, der so kurz nach einer Überlast neue Anforderungen diesen Ausmaßes einfach nicht bewältigen konnte. Sie stürzten erneut ins Wasser, Kälte, Dunkelheit und der Geschmack von Salz umgab sie allseitig. Orykene strampelte, spürte, wie ihr Gefieder sich mit Wasser voll sog. In den Wüsten war es nie nötig gewesen, sich gegen Wasser zu schützen. Es regnete fast nie und der Hygiene dienten Sandbäder. Lebend hätte sie es wohl nicht bis zum Ufer geschafft – nicht ohne die Hände, die sich ungeniert unter ihren Armen hindurch schoben und sie nach oben zogen. Sie durchbrach die Wasseroberfläche, doch völlig erschöpft und vom Aufschlag benebelt, bekam die Harpyie nicht mehr zustande, als japsend nach Luft zu schnappen und dabei Acht darauf zu geben, nicht zu viel Salzwasser einzuatmen. Erst am Ufer, als sie sich langsam von dem Schock erholte, bemerkte sie, dass es nicht Delilah war, die ihr das Leben gerettet hatte. „Jetzt sind wir quitt.“ keuchte der Barde erschöpft und ließ sich neben sie auf den grobkörnigen Sandstrand fallen. Im Verlauf der nächsten Stunde stieg die Sonne immer höher und die drei Überlebenden der kleinen Odyssee auf der Reise nach Tarmodyr wagten sich die Ruhepause zu gönnen, um Kraft zu sammeln. Als sie sich schließlich erhoben, ragte vor ihnen ein Anblick auf, wie kein Mensch ihn je zuvor hatte genießen dürfen. Selbst die ältesten und mächtigsten Bäume Lumiéls hätten sich nicht mit den Giganten messen können, die hier an den Küsten die Baumlinie bildeten – und an den Küsten, das wusste selbst Orykene, wuchsen immer nur die Kleinsten. Schon als sie die ersten Schritte ins Innere des Waldes wagten, der mehr und mehr einem Dschungel glich, begriff auch Delilah, dass ihr so manches anders lief als sie es gewohnt war. Wie hätte es auch sonst sein sollen? Lumiél war klein und weit weg, aus Sicht der Dryaden kaum mehr als ein Dorf. Tarmodyr dagegen war... eine Großstadt, eine Metropole, das Zentrum. Die Wildheit sprang einen von allen Seiten an, die Hüterin erst Recht. Jede Pflanze, jedes Kraut, jeder Pilz, jedes Insekt, alles hier schien einen eigenen, ungemein starken Willen zu besitzen, alles hier trat in Dialog mit Delilah, ohne sich aber ihrem Willen zu fügen. Allmählich begann die Hüterin ein Bild davon zu gewinnen, wie die Dinge in Tarmodyr liefen. Hier waren die Dryaden selbst auch 'nur' ein Teil der Natur, ein Teil des riesigen Waldes, der diesen gesamten Kontinent bedeckte. Sie waren mächtig, sie waren gottgesandte Wesen – aber auch sie konnten zur Beute größerer, klügerer oder zahlreicherer Jäger werden. Die Dryaden Tarmodyrs mussten unweigerlich um ein vielfaches erfahrener, wilder und gefährlicher sein, als die Hüterin des einstmals als 'Alter Wald' bekannten Haines vermutet hatte. Doch nichts von ihren Empfindungen und Erkenntnissen teilte sie ihren zwei Begleitern mit. Wozu auch? Sie hätten nicht begreifen können, worin sich dieser wesentliche Unterschied nieder schlagen würde. Sie hätten nicht die Aufregung, Nervosität, Faszination und sogar jene kleine Spur Verängstigung verstehen können, die Delilah voran peitschte, immer schneller ihre Schritte tiefer in diesen gewaltigen Wald zu lenken. Fast einen halben Tag marschierten sie, begegneten unzähligen Waldtieren, Füchsen, Rehen, Hasen, diversen Vögeln, unzähligen Insekten und sogar einigen Kreaturen, die im Rest der Welt als ausgestorben oder reine Fabelwesen galten. Für Nashatal war all dies Grund genug, seiner Faszination nachzuhängen und ausnahmsweise einmal den Mund zu halten, ein Umstand, den Orykene sehr begrüßte. Die Harpyie sah nämlich fast alles ein klein wenig anders. Die Bäume, so gigantisch sie waren, standen relativ eng und würden ihr nicht erlauben, ihre Flügel einzusetzen. Es gab dichtes, allgegenwärtiges Unterholz, unzählige Höhlen und kleine Tunnel unter Wurzeln und in der Erde, ein ständig sich hebendes und senkendes Gelände, in deren Kuhlen sich kleine Armeen verstecken könnten – die Wachsamkeit der Jägerin war auf höchster Alarmstufe, und das durchgängig. Gegen späten Mittag erreichten sie schließlich eine kleine Lichtung, die wie dafür geschaffen schien, hier eine kurze Rast einzulegen. Über ihnen bildeten die wuchernden Kronen der Bäume noch immer ein geschlossenes Dach, aber auf mittlerer Ebene gab es kaum Äste und Blätterwerk und am Boden keinerlei Büsche oder Unterholz. Das Gelände war nicht sehr groß, ließ sich aber gut überschauen und war recht eben, dazu zog sich ein kleiner Bachlauf direkt quer durch die Fläche. Es würde genügen. Sie wollten sich eben an jenem Wasserlauf niederlassen, als eine große, schwarze Raubkatze aus einer kleinen Senke jenseits der Lichtung hervor sprang. Allein ihre Drohgebärden brachten Nashatal dazu, vorsichtig sich ein paar Schritte zurück zu bewegen. Delilah dagegen verharrte. Sie konnte dem Tier nichts befehlen, es weigerte sich schlicht, sowohl, sie in Ruhe zu lassen, als auch, weniger feindselig zu sein. Es jagte – und sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Wer oder was sie waren, interessierte dabei nicht. Orykene jedoch zählte sich und ihr Volk zu den größten, besten und stärksten Jägern dieser Welt und Raubkatzen, die kannte sie auch aus den Wüsten. Mit langsamen, vorsichtigen Schritten und wider der leisen Warnungen ihrer Gefährten näherte sie sich dem Tier bis auf wenige Meter. Sie begab sich in die Hocke, wetzte kurz mit den Krallen über den Boden und begann, dem Jäger in die Augen zu starren. Einige Sekunden lang geschah nicht das Geringste. Es war ein Lauern, ein Kräftemessen, ein Dialog ohne Worte. Die Harpyie spie Drohungen ohnegleichen aus – über all die Verletzungen, die der Jäger sich zuziehen würde, sollte er einen Angriff wagen, über den Schmerz, bevor der Tod ihn holen würde, darüber, dass er sich mit den Falschen anlegte, dass sie eine Nummer zu groß für seine Fähigkeiten waren. Am Ende gab die Raubkatze tatsächlich auf. Orykene stieß, zur Untermalung ihrer Überlegenheit, ein langgezogenes Fauchen aus und die Katze preschte wieder durch das Unterholz davon. Als die Harpyie sich aufrichtete, umspielte ein breites, genüssliches Grinsen, getragen von Siegeswärme und Stolz auf ihre Leistungen ihre schmalen Lippen. „Einfach keine Konkurrenz.“ eröffnete sie breit grinsend, als Nashatal und Delilah zu ihr aufschlossen. Kurz darauf wies der Barde sie darauf hin, dass dieser Jäger möglicherweise gar nicht hinter ihnen her war, sondern vielleicht nur etwas verteidigen wollte. Während Delilah von fremdartigen Eindrücken abgelenkt, an Ort und Stelle stehen blieb, näherten sich die Harpyie und der Tiefling einer merkwürdig aussehenden Pflanze. Sie hatte eine dicke, überaus füllige Knolle, die sie mit einem massiven Stängel nach oben trug, einige Blätter zweigten sich daran ab, doch insgesamt wirkte sie nicht wie eine bekannte Pflanze, eher wie... eine Goblingranate oder dergleichen. „Sieht merkwürdig aus...“ kommentierte Orykene vorsichtig. Dennoch folgte sie Nashatals Bewegung, sich leicht vorzubeugen, um die Pflanze genauer in Augenschein nehmen zu können. Delilah wusste nicht genau, was hier vor sich ging. Aber diese Raubkatze, die Lichtung, der Bachlauf, das alles in einem Wald wie diesem? Es kam ihr zu merkwürdig vor, sie spürte Veränderungen, sie spürte eine Varianz. Etwas an dieser Aufmachung kam ihr bekannt vor. Als hätte diese Lichtung etwas mit ihrem Weiher gemein. Ja, das war es: Die Lichtung erinnerte sie grob an ihren Weiher. Tierische Beschützer, ein geräumtes Fleckchen Erde und Wasser. Doch die Weiher einer Dryade waren Heiligtümer, die bis aufs Blut vor allen Eindringlingen beschützt und verteidigt wurden... und es gab dort immer einen kleinen See. War das in Tarmodyr anders? Oder sollte dieser winzige Bachlauf dort wirklich den Ersatz für einen ganzen Teich darstellen? Sie kam nicht dazu, ihre Gedanken weiter zu spinnen. Ein kurzes Sirren in der Luft und noch bevor sie begriff, was vor sich ging, jagte sie der Quelle entgegen. Ein kleiner Stein, der geworfen worden war und sie glaubte angegriffen worden zu sein – von etwas, das Steine als Wurfgeschosse benutzte. Vielleicht ein Affe, doch sie hoffte auf mehr. Sie preschte überaus rasch durch Farne und Gestrüpp, bis sie plötzlich um ein Haar direkt in eine Gruppe von vier Dryaden hinein gerannt wäre. Kurz vor ihnen bremste sie sich bemüht ab und stellte kurz darauf fest, das aus dem Unterholz, den Kronen und anderen Verstecken noch mehr ihrer Schwestern herbei kamen... und sehr zu Delilahs Überraschung offenbar auch... Brüder...? „Deine Begleiter sind gefährlich. Ihnen wird nichts geschehen, aber jetzt können wir reden.“ eröffnete eine der Dryaden, die sich damit als Anführerin der kleinen Gruppe ausgab und Delilah einlud, ihr zu folgen. Dem Wort der Schwester glaubend, schritt sie mit ihnen, ohne sich um Orykene oder Nashatal Sorgen zu machen. Grund dazu hatte sie tatsächlich nicht. Die Lichtung galt als geschütztes Gebiet und der geworfene Stein traf die Knolle der merkwürdigen Pflanze recht zielsicher. Daraufhin explodierte diese regelrecht und gab einen bräunlichen Dunst aus feinem, in der Luft zerstäubtem Pulver frei. Noch bevor sie begriffen, was geschah, sogen Orykene und Nashatal mit jedem Atemzug das fremde Gemisch in ihre Lungen, wo es in einer derartig hohen Konzentration recht zügig seine Wirkung entfaltete. Von plötzlichem Schwindel betroffen, probte die Jägerin einen Moment zwei, drei Ausfallschritte, ehe sie wie ein ungeschicktes Kind auf ihren Hintern stürzte und herzlich zu kichern begann, als Nashatal neben ihr nicht minder beeinflusst zu Boden kam. Kurz darauf war der Barde schon bei ihr, drückte ihr den Zeigefinger an die Lippen und sah sich um. Die Wachsamkeit der Harpyie schlug Alarm, sie folgte seinem Blick, lauschte angestrengt... doch niemand schien sie gehört zu haben oder sich daran zu stören. Wie merkwürdig... „Mir ist schwindlig...“ konstatierte die Jägerin das Offensichtliche und ließ sich langsam nach hinten in das weiche Gras sinken – doch egal, wie weit sie zurück sank, schien Nashatal ihr zu folgen. Wie merkwürdig... Als Delilah freudestrahlend wieder auf die Lichtung trat, waren einige Stunden vergangen. Der Beginn der Verhandlungen war geschafft und sie hatten weit mehr, als sie wollten: Man gestand ihnen ein Schiff zu, das sie sicheren Weges nach Lumiél zurück bringen würde, an Bord eine kleine Delegation von Dryaden, die im Namen Tarmodyrs sprechen und die Verhandlungen direkt am Tisch des Schlosses führen sollte. Orykene und Nashatal schienen ihr die Abwesenheit jedoch irgendwie... übel genommen zu haben. Verwirrt blieb die Dryade stehen und betrachtete sich das sich ihr bietende Bild eingehend. Auf der einen Seite der Lichtung saß Orykene im Schneidersitz, die Arme vor den Brüsten verschränkt und den Blick in geradezu abstrafendem Maß auf den Tiefling gerichtet, der seinerseits auf der anderen Seite der Lichtung an einen Baum gelehnt saß, ihrem Blick überaus bemüht auswich und die Reste dessen an sich klammerte, was vermutlich einmal seine Kleidung gewesen. Nanu? „Delilah! Endlich!“ hob Nashatal an und sofort wurde sie zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Harpyie erhob sich langsam und wartete, bis die Hüterin zu ihr heran gekommen war. „Was passiert?“ erkundigte sich die Dryade verwirrt über die Tatsache, dass sie Orykenes Geruch zwar wahrnahm... er sich jedoch irgendwie auf geradezu befremdliche Weise verändert zu haben schien. „Ich – will – hier – einfach – nur – weg!“ presste die Harpyie überaus bemüht zwischen ihren Zähnen hervor. Sie warf dem Barden einen weiteren, vernichtenden Blick zu, ehe sie sich brüsk abwandte und den Weg in Richtung Küste einschlug. Delilah begriff die Welt nicht mehr. Das mochte gut daran liegen, dass ihr diese Pflanze unbekannt war, weil es keinen anderen Teil der Welt gab, in der sie noch wuchs. Aber gewissermaßen lag es auch daran, dass die Dryaden außerhalb Tarmodyrs dem Irrtum erlagen, ihre Heiligtümer, diese kleinen Festungen im Zentrum ihrer Wälder, seien ausschließlich für ihre Erholung, ihren Rückzug, ihre Ruhe und Regeneration gedacht gewesen... obwohl Fortpflanzung doch ein essentieller Teil der Natur alles Lebenden war... Kapitel 21: Stock und Stein --------------------------- Es war unbequem. Ja ganz schrecklich und geradezu bedrückend unbequem – und Alistair ließ es sich nicht nehmen, das auch gebührend anzumerken... alle paar Minuten wieder. „Ash, mir ist langweilig...!“ quengelte der Meisterdieb Lumiéls wie ein verzogenes Kind herum und zupfte ein paar weitere Grashalme aus, die er kurz mit seinen Fingern malträtierte, ehe auch sie auf dem kleinen Haufen zerfledderter Gewächse landeten. Unlängst sah das Stück Wiese um ihn herum aus, als hätte jemand eine Schafsherde sehr präzise einen bestimmten Kreis abfressen lassen – und das, obwohl das einstmals hohe Gras ihm eigentlich Schutz vor Entdeckung und Sichtung bieten sollte. Die Elbe an seiner Seite störte sich wenig an seinen botanischen Exkursionen, kamen sie doch über einen Umkreis von einer Armeslänge nicht hinweg, doch was sie störte, bei den Göttern, das war sein ständiges Gemaule. „Hältst du jetzt endlich die Klappe?“ fuhr sie ihn erzürnt an, „Denkst du, ich finde das hier lustig?“ zischte sie ihm rhetorisch zu, ehe sie sich wieder umwandte. Eigentlich hätte sie sich konzentrieren müssen. Sie lagen auf einem kleinen Grashügel mitten in einem seicht bewaldeten Gebiet, direkt vor ihnen fiel der Hang steil ab und kreuzte sich mit einem gegenüberliegenden Hang zu einem kleinen Tal. In genau dieser Mulde verlief die Handelsstraße, über die seine Majestät König Phillipe der Dritte, selbsternannter Gott Lumiéls, am heutigen Tage eigentlich eine Waffenlieferung versenden wollte. Eigentlich. Nur warteten sie auf die verdammte Karawane schon den halben Tag lang und allmählich wurde allen langweilig, nicht nur Alistair. Selbst die Rebellen, die ihnen als Verstärkung zugeteilt worden waren, hatten begonnen, Würfel auszupacken, Karten zu spielen, sich zu unterhalten. Der reinste Sauhaufen! „Sieh sie dir doch mal an...“ nuschelte der Dieb erneut. Ashes kannte ihre überaus aussichtslose Situation. Man konnte den Langfinger zum Schweigen bringen, wenn man ihm etwas zu tun oder etwas Neues zum bestaunen gab. Es funktionierte sogar, ihm Gewalt anzudrohen oder ihm einen Klaps zu verpassen, doch... nichts davon hielt sonderlich lange. Er konnte es einfach nicht. Er konnte einfach nicht den Mund halten. Sobald ihm langweilig wurde, fing er an zu reden, wie ein Wasserfall, über Gott und die Welt und dann suchte er meist auch noch Ablenkung, indem er erhoffte, irgendwer würde irgendwie auf sein Gefasel eingehen. Die Elbe kannte sich damit aus. Sie reisten schon einige Monate zusammen und gute Güte, diese schmächtige Kalkwand hatte es in ihr Bett und sogar bis in ihr Herz geschafft. Das machte ihn nur nicht weniger anstrengend. „Was meinst du?“ bot Ashes schließlich Schützenhilfe und einen Moment wurde es still. Sie spähte nur aus dem Augenwinkel zu ihm herüber und sah, wie der Langfinger sie bis über beide Ohren anstrahlte. Jedem anderen wäre das Sinnbild eines Hundewelpen in den Sinn gekommen, doch Ashes hatte es nicht so mit Tieren – weder den Kleinen, noch den vermeintlich Süßen, und das, obwohl sie eine Elbe war. Nein, das ganze verdammte Viehzeug konnte ihr gut und gerne gestohlen bleiben. Sie bemerkte lediglich zufrieden und ganz, wie sie es erwartet hatte, dass sie Alistair nicht einfach nur überrascht hatte, sondern ihm eine richtige Freude bereitete. Im Grunde zeichnete auch das ihre Verbindung gewissermaßen ein Stück weit aus. Ashes war eine Kämpfernatur, eine Kriegerseele. Sie entsprach ein Stück weit sogar den damit verbundenen Klischees: Sie war rau, grob und hatte wenig Sinn für große, emotionale Ausbrüche. Würde Alistair aus irgendeinem Grund anfangen zu weinen, wäre ihr erster Kommentar vermutlich ein 'Heul nicht rum, ist eben so, kannst du auch nicht mehr ändern!'. Und obwohl ihre recht ungeschliffene, oftmals als feindselig oder unhöflich empfundene Natur nicht unbedingt das beste Klima für Romantik und Liebschaft bot, hatte der Dieb es irgendwie dennoch geschafft. Er, der von seiner Mutter mit all diesen wirren, absurden Idealen und Wunschvorstellungen vollgepumpt worden war, hatte sein Herz an sie verloren – und genoss, gerade weil sie war, wie sie war, jeden noch so winzigen Moment, da sie ihre Härte ablegte und ihm einen Schritt weit entgegen kam. Seien es nun kleine Zärtlichkeiten, ein Lächeln oder eben auch nur die Einladung zu einem Gespräch, das ihm die Langeweile vertreiben sollte. Alistair überlegte nicht lange. Die Einladung war möglicherweise einmalig und er wollte nicht zu lange in seiner Freude schwelgen – obwohl genau das ihm durchaus ähnlich gesehen hätte. „Naja... die nennen sich Rebellen und sie planen einen großen Aufstand und Überfälle und eine Machtübernahme... aber erinnerst du dich, was die uns für einen Mist erzählt haben? Ich habe gesehen, wie skeptisch du die Augenbraue gehoben hast... die wissen nicht mal, was sie nach einem Umsturz machen sollen. Oder wie. Und ob sie je bis dahin kommen, ist auch mehr als fraglich. Sieh dir doch die Leute mal an, mit denen wir hier sind. Unsere sogenannte Unterstützung. Ich gehe jede Wette ein, die Meisten von denen wissen immer noch mit einer Heugabel besser umzugehen als mit dem Schwert, das sie tragen... vermutlich hat man ihnen gerade genug beigebracht, damit sie wissen, dass man mit der Spitze zusticht und wie man sich bei einem Schwung nicht selbst enthauptet...“ resümierte der Dieb seine gesamten Beobachtungen, seit sie vor zwei Wochen mehr oder minder freiwillig in die Dienste der Renegaten getreten waren. „Und?“ erwiderte Ashes lediglich mit den Schultern zuckend. Natürlich war ihre Reaktion durchaus angemessen, das wusste Alistair. Das waren fremde Leute, die für eine fremde Sache in einem fremden Land kämpften. Gut, man hätte einwenden können, dass Alistair in Lairuinen geboren war – einem kleinen, ziemlich xenophoben Dorf hoch im Norden, oberhalb der Schnee- und Eisgrenze. Doch seit seinem letzten Besuch dort war es weniger Heimat geworden als jede Schatzkammer, jede Taverne und jedes bezahlte Bett der Welt... und nichts konnte sich mit dem Gefühl messen, wenn er bei seiner Gefährtin war – da sahen sogar die Schatzkammern schlecht aus, und das, obwohl Alistair stets leicht zu locken war, sobald es um Türen, Schlösser, Fallen und vor allem, um Münzen und Reichtümer ging. Das hier war nicht ihr Kampf. Es war nicht ihr Krieg, nicht ihr Aufstand, nicht im Ansatz irgendetwas, womit sie näher zu tun hatten. Allerdings war der Nordmann immer schon weicher im Herzen als die Elbe – obwohl sie gewiss sogar darauf beharrt hätte, dass er mit seinem ständig sonnigen Gemüt und seiner Gedankenlosigkeit manches Mal genug Grund zu der Annahme bot, dass er auch im Kopf weicher sei als sie. Sie waren Söldner. Ein Berufsstand, den die Welt brauchte, dringend brauchte. In manchen Zeiten mehr, in anderen weniger, aber Söldner waren immer eine Art... notwendiges Übel. Für Geld übernahmen sie Arbeiten. Für viel Geld übernahmen sie schwere Arbeiten. Und für ein Vermögen stürzten sich manche von ihnen sogar in schier ausweglose Situation in der Hoffnung, die Götter mögen dem Mutigen gewogen sein und ihnen einen Ausweg schaffen. Ashes und ihr Dieb waren nie so dümmlich gewesen. Als Söldner hatte man eine sehr knapp bemessene Lebenserwartung, was meist daran lag, dass man sich irgendwann – mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Gier – überschätzte. Oder aber, man nahm einen Auftrag an, der aufgrund seiner Belohnung oder Schwierigkeit zu großer Konkurrenz führte... schließlich töteten Söldner einander ebenso, wenn es nur Grund dazu gab. Und als dritter Punkt wurden einem nur zu gerne persönliche Bindungen zur Stolperschnur. Sie waren ein Paar – und hielten dennoch stets eine professionelle Ebene aufrecht. Wenn sie arbeiteten, dann arbeiteten sie. Zeit für alles andere fand sich bei sehr seltenen Gelegenheiten zwischen drin, ansonsten erst, wenn der Auftrag abgeschlossen war. Sie hatten nie lebensmüde gehandelt und sich immer erst ein Bild von Umfang und Schwierigkeit der Aufträge gemacht. Gewiss hätten sie mehr wagen können. Sowohl was die komplexeren Aufgaben, als auch die Einforderung höherer Löhne anbelangte. Aber wer auf Risiko spielte, der erhöhte auch die Wahrscheinlichkeit, irgendwann ganz übel zu stürzen. Sie hatten sich nie übernommen und deshalb lebten sie beide noch. Deshalb ging es ihnen gut, deshalb konnten sie nicht über Hunger und Durst klagen und deshalb hatten sie eine lange Reihe zufriedener Kunden hinter sich zurückgelassen, von denen ihnen keiner nach dem Leben trachtete. Nur waren Söldner eben auch verpönt. Ein notwendiges Übel vielleicht, aber ein Übel. Echte Helden, die übernahmen solche Aufgaben nur für Ruhm und die gerechte Sache. Echte Helden, die setzten sich für Gerechtigkeit ein und ihre Tugendhaftigkeit zeugte von wahrer Größe. Echte Helden starben auch früher und ob das Volk es nun wahr haben wollte oder nicht – auch echte Helden mussten essen, trinken, schlafen, ihre Wunden versorgen. Genau das waren auch die Gedanken, die Alistair beschäftigten. Er machte keinen Hehl daraus, dass er früher Heldengeschichten verschlungen und geliebt hatte – und dass sich daran im Grunde nicht viel geändert hatte. Noch immer bezahlte er hin und wieder in den Gasthäusern, in denen sie logierten, einen zufällig zugegen befindlichen Barden, damit er ihm irgendwelche Abenteuergeschichten erzählte. Ashes meinte dann oft, er sei nie erwachsen geworden, doch sie ließ ihm diesen kleinen Flecken und zerriss ihn nicht mit ihrem Zynismus. Aber trozt allem waren sie Söldner. Und jetzt lagen sie hier im Gras und... warteten mit einem Haufen Bauerntölpeln, denen man ein Schwert in die Hand gedrückt hatte, bis sie eine Karawane des hiesigen Regenten überfallen konnten, und sie taten das weil... nun, zumindest nicht für Geld. „Wir könnten ihnen helfen. Verstehst du? Wir könnten sie besser organisieren. Sie ausbilden.“ schob der Dieb vorsichtig nach einer langen Pause ein. „Wir?“ hakte Ashes lediglich mit einem geradezu wölfischen Grinsen nach, da wurde der Langfinger auch schon eine kleine Spur rot. „Naja... also... du könntest sie organisieren und ihnen das Kämpfen beibringen und ich... könnte ihnen viel größere finanzielle Mittel besorgen. Dann müssten sie nicht mehr in solchen abgewetzten Lederharnischen herum rennen und mit Schwertern kämpfen, die so scharf sind, dass man auch Holzattrappen hätte nehmen können. Oh und ich könnte ihre Verstecke sichern! Und Fallen legen! Hätte ich gewusst, was wir machen, das wir heute hier sind... also hätten sie mir auch nur das Geringste gesagt, wohin wir gehen und wozu, dann hätte ich was basteln können... wir hätten viel Zeit und möglicherweise auch Leben sparen können...“ weitete der Nordmann langsam seine Darlegung der Ideen aus. Ashes schien von alledem wenig begeistert und das hatte mehrere Gründe. Zum einen hatten sie am Höllenschlund Blut und Feuer durchlitten, eine Zeit, die ihnen allen noch tief in den Knochen steckte und von der sich völlig zu erholen wohl eine Weile brauchen würde. Meist war Ashes es, die einem völlig verschreckt und panisch auffahrenden Alistair erklären musste, dass er geträumt hatte und sich verdammt nochmal beruhigen sollte. Dann war mit Lairuinen der nächste Fehlschlag gekommen. Welches Band auch immer den Dieb mit dem Norden dieses Landes im Allgemeinen und mit jenem Dorf samt seiner Familie im Speziellen verbunden haben mochte, wurde rüde zerrissen. Sie konnte schwer abschätzen, wie viel ihm das wirklich bedeutete, vermutete aber, dass er sich weniger anmerken ließ als tatsächlich der Fall war. Dann war da die Schwarzkutte. Der Henker, den Phillipe der Dritte ihnen auf den Hals gehetzt hatte. Die Götter mochten wissen, woher dieser Mann solche Kräfte bezog, aber klar war, dass es sich bei dieser einzelnen Person um einen überaus gefährlichen Feind handelte – selbst für sie, die sie als eingespieltes Team schon so manche Gefahr überwunden hatten, an der unzählige Andere gescheitert wären. Er hatte sie in Sundergrad aufgesucht, es hatte gänzlich unscheinbar angefangen. Doch rasch wurde klar: Der König war ungeduldig geworden und hatte gehandelt. Nun brauchte man die Söldner nicht mehr und versuchte, sich ihrer zu entledigen, einfach schon, weil sie zu viel wussten. Der erste Versuch war gescheitert und sie konnten erfolgreich aus der Stadt in Richtung Höllenschlund fliehen. Doch Ashes wusste genauso gut wie Alistair, dass dieser Mann sie weiter jagen würde. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie finden könnte. Ihre beste Chance lag darin, das Land zu verlassen und das deckte sich auch bisher ziemlich gut mit ihren Plänen: Kathryn, die Piratin aus Anadyr, war ihnen schließlich gefolgt, um sie für sich zu gewinnen, für eine Art von... nun, man konnte es wohl unumwunden Attentat oder Staatsstreich nennen. Das Königshaus von Anadyr hatte einen Umbruch erfahren, die Familie war von der eigenen Tochter verraten worden und die einstige Jugendfreundin Kats hatte ihre Crew inhaftieren lassen. Anadyr war bunt, exotisch, warm und feucht – ein Klima, das Alistair zu schätzen wusste, von den reichen Edelsteinküsten und den unvorsichtigen Krämern in allerlei Tavernen ganz abgesehen. Es wäre ein Paradies für einen Dieb wie ihn. Dummerweise kam man schlecht aus einem Land heraus, wenn man steckbrieflich gesucht wurde. Begriffen hatten sie das nicht in dem Moment, als eine Wachpatrouille sie durch Varakas hetzte, sondern erst, als sie am Hafen von jedem angesprochenen Kapitän abgewiesen wurden und man ihnen daraufhin ihre eigenen Steckbriefe unter die Nase hielt. Die Hoffnung, dass die erbärmliche Wache nur versuchte, die Arbeit der Schwarzkutte auszuführen, war damit zersprungen und ihnen wurde klar, dass sie dieses Land nicht mehr würden verlassen können. Zumindest nicht ohne Hilfe. Natürlich hatten beide zügig die gleiche Idee gehabt: Sundergrad. Seit sie dort das Fürstenmedaillon gestohlen hatten, gab es wieder eine Piratenkönigin, die die zerstrittenen Clans der Freibeuter vereinte. Sie hatten inzwischen von der Revolte in den Straßen von Lumiéls größtem Hafen und Umschlagplatz ausländischer Waren gehört – die Stadt war gefallen. Zumindest für seine Majestät. Eine freie Handelszone, unabhängig, regiert von... nun, Piraten. Aber die könnten es wohl kaum schlechter machen als der König selbst. Sie waren für den Diebstahl damals reich bezahlt worden und von den Diamanten waren noch immer genug übrig. Wenn sie einen gewissen Teil an die Königin zurückzahlen würden, könnte die sie zweifellos mit einem ihrer Schiffe außer Landes bringen. Das war ein guter Plan gewesen und genau genommen, war er es das noch immer. Nur hatte sich nach dem Zwischenfall mit der ersten Wachpatrouille in Varakas recht schnell die Kunde ihrer Gegenwart verbreitet und es hatte sich als schwierig herausgestellt, aus der Stadt heraus zu kommen. Sie waren geflohen, das Netz hatte sich immer enger um sie zugezogen und ein paar der Rebellen erkannten eine sich bietende Gelegenheit. Man hatte sie heraus geschmuggelt und man bot ihnen sogar an, sie ungesehen und ungestört bis nach Sundergrad zu bringen. Nur... hatte jedes Geschäft so seine zwei Seiten. Das sie hier lagen und einer Truppe drittklassiger Bauern'krieger' zum Sieg verhelfen sollten, das war beispielsweise ein Teil der Kehrseite. „Wir könnten uns von ihnen dafür bezahlen lassen! Mal ehrlich, sie hätten es bitter nötig...“ schloss der Dieb seine Erwägungen. Natürlich war das möglich. Sie hatten Kathryn nicht fest zugesagt, nur erwidert, dass sie sich die Lage in Anadyr mal ansehen würden. Und für die Rebellen arbeiten, könnte lukrativ werden. Sie nannten die Orte, wo die Geldsäckchen prall waren, Ashes gab Schützenhilfe und Rückendeckung, während Alistair sie leerte. Sie könnten den Widerstand binnen kürzester Zeit im Geld schwimmen lassen – und daran ihren sicher nicht unerheblichen Anteil haben. Doch würden sie Kat damit zurückweisen, sie würden das Risiko mit der Schwarzkutte eingehen und schlimmer noch – sie würden generell ein reichlich großes Risiko auf sich nehmen. Die Soldaten seiner Majestät waren brutale Idioten, aber gewiss keine Stümper. Man hatte sie gut ausgebildet, sie waren exzellent ausgerüstet und verstanden sogar die Grundsätze von Strategie und Taktik. Söldner waren sie – keine Helden. Sie übernahmen keine Selbstmordmissionen... denn egal, wie gut die bezahlt wurden, man kam selten lebend davon, wenn man auf die Gunst der Götter vertraute. Ashes bemerkte, wie die Karawane in Sichtweite kam. Gute Güte, das wurde auch Zeit! Endlich würde etwas Bewegung in die Sache kommen. Ihr waren längst die Glieder taub geworden und eingeschlafen, eine lästige Erscheinung. Doch noch blieb abzuwarten. Jetzt etwas zu überstürzen, würde unnötiges Blutvergießen bedeuten – auf beiden Seiten, und ihr wäre es lieber, wenn nur eine Seite bluten müsste. Drei Soldaten flankierten den von einem Viergespann gezogenen Planwagen auf jeder Seite, zwei liefen vorneweg, einer saß auf dem Kutschbock. Irritiert verzog die Elbe die Gesichtszüge – da stimmte etwas nicht. Warum war der Wagen nach hinten ungedeckt? Erst durch ihre ausbleibende Antwort folgte auch Alistair ihrem Blick und bemerkte den Konvoi. Sofort keimte eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude in ihm auf. Ihm ging es nicht so sehr um Kampf und Blutvergießen – darin war Ashes deutlich geschickter und begabter -, er war eher darauf aus, etwas zu stehlen. Es war viel, es war wertvoll und es gehörte jemandem mit großem Namen, das machte diese Beute für ihn ziemlich... verlockend. In geübter Manier zog die Elbe die Armbrust von ihrem Rücken, spannte den Bolzen ein und erfasste das Ziel. Die Rebellen waren immer noch zu sehr mit ihren Unterhaltungen und Kartenspielen beschäftigt, um den Karren zu bemerken, der da die schlechte Schotterstraße entlang rumpelte, sodass die Elbe genug Zeit zum Planen hatte. „Der Kutscher hat einen Bogen. Damit kann er auf kurze Entfernung schnell und präzise schießen. Den schalte ich zuerst aus. Wenn sich diese Idioten nicht beim ersten Gegenschlag töten lassen, dann müsste das schnell und sauber-“ hob Ashes gerade flüsternd an, als plötzlich ein Ruf die Stille im Wald zerschnitt. „Für die Freiheit!“ plärrte einer der Rebellen vom anderen Hang her. Ashes wurde rot, als Zorn ihre Mimik verzerrte. „Verdammte Stümper!“ blaffte sie wütend, doch da stürmten schon die Ersten voran. Ein paar Rebellen wollten sogar noch zunächst ihre Würfel und Karten einpacken, sodass es keinen koordinierten, gleichzeitigen Schlag gab... sondern ein konfuses, wirres Durcheinander von Schreien. „Die gehen alle drauf!“ zischte Ashes erbost. Hastig sprang sie auf die Füße und eilte den Hang herab. Noch im Sturm schnellte der Bolzen von ihrer Armbrust und fegte den Bogenschützen vom Kutschbock herab. Die Konstruktion landete irgendwo im Gras, während Ashes noch im Ansturm befindlich das beachtliche Schwert von ihrem Rücken zog. Kriegsgebrüll, so befand die Elbe, war in der Mehrheit der Situationen schlichtweg peinlich und unnütz – man verausgabte sich und seine Ausdauer zu Gunsten eines archaischen Schreies, der gerade in Situationen wie dieser nicht das Geringste bewirkte. Soldaten seiner Majestät ließen sich selten davon einschüchtern, dass ein Haufen Bauern auf sie zugestürmt kam. Selbst dann nicht, wenn es zwei Dutzend Bauern waren. Der erste Ansturm allein kostete vielen Rebellen das Leben und die Abwehr der Eskorte hielt stand – zumindest bis zu dem Moment, da Ashes in ihre Reihen brach. Den Hang ohne Rückhalt herab zu rasen, hatte ihr eine enorme Geschwindigkeit verliehen und als der Soldat das Schwert zum Hieb ausholte, drückte sich die Elbe schlicht vom Boden ab. Vermutlich war es für den Eskortschutz recht ungewöhnlich, eine schwer gepanzerte Elbe zu sehen, die trotz ihres mit Schwert und Rüstung beachtlichen Gewichtes so leicht wie eine Feder in die Luft kam. Ihr Schwert drang präzise zwischen Hals und Schulter in die weichen, ungepanzerten Teile des Körpers. Sie musste es nicht tief in den Leib drängen, schon jene paar Zentimeter waren tödlich. Die Elbe sank wieder, ließ sogar ihr Schwert fallen und rollte sich erschreckend geschickt unter den Pferden hindurch. Die Rösser kamen in Unruhe, trabten auf der Stelle. Der Geruch von Blut und das Geschrei und Gekreische machte sie nervös, doch die Scheuklappen sorgten dafür, dass sie wenigstens nicht durchgingen. Auf der anderen Seite angelangt, riss die Elbe einen der Soldaten um, indem sie sich gegen seine Beine warf. Einen am Boden liegenden, um Gleichgewicht und Erholung von der Überraschung kämpfenden Mann sollten ja wohl selbst diese Idioten bezwingen können. Sie packte den zweiten Soldaten, der soeben einem Rebellen das Schwert in den Leib trieb. Eine schwere Kopfnuss später taumelte er zurück. Ashes entriss ohne Zögern und ohne Skrupel dem Rebellenleib das Schwert – und wendete es gegen seinen früheren Besitzer. In der Zeit, in der Ashes vier Männer des Königs getötet hatte, kam Alistair endlich am Wagen an. Die Art ihres Stils allein wurde allzu rasch bemerkbar – der Dieb blies eine kleine Spur merkwürdig glänzenden Staubes von der rechten Hand. Der Soldat fuchtelte mit der Waffe um sich, während er sich den Stoff aus den Augen zu reiben versuchte, doch der Langfinger war geschickt und wenig genug, flink allen Angriffen auszuweichen – zumal so unkoordinierten. Das Schlafpulver indes tat seine Wirkung und ließ den Mann wie einen Sack Mehl zusammen klappen. Den zweiten Soldaten auf 'seiner' Seite schaltete er mit einer weiteren Prise Pulver aus, die er vorsorglich in der linken Hand gehalten hatte. Ein wenig davon war unterwegs verloren gegangen und durch die Nervosität haftete etwas an seinen leicht verschwitzten Händen an, doch es löste sich bei einem kräftigen Atemstoß noch immer genug, damit sich auch dieses Mal eine feine Wolke um den Kopf des Feindes verteilte. Winzigste Metallsplitter waren es – eine fürchterlich schmerzhafte Erfahrung, machte man den Fehler, sie in Augen, Nase oder Mund zu lassen. Der Soldat taumelte zurück, versuchte wie sein Kamerad schon zuvor, sich das Pulver aus den Augen zu reiben – und verschlimmerte seine Lage damit wesentlich. Noch bevor aus zwei verschiedenen Richtungen die erbärmlichen Schwerter der Rebellen ihren Weg in seinen Körper fanden, blutete er aus Nase und Augen, war halb erblindet und hätte kaum noch schmerzfrei reden können. Alistair blieb nicht, um zu gaffen. Wer zusah, dem entging an anderer Stelle etwas, so hatte er es frühzeitig gelernt. Statt sich die Resultate anzusehen, vertraute er blindlings auf sein Können und die Wirkung der Pulver. Er rieb sich kurz die Hände, um auch die letzten Rückstände los zu werden, zog den kleinen, mit feinen Runen verzierten Dolch aus seinem Gürtel und setzte zum Kampf an. Natürlich keineswegs so, wie es sich für ein Gefecht eigentlich gehörte. Die Rebellen hatten üble Verluste erlitten, zogen sich aber unlängst aus dem direkten Kampf zurück. Zu effektiv waren die Elbe und ihr kleines Anhängsel, man wollte ihnen ja nicht im Wege stehen... und das eigene Leben gefährden, wenn andere das viel besser konnten. Die zwei Soldaten an der Spitze des Zuges und ihr letzter Kamerad an der anderen Flanke sammelten sich neu – und kreisten das ungleiche Gespann rasch ein. „Verdammte Feiglinge...!“ maulte Ashes wütend, während die Rebellen offenbar versucht waren, bereits jetzt, da der Kampf nicht einmal sicher gewonnen war, den Wagen auszuräumen. Statt sich aber darum zu kümmern – denen würde sie schon früh genug ihre Abreibung verpassen! -, griff sie frei heraus den ersten Soldaten an. Der wuchtige Hieb ließ ihn den Kopf einziehen – ganz wie erhofft. Ihrem empor gezogenen Knie konnte er dann nicht mehr ausweichen. Es warf ihn um und obwohl sein Kamerad ihm zu Hilfe zu kommen versuchte, war ihrer beider Schicksal besiegelt. Die Elbe packte das Schwert mit beiden Händen am Griff, um mehr Widerstand und Koordination aufbringen zu können und rammte es, die Klinge an ihrer eigenen Seite vorbei geschoben, direkt durch den Brustpanzer des vermeintlichen Helfers. Noch während der mitsamt dem Schwert im Leib zurück taumelte und langsam zu Boden ging, packte die Elbe den niedergeschlagenen Soldaten an Kinn und Hinterkopf – und brach ihm mit einem Ruck das Genick. Alistair dagegen spielte das Spiel, in dem er sich bestens auskannte. Tänzelnd umrundete er immer wieder den letzten Soldaten, wich flink seinen Attacken aus und setzte nur sporadisch zu Gegenangriffen an. Meist waren diese sogar recht erfolgreich, zumindest, wenn man kleinere, lästige und meist schmerzhaft brennende, oberflächliche Schnittwunden als Erfolg zählen wollte. Als er seinen Gegner nach wenigen Augenblicken völlig erschöpft hatte und dessen Bewegungen immer zäher und träger wurden, erwog der Dieb, den letzten Schlag anzusetzen. „Sie wird dir den Arsch aufreißen...“ witzelte der Langfinger, da fuhr der Soldat – in der Befürchtung, sich Ashes gegenüber zu sehen – bereits herum. Nur um zu sehen, dass die Elbe seinem Kamerad gerade das Genick brach. Kaum aber, dass er sich erneut umwandte, stockte er. Die Augen vor Überraschung aufgerissen, ehe ein Schwall Blut aus seinem Mund quoll. Seine Augen wanderten, sein Blick glitt herab und fand nicht nur den Dieb erschreckend nahe – der hatte seinen Dolch bis zum Heft in der Brust versenkt. Mit einem kräftigen Ruck drehte Alistair die Klinge und zerrte sie wieder aus dem Körper hervor. Noch bevor der Soldat auf dem Boden aufschlug, war auch er tot. Alistair atmete schwer. Abgesehen davon, das es ziemlich viel Aufregung gegeben hatte, war er nicht für Kraftaktionen ausgelegt. Sein sehniger, schmaler Körper erfreute sich eher an Ausdaueraufgaben und dennoch hatte ihn selbst das Umrunden und Ausweichen etwas erschöpft. Das war jedoch wohl kein Vergleich mit Ashes, die wie ein Stier schnaufte. Der Dieb wusste inzwischen, dass das nicht über die noch immer schwelende Kampfbereitschaft hinweg täuschen konnte. Und dann... dann kam dieser Moment, der nie etwas Gutes bedeutete. Der Kampf war vorbei. Neun Feinde lagen bezwungen am Boden. Blutlachen breiteten sich aus, versickerten teilweise im Erdreich. Leere Augen starrten in alle Richtungen. Die Schlacht war gewonnen, die Beute gebührte ihnen und... es war still. Selbst die verdammten Vögel schienen plötzlich die Luft anzuhalten. Kein Krähen, kein Krächzen, kein Gesang und was noch viel wichtiger war: Keine Jubelrufe, keine Siegeslieder, nicht einmal Glückwünsche oder dergleichen. Es war einfach nur... still. „Hier stimmt was nicht.“ merkte die Elbe zum zweiten Mal an. Zusammen mit ihrem Dieb trat sie von der Spitze des Zuges hinfort. Dort lagen... Rebellen. Natürlich, im Kampf waren einige gefallen, das brauchte man nicht beschönigen, doch die Elbe war nicht annähernd so dumm, wie mancher es gerne geglaubt hätte. Die Kämpfe hatten an den Flanken und im Frontalbereich stattgefunden – diese Rebellen aber lagen hinten. Hinten war kein Soldat, hinten war generell nicht gesichert... Ihr Blick fiel misstrauisch zu der Plane, die das Gestell des Karrens überzog und alles verdeckte, was sich möglicherweise im Innenraum befand. Was, wenn dort zehn Soldaten mit Bögen nur darauf warteten? Nein. Die Toten trugen weder Bolzen noch Pfeile. Sie... sah viel Blut, aber nicht einmal ein einziges Schwert – zumindest nicht im Körper eines Gefallenen. Ihre Sorge brauchte sie nicht einmal weiter auszusprechen. Alistair war ebenfalls nicht dumm, er sah das Selbe und dachte sich dabei sogar das Gleiche. Das Ashes davon beunruhigt war, sah er ihr an und wappnete sich entsprechend auf eine Fortführung des Kampfes. Sie umrundeten schließlich in größerem Bogen den Karren. Dicht genug, um die Rückfront sehen zu können, aber nicht so dicht, damit man sie hätte heran zerren und ihnen die Kehlen aufschlitzen können. Das Feld hinter dem Planwagen war eine Schlachtbank geworden. Zwei Dutzend Rebellen hatten ihnen helfen sollen, sicherlich – eine Hälfte davon hatten sie schon bei den Kämpfen gegen die Verteidiger verloren. Aber gute Güte... hier lag die andere Hälfte verstreut und bildete fast kleine Berge. Ashes hatte keine Ahnung, keine Vermutung – aber sie wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Sie ließ Alistair Wache halten, ging ein Stück an der Flanke des Wagens zurück und zerrte den von einem Bolzen niedergestreckten Kutscher von seinem Bock. Sie nahm ihm Bogen und Köcher ab, legte sich Letzteren an und spannte den ersten Pfeil auf die Sehne. Man musste einer möglichen Gefahr ja nicht näher kommen als nötig. Wieder bei ihrem Liebsten angelangt, machten sie sich bereit und sprangen mit einem Satz vor den Karren. Beide... erstarrten. „Es sind doch immer wieder die unerwarteten Zufälle, die das Leben unterhaltsam machen, nicht wahr?“ erkundigte sich in scheinbarem Plauderton jene Gestalt, die in aller Seelenruhe auf den Bergen von Schwertern, Bögen, Äxten und anderen Waffen saß. Die fahle, todkrank wirkende Haut, die über jenem ausgemergeltem Leib spannte, war längst nicht mehr so prägend wie der Anblick der schwarzen Robe, die jene Gestalt verhüllte. Ein alter Bekannter hatte sie wiedergefunden. Die Bewegungen kamen gleichzeitig auf. Der Feind wollte sich nach vorne stürzen und sie zweifellos in ihr Verderben reißen, zeitgleich hob Ashes das Bogenholz wieder und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Der erste Pfeil traf noch recht unkoordiniert seine Schulter und riss ihn herum und schon nur, um ihnen einen Vorsprung zu verschaffen, versetzte sie drei weitere Pfeile. Zwei durchbohrten seine Beine, der Letzte trat in seinen Rücken ein. Rasch stoben die zwei Söldner daraufhin davon. Wohin? Die Frage war gut. Man hatte sie hierher geführt, ohne ihnen zu sagen, was sie hier wollten. Weil der Widerstand ihnen trotz allem noch nicht vertraute, immerhin waren sie ja 'nur schäbige Söldner'. Sie kannten den Weg zurück auch nicht und selbst wenn sie ihn gekannt hätten, wäre die Frage geblieben, ob es sinnvoll wäre, zurückzukehren. Gegen diesen Gegner hatten die Rebellen nichts in der Hand, nichts, was ihnen helfen könnte, nichts, was ihn aufhalten könnte. Das letzte Mal waren sie ihm knapp entronnen, waren aus der Stadt in Bereiche geflohen, in denen er wenig Macht besaß. Dieser Priester – zumindest legte die Robe jene Funktion nahe – bezog seine Macht aus der Dunkelheit. Wie immer das auch vonstatten ging, jeder Schatten, jede Nacht, jede Schwärze waren ihm Verbündete. Sie hatten gesehen, wie er sich von Wunden, die hätten tödlich sein müssen, wieder erholte. Sie hatten gesehen, wie er unter Tonnen von Trümmern begraben wurde und daraus empor stieg. Sie hatten gesehen, wie er in die Schatten trat und sich völlig auflöste, keinerlei greifbaren Körper mehr besaß. Sie stoben durch den Wald, wissend, dass sie schlimmstenfalls bereits jetzt verloren hatten. Natürlich würde das keiner von ihnen zugeben, sie würden bis zum bitteren Ende alles in ihrer Macht Stehende tun, doch... wie viel stand denn überhaupt in ihrer Macht? Sie hätten ihn Köpfen, vierteilen und in faustgroße Häppchen zerlegen können, aber hätte ihn das auch wirklich umgebracht? Noch dazu besaß er große magische Kräfte, mit denen man erst einmal fertig werden musste. Gerade eben mochten sie ihn überrascht haben, aber nochmals würde das gewiss nicht gelingen. Sie verbargen sich im Wald. Er war nur seicht gewachsen, viel zu licht und weitläufig, um wirklich Schutz zu geben. Dort, wo dichtes Unterholz hätte sein müssen, um ihnen Flucht zu erlauben, Deckung und Unterschlupf zu bieten, war Gras gewachsen. Es ergab malerische Landschaften, für die Ashes keinerlei Sinn hatte und die Alistair momentan aus der Lage heraus nicht zu würdigen wusste. Der einzig wirklich nützliche Vorteil des Waldes war der Boden, der sich beständig hob und senkte. Die ganze Region war wie eine Art von großem, beständigem Wellental geformt und wie es das Glück, der Zufall oder die Götter so wollten, fanden sie nach einigen Minuten, in denen sich beide sowohl in Ausdauer, als auch im Tempo völlig verausgabt hatten, in einer eben dieser Wellen eine kleine Felsspalte, die zu einer Höhle führte. Natürlich nicht gerade die Krone der bequemen Häuslichkeit, aber für den Anfang war die Spalte schmal und unscheinbar genug, um leicht übersehen zu werden und die Höhle dahinter groß genug, damit sie beide sitzen konnten. Ein kleines Rinnsal, das der Decke entsprang und sich an der Wand entlang zum Boden zog, wo es in einem kleinen Loch verschwand, spendete zudem nach einer Kostprobe seitens der Elbe durchaus genießbares Wasser. Nur würden sie hier nicht bleiben können. Ausruhen, ja, Kräfte sammeln und sich erholen, gewiss. Aber viel wichtiger war, dass sie einen Plan schmiedeten. „Ich sehe ein, wir können nicht bei den Rebellen bleiben...“ brachte Alistair leise hervor, nachdem er einige Minuten gebraucht hatte, um wieder zu Atem zu kommen. „Bleib du hier, ich bin in ein paar Minuten zurück!“ antwortete ihm Ashes lediglich und noch bevor der Langfinger eine ganze Reihe von Protesten vom Stapel lassen konnte, hatte sich die Elbe bereits wieder durch den Fels gezwängt und war nach draußen verschwunden. Zurück blieb der Dieb, der versuchte, seine Augen an die im Inneren herrschende Dunkelheit zu gewöhnen, um wenigstens erkennen zu können, ob er gerade in den Exkrementen irgendeines Waldtieres und möglichen Bewohners dieser Höhle saß oder nicht... Tatsächlich bedurfte es nur weniger Minuten, ehe die Elbe zurückkehrte und recht ungewöhnliche Kunde mit sich trug. „Er ist noch beim Wagen. Hat sich auf die Seite gerollt und flucht leise, aber er hat sich nicht erholt. Noch nicht.“ eröffnete die Kriegerin. Tatsächlich waren das skurrile Nachrichten. Womit ging es wohl einher, dass dieser schier unbezwingbar wirkende Erzfeind plötzlich verletzlich wirkte? „Hast du versucht, ihn umzubringen?“ hakte Alistair nach und sah, wie die Elbe den Kopf schüttelte. „Nach allem, was wir gesehen haben, könnte das genauso gut eine Falle sein.“ Auch da war durchaus etwas dran. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass dieser spezielle 'Bekannte' sie unter dem Deckmantel der Verwundbarkeit hatte hervorlocken wollen. Beide grübelten darüber nach, wie es nun von hier aus weiter gehen sollte. „Varakas ist vielleicht anderthalb Tagesreisen von hier... eine, wenn wir uns sputen.“ eröffnete Alistair leise, „Die Stadtwache wird nicht erwarten, dass wir nach unserer erfolgreichen Flucht tatsächlich wieder zurückkehren. Wir könnten einen der Kapitäne bestechen... oder wahlweise erstechen, falls uns der erste Offizier eher weiter hilft. Sie schmuggeln uns außer Landes und die Sache hat endlich ein Ende.“ Der Gedanke war grundsätzlich nicht verkehrt und Ashes musste schon allein deshalb schmunzeln, weil es selten vorkam, dass ihr Lieblingsdieb einen wohldurchdachten, weitreichenden Plan hatte. Meist stolperte er eher zufällig in irgendwelche absurden Situationen hinein und schaffte es mit Geschick, einer geübten Zunge und flinken Fingern wieder, sich gerade so um Haaresbreite aus ihr zu befreien. Wobei Glück und Ashes' Beteiligung an solchen Aktionen wohl durchaus auch zu den wesentlichen Bestandteilen gehörten. Dennoch war der Plan soweit nicht schlecht, er hatte nur eine Lücke – und daran, wie Alistair ihr dies vorgeschlagen hatte, hörte sie auch, dass er sich dieser kleinen Schwierigkeit durchaus bewusst war. Kat. Wenn sie nach Anadyr aufbrachen, würden sie die Piraten zurücklassen müssen. Sie mussten jetzt weg, jetzt sofort. Kat einzusammeln hieße, erst einmal den Weg zurück zur Zelle der Rebellen zu finden, ihr die Lage zu erklären und mit dieser horrenden Verschwendung von Zeit zu riskieren, dass ihr Freund Schwarzkutte ihnen auf die Schliche kam und ihnen bis zu den Rebellen folgte. Sie mochten vielleicht 'nur schäbige Söldner' sein und sich durchaus weit weniger für die Sorgen und Nöte derer interessieren, die ihnen kein Geld zahlten, dennoch war es unnötig, ein solches Gemetzel zu provozieren. Andererseits... könnten sie der Piratin auch eine Nachricht zukommen lassen. Wenn sie außer Landes waren, beispielsweise. Der Punkt war: Wiederfinden konnte man sich leicht, aber im Moment war ihr Überleben vorrangig nötig, denn tot nützten sie niemandem mehr irgendetwas. Entsprechend war der Plan zwar gefasst, doch das dezente Räuspern des Langfingers wies darauf hin, dass es noch eine weitere Kleinigkeit zu bedenken galt. „Es wird bald Nacht.“ Soweit sie es bisher erlebt hatten, waren die Kräfte ihres Verfolgers immer dann am stärksten. Gewiss, es war strahlend blauer Himmel gewesen und die Chancen standen gut, dass es eine helle Nacht voller Sternen- und Mondlicht werden würde, aber dennoch... würde er in wenigen Stunden weit mächtiger sein als noch zuvor. Ashes wog einen Moment den Kopf hin und her, ehe ihr Blick – inzwischen an die Dunkelheit in der Höhle gewöhnt – auf ihren Dieb fiel. „Du sagtest doch vorhin, du hättest Fallen aufstellen können...? Wie viel Zeit bräuchtest du?“ kam die Elbe direkt zum Punkt ihres Kerngedankens. Einen Moment stutzte der Langfinger und musste ernstlich überlegen, ob sie Witze machte, doch das sah der Elbe nicht ähnlich. Nicht, dass sie keinen Humor besaß, aber sie war wohl eher ein Freund von Situationskomik... Schwarzer Humor und Schadenfreude, dergleichen inspirierte sie schon eher zu einem Lachen, schmunzelte der Dieb in sich hinein. „Das heißt dann wohl, das wir die hiesige Abgeschiedenheit nicht nutzen können?“ erkundigte sich der Langfinger und die Spur von Kummer in seiner Stimme hätte nicht aufrichtiger sein können. Tatsächlich wusste die Elbe nur zu gut, dass es ihm schwer fiel, die Finger von ihr zu lassen – doch auch Alistair zwang sich in aller Regel zu der bitter nötigen Professionalität, zumindest, während sie Aufträge bewältigten. Dieser hier war nun mehr oder weniger gescheitert, vorbei. Mit einem Schwung hob sich die Elbe über den Schoß ihres Liebsten, stemmte die Ellbogen auf seine Schultern und blickte so zu ihm herab, wie er zu ihr aufsah. Nur wenige Millimeter trennten sie und es war für sie nicht schwer, zu spüren, dass ihm da ganz andere Dinge durch den Kopf geisterten als das Konstruieren von Fallen. „Ich verspreche dir... sobald wir auf einem Schiff sind, das uns hier raus bringt, haben wir alle Zeit der Welt...“ säuselte sie leise. Ihr war klar, dass Alistair Motivation brauchte – und ihr war ebenso klar, dass er spätestens jetzt genug davon hatte. Er seufzte zwar schwer, als sie sich wieder erhob, doch zumindest sträubte er sich nicht, als sie ihm die Hand reichte und ihn auf die Füße empor zog. In den restlichen Stunden des Tages zeigte Alistair ein Arbeitstempo und einen Eifer, der an Ameisen oder Bienen erinnerte. Selbst die Elbe hatte es nun schwer, seinen Gedankengängen und Handgriffen zu folgen und das trotz seiner hin und wieder aufbrandenden Beschwerden, dass er hier auf primitivstem Niveau und ohne die richtigen Ressourcen arbeiten musste. Aus Steinen, Stöcken, Ästen und Seilen baute er alles, was sein Geist hergab. Die Schwierigkeit bei Fallen in einem Wald war, dass man den Gegner praktisch 'hinein lotsen' musste. Ein Wald war groß und dreidimensional, zu leicht konnte man einer Falle entgehen, ohne es zu wissen, indem man einfach einen anderen Weg einschlug. Irgendwer musste also Köder spielen und Alistair wusste genau, wer das war. Ashes war stark und schnell, daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie war der Garant des kleinen Duos, dass sie ihren Willen gegenüber Opfern und Auftraggebern immer gleichermaßen würden durchsetzen können. Doch wenn es um Ausdauer ging, dann kam die Elbe nicht auf die gleiche Kontinuität wie ihr Dieb. Vor allem wohl, da er nur eine sehr leichte Rüstung trug und kaum Waffen mit sich herum schleppte, während man die Elbe zu ihren Spitzenzeiten mit einer wandelnden Waffenkammer hätte verwechseln können. Insgesamt fünf Fallen konnte der Nordmann konstruieren und installieren, bevor die Dämmerung einbrach. „Lauf so weit vor wie du kannst... ich komme nach.“ waren die Worte, mit denen der Dieb sich schweren Herzens von der Elbe verabschiedete. Er wollte sich nicht trennen, doch es war die einzig vernünftige Möglichkeit. Rasch jedoch zeigte sich, warum Alistair noch immer lebte, noch immer keine grauen Haare besaß und manchmal Ashes zur Weißglut trieb: Das unverbesserlich-charmante Lächeln zog wieder auf seinen Lippen auf, kaum dass jene Sekundenbruchteile des Kummers überwunden waren. „Das wird schon gut gehen. Und es wird sicher lustig anzuschauen sein. Wollen wir wetten, ob er flucht?“ Die Elbe verpasste ihm einen kleinen Klaps und mahnte, dass er es nicht übertreiben solle. Ihre Worte klangen, wie es ihrer Natur entsprach. Hart, schroff... aber er wusste, dass sie sich sorgte. Sie... konnte es eben nur nicht so gut zeigen wie andere. Einen Moment blickte er ihr hinterher, bewunderte den wiegenden Gang, erwischte sich dabei, ihr unverhohlen auf den Arsch zu starren, ehe er sich mit einem verschmitzten Grinsen los riss und seinen Weg zurück zu jenem Planwagen suchte. Sie sie es erwartet hatten, stärkte die einsetzende Dämmerung die Kräfte ihres alten Bekannten. Er entriss seinem Fleisch nach und nach die Pfeile, die Ashes auf ihn abgegeben hatten, die Wunden heilten und bald schon schlüpfte er von der Ladefläche, agil wie eh und je. „Geht's wieder?“ erkundigte sich der Langfinger fröhlich. Überrascht riss die Schwarzkutte den Blick herum, erkannte den Narren, der so töricht war, ihn heraus zu fordern – und setzte ihm nach. Insgeheim hatten sie es erwartet. Sowohl, dass dieser Kerl während der Nacht sich nicht im Geringsten um seine Kondition zu scheren brauchte, als auch, dass er in den Schatten springen konnte. Glücklicherweise kannte er das Gelände nicht und auch, wenn Alistair eine fürchterlich schlechte Orientierungsgabe hatte, wusste er zumindest, wo er seine eigenen Fallen gelassen hatte. 60 Schritte links, 200 Schritte geradeaus... Angaben, die er nun natürlich im Rennen begriffen ein wenig abrunden und eher grob schätzen musste, doch wenn er einmal etwas sah, dann reagierte er entsprechend. Die größte Stärke des Diebes war schließlich seine Beobachtungsgabe – und er erkannte immer, wann etwas durch seine Finger geglitten war. Da sie schon gesehen hatten, wie wenig sich ihr Feind von Netzen, verschlossenen Türen und dergleichen aufhalten ließ, hatten sie die Idee einer Netzfalle, die ihn einfangen sollte, gleich wieder verworfen. Tödliche Fallen – zumindest tödlich für jeden normalen Idioten – würden ihn wohl am ehesten aufhalten können, zumindest für eine Weile. Die erste Etappe rammte ihm zwei angespitzte Äste Speeren gleich in die Flanken. Es ging sogar schnell genug, damit der Priester die Falle nicht bemerken und sich in Schatten auflösen konnte. So war er gezwungen, sich unter elenden Schmerzen aus der Falle zu befreien, die tiefen, schweren Wunden zu schließen, ehe er seinem Ziel erneut nachhetzen konnte. Die zweite Falle funktionierte nach dem gleichen Prinzip, baute aber auf dem Lerneffekt des Gegners auf – der Priester erkannte die Parallelen zur ersten Falle und wollte den Seitenhieben ausweichen, indem er vorsprang... weit genug vor, damit weitaus kleinere und spitzere Speerspitzen sich durch die Ledersohlen seiner Schuhe bis in seine Füße bohrten. Auch diesmal ließ sich der Priester davon nicht aufhalten und sehr zu Alistairs Enttäuschung entdeckte und umging er die Fallen Nummer drei und vier. Schließlich, was so nie beabsichtigt war, stellte der Feind ihn auf einer kleinen Waldlichtung. „Nette Ideen, aber der Weg endet hier.“ zischte eine geradezu geisterhafte Stimme. Dennoch war kaum zu überhören, wie schrecklich wütend Alistairs kleine Spielereien ihn gemacht hatten. Einerseits grämte ihn das – jeder Mensch wäre tot gewesen! -, andererseits erfreute es ihn, dass er zumindest irgendetwas bewirkt hatte. Beispielsweise, Ashes einen Vorsprung einzuräumen. „Glaubst du, die kleine Elbenschlampe ist sicher? Ich werde sie schon finden...“ drohte der Gegner an und ging damit genau den einen Schritt zu weit. Niemand, nicht dieser penetrante Nervtöter, nicht irgendwelche volltrunkenen Tavernenschränke und nicht einmal Ceteus selbst, niemand nannte seine Gefährtin so! Der Dieb packte einen Stein vom Boden, hob ihn unter dem belustigten Lachen des Feindes empor und warf... in die falsche Richtung. Die fünfte Falle war etwas, das schon zu dem Zeitpunkt, als sie sie konstruiert hatten, sehr nach Ashes' Geschmack ausgefallen war. Wenig subtil, aber sehr brachial. Ein ganzer Baumstamm – natürlich moderaten Ausmaßes, schließlich mussten sie ihn, trotz Seilwinden, zu zweit empor hieven können. Darauf hatte Alistair einige weitere Astspeere angebracht und soeben kam dieses archaische Konstrukt mit reichlich Schwung herab gestürzt. Alistair warf sich gerade noch rechtzeitig zu Boden, als das todbringende Stück Holz über ihn hinweg fegte. Dummerweise ging auch sein Gegner in Deckung. „Das war's? Das war der große Plan, mich zu stoppen? Nachdem ihr in Sundergrad so erfolgreich entkommen seid, euch so gewunden und clever angestellt habt... ist dieser Mist alles, was ihr noch aufbringt?“ spottete der Priester und lachte erneut auf – Alistair dagegen blieb am Boden liegen und grinste nur zufrieden. „Und du warst auch schon mal intelligenter!“ erwiderte der Dieb just in dem Moment, als Schwerkraft und Trägheit die Falle zurück schwingen ließen. Der Gegner konnte nicht einmal mehr seinen Fehler begreifen, als sich bereits drei der Spieße in sein Rückgrat, seinen Schädel und Nacken bohrten. Zudem brach die schiere Wucht, mit der der Stamm ihn traf, ihm die Schulter und kaum, dass das Pendel auch diesmal den höchsten Punkt erreicht hatte, warf es den Priester von sich, der einige Meter flog, ehe seine Bahn abrupt durch einen Baum gebremst wurde. Er krachte dagegen, Nase, zwei Rippen und der Unterarm brachen und ein Gewirr stürzte zu Boden. Er brach auf seinem Weg zwei Äste, die ihm unzählig Schrammen beibrachten und als er aufschlug, wurde zudem sein noch gesunder Arm ausgekugelt. Was dort am Boden liegen blieb, sah aus wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte. In der vagen Hoffnung, ihn damit für einige Stunden ausgebremst zu haben, sprang Alistair wieder auf die Füße und hastete davon. Sehr zu seiner Überraschung hatte Ashes in der Tat viel Boden gut gemacht und kam ihm auf gut der halben Strecke bereits wieder entgegen. Ihr Gesicht sprach mehr als tausend Worte: Was immer sie gesehen hatte, Varakas war keine Option mehr. „Was ist los?“ erkundigte er sich hastig und warf einen Blick zurück. Gewiss, die Dämmerung war seit ein oder zwei Stunden vorüber, der neue Tag angebrochen und er hatte seinen Kontrahenten nicht wieder gesehen... doch das hatte vermutlich weniger zu bedeuten, als er insgeheim hoffte. „Es gibt nicht nur einen.“ Obwohl Alistair bereits ahnte, was ihre Worte zu bedeuten hatten, ließ er sich auf dem Weg zurück zum Planwagen erklärten, wie die Elbe versucht hatte, Zeit zu sparen. Über die Tunnel, die der Widerstand benutzt hatte, um sie aus der Stadt zu schleusen, hatte sie in Selbige zurückkehren wollen. Doch schon bevor sie eindrang, sah sie am Stadttor von Varakas Schwarzkutten. Drei der Ihren sogar, die offenbar etwas mit den Torwächtern berieten. Einen Silberling und ein paar Drohungen hatte es sie gekostet, von einer kleinen Gruppe ausreisender Krämer zu erfahren, dass diese 'unheimlichen Gestalten, die wohl Pestkranke seien' sich sehr für das Auftauchen und Verschwinden zweier steckbrieflich gesuchter Söldner interessiert hätten. Genug sogar, um die Zöllner von ihrer Arbeit abzuhalten – weshalb die Krämer durch das Tor gekommen waren, ohne Zoll zahlen zu müssen. Wenn eine Schwarzkutte ihnen schon solche Probleme bereitete, würden sie Dreien niemals lebend davon kommen. Varakas war Geschichte, sie brauchten die Hilfe der Rebellen, sie brauchten jemanden, der sie nach Sundergrad schmuggelte und um bei den Rebellen dergleichen noch erwirken und einfordern zu können, brauchten sie etwas, das ihnen eine bessere Position verschaffte. Vier Pferde, ein Planwagen mit dem königlichen Emblem und eine Ladung voller Waffen beispielsweise. Den Weg zurück zum Wald zu finden, war nicht schwierig und Ashes Orientierung war weit besser als die ihres Kumpanen. Gemeinsam fanden sie die Handelsstraße wieder, das Leichenfeld und – brave Pferde! - auch den Wagen samt Inhalt. Sie machten es sich einfach, setzten auf dem Kutschbock auf und lenkten das Gespann so rasch wie irgend möglich die Straße entlang. Tatsächlich tauchte der Priester nicht nochmals auf und es dauerte kaum zwei Tage, bevor sie 'überfallen' wurden. Die Rebellen, in der Annahme, der erste Versuch sei gescheitert, hatten einen zweiten Hinterhalt gelegt. Er war genauso stümperhaft vorbereitet wie der Erste, sodass Ashes den vermeintlich Lauernden schon von Weitem zugerufen hatte, wie die Sache beschaffen sei. Man hatte sie daraufhin zurückgebracht und musste einsehen, dass es ein Fehler war, ihnen den Standort der Zelle nicht zu verraten. Andererseits war niemand begeistert davon, dass zwei Dutzend Kampfwillige ihr Leben gelassen hatten. Manche der Renegaten vermuteten hinter vorgehaltener Hand, Ashes hätte möglicherweise sogar nachgeholfen, aber niemand war dumm genug, das laut zu sagen. An die Geschichte vom übermenschlichen Priester dagegen... glaubte keiner. Hirngespenster, Halluzinationen, Illusionen – alles, aber diese furiose Geschichte konnte unmöglich war sein. Wenn jemand einen Speer in die Flanke gerammt bekam, dann war derjenige tot. Das galt für Menschen, für Elben, für Zwerge, für Magier, für einfach alle. Niemand konnte so etwas überleben! Dennoch: Als Resultat der Lieferung, der Unterstützung im Kampf und der vermeintlich umgehenden Überführung der Beute in den Besitz der Renegaten gestand man ihnen größeres Vertrauen zu. Leider wurde das nicht dadurch ausgedrückt, dass man sie endlich nach Sundergrad brachte. Alistair fühlte sich erstmals betrogen und wurde das Gefühl nicht los, dass man sie gar nicht gehen lassen, sondern irgendwie auf einem völlig verdrehten Pfad für diese Sache gewinnen wollte – womit sie bei Ashes zweifellos an der falschen Stelle waren. Dann jedoch eröffnete man ihnen, dass ein Treffen arrangiert worden sei. Man fuhr sie mit einer Kutsche zu einem verlassenen Festplatz außerhalb eines unbedeutenden kleinen Dorfes im Herzen des Landes. Ein guter Treffpunkt für jene, die ungestört bleiben wollten, aber das Gesetz fürchten mussten. Die vage Hoffnung, endlich nach Süden zu entkommen, brach schnell hinfort und machte Platz für Verwirrung. Alistair, Ashes und Kat sahen einander abwechselnd an. Keiner von ihnen wusste, was hier vor sich ging oder hatte eine Idee, auf deren Basis man sich etwas hätte zusammen reimen können. Und dennoch standen sie hier auf diesem verlorenen Feld im Niemandsland und ihnen gegenüber... stand eine zweite Kutsche. Mit... anderen Figuren. Drei Frauen. Die Linke trug eine Kutte aus derben, braunen Leinen. Offenbar versteckte sie eine abscheuliche Wucherung an ihrem Rücken, einen grässlichen Buckel. Die Kapuze hing ihr so tief ins Gesicht, das man kaum etwas erkennen konnte... außer dem merkwürdigen, gelegentlichen Blitzen von Augen. Die Rechte war von kleinem Wuchs und ihr Anblick erinnerte Alistair auf verwirrende Weise an einen Baum. Ranken, Blätter, Grün überall. Er hatte von Dryaden gehört... aber noch nie war er einer begegnet. Und als wäre das alles nicht schon absurd genug, stand ihnen eine feine Dame im Zentrum der anderen Gruppe gegenüber. Sie trug ein edles Kleid, knickste mit geradezu höfischer Manierlichkeit und obwohl sie keine Krone oder dicke Ketten oder ählich überborderte Schmuckstücke trug, wirkte sie wie von Adel. Eben jene Dame trat aus der kleinen Gruppe hervor. „Verzeiht bitte, dass man euch so wenig sagte. Dieser Tage ist der Drang nach Sicherheit recht groß. Erlaubt mir, mich euch vorzustellen: Mein Name ist Ninafer. Und ich glaube, wir haben... 'gemeinsame Freunde', über die wir reden sollten.“ Kapitel 22: FSK 6 bis 21 ------------------------ Simpelste Mathematik Alexej Toulès von Samara – ein eindrucksvoller, wenn auch oftmals nicht sehr bekannter Name. Er gehörte einem Mann, der seine besten Jahre langsam, aber sicher überlebt hatte und sich schon mit Mitte dreißig Gedanken um einen möglichen Ruhesitz machen könnte. In dieser Nacht jedoch würde Alexej nicht dazu kommen – und auch später nie wieder. Der Mann mit der breiten, kräftigen Statur und den schwarzen Haaren war immer schon ein gläubiger Mensch gewesen, demütig und bescheiden. Er verehrte nicht Phillipe den Dritten, selbsternannten Gottkönig Lumiéls, sondern huldigte wie so viele andere Menschen auch insgeheim im Verborgenen der eigenen vier Wände den alten Gottheiten. Immer schon war er ein großer Freund von Mermerus und seinem Drang nach Vergeltung gewesen. Nicht etwa, weil in seinem Herzen Rachegelüste brannten – im Gegenteil, er war sogar ein recht friedliebender Mensch. Das biss sich jedoch oft genug mit seiner Profession. Mit kaum fünfzehn Jahren war er der Wache von La Coeur beigetreten, er hatte sich mit zwanzig Sommern zum Militärdienst in Übersee verpflichtet, den Namen seiner Heimat auf dem Grund und Boden fremder Kriege und Schlachtfelder zu verteidigen. Alexej war Patriot, gewissermaßen, und empfand seine Rolle als Notwendigkeit. Daran änderte sich nichts, als er in den Rang eines Bellatoren aufstieg und damit der direkten Elite und Leibgarde seiner Majestät angehörte – die Kämpfe waren deutlich seltener geworden, Langeweile griff schnell um sich, die viele seiner Kameraden auf dumme Ideen brachte, aber wenn es dann mal Kämpfe gab, waren sie oftmals anspruchsvoll. Bellatoren griffen ein, wenn alles andere versagt hatte. In seinem Heim hatte er einen kleinen Schrein gebaut. Er sah nicht sonderlich hübsch aus und ein Architekt hätte wohl zwischen einem verzweifelten Lachen und einem resignierenden Kopfschütteln wählen müssen, doch der Angehörige des Niederadels Samaras hoffte, dass auch guter Wille bei Mermerus Gewicht fand. Immerhin betete er jeden Abend vor jenem Altar – dafür, dass die Götter dieser Welt nicht simpler Mathematik folgen. Nimm ein Leben und du wirst eines geben müssen. Nimm ein Leben, um ein anderes zu retten, und die Gleichung stimmt. Ähnlich wie manche Zwerge und Goblins hatte der Adlige ein Gespür für Zahlen. Das hatte ihn hin und wieder in Verruf gebracht – seine Kameraden in La Coeur glaubten ständig, er würde sie bei diversen Karten- und Würfelspielen übers Ohr hauen... was auch nicht völlig an der Wahrheit vorbei ging. Doch heute Nacht würde auch das enden. Heute Nacht endete alles und das wirklich Schmerzhafte war... das zu wissen. Er spürte das fürchterliche Brennen in seinen Beinen, er spürte die Müdigkeit, bleiern und bereit, ihn mit sich in die Tiefen der Finsternis zu zerren. Sein Haar hing in von Schweiß gebundenen Strähnen wirr umher, flatterte im nächtlichen Wind. Äste knackten unter den schweren Panzerstiefeln des Elitesoldaten, seinen Schild, den hatte er längst von sich geworfen. Sie brauchte keine Spuren, die so deutlich waren wie ein im Gebüsch liegender Schild, sie hatte ganz andere Mittel. Er konnte sich gut erinnern, welche. Er hatte seine Kameraden gesehen, allesamt. Der komplette Trupp. Patrouille war ihr Auftrag gewesen. Nur die kleineren Handelsstraßen einmal abgehen, nach dem Rechten schauen, für Ordnung sorgen. Klang einfach, dazu musste man niemandem einen Bellator mitgeben. Alexej wusste das – und hatte sich gewappnet. Aber nichts hatte ihn darauf vorbereiten können, was geschehen war. Einen Überfall hatte es gegeben, zwei Wochen zuvor. Er erfuhr es von den Männern, denen er an jenem Abend zugeteilt worden war. Sie vermuteten eine Bande von Gesetzesflüchtigen, die es nun festzunehmen galt. Da aber niemand willens war, sie in einem langen Marsch mit dem Risiko einer erneuten Flucht in die Hauptstadt zu bringen, entschied man vorab, dass die Räuber Widerstand leisten würden und man sie in Notwehr umbringen müsste. Der Adlige hatte dazu kein Wort verloren. In den ersten Stunden bis zur Dämmerung war alles ruhig geblieben, aber kaum, dass die Sichtweite durch die Dunkelheit rapide abnahm und Nebel aus den jenseitigen Wäldern kroch, brach die Hölle los. Sie jagten einer Gestalt nach, ohne zu wissen, wer oder was sie war – und begriffen zudem viel zu spät, das nicht sie die Jäger waren, sondern die Beute, die dem Köder gefolgt war. Sie hatten sich in wenigen Minuten völlig verirrt. Pflanzen wogten in Winden, die es nicht gab, Wurzeln stellten ihnen Hindernisse, die vorher tief im Boden geruht hatten, Vogelgezwitscher aus allen Himmelsrichtungen – der Wald hatte sich angeschickt, sie völlig zu verwirren... und das erfolgreich. Er hatte befohlen, mit gezogenen Klingen dicht beisammen zu bleiben, aber wozu sollte man schon auf den erfahrenen Kriegsveteranen hören? Diese Narren hatten sich aufgeteilt... und waren verschwunden. Kurze Schreie hatte man gehört, falls überhaupt. Sie waren herum geirrt, um die Kameraden zu finden. Enthauptet durch eine Schlinge, die nadelfein war – und klebrig. „Keine Spinne webt sowas!“ befand der Soldat und blickte nach oben, bemüht in das Geäst des Baumes hinein. Alexej hatte sich retten können, als eine gewaltige Schar, ein großer Klumpen krabbelnder Achtbeiner, herab stürzte und den Mann umwarf. Er wälzte sich, schrie, jammerte, zuckte... hörte auf. Inzwischen war sich der Offizier nicht einmal mehr sicher, ob es Glück und Zufall gewesen war, die ihn gerettet hatten. Er fand nach und nach all seine Männer. Nun war es wieder, als würde der Wald wollen, dass er sie sah. Er lotste ihn, mit freien Wegen, ebenen Pfaden, vereinzelten Rufen, die verdächtig klangen und sich weder Tier noch Mensch zuordnen ließen. Er fand Wölfe, die ihn bedrohlich anknurrten, während sie die Gedärme aus einem Soldaten zerrten, der entsetzt zusah und verzweifelt die Hand nach ihm streckte – bis ein weiterer Wolf hinein biss und so lange daran rüttelte, bis ein zerfleischter Stummel Blut verspritzte. Er fand sie alle. Was er nicht fand, war ein Räuber. Spinnenschlingen, Wolfsrudel, ein Schlangenbiss eines giftigen Tieres, das in diesen Breitengraden nicht einmal hätte existieren dürfen – der Wald hatte sie getötet. Irgendwie. Alexej hatte eine Antwort bekommen. Die Frage, ob die Götter nach einfacher Mathematik entschieden, war in jener Nacht für ihn gelöst worden. Vielleicht mochten sie das nicht immer tun, vielleicht mochte dies sogar eine Ausnahme ihres sonstigen Vorgehens sein, aber heute Abend... da taten sie es. Ein Leben für ein Leben. Und zu allem Überfluss erkannte der Offizier sogar, um welche Leben es hierbei ging. Er hatte es zunächst nur geahnt. Ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung und Resignation, als sie den Wald betraten und achtlos Äste, Grünzeug und Kleintier breit traten. Er hatte es geahnt, als zwei Gesichter der Männer, mit denen er losgezogen war, ihm seltsam vertraut vorkamen. Puzzleteile, deren Motive man nicht richtig erkennen konnte. Verwaschene Farben, als würde man unter Sehschwäche leiden, wirr flogen sie umher und waren nicht willens, sich zu sortieren. Erst als er der Quelle gegenüber gestanden hatte, kam Ordnung. Zu einer anderen Zeit hätte er über diese Dopplung vielleicht schmunzeln müssen. Ausgerechnet sie brachte Ordnung in all dies. War nicht eben das ohnehin ihre Aufgabe? Schwer keuchend presste er sich an einen Baumstamm. Seine Kondition war gut, trotz seines Alters, aber... das hier, das war zu viel. Insgeheim fragte sich Alexej, warum er überhaupt noch davon rannte. Es war unausweichlich, das wusste er. Sie spielte nur mit ihm, sie... jagte ihn nicht mehr wirklich. Hätte sie es gewollt, hätte sich die Rinde in seinem Rücken einem Maul gleich aufgetan und der Baum hätte ihn verschluckt – er zweifelte keine Sekunde, dass das möglich wäre. Aber sie wollte ihn strafen, bevor sie ihn tötete. Und ein Teil in ihm wollte ihr diese Jagd geben, wollte ihr diese Gerechtigkeit, diese Genugtuung gönnen. Er stieß sich vom Baum ab, rannte weiter. Irgendwo hinter sich sah er bei einem Schulterblick eine Silhouette zwischen den Büschen verschwinden. Sie war nah, viel näher, als er erwartet hätte. Zu spät wandte er den Blick wieder vorwärts, sah den Baum noch, gegen den er Sekunden später mit voller Wucht prallte. Der Aufschlag warf ihn zwei taumelnde Schritte zurück, ehe er das Gleichgewicht verlor. Es schepperte, als er in seiner Rüstung zu Boden ging. Der Metallhelm tat weh, als sein Kopf aufschlug, er fühlte sich elend, würgte, glaubte, sich gleich übergeben zu müssen und versuchte über ruhiges, tiefes Durchatmen dem Effekt entgegen zu wirken. Wie er es in der Ausbildung gelernt hatte. Er war erstmals auf einem Schlachtfeld durch Blut und die Innereien seiner Mitstreiter gewatet, eine Woche lang hatte der traumatisierte Bursche nicht zu zittern aufhören können, bis sein Lehrmeister ihm beibrachte, zu meditieren, sich zu beruhigen, sich gegen äußere Einflüsse völlig abzuschotten. Einen Regenmantel, so hatte er es genannt. Blut, Gewalt, Grausamkeit – die Welt war voller schrecklicher Dinge, die ein Lebewesen dem anderen antat. Oft reagierten die Götter nicht, gleich, wie sehr man sie anflehte. Dann brauchte man die Fähigkeit, all diese grässlichen Dinge an sich abperlen zu lassen. Wie ein Regenmantel. Als die tanzenden Sterne vor seinem Gesicht verschwanden, fielen ihm endlich die Namen wieder ein. Die zwei Männer, die ihm so seltsam bekannt vorgekommen waren. Er wusste wieder, wer sie waren. Woher er sie kannte, das war ihm schon eingefallen, als er ihr plötzlich gegenüber gestanden hatte. Er war gerannt, hatte sich getrieben und gehetzt gefühlt. Raus aus dem Wald, das war sein einziger Gedanke gewesen. Bloß raus! Kurz vor der Baumlinie hatte sie sich plötzlich hinter einem der Stämme hervor bewegt. Er bremste, verharrte, starrte ihr in die Augen. Ihm wurde mit Sekundenbruchteilen alles klar. Der Überfall vor zwei Wochen. Warum ausgerechnet hier – damit er diese zwei Männer mitbrachte. Warum ausgerechnet er und sie, alles hatte sich aufgeklärt. Wie blauer Himmel, der durch eine tagelange Wolkendecke bricht. Gewissermaßen war es ein Trost. Er hatte es zu hassen gelernt, für Phillipe zu arbeiten. Dieser Mann war einfach nicht, was er sein sollte: Eine weise, gerechte Führungspersönlichkeit, der das Wohl des eigenen Volkes am Herzen lag. Nein, dieser selbsternannte Gott war ein Frevler, ein jähzorniges Kind mit zu viel Puder im Gesicht, schief sitzenden falschen Goldlöckchen und dem Führungsvermögen einer Stubenfliege. Schlimmer aber waren die Geschichten, die man hörte. Über die Zustände im Kerker, die Praktiken in den Folterkammern, über die... Vorlieben seiner Majestät. Über junge Mädchen, die von der Wache verschleppt im Schloss verschwanden und nie wieder auftauchten. Über den Garten aus Pfählen vor der Burg, über seinen Harem von gebrochenen, willenlosen Weibern, leere Hüllen mit makellos-langweiliger Schönheit, Geschenke von Ländereien, mit denen man um der Götter willen nicht würde handeln wollen. Selbst ein Mann wie Alexej hatte begonnen, dieses kleine Kind zu fürchten. Und in seiner Furcht hatte er eine schreckliche Dummheit begangen, schon vor einigen Jahren. Er hatte sie zusammen mit zwölf Männern verrichtet, die alle inzwischen tot waren. Zwei davon starben erst diese Nacht, einer von Wölfen zerrissen, einer von einem Schwarm Vögel angegriffen. Auch jetzt sah er sie dort oben im Geäst sitzen. Hunderte der Gefiederten... sie warteten auf das Finale. Ein Gewicht legte sich auf seine Brust, sein Blick wanderte. Ein zierlicher, kleiner Leib, splitternackt und mit grünem Schimmer. Manche Stellen ihrer Haut wirkten schorfig, als hätte sie die Pest – aber es war Borke, das wusste er. Tierische Augen, gefüllt von Jagdlust und Rachegelüsten blitzten ihn an, während sie einen Dolch hob. Das einzige Werkzeug, das sie bei sich führte. Keine Waffe – Waffen brauchte sie nicht. Sie hatte den Wald um sich herum. Sie wartete. Worauf? Tränen stiegen ihm in die Augen. Es war zu Ende. Diesem kleinen, stets zornigen Bastard von einer Schlange verdankte er, was ihm nun widerfuhr. Er hatte sich von Angst leiten lassen, er hatte Hunderte, Tausende, wenn nicht noch mehr Leben ausgelöscht – weil es ein Befehl war, weil er Angst hatte, sich dem Befehl zu widersetzen, weil er die Wut und Vergeltung eines kleinen Kindes mehr gefürchtet hatte als den gerechten Zorn der Götter. Simpelste Mathematik. Er und seine Männer hatten damals ihren Wald auf königliches Edikt nieder gebrannt und ihre Heimat zerstört, ihre Rudel, ihre Schwärme, ihre Wurzeln, alles. Mermerus würde ihn für diesen Frevel verdammen und ihn bis in alle Ewigkeit die Leben abzahlen lassen, die er so leichtfertig um seiner Selbst willen geopfert hatte. Die Spitze des Dolches setzte unter seinem Kinn an, doch noch immer harrte sie aus. „Es tut mir so schrecklich leid.“ brachte er unter Mühe hervor. Die belegte Stimme zitterte und er betete, so inbrünstig wie nie zuvor um nur eine Sache: Das sie das aufrichtige Bedauern in seinen Augen erkennen möge. Dann ein Ruck... und die Jagd war beendet. Old Cuisine Vorsichtig und zaghaft – nicht anders wagten die zwei Goblins über den Rand des scharfkantigen Felsenmeeres zu spähen, um das Objekt ihrer Begierde ausfindig zu machen. Überall, so weit das Auge reichte, erstreckte sich eine wüste Landschaft aus abgebrochenen Trümmern und Felsklüften, die sich anschickten, bis zu fünf Meter in die Höhe zu ragen. Dieser Teil Südlumiéls war nicht umsonst als großes, wirres Labyrinth verschrien. Wie er entstand, wusste keiner. Die Wüstenvölker hatten angeblich ein paar eindrucksvolle und lagerfeuertaugliche Geschichten über einen großen Götterkrieg und zerschmetterte Riesen... oder... Titanen... oder... sowas. Nur waren weder Sprinkel noch Basil sonderlich an irgendwelchen wirren Menschengeschichten interessiert. Diese Felsen hatten bisher verhindert, das ihr Herumschleichen bemerkt wurde – so weit, so gut. Dummerweise war auch beiden trotz mangelnder Fähigkeit zu langfristiger Planung klar, dass dieser Irrgarten genauso gut ihren Rückzug verhindern, oder doch zumindest beschweren würde. So ungern Sprinkel das auch zugab – diesmal besaß er einfach nicht genug Bomben, Granaten und andere Sprengvorrichtungen, um einen schnellen Fluchtweg zu schaffen. Ganz abgesehen davon waren die hiesigen Gesteine fürchterlich porös, einen zu sprengen käme einer Splittergranate gleich – überall scharfkantige, gezackte Steine, die mit bedrohlicher Geschwindigkeit in alle Richtungen durch die Luft sirrten und alles zerrissen, was ihnen in die Quere kam. Nein, die bloße Vorstellung, in so einem Regen zu stehen, war unappetitlich genug, selbst den Sprengwütigen davon abzubringen. Es musste einen anderen Weg geben und tatsächlich erschlossen sich einem da gleich mehrere Möglichkeiten. Ihre potenziellen Verfolger würden die Steine weder stören noch aufhalten, allerdings- nun, genau das war der Haken an der Sache. Es gab keinen richtigen Plan, über dessen Stärken und Schwächen man hätte streiten können, weil der Streit schon da begann, wo festgelegt werden sollte, welchem Plan man folgte. Basil hatte einen, den er für tauglich befand. Sprinkel war der aber viel zu lasch, viel zu unspektakulär und überhaupt würde so ein Mist viel besser zu den geistigen Ergüssen eines fantasielosen Gnoms passen, sowas gehörte sich für einen waschechten Goblin einfach nicht! Doch egal, wie sehr er den Jüngeren anzumahnen versuchte, der wollte von seiner Idee einfach nicht abrücken. Immer wieder bekräftigte er, dass sie keinen spektakulären Plan brauchten, sondern einen, der funktionierte. In Sprinkels Welt stand einer Vereinigung beider Details nichts im Wege, aber offenkundig konnte Basil es einfach nicht sein lassen, ihn immer wieder darauf hinzuweisen, worum es hierbei ging. Als hätte er das nicht selbst am besten gewusst! Genau diese Erwähnungen machten Sprinkel aber immer ungeduldiger und zorniger. Wütend war er auf sich, weil er es so weit hatte kommen lassen, auf Basil, weil er so uneinsichtig war und auf Veruka, weil sie ohne einen Bruder zum Schutz einfach nicht auf sich aufpassen konnte. Jawohl! So war das. Mit Missverständnissen und ein paar zu hastig ausgesprochenen Worten hatte das gar nichts zu tun. Mitnichten! „Los jetzt!“ drängte Sprinkel, doch Basil weigerte sich vehement, „Gut, pff, dann bleibst du eben hier und ich gewinne alleine!“ plusterte sich der Goblin auf und hastete über die scharfkantige Felsformation hinweg. Er rannte ein paar Schritte den Hang herab, verlor das Gleichgewicht, purzelte weiter und verursachte schon damit so viel Lärm, das Basil in Deckung ging und nur vorsichtig wieder herauf zu lugen wagte, als die zwei Trolle längst ihre Aufmerksamkeit verlagert hatten. Mit behäbigen, wuchtigen Schritten wandten sie sich von der sorgsam aufgeschichteten Feuerstelle ab, an der zwei hölzerne Gabeln einen Spieß hielten, an dem sorgsam verschnürt gegenwärtig Veruka baumelte und sich die Seele aus dem Leib kreischte. Basil verstand nicht genau, was sie schrie. Vorhin hatte er ein paar Fetzen über Schuhe und ihre zerstörte Frisur aufgeschnappt und in schwärmerischer Anwandlung nicht anders gekonnt, als ihre Tapferkeit im Angesicht zweier knurrender Trollmägen zu loben. Er hatte sich einen langen, galligen Blick ihres Bruders damit eingefangen, aber gegenwärtig schien sie einfach nur nach Sprinkel zu schreien, der sich mühsam entknotete und wieder auf die Plattfüße kam. „Lasst sie los, sonst... zünde ich euch an!“ drohte die laufende Sprengkapsel und fuchtelte mit einem seiner zahllosen, improvisierten Sprengsätze herum. Prompt kreischte Veruka ihn an, dass er nicht solchen Unfug machen solle – Basil hätte sogar darüber lächeln wollen, dass sie ihren Bruder vor der Instabilität der Felsen und dem möglichen Splitterregen warnte, der sie alle würde töten können... alle, außer die Trolle. Genau die Argumente, die der schüchterne Goblinjunge selbst verwendet hatte. Dummerweise war Sprinkel ganz grundsätzlich nicht sehr kompromissbereit. Schon gar nicht war er für Vernunft zugänglich, wenn zwei daher gelaufene Dinger, die gegenwärtig Sabberfäden bis auf den Boden zogen, einfach seine Schwester bedrohten. Goblinnapping stand sogar in Poropay unter harter Strafe – und da ließ man den Leuten so einiges durchgehen. Nur das mit der Esse, das hatten sie irgendwie... naja... nie so richtig verkraftet. Die Trolle nahmen Anlauf und es kam, wie es kommen musste. Sprinkel bekam das Feuer nicht schnell genug an die Lunte, erst als sie Trolle ihn fast erreicht hatten, zündete diese und er holte aus. In dem Bemühen, seine vermeintliche Fackel zu zerstören – denn Trolle fürchteten nur Feuer und Säure, das wusste selbst ein Waisenkind aus Poropay –, schlug einer der Giganten danach... und traf mangels feiner Koordination, Geschicklichkeit und auch sonstiger geistiger Fähigkeiten kurzerhand einfach Sprinkel selbst. Der Goblin gab ein ächzendes Geräusch von sich und einen erschreckend gutgelaunt klingenden Schrei, während er in hohem Bogen diverse Meter weit flog – und irgendwo hinter dem Felslabyrinth verschwand. Der Aufschlag war sicherlich... unangenehm, mutmaßte Basil. Die Trolle jedoch waren wenig glücklich darüber, das ihnen eine weitere Mahlzeit einfach entwischt war – sie schoben die Schuld daran nämlich dem 'fliehenden' Sprinkel zu – und widmeten sich wieder Veruka. Die kreischte sich schon wieder die Seele aus dem Leib. Einer der Trolle hob die Pranke in ihre Richtung, da bekam es Basil mit der Panik zu tun. Er wusste nicht, was – aber irgendwas musste er tun. Nicht irgendwann, nein, jetzt! Er stürmte, wie schon Sprinkel zuvor, über den Felskamm und purzelte, wie schon Sprinkel zuvor, mangels Geschick einfach den Hang herab. Prompt wandten sich die Trolle wieder um und waren diesmal deutlich schneller herbei – vermutlich konnten sie die Goblins nicht voneinander unterscheiden und wähnten Sprinkel zurückgekehrt, noch immer die Fackel fürchtend. „Halt!“ befahl Basil in ungewohnt lautem und geradezu gebieterischem Tonfall, während er voller Verzweiflung und der Hysterie nahe seine Taschen abklopfte. Etwas, bitte etwas, irgendetwas...! Die Trolle hielten tatsächlich an – wusste die Erbse, die sie Hirn nannten, warum. Zumindest verschaffte es Basil die kostbaren Sekunden, die er brauchte, um etwas zu ertasten, zu umgreifen und mit triumphierendem Blick hervor zu zerren, als würde er gleich das allmächtige Superschwert aus elbischem Familienbesitz mit Namen, Persönlichkeit und mehr Fähigkeiten als es magische Schulen gab hervor zerren. Dummerweise war es nur sein kleiner Teslastab, der im Angesicht solcher Riesen wenig eindrucksvoll ein paar vereinzelte elektrische Funken sprühen ließ. Die Trolle zeigten sich dagegen mangels größerer Intelligenz tatsächlich fasziniert davon, wenn auch nicht sehr beeindruckt. Sie traten sogar ohne Scheu noch näher – wodurch Basil augenblicklich ganz klein wurde und noch weiter in sich zusammen zu schrumpfen begann. Einer streckte seine Pranke aus, berührte den Stab und zuckte unter Überraschung zurück, als die Ladung auf ihn übersprang. Er brach in Gelächter aus und prompt wollte sein Freund oder was immer die beiden füreinander waren, es auch mal probieren. Schließlich standen zwei röhrend und kehlig lachende Trolle und ein völlig in sich gesunkener Basil, dem die Knie ganz schrecklich zitterten, zu dritt auf dem Platz, auf dem Veruka gleich gebraten und verspeist werden sollte. Erst ihre Aufforderung, das er irgendetwas tun sollte, mahnte Basil dazu, das er sich zusammenreißen musste. Hatte er nicht Sprinkel sogar selbst gepredigt, dass es hier um mehr ging als Eindruck zu schinden oder neue Ideen auszuprobieren? Jawohl! „Ihr könnt sie nicht essen!“ brachte der Goblinjunge bemüht tapfer hervor. Die Trolle blickten einen Moment zu Veruka, dann maßen sie einander, ehe sie mit zuckenden Schultern sich Basil zu wandten. „Aber wir Hunger! Sand fad und körnig.“ hob der Erste an. „Ja, körnig. Zwischen Zähnen!“ stimmte der Zweite zu. „Hmmm, Hunger.“ wiederholte der Erste und ließ, wie zu Vorführzwecken, ein tiefes Grummeln in seiner Magengegend hören. Einen langen Moment war Basil schlichtweg verstört von der Vorstellung, dass diese Trolle allen Ernstes versucht hatten, sich von Sand zu ernähren. Zumindest machte ihn dieser Umstand darauf aufmerksam, dass den Trollen offenbar nicht sonderlich wichtig war, womit sie sich ernährten, Hauptsache, es war irgendwie essbar. Wer sonst würde wohl auch einen Goblin braten wollen? „Du essbar?“ erkundigte sich der Erste wieder – und ab diesem Augenblick wurden Basils Augen größer und größer, als er sah, wie die schwerfälligen Zahnräder im Kopf des Trolles arbeiteten. Er entkam gerade noch dem ersten Versuch, gepackt zu werden und hechtete Hals über Kopf taumelnd und strauchelnd davon zwischen die Felsen – woraufhin ihm die Trolle ohne Mühe folgten. Wo er Hindernisse umschiffen musste, trampelten sie sie einfach breit oder rannten mitten hindurch. Schließlich waren sie so nahe, dass sie auf seine Ferse traten und der Goblin schon wieder als ein Knäuel von Armen und Beinen über den Boden rollte und in einer Pfütze liegen blieb, direkt unter einem größeren, steinernen Vorsprung gelegen. „Hmmm~“ quittierte der Goblin den wohligen Geruch. Erst nach einer Schrecksekunde wurde ihm bewusst, wo er sich befand. Die Desorientierung ebbte ab, gerade als die Trolle ihn erreichten und erneut gebot ein einfaches „Halt!“ ihnen tatsächlich, stehen zu bleiben. Basil wagte ein unsicheres Lächeln, als er die Hand tief in die Pfütze grub und etwas davon hervor förderte. Er streckte es den Trollen entgegen – wobei sein Arm so zitterte, dass er kaum die Richtung halten konnte. „Ihr w-wollt doch... i-ihr habt doch... H-Hunger, nicht?“ stammelte der Goblin und streckte in einer Geste nochmals die Hand aus. Die Trolle neigten sich herab und schnüffelten bemüht an der kleinen Hand, an der sich – wie sie grunzend feststellten – sowieso kaum Fleisch befand. „Was'n das?“ wollte der Zweite wissen. Und er klang neugierig – nicht angewidert. Basil, von Natur aus ein kluger Bursche, verbuchte das als Sieg auf ganzer Linie und erstmals seit diese Sache begonnen hatte, wagte er erleichtert durchzuatmen. Er erklärte den Trollen, dass es sich um Faulschlamm handle, etwas, das in seiner Heimat als Delikatesse gehandelt wurde. Man könne daraus alle möglichen Speisen zubereiten, er verleihe eine gesunde, grüne Hautfarbe, wäre im Sommer perfekt, um Insekten abzuwehren und würde erfolgreich jeden Hunger stillen und falls dem nicht so war – könnten sie ihn in Poropay immer noch gegen Schafe oder anderes Viehzeug eintauschen. Als Basil zu Veruka einkehrte, fühlten sich seine Beine an wie Wackelpudding. Er band das sichtlich überraschte Mischblut vom Spieß los, die ihn daraufhin mit einem Wust von Fragen überschüttete. Vorläufig beließ er es dabei, zu erklären, dass die Trolle ihnen vorläufig keine Probleme mehr bereiten würden. Er hätte schlecht ahnen können, nein er war sich sogar völlig im Unklaren darüber, das Veruka vermutete, er hätte den zwei Giganten das Licht gelöscht. In einer Anwandlung ungestümer Dankbarkeit und... vielleicht sogar ein klein wenig mehr als das, fiel sie ihrem Retter um den Hals. Hatte Basil geglaubt, seine Beine wären butterweich, so fand er keinen Ausdruck mehr, was sie erst wurden, als sich ihr Körper an den seinen schmiegte. „Du bist ein Held!“ lobte das Waisenmädchen ihn, schloss seinen Kiefer in ihre Hände und drückte ihm einen langen Kuss auf die spröden Lippen, „So, und jetzt sammeln wir die Einzelteile von meinem Bruder auf!“ beschloss Veruka, kaum, dass sie sich gelöst hatte. Sein Herz schlug ihm vom Hosenboden bis zur Kehle, ihm war heiß und kalt zugleich und alles drehte sich, ein Kribbeln zog durch seinen Körper... von seinen Lippen ausgehend. Basil spürte dem Kuss völlig erstarrt nach, kehrte sie nach innen und fuhr mit der Zunge darüber – ehe er ein kleinlautes „noch nicht“ vorschob. Gerade, als Veruka sich verwirrten Blickes umwandte, hing der Goblinjunge wieder an ihren Lippen – und entgegen ihrer sonstigen Art, wehrte sie sich nicht. Es dauerte die eine oder andere Minute, ehe Basil sich dazu durchringen konnte, den weithin hörbar fluchenden Sprinkel wieder einzusammeln und die traute Zweisamkeit damit zu beenden... zumindest... vorläufig. Wie Katz und Maus „Sie verspäten sich! Wir mögen es nicht, wenn man uns warten lässt.“ piepste die ungeduldige Stimme seiner göttlich-königlichen Majestät Phillipe dem Dritten ungeduldig durch den Thronsaal. Niemand hier wagte zu widersprechen – alle wussten, wie schnell der König ungehalten wurde und wie unangenehm das meist für die Verantwortlichen und für die Boten solch schlechter Nachrichten war. Entsprechend entfernten sich die zwei Bellatoren, die an der Doppelflügeltür Wache schoben, raschen Schrittes, kaum das ihr Herrscher nach seinem Berater schickte. Celsor zu finden war stets eine Frage des Glückes, doch das war ihnen diesmal offenkundig hold – sie fanden ihn auf dem Weg zum Thronsaal, eskortierten ihn bis durch die Pforte und klärten ihn unterwegs so weit auf, wie diese falsche Schlange es wünschte. Der Berater seiner Majestät war... unangenehm. Während der König selbst unter vorgehaltener Hand als jähzorniges Kind und anmaßende Puppe beschrieben wurde, war Celsor etwas, das man in sterbenden Königreichen oft fand – meist auch in genau solchen bedeutsamen Positionen: Er war ein kränklicher, aalglatter Bastard, der dem König mit seiner gebrechlichen Stimme 'Ratschläge' einflüsterte, wie eine Schlange durch ihre Zähne das Gift in die Beute drückte. Niemand aus dem engeren Kreis des Hofstaates zweifelte daran, das Celsor gemeingefährlich war. Nicht nur aus seinen Befugnissen heraus und weil er es geradezu meisterhaft verstand, Worte zu verdrehen und Intrigen zu spinnen. Dieser widerliche, ekelerregende Anblick hatte etwas an sich, das seine Mitmenschen frösteln ließ. Noch dazu verstand er sich mit Giften – wie eben jenen, die sich an der Klinge des Dolches befanden, den seine königliche Hoheit stets bei sich trug. Auch jetzt, da er seinen Hintern auf dem Thron geparkt hatte, tätschelte er die auf der breiten Armlehne bereitliegende Schneide, als wäre sie ein guter Freund und alter Begleiter. Ein denkwürdiger Anblick, wenn dem König die Klinge näher stand als das Volk oder die Familie. Wobei inoffiziell sowieso jeder wusste, dass der alte König ganz gewiss nicht an einer Herzattacke gestorben war. Aber hier, im innersten Heiligtum Lumiéls, da wagte niemand auch nur die falschen Dinge zu deuten. Die Götter allein mochten wissen, über welche Mittel der Puppenkönig gebot – vielleicht vermochte er sogar mit Magie in die Köpfe seiner Untertanen und Wachen zu spähen, wer wusste das schon? Alle paar Wochen wurde ein Wachmann oder Höfling hingerichtet, weil das Spinnennetz, das Celsor gewoben hatte, ihm alle Informationen am Hofe zuführte. Wann immer jemand einem Küchenjungen, einer Hure des Harems oder auch nur beim feuchtfröhlichen Kartenspiel einem Kameraden etwas Negatives über seine Majestät zutrug, er erfuhr es... und leitete es gnadenlos weiter, woraufhin Phillipe bisher ebenso bar aller Skrupel maßlos harte, grausame Urteile verhängt hatte. „Wo bleiben sie? Wir wünschen uns heute Nacht auch noch zu Bett zu begeben!“ zürnte der König, als Celsor stehend seinen Platz an dessen Seite einnahm. Die kränkliche, stets ein wenig buckelig laufende Gestalt nickte ehrfürchtig. „Sie werden kommen, seid gewiss.“ versicherte das unheimliche Wispern dem König. Nur wenig später stürmte ein Soldat herein. Sie waren also endlich da. „Irgendwas ist faul an der Sache! Das geht einfach zu leicht...! Ich habe Gerüchte gehört, das vor ein paar Wochen so ein Haufen Irrer hier eingebrochen sind, die haben einen Aufstand in den Kerkern angezettelt und sind dann wieder entkommen. Und du willst mir ernsthaft erzählen, dass sie seither die Wachen nicht verstärkt haben, die Patrouillenrouten nicht geändert haben, das hier nichts passiert ist?“ Die Anspannung war greifbar – auch ohne jene Ausführungen. Die vier Gestalten bewegten sich nahezu lautlos von einem Schatten zum nächsten. Perfekt abgestimmte Handzeichen markierten die Stellen und Zeitpunkte, zu denen der Nächste weiter vorrücken konnte. Solche Koordination sah man nur im Militär, doch sie trugen keine eisernen Rüstungen mit dem Wappen der Stadtwache, sie gehörten auch nicht zu den Bellatoren seiner Majestät. Die langen Haare vertuschten ihre Zugehörigkeit – noch. Darunter verborgen lagen für Menschen zu spitz zulaufende Ohren und selbst ohne jenen Aspekt, hätten ihre Bögen, die mit feinen Runen verzierten Dolche aus Elbenstahl und die unmenschlich zarten Gesichtszüge sie verraten. „Gwenbleth, halt endlich den Mund!“ heischte der Truppführer den Zweifler an. Das hier war eine Chance, eine Gelegenheit, wie sie möglicherweise nie wieder kommen würde. All das Leiden, all das Elend, es würde heute Abend ein Ende finden können! Ein Befreiungsschlag für alle Einwohner dieses gebeutelten Landes und... natürlich auch für ihre Heimat. „Alondil, woher hast du die Informationen?“ verlangte der Zweifler zu wissen und richtete sich direkt an seinen Vordermann. Der strafte ihn mit einem grimmigen Blick ab. „Wenn du nicht bald die Klappe hältst, laufen wir noch direkt in einen Wachzug!“ mahnte dieser wenig später, als der Skeptiker erneut die Stimme heben wollte. Vorläufig gab er sich zufrieden – denn sie waren ihrem Ziel nahe, sehr nahe. Vorsichtig rückten sie vor und fanden die Doppeltür zu den Gemächern seiner Majestät völlig verlassen vor. Rasch brachen sie das Schloss auf und drangen ein. „Da stimmt was nicht... hier sollten Wächter sein!“ merkte Gwenbleth an. Die vier Elben verteilten sich zügig im Raum, ein jeder zog den feinen Dolch aus den Laschen, bereit, den Befreiungsstoß zu setzen. Sie durchsuchten das gesamte Zimmer, das angrenzende Badezimmer, die Schränke, alles – vom König fehlte jede Spur. „Natürlich! Deshalb keine Wachen! Sie begleiten ihn. Wenn er nicht hier ist, wird er vermutlich noch im Thronsaal sein.“ warf die einzige weibliche Begleitung des kleinen Attentäterkommandos ein. Einen Moment wog der Truppführer ab. Das klang durchaus einleuchtend, dennoch beschlich ihn allmählich ein ungutes Gefühl bei dieser Sache. „Alondil... es ist Zeit. Beantworte seine Frage.“ forderte der Anführer. Einen Moment legte der Angesprochene unwillig den Kopf schief und schien geradezu entsetzt, das ihm nun auch der Kommandant in den Rücken fiel, dann jedoch verschränkte er unter einem Seufzen die Arme vor der Brust. „Ich habe ein Kontaktnetz. Sie geben mir Informationen und ich... naja, gebe ihnen manchmal welche. So habe ich davon erfahren.“ gab der Elb zu – und schürte damit Zweifel, Wut und Verstörung bei seinen Kameraden. „Ein 'Kontaktnetz'? Das klingt nicht nach Elben! Bist du wahnsinnig? Diese Informationen sind vielleicht gar nicht vertrauenswürdig!“ heischte der Zweifler ihn an. Alondil dagegen schüttelte rasch und vehement den Kopf und setzte ohne Umschweife an, sich zu erklären. „Ich arbeite mit diesen Leuten seit Jahren, sie sind vertrauenswürdig, weil sie eine Informationsquelle weniger haben, wenn sie mich hintergehen.“ „Du hast den Rat betrogen... ihn ausspioniert und verkauft!“ warf die weibliche Elbe ihm vor. Plötzlich trat der Angeklagte raschen Schrittes auf sie zu, packte ihr Handgelenk mit geradezu schraubstockartiger Kraft und zwang sie, unter einem erstickten Schmerzschrei auf die Knie zu gehen. „Wie kannst du wagen, mir Verrat an meinesgleichen vorzuwerfen?“ herrschte er sie an, „Ich habe meinen Kontakten stets Unverfängliches mitgeteilt, Kleinigkeiten, die man ohne große Mühe auch über andere Kanäle hätte beziehen können! Dieser Einsatz war mit dem Rat abgesprochen – ich habe ihnen alles aufgelegt! Glaubst du, ich wäre hier, hätten sie mir diese Kleinigkeiten nicht vergeben und die Dringlichkeit dessen anerkannt?“ Schließlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der Anführer der Gruppe besänftigte den Zornigen damit, bis er das Weib los ließ. „Vergib ihr ihr Temperament, sie ist noch jung. Keiner hier zweifelt an deiner Loyalität, niemand steht vor Gericht.“ erklärte der Kommandant ruhig und besonnen. „Nicht? Ach, wie beruhigend, ich fühlte mich gerade so!“ erwiderte Alondil dagegen noch immer aufgewühlt, „Also was jetzt? Holen wir ihn uns oder nicht?“ Es bedurfte nicht vieler weiterer Worte. Nach jenem Zwischenfall wagte niemand mehr, den Elb anzuzweifeln, im Gegenteil. Gerade der bis dato größte Skeptiker dieses Planes war völlig überzeugt und sogar ein Stück weit beeindruckt, dass ein Elrim wie er sich über den Schatten seines Geblüts hinweg setzte und Informationen mit Menschen, Zwergen und wem nicht noch alles tauschte. Rasch näherten sie sich über Korridore und Gänge, die verschachtelt und irreführend angelegt waren, dem Thronsaal und nun war es tatsächlich erstmals nötig, den Wachen aus dem Weg zu gehen. Die zwei Soldaten vor der Tür wurden schnell und lautlos niedergestreckt – ein Pfeil von jeder Seite, wozu sie sich exakt hatten abstimmen und in sicherer Position versteckt halten müssen. Doch sie waren gute Taktiker – hier kam es auf ein vorsichtiges und besonnenes Handeln an. Jede noch so kleine, überstürzte Aktion könnte den Gesamtplan gefährden, wenn nicht sogar ruinieren. Der König durfte ihnen auf keinen Fall entwischen und wenn erst einmal eine Horde Wächter auftauchen würde, wäre der Schild aus Leibern und Metall zwischen ihm und seinen Jägern ebenfalls zu dick, um noch durchzudringen. Zudem hatte zumindest der Kommandant die Hoffnung, dass dies keine Selbstmordmission wäre und sie heil entkommen und heim kehren könnten. Natürlich war er bereit, im Notfall bis zum Äußersten zu gehen, um diesen Befreiungsschlag erfolgreich enden zu lassen – doch wie es sich für Elben gehörte, war ihm das Leben heilig... sein Eigenes, das seiner Leute, selbst das der Wächter dieser Festung. Je weniger sterben mussten, umso besser. „Position einnehmen!“ flüsterte der Anführer gepresst. Zwei Elben packten die schweren Eisenringe, an denen die Tore aufgedrückt wurden, lehnten die Schulter gegen das Holz und machten sich bereit, sie rasch aufzudrücken und kurz darauf die Dolche zu ergreifen. Der Anführer und Alondil selbst spannten Pfeile aus guter, elbischer Handwerkskunst auf die Sehnen ihrer Bögen, bereit, den Perückenträger zu erschießen, sobald die Pforte offen stünde. Ein letztes Mal atmeten sie tief durch. Sie waren bis hierher gekommen – mit dieser Tür stand und fiel ihr Plan. Wenn er nicht hier war, mussten sie abbrechen und sich zurück ziehen – es gab keinen Ort, an dem sie die zwei toten Wachen einfach so würden verstecken können, das Risiko durch ihr Blut oder eine Spur, durch eine Patrouille oder ähnliches war einfach zu groß. Hier und jetzt würde es sich entscheiden. „Los!“ gab er das Kommando. Die Tür wurde aufgedrückt, die zwei an den Holzpforten zogen sogleich ihre Klingen, die Schützen rückten einige Schritte auf dem roten Teppich in Richtung des Thrones vor – da erklang das Geräusch von Metall, das über Metall schabte. Zwei Bolzen lösten sich von den Armbrüsten der Wächter, die direkt hinter den Torflügeln standen. Ohne Widerstand durchbrachen sie die Schädel Gwenbleths und der weiblichen Elbe, die noch vor ihrem Aufschlag auf dem Boden ihr Leben ausgehaucht hatten. Der Anführer riss den Bogen herum, da fetzten drei weitere Bolzen, die aus verschiedenen Teilen der Thronhalle kamen, ihm die Flanke auf. Sein Pfeil flog verirrt herum, klirrte gegen Stein, wirkungslos. Ehe der Kommandant verstarb, sank er auf die Knie, einen anklagenden Blick auf Alondil – der noch immer stand, unverletzt, den Bogen gesenkt. Die Bellatoren kreisten den kleinen Trupp elbischer Attentäter ein, während ihr Blut sich in Lachen ausbreitete. Alondil vermied, darin zu stehen und trat etwas abseits. „Ich verlange meine Bezahlung!“ brachte der Verräter hervor. Seine Majestät erhob sich vom Thron, lächelnd, ergriff den Dolch und trat gemächlichen Schrittes zu ihm. Er wog den Beutel in der Hand, als er an den Elb heran trat. „Blutgeld wird mit Blut bezahlt. Wir verlangen es.“ forderte Phillipe, „Dafür sind ein paar Münzen mehr darin.“ Menschen und ihre lächerlichen Metaphern! Alondil zuckte mit den Schultern, hielt ihm die Handfläche hin und nahm den kleinen, oberflächlichen Schnitt an, ohne mit der Wimper zu zucken. Er ergriff seinen Beutel voller Goldmünzen... und spürte das Gift in den Adern brennen. Ein wahrhaft grässlicher Tod, der selbst die kriegserprobten Bellatoren Abstand nehmen ließ. „Alles verlief nach Plan.“ quittierte Celsor leise krächzend. Phillipe der Dritte jedoch war noch nicht zufrieden – die Pointe dieser Misere fehlte noch. Einen Brief ließ er in die Blutlache fallen, der die Bescheinigung einer diplomatischen Mission enthielt, unterzeichnet vom Rat von Egaroth. „Lass verkünden, dass die elbische Brut einen Anschlag auf unser Leben verübt hat! Unser Edikt lautet daher, dieser Pestilenz alle Bürgerrechte abzuerkennen, ihresgleichen soll fortan im Gesetz gehandelt werden als vogelfrei, Haustier oder Ware – einerlei.“ Phillipe lächelte – Schach. Zahltag Panaver Urthada war mit seinen neunundzwanzig Jahren in der Blüte seiner Jahre und als höherer Offizier der Stadtwache von Sundergrad zudem überaus erfolgreich. Er war sogar so erfolgreich, dass er sich auf bestem Weg befunden hatte, in absehbarer Zeit die Herrschaft über die gesamte Sundergrader Stadtwache anzutreten. Für diese neuerliche Beförderung hätte nur noch ein einziges Dienstjahr gefehlt – und natürlich die Zustimmung seiner Majestät. Allerdings wäre an der wohl nicht zu zweifeln gewesen. Phillipe der Dritte wusste von Südlumiél und Sundergrad vermutlich grade so viel, wie diese bürokratischen Wasserköpfe ihm aus den unzähligen Statistiken ableiten konnten – und welchen Handelswert die Stadt besaß, das wusste seine Majestät vermutlich selbst gut genug. Genau deshalb zögerte er in der Regel nicht lange, genau die Art von Männern in hohe Ämter zu bringen, wie Urthada einer war. Der Offizier war unbeliebt. Nicht, weil er ein Außenseiter war. Er war geradezu fanatisch, wenn es darum ging, Aufstände niederzuschlagen, Aufbegehren der Zivilbevölkerung zu unterdrücken und alle brav dem Wort der Wachen folgen zu lassen. Er unternahm nichts gegen Übergriffe seiner Männer, solange diese es so anstellten, dass es niemals öffentlich auf die Stadtwache zurückfiel. Das war aber auch das Einzige, das die Untergebenen an ihm zu schätzen wussten. Selbst für die harte, unwirtliche Gegend der Ödländer im Süden war Panaver das, was man gemeinhin einen 'harten Hund' nannte. Er opferte ohne zu zögern seine Männer, wenn er damit den unbeugsamen Willen des langen Arms des Gesetzes demonstrieren konnte. Er gewährte kaum bis gar keinen Urlaub, er forderte Bereitschaft rund um die Uhr und eine geradezu abnorm konditionierte körperliche Belastbarkeit. Kurzum: Er war ein Monster und forderte von den ihm unterstellten Männern schlicht alles. Doch eben diese strenge, zu gelegentlicher Grausamkeit neigende Hand war es, die man im Süden wohl brauchte. Sonst hätte Urthada unmöglich eine solch rasche und glanzvolle Karriere hinlegen können. Frauen hielt es selten bei ihm – die wenigsten kamen auf die Dauer damit zurecht, bei Fehlern geschlagen zu werden. Vielleicht hätte die eine oder andere es länger ausgehalten, ehe sie sich in einer Nacht davon schlich, doch der Offizier besaß viel Körperkraft – und wenig Skrupel. Todesfälle hatte es natürlich noch keinen gegeben. Nur einen Unfall. Dumme Geschichte, diese beschränkte Gans war rückwärts auf die Treppe zugestürzt, weil sie ihm den Rücken nicht hatte zudrehen wollen. Klarer Fall von 'selbst schuld'. Aus seiner Beförderung und der endgültigen Herrschaft über Sundergrad und damit halb Südlumiél wurde jedoch leider nichts – und niemanden grämte das mehr als Panaver selbst. Obwohl seine Untergebenen sich zweifellos sehr gefreut hätten, wenn zwischen diesem Mann und ihnen selbst noch ein paar mehr Hierarchieebenen lagen, sodass man nicht mehr direkt mit ihm zu tun haben musste. Irgendwelche Straßenratten aus Übersee, so lautete zumindest seine letzte Information, waren mit einem Haufen Elbenpack am Hafen angekommen und hatten nichts Besseres zu tun gehabt, als nach ein paar Tagen Besichtigung der hiesigen Architektur und Märkte in die Asservatenkammer der Stadtwache einzubrechen. Dabei hatten sie nicht etwa tonnenweise Gold und Geschmeide abtransportiert, sie hatten auch nicht dutzende kostbarer Gemälde und Statuen zu stehlen versucht, noch nicht einmal die Bibliothek war geplündert worden, mit all ihren geheimen Konstruktionsplänen und den zahlreichen magischen Werken und Artefakten – nein, man hatte nur eine einzige Kette gestohlen. Was das Fürstenamulett war, hatte Urthada nicht begriffen, bis die Hölle über die Stadt herein brach. Diese dreckigen Diebe hatten das Ding höchstbietend verkauft und plötzlich rotteten sich sämtliche Freibeuter in den Straßen zusammen, statt sich auch weiterhin wie altbewährt die Kehlen gegenseitig zu öffnen. Der Sturm war kaum abzuwenden gewesen, erst Recht nicht, als die Ratten das sinkende Schiff verließen. In diesem Fall hieß das, dass die Reste anderer Abteilungen der Stadtwache aus Sundergrad flohen, so lange sie das noch konnten, während die Gilden der Diebe und Assassinen sich auf die vermeintliche Siegerseite schlugen. Mit den Informationen und Tunnelnetzwerken und der ständigen Möglichkeit zu präzisen, gut koordinierten Anschlägen ausgestattet, war es Urthada einfach nicht möglich gewesen, die Wache zu halten – und er war Stratege genug, das frühzeitig zu erkennen. Also hatte er sich mit seinen Männern zurückgezogen und unterwegs so viele flüchtende Soldaten eingesammelt, wie möglich war. Wer dennoch zu fliehen versuchte, wurde von einem Bolzenhagel niedergestreckt. Wenn es in Sundergrad dieser Tage etwas gab, dann waren es Waffen... Waffen und Leichen. Die Assassinen und Piraten durchkämmten Seite an Seite Haus für Haus, die Diebe lauschten in alle Ecken und Winkel – es war von Anfang an nur eine Frage der Zeit gewesen. Panaver war kein Kriegsheld, kein Bellator oder dergleichen, aber bei seiner göttlichen Majestät – er wusste, wann etwas ein Risiko wert war. Mit genug Männern um sich herum, hatte er sich in einem Lagerhaus verschanzt und hielt erfolgreich die Stellung. Wenn der König mit der Kavallerie anrücken würde, um die Stadt zurück zu erlangen und von dieser Pestilenz zu säubern, wer würde dann wohl das größte Stück vom zurückerlangten Kuchen bekommen, weil er brav die Stellung hielt, während alle anderen flüchteten? Genau! Der Preis war einfach zu verlockend und Panaver spekulierte darauf, dass seine Majestät schnellstmöglich reagieren würde. Schließlich waren die Einbußen durch die ausfallenden Zölle in Sundergrad... erheblich. Das schnitt tief ins Fleisch der Staatskasse, so etwas konnte nicht ignoriert werden. Also hätte er theoretisch nur weiterhin die Blockade halten und sich entspannt zurücklehnen müssen – das Lager bot genug Waffen, Nahrung und Wasser, um einen Monat durchzuhalten. Doch Urthada wollte mehr. Im Grunde entsprach er damit der Natur der Mehrzahl der Menschen. Alle wollen immer mehr von irgendetwas. Für den erfolgreichen Offizier hieß das in erster Linie, dass er bei der Rückkehr der Truppen mehr vorweisen können wollte als nur das Halten eines Lagerhauses, einer kleinen, verlorenen Insel inmitten des chaotischen Wirrwarrs aus Piratenklingen und Assassinendolchen. Für ihn hieß das im Detail, dass er sich ein Ziel suchen musste, das wichtig und nennenswert genug war, um vorzeigbar zu sein – und weil Urthada eine ganze Menge Soldaten um sich herum hatte und zudem auf ein paar umsetzbare Versprechungen und Löhne zurückgreifen konnte, bezahlte er die Diebesgilden für Informationen. Die waren sowieso das mieseste Pack, nahmen das Geld derer, die sie jagen sollten und verrieten jene, die sie trotzdem auch weiterhin für die Sieger hielten. 'Neutralität' nannten sie das – und der Offizier musste bei solchen Debatten oft an sich halten, den Mittelsmann nicht einfach zu erschlagen. Er hatte seine Männer immer wieder in kleinen Gruppen ausgeschickt, um ein Klingenohr zu finden. Shandra Dämmerlicht, eine rothaarige, sommersprossige Elbe und Anführerin des Rotflaggenclans. Trotz der präzisen Informationen der Diebesgilde war es mehr als schwierig, diese neue, selbsternannte Herrscherin Sundergrads und dank des Medaillons anerkannte Anführerin aller Piraten zu fassen zu bekommen. Ständig entschlüpfte sie seinen Versuchen, sie zu packen und ließ ihn für den Versuch, sie zu fangen, sogar kräftig bluten. Binnen zwei Wochen – nicht genug Zeit für die Kavallerie, wie Urthada wusste – hatte sich die Zahl seiner Soldaten halbiert. Dabei war kaum einer von den Verstorbenen wirklich bei der Verteidigung der Linien des Lagerhauses umgekommen, nein, diese Berge weiterer Toter verdankten ihre Existenz einzig seinem Bestreben, die Piratenkönigin zu fassen. Er ließ seine Männer härter trainieren – in einem staubigen Lagerhaus an Fässern und Kisten -, er schulte sie persönlich in Nahkampf, im Bogenschießen, in der Nutzung, Reparatur, dem Nachladen einer Armbrust, er quälte seine Männer regelrecht und ihm war völlig gleich, wie viele unter seinen sogenannten 'Lektionen' zusammen brachen. Wichtig war nur der Erfolg, wichtig war nur, dass sie ihm Sandra Dämmerlicht brachten. In der dritten Woche hatte sich die Zahl der Verteidiger weit genug reduziert, damit die Assassinen und Piraten erste Vorstöße auf die Verteidigungslinien wagten. Schon zuvor hatten die Trupps Urthadas das Gebäude nur über den Keller verlassen können, der eine direkte Anbindung an das weit verzweigte, diffuse Netzwerk der Diebesgilden besaß. Der Keller selbst, samt der Luke, waren gut gesichert und uneinnehmbar, solange da auch nur ein Mann Wache schob – also versuchten sie es über die vernagelten Fensterläden und die verstärkte Tür. Sie probierten es mit Giftnadeln, mit Brandsätzen, ein paar Idioten schafften sogar eine schwere Kanone aus zwergischer Hand herbei, vermutlich auf hoher See von einem Transportschiff erbeutet, doch sie mussten rasch feststellen, dass diese Waffe ohne eine entsprechend massive Verankerung nicht feuern konnte – zumindest nicht, ohne alle im direkten Umkreis der Kanone selbst zu töten. Der Anblick, wie genau das geschah, hatte dem Kommandanten den Morgen versüßt, nachdem seine Männer sich am Abend über den Aufbau der Waffe mehr als besorgt gezeigt hatten. Natürlich wagte niemand ihn zu kritisieren oder von Flucht zu sprechen, die Mehrzahl der Soldaten im Lager hatte sich mit ihrem Schicksal längst abgefunden. Wenn sie überleben würden, dann hier drinnen – und wenn der Kommandant sie hinaus schickte, dann war es eben an der Zeit, zu sterben. Nicht so an diesem Tag. Er verstrich wie Unzählige zuvor und mancher der Wächter begann inzwischen zu bemerken, was neben Hunger, Durst und mangelnder Verteidigung eine weitere Problematik solcher Situationen darstellte: Der fürchterliche Gestank mangelnder Hygiene. Doch am Abend kehrte der letzte Tross aus den Tunneln zurück. Nicht etwa der Letzte, den Panaver ausgesandt hatte. Er befand sich tatsächlich bereits an einem Punkt, an dem er abwägen musste, wie viele Männer er noch entbehren konnte, weshalb dies der letzte Trupp war, den er entbehrt hätte. Wie das Schicksal es so wollte – und offenkundig meinte das kleine Luder es heute gut mit ihm – waren die wochenlangen Bemühungen endlich von Erfolg gekrönt. Von den zehn Mann, die er hinaus geschickt hatte, kehrten zwar nur drei zurück, aber die hatten dafür endlich diese verflixte Elbe dabei, gut verschnürt mit Knebel und offenkundig durch die Platzwunde an der Stirn bewusstlos. Urthada ließ sie in sein Zimmer bringen, eine zum Arbeits- und Schlafzimmer umfunktionierten Abstellkammer. Die Tür abgesperrt und die Männer fortgeschickt, nahm er sich die Zeit, zog einen Stuhl herbei und besah sich dieses störrische, aalglatte Elbenweib, das so viele Probleme bereitet hatte. Wirklich eindrucksvoll wirkte sie nicht – und sie sah auch so völlig anders aus, als er sich eine Piratin vorgestellt hatte. Wobei es ihm schon immer schwer gefallen war, sich Elben als Piraten vorzustellen. Diese verdammten Baumknutscher würden doch ein feindliches Schiff eher mit einer Arie besingen, damit es abdreht, als es anzugreifen. Als Shandra erwachte, bewies sie ihm mit ihren regen Flucht- und Befreiungsversuchen rasch das Gegenteil und sie holte sogar noch weiter aus, kaum, dass er ihr den Knebel abnahm. Solche Flüche hatte er in seinem Leben noch nicht gehört – dieses dumme Gör amüsierte ihn. Sie drohte, sie keifte, sie spuckte in seine Richtung. „Das wirst du bereuen!“ zischte sie ihn erbost an. Wildes Temperament funkelte in ihren Augen, als Panaver sich in aller Ruhe zur vollen Größe aufbaute und den Stuhl zur Seite schob. Er schüttelte mit einem Lächeln den Kopf, ehe er die Schnalle des Gürtels löste. „Mag sein – aber du zuerst.“ Der dunkelhäutige Muskelberg bewegte sich gemächlich, schließlich hatte er Zeit. Wenig später hörte man hinter der verschlossenen Tür wütende Schreie und Rufe... zumindest... klang es, als wäre es Wut. Die verbliebenen Männer hoben erst wieder die Köpfe von ihren frustrierend eintönigen Wachstationen, als die Tür zu Urthadas Zimmer nach einer Weile der Ruhe aufgesperrt wurde und ein Spalt Licht in die Lagerhalle fiel. Der stattliche Körper des Offiziers tauchte darin auf, bar aller Kleider, und zottelte an den Handgelenken ein nacktes Klingenohr hinter sich her. Mit etwas Schwung holte er aus und warf die Elbe in den Raum hinein. „Die letzten Wochen waren hart, ich weiß. Eure Belohnung! Tut, was ihr wollt – aber lasst sie am Leben.“ Mit jenen Worten flog die Tür scheppernd wieder ins Schloss, während die Wachen langsam auf die Füße kamen und die Piratin einkreisten... Der Fluch des goldenen Drachen Es gab wirklich viele gute Lektionen, die weise Mütter und Väter ihren Kindern beizubringen imstande waren. Da gab es Lehren wie „Gehe nie mit Fremden!“ oder eben das klassische „Sei höflich, wenn du nicht weißt, wer vor dir steht!“. Natürlich gab es auch Sprichwörter und Weisheiten über Demut, Bescheidenheit und Anstand. Allerdings zählte das wohl eher zu den Weisungen, während deren Erteilung ein gewisser Bannmagier, namentlich Alandor Lamerak – stolzes Mitglied der Zirkel – wohl gefehlt haben musste. Denn nur seiner großspurigen Art und seiner an maßlose Arroganz grenzenden Selbstsicherheit war zu verdanken, dass das Viergespann in Audron mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, als es eine Horde marodierender Orks oder Lykantrophe je gekonnt hätte. Andererseits war wohl anzunehmen, dass es immer ein gewisses Maß an Aufsehen erregte, wenn ein fein gekleideter, nobler Herr, der sich auch kultiviert zu artikulieren wusste, zusammen mit einem einarmigen Elb, einer rothaarigen Nordfrau und einem verlotterten Straßenjungen auftauchte. Solcherlei Gespann sah man selten – selbst unter den Abenteurern, die des Öfteren von hier aus nach Norden in Richtung der Gletscherkrone aufbrachen. Entsprechend skeptisch waren die Dorfbewohner zunächst, höflich, aber skeptisch. Dann jedoch stellte sich eben heraus, dass der feine Herr kein Aufschneider oder Blender war, sondern ein waschechter Magier – der zum Beweis den Wirt durch die Luft schweben ließ, dass den Waschweibern das Blut gefror. Den Zirkeln widersetzte man sich nicht – das war Selbstmord. Wenn man es aber nicht allzu dumm anstellte, konnte man reich werden, nur weil man die richtigen Leute kannte oder ihnen einen Gefallen getan hatte. Genau diese Denkweise schloss ihnen alle Türen auf. Kostenlose Verpflegung, das feinste Bett im Gasthaus, zahllose Informationen und schließlich nicht zuletzt... eine Einladung. Der hiesige Adel feierte gelegentlich und einen Zirkelmagier in die Gesellschaft zu laden, zeugte von einer gewissen Klasse, würde möglicherweise bessere Handelsbeziehungen zu den Zirkeln selbst herstellen und vielleicht war dieser Eine ja auch darüber hinaus eine angenehme Gesellschaft. Alandor selbst hätte die Einladung in aller Höflichkeit ausgeschlagen, denn Duncan zu finden drängte ihn zu sehr. Selbst nach Suzuris Verschwinden wollte er nicht aufhören, nicht rasten, nicht ruhen – die Wege hierher hatten einfach zu viele Fragen aufgeworfen, deren Klärung auch immer dringlicher geworden war. Es waren Badai und Adamant, die sich dafür aussprachen, die Einladung anzunehmen. Ausgerechnet jene, die vermutlich auf dem Ball gar nicht so willkommen waren. Vivica hatte sich, ganz die adrette Dame, natürlich der Stimme enthalten, sodass der Bannwirker schlicht überstimmt wurde – und das, obwohl er fester Überzeugung war, das Kommando zu haben. Entsprechend galt es viel vorzubereiten. Badai wurde in seinen grundsätzlich vorhandenen, aber in desolatem Zustand befindlichen Manieren unterrichtet, wie er sich zu verhalten, was er zu sagen, wann er zu gehen habe, es musste Kleidung gekauft werden, die man ihnen glücklicherweise lieh, Vivica brauchte ein Kleid, in dem sie sich nicht zu freizügig fühlte – eine Kunst für sich! - und Alandor brauchte ein Wundermittel, um sein frisch gewaschenes Gewand in Windeseile trocknen zu können. Als sie schließlich vor dem Gasthaus in die Kutsche stiegen, die sie alle abholte, waren alle vier nervös. Niemand wusste so recht, was sie auf einem derartigen Anlass erwartete, die Worte waren trotz alledem recht... nun, vage gewesen. Wie sich nach ihrer Ankunft auf dem großzügigen Gelände des feudalen Anwesens rasch heraus stellte, war der Abend tatsächlich eine Mischung aus allem, was man sich vorstellen konnte. In einem Teil des großen Gartens wurden ein paar Hunderennen ausgetragen, für die sich besonders Badai mit ein paar Kupfermünzen erwärmen konnte – und glücklicherweise nahm man ihm den niedrigen Einsatz nicht übel. Adamant dagegen verstand es prächtig, sich unter die Kartenspieler zu mischen und der feinen Noblesse des Abends zu zeigen, wie schnell man sein Geld denn wirklich verlieren konnte. Stets nahm er es als Kompliment, wenn man ihn ein Schlitzohr nannte, und nicht als die Verdächtigung, die manches Mal dahinter stand. Und der Magier? Nun, Alandor fand in der hiesigen Gesellschaft eine angenehme Möglichkeit, sich in kultivierter Konversation zu üben. Es war allemal besser als ein „Iss das nicht!“ an Badai oder ein „Leg das zurück!“ an Adamant. Er musste hier niemanden kontrollieren oder maßregeln, niemanden führen oder erdulden, kein Gequengel, keine Eskapaden, nur ein angenehm ruhiger Abend in illustrer Gesellschaft mit einem Gläschen Wein. Zu späterer Stunde verlagerte sich alles zunehmend. Was draußen stattgefunden hatte, wurde der aufziehenden Dämmerung und ihrer kühlen Abendwinde wegen beendet und drinnen fortgeführt, die Gesellschaft fand sich zu einem kleinen Ball zusammen, an dessen Rändern im großen Saal noch immer hier und da philosophiert und über alle möglichen Belange diskutiert wurde. Für den Bannwirker war es ein wunderbarer Abend, der ihn nicht nur vom Verschwinden seines Schützlinges und der schweren Entscheidung, dennoch weiter zu reisen, ablenkte – nein, obendrein erfuhr er allerlei Neuigkeiten aus der Welt und konnte sich wunderbar über Politik, Wirtschaft und Soziologie unterhalten. Mit zunehmender Stunde flaute auch der Ball allmählich ab. Viele der Tänzer waren erschöpft und ermüdet, mancher Gast hatte für den Folgetag so seine Pläne und alle wussten, wann es als guter Gast Zeit war, zu gehen. Auch Alandor hätte sich der langsam abströmenden Meute angeschlossen, hätte der Hausherr nicht persönlich eine Bitte verlauten lassen, dass sie noch etwas länger verweilen mochten. Je kleiner der Kreis wurde, umso mehr verlagerte sich die Gesellschaft abermals. Vom großen Ballsaal zog man in eine Wohnstube um, die genug Sitzmöglichkeiten für alle bot. Ein paar anwesende Barden und Spielleute gaben ihre Kunst zum Besten und unterhielten die Verbliebenen bis zum Einbruch der Nacht mit Musik, lustigen Erzählungen aus aller Welt und mancher Posse, die Vivica die Röte in die Wangen trieb und ihre männlichen Begleiter auflachen ließ. Schließlich zogen auch die Spielleute und die letzten Reste der Gesellschaft von dannen und allmählich beschlich Alandor das Gefühl, dass es für ihn und seine Gefährten weiterreichende Pläne gab. Warum sonst sollte der Hausherr sie so lange hier festhalten? Gewiss, über die Gesellschaft und Behandlung war nicht zu klagen, dennoch waren die Umstände auffällig genug, um die Skepsis des Zirkelmagiers zu wecken. Ihr Gastgeber gesellte sich schließlich mit zwei Flaschen zu ihnen. Der Inhalt der Ersten roch erschreckend nach Schnaps, sodass der Bannwirker sie mit aller zu Gebote stehenden Freundlichkeit abwies – während seine Kameraden dafür umso stärker zulangten. Dass selbst Vivica einen kräftigen Hieb nahm, erstaunte den Magier nicht – oder besser gesagt, nicht mehr. Es hatte einige Verwunderung bewirkt und Fragen aufgeworfen, als er das zum ersten Mal beobachtet hatte, doch inzwischen hatte die allzu oft als Hexe verschrieene Dame erklärt, woher ihre Trinkfestigkeit rührte. Nach und nach rückte der Organisator der abendlichen Festlichkeit auch endlich mit der Sprache heraus. Unglücklich sei er, mit den Zuständen, mit den Entwicklungen, mit schier allem. Er habe schon früher davon gehört, dass die Zirkel insgeheim zur Sicherung der Stabilität des Weltgefüges bereit waren, Attentate zu verüben und Kriege anzuzetteln, nur um Ländereien, die eben diese Stabilität bedrohten, von ihren Pfaden abzubringen. Mit fortschreitender Zeit wurde Alandor klar, worauf alles hinaus laufen sollte. Er als Vertreter der Zirkel sollte sich ein Bild von Lumiél machen und an die Zirkel weiterleiten, wie gefährlich der hiesige Monarch eines Tages werden könnte, wenn seine Macht weiter wachsen und seine Interessen sich vom eigenen, unterjochten Volk denn irgendwann abwenden würden. Offenkundig hoffte man wirklich darauf, dass er für die Zirkel mehr war als nur ein kleines Rad im Getriebe, dass er genug Stimmrecht besaß, angehört zu werden, wenn er Lumiél und seinen Herrscher als ein potenzielles Ziel vorschlug. Alles, so bekräftigte der Adelsmann, sei besser als die Herrschaft dieses Kindes – selbst wenn das hieße, unter die bekanntermaßen strenge Fuchtel der Zirkel zu fallen. Alandor wog den Vorschlag durchaus schwer, ihm war klar, worum es hier ging, was auf dem Spiel stand – für dieses Land, diese Menschen. Aber er hatte ein Ziel, eine Aufgabe. Wenn er Duncan jetzt nicht verfolgte, dann würde er die Spur verlieren. Lumiél dagegen rannte nicht weg und sein Herrscher aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht – wenn das Dringlichere beendet wäre, könnte er sich dem Rest widmen. Gewissermaßen ein Plan für danach. Natürlich sagte er nichts davon – er beließ es dabei, sich dergleichen zu überlegen. Zum Abschluss des Abends wurde ihnen etwas gereicht, das keiner der Vier kannte. Eine Süßigkeit nannte ihr Gastgeber das Getränk. Tatsächlich hatte es vom Geruch her starke Ähnlichkeit mit Met, der Honig wog süß und schwer in jener Note. Erst als sie ihre Gläser mit einem Trinkspruch auf den Hausherrn geleert hatten, erklärte er ihnen, dass dieses Gebräu den Namen 'Goldener Drache' trüge, doch auf die Frage hin, woher dieser käme, konnte er selbst nicht antworten. Alandor wollte sich in die Stadt zurückziehen, in das Gasthaus und vor allem, ins Bett. Doch wie sich zeigte, war Badai als Elb nicht so trinkfest, wie er es gern gehabt hätte, während Adamant und Vivica die Schnapsflasche fast allein geleert hatten. Stehen konnten sie alle noch, gerade Linien laufen war kein Problem – nur an den Versuchen, ohne eine schwere Zunge zu sprechen, merkte man ihnen die Nebenwirkungen des Abends an. So befand der Hausherr, dass es unverantwortlich wäre, sie so in die Nacht ziehen zu lassen – und wies ihnen ein Zimmer in seinem Haus zu. Dort angelangt, begann es eigentlich harmlos. Das Empfinden von Schwere in den Gliedern, wie unangenehm sich die Kleidung plötzlich auf der Haut anfühlte – Details, die man leicht übersehen konnte. Aber die Welt wirkte auch zunehmend klarer und einfacher. Als gäbe es all die Wirrungen der Gesellschaft nicht, als hätte man völlige Einsicht erlangt. Ein wundervolles, warmes Gefühl, ein Kribbeln im Magen, verlockend, euphorisch. Alandors Lippen legten sich auf den Hals der Rothaarigen, Fingerspitzen, die verträumt über eine Brust strichen. Wie eine Zwiebel, legte Vivica Schicht um Schicht ihrer Kleider ab – unter dem sichtlichen Staunen der drei Augenpaare, die nicht erwartet hätten, wie viel sie wirklich trug. Schließlich taten sie es ihr gleich, betrachteten einander. Wie einfach alles war. Niemand musste lachen oder vor Scham erröten, kein Gestammel oder aberwitzige Ausflüchte. Küsse wurden getauscht und mit geschlossenen Augen sich ganz auf die Empfindungen konzentrierend, wusste die Firnhexe oft genug nicht, an wessen Lippen sie gerade hing. Sie fühlte sich... berauscht... glückselig – diese wunderbare Wärme war schier überall und wurde nur verstärkt, als man sie auf das Bett herab zog. Ein tiefes, wohliges Seufzen drang verhalten durch den Raum. Vorsicht und ein Hauch Magie minimierten alle Widerstände. Sie spürte die Bewegung unter sich, hinter sich, zuckte einen kurzen Moment zusammen, als sich der Zweite dem Spiel anschloss. Ein Moment des Ausharrens und der Gewöhnung an die Zustände, ehe die zum Stillleben erstarrte Szenerie wieder mit Bewegung gefüllt wurde. Ihr Seufzen verklang, als ihr der Raum abhanden kam, noch Laute zu artikulieren. Was zurück blieb, war Wärme, ein Wogen und Wanken, völlige Klarheit und diese wunderbare, absolute Simplizität der gesamten Welt um sie herum... Als Vivica am nächsten Morgen zu sich kam, fand sie sich wieder in einem wirren Knäuel aus Armen, Beinen und bedenklich wenigen Kleidern. Sie versuchte sich zu orientieren, sich an den Abend zu erinnern, noch bevor ihr klar wurde, wo sie war, von wem sie umgeben war – wie sie war. Als ihr die eigene Blöße zusammen mit den nebulös verschleierten Erinnerungen zu Bewusstsein stiegen, schreckte sie unter einem Aufschrei empor... Kapitel 23: Elben singen und tanzen! ------------------------------------ Seit alters her war Ilmwacht ein sehr spezieller Ort Lumiéls. Ein kleines, ja geradezu winziges Dörfchen tief in den nordöstlichen Sümpfen und Mooren, die sich über weite Strecken und üppige, halb unter Wasser stehende Wälder bis zu den Ausläufern der großen Elbenstadt Esgaroth zogen. Genau dort hatten sich diese paar hundert Seelen eingenistet. Die Einwohner Ilmwachts galten nie als verschlossen, im Gegenteil. Fremde und Reisende wurden herzlich begrüßt, aufgenommen, versorgt. Ein Gasthaus gab es nicht, zu wenig hätte es einnehmen können, so weit abseits aller bekannten Routen. Doch die Dörfler zeigten den gleichen sturen Erfindungsgeist, der schon die ursprünglichen Siedler ausgezeichnet hatte. Statt die großen Steilküsten nahe des heutigen Varakas zu erklimmen, bestritten sie ihren Lebensunterhalt in einer gefährlichen Umgebung, rangen dem nachgiebigen Grund Boden zum Bauen, der giftigen Vegetation Früchte zum Verzehr und der blanken Wildnis Sicherheit zum Leben ab. Genau drei Dinge machten das kleine Dörfchen zu etwas Besonderem - selbst wenn man von seiner Lage absah: Da war zunächst der Umstand, dass es genau genommen ‚zwei‘ Dörfer waren. Nord-Ilmwacht lag dicht gedrängt an die ersten, aus massivem Granit bestehenden Ausläufer eines kleinen Aufweges, der sich zu einem Plateau herauf schlängelte. Dort oben wiederum thronte seit unzähligen Jahrhunderten eine massive Festung mit kräftigen Bollwerken, schweren Toren und einer Abteilung von Frauen, die für jeden Untoten das Ende bedeuteten. Ein Orden der Schwesternschaft Ereshkigals, Priesterinnen der Totengöttin. Es war das einzige bekannte Kloster in Lumiél und die Wahl seines Standortes gab seit jeher Rätsel auf - doch die Oberinnen hielten sich bedeckt und wenig auskunftsfreudig. Vielleicht erfuhren die Bewohner Nord-Ilmwachts irgendwann das Geheimnis, doch längst bilden die Schwestern und jene einen geradezu verschworenen Bund. Recht ähnlich verhält es sich mit dem etwas westlicher gelegenen Süd-Ilmwacht. Beide Dorfteile sind durch einen Streifen Waldes getrennt, den man mit gemächlichem Marsch in einer Stunde passiert hat. Wie es zu dieser Teilung kam, warum das Dorf nie zusammen wuchs - auch das zählt zu den Geheimnissen der Bewohner selbst. Süd-Ilmwacht rühmt sich keines Klosters. Dort wohnen mehrheitlich Händler, Handwerker und Schriftgelehrte, die alle nur jene eine Hoffnung verbindet: Eines Tages in ihrem Leben ein Gespräch mit Meister Halon führen zu können. Süd-Ilmwacht schmiegte sich an den gewaltigen Aufbau aus Granit und großen Kupfereinschlüssen, auf dessen Gipfel sich zu unbeschreiblicher Höhe der sogenannte Turm des Morgens erhob. Einer der zwei bekannten Magiertürme des Landes. Meister Halon, ein Gelehrter der Zirkel und Kundiger der weißen Nekromantie, galt als ein belesener, wenn auch strenger Mann. Das Alter, so erzählte man sich im Dorf, hätte ihm schon ein paar Furchen in das Gesicht gegraben, hin und wieder vergesse er auch etwas, doch niemand wagte ihm respektlos gegenüber zu treten. Man wusste den ‚alten Zausel‘, wie höchstens unbelehrbare Jugend ihn zu nennen wagte, sehr zu schätzen. Nicht nur, das er hin und wieder sich der Dörfler annahm, die unter Krankheiten, schweren Verletzungen oder Vergiftungen litten, von Zeit zu Zeit verließ er seinen Turm, wanderte mit einem kleinen Zugkarren den großen Rundweg herab und verkaufte seinerseits ein paar Formeln, Schriftrollen und Tränke an die Einwohner. Ein jedes Mal brandete ein halber Volksauflauf über seinen Stand hinweg, sobald er einen Fuß in das Dorf setzte. Für den Rest Lumiéls war Ilmwacht im Grunde unbedeutend. Eine kleine Kuriosität, die vielleicht eine Attraktion hätte werden können, hätte das Dorf nicht so tief in den Sümpfen gelegen, die nicht zu Unrecht als unsicher und gefährlich galten. Doch wer brauchte schon Lumiél? Das Dorf lief seit alters her vollkommen eigenständig. Es war wohl an die vier Jahrhunderte her, eine kalte Nacht im Winter. Eine Jahreszeit, die andernorts Schnee und Eis brachte, hier aber zog die klamme Nässe mit dicken Wolken über den Himmel und ergoss sich in nadelfeinen Streifen fast täglich auf die ohnehin üppig gefüllten Moore und Seen. In eben dieser Nacht wanderte jemand vor einer Tür auf und ab. Die Nervosität trieb ihn um, das Hoffen, das Bangen, die Vielfalt an Gefühlen. Unter den Sohlen seiner von Schlamm verkrusteten Schuhe zog der Stein dahin, ein ums andere Mal. Auf, ab, auf, ab. Geschrei erklang von drinnen, jenseits der Tür. Man hatte ihn des Raumes verwiesen. Er wusste nicht, warum. Eine der Schwestern hatte sich bemüht, ihn mit aller Höflichkeit hinaus zu komplementieren… mit aller Höflichkeit… und Dringlichkeit. Dort drinnen lag seine Frau, hochschwanger, im Augenblick ihrer Geburt. Er ahnte schon durch den Raumverweis, dass den Schwestern, die nun einmal mehr zu Ammen wurden, etwas aufgefallen war. Es gab Schwierigkeiten. Irgendetwas ging schief. Und insgeheim betete er zu allen Göttern, dass sie nur von kurzer Dauer und ohne Folgen bleiben mochten. Stunde um Stunde verging, die Beine wurden ihm schwer wie Blei und doch konnte er einfach nicht aufhören, vor der Tür entlang zu schreiten. So lange, bis sie sich wieder öffnete. Einen kurzen Spalt nur. Er hatte den Wechsel gehört… den Wechsel des Geschreis. Die ganze Zeit über war es seine Frau gewesen, die in den Wehen gelegen hatte, die ihren Schmerz heraus brüllte. Dann erklang das Kreischen eines Säuglings. Sein Kind war auf die Welt gekommen… und lebte. Er hatte den Göttern danken wollen, in voller Inbrunst für ihre Gunst und Gnade, doch als die Tür sich öffnete, da brauchte er keinen Blick hinein werfen. Er musste das Gesicht der Schwester nicht sehen, er wusste es einfach. Seine Frau war verstummt. Sie rief nicht nach ihm, sie schrie nicht, sie… war einfach still geworden. Die Schwester brachte ihm sein Kind. Ein kleines Bündel zappelte und strampelte auf ihrem Arm, schaute aus großen Augen in die Welt. Ein kahler, noch von Blut verschmierter Kopf, kleine Finger, die ungelenk herum wirbelten und versuchten, etwas zu greifen, ohne die Fähigkeit dazu zu besitzen. Seine Frau hatte ihm ein Mädchen geschenkt und wie er es für diesen Fall mit ihr besprochen hatte, so sollte sie Mara heißen. Benannt nach der Großmutter seines Weibes. Man übergab ihm seine Tochter nicht. Jedenfalls nicht sofort - erst wollte man sicher stellen, das er sie würde halten können, ungeachtet der schweren Bürde, die man ihm auferlegen musste: Mara allein zu erziehen. Auch für die Schwestern, die die mehr als problematische Geburt verfolgt hatten, war es schwer, einen gestandenen Mann in Tränen ausbrechend auf die Knie sinken zu sehen. Sie hatten für sein Weib getan, was sie konnten, doch am Ende gab es keine Entscheidungen mehr zu treffen, keinen Spielraum. Das Kind würde sterben und seine Mutter ebenso. Letztere zu retten, war unmöglich geworden - doch sie konnten ihr noch ungeborenes Kind zur Welt holen. Man ließ ihr alle Riten zuteilwerden. Wie in Ilmwacht üblich, war die Zeremonie in kleinem Kreise abgehalten worden. Eine der Schwestern versuchte sich daran, dem Hinterbliebenen mit ihren Worten Trost zu spenden. Keine Reden darüber, das alles gut werden würde. Nein, sie spendete den Trost, den eine Jüngerin Ereshkigals spenden konnte: Seine Frau wäre vor das Gericht des Mermerus getreten und eine gute Seele wie sie hätte zweifellos Gnade und Erlösung gefunden. Eines Tages, wenn er selber den Weg alles Sterblichen ginge, würde sie ihn dort erwarten. Die Schwestern hatten nie versucht, das zu unterstützen, was sich im Rest des Landes wie eine Seuche ausbreitete: Die Verweigerung, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinander zu setzen. Alle würden dereinst sterben und alle hätten sich zu verantworten für ihre Taten und Gedanken. Mara wuchs zu einem kleinen Energiebündel heran. Obwohl es für ihren Vater gerade in den ersten Jahren fürchterlich schwer war, bestritten sie auch weiterhin erfolgreich ihr Leben. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr erinnerte ihr fast puppenhaftes, rundliches Gesicht ihn an die, die er verloren hatte. Es gab eine Zeit, da hatte er den Schmerz zu ertränken versucht - wenige Monate, derer er sich kaum ein paar Wochen nach seinem Entschluss, es zu ertragen, schämte. Kaum aber, dass die junge Mara in die Jahre ihrer Reife eintrat, begannen sich die Züge ihres Vaters mehr und mehr durchzusetzen. Vielleicht sogar etwas mehr, als ihr eigener Vater es sich wünschte. Die Züge ihres Gesichtes wurden gröber, kantiger und bei den Göttern, sie schoss in die Höhe wie eine Schwarzwaldranke! Als sie zwanzig wurde, überragte sie ihren Vater um einen Kopf - und war fast so breit wie er selbst. An letzterem, so erklärte er im Scherze manches Mal, war er ja nicht ganz unschuldig. Die Familie hatte früher ihr Geld aus zwei Quellen schöpfen können. Während ihre Mutter mit Stickereien und Näharbeit ein Zubrot verdiente, schürfte ihr Vater draußen im Sumpf nach Lehm. Die schweren Karren und das müßige Handwerk hatten ihn zu einem stattlichen, kräftigen Mann gemacht, doch Mara hatte er nie für Näharbeiten begeistern können. Er versuchte immer wieder und wieder, sie an Arbeiten heran zu führen, die einem Mädchen gelegener sein sollten - zumindest seiner Ansicht nach. Doch der quirlige Wirbelwind bestand ebenso wie die temperamentvolle junge Frau darauf, ihrem Vater so nahe wie möglich zu sein. Also begann sie im Alter von sechzehn Jahren, nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen mit anderen Berufen, ihm beim Ausschürfen des Lehmes zu helfen. Eine Tätigkeit, die nach kaum einem halben Jahr begann, auch ihre Figur zu prägen. Die weiblichen Züge verloren sich nicht restlos, doch so sehr ihr älter und älter werdender Vater auch die Unterstützung schätzte und ihren Willen, ihm beizustehen, so sehr war ihm auch klar, wie schwer es für ein Mannsweib werden würde, einen Gatten zu finden. Er wollte seine Tochter nicht als ewige Jungfer sehen, er wollte nicht in dem Wissen sterben müssen, das seine Linie vielleicht endete, weil er ihr ihren Willen gelassen hatte. Es gab manche Nächte, in denen ihn diese Sorge um den Schlaf brachte, doch wann immer er mit ihr darüber zu reden versuchte, blockte sie ab. Mara, so schien es, hatte ihren Weg gewählt. Gute drei Monate vor ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag begann es. Ilmwacht wurde heimgesucht… und das, ohne zu wissen, wovon. Am Anfang machte sich niemand weiter Sorgen darüber. Ein paar Kleidungsstücke verschwanden. Eine kleine Puppe - wenngleich man sich durchaus Gedanken machte, wie sie aus dem Zimmer des abgeschlossenen Hauses verschwinden könnte. Dann waren es ein paar Folianten, Schlüssel. Kleinigkeiten, die bestenfalls ärgerlich waren. Doch es wurde schlimmer. Es folgten Hühner, Messer, Waren aus den Lagern der Handwerker. Nähwerk, Schaufeln aus dem Bestand ihres Vaters, ein Schaf, zwei Schweine. Die Bewohner begannen des Nachts die Laternen im Dorf brennen zu lassen und kaum jemand ging zu diesen Zeiten noch ins Bett, ohne nicht wenigstens ein Messer in Reichweite zu haben. Zu groß war die Angst geworden, was des Nachts wohl im Dorf umgehen würde. Wenn es sich Schweine und Schafe holte, was sollte dieses Ding dann noch von den Bewohnern selbst abhalten? Viel war bekannt über allerhand dämonisches Gezücht. Die Wälder des Ostens besaßen nicht den Luxus einer Dryade, die im Namen der Göttin Phylia für Zucht und Ordnung sorgte und solchen Unrat hinaus kehrte. Schnitter und Grabläufer und Mooraugen, was es nicht für grässliche Gerüchte und Ammenmärchen gab! Niemand wusste so recht, welchen davon man trauen und sie für bare Münze nehmen konnte und welche einfach nur einer regen Fantasie entsprungen waren. Es wollte auch niemand herausfinden. Mit Dämonen legte man sich nicht an und Tieren konnte man Fallen stellen. Doch alle Fallen, die die Dörfler aufgebaut hatten, waren am nächsten Tag zerstört… und leer. Es gab häufig Spuren, doch mit denen wussten selbst die Jäger nichts anzufangen. Kein Tier, zweifellos. Etwas Zweibeiniges, groß und schwer - größer und schwerer als ein Mensch allemal. Die Angst vor der Nacht schlug erst dann in Panik und Zorn um, als knapp einen zwei Monate später Geschrei durch die beleuchteten Straßen hallte. Alle wie sie da waren, die Bauern, die Jäger, die Handwerker und Kaufleute, die Metzger und Alchemisten, kamen herbei. Mit Messern und Heugabeln, mit Schaufeln, Schmiedehämmern und Spitzhacken traten sie vor ihre Türen, traten hinaus in den seltsam dichten Nebel, der über den Boden kroch und folgten den Schreien. Natürlich waren sie längst verstummt, als man am Haus angelangte. Ein kleiner Hof in Nord-Ilmwacht, die Familie war bekannt und beliebt. Sie machten trotz des säuerlichen Bodens wunderbares Getreide, das dem hiesigen Brot einen einzigartigen Geschmack gab. Niemand hatte etwas gegen diese Leute - umso größer war das Entsetzen, als man das Haus betrat. Schlick und Schlamm hatten große Spuren hinterlassen, die Haustür stand schon bei Ankunft der Bewohner offen - das Schloss hielt dicht, war einfach mit samt einigen Holzsplittern und der Tür ins Innere gedrückt worden, bis es herausgebrochen war. Das Schlafzimmer der Eltern hatte sich im oberen Stock befunden… ihr Sohn schlief unten. Für Mara war es ein furchtbarer Anblick. Das erste Mal, dass sie einen toten Menschen zu Gesicht bekam. Es war etwas anderes, von Moorleichen, Grabläufern und Halluzinationen zu hören, die die merkwürdig riechenden Schwaden im Sumpf manchmal auslösten. Das hier… das war Adam, der gerade mal fünfjährige Sohn der Familie. Seine Augen waren weit aufgerissen, voller Panik, voller Entsetzen. Seine Glieder unwirklich verdreht, die Arme gebrochen, der Kopf… bei den Göttern, wie man seinen Kopf verdreht hatte! Mara übergab sich. Viel hatte sie zum Abendbrot nicht gegessen, doch alles würgte sie hervor, kaum, dass sie mit letzter Beherrschung fluchtartig das Haus verlassen hatte. Sie kannte Adam, sie mochte ihn. Ein aufgeweckter Junge, der ab und an zur Lehmgrube kam und sich mit ihr unterhalten hatte. Jeder hier… kannte Adam. Damit war schließlich doch noch eingetreten, was alle befürchtet hatten. Was immer das Dorf heimsuchte, es machte nicht bei Schafen und Schweinen halt, es ließ sich nicht von Fallen abschrecken. Die Schreie des Jungen waren durch das ganze Dorf geschallt und dennoch hatte niemand auch nur eine Spur der Kreatur gesehen, nicht einmal seine Eltern. Wie war das möglich? Doch nach allem, was sich gezeigt hatte, wurde Mara eines klar: Hiermit würde es nicht enden. Der Dorfrat berief eine Versammlung ein. Schon am Mittag des Folgetages pilgerte jeder Mann, jedes Weib, jedes Kind und alle Alten zum Kloster herauf, hinter dessen dicken Wänden und schweren Toren man sich sicher fühlte. Die Schwestern boten Zuflucht an, brachten jedoch auch schwerwiegende Probleme zur Sprache: Ein jeder, der sich bei ihnen verstecken würde, wäre eine Belastung für ihre Vorratskammern. Unwissend, wie lange dieses Wesen wüten würde, könnte die gesamte Existenzgrundlage der Flüchtlinge zusammen brechen und irgendwann würden auch die Gärten des Ordens nicht mehr genügen, um alle zu ernähren. Empörung kam auf. Ziellos erfasste sie in blinder Furcht die Schwestern, warf ihnen mangelnde Fürsorge vor, es wurde getuschelt, gelärmt, man beschwerte sich. Nach Rat wurde gebeten, nein, verlangt! Ein Bittgesuch an Meister Halon, so brachten andere lauthals vor. Man solle doch den Magier drängen, die Bestie zu bezwingen. Dafür waren die Zirkel doch da, nicht? Es war der Zeitpunkt, da die Oberin des Ordens ihrer Schwester sanft die Hand auf die Schulter legte und mit ernstem, strengem Blick an ihr vorbei vor das versammelte Publikum trat. „Ruhe!“ gebot sie mit herrischer Stimme… und die Menge schwieg abrupt. „Seid ihr denn nur alle des Wahnsinns? Wir können nicht ganz Ilmwacht bei uns aufnehmen und durchfüttern und selbst wenn es möglich wäre, würde dieses Wesen dort draußen weiter umher ziehen. Vielleicht nistet es sich hier gerade erst ein und versucht sein Revier abzustecken? Seht euch doch an! Hinter Mauern wollt ihr euch verkriechen und ausharren, oder einen alten Mann vorschieben, der schon seinen Karren voller Wertsachen wieder mitzunehmen vergessen hat. Schämt ihr euch denn nicht? Wir haben die Bürger Ilmwachts stets zu respektieren gewusst. Ihr wart stolz auf das, was ihr euch mit schwerer Arbeit und Fleiß erworben habt, ihr habt es immer zu verteidigen gewusst, gegen die Kapriolen des Wetters, gegen die Tiere aus der Wildnis. Ist denn keiner unter euch, der auch jetzt diesen Mut aufbringt? Heute Nacht sah ich die Fackeln im Dorf, ich sah euch alle den Schreien dieser armen Seele folgen. Was hält euch ab, selbst zu verteidigen, was euer ist?“ Es war eine Moralpredigt, das war allen klar. Hier und dort senkten sich betreten und beschämt die Blicke, doch als die Oberin verstummte, da legte sich der Schleier der Stille über den gesamten Platz. Ihr Blick, prüfend, aufrufend, streifte über die Menge und fand nur Augenpaare, die betreten auf ihre Fußspitzen starrten. Sie alle schämten sich, aber Scham allein würde dem Dorf nicht helfen, es würde dem kleinen Jungen nicht helfen. Mara wusste die Antwort. Sie wusste, was alle hier zurück hielt. Es war die gleiche Furcht, die auch ihr tief in der Brust saß und klammer Hand ihr Herz umschloss. Dort draußen war etwas, das nur in der tiefen Dunkelheit der Nacht zuschlug. Es war groß, es war schwer und dennoch schnell und geschickt. Große Kraft hatte es und… dann war da dieser Nebel. Ilmwacht hatte seinen Grund und Boden dem Moor abgetrotzt. Hier dürfte es keinen Nebel mehr geben, jedenfalls nicht solchen. Alle vermuteten einen Dämon dahinter. Alle fürchteten sich, ausnahmslos. Aber nur ihr Blick begegnete fest dem der Oberin. Diese Augenblicke schienen sich zu einer kleinen Ewigkeit zu dehnen. Die Worte der Schwester hallten in Maras Kopf wieder. Der Stolz der Bewohner Ilmwachts. Die Verteidigung all dessen, was sie sich hart erarbeitet haben. Sie musste an ihren Vater denken, die Tage seiner Sorge und die, an denen er fröhlich pfeifend mit dem Spaten auf die Lehmgrube einhob. Sie musste an die Händler denken, das Marktfest, an Meister Halons Besuche… an die Minuten, in denen ein kleiner, neugieriger Junge am Rand der Grube gesessen, sie mit seinem Geplapper abgelenkt und ihr zugleich die Arbeit etwas leichter gemacht hatte. Die Oberin war eine alte Frau. Mit dem Alter kam die Weisheit: Sie sah die Veränderung. Als könne sie alle Erinnerungen und Gedanken direkt von ihrer Stirn ablesen. Bekräftigend und mit dem Ergebnis zumindest im Ansatz zufrieden, nickte sie ihr zu. Sie sah, wie jene Einzige, die ihrem Blick nicht auswich, sich durch die Menge schob. Nur ihr Vater wagte ihr nachzublicken, leise ihren Namen zu flüstern. Mara klopfte dem Schmied auf die Schulter. „Leih mir deinen Hammer und ich werde dieses Monster töten!“ Gewiss, sie hatte nicht geflüstert. Doch angesichts des Schleiers aus Schweigen und Stille, zerrissen ihre Worte doch das zarte Geflecht der Dorfgemeinschaft. Man hörte manchen nach Luft schnappen, ihr Vater rief sie mit einem Ton von Entrüstung und Furcht und viele Blicke legten sich plötzlich auf die Halbwaise. Selbst erschrocken über diesen Effekt, wollte sie einen Moment die Schultern einziehen und sich klein machen - doch bei ihrer Statur hätte das bestenfalls unfreiwillig komisch gewirkt. Viele versuchten sofort, die scheinheilige Einigkeit wiederherzustellen. Man redete auf sie ein, wie gefährlich das sei. Das sie Zeit ihres Lebens nie etwas anderes getan hätte, als Lehm für Ausbesserungsarbeiten und neue Hütten aus der Grube zu schaufeln. Dass sie nichts hätte, womit sie einem Dämon gegenüber treten könne und er sich zweifellos auch von einem Hammer nicht beeindrucken ließe. Die Stirn der Oberin legte sich in Zornesfalten, als sie dies mitansehen musste. Einmal mehr rief ihre Mark und Gebein durchdringende Stimme die Versammelten zur Raison. „Wenn es ihr Wille ist, einzustehen, wo euer Mut versagt, dann solltet ihr für ihren Erfolg Sorge tragen und nicht ihre Mühen untergraben!“ schimpfte sie die Dörfler erbost aus, „Und jetzt hört auf, wie die Lämmer drein zu schauen!“ Mara wusste nicht, worauf sie sich eingelassen hatte. Das wurde ihr spätestens klar, als man ihr gegen Nachmittag, als die Bewohner in ihre Häuser zurückgekehrt waren, den gewaltigen Hammer in die Hand drückte, der der ganze Stolzes des hiesigen Schmiedes war. Ein wuchtiges, großes Ding mit so viel Gewicht, das mancher Hänfling ihn kaum hätte heben können. Mara konnte ihn gut schwingen, doch sie spürte in jedem Knochen und jedem Muskel, das ihr Körper daran nicht gewöhnt war - und die Bäume, an denen sie den restlichen Tag trainierte, nun, die spürten ihre Unerfahrenheit ebenso. Ihr Vater hatte versucht, es ihr auf dem Rückweg auszureden. Natürlich hatte er das getan - was wäre er sonst für ein Vater gewesen? So manch anderer ebenso, doch am Ende hatte die Halbwaise genau ein solches Machtwort gesprochen, wie die Oberin es verwendet hatte. Der Tag strich dahin und sie versuchte, die eigene Nervosität herab zu würgen. Sich so sehr auf ihr Training zu konzentrieren, auf die kraftvollen Schwünge des Hammers, seine Balance, seine Trägheit, dass sie die eigene Sorge vielleicht würde vergessen können. Doch so leicht war das nicht. Sie zog das erste Mal in einen Kampf. Nie zuvor hatte sie sich auch nur geprügelt - die anderen Kinder, selbst die Jungs, hatten einfach schon früher zu viel Angst gehabt. Erst fürchtete man ihren bärenhaften Vater, der seine Tochter schützte, später die bärenhafte Tochter. Doch sie bezweifelte, dass sie diese Kreatur ebenso einfach würde einschüchtern können. Der Tag neigte sich mehr und mehr dem Abend zu, die Sonne versank im Westen weit hinter den Wäldern und die Einzige, die bereit war, für Ilmwacht einzustehen, kehrte heim. Sie hatte sich nicht völlig verausgabt, wohlwissend, dass diese Nacht ihre erste Chance war, doch es ließ sich auch nicht abstreiten, das es viel Ausdauer und Kraft kostete, eine solche Waffe zu führen. Wie das wohl die ganzen Helden in den abenteuerlichen Büchern immer taten? Mara bezweifelte inzwischen, dass diese beliebten Romane den Tatsachen entsprachen. Sie selbst hatte sich darin versucht, lesen zu lernen, es dann aber aus Desinteresse ihrem Vater überlassen, hin und wieder etwas vorzutragen. Große Männer, breit wie Schränke, die mit der Kraft von drei Ochsen Trollen die Kiefer brachen! Ihr hatte dieses Bild immer gefallen. Nur, das sie anders als viele Mädchen, nicht den Helden anschmachtete, sondern sich selbst in seiner Rolle vorstellte. Es war spät, die Zeit des Abendbrotes längst vergangen. Draußen wurde es still, sah man von den Geräuschen der Waldtiere und des Sumpfes selbst ab und die Laternen kämpften ihren dieser Tage allnächtlich gewordenen Kampf gegen die Finsternis. Just in dem Moment, als Mara über die Klugheit ihrer Absicht ins Wanken und Zweifeln geriet, klopfte es an der Pforte. Ihr Vater zog die Tür auf, noch bevor sie die Treppen herabgeeilt war und seine Reaktion allein überraschte sie. Tief verbeugte er sich, voller Demut, wünschte eine ruhige Nacht und trat bei Seite, jemanden einzulassen. Die Oberin, die daraufhin zuerst eintrat, kannte sie schon. Ihr Gesicht, vom Leben gezeichnet, fuhr die Treppenstufen bis zu ihr herauf und nickte ihr ernst zu. Unweigerlich musste sie sich fragen, ob diese Frau überhaupt fähig war, zu lächeln. Konnte sie etwas anderes, als ernst zu kommandieren und erbost zu rügen? Vielleicht, so stellte sie mit einer gewissen Spur von Mitleid fest, gab es für Schwestern Ereshkigals gar nicht so viel Grund, zu lächeln. Was für ein trauriges, einsames Leben das wohl sein musste…? Als direkt hinter der Oberin noch jemand eintrat, verschluckte sich auch Mara im ersten Moment. Oh sie hatte ihn gesehen, sicherlich. Ein, zwei Mal. Meist auf dem Markt, umringt von einer großen Traube Neugieriger und Händler, die Hunderte von Fragen zu haben und wirr durcheinander zu stellen schienen. „Meister Halon!“ keuchte sie überrascht, hastete die wenigen verbliebenen Stufen herab und verneigte sich ebenso vor dem hohen Besuch in ihrem einfachen Heim. Erst, als sie aufsah, bemerkte sie etwas, das sie irritierte. Meister Halon war ein gutmütiger, wenn auch strenger Mann. Man sah ihn meist lächeln oder mit einem Schmunzeln alte Anekdoten erzählen, aus den Zeiten, als er noch jung war und voller Abenteuerlust durch die Lande zog. So, wie es seinen Berichten nach wohl alle Magier der Zirkel in ihren ersten Jahrhunderten taten. Oft hatte sie sich dann gefragt, wie alt Magier wohl werden konnten - oder wie alt Meister Halon war. Nun aber stand kein lächelnder, schmunzelnder oder Geschichten erzählender Greis voller Weisheit vor ihr. Nein, viel eher… ein gebrochener Mann. Schmerz und Kummer zogen tiefe Furchen in sein Gesicht und zeichneten ihn. Zu viert setzten sie sich in der kleinen, bescheidenen Wohnstube. Nur zögerlich begann der Magier des Turmes zu berichten, was ihn zu solcher Stunde hier heraus trieb. Auch Ilmwacht, so abgeschottet es vom Rest des Landes zu sein schien, hatte Stolz, Ehre, Traditionsgefühl und… wusste um Rüge und Verpflichtungen. Es fiel dem Magier sichtlich schwer, davon zu berichten, wie er die Bäuerin verführt hatte. Zumal gerade er, ein alter Mann, der außer Wissen scheinbar nichts aufzubieten vermochte. Die Gründe, wie diese Verbindung zustande hatte kommen können, blieben Mara völlig schleierhaft. Irgendetwas musste sie an ihm gefunden oder in ihm gesehen haben. Der Schmerz aber, der ihn umtrieb, resultierte aus dem Verlust seines Sohnes. So sehr Mara versuchte, es sich vorzustellen - sie konnte einfach keine Verbindung zwischen Meister Halon und Adam schaffen. Die Augen, die Nase, die Ohren, ganz gleich. Egal, woran sie sich zu orientieren versuchte, es gelang ihr einfach nicht. Vielleicht hatte sie Adams Gesicht falsch in Erinnerung? War das möglich, so kurz nach seinem Tode schon? Oder wirkte es nur so unwirklich, weil sie der Bäuerin nie solch eine Tat zugetraut hätte? Ihren Mann zu hintergehen, ihn zu betrügen, ihn auch noch über Jahre hinweg weiterhin zu belügen über die Herkunft desjenigen, den er als seinen eigenen Sohn ansah. Man bat sie um Verschwiegenheit. Nicht nur, um den Schmerz der Mutter nicht zu mehren, die erst ihren Sohn verloren hatte. Man würde sie ächten, ihr Mann würde sie vielleicht sogar verstoßen. Eine ganze Familie würde restlos zerbrechen, nachdem der Verlust sie schon geschwächt hatte. Ohnehin waren die einzigen vier, die davon Kenntnis trugen, nun in diesem Raum versammelt. Die Oberin selbst hatte seinerzeit die Geburt überwacht und im Geheimen alle paar Monate Kunde über den Jungen zum Turm senden lassen. Ein merkwürdiges Geflecht von scheinbaren Intrigen und Absprachen tat sich vor Mara auf, das sie so nie vermutet hätte. Doch als wäre dem nicht genug, als fühlte sie sich nicht schon ein klein wenig mit all diesen schockierenden Neuigkeiten überfordert, eröffnete man ihr erst im Anschluss an jene Offenbarung, weshalb jener hohe Besuch sich bei ihnen eingefunden hätte. Ihrer Jagd nach der Kreatur wegen natürlich - wie auch sonst sollten die Zusammenhänge beschaffen sein? Der Vater, der sich nie zu erkennen gegeben hatte, sann auf Vergeltung. Vielleicht wäre der Oberin lieber gewesen, dass er es Gerechtigkeit genannt hätte, doch Rache blieb es allemal. Nun war ein Magier weißer Nekromantie nicht dazu geeignet, den Feind zu finden, zu stellen oder gar zu bezwingen. Er verstand sich mehr auf Heilung und Schutz - also tat er für die Jägerin, was er konnte. Er überreichte ihr eine kleine Phiole, mit den Worten, sie vor dem entscheidenden Kampf zu verwenden. Wie das Elixier darin wirkte, vermochte er ihr nicht zu erklären. Mara spürte, wie unangenehm ihm das war. Er konnte es zweifellos beschreiben - aber sie es nicht verstehen. Weil er von Dingen würde reden müssen, die außerhalb, weit außerhalb ihres Horizontes lag. Also nahm sie ihm diese Last ab und erkundigte sich, ohne beleidigt zu sein, nach dem eigentlichen Effekt. Auch dabei hielt er sich recht vage und sprach davon, dass es sie beschützen würde. Die Oberin, die dem Magier die Kunde persönlich überbracht und ihn hierher geführt hatte, gab der Halbwaisen im Anschluss ihre ganz eigene Stärkung mit auf den Weg. Eine Segnung durch die Göttin Ereshkigal, geführt von der Hand einer ihrer höchsten Dienerinnen. Mara wusste nichts recht zu erwidern, also bedankte sie sich und empfand die Worte als schrecklich unzureichend. Als ihre Gäste sie wieder verließen, war die junge Frau noch aufgewühlter als zuvor. Waren all die Dinge, die sie erfahren hatte, denn wirklich für ihre Ohren bestimmt? Stand es so schlimm um sie, dass man ihr irgendwelche Elixiere geben musste? Wussten die anderen vielleicht bereits, worauf sie sich da einließ? Unsicher saß sie auf einem Schemel am Fenster, den schweren Großhammer auf ihren Oberschenkeln abgelegt und spielte unbewusst an der kleinen, robusten Phiole herum, die man ihr gegeben hatte. Ihr Blick fiel nach draußen, in den Wald, zu den anderen Häusern, auf die Straße selbst. Sie suchte Anzeichen, dass etwas nicht richtig wäre. Suchte nach dem Nebel, der über den Boden kroch und hoffte doch inständig, nichts zu finden. Natürlich… wurde sie enttäuscht. Zu einer Zeit, als längst ein jeder schlief und auch Mara die Lider schwer wie Blei wurden, begann er sich zu bilden. Dieser watteweiche, weißgraue Teppich, der so dicht war und über Schuh und Fuß kroch, dass man nicht den Boden darunter sehen konnte. Sie nahm allen Mut beisammen, besann sich auf ihren Vater, auf Adam, auf den Schmerz in Meister Halons Gesicht und den Stolz im Blick der Oberin. Mit viel Mühe verdrängte sie die Frage, was wohl geschehen würde, wenn sie mit dem Hammer einfach die Tür blockieren würde und sich nach oben in ihr Bett scherte. Die ersten Schritte hinaus waren die Schwersten. Sie fröstelte sofort, doch die Nachtkälte trieb ihr zumindest die Müdigkeit wieder aus. Lautlos zog sie die Tür zu und begann ihren Rundgang durch Nord-Ilmwacht. Fast eine halbe Stunde lang wanderte sie zwischen den Häusern umher, den Hammer über der Schulter, und fand nichts, sah nichts. Der Nebel war ungewöhnlich, aber vielleicht hatte er sich auch auf normalem Wege gebildet? Auf natürlichem Wege? Doch dann erweckte etwas ihre Aufmerksamkeit. Es war ein verstörendes Bild, das sich dort ergab. Eine Alte schob sich über die Straße. Schwerfällig waren ihre Bewegungen. Sie sah sich immer wieder um, erspähte aber Mara nicht, die ihrerseits mit einer frischen Brise zu kämpfen hatte, die ihr entgegen stob. War das nicht die Mutter des Bäckers? Aber gute Güte, der wohnte doch in Süd-Ilmwacht?! War die gute Frau denn schon so alt, das sie in der Nacht wirr umher lief und sich bis hierher verirrte? Sie erkannte ja nicht einmal, dass die Tür, die sie zu öffnen versuchte, nicht jene ihres eigenen Hauses war! Halt. Argwöhnisch kniffen sich die Augen Maras zusammen, während sie die Alte genauer musterte. Ja, zweifellos, das war die alte Mutter des Bäckermeisters. Zumindest… sah sie sehr nach ihr aus. Einen langen Moment wünschte sich Mara, sie hätte Meister Halon danach gefragt, was die hiesigen Dämonen für Fähigkeiten besaßen. Mehrfach hatte die Alte in ihre Richtung geschaut und sie trotz der Laternen nicht bemerkt, aber die Mutter des Bäckers kämpfte auch mit ihrem Star. Kaum aber, dass der Wind drehte, veränderte sich das Verhalten der Alten. Sie ließ von der Tür ab, reckte das gebeugte Kreuz und hielt die Nase empor, als wolle sie damit Regentropfen fangen. Ruckartig riss sie sich herum, direkt zu ihr und… erstarrte. Vielleicht versuchte sie noch immer etwas zu sehen, etwas zu erkennen. Sie harrte einfach aus. Schließlich, als ihr diese Sache zu unheimlich wurde, gedachte die Halbwaise dem ganzen Spuk ein Ende zu setzen. Das war nicht mehr als eine alte Frau, die sich verlaufen hatte, redete sie sich ein. Und sich etwas merkwürdig verhielt. Und besser riechen konnte als jeder Wolf… gute Güte. „Kann ich-“ setzte sie gerade an, doch schon beim ersten Ton ihrer Stimme kam Bewegung in die Vettel. Der Nebel schien an ihren Beinen abrupt herauf zu kriechen, doch was Mara anfangs für einen Angriff der Bestie auf die Alte hielt, entpuppte sich rasch als irgendeine Magie! Wie sonst ließ sich erklären, dass der Buckel so abrupt verschwand und sie flink davon spurtete, in Schrittgrößen, die ihre kümmerlichen, gebrechlichen kleinen Beine niemals hätten hergeben dürfen? Mara setzte der Alten nach und bemerkte auf der Straße überall große, breite Spuren von Schlick und Schlamm. Aus den Mooren war das, hatten sie im Heim Adams gesagt. Wenn dies das Monstrum war, das sie jagte, dann besaß es die Fähigkeit, sich das Aussehen von anderen zu stehlen! Es hätte sogar zum Zeitpunkt der Gräueltat, als alle Einwohner sich im und um das Haus versammelten, noch in der Menge stehen und diebisch über sie alle lächeln können! Die blanke Wut, geboren aus der Empörung über diese Vorstellung, ließ Maras Schritte gewaltig werden. Wuchtig trat sie auf den Boden und rannte dem Wesen nach, das in die Sümpfe zurück floh. Sie folgte der Kreatur über fast zwei Stunden, ehe es dieser gelang, sie doch noch abzuhängen. Überall war plötzlich Nebel, er kroch aus jeder Ritze hervor, so schien es. Geräusche hier und dort, Lockrufe, Vogellaute, der ganze Sumpf schien sich gegen sie verschworen zu haben. Ohne jeden Zweifel wäre Mara in dieser Nacht umgekommen. In einem Morast versunken oder in einem der zahllosen Wasserlöcher ertrunken. Doch die Arbeit in der Lehmgrube hatte sie vieles gelehrt. Sie wusste, wo sie ihren Fuß setzen konnte und wo nicht. Dazu musste sie nicht den Boden sehen, es genügte ihr, zu wissen, was nur in wässrigem oder dickflüssigem Boden wuchs und welche Pflanzen auf festen Untergrund angewiesen waren. Sie hielt sich an Bäume und Büsche, an Gras und mied die Schilfrohre und prächtigen Seeblüten. Ganz ohne es zu wissen, entging sie damit einer Falle nach der anderen, die man im Gegenzug ihr gestellt hatte. Doch als die Nacht endete und sich die Spur verlor, musste Mara einsehen, dass sie nicht nur tief in die östlichen Sümpfe vorgedrungen war, nein, sie hatte sich auch heillos verlaufen. Erst, als die Sonne aufging und über die Wipfel brach, suchte sie sich einen hoch gewachsenen, starken Baum und kletterte daran herauf. Was immer dieses Ding war, es war vielleicht stark, aber auch groß und schwer - es würde wohl kaum in einen Wipfel klettern können. Fast bis zum Nachmittag schlief Mara durch, ehe sie wieder erwachte. Zunächst bemühte sie sich, von ihrer Höhe aus einen Überblick zu bekommen. Wenigstens über das Stückchen um sie herum, doch weder fand sie Anzeichen des Dorfes, noch der Kreatur. Ziellos wanderte sie mit schwindender Hoffnung und wachsender Frustration in die Richtung, die sie für Westen hielt. Es war, wie sie rasch feststellte, viel schwerer als gedacht, den Lauf der Sonne zu verfolgen und ganz ohne es zu wissen, begab sie sich sogar in die völlig entgegengesetzte Richtung. Als es wieder dunkelte, machte sie sich erneut auf Angriffe gefasst. Doch der Nebel blieb aus. Die Lockrufe, die Tiergeräusche… nur das Zirpen von Grillen und das Quaken der Kröten war zu hören. Es dauerte bis in die Nacht hinein, da glaubte Mara etwas im Wind zu hören. Zartes Geflüster, leise Rhythmen und Melodien. Sie steuerte darauf zu und je länger sie in jene Richtung schritt, umso klarer wurden die Laute. Dort sang jemand. Mehrere sogar, ein kleiner Chor. Schließlich trat sie völlig unverhofft aus einer Reihe dicht gewachsener Büsche hervor und fand sich an einem merkwürdigen Ort wieder. Ein großer See, auf dem der ihr wohlvertraute Nebel merkwürdige Formen schuf. Fester Grund umringte ihn, auf dem die Büsche und Bäume eine Art von Sichtschutz zu formen versuchten. Wie gezielt und merkwürdig die Vegetation hier wuchs, irritierte Mara zunächst mehr als die Gesänge selbst. Ihre Laute waren so fremdartig. Schön anzuhören, sehr melodiös, und doch lag darin ein unterschwelliger Ton der Bedrohlichkeit. Am anderen Ufer erkannte sie, nachdem ihr Blick weit über den See geschweift war, eine Gruppe von Gestalten. Auf die Entfernung und schlechte Beleuchtung konnte sie nicht erkennen, um wen es sich handelte, ja nicht einmal, um wie viele Personen. Doch sie schienen zu tanzen, zu singen. Es wirkte, als hätte sie… eine Feierlichkeit gestört? Nun, noch hatte sie ja niemand bemerkt. Sie könnte einfach wieder gehen und weiter nach- Doch Stopp! Mitten in der Gruppe des Chores ragte etwas auf. Durch die Formspiele des Nebels hatte sie es zunächst nicht bemerken können, es für einen Teil dieses Wirrwarrs gehalten. Doch dort stand etwas, das die Gestalten um es herum deutlich überragte. „Hallo?“ rief Mara lauthals herüber und grämte sich schon im nächsten Moment, „Ach, das war dumm!“ fluchte sie leise zischend. Sie hätte sich anschleichen können, um erst einmal zu sehen, mit wem sie es da zu tun hatte! Abrupt brachen Tanz und Gesang auseinander wie Glas, das auf den Boden schlug. Die Szenerie am anderen Seeufer erstarb zur Gänze. Jene, die sie als Feiernde vermutete, verschwanden mit einer unglaublichen Agilität in die Büsche und Bäume - und das große Ding, das in ihrem Zentrum gestanden hatte, warf sich mit einem großen Platschen in den See. Sie sah die Schneise, die es zog. Dieses Ding kam direkt auf sie zu… und bei den Göttern, war es schnell! Unsicher wie nie zuvor schlug ihr das Herz vom Hosenboden bis zur Kehle, als sie den Hammer von ihrer Schulter hob und sich bereit machte, einem Feind zu begegnen. In Gedanken sandte sie Stoßgebete an Ereshkigal, sie möge über ihre Seele wachen - nur für den Fall der Fälle -, an Damaste, sie möge ihren Vater beschützen und nicht zuletzt… an Arimasper, den Herrn des Blutes, den Kriegsgott, das er ihre Schläge präzise und kraftvoll führen solle. Was sich kurz darauf dort am Ufer erhob, verschlug ihr fast die Sprache. Etwas so Grässliches hatte Mara noch nie zuvor gesehen. Ein Monster, wahrhaftig! Diese Kreatur überragte selbst sie um zwei Köpfe, der gewaltige Leib triefte von Seewasser, umschlungen von Algen und Farnblättern, Lianen, bewachsen mit Krebsen und Muscheln und Schnecken. Keine Haare auf dem kahlen, platt wirkenden Schädel, nur gewaltige Füße, die in einem Klumpen aus morastigem Erdreich ausliefen. Das Gesicht die verzerrte Maske eines Menschen, die Augen so tief in den Höhlen, das sie nur im Moment seines tief röhrenden Wutschreies die milchig-weißen Pupillen erkennen konnte. Mara wurde von ihrer eigenen Angst fast übermannt. Es war der Moment der Wahrheit, der Augenblick, an dem sich entscheiden sollte, ob die Oberin damit Recht gehabt hatte, ihr Vertrauen in sie zu setzen. Sekundenbruchteile vergingen, in denen der Zwiespalt in ihr wuchs und wuchs und sie zu verschlingen drohte - bis sie eine Entscheidung fällte. Nicht aus Vernunft heraus, keineswegs. Diese Kreatur war größer und stärker als sie es je hätte werden können, sie würde sie in der Luft zerreißen können. Doch da waren wieder die Gesichter gewesen. Das Lächeln ihres Vaters, die Stimme Adams, der stolze Blick der Oberin… und der Kummer im Gesicht des Magiers, den Ilmwacht so schätzte. Die Scham in den Gesichtern der anderen Dörfler. Ein kräftiger Schwung trug den Hammer horizontal direkt auf den Schädel der Bestie zu. Ein solcher Hieb, ganz gleich wie dick der Knochen auch wäre, würde dieser Missgeburt sicherlich alle Lichter löschen! Eine Hoffnung Maras, die durchaus stimmte - doch dazu müsste sie auch treffen. So schwerfällig, wie sie die Waffe führte, bewegte sich auch ihr Feind. Im Wasser hatte er eine ungeheure Grazie und Geschwindigkeit gezeigt, doch hier, auf festem Grund, da schien er so… behäbig und träge. Mara sprang vor einem wuchtigen Hieb seiner Pranke zurück, führte den nächsten Hammerschlag. Beide entkamen in abwechselnder Reihenfolge den Attacken ihres Feindes und erst kurz, bevor es zu spät war, bemerkte Mara, das ihr Feind sie beständig weiter auf den See zuzutreiben versuchte. Nur einen Herzschlag benötigte sie, seine Intelligenz zu begreifen. Im Wasser war er ihr überlegen, mehr als das - und noch zwei Schritte, und sie würde darin stehen. Was, wenn der Nebel kein Zufall wäre? Was wenn er auch, so wie die alte Vettel, ein Zauber dieses Monsters wäre? Er würde sie ertränken. Einfach so. Die Verzweiflung begann ihre Schläge zu führen. Sie wirbelte erneut in einer Horizontale, doch der Gegner wich zurück, ehe er nachsetzte. Genau das, worauf sie gehofft hatte. In einer kleinen Pirouette drehte sie sich komplett herum, beschleunigte den Hammer immer weiter, bis sie eine volle Drehung beendet hatte… und der Kopf der gewaltigen Waffe voller Wucht auf die Flanke ihres Feindes traf. Die Kreatur brüllte voller Zorn und Schmerz, als Knochen in unzählige Splitter zertrümmert wurden. Von der Trägheit des Hammers gestoßen, wurde das schwerfällige Monstrum zu Boden geschleudert und Mara, blind vor Wut, Angst und Aufregung, ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen. Noch bevor das Wesen den Versuch wagen konnte, sich aufzurichten, war sie über ihm, trat ihm auf die Brust und pinnte ihn damit an den Boden, hob den Hammer empor und ließ das Gewicht aus der größten Höhe, die ihr möglich war, ungebremst auf seinen Schädel nieder fahren. Ein widerwärtiges Knacken erklang, ein Gurgeln schloss sich an, ehe es am Seeufer still wurde. Mara ließ den Hammerstiel los. Zittrig war sie vor Aufregung, Adrenalin peitschte durch ihre Adern. Mit fahrigen, unsicheren Schritten trat sie von ihrem Feind zurück, sank auf die Knie und tastete nach etwas zu trinken. Ihre Kehle… fühlte sich so furchtbar trocken an. Sie bemerkte nicht einmal, wie sie den Trinkschlauch verfehlte und stattdessen die Phiole leerte. Sie konnte ebenso die Augen nicht von diesem Monster ablassen. Es hatte sie zu töten versucht… auf eine heimtückische, hinterlistige Art und Weise hatte dieses Ding, von dem sie nicht einmal wusste, was es eigentlich war, sie zu töten versucht. Eine Erkenntnis, die sie schwer traf. Sie hätte hier sterben können. „Das war ein schwerer Fehler.“ erklang eine andere Stimme unweit hinter ihr. Aufgeschreckt wirbelte Mara auf die Füße springend herum und… starrte auf mehrere Bögen, straff gespannt, deren Pfeile auf sie zeigten. Die Gestalten, die am anderen Seeufer gestanden hatten, gekleidet in lang fallende Gewänder. Nur einer, der, der mit ihr sprach, hatte seine Kapuze zurückgezogen. Tiefschwarze Haare ergossen sich über seine Schultern. Ein schmales, fein geschnittenes Gesicht, makellos, fast feminin. Darin kalte, zornige Augen, die auf der bezwungenen Kreatur lagen und dann brennend zu ihr wanderten. Nur die Ohrspitzen, die unter den Haaren hervor lugten, verrieten Mara, um was es sich bei den Sängern gehandelt hatte. „Warum…?“ keuchte sie fassungslos. Elben. Das Singen… das Tanzen… sie hatten dieses Ding dort gerufen, nicht wahr? Sie hatten es beschworen. Und dieser See, um den die Bäume und Büsche wuchsen, als wollten sie fremde Blicke abhalten? War das ebenso ihr Werk? Wussten sie von den grausamen Taten dieses Monsters? Hatten… sie es vielleicht sogar auf Ilmwacht gehetzt? Einen kurzen Moment lang bedauerte Mara regelrecht, diese Kreatur getötet zu haben. Was, wenn sie nur ein Werkzeug umgebracht hatte? Ein Wesen, das zwar raffiniert genug für Fallen und Taktiken war, aber nicht begriff, wie man es hintergangen und benutzt hatte? Doch vielleicht war diese Bestie auch gar nicht so unschuldig gewesen… jetzt ließe sich das nicht mehr sagen. Nur warum griffen Elben Ilmwacht an? Esgaroth war weit vom Dorf entfernt und beide hatten nie zuvor in Streit gelebt. Man ließ einander in Ruhe, so war es seit alters her gewesen. „Eure Gegenwart hier beschmutzt diesen Grund und Boden, unseren Boden.“, erwiderte der Elb voll der Inbrunst eines überzeugten und überaus rassistischen Geistes. „Ilmwacht gehörte seit jeher uns!“ wagte Mara einen Moment selbst erzürnt zu widersprechen. Die Miene ihres Gegenübers verfinsterte sich schlagartig - etwas, das sie trotz der schlechten Sichtverhältnisse in tiefster Nacht kaum für möglich gehalten hätte. „Wie kann euch etwas gehören, das nur sich selbst gehört, dummes Kind?! Dieses Lebewesen, das ihr so achtlos getötet habt, hat nur sein Heim verteidigt!“ „So wie ich!“ plärrte Mara außer sich über diese Arroganz dem Elben entgegen. Die Bögen um sie herum strafften sich weiter, doch Mara hatte keine Aufmerksamkeit mehr für die drohende Gefahr oder die Gebärden selbst übrig, zu sehr hatte dieses verdammte Spitzohr ihr Temperament aufgestachelt, „Dieses Ding hat ein Kind getötet, ein wehrloses, unschuldiges Kind!“ brüllte sie und schritt auf den Elb zu. „Ihr Kurzatmigen seid alle Kinder, aber keines von euch ist unschuldig oder wehrlos! Wer nicht weichen will, hat den Tod verdient!“ erwiderte der Fanatiker ebenso erbost und beging den schweren Fehler, seinerseits näher zu treten. Ohne große, weitere Worte packte Mara diesen offenkundig Wahnsinnigen bei der Kehle und hob ihn ohne Mühe vom Boden. Er wog kaum etwas, selbst fast wie… ein Kind. Die Pfeile bohrten sich in ihren Körper. Holzstifte mit einem Schwanz aus Federn, die aus ihren Oberarmen lugten, aus ihrer Flanke, ihrer Schulter. Die Elben verwandelten sie fast in ein Nadelkissen. Als der Beschuss nichts half, stürzten sie sich auf sie, warfen Mara zu Boden, die drauf und dran war, ihren Anführer mit bloßen Händen zu erwürgen. Ganz gleich, wie sehr sie sich bemühten, sie konnten die kraftvollen Pranken nicht lösen, die sich wie ein Schraubstock um die Kehle des Ihren gelegt hatten. Sie wich nicht, sie zögerte nicht. All der Zorn, all die Wut, all das Adrenalin, Mara konnte keinen einzigen, klaren Gedanken fassen, nur dieser Elb vor Augen, er musste einfach sterben, er musste Rechenschaft ablegen vor den Göttern selbst für das, was er einem friedliebenden Dorf angetan hatte, für die Verluste, die Angst, den Tod, für den Terror, den er gebracht hatte! Das regelrecht archaische Geschrei der Halbwaisen trug Furcht in die Geister der Elben. Sie kannten die Menschen als kräftig, aber das… das war einfach nicht natürlich! Als das Weib sich erhob und den reglosen Körper ihres Anführers gegen einen Baum schleuderte wie das Kind eine Puppe von sich warf, ihr brennender Blick über sie hinweg fuhr, da jagten sie davon, verschwanden wieder und zerstreuten sich rasch in aller Herren Winde. In Esgaroth würde die Kunde ankommen, dass Ilmwacht ein Schandfleck sei, den man zu dulden habe - die Götter selbst würden den Ort und seine Bewohner beschützen! Mara jedoch wusste, was es bedeutete, so von Pfeilen durchsiebt zu werden. Sie machte sich wenig Hoffnung, jemals lebend zu ihresgleichen zurückzukehren. Nein, sie würde sterben. Hier draußen, im Sumpf, verlassen von allen, für die sie gekämpft hatte… Unsicher hob sie sich auf ihre Beine. Bis zum letzten Atemzug würde sie der närrischen Hoffnung nachhängen. Selbst den Hammer nahm sie mit, war er doch nur eine Leihgabe gewesen. Verklebt von Blut und Resten zersplitterter Schalentiere, warf sie ihn sich wieder über die Schulter und wankte in die Nacht hinein. Viele Tage lang bangte Ilmwacht um eine seiner Töchter. Die Oberin rief die Einwohner zu Geduld und Ruhe auf, doch die Hoffnungen schwanden mit jeder Stunde. Die Nächte waren sicher, vorerst. Doch was hatte das schon zu heißen? Die Schande war nur noch größer geworden. Eine junge Frau hatte sich für ihren Frieden geopfert, wo ein Dutzend Männer hätte stehen sollen. Es war tief in der Nacht, als Nebel durch die Straßen Ilmwachts kroch. Die Bewohner, erbost über den offenkundig nutzlosen Versuch, das Biest zur Strecke zu bringen, verließen ihre Häuser, bewaffnet mit allem, was als Waffe herhalten konnte. Ein Ungetüm kam aus dem Moor gewankt, von gewaltiger Größe, breit wie ein Bär. Träge, behäbige Schritte setzte es… und brach knapp außerhalb des Dorfes zusammen. Verwunderte Blicke wurden ausgetauscht, ehe man ein paar Männer schickte, nachzusehen. Das Licht ihrer Fackeln fiel auf ein vertrautes Gesicht, einen blutüberströmten Leib und einen gewaltigen, verkrusteten Hammer. Viele Tage lang lag Mara in einem der Betten des Klosters. Die Schwestern bangten um ihr Leben, beteten täglich zu ihrer Göttin, diese junge Frau zu verschonen. Hin und wieder gewährten die Götter den Sterblichen ihre Gunst… wenngleich das für diese auch nicht immer ersichtlich wurde. Als Mara wieder zu sich kam, erwacht aus Fieberträumen und Erschöpfung, fragte sie im Halbbewusstsein nach dem Tag. Die Stimme, die ihr antwortete, war ihr fremd. Vorsichtig bemühte sie sich, die Lider zu öffnen. Ein junger Mann saß an ihrem Bett, wechselte soeben einen der zahllosen Verbände. Sie versuchte sich aufzurichten, vergeblich. Die Zähne zusammengebissen, ließ sie sich wieder sinken. Sie lebte… bei den Göttern, sie lebte noch immer! „Ich habe Geburtstag.“, warf sie leise krähend in den Raum, als würde es erklären, warum sie kurz darauf den Arm hob, die Hand im Nacken des jungen Burschen, und ihn herab zog. Ihr erster Kuss… mehr gestohlen als erbeten. Und doch genoss sie ihn über alle Maßen. Denn sie lebte noch… Zwei weitere Wochen zogen ins Land, in denen der junge Heiler sich bemühte, Maras Genesung zu beschleunigen. Viele machten ihr in jener Zeit ihre Aufwartung, lauschten gespannt ihrer Geschichte, staunten über die Beschreibung der Kreatur, empörten sich über die Stelle mit den Elben, dankten für ihren Mut, wo ihr eigener versagte. Auch ihr Vater kehrte fast täglich zu ihr ein, verzweifelt über das, was er hören musste. Sie würde ihren Weg gehen. Die Grube war nicht mehr das Ihre. So viele gab es noch. Dörfer, die die Nacht fürchteten. Menschen, die verzagten wie ganz Ilmwacht es getan hatte. Jene, die hofften, beteten, um Hilfe riefen. Der Hammer, nunmehr ein Geschenk, und jener schüchterne kleine Heiler sollten ihre ersten Begleiter sein, wenn sie hinaus in die Welt zog… Kapitel 24: Das schwächste Glied -------------------------------- Ob nun in den großen Geschichten der Weltliteratur, in kleinen Zitaten kluger Köpfe oder auch nur im so oft zitierten Volksmund - es gibt eine Aussage zum Thema des Verrates, deren Kern in all den Quellen sich doch oftmals gleicht oder zumindest ähnelt: Die Kette bricht am schwächsten Glied. Wer seinerzeit einen Blick nach Lumiél warf, bei allen Alten Göttern, der sah ohne jeden Zweifel genug Ketten. Ein Land, das darin gebunden war. Mehr als nur ein Volk, welches unter dem stählernen, geschmiedeten Gewicht zu leiden hatte. Seine Majestät selbst sorgte stets bemüht und gewissenhaft dafür, dass eben jene Bindungen stark blieben, dass sie nie ihren Halt verloren, so eng wie möglich saßen und es eben keine schwachen Glieder gab. Er knebelte und geißelte das gesamte Land - je enger die Ketten, umso mehr Kontrolle erhielt er und umso enger schnürte er die Glieder. Doch die gleiche Mechanik fand man auch ohne große Mühe an anderer Stelle. Wo sich die Finsternis ausbreitet, kommen über kurz oder lang immer ein paar erste Mutige auf die Idee, Licht zu entzünden. Einen Widerstand findet man, gleich welcher Form, unter nahezu jeder Tyrannei. Mal offener, mal verborgen. Die Rebellen im Land der Monde zogen die Heimlichkeit vor, wissend um ihre noch mangelnde Stärke, wissend um die allgegenwärtige Präsenz der Krone, die ihre für die offene Konfrontation noch nicht ausreichenden Kräfte zerstreuen würde, falls sich nur die Gelegenheit böte. Eine Kette aus diesem Widerstand, dessen Herz in den unterirdischen Kanälen Samaras schlug, waren eine Hand voll Adliger, deren Besitztümer verstreut im Land lagen, deren Bewohner kaum unterschiedlicher hätten sein können - ganz wie ihre Charaktere, ihre Motivationen. Nur das gemeinsame Ziel band sie zusammen, der Wille, Phillipe den Dritten vom Thron zu stürzen, die Ansicht, dass ein jeder besser würde regieren können als dieses jähzornige Kindergesicht. Doch wo immer Macht sich sammelt, wo immer Perspektiven erschlossen werden und sich die Möglichkeit bietet, in Weisheit und Weitsicht miteinander zu teilen, wie es die tatsächlichen Qualitäten der Menschlichkeit erlauben würden - da ist der Verrat und die Niedertracht nicht fern. „Bedenklich? Ihr findet das… ‚bedenklich‘? Versteht mich bitte nicht falsch, aber seid ihr noch ganz bei Trost? Das ist eine Katastrophe!“ ereiferte sich Apollonia von Streytlingen. Die betagte Dame wusste, dass sie eigentlich auf ihren Blutdruck achten sollte und spürte bereits mit leicht unangenehmem Kribbeln das Pochen ihres zu schnellen Herzens in der Brust, dennoch spannten sich die Finger mit unnachgiebiger Strenge um das Papier des Sendschreibens. Eine Woche war es her, dass man ihr diesen Brief übermittelt hatte. Der Bote selbst vermochte nichts zum Inhalt zu sagen, sie hatte auch gar nicht danach fragen müssen. Er war mit Wachs versiegelt worden, darin eingeprägt das königliche Zeichen. Erst vor wenigen Tagen hatte Apollonia vom ‚Unfall‘ der Klingenbrucks erfahren. Lord Osprey hatte sie in einem Eilbrief darüber informiert und seinen besten Boten in Hast und Eile quer durch das ganze Land gejagt. Er war der Kopf. Das Zentrum. Er war derjenige, der die kleine Schar Adliger in ihrem Willen zum Trotz und Widerstand zusammengeführt hatte und er war derjenige, der das fragile Bündnis verschiedener Motivationen und Interessen noch immer aufrechterhielt. Damit war er auch derjenige, den seine Majestät auf gar keinen Fall in die Finger bekommen durfte. Osprey wusste, wie man sich absicherte. Er war wahrlich alt genug, sich mit diesen Spielchen auszukennen, gleich wie unliebsam sie ihm auch waren. Apollonia dagegen nannte einige Gebiete im Osten ihr Eigen, eine ruhige, mehr als dünn besiedelte Gegend und nicht im Ansatz vergleichbar mit Ospreys Anwesen nahe Samara. Einladungen hatte die rüstige Dame bestenfalls von ein paar alternden Verehrern bekommen. Dieses Pergament in ihrer Hand jedoch war mehr als das, es war eine Aufforderung. Ein Ball. Nicht ein Maskenball mit schönen Speisen, feinem Tanz, der Gelegenheit, die teuersten Kleider aufzutragen und den Abend gleichermaßen aufregend wie erleichternd zu beenden, so wie es damals im Hause Ospreys der Fall gewesen. Nein, ein ganz normaler Ball… im Schloss von La Coeur. Der König selbst hatte dazu geladen. Nachdem sie erfahren hatte, dass die Kutsche der Klingenbrucks einen mehr als grässlichen Unfall erlitten hatte und alle dabei ums Leben gekommen waren, hatte sich Apollonia bereits ihre Gedanken gemacht. War man ihnen möglicherweise auf die Schliche gekommen? Aber falls dem so war… wie? Es hätte sich um einen tatsächlichen Unfall handeln können, einen Zufall, ein… dummes, schreckliches Missgeschick des Kutschers oder der Pferde, doch all das war so schwer zu glauben. Dank Thorin, der indes die Rebellen im Untergrund Samaras quasi übernommen hatte, wussten sie von den Mitteln und Wegen der Krone. Sie wussten inzwischen von der verrückten Dryade Medea im Stillen Wald, die über Wochen hinweg jeden terrorisiert und abgeschlachtet hatte, der es wagte, ihre Baumreihen zu überschreiten. Das Gift in ihrem Weiher hatte sie wahnsinnig werden lassen - und wie war es hinein gelangt? Mit einer offenen kleinen Phiole aus der Tasche eines Boten. Der Bote, die Tasche und sogar das kleine Gläschen selbst trugen das Zeichen seiner Majestät. Er duldete keine Mächte neben sich, die ihm nicht folgten, sich unterwerfen oder zumindest in das wirre und schwer durchschaubare Bündnissystem aufnehmen ließen. Und war es nicht Ammarath ähnlich ergangen? Die Gwaeron - Elben hatten nach Osten pilgern müssen. Die Überlebenden der Westelben, eine ganze Stadt, die in einem einzigen, großen Marsch über Wochen hinweg in Richtung Esgaroth marschierte und im Ostsumpf verschwand. Frau von Streytlingen besaß einige dieser Gebiete und hatte aus erster Hand erfahren dürfen, wie es war. Sie hatte sie gesehen. Erschöpft, niedergeschlagen, mancher noch immer am Boden zerstört um all das trauernd, was verloren wurde: Heim, Geschichte… Verwandte. Ein furchtbarer Brand, der praktisch über Nacht den ganzen Elbenwald erfasst hatte. Welches Feuer aber breitete sich so rasend aus? Und bei allen Göttern, welches Feuer war hartnäckig genug, ein ganzes Volk von Elben vertreiben zu können, die seit jeher für ihre Wind- und Wassermagie berühmt waren? Nein, betrachtete man sich solche ‚Zufälle‘, dann musste man zu dem Schluss kommen, dass die Klingenbrucks schlicht enttarnt worden waren. Eher stellte sich die Frage, wie weit dieser Prozess reichte. Irgendwie waren sie Morlyn auf die Spur gekommen - und gab es von ihm, von seiner Familie, weitere Spuren? Die zu ihnen führten? Hatte sie deshalb diese Einladung bekommen? Seit zwei Stunden standen einige der Verräter nun schon beisammen und überlegten, was zu tun wäre. In drei Wochen sollte der Ball stattfinden. Es war Fronica Alvergreiffenmoor, dieses dralle, blonde kleine Püppchen, mit dem sich Apollonia schon mehrfach gestritten hatte, die nun abermals das Wort ergriff. Ihre Stimme schien zu reizen - oder erging das nur ihr selbst so? Ein Ton, das man sie bei den Schultern nehmen, schütteln und hoffen wollte, dass irgendetwas in ihrem Inneren nicht ganz fest saß und sich dadurch einrenken würde. Unangenehm im Ohr. Vielleicht lag es auch an ihrem Tonfall… oder nur daran, das Fronica ein Mensch war, der keinerlei Konkurrenz oder Absage duldete. „Ihr müsst gehen“, erklärte die Blondine und zog sich allein mit dieser Formulierung des Zwanges erneut grimmige Blicke der betagteren Dame zu, die ihr klar machten, sich besser zu erklären, „Die Sache mit den Klingenbrucks war grässlich und auch ich bezweifle nicht, dass es mehr als ein Zufall war. Aber wir - ihr - würdet euch verdächtig machen, wenn ihr die Einladung ausschlagt. Es gäbe vielleicht genug Grund, euer Heim zu durchsuchen. Die Wache kann sehr fähig und gründlich sein, wenn sie entsprechend dazu angespornt wird. Vielleicht prüft man auch, ob ihr tatsächlich dort seid oder das erledigt, was ihr als Ausrede vorschieben könntet und so oder so… würde die Krone euch nicht nachsehen, dass es etwas geben soll, das wichtiger wäre als einer seiner Einladungen zu folgen. Wir können es uns einfach nicht leisten, aufzufallen oder… noch mehr Misstrauen zu erwecken.“ Lord Osprey kam mit Fronica gut aus. Das mochte daran liegen, dass er trotz seiner charmanten, gutgebauten Erscheinung einfach zu alt war, um in ihr Beuteschema zu fallen und sich daher nie ihrer Annäherungsversuche hatte erwehren müssen. Zumal er auch ihre Anfeindungen nicht dulden musste, solange ihm nicht spontan Brüste wuchsen, die ihn zur Konkurrenz machen würden. Entsprechend fiel es gerade ihm mit am leichtesten, die Logik hinter den Worten von Fräulein Alvergreiffenmoor anzuerkennen. Apollonia dagegen tat sich schwer. Ihr mochte die ganze Sache nicht gefallen und auf sie, die seit jeher ein skeptisches, misstrauisches Gemüt und einen scharfen Verstand besaß, wirkte das Ganze… nun, als würde man ein Lamm zur Schlachtbank schicken, damit nicht die ganze Herde dran wäre. Sie war nicht erpicht darauf, den Märtyrer zu spielen. Trotz ihres hohen Alters hatte sie noch Pläne, Wünsche und allem voran… wollte sie dabei sein, wenn dieser kleine, goldlockige Bastard in die Niederhöllen geschickt wurde. Fast den restlichen Tag lang bemühten sich Osprey, Fronica, Kupfermoor und Bluteck, die betagte Dame umzustimmen. Der letztliche Erfolg ging zweifellos vor allem auf das Konto der Hartnäckigkeit, die Fronica an den Tag legte. Die Frauen hatten sich nie grün werden können, teilten aber ihre gemeinsame Leidenschaft für den Niedergang der Krone - vielleicht war es diese Gemeinsamkeit, die Apollonia letztlich dazu brachte, einzulenken. Ein Ball also. „Ihr werdet alles Nötige vorbereiten“, konstatierte seine Majestät in gelangweilter Gewohnheit, „richtet den Ballsaal her, schmückt ihn irgendwie aus und sorgt für eine musikalische Begleitung. Es muss nicht das Beste sein, nur vorhanden.“ Maßstäbe, die Phillipe selten anlegte. Normalerweise wollte er das Prächtigste, Prunkvollste, Beste und Schönste… was meist auch das Teuerste war. Diesmal jedoch ging es um ein Theaterspiel. Es sollte niemand beeindruckt werden. Geladen waren nur einige Adlige aus dem eigenen Lande, verschiedene Leute, denen er noch Gefälligkeiten schuldete. Der gerufene Kammerdiener verneigte sich tief und trat mit den neuen Befehlen ab. Er würde sie verteilen und weiterleiten, damit sich jene mit mehr Geschick und Wissen darum kümmerten, doch er ahnte bereits: Die Formulierung „Ihr werdet“ würde bedeuten, dass jeder Fehlschlag, gleich wie er sich ereignen mochte, am Ende auf seinen Schultern lasten würde. Und sei es in Form einer Axt, die eben jene abrasierte. Am Hof starb man schnell, wenn man nicht von Nutzen war. Selbst jene von Nutzen waren alles andere als sicher - denn oftmals ließen sich Namen leicht austauschen und Gesichter änderten sich gelegentlich schneller, als man erwarten mochte. Eine rare Ausnahme dessen war Celsor. Des Königs einziger Berater und, wie der Kammerdiener befand, eine grässliche Person. Vom Personal des Schlosses, ja selbst von den Wachen wurde er einfach nur ‚die Schlange‘ genannt. Glaubte man den Erzählungen, so konnte die Stimme dieses Menschen sich direkt durch den Hörgang in den Schädel bohren und einen mit schmierigen Klängen dazu bringen, sich den Tod zu wünschen. Zumindest war unbestritten, dass Celsor ein Talent dafür hatte, sich auszudrücken. Wie die Schlange, vermochte er sich verbal aus jeder Notlage zu retten, durch jeden Türspalt hinein zu drücken und seine eigenen Worte doppelt und dreifach zu verdrehen, um genau den Effekt zu erzielen, den er gewünscht hatte. Wann immer das allein aber nicht greifen wollte, nun, dann bediente er sich anderer Mittel. Des Königs selbst, beispielsweise. Niemand am gesamten Hof konnte es sich erlauben, Phillipe zu widersprechen. Er tat genau das, wenn auch auf eben jene gekonnte Manier. Doch Celsor war unheimlich - jedem, der über normales Empfinden für Gesundheit und Ästhetik verfügte. Diese gebeugte Gestalt, kränklich blass, dürr und ausgemergelt, papierdünne, rissige Haut in einer ungesunden, unangenehm anzuschauenden Farbe, die eingefallenen Wangen und Augen, der stechende Blick darin. Manchmal konnte man merkwürdige Flecken auf seinem Gesicht und seinen Händen sehen, als hätte er die Pest oder dergleichen. Was auch immer Phillipe und Celsor verband - es war stärker als alle Vernunft. Die Krone wünschte nicht, diese widerwärtige Gestalt vom Hof zu entfernen. Stattdessen lauschte Phillipe andächtig jedem Wort seines Beraters und nahm dessen Vorschläge ernst… im Gegensatz zu denen aller anderen, ganz gleich wie gut sie verteidigt und untermauert wurden. Eben diese Gestalt schlich sich von den Toren des Thronsaales her kommend in Richtung des Zentrums der Macht im Land. Ein heimtückisches Lächeln umspielte die liniendünnen Lippen, dass der Diener sich tatsächlich dabei erwischte, einen Blick zurück zu werfen - nur um abzusichern, dass nicht jemand hinter ihm stand, bereits den Dolch erhoben und fast schon zwischen seine Schulterblätter gestoßen. Celsor nahm es ihm nicht einmal übel, dass der Knecht, so wie die meisten im Schloss, einen Bogen um ihn herum schlug. Gemächlichen Schrittes bewegte sich der in die Kutte gehüllte Mann zur Raummitte. Auch nach ihm war geschickt worden. An diesem Tag herrschte im Thronsaal reger Betrieb, viele kamen und gingen. Die Meisten mit Befehlen und Anweisungen, ein paar Wenige auch mit Schelte. „Ihr habt nach mir verlangt, mein König?“ erklang die leise Stimme des Mannes, den die Meisten für einen Alchemisten oder Giftmischer hielten. Tatsächlich war er das - wenn auch zusätzlich noch viel mehr als nur dies. Die Stimme schmerzte in den Ohren, sodass der Knecht seinen Schritt nochmals etwas beschleunigte, um endlich aus der Halle zu kommen. Währenddessen fragte er sich insgeheim, warum diese Figur es sich eigentlich erlauben konnte, Phillipe den Dritten nur mit seinem weltlichen Titel als König anzusprechen, während jeder andere ihn auch als seinen Gott zu akzeptieren hatte. Es war merkwürdig, oder nicht? „Wir benötigen ein Tonikum, welches-“ hob die Krone gerade an und verstummte. Der Knecht hatte gar nicht bemerkt, wie sein Schritt wieder langsamer geworden war. Als wolle die Neugier ihn am liebsten gleich umdrehen und interessiert lauschen lassen. Als er sich dessen bewusst wurde, wandte er gleichermaßen ängstlich wie beschämt den Kopf, die Röte schon im Gesicht. Diese begann erst recht zu leuchten, als er die Blicke auf sich ruhen sah. Man starrte ihn an, weil… nun, weil er ein Fremdkörper war, weil er zuhörte und genau das besser nicht täte. Man wartete darauf, das er endlich verschwinden würde und in aller Hast und Eile tippelte der Knecht die letzten Schritte zu der schweren, massiven Pforte und quetschte sich durch einen dünnen Spalt nach draußen auf den Gang hinaus. Er zog das Türholz zu und ließ sich einen Moment gegen sie sinken. Die Augen geschlossen, atmete er tief durch und versuchte das Zittern in seinen Händen zu ignorieren. „Glück gehabt, was?“ erkundigte sich neben ihm einer der Wächter. Nur unmerklich nickte er, ehe der Diener sich aufraffen konnte, die angenehm kühle Tür zu verlassen und seinem Auftrag nachzugehen. Hinter der Pforte dagegen wurden Einzelheiten besprochen. Details des baldigen Ballabends, der für seine Majestät alles andere als unwichtig werden würde. „Ich denke, dass eure Anforderungen mich vor kein größeres Problem stellen sollten. Ich werde sofort mit der Arbeit beginnen“, erläuterte Celsor leise und verdiente sich mit etwas so Trivialem wie der Zusage einer Arbeit abermals das Wohlwollen des selbsternannten Gottkönigs. Dieser hieß die Wache an, nach Ximasxi zu schicken, die ihrerseits ebenfalls vom regen Treiben gehört hatte. Wie auch nicht - sie hatte erstaunlich gute Ohren und hockte stillschweigend auf ihrem Bett in einem Raum, dessen Lage geradezu prädestiniert war, um die vielen Schritte unterschiedlichen Schuhwerks draußen auf dem Teppich des Flures zu vernehmen. Die grazile, schlanke Gestalt erhob sich geschickt vom Bett und folgte den zwei Wächtern, welche sie zum Thronsaal eskortierten. Tatsächlich notwendig war das schon lange nicht mehr… doch sie akzeptierte die Begleitung. Vielleicht handelte es sich um eine persönliche Bitte des Hauptmannes. Insgeheim mochte er wohl noch immer fürchten, sie könne neuerlich einfach so ‚abhandenkommen‘. Für die ehemalige Diebin war es zweifellos inzwischen etwas Alltägliches. Sie trat durch die Pforte in den Saal ein, sie erblickte diese kleine Gestalt auf dem viel zu groß geratenen Thron, mit seinen Goldlocken, der Krone und viel zu viel Puder im Gesicht. Das kurze Zucken ihrer Mundwinkel bemerkte kaum jemand. Sie wusste es besser, sie wusste so viel besser, was unter dieser Perücke lag, unter der Schminke. Aber solange er dort saß und sie hier stand, vor den Stufen des Thrones selbst, ging es um Aufträge. Worum es sich diesmal dabei handeln sollte, wurde ihr rasch und recht direkt erklärt. Von den Vorbereitungen des Balles hatte sie bereits gehört. Ob sie sich Vorstellungen davon machten konnte, was ein solcher Abend bedeutete, worum es sich handelte… war Phillipe nicht recht klar. Es spielte tatsächlich auch gar keine Rolle, denn weder war sie angehalten, zu tanzen, noch würde sie sich am Festmahl beteiligen oder gar sinnbefreite Konversation mit den Reichen und Mächtigen des Landes betreiben. Ihre Aufgabe war stattdessen eine, die ihren Fertigkeiten auch entgegenkommen würde - wenn auch in neuem Gewand. Wortwörtlich… Das der Abend nicht ganz nach Plan verlaufen würde - weder dem Ihren noch dem anderer hier Anwesender -, das begann Apollonia bereits zu ahnen, als sie erste Gerüchte aufschnappte. In die Stadt zu gelangen war nicht schwer, die Wache schien bestens informiert und vorbereitet, man geleitete sie mit einer zusätzlichen Eskorte durch die Hauptstraßen dem Schloss entgegen und bot dort ihrer Wache an, sich in den Stuben mit den Männern des Königs zusammen zu setzen und auszuruhen. Ein Angebot, das nur ein Narr ausschlug - wer brachte schon Bewaffnete in ein Königsschloss und beharrte dann darauf, sie mögen immer stets an der Seite bleiben?! Doch Frau von Streytlingen fühlte sich zugegeben weit weniger sicher, als die vier Mann davon stiefelten. Zumal sie bereits von anderen Gästen das eine oder andere aufgeschnappt hatte. Es begann mit der Dekoration. „Das ist so unverschämt!“, zischte eine Adelsdame in einem nordischen Dialekt ihrem Begleiter zu, der weit jünger und schrecklich gelangweilt aussah, bis er sachte nickte und seine offenkundige Ahnungslosigkeit aufdeckte, „Diese Aufmachung hat seine Majestät vor drei Jahren schon verwendet, zum vorletzten Ball, der hier stattfand!“, erörterte die Aufgebrachte halblaut und wurde nun endlich von ihrem jungen Gesellen besänftigt, indem er ihr den Arm darbot und sie fort führte. Auch von anderen Seiten wurde diese Vermutung bekräftigt. Die Bilder, die Büsten, die Teppiche - das hätte Apollonia ja noch verstehen können. Aber selbst im Ballsaal erkannten viel zu viele der geladenen Gäste das Interieur wieder. Seine Majestät hatte Kosten gescheut, weit mehr als das sogar. Etwas ging hier also schon nicht mit rechten Dingen zu! Der zweite, weit gewichtigere Punkt waren aber die Schulden. Inzwischen war es ein offenes Geheimnis, wie Phillipe der Dritte es zur Macht geschafft hatte. Er war der Bastard seines Vaters, das war sicherlich nützlich, doch er hätte die auf Rache sinnenden Kräfte der Loyalen seines Vaters nie bezwingen können. Er musste sie umstimmen, bekehren, besänftigen. Über Monate hinweg hatte er das Land bereist, hatte Versprechungen gemacht und Zusagen, Perspektiven für eine noch rosigere Zukunft aufgezeigt. Die Generäle waren sein beliebtestes Ziel gewesen - und wohl auch nahezu die Einzigen, die nach der Machtergreifung des Puppenkönigs auf die Einlösung wenigstens der Hälfte ihrer Versprechungen hoffen durften. Der Adel, den diese kleine Ratte ebenso bestochen und begeistert hatte, kam weniger gut weg. Auch das hörte man hier. „Er verwendet dieselbe Ausstattung nochmals. Ob er uns wohl vorgaukeln will, er hätte kein Geld? Für wen hält er uns, seine Hofnarren? Ich denke, wir sollten ihn nochmals auf seine Verpflichtungen ansprechen. Wir wissen schließlich alle, dass es gut um ihn bestellt ist und er, er weiß es erst recht!“ hörte Frau von Streytlingen unweit eine junge Dame flüstern. Ihr Blick glitt hinüber und einen Moment erwog sie, sich zu diesem einfältigen Ding zu stellen und ihr den Kopf gerade zu rücken. Glücklicherweise tat ein junger, etwas fülliger Galan genau das, bevor sie es konnte. Beschwichtigend hob er die Hände und blickte sich übervorsichtig unter den Gästen um. „Sei doch still! Man weiß nie, wer mithört. Außerdem kannst du ihn ja gerne darauf ansprechen, ich… ich warte lieber. Notfalls lasse ich das auch sein, aber ich hänge an meinem Leben. Hast du das von den Klingenbrucks gehört? Ein Unfall mit der Kutsche, die ganze Familie tot! Zack, einfach so. Alle weg. Und plötzlich heißt es, man habe nachträglich Beweise dafür gefunden, dass sie Verräter waren.“ Bei jenem letzten Satz wurde Apollonia hellhörig. Nur zu gerne wäre sie herüber gegangen und hätte nachgefragt. Was für Beweise waren gefunden worden? Wusste man etwas darüber, ob nach noch mehr Verrätern gesucht wurde? So viele Dinge waren plötzlich wichtig geworden, nur nicht dieser verflixte Ball und die sozialen Verpflichtungen: Schön lächeln und artig sein. Ehe sie sich jedoch zum entscheidenden Schritt durchringen konnte, entwickelte sich das Gespräch bereits wieder in eine andere Richtung. „Die Klingenbrucks? Gute Güte, nein, das wusste ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Verräter waren. Bestimmt war er ihnen auch etwas schuldig und hat es eingefordert. Vielleicht sollten wir das wirklich noch lassen und noch etwas abwarten…“ „Nun sei schon still!“ wies ihr Gegenüber sie abermals zurecht, als das junge Weib endlich Einsicht zeigte. Artig nickte sie, blickte betreten zu Boden und schüttelte den Kopf. So etwas war einfach nicht recht. Wer sein Wort gab, sollte es auch halten. Dass diese gehobenen Kreise der Gesellschaft von Verrat durchdrungen waren und von Intrigen lebten, das war ihr durchaus klar - aber seit wann war die Krone selbst der bissigste Hund im Käfig? Apollonia dagegen versuchte, sich wieder auf die Geschehnisse um sie herum zu konzentrieren. Das bedeutete zunächst einmal, sich der ausgeblendeten Stimmen wieder bewusst zu werden und zu lauschen, ob denn vielleicht in anderen, um sie herum stattfindenden Gesprächen Signalwörter auftauchten, die ihr neuerlichen Aufschluss über einen Herd von Interesse geben konnten. Zugleich schweiften trotz des Alters scharf gebliebene Blicke durch die Menge der versammelten Gäste, selbst als seine Majestät den Saal betrat und seine Gäste mit einer kleinen Rede in Empfang nahm. Sie war tatsächlich furchtbar froh, nicht so weit vorne zu stehen. Obwohl sie nur einmal zuvor mit Phillipe engeren Kontakt gehabt hatte, war ihr dessen penetranter Geruch nicht aus der Erinnerung entschwunden. Und seine Stimme erst! Selbst auf diese Entfernung war sie noch anstrengend und da waren die Türen des Ballsaales praktisch direkt hinter ihr… verschlossen und von Wachen flankiert, die überall im Raum Position bezogen hatten. Sie hatte lange versucht, sich dieses Detail schön zu reden. Phillipe war unbeliebt, es gab genug Leute, die ihm schaden wollten. Er wusste das, jeder wusste das. Vermutlich war es nicht einmal unbedingt paranoid, er… sicherte sich eben einfach gerne ab. Wer hätte das nicht getan, wenn er die Möglichkeiten dazu besaß? Doch warum mussten sie selbst an einem solchen Abend gerade hier sein, in solcher Zahl? Sicherheit. Nur der Sicherheit wegen. Immerhin könnte jemand vielleicht einen Dolch herein geschmuggelt haben. Der hätte dann mehr Armbrustbolzen im Leib als Finger an den Händen, noch bevor er das Ding auch nur zum Wurf hätte ausholen lassen können. Überhaupt war doch verwunderlich, wie- Einen Moment blieben die Gedanken der betagten Dame schlichtweg stecken. Ihr Blick haftete an etwas, genauer gesagt… an jemandem. Ein weiterer Gast, eine Adelsdame, so vermutete Apollonia zumindest. Eine sehr dünne Gestalt, die sich geschickt und grazil bewegte. Was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, war zum einen dieses überaus kräftige, dunkle Weinrot. Eine leuchtende Farbe, die einfach Interesse wecken musste. Der ganze Saal war mehr oder minder bunt, gewiss, aber das stach doch hervor. Und zum anderen trug niemand sonst ein Kleid mit Kapuze. Sie war kunstvoll mit dem restlichen Erscheinungsbild verflochten, keine Frage, doch wie merkwürdig mutete es an, jemanden mit Kapuze in einem geschlossenen Raum zu sehen. Auf einem Ball obendrein! Der König jedoch bemerkte sie, musste es einfach, und erhob nicht ein Wort in ihre Richtung. Entweder wusste er also nur zu gut, wer das war oder… störte sich daran schlicht nicht. Die Wachen. Was soll ihm eine schon anhaben können? Als die Gestalt sich zudem in ihre Nähe bewegte, sah die Ältere ihre Chance gekommen, zumindest ein klein wenig ihrer Neugier nachzugeben. Sie gesellte sich, in höflicher Distanz wie es sich gehörte, zu eben dieser Figur und versuchte einen kurzen Blick zu erhaschen. „Das ist ein ungewöhnliches Kleid, junge Dame“, merkte Apollonia an. Tatsächlich war es das, mehr als das sogar! Es besaß Einschnitte an den Seiten, die fast bis auf halbe Höhe der Oberschenkel empor reichten und damit einen weit mehr als nur anzüglichen Eindruck erweckten. Einen Ausschnitt an Rücken oder Front dagegen suchte man völlig vergeblich, als hätte jemand versucht, eine… oh gute Güte! Hatte hier jemand eine Dirne als Abendbegleitung mitgebracht? Gut, zugegeben, sie hatte viel zu wenig Brust und Hüfte, aber die Geschmäcker waren verschieden und vielfältig - vorstellbar wäre es wohl auf jeden Fall gewesen. „Danke“, erwiderte die Jüngere lediglich in einer ungewohnten Stimmführung. Zumindest über eines war sich die betagte Dame nun sicher: Neben ihr stand keine Adlige. Vielleicht nicht einmal ein Mensch. „Wollt ihr denn nicht weiter vorne bleiben? Bald beginnt der Tanz und diese Ehre gebührt heißblütigen jungen Burschen und schönen jungen Damen“, erkundigte sich die Adlige weiter, doch einmal mehr wurden ihre Bemühungen, ein Gespräch zu inszenieren, recht einsilbig abgeschmettert. Sie bliebe gerne in der Nähe der Türen und Säulen, erwiderte die in Rot Gewandete, blickte kurz zur Seite und ließ genug von ihrem Gesicht unter der Kapuze hervor blicken, dass Apollonia ein freundliches, schmales Lächeln sehen konnte - jedoch nicht viel mehr als das. Vielleicht hätte es sie beruhigen können. Vielleicht hätte es das tun sollen. Doch irgendwie fiel es ihr schwer, sich auf all dies hier einzulassen, solange sie nicht einmal wusste, wer und was neben ihr stand. Als wenig später tatsächlich der Tanz begann, sich Paare zusammen fanden und zu den zart im Raum schwelgenden Melodien ihre Schritte folgen ließen, ward der Pegel der Geräusche ausreichend, damit Apollonia sich in aller Ruhe von diesem Treiben abwenden konnte. Sie machte sich mit ihrem Gegenüber bekannt und staunte tatsächlich nicht schlecht. Wie sie es vermutet hatte, harrte sie neben einer jungen Frau aus - und wie vermutet, war sie kein Mensch. Einen kurzen Moment erschrak sie etwas, als sie die gelben Augen erblickte, die gewundenen Hörner, wie zwischen der Frisur hervor lugten. Tatsächlich senkte der Tiefling die Kapuze daraufhin auch schnell wieder und lächelte leicht beschämt. „Deshalb diese ungewöhnliche Anfertigung“, erklärte Ximasxi, „Ich möchte die Gäste dieses Abends ungern erschrecken. Ich weiß, wie man auf meinesgleichen reagiert.“ Es war interessant, ihr zuzuhören. Sie schien hin und wieder kleinere Probleme mit der Aussprache zu haben, redete langsamer, um sich eben diese zu erleichtern und ihr ‚S‘ klang immer ein kleines Stück zischelnd. Doch Apollonia von Streytlingen hörte von ihren Untergebenen oft genug Geschichten über Elben aus Esgaroth, über Schnitterdämonen im Sumpf, über allerhand merkwürdige Reisende und stets nahm sie sich die Zeit, sich alles genau beschreiben zu lassen. Wenn sie in ihren Jahren etwas gelernt hatte, dann war das wohl der Umstand, eine Person nicht nach Äußerlichkeiten zu beurteilen. Phillipe beispielsweise, klein und lächerlich wie er aussah und dort jenseits der Tanzfläche auf dem Thron am anderen Ende des Saales saß, konnte Tausende ins Verderben stürzen - aus einer Laune heraus, weil er es wollte, weil er es für nötig befand. Mit wenigen Worten. Etwas, das man ihm gewiss nicht ansah. Je weiter der Abend fortschritt, umso mehr bemühte sich Apollonia um das Gespräch. Sie hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, sich mit einem Tiefling zu unterhalten und wollte die Chance nicht verstreichen lassen, zumal es ihr so erschien, als wäre das eine wundervolle Möglichkeit, sich diesem Abend zu entziehen und dafür zu sorgen, dass er etwas schneller vergehen würde. Ximasxi dagegen tat, was sie am besten konnte: Sie ließ andere reden, unterbrach selten und lauschte geduldig. Ihre Erklärung, was sie hier zu suchen hatte, war schlichtweg brilliant. Wohl auch, weil sie so makaber anmutete. Wenig war über Morlyns Verhältnisse bekannt gewesen. Damals, auf dem Maskenball von Lord Osprey, hatte Fronica Alvergreiffenmoor ihn regelrecht durch den Raum gejagt, in dem Glauben, er sei noch Junggeselle und damit ein gutes Ziel für ihre Mühen, eine exzellente Partie zu finden. Ximasxi dagegen erklärte, dass sie anwesend sei, um die Interessen seiner Hinterlassenschaft zu klären. Ein von den Bewohnern gewähltes, neutrales Mitglied, welches um verschiedene Dinge ersuchen solle. Im weiteren Gesprächsverlauf streute sie dann die brisanteren Informationen ein - beispielsweise, dass sie sich freiwillig gemeldet habe, da es eine Liaison zwischen ihr und Morlyn gegeben habe. Apollonia hatte Mitleid mit diesem armen Geschöpf, etwas, das - wie sie vermutete - auch Morlyn schon dazu gebracht hatte, sich mit ihr einzulassen. So viele Dinge waren allgegenwärtig, Ximasxis Geschichte zu stürzen. Das Gerede der Adligen über das Eintreiben alter Schulden seiner Majestät, Morlyns Flucht vor Fronica, die Kapuze auf einem Ball voller menschlicher Adliger, es wirkte schlicht… stimmig. Genau das war es letztlich wohl auch, was Apollonia dazu veranlasste, sich weiter mit ihr zu unterhalten. Schon allein, damit sie nicht unnütz an der Tür stehen musste, fluchtbereit, falls man sie doch noch enttarnen würde. Stattdessen tranken sie etwas Wein, die Stunden schritten fort, die Melodien wurden gemächlicher, die Tanzfläche leerer, der Rand voller. Es war der nahezu klassische Verlauf eines Ballabends, selbst das Essen zog sich ganz wie gewohnt mit Geplapper und kleinen Intrigen in die Länge. Man tauschte Informationen - manchmal auch solche, die bewusst fehlleiten sollten. Frau von Streytlingen dagegen war selten das Ziel solcher Attacken und gedachte auch nicht, sich daran zu beteiligen oder einzumischen. Ihre Sorgen waren andere als der Gedanke, wie man wohl jemand anderem so billig wie möglich den Schneid würde abkaufen können. Oder stehlen, notfalls. Nach dem Festmahl schlossen sich weitere Tänze an, während Apollonia sich wieder nahe der Tür einfand. Länger als gedacht verharrte sie dort mit ihrem Weinglas allein, ehe Ximasxi wieder zu ihr zurückkehrte. Sie hatten einander während des Mahles aufgrund der Sitzordnung unweigerlich außer Augen verlieren müssen, darüber war sich die Ältere durchaus klar. Nochmals nippte sie zufrieden über den sich offenkundig entspannenden Abendverlauf an ihrem Weinglas, ehe sie zu dem Tiefling aufsah. „Wisst ihr, ihr hättet eine wunderbare Partie abgegeben, meine Liebe. Morlyn war sicherlich froh um die gemeinsame Zeit.“ Ein hintergründiges Lächeln umspielte die schmalen Lippen der einstigen Diebin. „Danke, dass ihr das sagt“, erwiderte sie schlicht, „Ich wünschte, ich hätte mehr für ihn tun können.“ „Ihr könntet fortführen, was er begonnen hat“, führte Apollonia mit einem Lächeln und einer weitläufigen Handbewegung in Richtung des Saales aus. Das ist keine gute Richtung für das Gespräch, mahnte ihr Verstand sie scharf an. „Was hat er denn begonnen?“ erkundigte sich ihr Gegenüber indes. Wer konnte ihr die Frage schon verdenken?! Da ergab sich eine Möglichkeit, eine ungeahnte, unbekannte Option. Aber war dieses junge Ding denn überhaupt fähig und willens? Sie besaß keinen Adelstitel, hatte keinen Anspruch auf die Besitztümer der Klingenbrucks. Sie war nur als gewählte Vertreterin eines Landstriches hier, als zurückgebliebene Geliebte. „Oh, euch das zu sagen wäre… wäre nicht so gesund“, erörterte Frau von Streytlingen und kicherte in einem fast mädchenhaften Anfall kurz. Langsam und leise begann es, steigerte sich jedoch mit jedem weiteren Herzschlag zu einem unbeugsamen, unüberhörbaren Dröhnen in ihrem Schädel: Die Alarmglocken, die sie vor dieser Situationen zu warnen versuchten. Unsicher blickte die betagte Dame in die Runde. „Warum wäre es nicht gesund?“ hakte ihre Gesprächspartnerin rasch nach. Antworte nicht!, plärrte etwas mahnend in Apollonias Kopf. Doch als hätte ihr Verstand keinerlei Macht mehr, als wäre ihre Vernunft nur noch ein Zuschauer, der der Theateraufführung ungebührlich etwas dazwischen rief, reagierte ihr Mund völlig anders. „Weil er deswegen ja jetzt tot ist, nicht?“ hörte sie sich sagen und neuerlich so schauderhaft kichern. Wieder blickte sie sich um. Etwas stimmte hier nicht, bei allen Göttern, etwas stimmte hier aber ganz und gar nicht! Erst jetzt bemerkte sie, wie andere Gespräche verliefen. Erzürnte Gesichter hier und da, haltloses Kichern und Lachen an anderer Stelle. Je länger sie sich dies anblickte, in einem Panorama dieses Bild einfing, umso mehr erwachte der Eindruck, sie würde sich in einem Irrenhaus befinden. Ximasxi dagegen blickte zum Thron herüber und nickte nur kurz, ehe sie sich wieder Apollonia zuwandte. „Ich hoffe, das Mahl war üppig genug… und der Wein schmeckte“, zischelte die Stimme der früheren Diebin leise, ehe sie sich geschickt dem Versuch entwandte, gepackt zu werden. Apollonia dagegen, nachdem sie diese kleine Schlange schon nicht erwischt hatte, fühlte sich… unwohl. Ihre Beine würden nachgeben, sollte sie wagen, auch nur einen Schritt zu setzen. Sie wusste es, weil sie ihre Knie kaum noch spürte - und nichts darunter. Mit zitternden Händen hob sie das Weinglas und starrte hinein. Ihr Geist wurde träge, ihr Hals fühlte sich plötzlich so trocken an, sie… sie wollte noch einen Schluck nehmen. Nur einen kleinen, um die Lippen anzufeuchten. Ihr Verstand schrie, kreischte, wütete - sie wusste genau, wie dumm es wäre, nur noch einen weiteren Tropfen zu nehmen, aber dieser Drang, zu trinken… bei den Göttern, wie viele Gläser hatte sie diesen Abend getrunken, ohne etwas zu merken? Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie plötzlich das erste Glas in der Hand gehalten hatte. Gift. Oder irgendetwas anderes, es musste… im Wein sein. Um sie herum kicherten und lachten die meisten inzwischen und warfen sich grausamste Beleidigungen, frivolste Witze und mörderische Geheimnisse an den Kopf, als gäbe es kein Morgen mehr. „Wache!“ ertönte es irgendwo aus der Menge heraus. Apollonia wich zurück. Genauer gesagt, versuchte sie es, setzte einen Schritt nach hinten und kippte schlicht um. Sie stürzte gegen die Wand, sank daran herab und sah, wie die Wächter in aller Seelenruhe die Bolzen aufspannten. Eine lachende, kichernde, hier und da schon in Wut aufschreiende Menge - unfähig, sich zu wehren, bis die Bolzen von den Sehnen schnippten und sich in ihre Leiber bohrten. Schönste Gewänder, feinste Stoffe, teuerste Färbemittel… überzogen von Blut. Zerrissen von Metall und Holz. Es brauchte drei Wellen, ehe auch der Letzte lag. Drei Wellen… und Armbrüste brauchten Zeit, um gespannt zu werden. Selbst als die Todesangst und nackte Panik in ihrer aller Gesichter stand, konnten sie nicht aufhören, zu lachen, sich die Mägen zu halten, sich zu krümmen und selbst jetzt noch ihre Geheimnisse auszuplaudern, bis sie ebenfalls niedergestreckt wurden. Entsetzt blickte Apollonia in die Augen der jungen Dame, die sie eingangs bemerkt hatte. Sie wollte Phillipe ersuchen, seine Versprechen einzulösen. Jetzt lag sie dort… und starrte aus leeren Augen zu ihr herauf. Nur zwei Figuren blieben in der Menge stehen. Ximasxi, die ihre Kapuze zurück schlug. Eine kunstvolle Frisur darunter, jenseits derer ihre zwei Hörner aufragten. Erhobenen Hauptes stand sie wenige Meter von Apollonia entfernt, in einem Kreise des neuen Teppichs aus Menschenkörpern. Direkt neben ihr, deutlich kleiner, aber ebenso zierlich… harrte seine gottkönigliche Majestät Phillipe der Dritte aus - bis der letzte Bolzen das letzte Zucken beendet hatte. Eine gespenstige Stille kehrte in den Ballsaal ein. Grausam wie in einer Grabeskammer, wo eben noch Lachen erschallte. Er schritt auf Apollonia zu, hob ihre Hand und zog zwischen Weste und Gürtel einen Dolch hervor, den er ihr in die Fläche drückte. „Wie schon bei eurem Verrat“, hob der Tyrann Lumiéls an und blickte kalt in die Augen der alten Adligen, die aus einem Reflex heraus die Hand zurückzog, „habt ihr euch auch euren Tod selbst ausgesucht.“ Er erhob sich wieder, verstaute die Klinge. Apollonia begriff nicht, worauf dies hinaus laufen sollte, bis sie das schreckliche Brennen spürte, welches sich in ihrem Arm ausbreitete und zur Schulter herauf zog. Ihr Blick rollte herab… ein winziger, feiner Schnitt in der Handfläche. Hätte sie die Hand nicht weggezogen… nun, vermutlich hätte er sich dann seinen schlechten Spruch sparen können und es doch selbst machen müssen. Nur zu gerne hätte sie ihn dafür ausgelacht, was sie gesehen hatte. Als er sich zu ihr gehockt hatte, als sie ihm so nahe gewesen war wie selten zuvor… hatte sie eine Stelle in seinem Gesicht bemerkt, an der das Puder verwischt worden war. Wodurch auch immer, im Laufe des Abends möglicherweise - sie hatte Sommersprossen gesehen, dutzende kleine Flecke und Tupfer, er war ein verdammter Rotfuchs! Ohne jeden Zweifel! Genau die Kinder, die man in ihrer Heimat damit aufzog, das gerade kein Bogen zur Hand war. Doch weder blieb ihr die Zeit zu Worten, noch hätte sie sie auszusprechen vermocht. Das Brennen des Giftes erreichte ihren Hals, bereitete ihr grässlichste Qualen, die ihr die Tränen in Strömen aus den Augen hervor pressten, ehe es sich noch weiter herauf arbeitete. Ein atemloses Husten ließ einen kleinen Blutschleier auf ihren Arm niedergehen, während die Adern in ihren Augen platzten, bis sie fast zur Gänze rot waren. Die alte Dame sank in sich zusammen, wenige Sekunden nachdem die Klinge sie gestreift hatte. Wie schon zuvor angewiesen, packte jeder im Raum befindliche Wächter ein oder zwei Leichen und schleifte sie aus dem Raum heraus. Für Phillipe war es der letzte Befreiungsschlag gewesen. Morlyn Klingenbrucks Mitverschwörerin war gefunden worden, eine weitere zumindest, und zugleich hatte er sich aller Blaublütigen entledigt, die noch Anspruch auf Gefälligkeiten hatten. Niemand würde je wieder wagen, ihm sagen zu wollen, wem er etwas ‚schuldete‘ oder was er noch zu tun hätte. Er war ein Gott für dieses Volk, er war der König dieses Landes - er schuldete niemandem irgendetwas! „Wir wünschen nun unsere Ruhe, hinaus!“ verlangte seine Majestät, fuhr sich kurz erschöpft durch die goldenen Locken und wartete, bis die Wächter mit den Leichen verschwanden. „Ximasxi, du nicht“, korrigierte er sich, als auch sie bereits drauf und dran war, zu gehen. Wie von ihm gewiesen, schloss sie folgsam die Tür und trat ihm entgegen. Phillipe blickte, von wohl noch zwei Metern Distanz, zu ihr. Die Gestalt der Diebin war zweifellos alles andere als weiblich. Während andere behaupten konnten, die Rundungen dort zu haben, wo sie hingehörten, fehlten ihr diese oftmals. Und trotzdem wusste ihr Kleid das Wenige zu würdigen, dass sie besaß. Fordernd streckte er die Hand aus. Eine Grenze war es, die er brach. Es hatte immer Grenzen gegeben. Für ihn sowieso. Er wollte als Kind eine Süßigkeit - und sie wurde irgendwo oben auf einem Schrank aufbewahrt. Sieh doch zu, wie du das Zeug bekommst! Er hatte sich durchgesetzt. Auf die eine oder andere Art hatte er das immer geschafft. Aber es gab Grenzen, von denen er geglaubt hätte, sie ließen sich einfach nicht überwinden. Egal, was er anstellen würde - er wäre immer klein. Ein Mann hatte im Tanz zu führen. Das war etwas, was er durchaus zu bewerkstelligen fähig war. Aber er hatte ebenso die Frau zu überragen. Hier und jetzt aber störte ihn das nicht. Die Melodie noch im Ohr, führte er ausgerechnet dieses Tieflingsweib durch den Saal… und wagte, übervorsichtig und mit allgegenwärtig drohender Scham, eben dies zu genießen. Sie waren hier und taten etwas, das er nie für möglich gehalten hatte. Ein Abend, den er in guter Erinnerung behalten würde… „Habt Geduld. Wir müssen einfach nur warten, bis wir etwas von ihr hören. Irgendetwas“, brachte Lord Osprey unter einem Seufzen hervor und verabschiedete damit seine Gäste, die nach und nach zu ihren Kutschen einkehrten. „Ich würde mich nicht darauf verlassen“, hielt Fronica dagegen, als die Meisten bereits außer Hörreichweite waren. Schon zu lange war Apollonia von Streytlingen nicht wieder aufgetaucht. Das ließ nur Schlimmes vermuten - zumal sich die Gerüchte häuften, dass sie nicht die Einzige sei, die seit dem Ball verschwunden geblieben war. Osprey zuckte hilflos mit den Schultern. Was sollte er auch sagen oder tun? Er konnte sich nicht die Antworten nur durch Willenskraft aus dem Hut zaubern. Also ließ er sie ziehen, allesamt, bis sie mehr wissen würden als es aktuell der Fall war. Fräulein Alvergreiffenmoor zog sich ebenfalls zu ihrer Kutsche zurück, ließ sich die Tür aufhalten und stieg mit Hilfe ihres Knechts hinein. Sie seufzte tief und atmete kontrolliert durch, als das Schloss klickend einrastete. „Morlyn diesen Ausflug einzureden war nicht halb so schwer wie dieser Walküre den Ball aufzuschwatzen. Ich fürchte, sie könnten bereits Verdacht schöpfen. Könntet ihr nicht-“ Doch ehe sie ihren Versuch, sich aus der Schuldigkeit zu winden, so recht vorbringen konnte, lehnte sich aus der Finsternis der Kabine eine Gestalt weit hervor. Unter der schwarzen Kapuze lugte ein kaltes, eisblaues Augenpaar hervor. „Euer Dienst endet, sobald wir es gestatten. Natürlich steht es euch frei, euch jederzeit für die Alternative zu entscheiden. Ihr erinnert euch doch noch an den Traum, oder? An all die Hände und Zungen, an all die Schmerzen, das reißende Brennen in euren Lenden? Eure Ewigkeit bietet mehr als diesen harmlosen Vorgeschmack, Frau Alvergreiffenmoor. Also hütet eure Zunge und tut, was man euch sagt. Diese Farce wird bald ihr Ende finden.“ Kapitel 25: Loyalitäten ----------------------- Warum verweilte sie an diesem Ort? Müde und noch immer die Spuren der Enttäuschung tragende Augen blickten sich in dem kleinen Verschlag um. Dunkel. Muffig. Die Luft trug noch immer den eigenwilligen Geruch verbrannten Holzes. Eine seichte Note von Verfall, nasser Erde, irgendwo eine Spur Gras, wohl von oben mit einem Luftzug durch die Scharten in den Dielen herein ziehend. Ihr Heim für einige Jahre. Es war nicht unbedingt schön gewesen, nein. Sie hatte wenig Verständnis für Schönheit und gab das jederzeit offen zu, aber beim Nachtvater, es war… es war ihres gewesen. Ein ganzes Reich, egal wie groß, nur für sie allein. Dort drüben hatte sie geschlafen, wann immer sie es musste oder wollte. Niemand hatte sie ins Bett geschickt oder daraus herauf geweckt. Nun, meist zumindest. Gelegentliche Händler, ein paar stümperhafte Plünderer, die durch die Ruine über dem erhalten gebliebenen Keller streiften, auf der vergeblichen Suche nach leichter, übersehener Beute. Das zählte nicht. Selbst dieser elende Magier mit seiner impertinenten Höflichkeit und seine kleine, aufgeweckte Zwergenbegleitung zählten nicht. Dort, ja, dort hatte sie gebetet. Sie. Zu den Göttern der Menschen. Dem Nachtvater hatte sie all ihren Dank gewidmet. Ihre Inbrunst. Ihre Liebe. Er hatte sie erwidert, nicht persönlich vielleicht, aber durch einen Gesandten. Nun war er fort. Ihr Gönner, ihre Verbindung zum Nachtvater, man hatte ihn ‚bezwungen‘, wie es in der Stadt hieß. Getötet. Sie hatte gesucht, des Nachts. Im Armenviertel, auf dem Markt, in den Gassen. Keine Spuren. Keine Leiche. Er war einfach verschwunden und mit ihm jedes Zeichen, das er jemals existiert hatte. Es gab nichts mehr, was sie in Samara halten könnte. Sie war eine Diebin der Gilde von Sundergrad. In Samara hatte sie eine Zeit lang gefunden, was sie zu suchen geglaubt hatte. Schutz, Beschäftigung, Bestätigung. Diese Phase war nun vorbei - es war wohl soweit, nach Sundergrad zurückzukehren. Zurück in den Schoß der Gilde, zu Aedan und in das dicht gepresste Drängen und Treiben der überfluteten Hafenstadt. Dennoch hatte sie viele, viele Tage hier verbracht. Selbst nachdem sie die Suche hatte aufgeben müssen ob der Hoffnungslosigkeit aller ausbleibenden Funde. Sie hatte auf der kleinen Kellertreppe gesessen und gestarrt. Auf die noch immer starken Deckenbalken, die die Kellerräume vom zerklüfteten, verbrannten Haus darüber trennten. Auf ihr Bett, das sie mehr als nur einmal mit der Verlockung von Ruhe und Schlaf zu ködern versuchte. Auf ihren Altar, als würde der Nachtvater selbst ihr sagen, dass sie nur zu warten brauche und bald schon ein anderer seinen Willen zu vertreten wisse. Aber es würde niemand kommen. Und sie machte sich lächerlich, nur stumpf in der Dunkelheit zu sitzen. Sie hatte seit Tagen kein Ohr mehr an die Oberfläche gereckt. Geschweige denn, ihren Lebensunterhalt finanziert. Die letzten Güter ihrer Habe einpackend, schnürte sie an diesem Morgen ein Bündel, stieg die Treppenstufen hinauf und kehrte sich ein letztes Mal um. So hatte sie geglaubt. Nun saß sie wieder hier, das Bündel über der Schulter und… starrte. „Bringt nichts“, maulte sich Ximasxi schließlich selbst voll und hievte sich ein weiteres Mal empor. Diesmal kehrte sie nicht zurück. Nicht zur Treppe, keine vermeintlich letzten Blicke, nicht in ihr Versteck. Sie hatte alles genommen, was noch von Wert gewesen war. Sollte der nächste Dummkopf sich über ihre Hinterlassenschaften freuen. Ein Dach über dem Kopf, ein Bett, ein paar Kerzen. Wenn er sich nicht selbst in Brand steckte, könnte ihr Verschlag dem nächsten dienen. Ihr war es gleich. Sie würde ein letztes Mal nach Samara gehen, ihre alten Hehler und Händler aufsuchen und ihnen ein letztes Mal ihre Habe übergeben. Vielleicht informierte sie den einen oder anderen sogar über ihre Abreise. Damit sie sich nicht zu sehr wunderten und damit sie auch gleich zu hören bekam, ob diese Leute für die Gilde auch weiterhin nützlich wären, oder ob deren Hilfsangebote ausschließlich auf ihre Person und diesen Aufenthalt beschränkt gewesen waren.   Samara zeigte sich von seiner besten Seite. Was man auch immer im Allgemeinen darunter verstehen mochte, für den Tiefling bedeutete es schlicht, dass die Wächter sie rasch passieren ließen, ohne Kontrolle, ohne Interesse und sie im Gewirr der gut gefüllten Straßen, die jedoch längst noch nicht so überflutet und überladen waren wie im Süden, ihren Weg rasch fand. Das Wetter dagegen, über das an jeder Ecke geplappert wurde, interessierte sie wenig. Unter der Bettlerkutte wurde ihr bei dem prallen Sonnenschein warm, keine Frage. Letztlich hätte sie aber einen Eissturm ebenso gut überstanden wie die sengende Mittagshitze. Zwei ihrer Kontaktmänner versuchten sie über den Tisch zu ziehen. Hatte sie beim ersten noch die Geduld, zu feilschen und seinen lumpigen Betrugsversuch so sehr ins Gegenteil zu verkehren, das er draufzahlte, wollte sie beim zweiten einfach nur noch schnellstmöglich weg. Die Verkäufe dauerten ihr zu lange. Wäre sie nicht eine Diebin der Gilde, sie hätte den Ramsch irgendeinem Fremden in die Hand gedrückt, auf das der doch sein Glück damit versuchen solle! So hingegen zog sich ihre kleine Tour durch die Stadt bis in die frühen Nachmittagsstunden. Just als sie endlich das letzte Stück losgeworden war, änderten sich ihre Pläne. „Du wirst von uns hören“, versicherte Ximasxi bemüht, das durch ihre Zunge entstehende Lispeln zu verbergen. Der Hehler grinste nur, nickte und scheuchte sie mit einer Handbewegung nach draußen. Man mochte sagen, was man wollte: Die besten Händler für heiße Ware fand man nicht im Armenviertel. Dort saßen die Verzweifelten, die wirklich jeden erdenklichen Ramsch kauften, ja. Aber die waren auch… gefährlicher. Unangenehmer. Gewaltbereiter. Die besten Händler für Schwarzmarktware fand man immer noch im Händlerviertel, im Norden der Stadt. Sie wussten, wie man verhandelte, wie man Kompromisse schloss, mit denen beide Seiten leben konnten und vor allem, was die Dinge am Markt wirklich wert waren. Während das Tieflingsweib sich in Bewegung setzte, wurde sie beobachtet. Aus einer gegenüberliegenden Gasse heraus folgte ihr ein bohrender, abschätzender Blick, ehe sich die gleichermaßen wie sie in Bettlerlumpen gehüllte Gestalt von der Ziegelwand einer Lagerhalle abstieß und ihr folgte. Das eigentlich Schwierige daran, Ximasxi zu folgen, war die Balance zwischen Distanz und Nähe zu finden. Kam man zu nahe, fiel man unweigerlich auf und das konnte nicht nur ungünstig sein, nein, es konnte sogar überaus ungesund werden. Blieb man dagegen zu weit zurück, konnte man sie rasch aus den Augen verlieren. Es war ja nun nicht so, dass sie fünf Meter bemaß, sechs Köpfe hatte und alle zehn Sekunden Feuer spie. Obwohl sich das für ein Scheusal eigentlich gehört hätte, oder nicht? Gerade noch hatte er über diesen Gedankengang schmunzeln müssen, über die unterhaltsamen Vorstellungen, die ihm sein frivoler Verstand beim Anblick der zierlichen Figur einige Meter vor sich verlieh, als sein Lächeln abrupt erstarb. Die Diebin war nicht einfach stehen geblieben, nein, sie hatte zur Seite geblickt. Ohne sich dessen sicher sein zu können, ahnte er bereits, dass er aufgeflogen war. Sie hatte ihn vermutlich gerochen oder gehört oder seine verdorbene kleine Fantasie erahnt, jedenfalls würde sie ihn aus dem Augenwinkel heraus gesehen haben. Nur das konnte erklären, warum plötzlich ein Ruck durch den zierlichen Körper ging und die sehnige Figur des Tieflings in eine linksseitige Gasse davon flitzte. „Verdammt!“ maulte er hastig und stürzte ihr nach. Er durfte sie nicht verlieren, da lieber würde er die Konfrontation suchen, nur bei Lenikki, er durfte- Abermals wurde er genötigt, ruckartig inne zu halten. Diesmal jedoch lag das an einer Dolchklinge, die empfindlich dicht auf der Haut seines Halses aufsaß. Er war ihr direkt in die älteste und einfältigste Falle der Welt gerannt - und über kaum etwas konnte er sich mehr ärgern. „Du bist schwer zu finden, Natti…“ brachte er krächzend hervor. Parallel dazu hatte er, langsam und sich ihres drohenden Blickes bewusst, die Hand gehoben und versuchte vorsichtig, den Dolch von seiner Kehle zu drücken. Zwecklos. Je mehr er die Klinge davon schieben wollte, umso tiefer und energischer presste sie das Stück Metall gegen seine Hauptschlagader. Oh er wusste ja, dass sie nicht unbedingt ein Fan dieses Namens war, doch konnte die Frau nicht ein einziges, verdammtes Mal… nun ja… locker sein?! „Wir müssen reden“, schob er nach, doch noch immer änderte sich seine Lage nicht. Ximasxi dagegen starrte ihren Verfolger schlicht an. Sie kannte ihn, oh ja, und wie. Sonderlich erpicht darauf, mit ihm Worte zu wechseln, war sie nicht. Zumal er in ihrer Anfangszeit zu denen gehört hatte, die sich ständig über ihre Aussprache hatten lustig machen müssen. Und das war noch längst nicht alles, nein, es war noch nicht einmal der Hauptgrund, warum sie ihn nicht ausstehen konnte. Er war ein Mensch, er hatte sie ausgelacht, er hatte sie hin und wieder als Sprosse für seine eigene Karriereleiter zu benutzen versucht. Doch selbst das verblasste. „Sprich“, warf sie ihm den Brocken zu. Jalil war sein Name, wie sie sich inzwischen erinnerte. Ein gebürtiger Einwohner Sundergrads, wie man ohne Mühe leicht erkennen konnte. Er hatte die dunkel gefärbte Haut der dortigen Bürger, die beständig mit Wüste, ‚gutem Wetter‘ und brütender Sonnenhitze zu kämpfen hatten. Wie so viele Mitglieder der Gilde, hatte auch Jalil klein angefangen. Als Gossenkind, das gelegentlich Brot und ein paar Äpfel stahl. Irgendwann war es zu einer Wette gekommen. Er sollte einem Wachmann sein Schwert stehlen. Tatsächlich hatte der Bursche es geschafft, gewitzt wie er war. Er hatte danach die Beine in die Hand genommen, war gerannt, wie er noch nie gerannt war, den wütend kreischenden Wächter hinter sich. Nur das Lachen, das hätte er wirklich lassen sollen - denn so ging ihm viel zu früh die Puste aus. Die Gilde war nicht dadurch auf ihn aufmerksam geworden, dass er einen Wachmann bestohlen hatte. Nein, man wurde auf ihn aufmerksam, als er es erfolgreich schaffte, sich aus der Arrestzelle quer durch die Wachstube und mit dem Schwert, welches er einfach noch einmal mitgehen ließ, bis zurück zu seinen Freunden zu stehlen. Jalil hatte Talente. Der eigentliche Diebstahl mochte es vielleicht nicht sein, aber er war ein begnadeter Ausbruchskünstler. Solche Leute kamen meist zum Einsatz, wenn Mitglieder der Gilde bei nicht ganz geplant verlaufenen Aktionen doch mal im Kerker landen. Wenn der Galgen auf sie wartet und diese Pechvögel die Mühe wert sind, schleust man einfach jemanden wie Jalil ein, der sich befreit und bei diesem Vorhaben den Verurteilten gleich mitnimmt. „Ich war schon bei dir daheim, weil ich hoffte, dich da zu erwischen, aber das Vöglein war schon ausgeflogen und hatte alles mitgenommen. Sehr sauber, wirklich. Also unten. Oben ist es ziemlich dreckig. Mal im Ernst, wie kannst du in so einer Absteige hausen? Ich dachte, sowas wie du würde einen Friedhof bevorzugen, ein paar kuschelige Mausoleen und-“ abrupt keuchte der Langfinger, als Ximasxi ihm ohne jede Zurückhaltung das Knie in die Leiste presste. Einzig der Dolch verhinderte, dass er vornüber sank und sich zusammenkrümmte. Beschwichtigend hob er die Hände und richtete sich wieder auf, dem ungeduldigen Blick der Diebin mit einem längst nicht mehr so amüsierten Lächeln wie zu Beginn begegnend. „Schon gut, schon gut, Herrgott, entspann dich doch mal, Natti! Ich habe Anweisungen aus Sundergrad. Von Aedan. Für dich.“ „Blödsinn!“ fuhr ihn Ximasxi prompt an. Es war völlig undenkbar, dass ausgerechnet diese nutzlose kleine Kröte von Aedan geschickt wurde, um ihr irgendwelche Befehle zu überbringen! „… und weil er genau wusste, dass du das sagen würdest, hat er mir den hier mitgegeben“, setzte Jalil nach und zog vorsichtig einen Ring aus seiner Tasche hervor. Er brauchte ihn lediglich hoch genug heben, da erkannte die Diebin das kleine Schmuckstück. „Hör‘ mal, mir gefällt diese Scheiße auch nicht. Ich stecke hier, ob du es glaubst oder nicht, genauso tief drin wie du. Denkst du, ich bin hier, weil ich so auf dich stehe? Bestimmt nicht!“ Was dieser dunkelhäutige Schwachkopf weiter faselte, war dem Tieflingsweib reichlich egal. Sie starrte völlig fassungslos auf den kleinen Ring in seiner Hand. Er gehörte dem Gildenmeister, keine Frage. Er hatte das kleine Stück Tand von seiner Schwester geschenkt bekommen, anlässlich irgendeines persönlichen Tages. Ob Feier oder Trauer, das hatte sie nie in Erfahrung bringen können. Es war auch nie von Belang gewesen, wichtig erschien ihr nur, dass er sehr daran zu hängen schien. Man sah ihn nie ohne das Schmuckstück und wann immer Verhandlungen schwierig wurden - wirklich richtig schwierig -, nestelte er daran herum, als wäre es sein persönlicher Glücksbringer. „Er würde diesen Ring niemals freiwillig hergeben!“ zischte die Diebin erbost. Mit Nachdruck quetschte sie Jalil gegen die Wand. Inzwischen begann die scharfe Dolchklinge sich in seine Haut zu fressen, ein kleines, dünnes Rinnsal seines Blutes bezeugte dies. „Du hast damals schon versucht, die Gilde zu verkaufen!“ Für den Ausbruchskünstler war nun der Moment gekommen, erstmals aufrichtig Angst zu haben. Ximasxi und er hatten einander noch nie ausstehen können, doch sofern das gewünscht worden war, hatte zumindest eine Zusammenarbeit bislang immer geklappt. Es war schwierig, anstrengend und voller Reibereien, aber es hatte funktioniert. Diesmal jedoch fürchtete er aufrecht um sein Leben. Vielleicht war es doch nicht so klug gewesen, ihr den Ring zu zeigen… „Natti, bitte, mach‘ keinen Scheiß! Wenn ich den Ring geklaut hätte, wäre ich doch niemals lebend aus Sundergrad rausgekommen! Und das damals ist doch schon lange vorbei! Bei Lenikki, überleg doch nur einen Moment! Ich will gar nicht abstreiten, dass ich damals in Versuchung war, aber ich habe mich doch umentschieden, oder nicht?! Zählt das denn gar nichts?“ Er trug noch manche sogenannte Erklärung vor. Rechtfertigungen, Schuldabweisungen, allerhand Kauderwelsch, der ihr reichlich egal war. Er hatte eine gewaltige Summe geboten bekommen und freies Geleit zum Hafen und mit einem Schiff der Krone in fremde Ländereien. Im Gegenzug musste er ja lediglich Aedan und ein paar andere der Führungsspitze ans Messer liefern. Es hätte sogar fast geklappt. Vier gute Männer und Frauen wurden damals hingerichtet. Seinetwegen. Selbst um den Gildenmeister stand es eine Weile wirklich übel, eine Hatz quer durch die Straßen der Stadt hatte ihm gerade so das Leben retten können - denn die Wache hatte strikte Anweisung, keine Gefangenen zu machen. Ein einziges Desaster - für alle. Ausgelöst von der Gier eines Mannes. Dieses Mannes. Gerne hätte sie die Gilde befreit. Von ihm und auch nur dem geringsten Risiko, nochmals verraten zu werden - doch leider hatte er Recht. Selbst Jalil war nicht dämlich genug, mit dem Ring ausgerechnet hier, bei ihr aufzutauchen, sollte er gestohlen worden sein. Nur langsam zog sie ihre Krallen von seiner Schulter und den Dolch von seiner Kehle zurück. Ein letztes, kurzes Fauchen, ehe sie ihr Werkzeug verstaute und von ihm fort trat, um die Distanz herzustellen, die ihr persönlich grundsätzlich und von der Person unabhängig lieb und recht war. „Also?“ hakte sie schließlich nach und stierte den Kollegen an, während dieser nach Luft rang, sich zu beruhigen versuchte und mit einem Tuch über seinen Hals wischte. „Ganz wie in alten Zeiten, was Natti? Okay, hör mal. Das hier ist zwar ‘ne schöne Gegend, sehr malerisch und so, aber könnten wir das vielleicht trotzdem wo anders besprechen? Ich habe uns ein verfallenes Lagerhaus angemietet, ist nicht weit von hier.“   ‚Nicht weit von hier‘ bedeutete sehr zu Ximasxis Leidwesen letztlich, dass sie eine geschlagene Stunde lang hinter Jalil her trotten musste, weil dieser sich in Samara nicht auskannte und geschlagene zwei Mal verlief. Als sie das Lagerhaus endlich erreichten, irgendwo im südlichen Teil des Armenviertels, dunkelte es bereits. Doch selbst das klägliche Restlicht des schwindenden Tages reichte aus, um zu begreifen, was mit einem verfallenen Lagerhaus gemeint war. Das Bauwerk sah nicht wesentlich besser aus als die Ruine, in deren Keller sie nördlich der Stadt zuvor ihre Tage zugebracht hatte. Die Grundmauern standen noch, sogar die oberen zwei Stockwerke waren noch vorhanden, doch… weder den Treppen noch den Zwischenböden sollte man wohl mehr als das Gewicht einer Katze zutrauen. Entsprechend schlichen sie sich ungesehen durch die Seitentür hinein und suchten in dem kleinen Labyrinth aus Gängen und winzigen Kämmerchen, die die eigentliche Halle einzäunten, einen Raum, der noch im bestmöglichen Zustand war. Dort ließ sich Jalil endlich dazu herab, seiner Begleitung die Umstände zu erklären. „Also Natti“, begann er und überging schlicht, wie sie ihn einmal mehr dazu aufforderte, diesen Namen sein zu lassen, „der Ring hat dir eigentlich nur zeigen sollen, wie verdammt wichtig das hier ist. Ich übertreibe nicht: Es geht um die Zukunft der Gilde. Kein Auftraggeber. Nicht mal eine Belohnung, die wir herausschlagen könnten. Es geht nur darum, welche Rolle die Gilde in Zukunft spielen wird und natürlich wollen wir das größte Stück Kuchen für uns haben.“ Mit einem unwilligen Schnauben tigerte die Diebin auf und ab. Sie wusste, dass ihn das wahnsinnig machte - und das mochte zum Teil auch ein Grund sein, warum sie davon nicht abließ. Der überwiegende Teil dagegen war reine Ungeduld. Das ganze Gerede konnte er sich sparen! Wie sehr vermisste sie Aedan in diesem Moment. Der hätte ihr gesagt, wann es wo was zu tun galt und vielleicht noch, sollte sie nachfragen, warum. „Komm zum Punkt“, verlangte sie schließlich, als ihr Begleiter sich noch immer über die angebliche Tragweite den Mund fusselig redete. Was hoffte er damit zu bezwecken? Dass sie ihre Aufgabe ernster nahm? Sie nahm jede verdammte Aufgabe ernst, selbst einen billigen kleinen Taschendiebstahl! Jalil dagegen seufzte lediglich und zuckte mit den Schultern. „Ganz wie du willst…! Wir wissen seit geraumer Zeit, dass die Krone die Rückeroberung Sundergrads plant. Jetzt sind sie offenbar soweit. Sie haben Truppen und Gerät zusammengezogen und etwas südlich von Samara ein kleines Lager aufgebaut. Dort haben sie alles, was eine kampffreudige Armee gerne hätte.“ Einen Moment lang schwieg er, fischte vergebens nach einer Reaktion. Er hatte auf Erstaunen gehofft, auf Zweifel, auf… nun, irgendetwas. Doch das Weib blieb völlig ungerührt, marschierte weiter auf und ab und warf eher beiläufig die Frage ein, ob sie also auskundschaften sollten, womit Sundergrad es zu tun bekäme. Obwohl das nicht war, worauf er gehofft hatte, regte es sein Gedächtnis doch an, ihn daran zu erinnern, wofür er eigentlich hier saß und sich das alles antat. „Nein, besser. Wir halten sie auf.“ Nun blieb die Diebin tatsächlich stehen. Verspätet zwar, aber er bekam die gewünschte Reaktion. Unglaube, allem voran. Zweifel. Nicht an Aedans Befehlen - nur an der Umsetzung dessen. Sie war gut, flink und fast unsichtbar in der Nacht, sicherlich. Aber weder konnte sie Rüstungen und Waffen von hunderten Soldaten wegschleppen, noch diese Männer allesamt unauffällig im Schlaf meucheln. Zumal sie Diebin war, keine verdammte Schlächterin! Natürlich kam dabei rasch die Frage nach dem Wie. Und auf genau diese einsilbige, für Ximasxi übliche Weise blaffte sie ihm das Wort auch entgegen. Jalil verzog einen Augenblick das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, beruhigte sich jedoch wieder. Mit ihr zu arbeiten war so… anstrengend. „Aedan hat einen Plan. Wir arbeiten zu sechst. Ich soll für dich den Späher spielen und bin voraus gereist, um dich zu informieren. Die anderen vier kommen bald nach, in zwei oder drei Tagen müssten sie hier sein“, erklärte der Dunkelhäutige. Er lehnte sich zurück, kippte den Stuhl auf die Hinterbeine und balancierte ihn aus, während er sich nun endlich die verdammten Lumpen zumindest vom Kopf zog. Darunter kam eine typische, schwarze Lockenfrisur zutage, die mal wieder einen etwas mehr Ordnung bringenden Schnitt hätte vertragen können. „Gefällt mir nicht“, fuhr der Tiefling ihn an, „Ich arbeite allein. Wer sollen die sein? Wie ist der Plan?“ Je mehr sie hörte, umso unwohler fühlte sich Ximasxi mit alledem. Sie hatte ihren Krempel verkaufen und heimkehren wollen. Nun aber schien es, als wolle man ihr ein Himmelfahrtskommando aufbürden. Aedan kannte seine Leute. Er kannte sie. Warum verlangte er das von ihr? „Natti, wir haben nicht viel Spielraum. Es musste schnell gehen, glaub mir. Ich wünschte, ich könnte dir mehr erzählen, aber… ich darf nicht. Noch nicht. Ich weiß, du bist nicht gerade begeistert davon, aber… wir bleiben hier. Hier in der Halle. Holen uns vielleicht ab und an was zu essen oder so. Ich habe Geld mitbekommen, so ist’s nicht, und du hast ja auch gerade Zeug verkauft, nicht? Aber wir waren einfach die Zeit ab, bis die anderen hier sind und dann… erkläre ich alles. Wirklich, ich verspreche es. Alles. Einfach nur abwarten, okay? Nur geh‘ mir bitte nicht wieder an die Kehle, der Schnitt brennt fürchterlich.“ Kurz überlegte Jalil, etwas dazu zu sagen, als seine Gesellschaft abfällig darüber schnaubte, wie weinerlich er sich anstellte. Sie sagte es natürlich nicht… aber er konnte es in ihren Augen ablesen. Für sie war er nicht mehr als Ungeziefer. So wie die meisten Menschen. Ein weiterer Grund, warum er sich um das Treffen in ein paar Tagen reichlich Sorgen machte. Ximasxi, so hatten die Anweisungen gelautet, würde das Kommando über diese ganze Operation haben. Warum? Warum traute man ausgerechnet diesem soziopathischen Dämonenmiststück solch eine Verantwortung zu und nicht ihm? Hatte er nicht in den letzten Jahren alles getan, um seinen Fehltritt zu bereinigen? Um das Vertrauen der Gilde zurückgewinnen zu können? Wie sehr er bereuen würde, von einfach nur abwarten gesprochen zu haben, wurde ihm tatsächlich erst in den nachfolgenden Stunden klarer. Obgleich er selbst es gewesen war, der zunächst noch große Töne gespuckt hatte, war es auch kaum vier Stunden später, also mitten in einer sternenklaren Samarer Nacht, an Jalil, in den leeren Korridoren und verwaisten Räumlichkeiten des Lagerkomplexes auf und ab zu laufen. Ganz im Gegensatz zu Ximasxi, die ihrerseits nun endlich ruhig in der Ecke des Raumes saß, in welchem sie ihre kleine Besprechung geführt hatten. Wie ein verflixtes Mahnmal harrte sie dort aus, die katzenhaften Augen geschlossen, scheinbar schlafend in sich zusammen gesunken. Er wusste, dass sie nicht schläft. Vermutlich würde sie sich das nicht leisten, solange er in der Nähe wäre oder zumindest nicht, solange er als Einziger in der Nähe war. Seine inzwischen fast schon ritualisierten Runden glichen allmählich einem Pilgerpfad, den er wieder und wieder beschritt. Zweimal führte der nahezu einstudierte Ablauf ihn dabei an der offen stehenden Tür vorbei, hinter der die Gildendiebin ausharrte. Jedes Mal starrte er zumindest für einen kurzen Sekundenbruchteil zu ihr herüber - und nie rührte sie sich. Dabei war er sich sogar sicher, sie würde seine Blicke spüren. Oder seine Schritte hören. Vermutlich beides, doch rein äußerlich kümmerte sie das offenbar wenig. Tatsächlich war Ximasxi nie von der Wache oder sonst irgendwem ohne weiteres gefangen worden, weil sie einen sehr leichten Schlaf hatte. Jalil irrte, als er glaubte, sie würde sich dergleichen nicht erlauben. Wie sonst hätte sie diese Zeit füllen sollen? Sie hatte zuvor genug Tage damit verbracht, trostlose Einrichtung und karge, kleine Räume anzustarren und war entsprechend selbst nicht sonderlich erpicht darauf, in diesen Räumlichkeiten eingepfercht zu werden. Schon gar nicht mit jemandem wie Jalil, den sie trotz aller Mühen nach wie vor für ein Risiko und einen Verräter hielt. Menschen, das hatten ihre Erfahrungen ihr gezeigt, waren niederträchtig und änderten sich nicht. Einmal ein Betrüger, immer ein Betrüger. Die allzu nachsichtige Politik zweiter Chancen konnte sie nur belächeln, doch sie kannte ihren Platz - es stand ihr nicht zu, die Beschlüsse des Gildenmeisters in Frage zu stellen. Obwohl ihre Gedanken sich in nicht geringem Ausmaß um die Frage drehten, ob es denn auch die Beschlüsse des Gildenmeisters waren. Der Ring mochte nicht gestohlen worden sein, das leuchtete soweit ein. Doch hieß das wirklich, dass er hier zu sein hatte? Vielleicht hätte er auch nur den Kurier mimen, den Tand überbringen, die Aufgabe erklären und dann wieder verschwinden sollen? Er war ein Ausbruchsexperte. Das Tieflingsweib wusste das und begann sich mehr und mehr zu fragen, wofür ein solcher gut sein sollte bei einer Aufgabe wie… dem Aufhalten und Zermürben einer ganzen Armee. „Sag mal,“ begann der Lockenkopf irgendwann nach zähen Stunden im Zuge der nächsten Morgendämmerung, „wie wäre es mit… Frühstück? Etwas essen, du weißt schon. Du isst, das weiß ich genau. Fisch? Roh? Nein, okay, Spaß! Ich hole uns einfach was, ja? Natti? Ach, ich gehe einfach.“ Kaum war der gebürtige Sundergrader verschwunden, zog ein seichtes Schmunzeln auf die zuvor reglosen Lippen der Diebin. Der Südländer hatte noch weit weniger Selbstbeherrschung, als sie in Erinnerung hatte. Nur ein paar Stunden in engen, leeren Räumen und er begann schon langsam durchzudrehen. Sollte er nur gehen, ihr war das mehr als recht! Während Jalil die Stadt unsicher machte und verzweifelt versuchte, sich den Weg zum Lagerhaus zu merken, erhob sich das Tieflingsweib aus ihrer Ecke, streckte und dehnte die Glieder und Muskeln und begann ihrerseits mit einem kleinen Rundgang. Nicht jedoch etwa, weil ihr langweilig geworden wäre oder sie dem Gefühl zu erliegen drohte, die Decke könne ihr auf den Kopf fallen. Nein, vielmehr wollte sie einfach nur das Gebäude ein wenig durchleuchten. Wie viele Eingänge gab es, wo lagen die Fenster, wie kam man dort heran. Einfache und wichtige Dinge. Sie erkletterte sogar das Dachgehölz der Halle, um sich das Ganze aus einer meist nur und ausschließlich ihr zugänglichen Perspektive anzuschauen. Die Quintessenz ihrer Untersuchung war geradezu frustrierend. Jalil hatte die Halle vermutlich nach eigenem Gusto angemeldet und damit nur seine Unkenntnis Samaras bewiesen. Es gab durch das große, scheunenartige Tor der Halle und die Seitentür nur zwei Eingänge, die auch als solche gedacht waren. Für jemanden, der Interesse hatte, Eingänge zu sichern, mochte das angenehm sein. Für jemanden, der im Zweifelsfall die freie Auswahl der Fluchtrouten haben wollte, war das beengend wenig. Stattdessen jedoch bemerkte sie kleinere Holzstege unter dem Dach, nah an das eigentliche Stützbalkengerüst angebracht, die die Fenster miteinander verbanden. Wozu das auch immer  gedient haben mochte, scheinbar gab es keine Möglichkeit, ohne weiteres von unten herauf zu gelangen. Vielleicht war die Halle mehrfach abgerissen und umgebaut worden, wer wusste das schon. Für die Diebin war nur wichtig, dass sie um einen der massiven Balken ein Seil knoten und es herabbaumeln lassen konnte. Die meisten Fenster grenzten an Straßen oder Gassen an. Und wenn direkt daneben ein Gebäude lag, dann war es von der typischen Bauart des Armenviertels. Schief und krumm und baufällig. Nichts, worauf man bei einer rasanten Flucht auch nur einen verflixten Fuß setzen wollte. Das einzige Fenster, das auf ein stabiles Dach führte, über das sich entkommen ließe, befand sich oben, verbunden mit jenem Holzsteg. Damit blieb zu hoffen, dass sie entweder nicht gestört werden würden oder eben, dass all die anderen, die da noch kamen, ebenso gute und geschickte Kletterer waren wie Jalil und sie. Jalils Rückkehr erfolgte für Ximasxis Geschmack deutlich zu früh. Ruppig hieß sie ihn „willkommen“, indem sie schlicht ihren Anteil am Frühstück entgegen nahm und sich wort- und vor allem danklos wieder zurückzog. Der Ausbruchsexperte begriff und frühstückte entgegen seines eigentlichen Vorhabens für sich, so, wie er auch die weiteren, über diesen und die nächsten zwei Tage folgenden Mahlzeiten allein einnahm. Immer wieder bemühte sich der Südländer, sich abzulenken. Er begann sogar Kohle und ein paar Kreidestifte mitzubringen und irgendwelchen Unsinn an die Wände zu kritzeln, nur um sich abzulenken - denn seine zukünftige Gruppenführerin schien weder auf seine Gesellschaft, noch auf Unterhaltung wert zu legen. Nicht einmal auf ihre Eigene. „Sag mal, machst du eigentlich irgendwann mal was?“ hakte er deshalb am dritten Tag nach. Draußen verriet die Sonne den Nachmittagsstand und seit knapp einer Stunde hatte er sich wieder in dem kleinen Kämmerchen eingefunden. Der Tiefling aber saß dort in der Ecke wie am ersten Tag, die Augen geschlossen und schien trotzdem durch die Lider hindurch auf irgendetwas zu starren. „Ich meine… leben. Du weißt schon, oder? Saufen. Kartenspiele. Pff, meinetwegen Huren! Wie pflanzt sich sowas wie du eigentlich fort? Natti? Hallo? Hallo! Du weißt aber schon, dass ich mit dir rede, oder?“ „Leider“, erklang nach einer kurzen Atempause die einzige Reaktion der Diebin auf sein kontinuierliches Geplapper. Jalil gestikulierte einen Augenblick hilflos in der Gegend herum, ehe er sich mit einer ermüdeten Geste über das Gesicht strich und die Hände in die Hüften stemmte. „Na gut. Okay. Weißt du was? Du kannst mich mal! Ich habe wirklich versucht, mit dir auszukommen, wirklich. Aber selbst die Pest ist nicht so ätzend und selbst ein Igel kuschliger als du! Normale Menschen unterhalten sich, Natti. Wir hätten uns hier gegenseitig die Zeit ein wenig vertreiben können, das wäre doch viel besser gewesen, oder nicht? Stattdessen sitzt du nur da und starrst auf weiß-Ceteus-was! Wieso kannst du dich nicht wie jeder verdammte andere normale Mensch auch benehmen?!“ Er hatte nicht mit einer Reaktion gerechnet, so viel war klar. Oder wurde es zumindest, als er regelrecht erschrocken zusammen fuhr - in dem Augenblick, als Ximasxi ohne Ankündigung aufsprang. Er hatte noch nie gesehen, dass ein Mensch so etwas getan hätte, er glaubte nicht einmal, dass ein Mensch zu so etwas anatomisch fähig wäre. Blitzschnell war sie auf den Füßen, starrte ihn finster an und erklärte ihm, dass es eben genau darum ginge: „Ich bin aber kein Mensch!“ giftete das Weib. Sie trat an Jalil heran, starrte ihn auf knapp anderthalb Meter verbliebene Distanz an, als wolle sie ihn sogleich fressen, ehe sie vorbei schritt und den Raum verließ. Dabei erklang ein geradezu scheußliches Geräusch, dessen Quelle der Dieb erst erkannte, als er sich umkehrte. Von draußen hörte er sie erklären, dass es Zeit sei, zum Treffpunkt zu gehen und tatsächlich, sie hatten die drei Tage irgendwie herumbringen können. Ohne sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Ohne im Bett zu landen. Ohne auch nur sonst irgendetwas zu tun. Außer gelegentlich zu essen. An der Wand direkt hinter ihm fand er den Beweis ihrer Worte. Kein Mensch. Menschen waren nicht fähig, mit ihren Krallen tiefe Spuren in das Mauerwerk zu kratzen. Weil Menschen keine Krallen besaßen. Trotzig den Kopf schüttelnd, verbot sich Jalil, irgendetwas dazu zu sagen. Fast hätte er Grund zur Schadenfreude gehabt, wusste er doch genau, was bald folgen würde - doch leider wurde die ihm ebenso vergällt. Denn ihre Laune würde dann unweigerlich ihn treffen, ihn und die anderen und den Rest der Welt gleich noch dazu. Wie vereinbart, befanden sich die Neuankömmlinge bereits in der Stadt. Separat an verschiedenen Stellen eingereist, wie ihnen angewiesen worden war, erregten sie weniger Aufmerksamkeit und wurden nicht als Gruppe assoziiert. Zudem war das Thema einer Taschenkontrolle durch die Wächter und des Wegezolls damit bereits geklärt. In der Altstadt Samaras, einem von Ximasxis bevorzugten Jagdgebieten aus den letzten Jahren, sammelten sie sich. Vor dem Verwaltungsgebäude des Stadtvogts gab es eine kleine Allee wundervoller, hoch aufragender Pappeln - und gegenüber auf der anderen Straßenseite eine Taverne. Zum Nachtfalter war keine billige Kaschemme, in der sich nach Feierabend das Handwerker- und Arbeiterpack Bier gönnte, zu lallen und zu singen begann und dem Wirt Ärger bereitete. Hier traf sich die gesellschaftliche Oberschicht, was vor allem bedeutete, dass sie nicht in ihren Bettlersachen dort erscheinen konnten. Jalil hatte in seinem Reisegepäck jedoch bereits vorgesorgt. Während er selbst nun als in feinen Zwirn gekleideter Gönner und vielleicht sogar gut situierter Handelsmann auftauchen konnte, musste seine Begleitung damit Vorlieb nehmen, die Dame aus reichem Hause zu mimen… mit einer opulenten Perücke, die ihre Hörner verdeckte, ihr jedoch auch das Laufen erschwerte. Ihre Augen waren natürlich ein gewisses Problem, doch solche Exotik würde noch keine Fragen oder entsetzten Rufe auslösen, solange Hörner, Schwanz und Klauen artig versteckt blieben. Der Grund, warum sie Fächer, Handschuhe und feinste Lederstiefel trug. „War das nötig?“ zischte das Tieflingsweib, kurz bevor sie in den Nachtfalter eintraten. Jalil harrte kurz aus, warf einen Blick an ihr herab und nickte stolz. „Aber natürlich. Allein, um dich mal wie ein Prachtweib gekleidet zu sehen, war es das! Jetzt hör‘ schon auf herum zu nörgeln, du siehst fantastisch aus. Für’n Scheusal“, setzte er nach und entging dem Faustschlag gerade noch rechtzeitig. Er drückte die Klinke herab und ließ, wie es sich gehörte, der Dame den Vortritt. Ganz wie erwartet, interessierte sich hier niemand für die neuen Gäste. Falls Pöbel wagte, sich hierher zu schleichen, dann war es am Wirt und den Angestellten, sie freundlich, aber bestimmt des Hauses zu verweisen - und für eben diese wirkten die beiden lediglich wie neue Gäste. Der Rest hob nicht einmal den Kopf, sondern ging weiter den eigenen Gesprächen aus. An Orten wie diesen wurden Verträge geschlossen und Bündnisse geschmiedet… tagsüber zumindest. Nachts wurden hier dagegen Verträge gebrochen und Bündnisse verraten, ganz abhängig davon, wer mit wem zu Tisch saß oder das Bett teilte. „Da drüben sind sie“, klärte der Südländer seine Gesellschaft gerade auf und deutete zu einem voll besetzten Rundtisch herüber. Prompt bohrte sich ein feiner Damenhandschuh in seine Schulter und die Klauen durchstießen den Stoff ohne jede Mühe, schnitten ihn regelrecht auf. „Was soll das?“ fauchte sie leise und zog Jalil zurück, während die Gäste jenes Tisches bereits zu ihnen herüber blickten, zwei von ihnen sich sogar zu einem Winken hinreißen ließen und offenbar von einem Dritten ermahnt wurden, das zu unterlassen - woraufhin sie betrübt die Blicke senkten. An jenem Tisch saßen nicht Diebe der Gilde, so viel war klar! „Natti, nicht hier und nicht jetzt! Lass uns die Leute einsammeln, zum Lager bringen und dann kannst du immer noch herummaulen wie du willst!“ beschwor Jalil seine Begleitung. Die wirkte… nun, verstimmt war noch höflich ausgedrückt. Wenig angetan? Rasend ob des Verdachtes, man würde wie in früheren Zeiten einen Witz auf ihre Kosten machen? Tatsächlich winkte Jalil seinerseits die Gesellschaft jenes Tisches zu sich herüber. Vier Personen erhoben sich und richteten dem Wirt ihren Dank aus, zahlten ihre zwei, drei Getränke und gingen. Über Seitenstraßen, abgelegenere Gassen und Hinterhöfe gelangten sie zurück ins Armenviertel. Schon auf dem Weg dorthin entledigte sich Ximasxi dankbar jedes Stückes, das Jalil ihr abzulegen erlaubte. Er hatte ihre Bekleidung perfekt zusammengesetzt. Solange sie in der Altstadt waren, trug sie alles und fiel nicht auf. Je weiter westlich sie kamen, desto mehr konnte sie ablegen und je mehr sie ablegte, umso besser passte sie sich stufenweise den örtlichen Gegebenheiten an - bis sie am Schluss endlich die Perücke abgeben konnte und ihr unverschämt gutes Gleichgewichtsgefühl wiederhergestellt wurde. All die Stücke landeten, sehr zu Jalils Enttäuschung, unterwegs auf der Straße oder im Dreck. Sie hegte offenbar trotz des Lobes für ihr Erscheinungsbild kein gesteigertes, ja nicht einmal ein ansatzweise vorhandenes Interesse daran, für irgendwen einen erträglicheren Anblick abzugeben. Wie bedauerlich. Als sie in der Haupthalle ihres Lagers angelangt waren, harrte der Tiefling am Tor aus, bis auch der Letzte eingetreten war. Sie schloss die Pforte sorgfältig und starrte ‚ihre‘ Truppe einen Moment lang ungläubig an. „Was soll das? Ein Zirkus?“ murrte sie verdrossen und stierte schließlich zu Jalil herüber, der seinerseits nun die leidige Pflicht innehatte, alle miteinander bekannt zu machen. Er schlug zwar vor, man könne sich in einen Raum zurückziehen, doch das Tieflingsweib wiegelte ungeduldig ab. Bevor sie es sich irgendwo bequem machten, wollte sie aufgeklärt werden, wer diese Witzfiguren überhaupt waren! „Okay, dann eben der Reihe nach“, lenkte der Südländer seufzend ein, „Für den Anfang noch einmal die Grundregeln für alle: Wir sind hier, um einen Job zu erfüllen. Er ist nicht legal und gefährlich. Wir wollen nicht beste Freunde werden, wir wollen alle nur, was uns versprochen wurde. Klar soweit? Dann können wir nämlich auf unsere tollen Lebens- und Leidensgeschichten verzichten. Keine Nachnamen. Es reicht, wenn wir wissen, wie wir einander ansprechen sollen. Klar soweit? Schön, gut. Also Leute, das ist Natti. Laut Aedan wird sie das ganze Unterfangen… leiten. Koordinieren. Sie gibt die Befehle, ihr versteht schon.  Natti, die zwei Kurzen da drüben sind Tawnie und Zunder. Tawnie ist die kleine Braune, eine Gnomin. Zunder ist der Grüne mit den hässlichen Fledermausohren.“ „Hey!“ protestierten im gleichen Atemzug sowohl Zunder selbst - als auch, sehr zu dessen und Tawnies Überraschung, Ximasxi selbst. Jalil stutze einen Augenblick, grinste dann jedoch in sich hinein und nuschelte eine kaum verständliche Entschuldigung, die wohl auch im gleichen Maße ernst gemeint war. Während der Lockenkopf bereits weiter sprach, unterzog Ximasxi die beiden einer genaueren Betrachtung. Tawnie entsprach dem, was für durchschnittliche Gnome wohl galt. Sie trug Arbeitskleidung, einen Werkzeuggürtel und die Intelligenz stach ihr ebenso aus den Augen wie die Lebensfreude. Sie wirkte zwar ruhig, doch es war ihr leicht anzusehen, dass sie das Tieflingsweib am liebsten mit einem unüberschaubaren Wust aus Fragen überschüttet hätte. Bei Zunder verhielt es sich ähnlich. Nur das seine Ohren noch ein Stück länger waren und schon mit zwei ansehnlichen Knicken jeweils Opfer der Schwerkraft wurden. Der blanke grüne Schädel wirkte ein wenig merkwürdig, er schien für die kleine, dürre Gestalt etwas zu groß zu sein. Zunders Blick dagegen konnte man schwerlich lange standhalten - es fühlte sich an, als würde einem der Wahnsinn persönlich winkend zugrinsen. „Die beiden sind… ein Paar? Irgendwie? Jedenfalls arbeiten sie zusammen. Heute sowieso, ich meine so ganz grundsätzlich und-… na ist ja auch egal. Die Bohnenstange daneben ist-“ Doch noch bevor der Schwarzhaarige etwas erklären konnte, trat die zierliche, schlanke Gestalt der Elbe hervor. Das silberne Haar zu einem strengen Zopf gebunden und möglichst kurz aufgewickelt, verneigte sich das Spitzohr vor dem Tiefling, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Ein durchdringendes, eisblaues Augenpaar, welches das Tieflingsweib musterte, während ein geradezu spielerisches Lächeln über ihre Lippen huschte. „Eloen, nennt mich Eloen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit!“ Sie gefiel ihr nicht. Ximasxi hatte bei diesem Spitzohr ein merkwürdiges Bauchgefühl und gute Güte, ihr wollte erst recht nicht zusagen, wie diese Elbe sie anstarrte. Normalerweise war sie es, das Scheusal und Monster, das andere mit solchen Blicken um Ruhe und Verstand brachte. Schließlich fand sie Ablenkung darin, dass Jalil ihr den Letzten im Bunde vorstellte. Einen Mensch, das war ersichtlich, doch seine Kleidung ließ bereits mehr erahnen. Feinste Seide, weit geworfen. Sie hätte es fast ein Kleid nennen wollen, doch das war es nicht. Eine Tunika, ein Umhang, irgendetwas in der Richtung. „Das ist Servatius. Aedan hat… irgendeine Abmachung mit dem Zirkel. Er ist hier, um zu helfen. Sagt er. Können wir dich eigentlich Ser nennen?“ hakte Jalil nach und war schon versucht, aufzulachen, als er sah, wie der Magier das Gesicht verzog. Als hätte man ihm einen Teller sich windender, fetter Maden vorgesetzt, ein Messer an die Kehle gehalten und einen guten Appetit gewünscht. Es stimmte also - Magier waren sehr eigen, was ihre Namen anging. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass dieser das so deutlich nochmals zu unterstreichen gedachte. „Servatius reicht völlig“, erklärte das Zirkelmitglied an seine zukünftige Kommandantin gewandt, „Ihr solltet euch glücklich schätzen. Nicht nur, weil ich damit bereits auf meine mir zustehenden Titel verzichte, sondern ebenso, weil nicht jeder in den Genuss kommt, auf die Unterstützung des Zirkels bauen zu können. Wenn ihr nichts dagegen habt, sollten wir wohl rasch zur Tat schreiten, nicht wahr?“ Hatte sie die Elbe schon nicht sonderlich leiden können, schlug die aufgenötigte Zusammenarbeit mit einem Magier dem Fass nun wahrlich den Boden aus! Was hatte sich Aedan dabei gedacht? Konnte nicht jeder andere Dummkopf ebenso tun, was… was auch immer der da tun sollte? Warum nur musste es ausgerechnet ein verflixter Magier sein?! „Nun, dann nehmt mal ruhig alle Platz, ich hole noch ein… nein, zwei Stühle, dann kann’s losgehen!“ Jalil verschwand kurz in einem Nebenraum, ehe er tatsächlich mit zwei weiteren Sitzgelegenheiten zurückkehrte und um den einfachen Tisch drapierte. Nichts hiervon verbreitete irgendeinen Stil oder schien auf sonstige Weise dem ästhetisch verwöhnten Auge von Herrn Servatius zuzusagen. Er ekelte sich nicht. Alles hier war sauber, bestenfalls staubig. Aber dass es ihm dennoch zuwider war, hier zu sein, erkannte man ohne jede Mühe. Eloen dagegen wahrte die Ruhe selbst, während das kleine, aufgeweckte Pärchen eine ganz eigene Theatervorstellung bot. Zunder schien mit irgendetwas in den Taschen seiner ausladenden Lederweste herum zu spielen und bekam davor von Tawnie beständig eins auf die Finger gehauen. Er zog die Hand hervor, leer natürlich, wartete einige Sekunden - und kramte wieder herum. Zumindest so lange, bis sie beide Platz genommen hatten, dann verlagerten sich die Klapse auf Tritte. Als der Südländer endlich zufrieden schien, schloss er die Tür und begann, Licht ins Dunkel zu bringen. Nach Ximasxis Empfinden zu urteilen, kam das schon drei Tage zu spät. „Was hat uns also hergebracht? Die Krone ist ziemlich angefressen, weil Sundergrad keine Abgaben mehr zahlt. Kann man ihr nicht verdenken, sie haben uns ja auch ganz schön ausbluten lassen. Sie wollen die Stadt zurück, das war uns schon immer klar, aber jetzt fahren sie alles auf. Knapp außerhalb Samaras haben sie ein provisorisches Lager aufgezogen. Außerhalb der Stadt, damit sie sofort alles sehen und abschießen können, was sich ungefragt nähert. Dort wimmelt es von Soldaten und Wächtern und allem, was die Flucht aus Sundergrad geschafft hat. Also auch ein paar der legendären Scharfschützen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die keine Gefahr darstellen - und ich meine das genau so, wie ich es sage…! Also gut, zum Ablauf. Wir haben insgesamt vier Ziele. Zunächst einmal, werde ich mich nach dieser ganzen Planungskiste zum Lager begeben und mit etwas Glück in die Arrestzelle werfen lassen. Dann breche ich aus und versuche, dabei so viele Informationen wie möglich über den Aufbau mitgehen zu lassen. Ich übernehme also die Späherfunktion und halte euch dann im Anschluss den Rücken frei. In der Zeit könnt ihr einkaufen gehen, ich denke mal, ihr werdet einiges Zeug brauchen. Natti hat, wenn ich richtig informiert bin, hier einige Kontakte, die hilfreich sein können, alles zu bekommen. Ist die Aufklärung soweit und haben wir alles vorbereitet, muss es schnell gehen. Wir haben genau eine einzige Nacht für die gesamte Aktion. Natti soll laut Aedan absichern, dass jeder das tut, was er soll und genug Zeit hat, es sauber, gründlich und ordentlich zu erledigen! Im Lager gibt es drei große Hallen, in denen die Belagerungsgeräte gehütet werden. Natti, du musst Zunder und Tawnie da rein bringen. Eigentlich wollten wir nur Zunder, damit er seine komischen Bomben in den Dingern versteckt. Er hat wohl irgendwas, das erst explodiert, wenn man die Geräte benutzen will. Hoffen wir also mal, dass sie keine Probeschüsse unterwegs abgeben. Jedenfalls hat uns Tawnie nach Zunders Zusage kontaktiert und freundlicherweise darauf hingewiesen, dass es Selbstmord wäre, ihn ohne sie zu engagieren. Sie hält also unseren kleinen Freund hier im Zaum. Außerdem ist Tawnie eine gute Konstrukteurin und kann zeichnen. Wir haben Gerüchte gehört, dass das Heer nicht auf konventionelle Katapulte zurückgreifen wird, sondern sogenannte Triboke benutzt. Wir wissen zwar noch nicht richtig, was das für Dinger sein sollen… aber das soll Tawnie rausbekommen. Während Zunder also die Geräte manipuliert, zeichnet Tawnie die Mechanik ab. Dann müssen sie wieder da raus. Kommen wir zu unserem Herrn von und zu Magier. Servatius muss in die Waffenkammer eingeschleust werden. Es ist nur ein einziges, großes Gebäude. Dort werden sämtliche Vorräte gelagert. Er wird irgendeinen Hokuspokus veranstalten und dafür sorgen, dass die Waffen und mit etwas Glück auch Rüstungen keinen Pfifferling mehr wert sind, wenn die Soldaten an den Stadtmauern ankommen. Dann muss auch er sicher raus. Um Eloen mache ich mir bisher am wenigsten Gedanken. Sie hat drei Zielpersonen im Lager, die sie ausschalten soll. Einmal den Buchführer aus Sundergrad. Er konnte fliehen und weiß noch zu viel über die Stadt, einige Personen, Verstecke und solche Scherze. Der Zweite ist ein junger Offizier. Er fiel früher durch extreme Brutalität und Skrupellosigkeit auf. Da er als Ranghöchster entkommen ist, vermuten wir, dass er den Angriff auf die Stadt anführen wird.“ An dieser Stelle unterbrach Ximasxi fast augenblicklich Jalils Redeschwall. „Sein Name! Wie heißt er?“ verlangte sie hastig zu wissen. Wie sie schon befürchtet hatte, wurde ihr danach genau das gesagt, was sie erwartete. Panaver Urthada. Groß, breit gebaut, sehr dunkle Haut. Ein kahlgeschorener Schädel und eine verheerende Rechte. Sie kannte ihn, oh ja, weit besser als ihr lieb war. Ein weiteres Mal fiel ihr Blick zu Eloen. Die Elbe grinste ihr zu, zwinkerte verschwörerisch. „Keine Sorge, Liebes, der ist so gut wie Geschichte.“ War er das? Urthada war für Sundergrad mehr als lästig gewesen. Er hatte mehr als ein Attentat überlebt und man hatte dabei nie irgendwelche Straßenschläger oder Strauchdiebe auf ihn angesetzt. Die wagten es gar nicht, ihm im Weg zu stehen. Insgeheim wollte sie der Elbe Glück wünschen… doch sie waren alle Profis. Glück war etwas für Stümper. Stattdessen ließ sie sich die Laune und aufkeimende Sympathie davon verhageln, dass Eloen sie betitelt hatte und diese Sache überaus leichtherzig zu nehmen schien. Weil sie Urthada nicht kannte, wie der Tiefling für sich selbst beschloss. Sie wusste nicht, wozu er fähig war, wie viel er aushielt. Eloen war nicht wesentlich größer und keinesfalls stärker als sie. Wenn ihr Überraschungsmoment erst einmal verpufft wäre, würde Panaver sie ebenso zusammenschlagen wie sie selbst damals. Jalil jedoch überging Ximasxis Reaktion und hob sich die Nachfrage für später auf. „… naja wie auch immer. Eloens letztes Ziel ist der Punkt, warum wir sie überhaupt ins Boot geholt haben. Das Heer wird von irgendwem begleitet. Wir wissen kaum etwas. Keine Namen, kein Geschlecht, keine Rasse, kein gar nichts. Wir wissen aber, wo die Zielperson untergebracht ist. Ist das alles erledigt, sehen wir zu, dass wir da heraus kommen.“ Schweigen flutete den kleinen Raum. Jeder für sich bedachte sich den Teil, den er zu erledigen hatte. Die Rollen waren von Aedan bereits klar verteilt worden. Späher, Sprengmeister, Technikdieb, Saboteur, Assassine - und Kommando. „Wie viel Zeit haben wir für alles?“ erkundigte sich Eloen nach einer Weile und erinnerte Jalil daran, einen nicht ganz unwichtigen Umstand vergessen zu haben. „Ah genau, danke! Also… wir wissen nicht so ganz, was es damit auf sich hat. Uns sind Befehle in die Hände gefallen. Das Heer wird in drei Tagen abreisen. Das ist nicht viel Zeit, aber wir brauchen ja auch nicht so viel Vorbereitungszeit, hoffe ich mal. Die Abreise wird um keinen Tag verschoben werden, nicht mal um eine verdammte Stunde. Sie haben einen sehr knappen, strikten Zeitplan. Wir wissen nicht, warum nichts schief gehen darf, aber wenn sie sich selbst die Klinge an die Ader setzen, sind wir so frei, sie durchzuziehen. Nochmal deutlich: Wir verhindern nicht, dass sie pünktlich abreisen. Wir verhindern lediglich, dass sie zu irgendwas fähig sind, sobald sie ankommen. Ziel ist es, dass wir der Krone eine deutliche Botschaft schicken: Wir mögen vielleicht hier unten sein, aber unser Arm reicht sehr viel weiter, als ihr denkt!“ Nach der ersten Besprechung zerstreute sich die kleine Gruppe. Servatius wollte sich nicht länger in der Enge einpferchen lassen und gedachte frische Luft zu schnappen - wobei Eloen ihm Gesellschaft leisten wollte. Dass dem Magier in ihrer Gegenwart nicht unbedingt wohl war, konnte man ihm bestens an der Stirn ablesen, doch die reine Höflichkeit eines Zirkelmitgliedes verbot ihm, es ihr zu verwehren. Etwas, worauf sie unzweifelhaft spekuliert hatte. Entsprechend siegreich lächelnd ließ sie sich nach draußen geleiten. Zunder und Tawnie stritten. Um irgendetwas. Offenbar wollte der Goblin irgendwelche Chemikalien in seine Bomben einrühren, die der Goblindame einfach zu instabil und gefährlich waren. Es war bemerkenswert, wie laut und schrill so kleine Wesen streiten konnten. Ximasxi dagegen zog es vor, Jalil beim Kragen zu packen, sich zu entschuldigen und den Südländer etwas abseits zu ziehen. Wie wenig begeistert sie war, brauchte sie ihm nicht sagen. Ihr bohrender Blick verriet mehr als nur das. Doch nicht das war es, was ihr Sorgen bereitete. Genau genommen, gab es dafür nun wirklich genug Gründe! Keiner von denen war in der Gilde. Keiner von denen verstand sich auf die Codes oder Zeichen der Diebe, die Mehrheit wusste sicherlich nicht mal, wie man ordentlich schleichen musste. Um ganz Samara herum, also auch im Süden, war ein gewaltiges Feld. Groß, grün und völlig ebenerdig. Man konnte in einer Vollmondnacht genau so weit sehen wie bei Tag! Vermutlich würden sie zumindest diesbezüglich Glück haben. Morgen wäre Neumond, schlimmstenfalls würden sie also im Sternenlicht operieren müssen. Aber das machte nun wirklich gar nichts besser. Da gab es immer noch einen Magier. Und Panaver. „Ich wollte sowieso mit dir reden, Natti“, erklärte der Lockenkopf und blickte ungewohnt ernst drein, während er nochmals einen Blick zurück warf. Eloen schien verschwunden, Servatius ebenso und das kleine Pärchen hörte man noch immer deftig zanken. „Hör mal, wegen… wegen den Leuten. Eloen ist von der Assassinengilde, wie du dir sicher denken kannst. Die Beziehungen sind in letzter Zeit ziemlich… na sagen wir, ‚angespannt‘. Sie haben Angst, wir würden zu schnell erstarken und auf den Trichter kommen, sie nicht mehr zu brauchen. Oder neue Regeln diktieren wollen. Außerdem haben sie noch nicht ganz verkraftet, was beim Umsturz passiert ist. Die Assassinen hatten alles auf die Anführerin der Drachenzähne gesetzt. Aber statt Shandra - das ist die neue Piratenkönigin -, also statt sie zu überbieten, hat sie sie gewinnen lassen und direkt im Anschluss versucht, sie einfach zu töten. Dabei ist sie wohl am eigenen Gift ziemlich elend krepiert. Und wir haben uns sofort an den Sieger gewendet. Eloen darf auf keinen Fall irgendwas passieren. Servatius genauso wenig. Ich traue diesem verdammten Magier nicht. Mein Bauchgefühl sagt mir, der führt was im Schilde. Aber Aedan hat ihn mitgeschickt, es gibt irgendeinen Handel, von dem ich nichts erfahren habe. Wende ihm nicht den Rücken zu, hörst du?“ Fast war es ja rührend, wie sich der Chaot plötzlich um seine Kollegin sorgte. Am Ende, so schien es, standen sich Gildendiebe doch immer noch näher, egal wie wenig sie einander leiden konnten, als alle anderen. Sie arbeiteten hier auf unsicherem Terrain, sehr überstürzt und mit allerhand Kuriositäten, die Spezialisten ihres Faches sein sollten. Ein Zurück aber gab es nicht. Jalil hatte klar gemacht, was passieren würde, sollten sie Scheitern. Das Aufgebot war zu groß, sie würden Sundergrad vielleicht nicht in der ersten Welle einnehmen - aber sie würden so viel Schaden anrichten und so viel Blut vergießen, dass spätestens eine zweite Welle, die sicherlich käme, alles hinfort fegen würde. Eine unbekannte Zielperson, Urthada, drei separate Ziele, sie würden sich darauf einlassen und es irgendwie händeln müssen. In Ximasxis Gedanken formte sich bereits langsam ein Plan, wie sie vorgehen würden. Trotz Jalils Vorschlag behagte ihr die Idee von drei Gruppen nicht. Weder wollte sie Eloen allein los schicken, noch ihrem Begleiter zutrauen, den Magier zu eskortieren oder das Pärchen zu führen. Nein, am besten wäre es wohl, wenn der Lockenkopf ihren Rückzug absicherte und sie sich mit den vier anderen zum Lager begab. Dort würde sie sie hinein schleusen, Gruppe für Gruppe, und wieder zurück bringen. Sie bräuchten ein Versteck. Vielleicht eine größere Unebenheit im Boden, eine Kuhle, ein Graben, irgendetwas, worin sie sich bei Nacht würden verstecken können. Nach einigen Minuten, in denen die beiden ihre Gedanken ausgetauscht hatten, kehrte Eloen zurück. Die Miene ernst, schritt sie ohne zu rennen, jedoch mit einer gewissen Eile auf Ximasxi zu. „Wir müssen verschwinden! Wachen kommen und das nicht zu knapp!“ „Wo ist Servatius?“ verlangte der Tiefling sofort zu wissen. Eloen jedoch zuckte mit den Schultern und erklärte, sie habe ihn aus den Augen verloren - und nur Sekunden darauf eilte der Magier durch die Hauptpforte herein. „Wir müssen sofort weg von hier, Wachen kommen!“ wies das Zirkelmitglied an. Misstrauisch verengte die Gildendiebin die Augen zu dünnen Schlitzen, doch natürlich stand ihm nicht auf die Stirn geschrieben, dass er sie verraten hatte. Zumal es dann wirklich dumm gewesen wäre, hierher zurückzukehren. „Wir verschwinden, los!“ Doch da ertönte bereits eine schmerzlich bekannte Stimme vor dem Tor…   Wenige Minuten zuvor. „Es ist so weit!“ keuchte der Soldat, kaum dass er das kleine Zelt für die Führungsoffiziere betreten hatte. Kaum die Worte vernommen, sprang ein dunkelhäutiger Offizier auf und griff mit einem Wisch seiner Pranke sowohl Schwertgurt als auch Helm vom Tisch. Oh wie hatte er auf diesen Satz gewartet, all die Tage über! „Trommelt alle Männer zusammen, Treffen in zwei Minuten, los los los!“ befahl er und scheuchte den ohnehin völlig außer Atem geratenen Laufburschen weiter. Während der die wenigen, tiefen Atemzüge bereuend loshastete, um die Truppen zur Bereitschaft aufzurufen, schnallte Kommandant Panaver Urthada seine Waffe fest und setzte den Helm auf seinen blanken Schädel. Vor Tagen schon hatte ihnen ein Vöglein gezwitschert, dass Saboteure aus Sundergrad auf dem Weg nach Norden waren, um die Heersammlung zu stören. Wieder und wieder hatte Offizier Urthada den Kommandanten der Samaraner Stadtwache ersucht, die Einreisekontrollen massiv zu verschärfen und ihm zu unterstellen. Als das scheiterte, verlangte er, wenigstens am Südtor eingeteilt zu werden, doch auch das verweigerte man ihm - mit der Begründung, man kenne seine Methoden nur zu gut und wolle Händler und Reisende, die immerhin das Kapital der Stadt ausmachten, nicht seiner Schikane aussetzen. Man ignorierte völlig, was er vorbrachte. Er stammte aus Sundergrad. War in diesem Pfuhl groß geworden. Hatte dort um sein Leben gekämpft. Er hatte Jahre und Jahrzehnte damit zugebracht, das Ungeziefer dieser Stadt kennen zu lernen, es zu jagen und zu zertreten! Niemand sonst würde einen Spion oder Saboteur so gut erkennen können wie er, er hatte einfach ein Gespür dafür, verdammt! Doch niemand hörte zu. Es interessierte den Kommandanten nicht und die Krone zu kontaktieren… nein, das wäre falsch. Vor allem, da er nur auf dem Papier selbst Kommandant war. Es hatte noch keine hochoffizielle Beförderungszeremonie gegeben, die sollte im zurückeroberten Sundergrad stattfinden. Und solange er ‚nur‘ Offizier war, konnte er sich nicht gegen den Kommandanten der Stadtwache von Samara behaupten. Dieser hatte Weisungsbefugnisse, also verhängte Urthada in seinem Lager knapp außerhalb der Stadt eine völlige Nachrichtensperre. Nach Samara wurde nur noch das weitergegeben, was unbedingt notwendig war. Je weniger der Kommandant wusste, umso besser - das ließ Panaver die Freiheit, zu handeln, wenn es erforderlich wurde. So wie jetzt. Er hasste es, von solchem Abschaum abhängig zu sein. Verräter waren schon eine Klasse für sich. Niemand mochte sie, sie waren vor, während und nach ihrer Arbeit stets in Gefahr, verfolgt zu werden, doch jeder bediente sich nur zu gerne ihrer Fertigkeiten und Möglichkeiten. Das schmälerte jedoch nicht Urthadas Abscheu gegen solch wertloses, rückgratloses Pack. Wie erwartet und befohlen, stand ein Dutzend seiner Männer bereit, gerüstet und bewaffnet mit Schwertern, um dem Hinweis nachzujagen. Oder besser gesagt: Dort hätte ein Dutzend stehen sollen. Stattdessen waren es elf und das mochte dem Befehlshaber so gar nicht gefallen. „Wer fehlt?“ blaffte er ungehalten. „Friedrichs, mein Herr. Er… schlief noch und-“ abrupt hielt der Soldat den Mund, als der Sundergrader ihn anstarrte. Ein Blick, der eine Alte an Herzversagen hätte sterben lassen können und sicherlich schon so manchen Zeugen geschwätzig gemacht hatte! Darin verborgen lag die Drohung, beim Namen seiner Majestät nur ja nicht auf die Idee zu kommen, ihn anlügen zu wollen. Solidarität mit Kollegen hin oder her! „Friedrichs!“ brüllte Panaver und ein junger Blondschopf mit reichlich zerzaustem Unterhemd eilte daher, in aller Hast die Schnallen seines Panzers festzurrend. „Schwert!“ schrie sein Kommandeur völlig außer sich, das die anderen elf Mann zusammen fuhren, als hätte der Blitz sie getroffen. Friedrichs dagegen tastete seinen Laufschritt bremsend an die Flanke und kehrte sofort hastig um. Oh den Schwertgurt mit der Scheide hatte er sich umgebunden, in der Tat - nur die Klinge darin fehlte. Als die Waffe endlich war, wo sie hatte sein sollen, reihte er sich rasch ein. Doch noch immer fehlte etwas, worauf ihn sein Nachbar hinwies. „Mann, dein Helm!“ versuchte der Wächter neben ihm zu mahnen, doch Urthada entging nichts. „Maul dahinten! Wenn ihm der Kopf abgeschlagen wird, ist es seine Schuld, wir verschwenden keine Zeit mehr! Abrücken, los los los, Laufschritt!“ Die kleine Kompanie verließ in aller Eile das provisorische Lager und Richtung Südtor. Als sie die Stadtmauern passierten, stellte Jalil Ximasxi gerade die Mitglieder ihrer kleinen Truppe vor. Panaver jedoch wusste bereits, wohin er musste. Ein Lagerhaus, so war ihm gesagt worden. Im Grunde war ihm egal, woher die Information stammte. Irgendein Soldat hatte irgendeinen Draht zu irgendeinem Spion oder wie auch immer das zusammenhängen mochte - die Umstände waren völlig belanglos! Wichtig war, diese Brut von Verrat und Sabotage sofort und mit allem Nachdruck im Keim zu ersticken. Ein kräftiger Stiefel trat wenig später gegen die mächtige Pforte der Lagerhalle. „Im Namen seiner Majestät, öffnet die Pforte!“ verlangte der Befehlshaber und wies schon im selben Atemzug seine Männer an, sich aufzuteilen. Vier zur Rückfront, der Rest durch das Haupttor. Man würde niemandem die Chance geben, zu flüchten, oh nein. Wenn diese Ratten wirklich aus Sundergrad stammten, dann hatten sie sie vermutlich schon eine halbe Meile gegen den Wind gewittert und ohnehin genug Vorsprung. Mit Wucht landete der Stiefel erneut am Tor. Drei Tritte, dann barst der einfache, morsche Holzriegel dahinter und gab den Eingang frei. Wie Ameisen fluteten die Männer die große Halle, zeitgleich zu den Wächtern, die am seitlichen Ende des Gebäudes durch den kleinen Nebeneingang einbrachen. Rasch waren alle Räume gesichtet, alle Gänge gesichert. „Hier ist niemand mehr!“ bekundete einer der Männer, als er in der großen Halle auf Urthada zu marschierte. Der dagegen hielt zornigsten Blickes ein Seil in der Hand und starrte zu einem Dachbalken hinauf. Seine Augen folgten dem Gebälk hinüber zu einem kleinen Holzsteg und von dort zu einem offen stehenden Fenster. „Sie können noch nicht lange entkommen sein. Sollen wir suchen lassen?“ Panaver jedoch verlor einen kurzen Augenblick die Nerven. Seine Wut hinaus schreiend, verzerrte er das Gesicht zu einer grotesken, furchteinflößenden Maske, ehe er sich wieder beruhigte und tief durchatmete. Suchen lassen? Ganz sicher nicht. „Wir sind hier nicht die Stadtwache. Und deren feige Bastarde trauen sich nicht mal in dieses Viertel. Das ist die verdammte Armen- und Bettlerstadt, hier werden wir nie irgendwen finden! Nein. Wir rücken ab und warten, bis unser Vöglein das nächste Mal singt... und Soldat?“ „Ja, Kommandant?“ hakte der Wächter nach, als er bereits die Befehle an seine Kollegen hatte weitergeben wollen. Dabei schwante ihm bereits Böses, als er das finstere Gesicht des Offiziers sah. „Dieser nutzlose Dummkopf… Friedrichs, ja? Sobald wir zurück sind wird er ausgepeitscht. Zehn Hiebe. Für jedes Widerwort noch zwei mehr.“ Der Soldat traute seinen Ohren nicht. Er hatte gehört, dass Urthada grausam war. Unnachgiebig, gnadenlos. Aber er hatte geglaubt, das gelte nur für die Verbrecher, die er jagen würde. Hier nun stand er, wurde blass und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte doch nicht zu diesem wirren blonden Zausel von vielleicht zwanzig Jahren gehen und ihm ins Gesicht sagen, dass er heute Abend mehr Blut verloren haben würde, als in seinem restlichen bisherigen Leben zusammen! „A-Aber… aber Kommandant-“ wollte der Soldat anheben, doch Panaver hob lediglich die Hand und wies ihn darauf hin, dass er sich gleich dazu gesellen könne, wenn er nun Fürsprache für seinen Waffenbruder erheben wollte. Da wurde er still, schlug den Blick nieder und trat ab. Panaver hingegen, endlich wieder für sich, starrte zur Decke hinauf, den Kopf in den Nacken gelegt. Es war fürchterlich hoch. Nirgendwo Leitern, keine Treppen, nichts. Man musste schon ein halber Affe sein, um dort hinauf zu kommen. Das Merkwürdige war nur… er glaubte am Holz Kratzspuren zu sehen. Aber das war unmöglich. Völlig ausgeschlossen, das kleine Flittchen war in Sundergrad verbrannt, wie so eine Brut es auch verdient hatte! „Abrücken!“ befahl Urthada und kehrte selbst um. Er gab Befehl aus, den Besitzer der Halle ausfindig zu machen und ihn notfalls mit Folter auszuquetschen, wer die Halle gekauft hatte. Vielleicht ergäbe das ja eine Spur, der sich folgen ließe. Derweil kehrte er mit elf Männern zurück ins Lager, von denen am Abend einer kaum noch eine Position fand, in der er liegen konnte, ohne vor Schmerz wimmern zu müssen…   Der Tag darauf begann unangenehm früh. Das mochte daran liegen, dass die Sonne direkt in ihre klägliche Unterkunft fiel. Daran, dass auf den Straßen des Armenviertels bereits fleißig gebettelt wurde. Oder einfach nur daran, dass Ximasxi sich unwohl fühlte, im selben Raum mit Fremden oder überhaupt irgendwem sonst schlafen zu müssen. Doch mehr als diese kleine Hütte hatte sich auf die Schnelle nicht auftreiben lassen. Sie war über alle Maßen baufällig, heruntergekommen, vor allem aber war sie leer. Das Tieflingsweib hatte keinen Zweifel daran zugelassen, was notwendig war. Ihre Lagerhalle wirkte plötzlich geradezu luxuriös, das mochte sein, doch das hier musste nun genügen. Die halbe Nacht hatte sie sich damit um die Ohren geschlagen, über die Hintergründe zu rätseln. War Servatius der Verräter? Hatte er etwa so überaus rasch die Wache informieren können? Nein, unmöglich. Panaver war der südlichen Garnison zugeteilt worden, gewiss würde er dort sein. Der Weg bis zum Lagerhaus wäre einfach zu lang. Es sei denn, der Unterschlupf war verraten worden, bevor die Gäste die Stadttore passierten. Das warf jedoch ebenso Fragen auf. Jalil hatte das Lager gemietet. War er nun also der Verräter? Er kam als erster in die Stadt, gab Bescheid, wann die Wache wo zu sein hätte, traf sich mit ihr, überzeugte sie, holte die anderen ab… nein. So ungern sie es zugab, aber obwohl er früher die  Gilde zu verkaufen versucht hatte, traute sie ihm das nicht zu. Zum einen war Jalil dafür einfach nicht konsequent und weitsichtig genug. Es hatte einen guten Grund, warum Aedan ihr und nicht ihm das Kommando übertragen hatte. Er konnte nicht mal seinen Tagesablauf planen, geschweige denn eine Intrige gegen den Versuch, die Gilde zu retten. Und der Magier? Gerne hätte sie ihren Späher gefragt, wann genau die anderen eigentlich über das Lagerhaus und den Treffpunkt informiert worden waren. Doch Jalil war bereits unterwegs, um sich nützlich zu machen. Schon gestern Abend war er verschwunden, dem südlichen Lager entgegen. Seither hatte sie das Gefühl, die Dinge würden ihr über den Kopf wachsen. Die ständigen Streitereien zwischen Zunder und Tawnie waren nervenaufreibend, Servatius studierende Blicke sogar noch um Längen schlimmer. Als würde er ihre Anatomie mit dem gleichen Interesse betrachten, mit dem er das Messer griff und sich das Innenleben eines Frosches ansah. Gerne hätte sie ihm dafür die Augen ausgestochen oder ähnlich appetitliche Dinge getan, doch wie hatte man ihr so schön gesagt? Ausgerechnet das laufende Kleidchen und das Spitzohr waren unentbehrlich. Eloen dagegen… nun, die anfängliche Antipathie verschwand nicht einfach. Aber bemessen an Servatius hatte sie doch wesentlich lieber die Elbe um sich, vor allem aber… zwischen ihnen. Eloen war schmal gebaut, aber das genügte dennoch völlig, damit sie sich im Blickfeld dieses verdammten Zirkelmitglieds drapieren konnte. Als sie an diesem Morgen erwachte, saß die Assassinin bereits neben ihr, an die Wand gelehnt und schälte mit einem kleinen Klappmesser einen Apfel, den sie sonstwoher hatte. Als sich die Gildendiebin aufrichtete, grüßte die Elbe mit einem kecken Lächeln. „Gut geschlafen, Prinzessin? Auch ein Stück? Sag mal… mir ist aufgefallen, dass du deinen Namen nicht sonderlich magst. Natti. Klingt auch merkwürdig, woher kommt der?“ Eigentlich völlig unwillig, irgendwelche Konversation zu betreiben, blickte sich die Gehörnte zunächst nach einem möglichen Grund um, eben das nicht zu tun. Doch alle anderen schliefen noch tief und fest - oder taten zumindest so. Die in diesem Gedanken zutage tretende, allzeit wachsame, ja fast schon paranoide Natur der Diebin schlug wieder um und widmete sich Eloen. Keine Namen, das war eine der Regeln gewesen. Dennoch saß ausgerechnet die Elbe hier und setzte sich darüber hinweg. Wieso? Was hatte sie davon? Misstrauisch verzog Ximasxi das Gesicht. Sie würde ihr einfach sagen, dass sie das einen Dreck anginge und sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte! „Natternzunge. Ein Rufname, früher.“ Überrascht lupfte sogar der Tiefling die Brauen. Nun, also das war ganz gewiss nicht so gedacht gewesen. Nun jedoch, da es schon einmal heraus war, blickte sie sich abermals um und beschied, dass es wohl auch nicht den Weltuntergang bedeuten würde. Mit etwas Glück würde die Elbe auch endlich Ruhe geben, ihre Neugier war immerhin befriedigt und- „Darf ich mal sehen?“ Einen Augenblick überlegte die Diebin, zog neuerlich Unwillen über ihre Miene, ehe sie vorsichtig die Zunge her vor streckte und zwischen ihre Lippen lugen ließ. Eloen dagegen lachte sie nicht aus oder begann sie schreiend ein Monster zu nennen, stattdessen kicherte sie auf eine fast mädchenhafte Weise. „Macht bestimmt Spaß, damit zu küssen. Wie heißt du denn wirklich? Muss ja nicht sein, dass ich dich mit einem Namen rufe, den du nicht leiden kannst.“ „Natti passt“, erwiderte Ximasxi unwillig und schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich noch immer vom Schlaf benommen. Vielleicht hatte Eloen ihr auch irgendwelche Drogen verabreicht, die sie gesprächig machen sollten…? „Sie sind schon irgendwie niedlich, die beiden, oder?“ erklärte das Spitzohr und nickte auf den verwirrten Blick ihres Gegenübers hin in Richtung der zwei Kurzen, die eng umschlungen wirkten, als wären sie in einem ihrer lautstarken Dispute mitten im handfesten Schlagabtausch einfach eingeschlafen. „Um den da mache ich mir allerdings Sorgen. Ich traue ihm nicht. Weißt du, was für ein Handel da geschlossen wurde? Der Zirkel… hat es nicht so damit, Wort zu halten. Nicht, wenn es zu seinem Nachteil gereicht. Wir sollten vorsichtig sein. Hm. Aber keine Angst, ich halte dir den Rücken frei. Wäre ja schade, sollte irgendein Zauber diesen hübschen Anblick ruinieren.“ Schon wieder starrte sie sie so merkwürdig an! Sie sollte verdammt nochmal endlich damit aufhören… diese ständigen Scherze Eloens könnten sonst irgendwann noch zu einem Unfall der Elbe führen! Die Gildendiebin richtete sich zur Gänze auf, schlug den Unwillen nieder und die lästigen Stimmchen in ihrem Kopf davon, ehe sie sich aufraffte, den Tag zu beginnen. Es galt immerhin einiges zu erledigen. „Los, hoch mit euch“, wies sie ohne Rücksicht ihre Truppe an. Die unerwartet kräftige Stimme weckte zuerst Servatius, der kurz zusammen zuckte, ehe er sich erhob und die Glieder streckte. „Was für eine reizende Art, geweckt zu werden. Sowas wie ihr gewinnt bestimmt jeden Beliebtheitswettbewerb, nicht wahr?“ krächzte der noch etwas verschlafen drein schauende Magier und warf dem Tiefling ein gehässiges Lächeln zu, das lediglich aufgrund des Umstandes keine Folgen hatte, dass sich Tawnie ebenfalls erhob und einmischte. „Ach Klappe da drüben. Sie hat ja Recht, je früher wir anfangen und so. Holzkopf, komm schon, hoch mit dir! Zunder, ich warne dich… ich beiß dich ins Ohr!“ Einen halben Lidschlag später war auch der Goblin putzmunter und strich sich, ein Stück von seiner Freundin abgerutscht, über die fledermausartigen Auswüchse, als wolle er prüfen, ob sie das die Nacht vielleicht schon einmal probiert hatte. „Wir erledigen heute die Einkäufe und machen uns an die Vorbereitungen. Also, was braucht ihr?“ Ximasxi selbst benötigte für sich herzlich wenig. Sie hatte ihre Dolche, ihren Würgedraht, ihre anderen Drähte und Dietriche, sie hatte alles, was sie benötigte. Der Rest dagegen schien sich immerhin schon einmal Gedanken darum gemacht zu haben, was erforderlich wäre - das kam ihr entgegen und sparte Zeit. Eloen musste zu einer Kräuterhändlerin oder jemandem, der exotische Waren führte, um alle Zutaten für ihre Gifte zu bekommen. Die Gildendiebin vermerkte das gedanklich ebenso wie den Hinweis des Magiers, er wolle sich nach ein paar Zutaten für alchemistische Rezepturen der arkanen Richtung umsehen. Vielleicht könne er ja etwas mischen, das ihm die Arbeit erleichtern würde. Tawnie schließlich benötigte lediglich eine Unterlage, auf der sie zeichnen und schreiben könnte und Zunder stellte den Großteil der Liste, indem er irgendwelche merkwürdigen Chemikalien und Gefäße aufzählte, von denen im gesamten Raum außer seiner Gnomfreundin offenbar niemand sonst etwas am Namen erkannte oder verstand. Entsprechend beruhigt war die Gehörnte, als Tawnie auch erklärte, sie würde Zunder begleiten und beaufsichtigen. Zufrieden war der Goblin damit natürlich nicht und maulte auch schon wieder kräftig herum, doch Ximasxi war es lieber, wenn ihre Händler und Hehler in einem Stück und die Waren in ihren Läden unbeschädigt blieben. Entsprechend dankbar war sie der kleinen Frau, auch wenn sie das nicht aussprach. Es genügte offenbar ein etwas längerer Blickwechsel zwischen beiden, ehe die Gnomin ein breites Lächeln auflegte und nickte. „Dann los, ich weiß, wo wir alles finden sollten.“ Kaum eine Stunde später streiften sie über einen großen Marktplatz im Händlerviertel, der mehr war, als sich auf dem Platz selbst tummeln konnte. Standen hier nur die Buden, Läden und fahrbaren Karren, verbargen sich in den Häusern die dauerhaften Geschäfte. Diese Mischung aus Mietsräumen und Kleinkrämern erstreckte sich jedoch auch jenseits des eigentlichen Marktplatzes in jede einzelne Gasse und Straße hinein, die von dort abging. In der Stadt gab es genug Orte, an denen Kaufkraft auf Warenangebot traf und sich rege austauschte, doch das hier war einer der größeren Märkte. Ausgerechnet hierher hatte die Diebin ihre Meute geführt, weil Hehler in der Menge besser abtauchen konnten, weil es hier einen Händler für magischen Schnickschnack gab, mehr Giftzutaten als Nahrungsmittel und weil hier einer der wenigen nicht völlig wahnsinnigen Goblins sein Geschäft hatte, die Ximasxi kannte. Die zwei Kurzen waren auch die Ersten, die sich ausklinkten und in jenem Laden verschwanden, als der Tiefling festgelegt hatte, wo und wann sie sich wieder treffen würden. Zurück blieben die Elbe, der Magier und sie selbst. Beide kündigten an, sie würden nach ihren Waren schauen wollen und beide hätte die Diebin eigentlich gerne begleitet… weil sie keinem von beiden traute. Bei dem Goblin und seiner Freundin war sie inzwischen zu der Ansicht gelangt, dass der Grünling wahn- und leichtsinnig war, aber abseits der Gefahr für sich und seine Umwelt, die von Tawnie bisher bestens gebändigt wurde, nun wirklich keine Verräterqualitäten besaß. Die zwei waren harmlos. Eloen dagegen bereitete der Gehörnten noch immer Magenschmerzen und der verflixte Magier sowieso! „Halt. Ich komme mit“, entschied sich die Diebin schließlich an Servatius gewandt, da lachte das Zirkelmitglied herzlich auf und schüttelte den Kopf. „Aber ganz gewiss nicht. Die Krämer, bei denen ich zu kaufen gedenke, würden sich von eurem Anblick beleidigt fühlen und ich möchte ungern mehr zahlen, als nötig wäre. Zudem, wie genau glaubt ihr mir denn helfen zu können? Genau. Also kuscht euch und geht mit eurer kleinen Freundin Blümchen pflücken.“ Das reichte! Nein, wahrlich, sie hatte sich bemüht. Sie hatte versucht, seine Arroganz zu ignorieren, seine herablassende Art zu schlucken, aber es reichte einfach. Die Krallen zu einem todbringenden Schlag quer über sein Gesicht gespreizt, schritt sie rasch auf ihn zu, angespannt, während er lediglich weiterhin lächelte - obwohl er sie kommen sah. Wohl hatte er längst irgendwelche Zauber vorbereitet, als Eloen Ximasxi am Handgelenk packte und zurückzog. „Nicht! Natti… das ist er nicht wert. Daraus wird zu viel Ärger. Für dich, die Leute hier, die Gilde. Wenn du ihn jetzt angreifst, wird jeder Wächter in einem riesigen Umkreis auf uns aufmerksam, wird unsere Beschreibung haben und wir können das alles vergessen!“ Sie mochte es nicht, wenn man sie ungefragt betatschte. Sie mochte es ganz grundsätzlich nicht, angefasst zu werden, eigentlich war egal, von wem! Wütend riss sich der Tiefling von Eloen los, funkelte sie stattdessen zornig an und fauchte dem Magier zu. Auf der rege belebten Straße brachte das allzu tierische Geräusch einige Passanten um sie herum dazu, überrascht die Häupter zu drehen und ein Stück abzurücken. Selbst in Samara waren Tieflinge selten, aber die Einwohner der Stadt waren gegenüber ihrem Anblick zumindest meist ein Stück weit aufgeschlossener als der Großteil des restlichen Landes. Allerdings waren unter jenen Passanten auch ein paar Reisende, die eben diese Toleranz nicht in die Wiege gelegt bekommen hatten. Sie taten einen Satz fort von der kleinen Dreiergruppe und beschleunigten rasch ihre Schritte. „Dann geh doch!“ fauchte die Diebin. Mit Eloen an ihrer Seite, verschwand sie in die andere Richtung. Dennoch herrschte auch zwischen den beiden Frauen eisigste Stimmung. „Ich weiß, warum du mitgehen wolltest“, begann die Assassinin, während sie auf den ersten Stand zusteuerten, „Mir gefällt das auch nicht. Vermutlich verrät er uns gerade ein zweites Mal. Wir sollten auf der Hut sein, aber mehr können wir noch nicht tun. Wir brauchen etwas Handfestes.“ Wunderbar! Etwas Handfestes? War sie cleveres kleines Ding da ganz alleine drauf gekommen? Sie hätte diesem Tunichtgut insgeheim folgen können, wie ein zweiter Schatten, aber nein… stattdessen stand sie hier und musste sich anhören, dass sie etwas Handfestes bräuchten! Lächerlich. Einige Läden später hatte Eloen alles beisammen, was sie benötigte und auch Tawnie und Zunder hatten sich am Treffpunkt eingefunden. Nur vom Herrn Magier fehlte natürlich wieder jede Spur, was das Tieflingsweib fast vor Zorn schreien ließ. Wie konnte man nur so unzuverlässig sein, so großspurig und zugleich so unprofessionell! Das war kaum zu ertragen, wie sollte sie denn mit so etwas arbeiten können?! Als sich von ihm noch immer keine Spuren abzeichneten, beschloss Ximasxi, mit der restlichen Gruppe im Schlepp den Laden aufzusuchen, an den sie ihn verwiesen hatte. Die Hexerkiste befand sich in einer der Seitenstraßen und war allzeit gut besucht. Das lag nicht nur daran, dass sie der größte Laden in Samara war, der mit solchen Waren handelte, sondern wohl vor allem, dass der Händler ein einfacher Bürger des Mittelstandes war, der mit kleineren Zutaten und Artefakten handelte, die allen zugänglich gemacht wurden. Er verkaufte keine Schriftrollen, die einen Jahrhundertsturm über Samara entfesseln würden, sondern eher kleine Halsketten, die Müdigkeit bekämpften, Ringe, die der Angetrauten durch Farben anzeigten, in welcher Stimmung ihr Gatte war oder Pulver, die das Feld über die natürlichen Maße hinaus fruchtbar machten. Natürlich kosteten solche Spielereien ungeheuer viel, weshalb sich gerade Bauern, die sich das hätten leisten müssen, nicht in diesen Genuss kamen. Doch wenn ein Gutsbesitzer seinen Grund an eine Bauernfamilie abtrat, um sie dort arbeiten zu lassen und wohlwissend, dass die Felder schlecht waren, dann ging auch dergleichen über die Theke. Ximasxi hatte den Laden fest im Visier, stand noch auf der anderen Straßenseite und betrachtete einen Augenblick, wer hinein ging und heraus kam. Kein Servatius jedenfalls. Auch durch die großen Schaufenster voller Warenauslagen konnte sie nichts und niemanden sehen, dessen Gestalt dem Magier gleich käme. Ob er überhaupt noch dort drinnen war? Gerade wollte sie den Schritt auf die Straße wagen und sich davon selbst überzeugen, als abermals die Elbe sie am Arm packte und zurück hielt. „Natti! Sieh!“ verlangte das Spitzohr und deutete mit einem subtilen Kopfnicken die Straße herab. Bastard…!   „Mein Kommandant!“ keuchte der Soldat im Laufschritt, „Wohin gehen wir?“ Panaver antwortete nicht sofort. In Gedanken ging er den Plan noch einmal durch. Er hatte ja gewusst, dass das Vöglein sich wieder melden würde, er hatte es gewusst! Auf solches doppelzüngige Pack war eben Verlass, solange sie sich etwas erhofften! Inzwischen dürften seine Leute Position bezogen haben. Jede Gasse, jede Straße, jeder Platz und Hof wurde abgeriegelt. Niemand kam hinein… und ohne gute Kontrolle auch niemand heraus. Zugleich hatte er seine Scharfschützen auf einigen umliegenden Dächern höherer Gebäude Stellung beziehen lassen. Niemand führte ihn zweimal mit dem gleichen Trick an der Nase herum, verdammt! „Zur Hexenkiste, angeblich sind sie dort!“ erwiderte der Befehlshaber nach einer Weile, als der Laden in Sichtweite kam. Mit diesmal nur sechs Mann Verstärkung trat er vor das Geschäft. Der Rest seiner fünf Dutzend Leute kreiste den Markt mehr und mehr ein und zog den Ring immer enger zu. „Ihr zwei, kontrolliert die Leute im Laden, ihr zwei, den Laden selbst. Wenn es Geheimtüren oder sowas gibt, will ich sie gefunden wissen! Und ihr kommt mit mir!“ Er wollte gerade mit seinen Männern eintreten, als ihm eine kleine Gruppe auf der anderen Straßenseite ins Auge sprang. Sie hatten sich in eine der Gassen zurückgezogen und wären fast kaum der Rede wert gewesen, doch… er erkannte die Lumpentracht. Aus Sundergrad. Das war typisch für das Bettlerpack dort. Bettler in Samara hatten seiner Ansicht nach ein anderes Erscheinungsbild. Ihre Kleidung war zerfetzt, abgewetzt, verdreckt und löchrig. Sundergrader Bettler trugen Flicken und verknotete oder vernähte Textilstreifen, Bahnen, die sie sich umschlangen und gröbere Tücher. Nur einen kurzen Moment musste er die Gruppe genauer anstarren, bis sich die Blicke kreuzten. Unmöglich… du solltest tot sein…! Ein einziges, wütendes Schnauben, als er sich auch schon abrupt losriss und auf die Gasse zuhielt. „Mitkommen!“ blaffte er noch und setzte schon in großen Schritten auf die Gruppe zu, die in diesem Augenblick zerfiel und tiefer in die Seitengasse flüchtete. Panaver besaß eine geradezu beängstigende Ausdauer und Kraft - niemand wusste das besser als Ximasxi, die sie schon in Aktion erlebt hatte. Seine Männer dagegen konnten schon bald nicht mehr mithalten. Während wieder und wieder auf gezischelte Befehle der Truppführerin eine Figur aus der Gruppe ausbrach und irgendwo verschwand - nichts, was Urthada veranlasst hätte, von dem Tiefling abzulassen - fielen seine eigenen Männer immer weiter und weiter zurück. Selbst das interessierte ihn nicht, es brachte ihn von der Treibjagd genauso wenig ab wie das Abbrechen des letzten Teils, einer dürren, hoch gewachsenen Figur. Nur noch er und das Scheusal - so hatte es zu sein, wie damals! Du hättest tot bleiben sollen! Unzählige Flüche, Verwünschungen und gallige Kommentare speiend, hielt er dennoch den Mund. Er musste atmen, kontrolliert. Der Vorsprung seiner Beute schrumpfte immer weiter zusammen. Sie war flink, das konnte sie ja ruhig sein, aber das hier war verdammt nochmal eine Stadt seiner Majestät, das war nicht Sundergrad, wo die Wache hoffnungslos überfordert war! Ximasxi sprang an eine Hauswand und kletterte behände herauf, ihre Krallen in den Stein schlagend. Unten angelangt, starrte der Offizier herauf, fluchte kurz und versuchte, abzuschätzen, wo sie wieder herunter kommen würde. Und das sie herunter kam, daran war kein Zweifel offen! Tatsächlich flogen ihr oben rasch so viele Bolzen aus Armbrüsten um die Ohren, dass es das Weib überaus zügig wieder in die Gassenschluchten hinab zog. Unter einem hasserfüllten Aufschrei warf sich Urthada vorwärts, bekam die Diebin zu packen und brachte sie mit festem Griff um ihren Knöchel zu Fall. Ein Fuß landete in seinem Gesicht, Krallen wetzten über den Helm, zerfurchten ihn, doch Panaver war nicht mehr zu bremsen. Mit kräftigem Ruck zog er sie näher zu sich, ballte die Faust und schlug zu. Einmal, zweimal, dreimal. Die Diebin keuchte, versuchte sich zu befreien und gerade, als er ihr das verdammte, hässliche Gesicht einschlagen wollte, landete eine Ladung Straßendreck in seinem Gesicht. „Ah!“ entkam es ihm noch. Blinzelnd und reibend versuchte er, den Unrat los zu werden. Er kam wieder auf die Beine, sah noch eine verschwommene Gestalt davon jagen. Oh nein, so leicht entkommst du mir nicht, Scheusal! Wieder setzte er sich in Bewegung. Sie war angeschlagen. Er hatte sie dreimal getroffen, sie musste angeschlagen sein. In eine weitere Gasse bog er ab. Wo er inzwischen war? Das wusste er selbst nicht. Aber die Gasse war lang… und leer. Er starrte nach oben, sah die Wände entlang, nichts. Nur eine Tür in der Gasse. Hastig schritt er heran, warf sie mit Wucht auf und platzte in die kleine Räumlichkeit hinein. Irgendein Hinterhofladen, vermutlich zweifelhaft-legaler Natur. Sehr zu seinem Leidwesen starrten seine zornigen Augen auch prompt auf einen Bolzen, den man samt Armbrust auf ihn gerichtet hielt. „W-Was’n hier eigentlich los, hä?“ stammelte der Händler. Für sowas habe ich keine verdammte Zeit! „Wo ist sie hin?“ verlangte der Kommandant zu wissen und tat mit finsterstem Gesicht einen Schritt auf den Händler zu. Der zuckte zusammen, legte aber die Armbrust sofort wieder an - und zielte höher, auf sein Gesicht. „Steh’nbleiben! Was soll’n das alles hier?! Da war gerade irgend so’n… so’n Ding, das hat irgendwas gefaselt… bei seiner Majestät, das konnte reden!“ Mit einem großen Satz duckte sich der kräftige Hüne unter dem Schuss durch, der sich unter einem überraschten Aufschrei löste, entging dem Bolzen und packte die Armbrust. Er entriss sie den offenkundig unfähigen Händen, packte den Händler beim Hemd und riss ihn von den Füßen. Ihre Schädel kollidierten auf schmerzhafteste Weise, ehe er den Krämer auf nächste Nähe anfunkelte. „Wo ist sie?!“ zischte Urthada. Der Händler erklärte ihm jedoch, er habe sofort die Armbrust gezogen und sie verscheucht. Als der Befehlshaber erklärte, dass sie nicht draußen wäre, wies sein Gefangener ihn auf einen Kanaldeckel hin, der vor lauter Staub und Dreck wohl schwer zu erkennen war. Panaver warf den Burschen zu Boden und jagte, die Armbrust fallen lassend, wieder hinaus. Die Kanalisation, natürlich! Rasch war der Deckel gefunden und bei den Feuern der Niederhölle, er ließ sich unangenehm leicht bewegen. Sie war also in die Kanäle entkommen. Die Ratte im Dreck, das passte. Und sie lebte noch. Das Feuer hatte sie damals nicht verschlungen! Abermals schrie der Kommandant auf, vor Wut, vor Enttäuschung… vor Hass. Er würde sie finden und er würde sich für das bedanken, was sie ihm angetan hatte! Die Jagd abbrechend, dauerte es fast zwei Stunden, ehe er zu seinen Männern zurückgefunden hatte. Die Hatz hatte ihn offenbar quer durch das gesamte Händlerviertel getragen, an den Ostrand dessen und damit nahe zum Bezirk der Elben. Allerdings war ihm völlig einerlei, wo er sich befand oder wie lange seine Rückkehr dauerte. Wichtig war nur, ob irgendeiner seiner Männer mehr Erfolg vorzuweisen hatte… und natürlich war dem nicht so. Nutzloses Pack!   „Los!“ heischte Ximasxi noch, dann stob ihre Gruppe bereits in aller Windeseile tiefer in die Gasse hinein. „Zunder, Tawnie, links!“ Das Pärchen verschwand hastig in eine Seitengasse, verbarg sich hinter Müllbergen und blieb ungesehen und unberührt. Nur noch die Eloen und das Tieflingsweib rannten um ihr Leben. „Natti,“ hob die Elbe mit einem Lächeln an - ihr zumindest schien das alles ein wunderbar unterhaltsames Spiel zu sein, „folge der Elster, ich lotse dich!... Vertrau‘ mir, ich wurde hier geboren!“ Sinnvoll erschien dem Tiefling deshalb noch lange nicht, was das Spitzohr ihr vorschlug. Dennoch ließ sie sich, wenn auch widerwillig, auf Eloens Vorschlag ein und hastete durch die Gassen, ziellos, bis ein samtschwarzer Vogel wenige Meter vor ihr durch die Gasse segelte. Wussten die Götter, wo Eloen war oder wie sie das Tier gefügig hielt, die Diebin stellte es sich zumindest schwierig vor, die Kontrolle zu behalten, Anweisungen zu geben und zeitgleich selbst zu flüchten. Sie konnte ja schlecht wissen, dass das Spitzohr sie eine gehörige Zeit lang in Kreisen führte und von dem zornigen schwarzen Muskelberg hinter sich leicht abgelenkt, bemerkte Ximasxi diesen Umstand auch nicht. Die leidige Treibjagd fand erst ihr Ende, als das vermaledeite Federvieh in einer langen, schmalen Gasse auf dem Boden hockte und im Dreck herum pickte. Im Dreck vor einer Ladentür. Hastig jagte die Gildendiebin hinein und sah sich prompt einer Armbrust gegenüber. Nur wenige Augenblicke später erging es Kommandant Panaver Urthada ebenso, nur, dass der sich das nicht gefallen ließ und schließlich mit über alle Maßen frustriertem Blick in den offenstehenden Kanalzugang seine Verfolgung abbrach… während der Krämer in seinem Laden dreimal auf die Bodendielen trat. Eine kleine, kaum zu erkennende Luke tat sich auf und Eloen kletterte von Ximasxi gefolgt wieder herauf. „Du hast was gut bei mir, Jasper!“ Der Krämer jedoch lachte herzlich auf, strich sich mit der schwieligen Hand über Bauch und Gesicht - und zuckte bei Letzterem unter einem gezischelten Schmerzlaut zusammen. „Eine ganze Menge sogar, würde ich sagen!“ ächzte er und trat zur Tür seines Ladens. Nur ein Blick hinaus genügte, um ihm aufzuzeigen, dass keine Gefahr mehr bestand. „Na los, raus mit euch. Und denkt immer dran: Bessere Gewürze bekommt ihr nirgendwo!“ Schon seit geraumer Zeit hatte sich ein semilegaler Drogenhandel etabliert. Es gab ihn quasi überall, man musste nur wissen, wo man zu suchen und nach was man zu fragen hatte. Viele Händler dieser Branche gaben ihre Waren als Gewürze aus, da sie durchaus nach irgendwas schmeckten, worauf vielleicht irgendwer Appetit hatte. Dass sie, natürlich rein zufällig, auch noch andere Wirkungen entfalten konnten, wenn man sie - oh Schreck, wie konnte man nur auf solche Gedanken kommen?! - falsch zu sich nahm, nun, das war ja erst einmal nicht das Problem derer, die diese Gewürze vertrieben. Immerhin konnte man genauso gut eine Häkelnadel zu einem Fechtkurs mitbringen oder einen Stuhl als Tisch verwenden. Was die Kunden mit ihrer Habe taten, ging ja den nichts an, der sie ihnen gegen Bares zur Verfügung stellte. Ximasxi und Eloen zumindest zogen sich wieder in Richtung Markt zurück. Bald schon waren sie dort angekommen und fanden ihn ruhiger vor, als sie ihn in Erinnerung hatten. Das mochte daran liegen, dass sämtliche Geschäfte, Stände und Besucher mit unbequemen Fragen belästigt und durchsucht worden waren. Nach einer solchen Aktion stellte sich immer eine gewisse Flaute ein, die für Urthada noch ein mehr als unangenehmes Gespräch mit dem Wachkommandant Samaras nach sich ziehen würde. Doch für die Gildendiebin und ihre spitzohrige Gesellschaft war nur ausschlaggebend, dass sie das kleine Pärchen wiederfanden… und den Magier. Der stand mitten im Zentrum an einem Stand und besah sich in aller Seelenruhe die Auslage der Früchte. Er schien tatsächlich überrascht, als sie hinter und neben ihn traten, bewusst alle Fluchtwege blockierend. „Was machst du hier?“ wollte Eloen wissen, noch bevor die eigentliche Kommandantin die Stimme heben konnte. Servatius dagegen legte ein charmantes Lächeln auf und reichte ein paar Münzen herüber. „Nun, falls ihr euch recht erinnert: Wir hatten kein Frühstück. Ein weiterer Beweis der Misshandlung durch unsere geschätzte Befehlshaberin hier, also gedenke ich diesem Umstand Abhilfe zu schaffen“, erwiderte das Zirkelmitglied weiterhin unbeirrt lächelnd. Ihn beeindruckte nicht im Geringsten, wie viel Misstrauen und Feindseligkeit ihm entgegen schlugen. Selbst die Frage, weshalb er dann so überrascht wirkte, nötigte ihm nicht einmal ein verräterisches Zucken ab. „Meine Teuerste, gerade noch wimmelte es hier von Wachen und ich kann mir denken, wen die suchten. Ich hätte mir mein Frühstück geholt und wäre zum Haus zurückgekehrt. Damit, dass ihr hier wieder auftauchen würdet, habe ich dagegen nicht gerechnet. Aber es freut mich zu sehen, dass ihr es alle geschafft habt, zu entkommen.“ Das war ja wohl kaum zu fassen! Er log. Ximasxi spürte es, sie ahnte es, alles in ihr schrie ihr diese banale Erkenntnis entgegen, doch… sie konnte ihm ja schlecht auf offener Straße die Kehle aufreißen. Zumal es noch immer den Plan gab, in welchem er irgendeine zentrale Rolle spielen sollte und dann war da auch noch Aedans Befehl. Servatius durfte nichts zustoßen. Er war unentbehrlich. Gerade wollte sie anheben, als ihr neuerlich die Elbe zuvor kam. Diese Zufälle, dass das Spitzohr ständig zuerst einsetzte, behagten ihr genauso wenig… „Darüber reden wir noch, Freundchen!“ zischte die Elbe mit grimmigem Ausdruck auf den Zügen. … andererseits war Eloen gar nicht so schlimm. Das Servatius nur an sein Frühstück gedacht hatte, war wohl nicht sehr verwunderlich für jemanden, der geglaubt hatte, sein verräterischer kleiner Plan wäre aufgegangen. Oder? Er war Magier. Im Grunde hätte das auch einfach nur sein üblicher Egoismus sein können. Bei diesem Volk drehte sich doch alles immer nur um sie selbst. Nein, seine Einkäufe allein waren keine Hinweise. Zumal er offenbar tatsächlich für die Vorbereitungen eingekauft hatte, er trug eine kleine Tasche gefüllt mir verpacktem… Irgendwas. So kehrte das Gespann nach einer Weile in das Abrisshaus im Armenviertel zurück. Kaum war die Tür geschlossen, baute sich der Tiefling vor dem Magier auf. Neben ihr die Elbe, nicht weniger übellaunig drein schauend und hinter den beiden die zwei Kurzen, die zumindest sorgenvoll und misstrauisch drein blickten. „Antworten“, verlangte Ximasxi lediglich einsilbig, da zuckte Servatius mit den Schultern. „Worauf, hm?“ erwiderte er und ließ sie stets höfliche, freundliche Maske ein Stück weit sinken. Darunter kam Verachtung zutage, seine herablassende, herabblickende Art und allem voran eine gute Portion Ungeduld, „Habt ihr die Wachen gesehen? Ihre Rüstungen, Schilde? Welches Wappen trugen sie? Das Samaras oder das Sundergrads?“ „Sundergrad“, gab Eloen widerwillig zu. Sie wusste bereits, worauf das alles hinauslaufen würde. „Sundergrad. Schön, fein. Die einzigen Rüstungen und Schilde mit diesem Wappen finden sich wo? Ah ja, im Lager, draußen vor der Stadt, im Süden. Und wir waren wo? Im Händlerviertel, im Norden der Stadt, stimmt. Wie schnell kann ein durchschnittlicher Wächter, der genau weiß, dass er die Strecke von dort unten bis hier hoch durchhalten und am Ende noch kämpfen können muss, rennen? Wie viel Zeit braucht er also ungefähr, um zum Markt zu kommen? Ganz abgesehen von den Schützen, die die Dächer noch beklettern müssen und den Männern, die einen Ring um den Markt bilden sollten. Ja, genau. Und jetzt überlegt nochmal, wann genau ich die Wache hätte informieren müssen. Ich ging in den Laden… kam eiligst wieder heraus, informierte einen Boten der Wache. Der läuft runter. Vielleicht sogar im Staffellauf? Sie informieren das Lager. Die geben Befehle aus, rüsten sich, machen alle Leute bereit. Kommen durch die Stadt, ziehen den Ring und… also bitte! Ich will euch ja nicht noch extra darauf hinweisen müssen, aber… ihr macht euch gerade zum Gespött, voreinander! Und jetzt, denke ich, wären wir ganz gut beraten, endlich mit den Vorbereitungen zu beginnen, oder nicht? Wir haben nur noch heute und morgen Zeit!“ „Halt, nicht so schnell!“ fuhr ihm Eloen dazwischen und hielt ihn, die Hand auf seiner Schulter verkrallt, zurück. Die Elbe funkelte ihn boshaft an und dennoch konnte ihr Unmut nicht im Ansatz an das heran reichen, was in Ximasxis Gesicht geschrieben stand. Allein für die neuerlichen Vorwürfe, Beleidigungen und Anmaßungen wollte sie ihm das Gesicht in Streifen vom Schädel ziehen, die richtigen Werkzeuge dafür waren die Krallen an ihren Händen! Servatius jedoch fühlte sich davon nicht einmal bedroht. Warum auch? Er war für das Gelingen der Operation wichtig und er wusste darum, dass er als unentbehrlich galt. Sollte sie nur versuchen, ihn anzugreifen - wehrlos war er schließlich auch nicht. „Schule! Jeder Magier wählt eine Schule. Wenn ihr Geistmagier wärt, hättet ihr sie benachrichtigen können“, führte das Spitzohr aus. Fast schon triumphierend war das zarte Lächeln auf ihren schmalen Lippen. Sie hatte ihn erwischt, sie musste einfach! Ein Geistmagier scherte sich vermutlich nicht um Distanzen. Das Problem war: Keiner von ihnen hatte genug Ahnung von dieser Materie. Ximasxi hatte immer Magier, Magie und ihre ganze Hierarchie vermieden. Auch das Wissen darum, wie der Zirkel aufgebaut war oder worin der Unterschied zwischen Hexern und Magiern liegen mochte. Was sie wusste beschränkte sich darauf, dass beide einander auf den Tod nicht ausstehen konnten, aber beide zauberten und dass sie nur zu gerne ihre Mächte missbrauchend ohne jede Rücksicht ihre Ziele verfolgten. Die Kurzen dagegen fanden Magie zwar völlig faszinierend, verstanden jedoch von den Zusammenhängen noch weniger und Eloen, die sich wohl vom Viergespann am besten auskannte, war ihrerseits eine Elbe und hatte mit den Zaubernden der Menschen nie viel zu tun gehabt. Sie wusste, was Hexer waren, was Magier, kannte die Unterschiede und wusste von den Schulen - aber was einem Geistmagier möglich war und was nicht, davon hatte sie keine Ahnung. Servatius dagegen lachte kurz trocken und humorlos auf, ehe er die Linke in einer seiner Taschen versenkte, wohl der Souveränität geschuldet, die er ausstrahlte, und die Rechte in Richtung eines Stuhles hob, der am Tisch stand. „Netter Versuch, Weib, aber ich bin Kraftmagier“, erklärte er süffisanten Lächelns und ließ den Stuhl umkippen und gut einen halben Meter auf sie zu rutschen, ohne das Möbelstück auch nur berührt zu haben, „Können wir dann jetzt also endlich an die Arbeit gehen, nachdem ihr mit euren lächerlichen Verdächtigungen durch seid?“ Eloen hatte nichts mehr in Händen, was sie ihm vorwerfen konnte und so sehr es ihr widerstrebte… ließ sie ihn los. Die eisblauen Augen der Elbe verengten sich nochmals, ehe sie mit einem frustrierten Schnauben zurück trat. Das war doch einfach nicht möglich! Sie wusste einfach, dass er es war! Sie wusste es! „Ab sofort,“ zischte Ximasxi plötzlich, die bislang erstaunlich ruhig geblieben war, „führen wir Wachdienst. Einer behält die Straße immer im Auge. Wechsel alle sechs Stunden. Der Magier nicht. Aber den lässt keiner aus den Augen, verstanden?“ „Der Magier? Oh Schmerz, mein armes Herz blutet“, spottete Servatius, wandte sich schließlich unter einem energischen Fauchen des Tieflings ab und begann, aus seinem Reisegepäck die Reagenzien, Tiegel und Gläser aufzubauen. Ximasxi, die das Gefühl hatte, dringend Luft zu brauchen, da sie sonst ein Blutbad anrichten würde, übernahm die erste Wachschicht. Sie kletterte behände aus dem Fenster des Hauses im oberen Stock heraus und krallte sich der Figur eines Wasserspeiers nicht unähnlich am Dachrand der halb eingefallenen Ruine fest, in perfekter Balance einen Großteil der Straße und einige kleinere Gassen überblickend. Unter ihr dagegen kamen immer mehr Apperaturen zum Vorschein. Zunder räumte seine Einkäufe auf dem Boden aus, Eloen nutzte das Licht eines Fenstersims, um im Mörser die Kräuter zu zerkleinern und Servatius köchelte bereits irgendein aufgegossenes Pulver ein. Tatsächlich waren sie auf einen Großteil beider Tage angewiesen, ehe alles, was hergestellt werden sollte, auch soweit fertig war. Am Ende hatten sogar Eloen und Servatius Tawnie und Zunder bei der Herstellung der Bomben und Sprengsätze helfen müssen. Unauffällig sahen die nun wirklich nicht aus, doch gerade die Gegenwart des Magiers, dem inzwischen keiner mehr traute, sorgte für Verschwiegenheit. Das aufgeweckte Gnomweib erklärte lediglich immer wieder, dass deren unauffällige Unterbringung niemand anderes Sorge sei als die Zunders, der daraufhin mit dem Freudestrahlen eines leibhaftigen Pyromanen in den Augen eifrig nickte und erklärte, dass er schon dafür sorgen würde, dass ganz Sundergrad in den Genuss seiner Feuerwerke käme. Lediglich mit Transport und Lagerung würden sie ein wenig vorsichtig sein müssen, da die Reagenzien nicht restlos unempfindlich wären. Ein zu harter Schlag, beispielsweise würden sie herabfallen, könnte ihre explosive Kraft frühzeitig entfesseln - was für alle beteiligten bei der hier hergestellten und gelagerten Menge höchst ungesund ausgegangen wäre. Dann endlich, gegen frühen Nachmittag, kehrte Jalil zurück. Ximasxi hatte nicht ohne Grund diese kleine Abfallhütte ausgewählt - von ihrem Beobachtungsposten aus konnte sie sehen, wie sich der Südländer in die Lagerhalle schleppte. Rasch hangelte sie sich herab und pirschte durch die Straßen und Gassen, den Lockenkopf abfangend, als er gerade wieder heraus kam und sich suchend umblickte. Schon als sie aus dem Lager geflohen waren, hatte sie ihren Späher losgeschickt, er solle seinen Teil der Aufgabe erledigen. Er konnte also unmöglich von der kleinen Bruchhütte und dem Entschluss seiner Kollegin wissen, das Lager zu meiden, aber im Blick zu behalten. Als die Truppe wieder zusammenkam, liefen bereits die Abschlüsse der Vorbereitungen. Gifte wurden verstaut, Sprengsätze eingepackt. Lediglich Servatius saß völlig ungerührt auf einem Stuhl und verfolgte stillschweigend das Spektakel. „Hey Leute. Schön wieder da zu sein!“ bekundete Jalil, als er eintrat. Tawnie strahlte regelrecht und find sich daraufhin einen eifersüchtigen Blick Zunders. Einzig Eloen trat skeptisch näher und fragte sofort nach den gleichen Dingen, die auch Ximasxi zu wissen verlangt hatte - nämlich, woher die Wunden kamen. Dass er nicht völlig unverletzt dem Lager entkommen würde, war soweit klar gewesen. Allerdings hatte man ihm die Höllen heiß gemacht, als beim Verhör des Lagerbesitzers heraus kam, dass er und niemand sonst das Haus angemietet hatte. Daraufhin hatte sich Kommandant Urthada persönlich dem Gefangenen gewidmet, der sich rein zufällig ins Lager verirrt hatte und ertappt worden war, mit der Hand tief im Geldbeutel eines Soldaten. War die anfängliche Geschichte noch ausreichend für die Arrestzelle des Lagers, hatte er Panavers Foltermethoden rasch kennenlernen dürfen. Der Offizier war ungeduldig und wusste um den unverrückbaren Zeitplan. Er hätte ihm jedes Glied einzeln abgetrennt, sollte ihm das Erfolg versprechen - Jalil wusste, wie knapp er einer völligen Verstümmelung entkommen war. Auch wenn er es erst nach und nach zu realisieren begann. In allen Einzelheiten berichtete der Südländer von seinen Beobachtungen und Entdeckungen. Von Wachschichten, Stundenzyklen, Patrouillenrouten. Er erzählte von der Beschaffenheit der Arrestzellen, der Positionierung der Gebäude und Zelte, von der Unterbringung der Waffen- und Rüstungskammer und auch von einer Grasnarbe, einer länglichen Kuhle mitten im Feld, die sich ein paar dutzend Meter von der Lagergrenze entfernt hinzog und tief genug wäre, um darin ungesehen zu bleiben. Einmal mehr erstaunte Ximasxi darüber, wie viel der Lockenkopf sehen, bemerken und vor allem, im Gedächtnis behalten konnte. Und das, obwohl er doch im Grunde auf der Flucht gewesen war. Dass er überhaupt dazu kam, zu fliehen, verdankte er, so irrsinnig es klang, der Stadtwache Samara. Deren Kommandant war im Lager aufmarschiert und hatte Urthadas Befehl, er sei unabkömmlich, einfach außer Kraft gesetzt. Er hatte eine sofortige Unterredung gewünscht und schien auch aufgebracht genug, dass das halbe Lager der Standpauke zuhören konnte. Irgendetwas über Verletzungen der Befugnisse und Überschreitungen der ranggegebenen Kompetenzen - etwas, das mit dem Markt zusammenhing? Nur knapp gab man Jalil daraufhin einen Abriss des inzwischen schon zweiten Versuches Panavers, ihnen den Garaus zu machen. „Der mag dich wirklich nicht, Natti, oder?“ hakte der Schwarzhaarige daraufhin skeptisch nach und warf einen unbemerkt geglaubten Blick zu Servatius. Ja, auch Jalil konnte sich des Verdachtes nicht erwehren, dass dieser völlig ruhig bleibende Magier mit den Vorfällen in Zusammenhang stand. Doch was sollte er tun? Sie hatten klare Anweisungen bekommen und so ungern der Sundergrader das auch zugab: Sie brauchten diese verdammte Schlange! „Los, es wird dunkel. Wir brechen auf“, befahl Ximasxi schließlich mit einem Blick in die Abenddämmerung jenseits der fensterlosen Aussparung in der Wand. Aufpassen, sich den Rücken frei halten… Servatius im Auge behalten. Wesentlich mehr als das blieb ihnen ja ohnehin nicht zur Option. Ihn töten stand nicht zur Debatte. Noch nicht. Einige Zeit später lagen fünf Gestalten in der Grasnarbe nordwestlich des Lagers und versuchten, irgendetwas zu sehen. Für Ximasxi waren die Verhältnisse geradezu ideal, ja, sie pries den Nachtvater dankbar für diesen galanten Zufall. Es war stockfinster. Der Neumond? Unwichtig. Sternenlicht? Pah! Kaum hatten sie das Haus verlassen, waren Wolken aufgezogen und inzwischen verdeckte eine tief hängende, dichte, schwarze Front den gesamten Himmel. Es begann langsam zu regnen, was früher oder später den Wachfeuern und Fackeln zusetzen würde. Selbst würden die Lichter nicht ausgehen, so bot der Regenschleier dennoch weitere Deckung. Die Wächter würden sich ungern hinaus trauen und irgendwelchen Schatten oder Geräuschen folgen, weil man da nass wurde, also kauerten sie lieber unter ihren Unterständen und behaupteten, sie hätten ihre Runde bereits gedreht. Es war geradezu… perfekt. Jedenfalls, wenn man davon absah, dass Servatius maßlos herum maulte. Über das Wetter, über die Unterbringung, darüber, dass seine verdammte Robe nun schmutzig werden würde und er sich bei diesem Wetter im Freien Tod und Teufel holen könnte. Die Gildendiebin dagegen… wünschte ihm nichts sehnlicher als das. Vor allem den Tod. Jalil war indes zurückgeblieben, nahe des Südtores der Stadt, um den Rückzug zu decken. Denn bis sie ungehindert die Stadt würden verlassen und südwärts ziehen können, mussten nach dem Anschlag wohl erstmal ein paar Tage vergehen. Etwas Gras sollte über die Sache wachsen können. Natürlich: Im Idealfall würde keine Wache Verdacht schöpfen und niemand würde irgendwas sehen. Das gesamte Heer fiel aus allen Wolken, wenn vor den Toren Sundergrads erstmal alles versagen und den Geist aufgeben würde. Aber schon um auf Nummer sicher zu gehen, deckte der Südländer den Rückzug in die Stadt, in der sich viel besser abtauchen ließe als auf den Straßen südwärts. Während der Rest in der Finsternis nicht das Geringste sah und gegen den Regen anblinzelnd lediglich die Feuer irgendwo jenseits des Tropfenschleiers gewahrte, erkannte der Tiefling gestochen scharf jeden Halm am Boden. „Zunder, Tawnie, ihr zuerst“, erklärte die Diebin nochmals und machte sich bereit. Ein ungeschicktes Paar Hände und Füße über eine offene Fläche führen, um sich an eine verteidigte Stellung anzuschleichen? Oh nun, so etwas Ähnliches hatte sie vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gemacht, damals mit einem stümperhaften Lichtmagier. War der Unterschied nennenswert? Sicherlich nicht. Einen Magier hatte sie immerhin wieder dabei. Der Goblin und sein Mädchen waren wenigstens klein. Das war immerhin schon mal ein guter Anfang. Zudem waren auch ihre Augen in der Dunkelheit besser. Nicht so gut wie die ihrer Befehlshaberin, aber immerhin besser als die Servatius‘ oder der Elbe. Langsam hob sich das Dreigespann aus dem Graben heraus und kletterte, zunächst dicht am Boden, über den Kamm der Kuhlenbegrenzung. „Halten die Zeichnungen das Wasser aus?“ erkundigte sich das Tieflingsweib noch und wurde daraufhin von Tawnie aufgeklärt, dass sie sich einen mechanischen Stift mit einer speziellen Graphitmiene gebastelt habe, sodass sie sich um die Zeichnungen weniger Sorgen mache als um das Papier, auf denen sie aufgetragen würden. Dafür jedoch wäre Zunders Tasche gut, wenn sie erst einmal leer war. Für den Moment beschützte Tawnie ihre Papiere, indem sie sie unter ihrer Weste direkt am Körper trug. „Dann los!“   Das kurz geratene Pärchen in gebeugter Haltung, aber auf beiden Beinen erreichte letztlich die gleiche Höhe wie Ximasxi - die auf allen Vieren über das Feld pirschte und dabei dennoch eine wesentlich elegantere Figur zu hinterlassen fähig war. Im Schutze der Nacht und des Unwetters pirschten sie sich an die von Jalil bezeichnete Stelle heran. Fast das gesamte Lager hatte man symmetrisch aufzubauen versucht. An dieser Kante jedoch versagte der zunächst gut gemeinte Ansatz, vermutlich aufgrund irgendwelcher baulichen Hindernisse oder schlichter Unzulänglichkeit. Die Türme mit den Wachfeuern standen hier weiter auseinander und boten einen kleinen, schlecht beleuchteten Korridor, über den das Dreigespann schlüpfen konnte. Noch außerhalb der Sichtweite, harrte die Diebin am Boden kauernd aus und beobachtete abwechselnd die Scharfschützen auf den Hochständen. „Auf mein Zeichen“, flüsterte sie mit angespannter Stimme und deutete zur Rückwand eines ersten großen Gebäudes herüber. Als sich beide Wächter auf beiden Türmen von der Passage abwandten, glaubend, diese Gegend gesichert zu wissen, winkte sie das Gespann vorwärts. Völlig bewusst blieb sie hinter Tawnie und Zunder zurück, um zu garantieren, dass nicht Papier, Stift, Bomben oder gar einer von beiden plötzlich auf dem Weg verloren ging. Als sie die Rückwand des Gebäudes erreichten, glaubte sie einen Moment sogar das Pochen in Tawnies Brust zu hören, die für ihre gräuliche Gnomhautfarbe sogar ein wenig blass und bleich wirkte. „Das ist schlimmer als Holzkopf dabei zuzusehen, wie er was ‚Experimentelles‘ mischt!“ erklärte die Gnomin und rang nach Atem. Die Gehörnte jedoch ließ ihr nicht die notwendige Zeit, um sich wieder zu beruhigen, sondern drängelte das Pärchen vorwärts. Die Wachen patrouillierten in großzügigen Runden mit herzlich angenehmen Intervallen, dennoch musste man sein Glück nicht herausfordern und der Regen konnte ja sehr wohl zu ein paar Verschiebungen im Plan führen. Es musste nur plötzlich ein Wächter auf die Idee kommen, er könne seine Runde machen, solange der Regen noch nicht so stark war, um sie später etwas nach hinten schieben zu können, sobald er nachlegte. Gemeinsam umrundeten sie das Haus Stück für Stück. Immer wieder presste die Diebin, die inzwischen ihre Schützlinge dicht hinter sich hielt, die beiden an die Wand und lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Die zwei beiden taten es ihr zwar gleich, konnten jedoch trotz ihrer Fledermausohren nichts außer dem Prasseln des Regens vernehmen. Sie waren nicht daran gewöhnt, Geräusche auszublenden, Hintergründe heraus zu filtern oder auf spezielle Laute zu achten, die für das Diebeshandwerk bis hinunter zum unbemerkten Herumschleichen notwendig waren. Sobald ein Wächter sie passiert hatte, schoben sie sich wieder einige Schritte vorwärts, bis sie endlich die Vorderseite erreicht hatten. Eine äußerst gefährliche Gegend - alle drei Lagerhallen für die Belagerungswaffen standen hier dicht beisammen, der Bereich wurde gern und häufiger patrouilliert als der Rest des Geländes, denn auch die Waffen- und Rüstkammer stand nicht wesentlich weit entfernt. Einen Augenblick zeigten sich die zwei Winzlinge von den schier gewaltigen Dimensionen des Haupttores beeindruckt, doch da schob Ximasxi sie bereits voran, das Tor ignorierend in einen kleinen, für Personen gedachten Nebeneingang. Jalil hatte gute Aufklärung geleistet, dennoch schloss sie sorgsam die Tür, befahl beiden völlige Laut- und Reglosigkeit und durchsuchte die Halle nochmals. Keine einzige Menschenseele befand sich darin, also flüsterte sie die zwei Namen und schickte das Pärchen an ihre Arbeit. Sie behielt derweil sehr genau den Eingang im Auge, lugte durch einen winzigen Spalt immer wieder hinaus und überprüfte an den vorbei ziehenden Schatten, ob die Wächter ihre Patrouillenzeiten auch einhielten. Die Intervalle hatten sich tatsächlich verschoben, waren kleiner geworden - das war ärgerlich. Es schmälerte den zeitlichen Rahmen, den sie hatten, um von einer Halle zur nächsten zu gelangen. Derweil hörte sie hinter sich allerhand Laut, die sie immer wieder durch das Heranziehen und gelegentlich sogar durch das völlige Schließen der Hallentür zu dämpfen versuchte. Zunder hatte nie mit einem Wort gesagt, dass er Löcher in die Konstrukte bohren würde! Tawnie dagegen schien keineswegs von dieser Vorgehensweise überrascht, musste es also gewusst haben… und hatte auch keine Silbe darüber verloren. So sehr sich die Gehörnte darüber aber auch ärgerte, nun waren sie hier und mussten ihren Job erledigen. Einfach nur noch durchhalten und sich nicht erwischen lassen. Für Umdenken und große Planänderungen war es nun ohnehin viel zu spät. Als die Gnomin ihre Zeichnungen der gewaltigen Anlagen vollendet hatte, ging sie ihrem Liebsten zur Hand und legte mit ihm zusammen die letzten Sprengsätze. Kleine Löcher im Holz nahmen die Sprengkörper auf. Die Holzspäne verschwanden in seiner Tasche, wo sie die verbleibenden Bomben polsterten und später Tawnies Zeichnungen vom durchdringenden Regenwasser abhalten würden. Nur einen kleinen Pfropfen steckte der Goblin wieder in das gebohrte und befüllte Loch, damit niemand bemerkte, dass diese Technik manipuliert worden war. Schließlich fanden sich beide wieder bei Ximasxi ein, die auf den richtigen Zeitpunkt wartete und dann nach draußen huschte. Sorgfältig sah sie sich um, lauschte. Nichts und niemand in der Nähe, jedoch hörte sie Stimmen, die von rechts kamen und wohl bald um die andere Seite der ersten Halle biegen würden. „Beeilung!“ flüsterte die Diebin und winkte das Pärchen aus der Halle heraus. Auch das zweite Lager stellte sie noch nicht vor große Herausforderungen, lag es doch mit einigen wenigen Metern Abstand direkt nebenan. Auch dort gingen die Arbeiten rasch und ungestört voran, doch dann mussten sie zum letzten Unterstand wechseln. Dieser befand sich gegenüber, von einer äußerst breiten Straße für den An- und Abtransport der Waffen getrennt. Ein heikles Unterfangen und um ein Haar wäre es schief gegangen. Mitten auf der Straße, in bester Sicht für alles und jeden, rief plötzlich einer der Wächter vom Turm herüber. „Hey! Du da!“ Abrupt riss die Diebin den Kopf herum und starrte zu dem Wächter auf. Noch zielte er nicht auf sie. Warum nicht? „Geh‘ mal rüber und sag Hans, er soll endlich seinen Arsch her schieben! Ich warte schon zu lange auf meine verdammte Ablösung!“ Der Regen! Aber natürlich. Er sah lediglich eine Gestalt mit einem Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Solche Kapuzenmäntel hatten die Wächter vermutlich auch, solange sie nicht in Helm und Rüstung unterwegs sein mussten. Und niemand würde sich ja einfach so in dieses Lager einschleichen können, nicht wahr? Auf diese Distanz, bei der schlechten Sicht und diesen Umständen, was hätte sie da anderes sein sollen als ein Wächter ohne Rüstung, auf dem Weg zurück in die Baracken? Sie nickte dem Schützen zu, der sich zufrieden wieder seinem unangenehm klammen Posten widmete. Dass die zwei Kurzen nicht aufgefallen waren, glich keineswegs einem Wunder - die beiden hatten sich nur vor ihr gehalten und kaum, dass der Ruf erklungen war, hinter ihr versteckt. Kluge kleine Dinger! „Husch, los, rasch!“ trieb sie die beiden zur Eile an. Sie hatten Zeit verloren, kostbare Sekunden und ein Wachposten näherte sich von Osten. Er würde sie sehr wohl erkennen und im Zweifelsfall eben näher treten können. Dann wäre die ganze Aktion verloren. In Windeseile scheuchte sie das Paar vor sich her und drohte dabei sogar Zunders Beinen zuviel abzuverlangen. Völlig außer Atem keuchte und jappste der Goblin, als sie hinter der Tür der Halle verschwanden und ließ sich zunächst auf seinen Hintern fallen. Allein, wie er nach Luft rang, klang erbärmlich. „Alles gut, beruhige dich! Hol tief Luft!“ versuchte Tawnie ihn zu besänftigen. Erst nach einigen Minuten schien ihre Mühe Erfolg zu haben. Für Ximasxi war das im Grunde einerlei - solange sie hier drin waren und die beiden noch nicht arbeiteten, gab es keinen Lärm, nichts Verdächtiges, solange hatten sie alle Zeit der Welt. Abgesehen davon, dass diese Nacht noch zwei andere Durchgänge im Lager nötig waren und sie die exzellenten Witterungsbedingungen gerne für sich ausnutzen wollte, solange sie das noch konnte. Doch die beiden nun antreiben würde auch nichts bringen, bestenfalls, das Zunder sich wieder aufregte. Davon hatte sie nichts. Also harrte sie geduldig aus, wortlos, beobachtete durch den Türspalt wie schon zuvor das Treiben jenseits der Lagerhalle und lauschte auf die inzwischen bekannten Geräusche, als das Pärchen an die Arbeit ging. Inzwischen mit einer gewissen Routine und grundsätzlicher Erfahrung aus den anderen beiden Hallen gesegnet, kam das Pärchen deutlich schneller voran. Zumal Tawnie keine neuen Konstruktionen fand und daher die Zeichnungen bereits als komplettiert in Zunders Tasche verstauen konnte. Erst nach einigen Minuten, in denen es bereits leiser und leiser geworden war, hörte sie die Zwistigkeiten der Beiden abermals ausbrechen. „Zunder, lass das! Finger weg da!“ fauchte das Gnommädchen, „Ich warne dich, lass das liegen! Beim großen Schraubenschlüssel, dass du nur nicht hören kannst.“ „Reg dich doch nicht so auf, hilf mir lieber! Schau nur, da glitzert etwas!“ flüsterte eine aufgeregte Stimme zurück. Der Gildendiebin hätte das im Grunde völlig egal sein können, doch kurz darauf erklang ein grässliches Scharren, wie Metall auf Metall, plötzlich ein kurzer Knall und ein überraschter Aufschrei. „Verdammt, Ruhe!“ heischte die Gehörnte von ihrer Warte an der Tür aus in die Halle hinter. Was die beiden dort trieben, war ihr völlig einerlei. Sie verstand von der Technik nichts. Hätten sie begonnen, die Geräte einsatzbereit zu machen, um das Lager mit den eigenen Geschossen in Grund und Boden zu bombardieren, nun, was hätte sie schon machen können? Sie hätte wohl nicht einmal erkannt, wozu das Umlegen irgendwelcher Hebel dienen sollte. Also blieb ihr nur, darauf zu vertrauen, dass Tawnie als die Vernünftigere ihren Liebsten im Zaum hielt. Was einen Moment wahrlich nicht danach geklungen hatte… Immerhin: Gemeinsam ging die Arbeit nach dem Zwischenfall noch einmal schneller voran und so dankte Ximasxi dem Nachtvater einmal mehr, als sie sich rasch wieder zurückziehen konnten. Abermals zeigte sich, wie gefährlich die Überquerung der Straße war. Der Streifen zwischen den Hallen war kahl und karg, zu breit, um einem zufälligen Blick zu entgehen. Das Letzte mal mochten sie Glück gehabt haben, doch wie sehr wollte und konnte sie das überstrapazieren, ehe der Faden riss? Sehr bald schon würde sie Servatius hier lang führen müssen und er brauchte Zutritt zur Waffenkammer, die direkt neben der dritten Lagerhalle aufgebaut worden war. Das hieß, noch einmal über den breiten Streifen hin und wieder zurück zu marschieren. Vermutlich konnten sie angesichts dieser nicht zu geringen Hürde sogar noch froh sein, dass die vier Hallen relativ am Rand des Lagers platziert waren und nicht im Zentrum. Dort befand sich die ausufernd große Lagerstatt der Zelte, in denen die Soldaten und Offiziere untergebracht worden waren. Die Kämmerer, Köche, Laufburschen, eben jeder Mann und jedes Weib, alle, die irgendeine Rolle bei Sundergrads Rückeroberung zu spielen hatten. Mit Ausnahme des Kommandanten, des Buchhalters und der ominösen dritten Person. Diese befanden sich allesamt in einem größeren und daher leicht sichtbaren Zeltkomplex abseits der Soldatenunterkünfte. Der Herr Kommandant wollte offenbar deutlich machen, dass er besser war als seine Männer. Großer Fehler, wie sich nach Ximasxis Wünschen zeigen würde, denn von ihrer Einmarschroute aus gesehen lag das große Zelt wesentlich näher, nur einige dutzend Meter hinter dem Hallenkomplex. Sicher, lautlos und tatsächlich völlig unbemerkt führte das Tieflingsweib die zwei Kurzen wieder aus dem Südlager heraus und brachte sie auf die gleiche, geduckte und vorsichtig schleichende Weise zurück zur Grasnarbe, wie sei auch anfangs hineingekommen waren. „Uh, war das spannend!“ merkte Zunder an, als er sich endlich wieder traute, den Mund aufzumachen. Nervös spielte er mit der Hand in seiner Tasche herum und wühlte etwas hervor, das noch reichlich in einen Ballen Holzspäne eingewickelt war. Die Tasche übergab er seinem Herzblatt, ehe er ein kleines, eigenartig geformtes Schmuckstück in seiner Hand hielt. Nahezu augenblicklich wurde Servatius darauf aufmerksam. „Was ist das?“ wollte er wissen und bemühte sich um ein Lächeln. Er rutschte etwas näher, doch Tawnie, die sich das Misstrauen der restlichen Gruppe angenommen hatte, packte Zunders kleinen Schatz und verbarg ihn bestmöglich in ihrer kleinen, geschlossenen Faust. „Nichts. Kümmer‘ dich um deinen Kram!“ heischte sie den Magier an. Vielleicht wäre sie ihn sogar losgeworden, hätte Zunder nicht begeistert eingestimmt. „Ja, genau, dein Kram! Ich hab’s gefunden, buddel‘ dir selbst was aus!“ Servatius wollte gerade das Wort erheben, um die beiden um irgendetwas zu bitten. Zu beleidigen, zu fordern, was auch immer - er kam nicht dazu. Ximasxi kam ihm schlicht zuvor. „Magier! Schnell jetzt, nicht trödeln!“ verlangte die Befehlshaberin und drängte den Menschen zum Aufbruch. Nur unwillig und unter dem besorgten Blick Eloens raffte sich das Zirkelmitglied auf und erhob sich zur vollen Größe. „Wurde ja auch Zeit, dass ich aus diesem vermaledeiten Erdloch heraus komme, mir schmerzen schon alle Glieder! Ich bin durchgefroren, nass und dreckig. Ich glaube, ich kann dieses Land jetzt schon nicht mehr leiden und werde-“ Ohne das Ende seiner zweifellos ausufernden Beschwerde abzuwarten, packte sie ihn am Ärmel seiner ach so heiß geliebten Kutte oder was immer das Kleidchen nun war und zerrte ihn nicht nur vorwärts, sondern auch ein gutes Stück herab. „Wirst du gesehen, bist du tot. Bleib unten!“ wies sie ihn scharf an, die Augen zu drohenden Schlitzen verengt, „Ich will nicht deinetwegen draufgehen. Ich werde nicht deinetwegen sterben!“ Mit einem höflichen Lächeln und einer weitschweifig die Richtung des Lagers deutenden Geste seines Armes bedeutete er ihr, voraus zu gehen. Die Gehörnte stieß ein verächtliches Schnauben aus, ehe sie sich brüsk abwandte und abermals auf allen Vieren vorauseilte. Dabei war ihr bei all den Frechheiten inzwischen nahezu egal, ob dieses Menschenvieh Schritt halten konnte. Vielleicht sollte sie auch einfach später zu Aedan zurückkehren, unschuldigen Blickes die Schultern heben und ihm erklären, dass der Magier ganz plötzlich und ohne Zutun ihrer Krallen zu kreischen begonnen hatte, woraufhin alle Wächter aufsprangen und ihn mit Lanzen und Bolzen durchbohrten, dass er wie ein Nadelkissen aussehen musste! Ob der Gildenmeister ihr das übelnehmen würde? Zumindest in dieser überaus leidschweren, blutigen Vorstellung fand die Diebin eine Weile Trost und Vergnügen gleichermaßen. Servatius durch die zwielichtige Passage zu schleusen, war weitaus schwieriger. Er war nicht nur einfach größer und damit weniger unauffällig, er war vor allem ungeschickt hoch zehn, ans Schleichen so gar nicht gewohnt und auch komplett talentfrei. Immer wieder musste sie ihn wider seines leise genuschelten Gezeters an der Kutte packen und herab ziehen, weil er dazu neigte, sich weiter und weiter aufzurichten. Ob ihm die Lage zu unbequem war, interessierte sie nicht im Geringsten, wie sie ihm leise zuzischend klar machte, und wenn er durch die regennasse Erde kriechen und robben musste - er würde verdammt nochmal unten bleiben oder sie würde ihn in der nächsten Matschpfütze ertränken! Die überaus opulente, gezischelte Drohung schien endlich Wirkung zu zeigen. Zumindest lange genug, damit er sich im Zaum hielt, bis sie die Rückwand der zweiten Lagerhalle erreicht hatten. An der Seite entlang zur Vorderfront, schlüpften sie abermals durch die kleine Passantentür ins Innere und harrten durch den dünnen Spalt schauend aus, um auf die richtige Gelegenheit zur Überquerung des Streifens zu warten. Wie sehr ihr dieses Aas dabei auf den Leib rückte, behagte ihr gar nicht und mehr als einmal stieß sie ihm mit Wucht den Ellbogen in den Magen, damit er verdammt nochmal auf Abstand blieb. Doch immer wieder kam er näher heran. Scheinbar, um ebenfalls durch den Türspalt schauen zu können. Als ob! Er war doch genauso blind dort draußen wie die Wächter auf ihren Türmen… „Scheiße, ist das kalt… Mann, wo bleibt Hans?! Dieser miese kleine Hund sollte längst hier sein, ich frier‘ mir noch den Arsch ab“, maulte einer der beiden Scharfschützen auf dem Hochstand und drehte erneut eine Runde. „Ach hab‘ dich nicht so, das ist nur Wasser. Du hast gleich Schluss und kannst dich abtrocknen, ich habe noch drei Stunden!“ maßregelte ihn sein Kumpane und schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur so undankbar sein? Ständig war dieser Bursche nur am Jammern und Maulen! Er sollte sich lieber mal Friedrich ansehen, dann wüsste er, dass man gelegentlich besser einfach die Klappe hielt und abwartete. „Hey, was’n das da?“ Abrupt kehrte die Ernsthaftigkeit in den Hochstand zurück. Stille brach herein und weder gute noch schlechte Laune fanden genug Halt für weitere Bemerkungen und Kommentare. Stattdessen sahen sie einen Schatten in die Waffenkammer verschwinden. „Patrouille?“ Die Hoffnung, nicht auch noch mit noch irgendeinem vorwitzigen Dieb konfrontiert zu werden, hing unausgesprochen in der Luft. Hatte es nicht gereicht, dass dieser schwarze Lockenkopf kürzlich erst hier herum geschnüffelt und dann obendrein auch noch ausgebüchst war? Kommandant Urthada hatte den gesamten restlichen Tag getobt wie ein irrer Stier und alles und jeden hatte er anschreien müssen, das man glaubte, einem würden gleich die Ohren bluten. Doch dann bog ein Wächter um die Ecke, trotz Regen sein Liedchen pfeifend und alle Hoffnungen schienen dahin. „He, du da!“ plärrte der Nörgler herunter und machte den Mann unten auf sich aufmerksam, „Schau mal in der Waffenkammer nach!“ wies er ihn weiter an und klopfte auf seine Armbrust, als Zeichen, vorsichtig und kampfbereit dort hinein zu gehen. Er selbst legte das schwere Gerät auf das Gebälk des Hochstandes und zielte auf den Eingang. Sollte sein Kamerad einen Dieb hinaus jagen, würde er ihn erwischen - mit dem Bolzen in der Brust ließe er sich zwar nicht mehr befragen, aber das wäre vielleicht auch ganz gut für Urthadas Blutdruck. Der Wächter am Boden riss die Tür abrupt auf, den Rundschild vor sich und das Schwert zum Stoß direkt daneben hervor lugend. Vorsichtig trat er über die Schwelle des lächerlich schlechten Ziegelbaus. Ximasxi war schon zuvor an den Lagerhallen der Belagerungswaffen aufgefallen, wie schlecht hier gearbeitet worden war. Viele Ziegel machten noch lange keine solide Mauer. Zu wenig Mörtel, die Fugen zu groß und breit. Vermutlich hatte man nie mit Eindringlingen gerechnet. Es ging nur darum, die Waffen vor Sichtung und schlechtem Wetter zu verbergen. Aber schon ein kräftigerer Sturm würde genügen, damit seine Winde alles hier zum Einsturz brachten. Vielleicht war das ja der Grund für den knapp bemessenen Zeitplan? Es erleichterte auch die Arbeit, dieses Lager wieder abzubrechen ungemein. Sie warteten einfach auf besagten Sturm, der ließ die Hütten einstürzen, fegte die Hochstände auseinander und in den Monaten darauf würden die Armen und Bettler das Arbeitsmaterial ins Armenviertel schleppen und dort nach und nach in die Ruinen ihrer zerbröselnden Häuser einbauen. Nachträglich könnte seine Majestät sogar behaupten, in einem Akt reinster Großzügigkeit gegenüber den Ärmsten der Armen diesen kostenlos Baumaterial zur Verfügung gestellt zu haben. Und die Mehrheit würde diesen Köder sogar schlucken, weil er bequemer war als die Wahrheit. Mit solchen und anderen Gedankengängen versuchte sich Ximasxi abzulenken, während der Magier sie unerträglich dicht an sich gepresst hielt. Am liebsten hätte sie ihm das Gemächt abgerissen und ihm so tief in die Kehle gestopft, dass er daran erstickt wäre, noch bevor der Blutverlust ihn fällen konnte! Doch leider hatte sich die Entdeckung als höchst hinderlich erwiesen. Sie hätten es nicht einmal mitbekommen, hätte der Schütze nicht über den ganzen Platz hinweg geplärrt, um eine Patrouille auf sich aufmerksam zu machen und zu lotsen. Doch das grundlegende Problem blieb: Die Kammer war gewaltig, aber übersichtlich. Die Rüstungsständer befanden sich am Rand oder in kleinen, dicht geballten Grüppchen, die Regale dazwischen trugen die Piken, Hellebarden, Schwerter, Lanzen, Bögen, Armbrüste, Bolzen, Pfeile, Dolche, Schilde, alles, was das Herz begehrte. Aber überall konnte man durchsehen. Nichts, wohinter man sich hätte verstecken können, gar nichts. Das war der Moment gewesen, in dem sie zerknirscht die Hilfe des Magiers hatte annehmen müssen. Schrecklich genug, dass sie auf ihn angewiesen war. Sie traute ihm noch immer nicht, weshalb sie auch den Dolch gezückt und dicht an seinen Bauch gedrückt hielt. Doch er hatte auf dem Markt offenkundig mehr gekauft, als notwendig gewesen wäre. Irgendein magischer Schnickschnack, dessen Wirkung zu spüren sie fast wahnsinnig machte. Ein unangenehmes Stechen und Prickeln, als würde eine Horde wütender Ameisen unter ihrer Haut toben. Doch die Magie war effektiv. Servatius hatte versucht, es ihr zu erklären. Irgendetwas mit umgelenktem Licht. Das Ergebnis war lediglich, dass sie unsichtbar blieben. Allerdings gab es wohl eine gewisse Verzerrung, weshalb sie dennoch erpicht darauf sein sollten, außerhalb seines Sichtbereiches zu bleiben. Der Wächter schritt direkt vor ihnen vorbei, standen sie doch quasi neben der Tür, sah sich genau im durch ein paar wenige Öllampen beleuchteten Raum um und trat dann wieder hinaus. „Nichts!“ rief er seinen Kollegen hinauf und setzte seinen Rundgang fort. „Ich bin doch nicht blöde! Du hast es auch gesehen, oder? Da war jemand!“ widersprach der Nörgler. Der andere Wächter klopfte ihm lächelnd auf die Schulter und schüttelte den Kopf. „Lass gut sein. Deine Schicht war lang, du siehst Gespenster. Das kann auch einfach nur ‘n Marder gewesen sein. Du weißt, wie die Häuser gebaut sind, die würden es nicht mal aushalten, wenn du dich dagegen lehnst. Vermutlich hat er sich ein Loch gebuddelt oder ist durch eines im Mauerwerk wieder raus.“ „Das war doch kein Marder!“ protestierte sein Begleiter und wies auf die Größe des Schattens hin, den der Zweite kaum noch hatte sehen können. Ja, sicherlich, irgendwas hatte er gesehen. Aber eine Person auf vier Beinen? Lächerlich. „Dann war’s eben ein Hund, mir doch egal. Geh jetzt endlich runter und schlaf dich aus. Und schick mir Hans hoch!“ Während sich draußen die Lage entspannte, löste sich im Inneren die Gildendiebin von ihrem vermeintlichen Retter und schüttelte sich vor Ekel. „Das da früher zu erwähnen war nicht nötig, weil…?“ fauchte sie ihn bitterböse an. Servatius jedoch zuckte lediglich lächelnd mit den Schultern. „Weil es ein Spielzeug ist. Einmalige Verwendung. Ich wollte es eigentlich in die Heimat nehmen und damit eine Dame beeindrucken. Dass ich es nun für ein Scheusal verschwende, war nicht geplant, aber es freut mich auch, dass wir unentdeckt geblieben sind. Ich nehme euren unterwürfigsten Dank selbstredend an.“ Gereizt fauchte die Gehörnte dem blasierten Bastard entgegen, der lediglich weiterhin abfällig lächelte und sich im Raum umsah. Schließlich, nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte, fokussierte er wieder die Diebin. „Nun, so sehr ich charmante Gesellschaft auch schätze, sofern ihr nicht vorhabt, mir gefällig zu sein, auf die Knie zu sinken und eure gottbestimmte Aufgabe als Weib zu erfüllen, würde ich doch nun wirklich vorschlagen, dass ihr nicht meine Zeit verschwendet und das Weite sucht. Das hier,“ hob er an und zog eine kleine Reihe von Gläsern hervor, die ungemein zerbrechlich wirkten, „sollte wohl selbst für so ein Ding wie euch tödlich sein. Oder zumindest sehr ungesund. Also tut uns den Gefallen, geht raus und spielt ein wenig herum. Ich werde hier eine Weile brauchen. Ihr könntet beispielsweise herausfinden, ob sich die Ziele der Elbe noch am vorgesehenen Ort befinden. Nun?“ Sie zitterte und Servatius sah das. Sie rang mit sich, sie versuchte alle Beherrschung in die Waagschale zu werfen, die sie hatte. Das Problem war, dass sie nicht über so viel verfügte, wie möglich gewesen wäre… einfach, weil sie sich im Grunde gar nicht beherrschen wollte. Sie wollte dagegen viel lieber über diesen Hurenbock herfallen, ihn zerfetzten, sein Innerstes nach außen kehren und- „Schon weg“, zischte sie bitter und suchte tatsächlich das Weite durch die Hintertür der Anlage. Servatius dagegen, endlich für sich allein, setzte sich erst einmal und klopfte sich die gröbsten Erdbrocken von der Kleidung. „Gute Güte, das sieht fürchterlich aus“, konstatierte er beim Anblick der Flecken aus Dreck und Wasser. Und Dreckwasser. Ein schweres Seufzen rang er sich ab, ehe er sich wieder erhob. Je schneller das sein Ende fand, umso besser. Er öffnete lediglich die Ampullen vorsichtig, alle kerzengerade haltend. Eine nach der anderen, langsam und sorgsam. Dann, als wäre alles zuvor nur unnützes Schauspiel gewesen, warf er die Ampullen quer durch den Raum. Einzeln schleuderte er sie in unterschiedliche Teile des Raumes, wo sie am Boden zerschellten und die Flüssigkeit verdampfen ließen, die nicht unterwegs schon durch die Rotation das Gefäß verlassen hatte. Die Schwaden des Gases waren hochgiftig, noch zumindest. In einer Stunde würde man hier drinnen die beste, frischeste Luft vorfinden. Als alle Ampullen zerstört waren und die für den Moment noch in zartem Grünton sichtbaren Schwaden sich im Raum immer weiter auszubreiten begannen, zog sich der Magier durch die Vordertür wieder zurück. Wie lange für diese kleine Missgeburt wohl eine Weile war? Zweifelnd sah sich der Magier um. Hier zu warten war sicherlich unklug…   „Tawnie?“ „Hm?“ Das Gnommädchen wandte sich freundlich lächelnd um, als sich die Elbe neben sie setzte. Eloen mochte ihre aufgeschlossene Art. Sie war eine begnadete Zeichnerin, eine Konstrukteurin… oder irgendetwas in der Richtung. Jedenfalls war sie weder Dieb noch sonst eine Anhängerin der zwielichtigen Branchen. Dennoch saß sie neben einer Assassinin. Neben einer Frau, die trainiert war und ihr Geld damit verdiente, andere je nach Auftrag zu töten. Aber mangelte es ihr an Umgangsformen? Sah sie Angst in ihren Augen schimmern? Zurückhaltung? Nein. Nicht die geringste Spur. „Gibst du mir die Pläne?“ erkundigte sich Eloen. Natürlich wollte Zunders Freundin erst einmal wissen, warum sie die Tasche aus der Hand geben sollte, doch als die Attentäterin ihr erklärte, sie würde sie vorsorglich schon einmal zu Jalil bringen und ihm erklären, dass die erste Runde exzellent und komplett nach Plan verlaufen war, nickte das junge Ding freudig. „Aber natürlich, da! Grüß ihn auch schon und sag ihm, er soll sich irgendwo unterstellen. Das Wetter wird bestimmt noch schlimmer! Hm. Magst du Zunders kleines Dings auch gleich mitnehmen? Er hat es in einer der Hallen aus einer Schatulle ausge…graben. Gewissermaßen.“ Kaum aber, dass sie das Schmuckstück erwähnte, mischte sich der Goblin empört ein und grabschte es aus Tawnies Hand hinfort. „Nix da, ist meins!“ protestierte er und verwies abermals darauf, dass sie sich doch einen eigenen Schatz suchen sollte, wenn sie unbedingt einen haben musste. Seiner jedenfalls bliebe ganz bestimmt bei ihm, jawohl, damit würde er wunderbare Dinge und total tolle Experimente anstellen… oder es verkaufen und mit dem Erlös wunderbare Dinge und total tolle Experimente finanzieren! Jedenfalls würde es etwas mit Experimenten zu tun haben, dessen war sich der kleine, grüne Holzkopf sicher. Eloen schmunzelte über die fast kindisch-trotzig wirkende Art des Goblins. Ob sie etwas sagen sollte? Aber sie wollte die beiden nicht verstören. Oder ihnen ihre gute Laune trüben. Nein, nein - besser sie ließ es, wie es war. Die Elbe nahm die Tasche an sich, dankte und wollte sich schon abwenden, als sie sich noch einmal herab beugte. Sie strich dem Gnommädchen über die Wange und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze. „Wirklich, du bist prima! Ich kann dich gut leiden“, erklärte sie Tawnie mit einem milden Lächeln. Die kicherte einen Augenblick und lächelte dann glückselig. „Ich dich auch!“ „Und ich?“ mischte sich Zunder quengelnd ein. Eloen wandte sich daraufhin ab und verließ geduckt im Schutz der Dunkelheit die Grasnarbe. Hinter sich hörte sie das Gespann zanken, wie so oft. Tawnie warf ihm vor, dass sie die gefälligst die Einzige wäre, deren Küsse er je abbekommen würde, woraufhin sich Zunder zunächst zur Wehr setzte, dass er ja eigentlich auch nur davon gesprochen hatte, wer hier wen alles gut leiden könne. Dann jedoch wechselte er die Strategie und warf ihr stattdessen vor, was denn mit seinen Küssen und ihr wäre, ob da Sonderregelungen gelten würden. Das Gezanke war noch ein paar Meter zu hören, glücklicherweise nicht weit genug für die Schützen im Hochstand und bald schon auch nicht mehr für Eloen, die in der Nacht in Richtung Südtor verschwand. Eine ganze Weile war die Elbe schon fort, da schlich sich ein anderer Schatten auf die Kuhle zu. „Zunder! Deckung!“ flüsterte Tawnie erschrocken und zog den Kopf ein, an ihrem Werkzeuggurt nach dem schweren Schraubenschlüssel greifend. Sie war bereit, jeden anzugreifen, falls es nicht Ximasxi war… oder… naja gut, den Magier vielleicht auch nicht. Unbedingt. Nicht sofort. Plötzlich hörte sie Zunders Stimme hinter sich. „Weißt du… ich… ich bin es wirklich… wirklich so unendlich leid… dass du mich ständig herumkommandieren musst!“ krächzte der Goblin irgendwo im Nachtdunkel. Seine Stimme klang so… fremdartig. All die Wärme, der Witz seines genialen Geistes schien daraus gewichen. Was sich darin noch fand, war Zorn. Nur noch Zorn. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu sprechen? Nach allem, was sie für ihn getan hatte? Nach all den Experimenten und deren Ergebnissen, vor denen sie ihn bewahrt hatte? „Vielleicht wäre das nicht nötig,“ setzte sie nicht weniger gereizt an, „wenn du nur einen Funken Verstand in deiner riesigen Rübe hättest!“ Hastig wandte sie sich um, wehrte mit dem Schraubenschlüssel einen Schlag Zunders mit einem kleinen Lötkolben ab. Mit der Rechten zückte sie einen Schraubenzieher aus ihrem Gürtel und brachte den Goblin auf Abstand. „Das wirst du noch bereuen!“ fauchte sie wütend.   Er war weg. Natürlich war er das, er hatte ja auch die Gruppe verraten, nicht wahr? Ximasxi hatte nur den Kopf durch die Hintertür hinein strecken müssen um zu bemerken, dass ihr irgendein widerwärtiger Geruch entgegen kam, der unmöglich gesund sein konnte. Vielleicht hätte sie daran früher denken sollen? Er hatte sie auf die Konsequenzen der Reagenz hingewiesen. Wenn sie das also nicht überlebte, wie sollte er dann? Nun, sie war davon ausgegangen, dass seine Magie ihm schon irgendwie helfen würde. Dazu war er ja schließlich Magier, oder nicht? Außerdem, war sie nur einen Augenblick ehrlich zu sich… so tragisch hätte sie einen Verlust gar nicht empfunden. Und hätte er nicht auch von sich aus den Mund aufmachen können? Er schien ja so schon kaum fähig, ihn wieder zu schließen, sobald er einmal in Fahrt war. Hätte er nicht irgendwo in seiner Rede voller Hohn, Spott und Beleidigungen den Vermerk einbringen können, dass er dieses Raumes ebenso würde flüchten müssen, wenn erstmal sein Werk getan war? Vorsichtig schlich sich die Diebin um das Gebäude herum, doch auch an der Vorderseite war Servatius nirgendwo zu sehen. Nun hatte sie also ausgespäht, dass zumindest der Schatzmeister Sundergrads und Urthada beide im großen Zelt sein mussten - immerhin hatte sie verfolgt, wie jemand den Befehl bekam, eine Information zu überbringen und der war auf dem Weg zum Kommandanten in eben dieses gelaufen - und hatte im Gegenzug ‚ihren‘ Magier verloren. Mit etwas Glück war er zum Sammelpunkt zurückgekehrt. Falls nicht, würde sie ihm jeden Knochen einzeln brechen, beim Nachtvater, sie würde, ganz egal wie unentbehrlich er war! Mit gebrochenen Knochen war man ja noch nicht zwangsläufig tot, nicht wahr? Einmal mehr begann das leidige Schauspiel, das perfekte Timing abzupassen. Zwischen den Rundgängen von sechs Männern auf drei Hochständen und drei Männern auf Patrouille schlüpfte sie auf allen Vieren hinüber hastend durch die Maschen des Netzes und schlüpfte ebenso behände durch den Korridor hinaus. Sie eilte sich sogar dann noch, als sie unmöglich von den Wachen hätte gesehen werden können. Zwei von drei Zielen waren erfüllt. Sie würde nur noch die Elbe ins Lager eskortieren müssen. Vielleicht wäre es ganz klug, für Zwischenfälle und dergleichen einen alternativen Sammelpunkt zu vereinbaren? Andererseits, Eloen war von allen, die an dieser Sache teilgenommen hatten, noch die mit dem höchsten Grad an Professionalität. Von einer Attentäterin erwartete Ximasxi einfach, dass sie sich entsprechend verhielt, die Regeln, die Grundsätze und sogar die Feinheiten von Infiltration und Flucht kannte! Schließlich kam sie an der Bodenwelle ihres gemeinsamen Versteckes an. Der Regen hatte immer weiter zugenommen. Man versuchte im Lager die großen Feuer dagegen anleuchten zu lassen, indem man mehr Öl hinein gab, während die meisten Pechfackeln, die nicht direkt durch ein Dach geschützt waren, längst ihre Flamme verloren hatten. Das führte letztlich zu noch mehr größeren, helleren Feuern und dazwischen noch mehr umso dunkleren Flächen. Ein Spaziergang im Grunde, das Licht ballte sich dicht zusammen und rang mit der Nacht um die Vorherrschaft - ein kläglicher, ein lächerlicher Versuch des Aufbegehrens. Der Nachtvater siegte immer. Als der Tiefling am Sammelpunkt ankam, fluchte sie hörbar. „Das darf nicht wahr sein!“ zischelte sie und blickte zu Eloen herüber. Die Elbe saß seelenruhig auf der anderen Seite der Kuhle, auf dem Kamm des Erdwalls und wartete. Von Servatius fehlte natürlich jede Spur. „Er hat uns verraten. Wir bringen das zu Ende und verschwinden!“ wies der Dämonensprössling an. Die Attentäterin erhob sich, ein ernstes Gesicht tragend, und schritt neben Ximasxi, bereit, den letzten Lauf zu bewältigen. „Wir sollten sie zu Jalil schicken. Je früher wir verschwinden, umso besser. Sie sind hier eh fertig“, schlug die Gehörnte vor und blickte die Elbe verwirrt an, als diese ihre Worte mit Nachdruck wiederholte. „Allerdings, fertig sind sie.“ Erst jetzt nahm sich die Gildendiebin Zeit. Sie kniff die Augen zusammen, fokussierte ihren Blick in die dunkle Kuhle… und selbst sie musste einen Moment schwer schlucken. In Zunders Hals steckte ein Schraubenzieher. Bis zum Anschlag in das weiche Fleisch getrieben. Die Wunde wirkte, als habe man sogar noch daran herum gerissen. Ähnlich schwere und tiefe Löcher klafften quer über seinen Körper. Tawnie dagegen lag neben ihm. Man sah ihr nicht eine Wunde an… weil sie auf dem Bauch lag. Doch die spezielle, einzigartige Schattierung des Schwarzes, welches sich in der Wasserpfütze am Grund der Kuhle sammelte, bezeugte die Menge an Blut, die dort nicht fähig war, einfach im Boden zu versickern. Zweifelnd blickte die Diebin zu Eloen auf. Eine Attentäterin… eine Mörderin… aber eine Professionelle. Assassinen richteten nicht solch eine Schweinerei an. Wenn sie das konnten, töteten sie sauber, schnell und am besten laut- und spurlos. Das hier, das war ein verdammtes Schlachtfest gewesen. Aber wieso? Wieso jetzt? Wieso hatte dieser Bastard sie nicht ins Messer laufen lassen, als sie gemeinsam in der Rüstungskammer festsaßen? „Wenn ich raten soll,“ hob Eloen mit einer niedergeschlagenen Stimme an, „hat Aedan mit dem Zirkel einen Handel über ein Schmuckstück vereinbart. Das Heer zieht südwärts, wird aufgerieben und dem Sieger gehört die Beute. Aedans Leute beschaffen das Armband und geben es weiter. Im Gegenzug hilft Servatius bei… dem hier. Aber Zunder hat’s ausgegraben. Er hat es schon vorher gefunden. Ich denke… Servatius hat uns einfach ausgespielt. Wollte wohl schauen, durch wen er schneller an das Ding heran kommt.“ Eloen hatte nicht gelogen. Sie hatte Tawnie wirklich gemocht, ihren Freund ebenso, doch… was hätte sie tun sollen? Servatius wusste, wo der Treffpunkt war. Er hätte sie eingeholt, hätte sie die beiden schon vorgeschickt. Dann wäre Jalil jetzt sicherlich auch tot. Und sie allein? Die zwei gegen einen Kraftmagier verteidigen? Vielleicht wäre es möglich gewesen, aber dann hätte das Lager den Krawall bemerkt und die Aktion wäre aufgeflogen. Es gab hier noch einen Auftrag zu erfüllen, dafür hatte ihre Gilde sie hergeschickt. Das Einzige, was sie für die Zwei hatte tun können war, ihnen das Schmuckstück hier zu lassen. Das hätte ihren Tod schneller machen sollen. Leidloser, so hatte die Elbe gehofft. Er brachte sie um und bekam, was er wollte. Doch danach sah es nicht aus, nicht wahr? Hätte er das Amulett nicht mehr vorgefunden, hätte er vermutlich Himmel und Höllen in Bewegung gesetzt, um Jalil abzufangen, um Ximasxi zu stellen, um sie selbst gefangen zu nehmen. Nur wegen dieses Tands. Wussten die alten Götter, was das Ding konnte, das der Zirkel so verrückt danach war. Wäre das Amulett nicht dort gewesen, er hätte die beiden gefoltert. Gequält. Aber ihre Mühen, sie davor zu schützen, schienen gescheitert. Für Ximasxi, die nach und nach die Zuammenhänge begriff, auch Eloens Sichtweise zu begreifen begann, wurde alles noch viel schlimmer. Ihr erstes richtiges Kommando über eine größere Gruppe, mit dem Einsatz von Experten und Mitgliedern anderer Organisationen und sie… führte sie alle in den Tod. Die ganze Zeit über hatte sie genau gewusst, dass dieser Schlange nicht zu trauen war. Aber sie hatte auf Beweise gehofft. Auf etwas Handfestes. Selbst jetzt sah es so aus, als wäre einfach nur eine der unzähligen Streitereien eskaliert. Aber wer die beiden je hatte streiten sehen und hören können - und dazu hatten sie in den vergangenen Tagen genug Gelegenheit gehabt -, der wusste einfach, dass sie sich viel zu sehr geliebt hatten, um einander auch nur ein Haar zu krümmen. Sie gab es ungern zu… doch sie hatte die beiden ebenfalls gemocht. Jeder auf seine Weise hatte sie an ihre erste richtige Freundin erinnert. Luzula, die aufgeweckte keine Zwergin mit nur einem Arm und ihrer merkwürdigen Art, über Kohlewagen und Zahlen zu reden. Gerade Tawnie hätte ein kleineres, schmaleres Abziehbild der aufgeweckten Zwergin sein können. Nun lagen beide tot und durchlöchert in einem Graben. Sie bemühte sich darum, sich auf die Sache zu konzentrieren. Alles drohte aus dem Ruder zu laufen, alle Pläne kippten. Dabei war der Auftrag doch erfüllt, nicht wahr? Die Maschinen waren sabotiert. Servatius konnte nicht wissen, wo oder wie. Der Zeitplan würde einen Austausch der Belagerungswaffen auch nicht mehr erlauben. Die Waffen waren präpariert… oder hatte der Magier das nur vorgetäuscht? Selbst wenn, es gab noch einen Punkt zu erfüllen. Selbst wenn sie den Auftrag nicht mehr vollständig würde abschließen können, so konnte sie für Sundergrad, für die Gilde, für ihren Meister Aedan, doch noch immer das Beste herausholen, was möglich war. Dazu müsste sie ‚nur‘ Eloen ins Lager bringen. Drei Attentate, drei Tote und sie hätten alles getan, was in ihrer Macht stünde. Ob sie dabei sterben würden? Können war ein hoher Wert, der vieles garantieren konnte. Aber konnte er auch das Überleben gewährleisten, wenn man so etwas beabsichtigte, wie sie es nun mit der Elbe im stummen Blickwechsel plante? „Darf ich mir einen Glücksbringer holen?“ erkundigte sich die Assassinin. Ximasxi zuckte mit den Schultern. Ihr war egal, ob sie die Leichen plünderte. Tote brauchten ihre Habe ohnehin nicht. Sehr zu ihrer Überraschung jedoch trat die Elbe plötzlich näher, viel näher, zu nahe. Sie hob, eher aus einem Reflex, bereits die Klaue und wollte weichen, lehnte sich zurück, doch die geschickte Elbe hatte sie schon mit der Rechten im Nacken gefangen und ihre Linke hielt das Handgelenk des Tieflings davon ab, die Krallen durch ihr Fleisch zu jagen. Völlig erstarrt blickte die Gehörnte ihr Gegenüber an, spürte ihre Lippen, die unerwünschte Nähe… die Zunge, die sich in ihren Mundraum schob und ihre Eigene anstupste. Sie hätte zubeißen können. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihre Zähne waren scharf und spitz, sie hätte ihr elendig ein gutes Stück Frechheit abreißen können! Doch sie tat es nicht. Stattdessen ließ sie die forsche Elbe gewähren, hob ihre Zunge ein Stück weit und ließ dennoch mehr oder minder unbeteiligt geschehen, was vor sich ging. Als sich Eloen wieder von ihr löste, lag in ihrem Blick keine Reue. Keine Entschuldigung wurde geflüstert, nichts. „Sie ist wirklich gespalten… unglaublich…“ hauchte sie schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit leise und lächelte zufrieden, „Danke. Wir sollten jetzt los.“   Kein Wort ging darüber verloren, was sie in der Grube zurück ließen. Kein Wort, wie aussichtlos ihre Lage inzwischen geworden war. Noch nicht einmal darüber sprachen sie, wo sich Servatius wohl aufhalten mochte und dass es ebenso denkbar war, dass er das Weite gesucht hatte - er besaß ja nun immerhin alles, was er wollte und wofür er gekommen war -, als auch, dass er Urthada längst von den Attentatsversuchen und den genauen Zielen unterrichtete. Was davon zutraf, würde sich nicht einfach nur zeigen, wenn es soweit war, nein: Es spielte auch absolut keine Rolle. Eloen und Ximasxi waren beide Experten ihrer Profession. Sie waren beide hier, um das Band zwischen ihren Gilden wieder zu stärken und Sundergrad als die Macht abzusichern, frei und unabhängig, die sie inzwischen geworden war. Kein Zurück. Sie konnten sich lediglich auf ihr Können verlassen und… hoffen. Auf Glück, auf einen, wenigstens einen funktionierenden, reibungslos ablaufenden Plan. Im Geiste betete die Gehörnte zum Nachtvater, er möge schützend die Hand über sie halten. Eloen… nun, die konnte ja wohl für sich selbst beten! Tatsächlich tat die Elbe das sogar. Sie rief jedoch Lenikki an und erbat sich nicht einfach nur ein Gelingen ihrer unsicheren Route zum Ziel, sondern allem voran auch die glückende Flucht - jedoch für sich und den Tiefling. Ob der Affengott ihr hold war oder es amüsanter fand, wenn sie ins offene Messer rannte, würde sich zeigen müssen. Rasch schlich sich das Duo durch die schlechte Beleuchtung der Eintrittsstelle. Niemand sah die zwei Schatten, die agil durch das Zwielicht glitten und lautlos zwischen den ersten Hallen verschwanden. Ein Zeitfenster von ein paar Sekunden genügte ihnen völlig, um sich in geradezu beeindruckender Geschwindigkeit und dennoch vollkommen lautlos unter allen Blicken hindurch zwischen zwei Patrouillen auf die andere Seite des Streifens zu begeben. Von dort aus führte der Weg über einen kleinen Abhang hinunter auf die Ebene, auf der die Soldaten untergebracht waren. Der Proviant, die Planwagen, schlichtweg alles andere. Das Zelt der Führungsoffiziere stand fast zuvorderst. Ohne Mühe hätte man eine der Lagerhallen darin unterbringen können - und das für kaum mehr als ein Dutzend Personen. Die Gilden der Attentäter und Diebe hatten eine lange Vergangenheit und sie war an weit mehr als nur einer Stelle eng miteinander verknüpft. Das hatte irgendwann dazu geführt, dass man gemeinsame Operationen unternahm und sich damit unweigerlich auch auf gemeinsame Zeichen zur Verständigung einigen musste. Die Kodizes, mit denen sie zu Werke gingen, glichen sich daher fast vollständig und unterschieden sich lediglich in einzelnen Bereichen, die doch sehr auf die jeweilige Gilde spezialisiert waren. So brauchte ein Attentäter keine Zeichen dafür, auf welche Weise man ein Schloss öffnete oder etwas aus einer Tasche holte, während ein Dieb nicht die Tötungsart wortlos umschreiben können musste. Nun jedoch, da beide, Diebin und Attentäterin, gemeinsam an der Rückwand des Zeltes angelangten, verständigten sie sich über eben dieses Signalsystem. Der Plan war ursprünglich gewesen, dass Ximasxi für Ablenkung sorgte und Eloen ihre Arbeit erledigte. Doch die Attentäterin war schmal und schmächtig, sie war auf ihre Gifte und wenige, präzise Treffer angewiesen. Würde Servatius jedoch tatsächlich im Lager herumstreunen oder hätte gar längst Urthada und die Offiziere gewarnt, so war der Überraschungsmoment verschenkt und darauf zu hoffen närrisch. Wenn sie ihre Arbeit gut machten, brauchten sie gar keine Ablenkungsmanöver, die unnötig Staub aufwirbeln und schläfrige Sinne schärfen würden. Begingen sie jedoch ohnehin einen Fehler, war es eh vorbei - entsprechend einigten sie sich rasch darauf, dass das Tieflingsweib mit hinein ging, um Eloen den Rücken frei zu halten und im Notfall… selbst den Streich zu führen. Mit einem möglichst leisen und daher langsamen Schnitt ihrer Krallen trennte sie eine Zeltrückwand auf. Dahinter hatte kein Licht mehr gebrannt, gleichwohl wie in den Kammern daneben. Derbe, schwer durchschaubare Leinenwände, die bestenfalls Silhouetten erahnen ließen, trennten die Zellen der Offiziere voneinander. Allerdings war ihnen entgegen der Hoffnungen beider nicht vergönnt, in eine leere Zelle zu schlüpfen. Der schmächtige Bursche darin schlief lediglich und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Geräusche von draußen oder ein kühler Luftzug wecken würden. Die Einigung war schnell erzielt… und das Leben des Burschen ebenso schnell beendet. Die Finger dicht auf seine Lippen gepresst, harrte die Elbe aus, bis das Nervengift wirkte. Nur wenige Sekunden des Verkrampfens, dann erschlafften seine Glieder bereits. Weiter pirschten sie sich. Jalils Informationen hatten lediglich die ungefähre Position des Schatzmeisters enthalten. Neben der Aufklärung diente ihnen zur Orientierung lediglich, was ihm Aedan über das Äußere mitgegeben hatte, doch schwerlich konnten sie in jede Zelle lugen und prüfen, ob zufällig der richtige Mann darin wäre. So war zumindest die Theorie. In der Praxis jedoch hatten sie schon rasch erkennen müssen, dass ihnen im Grunde nichts anderes übrig blieb, weshalb sie damit begannen, die dunklen Abteilungen zuerst zu kontrollieren. Leer oder schlafend, bei vier Gelegenheiten fanden sie nicht, wen sie suchten - bei der Fünften schon. Ximasxi harrte in professioneller Geduld hinter dem Einlass der kleinen Kabine aus, während die Attentäterin ihr erstes Opfer in den ewigen Schlaf geleitete. Gleichermaßen unschön anzuschauen, wie es das auch beim ersten Mal der Fall gewesen. Wieder draußen auf dem kleinen, provisorischen Gang inmitten des Zeltes, blieben ihnen noch zwei Opfer zur Wahl. Urthada als Kommandant dieses Heerlagers und Befehlsführer des Angriffes und der ominöse Fremde. Schon als sie eine dunkle, tiefe Stimme nahen hörten, ahnte Ximasxi, das ihr Auftrag im Begriff war, noch eine Spur schwieriger zu werden. Sie kehrten rasch in das Zelt des Buchführers zurück und schlossen es so gut sie konnten. Eloen verbarg sich unter dem Bett des Verstorbenen, Ximasxi drückte sich flach an den Boden. Obwohl es dunkel war, konnte keiner von beiden ausschließen, dass das Licht aus dem Korridor nicht genügen würde, ihre Umrisse zu erkennen - in dem Fall wirkte es wie einer, der vor Feierlaune das Bett nicht gefunden oder sich in einem Alptraum heraus gerollt und selig auf der Erde weitergeschlafen hatte. Beides war völlig in Ordnung, solange nur Panaver nicht auf die Idee kam, nachzuschauen - denn kein geringerer als ihr Ziel marschierte mit einem Soldaten an seiner Seite prompt an ihnen vorbei. „Mir egal, was er will. Wenn es nicht wichtig ist, reiße ich ihm den Kopf ab!“ grollte der Befehlshaber und verschwand jenseits des Zeltes in der Lagerstadt. Damit wurde er zumindest für den Augenblick nahezu unangreifbar, denn dort draußen warteten mehr Pfeile, Bolzen und Klingen, als sie beide zu überwinden und zu umtänzeln fähig waren. Das Schicksal, so schien es, hob zumindest vorläufig noch seine schützende Hand über die Ausgeburt der Skrupellosigkeit und bevorzugte damit das Verscheiden des Fremden. Sein Quartier wiederum war rasch gefunden. Noch immer brannte Licht in der kleinen Zelle, die dreimal so groß war wie alle anderen abgegrenzten Bereiche. Das musste es einfach sein! „Tretet nur ein“, erklang plötzlich eine Stimme aus dem Inneren. Erschrocken wechselten Ximasxi und Eloen Blicke, ehe sie sich beide wieder fassten. Sie waren also erkannt worden. Vielleicht nicht als Attentäter, aber das würde gleich folgen - sie würden diesen Auftrag zu einem Ende bringen! Doch schon als sie den Vorhang durchschritten, versagte dieser Mut. Bei beiden.   „Was soll das?“ fauchte Panaver, als man jemanden… nun, zu ihm eskortierte. Eigentlich hatte er Handschellen verlangt. Er ging von einem Gefangenen aus, als man ihn darauf hingewiesen hatte, der Verräter sei zur Stelle, um endlich seinen Teil des Geschäfts zu erfüllen. Urthada wusste, dass das Heer morgen abrücken würde. Er wusste es so gut wie jeder andere hier, so gut wie die Saboteure ebenfalls. Er gedachte sich nicht länger hinhalten zu lassen und nun endlich, da der Dummkopf direkt in sein Lager spaziert war, war er obendrein nicht nur erkannt worden, sondern greifbar! Er würde zur Not alles, was er benötigte, aus ihm heraus bekommen. Egal wie! Doch nun brachten seine zwei Männer diese in Wasser und Matsch gehüllte Witzfigur eines Adligen her, der wohl kaum etwas mit Mördern und Dieben zu tun hatte. „Danke. Ihr könnt jetzt gehen“, ließ Servatius leise verlauten. Daraufhin kehrten sich die Burschen mit leeren Blicken ab und verschwanden irgendwo zwischen den Zelten, während der Geistmagier seine Taschen leerte. Einige Steine kamen zum Vorschein. Utensilien, die er in der Hexenkiste gekauft hatte und sie sich im Verlaufe dieser Farce als unersetzlich erwiesen hatten. Zwei davon ließ er ungeachtet in den Dreck fallen. Einer hatte sie vor dem Wachmann in der Rüstkammer verborgen… der Zweite hatte sich in seiner linken Tasche befunden, als er den Stuhl hatte umkippen und sich bewegen lassen. Überaus nützliche kleine Dinger, um irgendwelchen naseweisen Elben vorzugaukeln, dass man nicht war, was man eben doch war. Der Rest verschwand wieder in der Tasche, noch immer drei oder vier Stück, die er einzig anhand ihrer eigenwilligen Farbgebung auseinander halten konnte. Kiesel, die man angemalt und mit einem Einwegzauber belegt hatte. Jeder Magier, der wirklich etwas auf sich hielt, kaufte bessere Artefakte als dieses Spielzeug! Aber es hatte seinen Nutzen erfüllt. „Ich gedenke einzufordern, was mir gehört. Aber ach, stimmt ja! Ihr wolltet mich inhaftieren, nicht wahr? Nun, es steht euch natürlich frei, das zu versuchen. Allerdings würde ich euch raten, eure Prioritäten zu überdenken. In diesen Sekunden schlachtet sich ein ziemlich übellauniges Pärchen durch die Reihen eurer Getreuen, mein Freund. Eine elbische Attentäterin, die auf euren speziellen Gast ganz versessen ist. In Begleitung einer alten Bekannten, wie ich vermute? Ein weibliches Scheusal, eine Dämonenbrut? Tiefinge? Mir ist eigentlich egal, wie ihr sie nennt. Ihr solltet sie jedenfalls aufgreifen, solange sie noch bei der Arbeit sind, nicht wahr? Los, kuscht euch! Ich denke, ich werde derweil wieder gehen und wir sehen einander nicht wieder. Ein guter Vorsatz, nicht wahr?“ Am liebsten, das sah Servatius ohne jede Mühe, hätte Urthada ihm die Zunge herausgerissen und noch so manches mehr angetan. Doch Fakt war: Das konnte der Kommandant gar nicht. Denn der Befehlshaber dieses Heeres war nicht länger allein in seinem Kopf und die Stimme, die dort sprach, war so unglaublich bohrend, so schmerzhaft… sie allein kontrollierte ihn. Ließ seine Miene reglos verharren, ließ ihn stehen, die Lippen öffnen, ließ ihn fragen, warum er das alles täte und ihnen helfen würde. „Oh, wie schön das ihr fragt. Nun, ich habe am Niedergang dieses Geschöpfes ein gewisses Interesse. Nichts Persönliches im näheren Sinne, ich… kann ihresgleichen einfach nur nicht leiden, ihr versteht? Oh ja, ich denke, gerade ihr versteht das bestens, wenn ich mir euer Gesicht so anschaue.“ „Geht jetzt!“ verlangte Panaver, nach wie vor nicht Herr seiner Selbst. Servatius dagegen hob beschwichtigend die Hände, verabschiedete sich in aller Höflichkeit mit einer Verbeugung und schritt wieder in die Nacht davon. Erst als er das Lager verlassen hatte, brach der Zauber über Urthada, der aufkeuchend sich vornüber krümmte. Fast ein Dutzend Männer hatte das Spektakel verfolgt, hatte es geglaubt und keiner von ihnen verstand, was plötzlich mit ihrem Kommandanten vor sich ging. „Können wir euch helfen? Herr?“ Doch der Hüne stieß die hilfsbereiten Hände mit einer rüden Geste von sich und heischte sie an, sich verdammt nochmal endlich in Bewegung zu setzen. Nur wenig später rannte auch er so rasch er das vermochte auf das große Zelt zu.   Sie kannte ihn. Eine Erkenntnis, die Ximasxi mehr schmerzte als alles andere. Völlig bar aller Furcht tat sie einen Schritt hervor, noch einen, noch einen. Sie näherte sich dem Feind. Dem Ziel. Der Person, die sie zu töten hatten, der Geheimwaffe dieser Armee. Wie aber hätte sie ihren Auftrag jetzt noch durchführen können? Sie kannte ihn! Er sah anders aus. Das Gesicht war breiter, kantiger, die Figur nicht gänzlich ausgemergelt. Doch wenn sie in seine dunklen Augen blickte, tief in die Höhlen eingesunken, dann erkannte sie darin, was sie auch damals in ihm gefunden hatte. „Natti… Natti nicht, bitte! Höre doch, wir müssen fort von hier!“ bettelte Eloen, der eine Gänsehaut nach der Nächsten den Rücken herab jagte. Einmal nur kurz musste er die Hand heben und die Elbe verstummte. Für immer. Sorgenvoll wandte Ximasxi den Blick, sah nach ihrer Begleiterin, doch sie war fort. Kein Tropfen Blut, nein. Keine Schreie, keine Schleifspuren, nichts. Sie war einfach fort. Verloren in Dunkelheit und Kälte. Die Diebin jedoch begab sich vor dem Stuhl ihres vermeintlichen Opfers auf die Knie, zitterte, als er die Hand hob. Tränen rannen über ihre Wangen, als er über ihr struppiges Haar fuhr, wirr, zerzaust, unter den Lumpen verborgen, mit denen sie sie zu verstecken versucht hatte. Er strich sie zurück, entblößte ihre Hörner, sah in ihre Augen und erblickte nur Schönheit und Nutzen, eine Fusion aus beidem, die glorreicher nicht hätte sein können. „Die Welt hat dir Schreckliches angetan, Kind. Sie versteht dich einfach nicht. Du fühlst dich allein… du fühlst dich verlassen. Du glaubst, er hat dich verlassen. Verzweifle nicht, mein Kind. Der Nachtvater hat dich erhört.“ Haltlos schluchzend brach der Tiefling unter der fürsorgenden Hand des Priesters zusammen, drängte sich an seine Beine, barg den Schopf in seinem Schoß. Sie versuchte ihr Gesicht zu verstecken, die Peinlichkeit ihrer Schwäche. Seine Worte trafen sie so schmerzhaft, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Wahr, sie waren so grässlich wahr, jede Silbe davon! Was aber, wenn er nicht log? Was, wenn der Nachtvater sie nie verlassen hatte? Eine Prüfung? Ein Missgeschick? Dummes, wertloses Menschenvieh, das in Unkenntnis seine Pläne gestört hatte? „Ergreift sie!“ dröhnte Panavers hassverseuchte Stimme hinter ihr. Sein Zorn zerschnitt die Harmonie und Eintracht, die den Raum zu fluten begonnen hatte. Selbst der Diener des Nachtvaters zog verärgert die Stirn kraus. Konnte dieser einfältige Stümper denn nicht erkennen, wie unpassend er kam? Mit einem Ruck löste sich die Diebin, ihre Lumpen wieder über die Hörner zerrend. Der Dolch landete zielsicher zwischen den Rüstungsplatten, kaum, dass sie sich unter dem Schwerthieb des ersten, nahenden Soldaten hindurch geduckt hatte. Hastig riss sie die Rückwand des Zeltes auf und stürmte hinaus ins Freie. Flucht. Sie musste fort von hier. Soldaten, sie waren überall, Wächter schrien Befehle. Ergreift sie, ergreift sie! Sie musste fort von hier. Zurück nach Hause, zurück in ihren Keller! Der Nachtvater hatte sie nicht verlassen, nicht verloren, nicht aufgegeben… oh wie hatte sie das nur glauben können?! „Auf wessen Seite steht ihr eigentlich?“ fauchte Urthada den Priester harsch an, der daraufhin lediglich mit einem drohenden Funkeln in den Augen das Haupt hob. „Und ihr?“ erwiderte der Diener lediglich, ehe er sich aus dem Stuhl erhob, das Buch auf seinem Schreibtisch schloss und sicher am Leib verstaute, „Ihr werdet dieses Geschöpf gehen lassen. Und ich begleite euch nicht länger nach Sundergrad. Meine Geschäfte hier haben sich geändert.“ Fassungslos starrte der Kommandant in das fahle, faltige Gesicht seines Gegenübers. Das musste ja wohl ein schlechter Scherz sein! Unmöglich, das war völlig undenkbar! Seine göttliche Majestät selbst hatte ihm die gesamte verdammte Hilfe zugesichert, die sich hier versammelt hatte. Das betraf die Männer, die Waffen, die Katapulte und ja, verflucht, das betraf auch dieses widerliche kleine Gerippe! „Das werden wir ja noch sehen!“ fauchte der Befehlshaber und stürmte durch den Riss in der Zeltwand davon. Ximasxi laufen lassen? Aber ganz gewiss nicht, er würde ihre Innereien auf als Dekoration auf der zertrümmerten Mauer Sundergrads verteilen, das ja, aber er würde sie ganz gewiss nicht laufen lassen! Sie hatte damals schon sterben sollen, dieses kleine Dämonenflittchen, es wurde Zeit, dass dieser Fehler korrigiert, diese Missgeburt endlich ihrem Schicksal zugeführt wurde.   Tatsächlich schien Kommandant Urthada Glück zu haben. Das gefühlt erste Mal in seinem Leben erwiesen sich die Männer, die man ihm unterstellt hatte, als fähig und reaktionsschnell. Sie hatten das kleine Miststück eingekesselt und in die Enge getrieben. Fünf Mann hatte sie bereits angegriffen, zwei von ihnen getötet, zwei schwer verletzt, als sie sich daran versucht hatten, die Lagerhalle Nummer drei zu erstürmen. Die Hauptpforte, so klärte man Panaver auf, ließ sich nur durch einen schweren Riegel von innen öffnen und die Nebentür hielt sie verbarrikadiert und gesichert. Zornig zerrte er den Wächter heran, der ihm die Lage zu erklären versucht hatte und deutete auf das Gebäude. „Mir egal, wie ihr es macht! Holt ein Katapult und schießt das Tor in Stücke, holt einen Hammer und schlagt fünf neue Eingänge, mir egal, aber bringt mir dieses Weib!“   Noch immer aufgelöst, war ihre Sicht verschwommen. Ihre Hände zitterten, alles brach über sie herein. Die Einsamkeit der letzten Tage und Wochen, ihr Leiden, alles, was sie zu verdrängen und zu begraben versucht hatte, es war wieder da. Einfach so, ungefragt, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Was also sollte sie nun machen? Blindlings war sie geflüchtet, hatte sich in dieser Lagerhalle versteckt, weil man ihr bereits zahlreich entgegen kam. Und nun? Was gab es hier schon! Holz und Metall, eingebaut in große Belagerungsmaschinen, mit denen sie nicht das Geringste würde anfangen können! Abrupt hielt sie inne. Selbst ihr unregelmäßiger, verzerrter Atem stockte einen Moment und aus aufklarenden Augen blickte sie auf die gewaltigen Wallbrecher hinüber. Zunder hatte diese kleinen Röhrchen mit dem merkwürdigen, bläulichen Gemisch immer so vorsichtig behandelt und Tawnie hatte die Tasche immer sorgenvoll im Auge behalten, wann immer es darin klimperte… weil die Chemikalien empfindlich waren. Sie hatte schon einmal ein brennendes, einstürzendes Haus überlebt. Und das hier, dessen Baustruktur war geradezu lächerlich! Kinder bauten Sandburgen, die stabiler und haltbarer waren. Bei der Menge würde es einen gewaltigen Feuerball geben. So wenig Mörtel würde die Steine nicht halten können, es würde sie wie Geschosse nach außen werfen und sie… ihr konnte die Druckwelle vielleicht das eine oder andere brechen. Aber die Flammen würden ihr nichts anhaben. Sie könnte durch ein gesprengtes Loch entkommen, während die von den Ziegeln getroffenen Wächter noch am Boden lagen. Kein schönes Szenario… aber das Beste, das sie im Moment hatte. Denn der Mann, der dort draußen herum brüllte, dass sie keine Chance mehr hatte, würde ihr keine Gnade gewähren. Das wusste sie. Hastig rappelte sie sich auf ihre wackeligen Beine, stolperte zum ersten gewaltigen Katapult herüber und begann zu suchen. Sie hatte genug Wächter am Eingang verletzt, damit sie erst einmal abwarten und sich eine andere Lösung einfallen lassen würden. Sie musste nur eines der Löcher finden, den Pfropfen entfernen und die Phiole zerstören. Vielleicht würde das in einer Kettenreaktion auch die anderen auslösen. Mehr als es versuchen und sich im Falle des Scheiterns stellen und das Beste hoffen konnte sie inzwischen ohnehin nicht mehr. Alles war gescheitert - da konnte man sich doch verzweifelte Pläne erlauben, oder nicht? „Kommandant, wir wären bereit, um-“ setzte der Wächter gerade an, da verlor sein Befehlshaber alle Geduld. „Schnauze, weg da!“ blaffte Panaver nur noch, schubste seinen Adjutanten zu Boden und zog das Schwert. Dann würde es eben wie damals laufen. Er prügelte ihre verdammte, verdorbene Seele aus ihrem Leib und diesmal würde ihm kein verdammtes Feuer in die Quere kommen. Er würde garantieren, dass sie tot war! Just als er mit dem schweren Stiefel gegen die Tür treten wollte, um sie mit Schwung aufzubrechen und das Scheusal, sollte sie dahinter lauern, gleich umzuwerfen, platzte im Inneren eine von Zunders Mischungen. Die folgende Kettenreaktion bewirkte fast, was Ximasxi sich gewünscht hatte. Ein gewaltiger Feuerball ließ das Lagerhaus regelrecht aufplatzen, hunderte Ziegelsteine schleuderten herum und verletzten zahllose Soldaten schwer oder töteten sie gar, während Panaver mit der Druckwelle mehrere Meter zurückgeschleudert wurde, dem Geschosshagel so jedoch entging. Ächzten und keuchend lag der Kommandant einige Momente am Boden, während sich für Ximasxi zeigte, worin der Fehler ihres Planes lag. Ein Großteil hatte die oberen Bereiche der Seitenwände zerstört und weggesprengt, sodass das fast nahtlos abgehobene Dach aus tonnenschwerem Gebälk und Ziegeln keinen gleichmäßigen Aufsatzpunkt mehr fand. Es rutschte, knackte, brach und barst, bis das halbe Gebäude in sich zusammen fiel und lodernd in Flammen aufging. Selbst die Steine schienen unter Kontakt mit Zunders Gemisch lichterloh zu brennen. Sein Adjutant war es abermals, der Urthada wieder auf die Beine half. Der blickte fassungslos auf die immer weiter in sich zusammenfallende, bedrohlich knackende Ruine, auf die in den Himmel aufragende Rauchsäule, die gelegentlichen Stichflammen. „Nein. Nein!“ schrie der schwarze Hüne außer sich vor Zorn. Abermals packte er den Soldaten neben sich, „Holt sie da heraus! Sofort!“ „Aber Kommandant, seht doch! Das Haus brennt, es stürzt ein! Es wäre zu gefährlich, jemanden hinein zu schicken. Sie verbrennt sowieso bald. Sie ist vermutlich längst tot!“ Alle Versuche, ihm diesen Irrsinn auszureden, scheiterten. Er konnte es sehen. Schon an der maßlosen Wut, ehe Panaver die Faust durchzog und ihn mit einem verheerenden Hieb in den Magen zu Boden gehen ließ. „Sie ist nicht tot!“ zischte der Offizier wie ein Besessener und eilte einige Meter vor. Sein Schwert vom Boden greifend, verschwand er in der immer weiter zusammenbrechenden Gluthölle. „Komm raus! Zeig dich, ich weiß, du bist hier! Komm heraus!“ keifte er so laut, dass selbst die fassungslosen Männer, die ihn im Gebäude hatten verschwinden sehen, hören konnten. Zwischen eingestürztem Mauerwerk arbeitete er sich mit dem Schwert und Stiefel hindurch, die Flammen ignorierend stieg er über brennende, massive Querbalken hinweg und quetschte sich immer tiefer ins Zentrum der Verwüstung, bis er schließlich ein kleines, nahezu unversehrtes Areal fand… auf dem sein Ziel kauerte. Sie hielt sich die Rippen mit einem Arm, dessen Schulter selbst nicht mehr recht wirkte. Im anderen Arm hatte sie bereits keinerlei Gefühl mehr, ragte ein beachtlicher Holzsplitter aus dieser Schulter hervor. An ihrem Fuß waren zwei Klauen in einer Pose abgebogen, die unmöglich gesund sein konnte - selbst für eine Dämonenbrut nicht. Ihr ach so genialer Fluchtplan, so erkannte Panaver, hatte ihr selbst beinahe das Leben gekostet. Nun, einen Fehler  gab es bei dieser Erkenntnis: das beinahe. Mit der erhobenen Klinge trat er näher, doch sie sah ihn nicht einmal an. Sie flüsterte, nuschelte irgendetwas vor sich hin. Nickte. War sie wahnsinnig geworden? Und ganz plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, krochen die Schatten zusammen, die das Feuer formte, bildeten eine Gestalt jenseits des Lichtes der Flammen. Direkt neben Ximasxi hockte plötzlich der Priester. Er kümmerte sich anfangs noch nicht einmal um die Gegenwart des Offiziers. „Nimmst du mein Angebot an?“ erkundigte er sich, fuhr mit der krankhaft dürren Hand über die tränenfeuchte Wange der Missgeburt und lächelte über ihr artiges Nicken. Schließlich richtete er sich auf und wandte sich mit einer Miene völliger Gleichgültigkeit an Panaver. „Ich habe euch doch gesagt, ihr hättet sie gehen lassen sollen. Ich nehme sie mit mir.“ Der Hüne trat vor, die Klinge drohend erhoben. Doch er wusste, selbst in seinem rasenden Zorn, dass er dieser Gestalt, so schwächlich und widerlich kränklich sie auch wirken mochte, nichts entgegensetzen konnte. Stattdessen also deutete er mit der Schwertspitze zu jenem Scheusal herab, das er schützte. „Glaube mir… ich werde dich suchen… ich werde dich jagen und ich werde dich finden, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“ Mit einem Blick auf die umliegenden Mauern zog ein zartes Lächeln auf die bläulich untersetzten Lippen des Dieners. „In der Tat.“ Sekunden später wurden die Soldaten Zeugen, wie der klägliche Rest der Lagerhalle völlig in sich zusammenfiel. Dem Kartenhaus gleich, welches am Ende kaum über die Fläche erhaben war, auf der man es errichtet hatte, blieb scheinbar kaum ein Stein auf dem anderen.   Tags darauf wurde das Heerlager geräumt. Die Armee zog südwärts vor die Tore Sundergrads und Jalil, der vergeblich auf seine Gruppe wartete, überbrachte seinem Gildenmeister einige Wochen später Tawnies Zeichnungen und alle Informationen, die er über den Ablauf des Einsatzes und den Verbleib der Mitglieder hatte. Die Armee hatte sämtliche Waffen eingehend geprüft und keine Spuren der Manipulation gefunden. Ohne es gewusst zu haben, war der Auftrag dennoch gelungen. Die Belagerungsgeräte, die verblieben waren, töteten dutzende sie umgebende Soldaten, als man damit auf die massiven Wälle der Stadt zu feuern versuchte. Als die Männer mit Leitern die Wälle zu erstürmen versuchten, konnten ihre Rüstungen den Pfeilen kaum mehr Widerstand bieten als es jedes läppische Leinenhemd vermocht hätte und ihre Schwerter brachen schon beim ersten Mal, da sie auf einen Schild oder die Klinge eines Piraten stießen. Die Geheimnisse des Buchführers Sundergrads gingen mit ihm ins Grab ein und die erhoffte Geheimwaffe setzte weder Schrecken noch Seuchen aus. Die Stadt blieb verschont, vorerst, nur ein kurzes Gefecht, bei dem einige hundert Soldaten regelrecht dahingeschlachtet wurden. Kein Krieg, kein Scharmützel - eine Schlachtbank, zu der man die Lämmer geführt hatte, die Wölfe zu sein glaubten. Panaver Urthada jedoch traf es wohl am härtesten. Er erduldete nicht das milde Schicksal eines raschen Todes in einem grausigen Gefecht. Von unzähligen Trümmern waren seine Glieder zerschlagen worden. Seinen rechten Arm würde er nie wieder führen können, wie er es gewohnt war. Ob er je wieder laufen könnte, stand sogar völlig in Zweifel. Sein Gehör, sein Augenlicht, seine Lungenfunktion, alles hatte unter Rauch, Feuer, Staub und Stein gelitten. Und die Wache beschäftigte keine Krüppel…   Von Ximasxi Natternzunge jedoch fehlte jede Spur. Die Flammen hatten sie geholt, behauptete man unter den Soldaten, die noch nicht wussten, dass sie todgeweiht waren. Ein Dämon soll sie gewesen sein, der heimgekehrt war, behaupteten skeptische Stimmen in Sundergrad. Nichts von alledem aber hielt Aedan davon ab, alle Hebel zu bedienen, um sie wieder aufzustöbern. Seiner Erfahrung nach konnten Diebe unsichtbar werden… aber wahrhaftig in Luft auflösen, das vollbrachte niemand. Dabei war es weit mehr als nur das professionelle Interesse an ihren erstaunlichen Fertigkeiten. Mehr als nur der Wille, sie zu nutzen. Es war etwas Persönliches. Kapitel 26: Dreigestirn ----------------------- „Ein Jäger, ein Wächter, ein Künstler… finde sie… du weißt, was dann zu tun ist.“   Eine gewaltige Menge, laut und in Bewegung. Arme und Beine im eigenwilligen Reigen, kleine Noten, die durch die Adern jagen. Die Masse wippt und springt, zuckt und bäumt sich auf, sie wiegt sich im Takt. Über alledem die Töne. Laut und aggressiv quetschen sie sich in die Ohren, bringen die Haut zum Vibrieren. Sie schwingen in der Luft, hinausgestoßen von gewaltigen Anlagen, durchbrochen von feineren Instrumenten und dem Gekrächze eines Sängers. Die Menge feiert, zollt ihren Tribut dem Entertainer auf der Bühne. Feuersäulen schießen empor, ein dichter Teppich kriecht schwerfällig über die Bühne. Der Nebel türmt sich bis auf Knöchelhöhe auf, stürzt sich wagemutig vorne von der Tribüne herab und versickert zwischen den ersten Reihen der Schau- und Hörlustigen. Sie war ein Nichts, ein Niemand. Ein kleiner Teil im Leibermeer. Die Arme gereckt, genoss sie die Musik in ihrem Blut. Harte Rhythmen, die sich in ihren Schädel hämmerten und dort mit Blut, Gedanken und Chemikalien mischten. Es gab keine Pause. Kein Erbarmen mit der Meute, keine Gnade sich selbst gegenüber. Sie spürte Wärme der Menschen um sie herum. Das Kribbeln unter ihrer Haut, wann immer sich im dichten Gedränge die Fremdkörper trafen und für ein paar Herzschläge aufhörten, einander fremd zu sein. Erst als die Töne abebbten, die Musik verstummte, senkten sich ihre Arme. Schwerfällig. Taubheit kroch heraus, lugte sich nach fetter Beute um und wurde rasch verscheucht. Schon baute der nächste auf. Rausch, bald wäre er zurück, würde nach dem kurzen Abklingen neue Stärkung erhalten. Dieser Abend gehörte ihm, gehörte ihr… ihr ganz allein, ihr und ihrem Rausch. Was aber, wenn sie das gar nicht wollte? Ihr Blick wanderte umher wie schon zuvor. Sie stand weit vorne, hatte sich, halb wissend, halb unbewusst, vorgearbeitet. Ihre Augen, flirrend, unstet, erfassten eine Blondine. Ein schmales Ding von kleinem Wuchs. Sie tanzte… noch immer. Als die Melodie einsetzte, ein neuer, harter Rhythmus die Gnadenlosigkeit des Letzten ablöste, drängte sie sich vor. Sie hatte ein Ziel vor Augen und würde sich davon nicht abbringen lassen. „Hi!“ raunte sie der kleinen Blondine ins Ohr. Regelrecht erschrocken zuckte die Fremde zusammen, wandte sich um und erwiderte leise die Begrüßung. Zu leise. Sie sah nur, wie ihre Lippen sich bewegten und blieb an ihnen länger hängen, als anständig gewesen wäre. Was scherte sie aber schon Anstand? Sie war hier, tanzte genau wie sie, hatte ihren Spaß, unterwarf sich dem Takt. Sie schien es ebenso zu genießen, ebenso wie in Trance zu sein. Fast tat ihr leid, sie daraus aufgeschreckt zu haben. Animation war das Schlüsselwort. Ein paar erste Regungen, ein ermutigendes Grinsen und die kleine Blondine ließ sich wieder zurücksinken. Hinaus aus der Starre und zurück in die Menge sich windender Leiber. Was sie der Kleinen tat, hätte man ohne Mühe unverschämt nennen können. War es zunächst noch die eigene Haut, über die sie ihre Hände wandern ließ, Flanke, Bauch, Brust, Hals, rückte sie unter der Scheinheiligkeit der hiesigen Enge zu ihr auf. Musik war Harmonie. Es ging nicht um die Präsentation dieser Idioten auf der Bühne, um ihre Lightshows und ihre Klamotten. Stile verkörpern konnten sie, wie sie wollten… und für wen auch immer sie wollten. Ihr ging es einzig um die Noten. Etwas in ihr sehnte sich nach der Musik, lechzte jedem Laut entgegen - und sie war damit nicht allein. Eng aneinander gedrängt, tanzte sie nicht länger als bunter Baustein eines wirren, chaotischen Mosaiks, nicht länger als eine von vielen. Sie tanzte mit der kleinen Blondine zusammen. Ihre Hände auf deren Hüfte, ihrem Bauch, ihrem Nacken. Wie im Dämmerschlaf, im halbbewussten Zustand, bemerkte sie die Grenzen zwischen heißer, verschwitzter Haut und Textil. Ein kurzes Shirt, ein Rock, es definierte klare Grenzen zwischen dem, was genossen werden konnte und dem Reizvollen, das noch verborgen lag. Eine Hand führte sie zu ihrem eigenen Mund herab, ließ etwas hinein sinken um auf dem Höhepunkt des Miteinanders ihre Partnerin bei den Schultern zu greifen, sie zu drehen. Ein Kuss, rau, leidenschaftlich und für ihr Gegenüber offenkundig mehr als überraschend. Sie versteifte sich, schien am Boden festgefroren für die Dauer einer Sekunde, zwei, drei. Genug Zeit, das kleine Geschenk mit der Zunge über die Grenzen ihrer Lippen hinweg zu schieben. Ob aus Reflex, aus eigenem Willen, wen scherte das schon? Sie schluckte. Ein keckes Zwinkern, ehe sie sie erneut bei den Schultern griff, sie wieder zur Bühne drehte. Ein geradezu beiläufiger Blick auf ihren Hintern, ehe der Tanz wieder in den Takt zurückfand, als hätte es diese Unterbrechung nie gegeben. Rhythmus, Blut, Gedankenleere und nun waren die Chemikalien auch in ihrem Kopf. Für die Dauer des restlichen Auftrittes blieben sie beisammen, dicht gedrängt und von Zeit zu Zeit auch eng umschlungen. Es gab kein Morgen, es gab keine Welt, es gab nicht einmal die anderen um sie herum - bis eine kleine Truppe von Stümpern die Bühne für sich einnahm. Spielleute, die Bezeichnung hätte am ehesten gepasst. Verlotterte, versiffte Klamotten, so sah es aus. Blasebalg und Ziehharmonika, der Sänger am Mikrofon holte sogar eine verdammte Flöte heraus. Das rasche Gedudel der Instrumente mochte für flotte Dorftänze ums Feuer taugen, aber… „Das ist kein verdammtes Mittelalterfest!“ plärrte irgendeine bassige Männerstimme auf der linken Seite. Die Menge verlor. Den Takt, den Rhythmus, die Melodie. Nun gab es also doch Gnade für die geschundenen Leiber, Pause. So unwillig angenommen, wie sie unerwünscht war. Man hörte zu, weil man für jede Minute bezahlt hatte. Die kleine Blonde schien hingerissen. Sie tanzte nicht mehr, stattdessen stand sie mit geschlossenen Augen dort, wiegte sich zu den Tönen der verflixten Flöte und schien ohne Probleme von einer Quelle der Euphorie zur nächsten umschalten zu können. Insgeheim beneidete sie sie ja darum - ihr war das nicht möglich. Sie fühlte sich ebenso wie viele andere von diesem Stilbruch gestört. Der Veranstalter hatte Mist gebaut. Solche Leute konnte man als Vorbands auf die Bühne schicken. Um am Anfang ein wenig Stimmung aufzubauen. Aber doch nicht mittendrin oder gegen Ende! Zornig funkelnd fixierte sie den Schwarzkopf, der so beherzt in sein Instrument setzte und sich dabei von den lauteren und protestierenden Teilen der Menge nicht zu beirren lassen schien. Sein Blick schweifte umher, über die Meute, unzählige Gesichter. Vielleicht wäre sie geblieben und hätte ihm zugehört. Oder zumindest auf seinen Nachfolger gewartet, geschaut, ob sich noch etwas retten ließe. Doch sie beschlich die Vermutung, dass er ein Auge auf die kleine Blonde warf - und das mochte ihr so gar nicht gefallen. Der Nachteil, wenn man zu weit vorne stand. Jeder Dummkopf, der grölen oder einen harten Bass spielen konnte, glaubte plötzlich, er könne sich unter den Fans ein paar leckere kleine Häppchen aussuchen und als Nachspeise mit aufs Zimmer nehmen. Aber dieses Häppchen, so entschied sie mit giftigem Blick zur Bühne herauf, war schon vergeben. Sie tippte ihrer Begleitung auf die Schulter und flüsterte ihr leise ins Ohr. „Ich würde dich gerne auf was zu trinken einladen!“ Die Blondine schlug die Lider wieder herauf, blickte über die Schulter zu ihr empor und schien abzuwägen. Nicht nur einmal wechselte ihr Blick zur Bühne empor und auch sie schien zu bemerken, dass der Holzkopf mit der Flöte sie anstierte. Des Messers Schneide kippte jedoch zu ihren Gunsten, als die Fremde wie erhofft zögerlich nickte. Sie nahm sie bei der Hand, führte sie durch die Menge. Tiefer und tiefer zurück zum Ausgang, fort von Licht und Laut. „Verdammt!“ nuschelte sie kurz nach Verlassen des Geländes und fuhr sich durch die bunten Haare, während sie die Taschen ihrer schwarzen, engen Jeans abtastete, „Kannst du kurz hier warten? Ich muss zurück zu dem Idioten am Einlass, der hat was von mir einkassiert… bin auch gleich zurück!“ Überrascht nickte die Blonde und sah ihr nach, wie sie in Richtung der Menge verschwand, die sie gerade erst mit viel Zeit und Mühe verlassen hatten. Unweit jedoch hörte sie ein verhaltenes Fluchen, welches ihre Neugier weckte. Vorsichtig trat sie um die Ecke, an die Längsseite des Geländes. Ein kleiner Wagen stand dort, die Kofferraumtür weit geöffnet und niemand Geringeres als der Flötenspieler versuchte, irgendetwas Sperriges darin unterzubringen. Bei der Mühe rutschte das kleine, hölzerne Blasinstrument von seinem Gürtel und rollte, von ihm unbemerkt, bis zu ihr herüber. Vorsichtig, als würde es sich um eine Reliquie handeln, bückte sie sich danach und hob das Stück auf, jeden Millimeter einer genauen Betrachtung unterziehend. Kleine Gravuren verliehen der Flöte eine bemerkenswerte Einzigartigkeit - darin eingeschnitzt war offenbar eine ganze Geschichte. Staunend trat sie, schüchtern und zögerlich, näher an den Musikanten heran. „E-Entschuldigung? D-Du hast da was verloren…!“ Vorsichtig streckte sie dem Spielmann die Flöte entgegen und zuckte selbst zusammen, als dieser aus Schreck und Überraschung gleichermaßen herumfuhr und sich regelrecht an sein Auto presste. „Guter Gott… ich dachte, du bist einer von denen und willst mich lynchen…!“ keuchte der Braunhaarige unter einem tiefen, erleichterten Seufzen und griff mit zittrigen Fingern nach dem Instrument. „Danke…! Hm… ich kenn‘ dich doch, oder? Du standest vorne, in den ersten Reihen. Wo ist deine Freundin?“ Die Röte, welche binnen Sekunden in ihre Wangen schoss, strahlte verbissen gegen die Abenddunkelheit an. Bemüht blickte sie sich um, konnte von ihrer Begleitung jedoch noch keine Spur entdecken. „Sie holt noch etwas. Du… hast schön gespielt.“ Ein Lächeln zierte das Antlitz des Musikers, ehe er aus Jux und Laune eine tiefe Verbeugung andeutete. „Vielen Dank für die Blumen. Ich fürchte nur, du warst dann so ziemlich die Einzige, die das so sah…!“ Kurzentschlossen holte er ein kleines Notizbuch heraus und begann, mit einem Stift, den er sich hinter dem rechten Ohr hervorzog, darauf herumzukritzeln, ehe er ihr die Notiz abriss und entgegen streckte. „Ist meine Handynummer. Wir bleiben vermutlich eine Weile in der Stadt, tingeln durch kleinere Klubs. Vielleicht möchtest du ja nochmal zuhören?“ Geradezu verschämt drückte die Blonde den Zettel an sich. Sie senkte den Blick zu Boden, wissend, dass die Schamesröte nun endgültig gewonnen hatte. „I-Ich sollte… äh… s-sie…“ Wirklich viel erklären musste sie nicht. Er hatte selbst gesehen, wer bei ihr war und wie sie reagiert hatte. Natürlich war es immer eine Sache, auf etwas zu hoffen - und meist eine völlig andere, wie sich die Dinge dann am Ende entwickelten. Er stieg ein, winkte ihr nochmals zu und fuhr ab. Zurück blieb die Blonde, steckte hastig den Zettel in ihre Tasche und wartete, bis ihre Begleitung zurückkehrte. „Was hatte er denn noch von dir?“ hakte sie vorsichtig nach, um rasch irgendein Thema aufzugreifen, das möglichst unverfänglich war. „Meinen Schlagring“, gab sie finster grinsend zurück, „Als er den gesehen hat… fand er nicht so lustig. Ist nicht der erste Auftritt, manche halten sich für die Größten. Ist mir immer lieber, wenn ich was dabei habe, aber… na egal. Komm, ich hab eine Idee.“ Einige Minuten später saßen sie gemeinsam in einem kleinen Café. Als sie davon gesprochen hatte, ihr etwas zu trinken auszugeben, hatte sie eigentlich eine andere Lokalität im Sinn gehabt, doch mit dem jungen Ding, das sie sich da herausgepickt hatte, schien sowieso etwas nicht ganz zu stimmen. Ein Shirt und ein Rock, wie sie es beim Tanz erspürt hatte - aber der Kleidungsstil passte nun so gar nicht zu jemandem, der auf einer solchen Festivität in einer solchen Menge stand. Sie blickte zur Seite, durch die große Schaufensterscheibe auf die Straße hinaus. Es war längst dunkel und mit der im Wetterbericht angekündigten, schweren Regenfront hatten sich tief hängende Wolken über die Stadt gelegt. Das ließ selbst das Licht der verzweifelt dagegen anglühenden Straßenlaternen lächerlich und gedämpft wirken. Dort draußen wurde es langsam still und leer, aber noch immer sah man hier und da jemanden vorbei schleichen. Hüte, Jacken, Regenschirme. Dazu Aktentaschen oder Koffer. Selten mal ein Rucksack. Das waren die Bewohner dieser Stadt. Studenten und Schüler, Verkäufer und Stahlarbeiter, Makler und Bürohengste. Ihr Blick klarte sich auf, kehrte ein Stück weit aus den Überlegungen über Normalität zurück und fiel unweigerlich auf ihr Spiegelbild. Linksseitig war das Haar völlig kurzgeschoren. Kleine, stachelige Ansätze sprossen hervor und verdeutlichten, dass die letzte Rasur schon ein paar Tage her war. Auf der Rechten dagegen zogen lange Haare in einer Mischung aus dunklem Blau und beißendem Grün herab, bis über die Schultern hinaus. Das war irgendwann zu Beginn dieses Abends mal eine Frisur gewesen. Die Augenringe bekräftigten, dass sie eher zu den Nachteulen gehörte. Zu denen, die wach blieben, obwohl sie am Morgen trotzdem wieder früh raus mussten. Als sie getanzt hatte, hatte man das hören können. Kleine Silberkettchen um ihre Handgelenke, Nietenarmbänder, schwere Stiefel, ein Kettengürtel - sie hatte wunderbar in die Menge gepasst. Blasse Haut, schwarze Klamotten und ein möglichst schrilles Outfit. Aber dieses kleine Mauerblümchen, das ihr nun gegenüber saß und verträumt in ihren Kaffee starrte, als könne sie daraus die Zukunft weissagen? Die Leute waren eben nie ganz das, was man auf den ersten Blick von ihnen erwartete, nicht? Sie gab sich einen Ruck, streckte die Hand über den Tisch. Auch ihre Gesellschaft schien nun aus ihren Gedanken zurückzukehren. Mit einem freundlichen, geradezu sonnigen Lächeln nahm sie die offizielle Begrüßung an. „Ich bin Ory. Ist… sowas ähnliches wie’n Künstlername“, bekräftigte sie mit einem Grinsen. „Delilah. Ich… das… äh… einfach nur Delilah.“ Das Grinsen auf ihren Lippen wurde eine Spur breiter. Einfach nur Delilah, hm? „Du… du bist… Künstler?“ hakte die Blondine nach und fuhr sich in einer wohl ihrer Nervosität geschuldeten Geste durch die kurzen blonden Locken. „So… ähnlich. Ich singe. Manchmal. Ist eine kleine Band, aber naja… reicht, um über die Runden zu kommen. Und du? Was verschlägt Mammis kleines Mädchen auf einen Platz voll böser Leute?“ Delilah aus der Reserve zu locken, war erschreckend simpel. Schon jetzt schluckte sie schwer, schien irgendwie gewillt, zu protestieren und war sich doch weder sicher, wie sie das anstellen sollte, noch, ob das so klug wäre. Mit einem Lächeln wischte sie ihre eigenen Worte davon. „Nimm’s mir nicht übel, ich mein’s nicht bös‘. Kommst nicht oft raus, was? Bist ziemlich schüchtern.“ „I-Ich…“ begann die Blonde einen Augenblick, rief sich dann offenbar ein wenig wütend über sich selbst zur Raison und erwiderte den Blick ihrer Begleiterin so fest, wie sie das eben konnte. Sie wollte sich nicht völlig blamieren und vorführen lassen. „Ich bin Botanikerin. Am Institut für… äh… naja… Botanik. Ein Freund hat mir die Karte geschenkt, er… er wollte heute eigentlich auch dort sein, aber irgendwie haben wir uns wohl… verpasst.“ Ein Freund also? Der ihr eine nicht gerade billige Karte für einen ziemlich groß angelegten Szeneauftritt schenkte und dort mit ihr sein wollte? Den hatte vermutlich der Tourbus plattgefahren, denn das klang schon alles recht eindeutig. Delilah schien nur nicht ganz zu begreifen, dass da jemand gewillt war, sie einzuwickeln - was es dem Ärmsten natürlich umso schwerer machen würde. Nette Kerle hatten das Problem immer mal wieder. Sie konnten einfach nicht klar und deutlich aussprechen, was sie eigentlich wollten. Glück für sie. „Und was macht man als Botanikerin? Mit Pflanzen reden, damit sie artig weiter wachsen?“ erkundigte sich Ory grinsend und bemerkte schon nach wenigen Augenblicken, das sie gerade in ein Wespennest gestochen hatte. Delilah nahm ihr den Witz keineswegs krumm, schlimmer noch: Sie stieg sofort auf das Thema ein. Und ganz plötzlich war es wie auf ihrer persönlichen Tanzfläche vor der Bühne. Die Blonde taute auf, verlor ihre Scheu, ihre Nervosität, ihren Panzer aus Zurückgezogenheit und Isolation und begann zu plappern und zu fachsimpeln mit jemandem, der von diesem Thema nicht nur keinerlei Ahnung hatte, sondern sich dafür auch eigentlich nicht im Ansatz interessierte. Dennoch bemühte sie sich, Delilah zuzuhören. Ein bisschen Anstand musste sein, nur… nach gut einer halben Stunde wurde es ihr dann doch zu spezifisch, wirr und langatmig. Dieser Dummkopf mit seiner Flöte hatte ihr schon einen Teil des Abends ruiniert, den sie nun eigentlich hatte retten wollen - da musste sie nicht mehr über Wurzelbildung und Tracheen hören, als unbedingt nötig. Sie würgte das Gespräch nach und nach systematisch ab, ohne Delilah dabei vor den Kopf zu stoßen. Einmal mehr erwies es sich für sie als vorteilhaft, dass die Kleine so wenig Ahnung vom menschlichen Miteinander hatte. Kurz darauf waren sie wieder auf dem Weg durch die Straßen, Seite an Seite. Sie amüsierte sich prächtig darüber, wie verschämt Delilah reagierte. Wenn sie ihr zu nahe kam, sobald sich zufällig ihre Hände berührten oder ihre Blicke trafen. Als sie schließlich vor der Haustür hielten, die sie zielbewusst angesteuert hatte, verharrte Ory. „Hm, wir sind da. Kommst du mit rauf?“ Eine reichlich simple Taktik. Offen und direkt, schwer missverständlich selbst für jemanden wie die Blonde - und perfekt, um sie zu überrumpeln. Wie sich schon einen Lidschlag später zeigte, ging die Rechnung sogar bestens auf. „I-Ich? Äh, w-warum denn?“ Ein geradezu diabolisches Grinsen breitete sich langsam auf ihren Lippen aus, während sie näher an Delilah heran trat. Die Kleine wich zurück, bis sie die Mauer im Rücken hatte, doch das genügte ihr noch nicht. Ory schob das Knie zwischen ihre Schenkel, teilte mit ihrem Bein die Ihren. Die Hände zu beiden Seiten am Mauerwerk aufgestützt, gab es für die Blonde keinen wirklichen Fluchtraum mehr. Bis auf ein paar Millimeter brachte sie ihre Lippen an deren Ohr heran, hauchte heißen Atem auf ihren Hals. „Du gefällst mir eben. Komm schon, trau dich… das wird ein Spaß, ich versprech’s dir!“ Als müsse sie ihre leise zugeflüsterten Worte bekräftigen, biss sie Delilah vorsichtig ins Ohrläppchen. Ein kurzer, halb erstickter Laut drang aus ihrer Kehle, eher aus Überraschung geboren. Mit hochroten Wangen wich sie ihrem Blick aus, starrte zur Seite weg… und bemerkte einen Passanten. Irgendwer, der einfach um die Zeit noch unterwegs war. Vielleicht selbst auf dem Weg nach Hause, was spielte das schon für eine Rolle? Er starrte zu ihnen herauf, hatte seinen Schritt deutlich verlangsamt. Irgend so ein verdammter Punk bedrängte ein anständiges junges Ding… oder? „Rein“, hauchte Delilah eilig Ory entgegen. Das war keineswegs eine Zusage, redete sie sich ein. Sie wollte nur runter von der Straße und sich die Peinlichkeit irgendwelcher Erklärungen ersparen. Sie wollte nicht von Fremden angegafft werden, nicht bei… bei sowas. Eigentlich grundsätzlich gar nicht, bei egal was. Für jenen verzogenen, verlotterten Punk dagegen war dieses eine Wort ein Punktsieg für diesen Abend. Mit einem breiten Lächeln griff sie Delilahs Hand, sperrte die Tür auf und zog sie ins Innere. Ein wirklich beachtliches Inneres. „Hier wohnst du? Wow, das… das ist ja riesig!“ brachte die Blonde hervor und schritt vorsichtig durch den Flur. Ein paar offen stehende Türen gaben den Blick in geradezu gewaltige Räumlichkeiten preis. „Japp, das ist mein Nest“, antwortete Ory schwer hörbar, da sie bereits irgendwo tiefer in der Wohnung verschwunden war. Delilah folgte ihrer Stimme und wollte gerade fragen, warum es in nahezu jedem der üppigen Räume ein Bett gab - doch die Frage blieb ihr gehörig im Halse stecken, als ihre Gastgeberin wieder vor sie trat. Sie hatte die Zeit offenbar genutzt, um sich der Stiefel zu entledigen… und noch manch anderer Sache. „A-Also w-weißt du, i-ich…“ hob Delilah zögerlich an, doch weder kam sie dazu, ihren Widerspruch zu formulieren, noch widerstrebte sie ernstlich, als Ory sie abermals bei der Hand nahm und mit sich zog. Zunächst nur durch die Tür hindurch, die sie zuwarf, dann jedoch an sich heran. Einen denkwürdig langen Augenblick war die Blonde dankbar dafür, zumindest selbst noch ihre Klamotten am Leib zu haben - obwohl das kaum etwas an der Verfänglichkeit der Situation änderte. Ein Schutzschild zweifelhaften Nutzens. Er bewahrte sie nicht vor den leidenschaftlichen Küssen, mit denen man sie zu verführen versuchte und er schmolz rasant dahin, als Ory ihr ein Stück nach dem anderen abstreifte, während sie sie beide in Richtung des Bettes bugsierte. „Ich weiß nicht-“, hob die Blonde an, „Macht nichts!“ wurde sofort erwidert. „Aber ich habe nie-“ versuchte sie es erneut. „Wird schon!“ bekräftigte Ory. Wenig später erfüllte lustvolles Keuchen den Raum. Zunächst verhalten, leise, vom eigenen Willen gedämpft, doch mit fortschreitender Zeit fielen auch die Hemmungen dem Verlangen nach und nach zum Opfer…   Brennende Hitze. Eine unerbittliche Sonne brach vom Himmel auf sie nieder. Kein Grün unter ihr, kein Getier, weit und breit nicht eine Spur von Wasser. Es war dort, das wusste sie. Tief unten im Boden. Manchmal formte der Grund Höhlensysteme, Grotten, drückte durch die Beschaffenheit von Sand und Stein das Grundwasser herauf und bildete kleine Seen, Oasen inmitten dieser Glut. Doch Unbehagen war ihr fremd. Die unerbittliche Wüste war nicht ihr Feind… sie war ihre Heimat. Die alles versengende Sonne ihre Geliebte, die ihr die Haut küssend den Leib wärmte. Sie breitete die Finger aus. Es fühlte sich fast an, als könne sie die einzelnen Luftströme berühren. Wonne jagte durch ihre Adern, ein unbeschreibliches Hochgefühl. Freiheit - absolute, unbeugsame Freiheit. Sie war nicht einfach zum Greifen nah, nein. Sie war Realität geworden. Unter sich sah sie den Wüstenboden dahinziehen. Wanderdünen und kleine Schluchten aus Sand, sie war nicht länger daran gebunden. Sie war an nichts gebunden. Sorglos schloss sie ihre Lider, ließ sich treiben, von den Winden getragen, von der Sonne umfangen, schwebte, flog, zog über Ländereien, Meile um Meile. Als sie die Lider wieder öffnete, hatte sich das Bild gewandelt. Es war Nacht geworden. Nur wenig Licht drang durch die Landschaft. Nicht etwa von oben. Schwere, tief hängende Wolken hatten Mond und Sterne verfinstert und schickten sich an, die Nacht mit der Schwärze zu ertränken. Doch dort unten, tief unter ihr, da brannten Feuer. In den schweren, gusseisernen Schalen, von Öl und Holz ernährt, züngelten sie gegen die Finsternis an. Wachposten, ein paar lächerliche kleine Figuren, die vor Gefahren warnen sollten. Sie würden nicht einmal wissen, was sie getroffen hatte! Ein gellender Schrei entfuhr ihrer Kehle, als sie herabstürzten. Schwarze Schatten, gefiedert und mit Krallen und spitzen Zähnen bewehrt. In der ersten Welle griffen sie einen der Wächter, rissen ihn von seinen Füßen. In der Höhe floss sein Blut in Strömen, sie zerfetzten ihn. Blut verschmierte ihr Gesicht. Warm und von betörendem Geschmack rann es ihre Kehle herab - innen wie außen. Zartes Fleisch, einstmals angehörig einem noch lebendigen Körper, im Scheiden begriffen. Ein Rausch erfasste sie, unvergleichlich, unbeschreiblich. Jagdlust, Mordlust, sie würden das ganze Schiff entvölkern und ein Fest feiern, ein Fest für sie und ihresgleichen. Bilder blitzten durch ihren Geist. Bilder früherer Jagden, von Gelagen, von blutverschmierten Händen. Vom Geräusch zwischen Kiefern berstender Knochen, vom Wimmern und Betteln der Schwachen und Niederen.   „Woah!“ Mit jenem Ausstoß, dem zweifellos so jegliche Epik fehlte, schreckte Ory aus dem Schlaf empor. Ein Alptraum, so wähnte sie. Es musste einfach ein Nachtmahr sein. So viel Geschrei und Blut, so viel Gewalt - was hätte es sonst sein sollen? Dennoch fühlte sie sich wie elektrisiert, eine Spannung in jeder Muskelfaser, ein Kribbeln unter ihrer Haut. An ihrer Seite wälzte sich Delilah auf den Rücken, blinzelte träge gegen das Licht an und schien sich nur langsam darüber klar zu werden, wo sie war. Bei wem sie war. Was sie getan hatte. Sie konnte in ihren Augen geradezu sehen, wie das schlechte Gewissen aufzog, die Selbstkasteiung, die Vorwürfe und Schuldgefühle und nichts davon war sie gewillt zuzulassen. Gewiss mochte diese überragende innere Spannung ihren Teil dazu beigetragen haben, gleichwohl wie ihr Wille, der Blonden diesen Unsinn moralischer Zwiespälte zu ersparen - als sie sich, einem Raubtier nicht unähnlich, abermals über sie hermachte, wirkte ihre Gespielin völlig überrumpelt. Das blieb sie auch bis zuletzt. „Oh Gott… ich bin völlig fertig…“ seufzte Delilah kurzatmig und drehte sich auf die Seite. Sie fühlte sich… unsicher. Orys Nähe mochte vielleicht nicht unbedingt die Beste sein, die sie in eben dieser verfänglichen Situation hätte haben können, doch sie war im Moment die Einzige, die sie bekommen konnte. „Hmmm… wann musst du los?“ hakte die Sängerin nach. Delilah drehte sich, wand sich. Sie fand keine Uhr, keinen Wecker, erst nach einiger Mühe bemerkte sie eine digitale Anzeige auf einer Stereoanlage. Ihr war nicht einmal klar geworden, wie erschreckend wenig sie von der Einrichtung bemerkt hatte. Oh sie kannte die Ausmaße des Bettes nur zu gut, aber der Rest…? „Uhm… vor zwei Stunden, glaube ich“, merkte die Blonde seufzend an und fuhr sich durch das völlig zerzauste, kurze Haar. „Dann haben wir ja noch Zeit“, hauchte Ory ihr leise entgegen und bescherte Delilah mit ihrem warmen Atem auf ihrem Hals einen neuerlichen Schauer. Ihre Unverfrorenheit und die Zügellosigkeit ihrer Gier ließen sich schwerlich abweisen - befand zumindest Delilah selbst. Doch es gab da einen Orchideenstamm, der sich nicht von allein zurückkreuzte und sehr pflegeintensiv war, sie würde sich darum kümmern müssen. Außerdem war sie noch immer völlig… durcheinander. Sie hatte gestern einen schönen Abend verbringen wollen. Mit Tanz und Musik und in guter Gesellschaft. Dass das nicht geklappt hätte, ließ sich so nicht behaupten - nur hatte sie wirklich nicht erwartet, ausgerechnet mit einer anderen Frau zu verschwinden. Oder mit überhaupt irgendwem zu verschwinden. Oder ausgerechnet mit jemand so Speziellem… „Sehen wir uns wieder?“ hörte sie sich selbst unsicher und leise fragen. Sofort schoss ihr die Röte in die Wangen, die sich nur noch verstärkte, als Ory leise lachte und ihr mit den Fingernägeln leicht kratzend über das nackte Schulterblatt fuhr. „Klar. Wenn du willst, gern.“   Zwei Monate und ein gutes Dutzend Treffen später hatten sich beide noch immer nicht darüber verständigt, was sie eigentlich miteinander verband - und keine von beiden schien das zu stören. Die Botanikerin genoss die gemeinsame Zeit ebenso wie die Sängerin, unabhängig davon, ob sie Klubs besuchten, in einem Restaurant einkehrten oder auf dem Rummel mit Luftgewehren und Dartpfeilen ihr Unwesen trieben. Längst nicht jedes Treffen endete wie ihre erste Begegnung, wohl aber hatte diese auf ihre Art einen Grundstein zwischen ihnen gelegt und keine von beiden war derlei Entwicklungen abgeneigt. Was sich ergab, ergab sich. Wie sie jedoch feststellen mussten, galt das im Guten… wie im Schlechten.   „… und er meint allen Ernstes zu mir: „Das kann gar nicht sein, ich habe sie selbst gedüngt!“ Wir haben uns natürlich erstmal dumm angeschaut und dann, wie auf ein Kommando, haben alle gelacht! Wie der plötzlich rot geworden ist!“ beendete Delilah eine ihrer neusten Geschichten. Die Arbeitswelt hatte sich als erstaunlich gutes Gesprächsgebiet entpuppt, etwas, womit sie nie gerechnet hatte. Ihre Freundin interessierte sich zwar nicht unbedingt für die Feinheiten der Zuchtverfahren und den mikroskopischen Aufbau einer Pflanzenader, wohl aber für das soziale Miteinander, das - unabhängig vom Arbeitsgebiet - immer wieder für gutes Gerede und ausreichend Amüsement sorgte. Eine Herangehens- und Sichtweise, die Delilah so nie eingefallen wäre. Wieder und wieder entpuppte sich Ory als reichlich unkonventionell - in vielerlei Hinsicht. „Und wie geht es den Nachtschattengewächsen inzwischen?“ hakte die Sängerin nach, als sich das gemeinsame Gelächter erst einmal gelegt hatte. Zu einem Grinsen abgeebbt, war es ausreichend gedämpft, damit sie eine grüne Strähne hinter das Ohr zurückschieben konnte. Mit der Gabel zerteilte sie das Kuchenstück, schob das nächste bisschen Teig zwischen ihren Lippen hindurch und hatte nur Augen für Delilah. Der Rest des Cafés war ihr gleichgültig. Der blutrote Himmel, der sich im Zuge der Abenddämmerung langsam verfärbte. Die Leute, die auf der Straße an der breiten Fensterfront vorbei liefen - die Gäste vor, neben und hinter ihnen, die manchen Blick für sie erübrigten. Sie stieß sich schon lange nicht mehr daran. Mancher bewunderte sie, andere fühlten sich in ihrem ästhetischen Gefühl angegriffen. Was scherte sie das schon? Eine Ignoranz, die der Blonden noch fehlte, wie sie an deren gelegentlichen Seitenblicken bemerkte. „Viel besser, seit Nash mir diesen Tipp mit dem Kunstlicht gegeben hat.“ Ein einfacher und eigentlich harmloser Satz. Eine simple Antwort auf eine simple Frage. Eigentlich. Doch der Sängerin stieß etwas daran sauer auf. „Nash?“ Sie kannte den Namen, oh durchaus. Nicht etwa, weil sie ihn damals schon gewusst hätte. Aber sie las von Zeit zu Zeit die Tageszeitungen oder sah sich Nachrichten an, sie bekam Werbung und Flyer zugeschickt… sie hatte sich den Namen dieser dämlichen Truppe nie merken können. Wozu auch. Aber die Visage dieses Holzkopfes würde sie nicht vergessen. Er mit seiner dämlichen Flöte, der auf einem solchen Gig meinte, den Stimmungsbrecher spielen zu müssen…! Doch das Gesicht des braunhaarigen Flötisten regte sie weit weniger auf als die Tatsache, dass Delilah überraschend vertraut von ihm sprach. Offenbar hatte er ja irgendwelche Tipps zur Pflanzenzucht gegeben - nicht unbedingt etwas, worüber man bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße sprach, nicht wahr? Das erklärte auch, warum sich die Wangen der Blonden so rasch tiefrot einfärbten und sie beschämt den Blick senkte. „Er ist-“ hob die Botanikerin an und wurde jäh unterbrochen. „Oh ich weiß, wer dieses Arschloch ist“, gab ihre Begleiterin halblaut und zornig zurück. Ein paar Blicke wanderten verstohlen zu ihr herüber, doch niemand sagte etwas. Niemand außer Delilah, die sich berufen zu sehen schien, diesen Holzkopf zu verteidigen. Nur oder vielleicht auch gerade weil er nicht anwesend war. „Er ist nicht so schlimm, wie du denkst!“ Im Grunde hätte sie kaum üblere Worte wählen können. Angewidert, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen, verzog Ory das Gesicht. „Nicht, hm?“ zischte sie erbost, „Oh ich bin nicht blöde, ich versteh schon.“ Klirrend schepperte die Kuchengabel auf den Teller nieder. Geld landete, mit Nachdruck, auf dem Tisch, ehe sich der Wirbel aus klimpernden Ketten und Nieten erhob und mit wütenden Schritten zur Tür hinaus stampfte. Einen Augenblick verharrte die Blonde noch am Tisch, erstarrt, gefroren. Erst das nachdrückliche Zuschlagen der Tür ließ sie zusammenfahren, zucken und reagieren. Hastig kramte sie Kleingeld hervor, stürzte ihrer Freundin nach. Sie holte sie ein, ohne große Mühe, versuchte mit ihr Schritt zu halten und irgendetwas zu sagen. Sie wollte sich erklären. Rechtfertigen. Die Situation irgendwie retten, doch… ihr fiel einfach nichts ein, das sie hätte sagen können. „Weißt du,“ fuhr Ory sie zornig an, blieb abrupt stehen und wandte sich ihr mit einem böswilligen Funkeln in den Augen zu, „Eine Grenze zu brechen - völlig okay. Ein paar Grenzen brechen - was für ein Spaß! Aber alle? Diese? Und du hast es nicht mal für nötig gehalten, mir was zu sagen? Was hast du dir dabei eigentlich gedacht, hm? Hast du überhaupt irgendwas gedacht?“ Sie schnauzte sie an - darüber machte sich die Sängerin keine Illusionen. Sie stauchte das zerbrechliche kleine Geschöpf vor sich zusammen, nach allen Regeln der Kunst und so nachhaltig, wie sie es nur konnte. Sie reagierte sich ab. Nicht an ihrem Kissen oder der nächsten Gespielin, sondern diesmal an der, die es verdammt nochmal auch verdient hatte. Denn die kleine Blonde war ihr nicht unwichtig gewesen. Nicht irgendeine von vielen. Sie hatte sie gemocht. Ernsthaft gemocht. Das war selten. Umso tiefer saß der Schmerz über diesen Verrat, diesen… Betrug. „A-Aber… ich mag euch doch beide…“ wisperte die Botanikerin. Mit jedem Wort war sie kleiner geworden, zusammengeschrumpft, hatte sie Schultern hängen gelassen, eingezogen. Als wolle sie sich in sich selbst verkriechen. Nun brachte sie mit brüchiger Stimme kaum mehr heraus als das, was man vom Wortlaut her eher einem Kind hätte zuordnen wollen. Ihre Lippe zitterte, ihr Blick war glasig. Die Tränen standen ihr längst darin und brachen sich auch kurz darauf Bahn. Mitleid erregte sie durchaus - aber das nützte ihr nicht. Das durfte es einfach nicht, entschied die Sängerin. „Ja, toll, und?“ giftete sie weiter, stach tiefer in die Wunde, die sie als Revanche schlug, „Das Leben ist kein Wunschkonzert. Du kannst nicht alles haben, was dir gefällt - stell dir vor. Guten Morgen, willkommen in der Realität! Weißt du, was wir machen werden? Wir klären das. So, wie du das verdammt nochmal von Anfang an hättest machen sollen. Du entscheidest dich. Er oder ich. Und während du in Ruhe darüber nachdenkst, werde ich mit dem mal ein paar Takte wechseln. Gib mir seine Nummer!“ Das Delilah nach solch einer Schlammschlacht überhaupt noch fähig war, Widerspruch zu geben, erstaunte die Sängerin schon weit genug. Aber mindestens im gleichen Maße erzürnte es sie auch, als sie die Botanikerin den Kopf schütteln sah. Den Blick demütig gen Boden gesenkt, aber das änderte nichts daran, dass sie ihre Hilfe verweigerte. „Prima, dann find‘ ich sie eben selbst heraus!“ fauchte Ory, wandte sich schlicht ab und ließ ihre Freundin oder… ehemalige Freundin einfach auf offener Straße stehen. Der kleine Kreis an Publikum störte sie dabei wenig. Die Gaffer, die ihr den  Weg versperrten, stieß sie rüde bei Seite und als sie hinter sich eine ältere Dame hörte, die Delilah fragte, ob alles in Ordnung sei, da wäre sie am liebsten umgedreht und hätte die alte Schachtel auch noch fertig gemacht. Sie war geladen, das ließ sich kaum übersehen…   … und daran änderte sich binnen der nächsten drei Tage auch kaum etwas, bis sie schließlich diesem Möchtegerncasanova gegenüber saß. Das gleiche Café, in dem Delilah sich verhaspelt und die unschöne Wahrheit aufgedeckt hatte. Ein passender Ort, wie die Sängerin befand. Nash wirkte derweil reichlich nervös. Er passte so wenig in diese Szenerie wie sie das tat. Das hätte eine Gemeinsamkeit sein können, die sie verband - aber so feindselig, wie sie ihn anstarrte, waren sie wohl eher Gegner, die zufällig das ungünstigste Schlachtfeld gewählt hatten. „Und… was machen wir ausgerechnet hier?“ hakte der Musikant vorsichtig nach. Als wäre das die Antwort auf alle seine Fragen, landete mit einem dumpfen Knall ein Stück Metall auf dem Tisch. Er brauchte eine Sekunde, ehe er die Form erkannte. Löcher für die Finger, kleine, sorgsam geschweißte Nieten… ein Schlagring. Als ihn die Erkenntnis traf, schluckte er schwer und blickte, langsam erbleichend, zu seinem Gegenüber auf. „Was wir hier machen? Wir können auch da rüber gehen. Siehst du die kleine Gasse dort? Das war mein erster Gedanke. Denn dort könnte ich dir jeden verdammten Zahn aus deiner Fresse prügeln und niemand würde sich für dein jämmerliches Geplärre interessieren, weil sie alle selbst viel zu viel Schiss hätten!“ giftete Ory und schien sich selbst dabei nicht im Ansatz für die Mithörer und das mögliche Publikum zu interessieren. Selbst als auf dem Höhepunkt ihrer zornigen Rede die Bedienung an ihren Tisch kam und Nash eine Tasse Kaffee vor die Nase stellte, unweigerlich Zeugin der Drohungen wurde und dabei mit großen, ängstlichen Augen erstarrte, verleitete das die Sängerin noch nicht zur Mäßigung oder auch nur zur Zügelung ihrer Lautstärke. Stattdessen stierte sie die verpickelte Rothaarige auch noch an. „Problem?“ Die Bedienung schüttelte hastig den Kopf und sah zu, dass sie davon kam, ehe es zu mehr als nur unfreundlichen Worten käme. Wie unangenehm es Nash war, dass man ihn hier allein ließ, ausgerechnet mit dieser Psychopathin, stand ihm regelrecht auf die Stirn geschrieben - etwas, das Ory vielleicht ein Stück weit genoss. Er hatte Angst vor ihr und verdammt nochmal, er hatte jeden Grund dazu! „Also, reden wir Tacheles. Du hast dich eingemischt… und sowas kann ich echt auf den Tod nicht ausstehen. Und nur damit das klar ist und du nicht auf blöde Gedanken kommst: Ich teile nicht. Nichts. Und mit niemandem. Dir schon gar nicht, klar? Delilah hockt im Moment daheim, vermutlich heult sie sich die Augen aus, und überlegt. Und wenn sie clever ist, trifft sie eine Entscheidung, bevor das andere für sie erledigen. Du dagegen wirst sie nicht anrufen. Du wirst ihr keine Grußkärtchen schicken oder zufällig mit einem übergroßen Teddy vor ihrer Tür stehen. Du wirst dich zurückhalten und keinen Ton von dir geben - genau wie ich. Sie soll sich entscheiden, ohne ständig belagert zu werden. Nicht von dir, nicht von mir. Erwische ich dich, dass du glaubst, dich nicht daran halten zu müssen, sorge ich dafür, dass du ein paar Monate keinen Spaß mehr haben wirst. Nicht am Laufen, nicht am Essen, nicht am Vögeln, klar?“ Vermutlich hätte es irgendeine Art von freundlichem Hinweis oder dergleichen werden sollen. Ein etwas betagterer Herr am Nachbartisch räusperte sich. Möglicherweise missfiel ihm, dass die Sängerin in gut hörbarer Lautstärke über Dinge sprach, die in solcher Art und Weise wohl nicht unbedingt in die Ohren durchaus anwesender Kinder geraten sollten. Doch waren die Bälger denn ihr Problem? Gewiss nicht. Sie hatte sich nicht die Kugel spritzen lassen und wenn sie ihren Nachwuchs vor solch grässlichen Einflüssen schützen wollten, sollten sie sie in drei Lagen Watte packen und daheim in eine Gummizelle sperren. „Ich wollte doch nur-“ hob der Spielmann an, doch er hatte einfach keine Chance. Sein Gegenüber fiel ihm nahezu augenblicklich ins Wort und schnitt ihm selbiges ab. „Mir egal, was du wolltest, Bubi.“ „Aber können wir denn nicht-“ „Nein, verdammt, können wir nicht! Ich kann dich nicht ausstehen, hörst du? Das hier, das ist das erste und wenn du Glück hast, auch letzte Mal, dass wir uns sehen! Du kannst froh sein, das ich hier bin und versuche… versuche… was zum Teufel…?!“ Erstaunt blickte Ory zur breiten Fensterfront hinaus. Inzwischen war es draußen dunkel geworden und die Straßenlaternen spendeten ihr Licht. Schon wieder hingen schwere Wolken über der Stadt und schluckten alle Helligkeit, die von oben hätte kommen können. Noch dazu hatte schwerer Regen eingesetzt, doch… weder der gräuliche Fadenschleier der Tropfen, noch die einbrechende Nacht konnten verstecken, das unter der Laterne auf der anderen Straßenseite Delilah stand. Und zu ihnen herüber blickte. Scheinbar wartend. „Hast du sie herzitiert?“ fuhr Ory Nash sofort an, der beschwichtigend die Hand hob und den Kopf schüttelte. Just als die Sängerin sich erheben wollte, begann plötzlich das Geschirr zu klappern. Die Kaffeetasse vor dem Musikanten tanzte samt Untersetzer über den Tisch und die Lampen wackelten. Überrascht von den Erschütterungen verlor Ory das Gleichgewicht und ließ sich zur eigenen Sicherheit wieder auf ihren Hintern fallen. Ihr Gegenüber hatte sich an die Tischplatte gekrallt und sah sich verwundert um. Zumindest, bis die Vibrationen verstummten und alles wieder an Ort und Stelle stehen blieb. „Wow… das war aufregend!“ entfuhr es dem Musiker. Um ein Haar hätte die Sängerin für diesen Unsinn über den Tisch gelangt und ihm eine kräftige Schelle verpasst, damit er wieder zur Besinnung kam. Nur woher sollte er das schon wissen? „Das hier ist keine Erdbebengegend, du Dummkopf!“ fauchte sie erbost und starrte den gefliesten Boden an, als würde gleich die Hölle aufbrechen. Etwas, das nicht weit an der Realität vorbei zielte, wie sich wenige Augenblicke später zeigte. Es begann mit überraschten Ausrufen, die schnell in hysterisches Geschrei umschlugen. Irgendwo aus dem hinteren Bereich des Cafés, den Kühlräumen und der Küche möglicherweise. Kurz darauf brach etwas durch die Tür. Es riss die Holzpforte einfach fort - mitsamt großzügig zersplittertem Rahmen und einem Gutteil Mauerwerk. Eine Wolke aus Staub und Schutt ergoss sich in den Raum hinein. Was immer sich dahinter verbarg, war kein Bulldozer, der sich im Abrissplan geirrt hatte. Das verstand Ory rasch genug, weshalb sie geistesgegenwärtig Nash am Hemdkragen packte und von der Sitzbank auf den Boden herunter zerrte. Was immer durch die Wand gebrochen war, schenkte über sie hinweg, riss den Tisch fort, demolierte einen Großteil des Ladens und schien damit auch noch lange nicht fertig zu sein, während kreischende Menschen zu fliehen versuchten. Manchen gelang das… anderen nicht. „D-Du… du hast mir das Leben gerettet…?!“ keuchte der kreidebleiche Fiedler, doch Dankreden wollte seine Retterin nun ganz gewiss keine hören. „Wenn du Arschloch hier den Heldentod stirbst, trägt sie das mir ewig nach! Also mach dich zur Tür!“ fauchte sie und begann auf allen Vieren voran zu krabbeln. Mit etwas Mühe gelang es beiden, dem Wüten und Bersten im Café zu entkommen, wobei Ory manches Mal ihren unfreiwilligen und ungewollten Schützling drängen und schieben musste. Der Anblick derer, die diesem was-auch-immer nicht entkommen waren, schien ihn völlig fertig zu machen. Als sie es erst einmal auf den Bürgersteig hinaus geschafft hatten, kam er kaum auf die Beine, so zittrig war er. Gemeinsam steuerten sie hastigen Schrittes auf Delilah zu, die - die Hände in Schrecken vor den Mund geschlagen - noch immer unter der Laterne ausharrte, erstarrt. Selbst der Anblick der zwei Flüchtenden schien sie kaum zu beruhigen. Zweifellos hatte sie weit mehr sehen können als die beiden, die sich direkt im Zentrum der Verwüstungen befunden hatten. Beide hatten sie die Straße fast überquert, als sich die Geschehnisse überschlugen. Direkt auf der Kreuzung, unweit ihrer Position, barst in einer kleinen Explosion der Asphalt in die Luft. Brocken von Kies, ausgehärtetem Teer und Sand wirbelten herum, während etwas daraus hervor jagte. Zugleich knackte es hinter ihnen und unter einem ohrenbetäubendem Lärm brach das gesamte Gebäude ein, dessen Erdgeschoss einstmals ein beliebtes Café gewesen war. Ory blickte über die Schulter, entsetzt über das Ausmaß der dortigen Zerstörungen - und verlor den Rest aus den Augen. Einer der Splitter traf sie an der Brust, ein größeres Stück. Die keuchte, ächzte, geriet aus dem Lauf und stürzte zu Boden. Desorientiert versuchte sie sich wieder aufzurichten. Dumpf hörte sie den Braunhaarigen Delilahs Namen rufen, sah verzerrt, wie er sprang, sie davon stieß, ehe etwas von oben niederging, ein großes Loch in den Bürgersteig und die Straße riss. Erneut flogen Brocken herum, sie igelte sich klein zusammen, die Arme fest über den Kopf gelegt. Um sie herum und auf ihr selbst ging der Regen der Splitter nieder. Bomben… scheiß Rucksackbomber oder… oder Sprengautos… was weiß ich! Aber das passte nicht. Etwas Großes hatte sich im Café bewegt. Etwas Großes hatte das Loch von oben herab geschlagen - das Loch an der Stelle, an der Delilah vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte. Delilah! Hastig löste die Sängerin ihre Schutzstellung, rappelte sich auf. Der Dummkopf von einem Fiedler reichte der Blonden gerade charmant und heldenhaft die Hand, um ihr aufzuhelfen, als plötzlich die Beben wieder einsetzten. Und er stand zu nah am Loch. Sie sah ihn noch mit den Armen um Gleichgewicht rudern, sah, wie Delilah zuzupacken versuchte, aber alle Mühen kamen schlicht zu spät. Der Musikant verlor den Kampf gegen die Schwerkraft und stürzte hintenüber in das Loch hinein. Als Ory die paar Meter zurückgelegt hatte und dort ankam, war sie zunächst einen Blick hinab. Mehrere Meter tief - dort unten war es dunkel. Niemand hätte sagen können, wie tief genau er gestürzt war. Hastig eilte die Sängerin zu Delilah herüber, packte ohne große, heldenhafte Gesten ihr Handgelenk und zog sie empor. Als sie sie jedoch auch von jenem Bruch im Asphalt fortbringen wollte, sperrte sich die Blonde. Erst, als sie ruckartig sich loszureißen versuchte, wandte sich Ory zu ihr um. „Komm schon, wir müssen hier weg!“ wies sie sie scharf an, doch Delilah befreite sich nunmehr völlig und schüttelte trotzig den Kopf. Den Arm zum Loch zeigend ausgestreckt, erwiderte sie die barsche, direkte Art ihrer Freundin. „Wir können ihn nicht einfach da unten lassen! Wir… wir müssen irgendwas tun! Er könnte verletzt sein!“ Darauf möchte ich wetten… und verdient hat er’s allemal! Natürlich waren das keine Dinge, die die Sängerin aussprechen konnte. Mit einem frustrierten Seufzen starrte sie die Blonde einen Moment an. Ein Flehen lag in ihren Augen, dem sie sich zwar hätte versperren können… doch es machte ihr eines klar: Würde sie nun gehen, würde Delilah ihr das nie verzeihen. Sie hatte es im Café selbst gesagt, nicht wahr? Starb dieser Dummkopf, wäre sie schuld. Und das, bei Gott, würde sie nicht auf sich sitzen lassen! „Ach Scheiße! Gut, meinetwegen, aber wir können nicht blindlings in ein schwarzes Loch springen, von dem wir nicht wissen, wie tief es ist. Wir brauchen… ein Seil oder sowas…“ Im Zweifelsfall mussten eben auch Kabel herhalten, wenn es keine Seile gab und sich der Gedanke, filmreif Tischtücher des zerstörten Cafés aneinander zu binden, als weitere Hollywoodlüge entpuppte. An der eher mit gutem Willen noch im Boden verankerten, schief stehenden Laterne verzurrt, ließ sich Ory als Erste in die Finsternis hinab.   In wenigen Stunden würden sie ihn aus dem Dorf jagen. Einen Lüstling schalten sie ihn, Hurenbock und Gierschlund kreischten sie zornig hinter ihm her. Sie warfen Steine, Kartoffeln, alles, was sie greifen konnten. Sogar eine kleine Stechschaufel traf ihn an der Schulter und hätte ihn fast zum Sturz gebracht. Aber jetzt… jetzt konnte er davon freilich noch nichts wissen. Er ahnte, dumpf, dass das hier Folgen haben könnte. Vielleicht. Aber wozu sorgen? Vorsichtig strichen seine Fingerspitzen über die vollen Wölbungen ihrer Brüste, senkten sich, von nicht mehr als einem fernen Rascheln im Heu und ihrem willigen Seufzen begleitet, in das Tal zwischen ihren Schenkeln hinab. Sie war wunderschön, wie sie dort im Heu lag, bar aller Kleider. So bereitwillig wartend, so unschuldig trotz der Sünde, die sie hier begingen. Er tastete ihre Unschuld nicht an, würde es bis zuletzt nicht und doch sah er diese brennende Sehnsucht in ihren Augen. Dieses unersättliche und doch erfahrungslose Verlangen. Sie war leidenschaftlich, sie war… eins mit der Melodie des Vorabends. Er hatte ein Stück zum Besten gegeben, aus fernen Landen. Wie eine wilde Hexe war sie um das Feuer gesprungen, hatte ihren langen Rock wirbeln lassen und den Herren den Kopf verdreht, nur mit dem Anblick ihrer Knie und ein paar weniger Millimeter Haut darüber. Sie war ein Kunstwerk der Natur, eine wundervolle Schöpfung. Das Rohmaterial hatten ihre Eltern gegeben. Was sie aß, die Jahre, die ihr Gesicht zeichneten, die Arbeit, die ihre Hände formten, all das hatte aus ihr gemacht, was sie nun war. Ein bezauberndes, makelloses Kunstwerk. Er begehrte sie auf einer Ebene, die sie nicht verstand. Vielleicht auch nie begreifen oder erfahren würde. Sie war Schönheit. Nicht die Schönste, nicht einmal hier im Dorf… und doch war sie es. Auf andere Weise. Sein Blick hatte sie eingefangen und doch war sie es, die ihn fing. Er schloss die Augen, in Wohlgefallen. Es war Zeit, sich zu bedanken. Für die Wonne ihres Anblickes und ihrer Gegenwart zu revanchieren. Feuchte Wärme umfing seine Fingerspitzen. Sie holte tief Luft, bäumte sich einen Moment auf. Ein kurzes Vergnügen wurde es. Als er die Lider wieder aufschlug, sauste der Boden unter seinen Füßen dahin. Man schrie und wütete. Panisch blickte er über die Schulter, gehetzt wie ein Tier, sah die Fackeln schwenken, Mistgabeln dazwischen wackeln. Er entkam. Ein weiteres Mal. Nie wieder würde er so etwas tun, nahm er sich vor - wissend, dass es wie die unzähligen Male zuvor nicht mehr war, als ein paar lapidar dahingesagte Worte, die kaum bis zum nächsten Abend überleben würden.   „Er ist weg“, konstatierte Ory das Offensichtliche. Das Loch hatte sich als erstaunlich tief erwiesen, das Kabel hätte fast nicht gereicht und nun hatten sie nicht viel mehr Licht als jenes, welches ihre Handys aufbieten konnten. Ein eher notdürftiger Ersatz für Taschenlampen. Noch immer zitterte die Erde. Mal waren die Beben stärker, mal schwächer. Keiner von beiden er erpicht darauf, herauszufinden, was sie oben auf der Kreuzung und im Café eigentlich angegriffen hatte, aber wie es schien… mussten sie genau dieser Spur folgen, wollten sie Nash wiederfinden. „Ich halte das für keine gute Idee. Wirklich. Lass mich ihn suchen und geh du… ich weiß nicht. In Sicherheit?!“ versuchte die Sängerin es ein letztes Mal, aber wie erwartet biss sie auch diesmal auf Granit. Delilah würde nirgendwo hin gehen, „Sowas hier, das sollten irgendwelche Muskelmänner aus Actionfilmen oder wenigstens ein Dutzend bewaffneter Polizisten machen…!“ fluchte sie weiter, wischte sich Staub und kleine Steinchen aus den bunten Haaren, ehe sie mit der schwachen Leuchte vorangestreckt tiefer in den Tunnel stolperte. Ein paar Dutzend Meter kamen sie voran, das letzte bisschen Luft und Licht von der Straße verschwand schon nach der ersten Biegung, als die Erschütterungen im Boden den Status eines beständigen Vibrierens überstrahlten und wieder zu einem stärkeren Beben ausarteten. „Verdammt, es kommt zurück!“ fluchte Ory. Beherzt packte sie Delilah am Arm, zerrte sie voran. Hastig stolperten sie vorwärts, ohne noch recht zu sehen, was direkt vor ihnen lag. Zu hektisch wurde die Lichtquelle herumgewirbelt. Schließlich hörten sie den Durchbruch, irgendwo ein paar Meter hinter ihnen, spürten, wie es näher kam. Gerade noch rechtzeitig sah die Sängerin Abzweigungen und tat, was sie für am klügsten hielt. Sie stieß die Blonde zur Linken hinein und warf sich selbst nach rechts - ohne erwartet zu haben, dass sie eine stattliche Schräge hinabrollen würde, ohne Chance, sich irgendwo festzuhalten oder zu bremsen. Entsprechend hart schlug sie irgendwo deutlich tiefer wieder in einen anderen Gang am Boden auf. „Delilah…?“ keuchte sie leise, doch natürlich antwortete niemand. Einige Minuten irrte sie orientierungslos in der Dunkelheit weiterer, endlos scheinender Gänge umher, ehe sie sehr zur eigenen Überraschung tatsächlich wieder auf jemanden stieß. Nash. Ausgerechnet den. „Was machst du denn hier?!“ fuhr sie ihn wenig erfreut an. Tatsächlich war sie unglaublich erleichtert. Nicht nur, weil er noch lebte, auch… weil sie nicht mehr allein war. Allein in der Finsternis mit irgendeinem Ding, das mühelos große Tunnel durch massiven Stein bohrte. „Ich… ich weiß nicht… ich bin gestürzt und habe mir den Kopf angeschlagen, ich habe irgendwie… was total Irres geträumt und… dann bin ich aufgewacht. Mitten im Rennen, irgendwie.“ Die mehr als unsinnigen Ausführungen des Fiedlers tat Ory als das ab, was sie wohl wahrscheinlich auch waren: Wirres Geplapper von einem Typ mit Schädeltrauma und Gehirnerschütterung. Was wollte man nach einem Sturz aus dieser Höhe auch erwarten? Vermutlich glich es eher einem Wunder, das er sich nichts gebrochen zu haben schien. „Komm schon, Houdini, wir müssen Delilah finden und irgendwie hier raus kommen!“ Eine ganze Weile schlichen sie gemeinsam durch die Dunkelheit, bemüht, die Blonde wiederzufinden, doch von ihr fehlte jede Spur. Orientierungslos, reagierte Ory obendrein zunehmend gereizter auf Nashs Nachfragen, ob sie denn nicht mehr wisse, woher sie gekommen sei oder in welcher Richtung die Botanikerin denn theoretisch sein müsse. Sie hatten Biegungen durchschritten, Abzweigungen passiert - und sich restlos in der Dunkelheit verirrt. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit - Waren es Minuten? Waren sie schon Stunden hier unten gefangen? - leuchtete ein schwacher, kaum wahrnehmbarer Schein in ihre Richtung. Keine Reflektion des Displays, sondern ein schwaches, mattes Glimmen aus einem Raum. Seite an Seite wurden sie langsamer, vorsichtiger und obwohl sie im Tunnel aufrecht stehen konnten, bückten sie sich leicht, als sie näher heran schlichen. Abrupt standen sie an einer Bruchkante. Direkt vor ihnen ging es knapp ein Dutzend Meter in die Tiefe - schon wieder. Doch was sich ihnen für ein Anblick bot, war schier unbeschreiblich. Eine gewaltige Kammer, eine Halle, erstreckte sich mit einer Gesamthöhe von sicherlich vierzig oder fünfzig Metern. Noch deutlich breiter und um ein Vielfaches länger. Von mehreren Seiten mündeten Tunnel wie der Ihre auf einem Drittel der Kammerhöhe in das Gewölbe. Dem leisen Plätschern von Wasser nach zu urteilen, musste aus mindestens einem der Tunnel etwas in die Tiefe stürzen. Dort unten hatte sich, am Boden der Aussparung, aus Schlick, Dreck, Sediment und Gestein eine regelrechte Insel geformt, welche von den Abwässern umspült wurde. Aber waren es überhaupt noch Abwässer? Hier unten fehlte der penetrante Gestank nach Kloake, Fäkalien und allerlei anderem, widerwärtigem Unrat. Stattdessen wuchsen hier… Moose. Dichte, dicke Teppiche in zartem Grün, die ihrerseits für das schwache, aber allgegenwärtige, sanfte Licht verantwortlich waren. Sie wucherten an der Decke, an den Wänden, am Boden - scharenweise. Was jedoch noch weit mehr erstaunte, waren Bäume. Sechs Stück, irgendwelche Laubbäume. Einer Allee gleich, drei in Reihe, harrten sie dort unten aus und schlossen einen dünnen, unbewachsenen Pfad ein, der zum hinteren Ende der gewaltigen Kammer führte. „Wow… unglaublich…!“ stammelte Nash ungläubig. Unwillen zerriss die ohnehin wenig staunende Miene seiner Begleiterin, als diese das geradezu kindlich-freudige Funkeln in seinen Augen lesen konnte. „Das hier ist nicht Disneyland, du Vollidiot!... Ich frage mich, wie dieser ganze Mist hier runter kommt. Hätte hier nicht längst die Stadt zusammenbrechen müssen? Wenn hier so viel… Stein fehlt? Und was ist das da hinten?“ „Was?“ „Da, am Ende dieses… Pfades. Sieht aus wie… ach du Scheiße…“ Als sie sich anstrengte, ihre Augen zusammen kniff und ihren Blick auf das Ziel zu fokussieren versuchte, erhärtete sich rasch ihre Vermutung, ihr Verdacht - und selbst der sonst so schlagkräftigen Sängerin blieben alle weiteren Worte im Halse stecken. Am ‚Ufer‘, zwischen dem Ring aus Wasser und der Sandinsel, lag eine Schlange. Ein gewaltiges Biest, sicherlich an die dreißig Meter lang und nicht weit von ihr entfernt ein großer Berg runder, weißer… Kugeln. „Ein Nest… wir müssen da runter, Nash! Wenn wir ein, zwei Eier bekommen… vielleicht können wir die Mistviecher erpressen. Mit ihrem eigenen Nachwuchs auf Distanz halten, verstehst du? Solange wir in ihren Gängen rumstolpern, sind wir jedenfalls leichte Beute…“ Ihr Kopf rauchte, hatte sie das Gefühl, während sich Ideen und Pläne überschlugen. Erst einmal müssten sie runter kommen. Dann, sich vorsichtig anschleichen. Sie hatte mal eine Reportage gesehen, National Geographic oder dergleichen. Schlangen reagierten empfindlich auf Vibrationen und Gerüche… laut brüllend herumtrampeln wäre also keine so gute Idee - höchstens als Ablenkung. Ablenkung, gutes Stichwort! Sie wurde jäh unterbrochen - von Nashs Stimme, die unsicher, zittrig und brüchig an ihrer Seite wenig hilfreich herumzustammeln begann. „Äh… d-du, sag mal… a… also…“ Glaubend, dass er sowieso nur - wieder - Unsinn von sich geben würde, unterbrach sie ihn ein weiteres Mal. Kurz fuhr sie sich eines Luftzuges wegen über die Oberarme, ehe sie fassungslos auf den Boden herab deutete. Direkt vor ihnen brach die Kante in die Tiefe und dort unten waren Wasser und Grund - und Delilah. Wie in Trance schritt sie vorsichtig aus dem Wasser hervor. Irgendwo unter ihnen musste es also noch weitere Tunnel geben, Tiefergelegene. Der Flötist an ihrer Seite wollte gerade laut ihren Namen rufen, da packte die Sängerin beherzt zu und presste ihm die Hand auf den Mund. Da war er wieder... der Luftzug. „Schhhht!“ mahnte sie ihn kurz darauf leise und deutete auf die gewaltige Schlange am anderen Ende der Halle, die sich langsam und träge ins Wasser gleiten ließ. „Du, sag mal,“ hob der Musikant leise an, als sie ihre Hand wieder sinken ließ. Irgendwie, so überlegte sie fieberhaft, mussten sie Delilah warnen. Und rasch dort hinunter gelangen. Und zu dem Gelege kommen, um dann schnell von hier verschwinden zu können. Obwohl sie bisher keine Ahnung hatten, in welche Richtung sie laufen mussten… verdammt! „… wenn es ein Nest gibt, heißt das nicht, das es zwei Schlangen sein müssten…?“ Die Sängerin erstarrte. Wie am Boden festgefroren, hätte man zusehen können, wie das Blut ihre Wangen verließ. Zwei Schlangen… das Café… die Kreuzung… dort unten und… der… der Luftzug… „Delilah, es sind zwei!“ brüllte die Sängerin aus vollster Kehle herab. Unten sah sie die Blonde herumfahren, überrascht und erschrocken zu ihnen emporblicken - just in der Sekunde, als sich der zweite Serpent aus dem Dunkel des Tunnels hinter ihnen auf sie stürzte. Einem Wurm gleich, der sich aus dem stichigen Apfel herauswand, jagte das Ungetüm aus dem Loch hervor. Nash wurde von der Wucht des schnellen, geschuppten Körpers schlicht erfasst, davon gestoßen - über den Rand des Tunnels hinaus in die Tiefe, dem Hallenboden entgegen. Ory dagegen verblieb, die Beute der Bestie, von dieser umschlungen. Der muskulöse, kraftstrotzende Leib umschlang sie, quetschte sie ein, stärker und enger mit jeder Sekunde. Das Blut staute sich, rauschte verzweifelt drückend in ihren Ohren. Sie hörte dumpf die beiden anderen vom Boden her schreien, sah aus sich trübenden Augen dem Monster entgegen. Ein Kamm von merkwürdigen Klauen und Knochenstrukturen, fast einem Kragen ähnlich, spreizte sich am Hals der Schlange ab. Das Maul offenbarte vier gewaltige Giftzähne - nie zuvor hatte sie eine solche Schlange gesehen oder auch nur von solchen Kreaturen gehört! Nicht real, nicht real, alles nicht real… versuchte sie sich einzureden, wiederholte es einem Mantra gleich, den Schmerz ihres Todes erwartend, als könne sie sich selbst zum Aufwachen bewegen und alles als fürchterlichen Alptraum abtun. Sie hörte das Zischen und Fauchen der Bestie, spürte, wie ihre Muskeln sich verhärteten, sie sie noch dichter zusammen quetschte. Knochen ächzten unter der Belastung, ihre Schulter sprang aus dem Gelenk und der Schmerz machte sie rasend und blind. Aller Hemmungen, aller Vernunft und allen klaren Denkens beraubt, stieß die Sängerin einen Schrei aus, geboren aus ihrem Schmerz. Laut und gellend wogte er in dem riesigen Gewölbe auf und ab, warf Echos von den Wänden. Die Wirkung ihres Schreies war… einzigartig. Die Schlange löste den unerbittlich zermalmenden Griff ihres Leibes, ließ die Bewusstlose achtlos in die Tiefe stürzen und zog sich rasch und eiligst in die tiefen Tunnelsysteme weit jenseits der Kanalisation zurück. Nashatal jedoch reagierte genauso wie die Schlange. Mit einem Schlag setzte alle Vernunft aus, jeder Instinkt schaltete um auf nackte, hysterische Panik. Flucht war alles, was sein Kopf noch als Gedanken zustande brachte. In schierer, blanker Todesangst jagte er mit großen Schritten davon, fort von der Sängerin, fort von der Quelle des Schreies, als sei sie der Teufel persönlich und er die fette Seele, der leckere Happen. Er lief, rannte, ziellos, blindlings, bis er stolperte und zu Fall kam. Keuchend und Luft in seine brennende Lunge saugend, blickte er zur Seite. Sah, wie sich das zweite Ungetüm aus dem Wasser löste und rasch auf die Blonde zubewegte. Sein Blick fiel zum Nest zurück. Ein Ei… vielleicht könnte er sie wütend machen. Ablenken. Auf sich ziehen. Irgendetwas tun. Hastig rappelte er sich auf, versuchte näher an das Gelege zu kommen, während der Serpent in weitaus höherer Geschwindigkeit auf Delilah zuhielt. Die war noch immer damit beschäftigt, ihre Freundin an Land ziehen zu wollen. Sie sprach sie an, rüttelte und schüttelte sie, doch sie rührte sich nicht. Ihr Arm sah gebrochen aus, die andere Schulter war ausgerenkt und ihr Gesicht aschfahl… „Komm schon, tu mir das nicht an!“ brüllte die sonst so schüchterne Blondine. Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie den Luftzug in ihrem Nacken, rollte sich zur Seite fort und ließ unfreiwillig von ihrer Rettungsaktion ab. Der Kopf des Monstrums bohrte sich in den Sand, spie das unliebsame Gemisch jedoch sofort wieder aus und wandte sich der noch flüchtenden Beute zu. Rasch war die Botanikerin eingeholt, traf sie der wuchtige Schwanz des Tieres und schleuderte sie erst gegen wie Wand der Kammer, ehe sie in das Wasser hinab stürzte. In den überraschend tiefen Fluten hatte sie keine Chance, dem geborenen Schwimmer etwas entgegen zu setzen. Wieder und wieder zog der Serpent sie unter Wasser, drohte sie zu ertränken. Wenige Zentimeter nur trennten sie von der lebenswichtigen Luft zum Atmen, sie sah die Umrisse der Moosteppiche an der Decke, sah die dunklen Stellen der Tunneleingänge, die Bäume… die Bäume… Mit dem Aufgebot ihrer letzten Kräfte stieß sie sich ab, riss sich irgendwie los. Für wenige Sekunde nur kam sie über die Wasseroberfläche, streckte bettelnd die Hand aus. „Helft mir, bi-“ Weiter kam sie bereits nicht, da hatte das Ungetüm sie zurück unter Wasser. Die Luft drang aus ihren Lungen und doch blieb ihr Ruf nicht ungehört. Das Holz knarrte und ächzte, rüttelte sich frei vom Erdreich und schüttelte die Kronen. Waldgeister erwachten zum Leben und griffen den Serpent an, der jene bedrohte, welche sie gerufen hatte. Ob sie noch rechtzeitig kamen, um Delilah zu retten, war fraglich. Zu viel Wasser war schon in verzweifelten, krampfenden Atemzügen in ihre Lungen gezogen worden. Ihr wurde schwindlig…   Eine gewaltige Grotte war dies. Nie hatte sie Vergleichbares gesehen. Mächtige Wurzeln stießen aus der Decke, Stützpfeilern gleich, lebendig und unbeugsam griffen sie in das Erdreich. Ein kleiner Hügel nur ragte aus dem grenzenlos scheinenden, endlosen See hervor. Gewaltige, golden schimmernde Fische umkreisten sie. Sie hätte Angst haben müssen, nicht wahr? Sie war allein. Verlassen, so schien es. Diese Fische waren gewaltig, hätten sie mit einem Mal verschlingen können. Kein Licht drang noch hier hinein. Über ihr war der Eingang. Ein winzig scheinendes Loch im Boden, dutzende Meter entfernt. Ohne eine schier unvorstellbare, schwierige Kletterpartie käme sie hier nie wieder raus und könnte verhungern und verrotten. Zumindest Durst würde sie wohl nicht leiden müssen. Und doch fehlte diese natürliche Angst. Sie war nicht allein - sie wusste es besser. Ihre Herrin war hier, war bei ihr. Allein dieses Wissen, allein die Einsicht, dass sie hier in einer geweihten, heiligen Stätte stand, verschaffte ihr Ruhe. Einen bis dahin ungekannten, lange ersehnten Frieden. Einklang in ihrem aufgewühlten Inneren. Ihre Herrin machte ihr ein Geschenk, kostbarer als es je ein anderer Sterblicher hätte begreifen können. Ein einzelnes, großes Samenkorn. Sie konnte die mächtige, die göttliche Magie darin pulsieren fühlen. Ein Weltenbaum. Uralte Ungetüme, die einst jeden Wald eines jeden Landes erschaffen hatten. Ihre Wurzeln reichten bis in die tiefsten Tiefen der Welt, so sagte man. Dieser eine Samen würde ihr alles, was sie einstmals unter Schmerz und Zorn im Feuer verloren hatte zurückgeben können. Ein Zuhause. Schützlinge. Eine Restaurierung ihrer Bestimmung. Ein Gleichgewicht, über das sie wachen, welches sie hüten müsste. Eine Existenzberechtigung. Und Frieden… Frieden. Sie schloss die Augen, als das Zucken verebbte, die Krämpfe schwächer wurden. Ruhe, Einklang… und Frieden.   In aller Hast und Eile kraxelte der Musikant den Haufen der Eier herauf. Warum er kletterte, statt das Erstbeste zu greifen, wusste er nicht. Er musste hoch, musste weiter nach oben. Beide Schlangen jagten auf ihn zu, er wusste es einfach. Er musste sich nicht umdrehen, um es zu wissen. Sie waren da, nah und näher mit jedem Herzschlag. Hastig streckte er den Arm nach oben, packte zu, blindlings, auf gut Glück. Seine Finger packten etwas Hartes. Ein siegreiches Grinsen zierte seine Lippen, Sekunden bevor sich gewaltige Fangzähne in seinen Rücken bohrten. Gift jagte durch seinen Blutkreislauf, mehr als eine ganze Elefantenherde hätte vertragen können.   Panisch schreckte der Barde auf, keuchend, zuckend, kreidebleich und von kaltem Schweiß bedeckt. Hastig zog er die Hand aus dem rituellen Becken. Eiskalt und doch brennend fühlte sie sich an. Nashatal blickte zur Seite. Delilah keuchte schwer, rang nach Luft. Sie hatte Wasser auf den Boden erbrochen, so schien es. Die Haare, von Ranken durchwoben, hingen in schwer getränkten Strähnen herab. Orykene dagegen saß abseits. Irgendwer hatte begonnen, ihren Arm zu schienen. Sie biss mit aller Macht die Zähne zusammen, als Thorin ihr die Schulter einrenkte. „Habt ihr ihn?“ hörte der Barde dumpf eine vertraute Stimme fragen. Er stieß, achtlos und desinteressiert, die Schale vom Sockel. Das Gebräu ergoss sich über die Steine, versickerte in den Ritzen und würde in Zukunft sonstwen belästigen. Was zurückblieb, war die Schale… und ein kleines, unscheinbares Stück Tand. „Ich will hoffen… dass es das wert war“, brachte der Barde noch immer neben sich hervor. Gallig, ja geradezu erbost - für ihn ein höchst seltener Zustand - stierte er das kleine Stück an… ehe er sich abwandte. Er half Delilah auf die Beine, schritt mit ihr zusammen zu der versehrten Harpyie herüber. Zu dritt saßen sie beisammen, versuchten das Erlebte zu verarbeiten… oder zu verdrängen. Sie schwiegen sich aus, saßen lediglich still beieinander. Keiner verlor ein Wort - und doch wusste jeder von ihnen, das sich die Dinge geändert hatten… Kapitel 27: Initiation ---------------------- Jemand zog Fäden aus einer Naht. Etwas, das wohl jeder kannte, der seine Kindheit zu genießen und zu nutzen gewusst hatte oder… zumindest schon einmal einen halbwegs professionell arbeitenden Heiler hatte aufsuchen müssen. Dieses leichte, unangenehme Ziepen, wenn das Stück Fremdkörper aus dem Fleisch gezogen wurde, welches immer dann entstand, wenn das heilende Gewebe sich darum zu schließen, es einzubauen versucht hatte. Es war dieses Empfinden, welches das Leben zurück in ihren Körper brachte. Ein Geist, der viel zu lange andere Pfade gepilgert war und nun, da die Welt ihn rief, da ihn unbenannte Kräfte unweigerlich zurück zerrten in das Gefäß, welches im von Geburt an ein Gefängnis war, völlig verstört reagierte. Verwirrung lag neben Schmerz in den lichtempfindlichen Augen, als diese sich öffneten und vom Kuss des nachmittäglichen Sonnenlichtes empfangen wurden. Rasch schlossen sich die Lider wieder, pressten sich dicht aufeinander, während eine steife Nackenmuskulatur ächzte und jammerte, als sie zu hastig den Kopf vom Fenster abwandte. „Du hast lange geschlafen. Zwei Tage“, vernahm sie eine leise Stimme. Natürlich - irgendjemand musste da sein. Irgendjemand musste zugegen sein, die Fäden ziehen. Eine Naht, sie war also verletzt worden. Wo? Das Brennen kam von ihrer Schulter. Vorsichtig versuchte sie den Arm zu bewegen, spürte ein Kribbeln darin. Als wäre eine tiefe Taubheit noch nicht allzu lange überstanden. Verzweifelt versuchte sie einen Weg zu finden, um- „Kannst du dich erinnern?“ vernahm sie die krächzende Stimme erneut, „Weißt du, was zuletzt geschah?“ Nur zäh und langsam wich das Tuch der Desorientierung von ihrem Verstand. Die ersten Bilder und Eindrücke waren die völliger Verwüstung. Chaos. Zerstörtes Mauerwerk, ein lauter Knall, das Bersten von Holz und Stein und dann… Feuer. Sengende Hitze, die ihr von allen Seiten entgegen schlug. Eine Stimme, die nach ihr schrie. Nicht voller Sorge. Nicht ängstlich. Zornig. Mit der Kraft, die sonst nur inbrünstige Wut schenkte. Man hatte nach ihr geschrien - nach und nach formte sich auch das dazu passende Gesicht heraus. Panaver Urthada. Ein Offizier aus Sundergrad. Befördert durch den Tod aller Vorgänger, als die Stadt in blutigen Tagen in Piratenhand gefallen war. Mit der Erinnerung an den Umsturz im Süden brach eine regelrechte Woge über sie herein. Jemand hatte einen gewaltigen Hammer in den Damm getrieben, der ihre Erinnerungen zurückgehalten hatte und nun ergoss sich diese Flut über ihren Verstand. Wie betäubt keuchte sie auf, ächzte, wand sich. Zu viel, viel zu viele Eindrücke auf einmal. Aedan, die Gilde, Assassinen, Märkte, der Geruch von Straßendreck und der Kloake, Drogen, der Geschmack von Blut und feinen Gewürzen, das Wimmern von Sklaven, das Scheppern von Rüstungen. „Ximasxi“, so wurde sie von jener Gestalt an ihrem Bett angesprochen. Ein weiterer Dammbruch. Jahre im Wald, eine liebende Mutter, die Verleumdungen, Hetzjagden, grausame Streiche. Abrupt riss die Gestalt im Bett abermals die Augen auf. Die Lider, gerade noch bis zum Anschlag geöffnet, verengten sich nahezu augenblicklich zu zornigen Schlitzen, während das leuchtende Gelb darin herum irrte, Ziele suchte, die Umgebung einzuschätzen versuchte. Eine hohe Halle, mehrere Betten, eine einzige Tür. Kein Eisenbeschlag, eine einfache Holzpforte. Primitives Schloss, keinerlei Herausforderung. Unruhig spannte sie die Muskeln ihres Körpers, erhielt Rückmeldungen. Die Waden überspannt, die Schultern schmerzend, der Bauch verkrampft. Schlechter Zustand, noch immer. Zu ihrer Linken fand sie den Unruhestifter. Als ihr Blick ihn erfasste, fiel es ihr schwer, ihm weiter zu grollen. Oh sie erinnerte sich. An ihr erstes eigenes Kommando. Was für ein Fehlschlag! Mit Bravour hatte sie die gesamte Operation an die Wand gefahren. Alle waren tot. Mit etwas Glück hatte Urthada Jalil aufgreifen lassen, hatte die Waffen und Rüstungen noch austauschen können. Ohne Belagerungsgerät würden sie die Mauern Sundergrads nicht überwinden - aber wer sagte, dass sie die Bomben Zunders nicht gefunden hatten? Eloen. Vorsichtig, als könne sie etwas zerstören, das längst nicht mehr da war, fuhr ihre gespaltene Zunge über die Lippen. Rau, rissig, aufgesprungen. Die Elbe hatte sie geküsst. Warum hatte sie das getan? Sie sah den Mann an, der sich um sie zu kümmern schien. Er war geduldig, harrte ihrer Antwort, als hätte er alle Zeit der Welt. Er war ein Mensch - aber kein gewöhnliches Exemplar. Seine Haut war fahl, trug einen blassen Ton. Sie kannte dergleichen von Infizierten. Welche Krankheiten sie gehabt hatten, war ihr nie zu Ohren gekommen, aber sie hatte die Reaktionen anderer Menschen darauf gesehen. Wie sie sie anstarrten, voller Ekel. Wie sie Steine warfen, um sie irgendwie verscheuchen zu können. Hauptsache, man musste sie nicht selbst anrühren. Ja - genau so sah dieser hier aus. In kränklichen Nuancen von blassem Blau und Grün zog sich das Adergeflecht seinen Hals herauf. Die eingefallenen Wangen waren faltig, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Haut spannte über Knochen, wirkte dabei dünn wie Pergament. Ein Anblick zum Fürchten. All dies verborgen im Schatten, versteckt unter einer tief über den Kopf gezogenen Kapuze. Ein nachtschwarzes Gewand. Eines, wie er es einst getragen hatte. Wie sollte sie einem Wesen grollen können, dessen Liebe und Loyalität für den Nachtvater so unbestreitbar viel größer war als die Ihre? Sein Anblick stieß sie nicht ab. Auch sie hatte man mit Steinen beworfen. Sie für ekelerregend befunden, verscheuchen wollen, auch sie hatte man ein Monster gerufen. „Ich erinnere mich wieder“, gab sie leise zu verstehen. Zwei Tage war sie hier gewesen? Zwei Tage hatte sie geschlafen, während die Wölfe oder Hunde aus der Stadt, Vögel oder welches Getier auch immer sich über die Leichen ihrer Kameraden hergemacht hatte. Weil sie versäumte, den Verräter rechtzeitig zu töten. „Erinnerst du dich, wie du hierhergekommen bist?“ wünschte der Priester zu wissen. Sie holte tief Luft, spürte ihre Lungen noch immer von der Rauchvergiftung schmerzen und schloss dennoch die Augen wieder, ehe sie langsam das Gemisch aus ihren Lungen entweichen ließ. Die Lagerhalle, Zunders Sprengsatz. Sie hatte ihn gezündet, alles zum Einsturz gebracht. Doch diesmal war nichts wie gewünscht verlaufen. Wirklich gar nichts. Statt die Halle zu sprengen und fliehen zu können, wurde sie selbst getroffen, verletzt. Sie litt entsetzliche Schmerzen, während um sie herum das brennende Haus immer weiter einbrach. Es war das Ende, das wusste sie. Dort draußen wartete eine Armee, selbst hätte sie fliehen können… wartete auch noch Panaver Urthada. Ein Monster unter der Haut eines Menschen. Sie wäre ihm nicht entkommen. Niemals hätte er das zugelassen. Also hatte sie gebetet. Zum Nachtvater. Um Rache und Vergeltung, um Erlösung, Rettung, um… sie wusste nicht mehr, worum. Sie wusste nur noch, dass jemand sie erhört hatte. Nicht der Nachtvater selbst… aber einer seiner Diener war plötzlich zugegen gewesen. Der Priester aus dem Zelt der Offiziere - genau. Eloen hatte ihn töten sollen, doch die Elbe konnte diesen Mächten nichts entgegen setzen. Die Assassinin war tot. Ximasxi wusste das, auch ohne je ihre Leiche gesehen zu haben. In einem Moment stand sie hinter ihr, im nächsten war sie fort. Nur auf einen Fingerzeig des Dieners hin. Niemand würde ihre Leiche je sehen. „Er bot an, mich zu retten, falls… falls ich…“ hob sie leise an. Sie erinnerte sich an das Gespräch, doch die Bruchstücke kehrten langsamer zu ihr zurück, als sie es wünschte. Sie war ungeduldig, sie selbst noch mehr als der schwarze Priester an ihrem Bett. „… falls du versprichst, dich in den Dienst des Nachtvaters zu begeben, Kind“, vollendete ihr Wohltäter den Satz der Diebin und setzte damit das Puzzle zusammen. Sie musterte ihn genauer. Sein Gesicht war… anders. Die falsche Augenfarbe, die falsche Haarfarbe und -länge - das war nicht der Mann, der sie gerettet hatte aus Rauch und Feuer. „Wo ist er?“ erkundigte sie sich leise, „Wer seid ihr?“ Die Arbeit an der Naht beendend, legte der Ceteusdiener das Besteck bei Seite, in eine kleine Schüssel mit Wasser, wo sich das Blut lösen konnte. Er bedachte sie mit einem langen Blick. Ihre Verletzungen waren schwer gewesen. Er hatte zunächst nicht einsehen wollen, warum er sich um sie kümmern sollte. Warum ihn überhaupt interessieren sollte, wer sie sei oder welche Versprechungen sie gegeben habe. „Er ist fort… hat zu tun. Mein Name ist Celsor“, gab der Priester bereitwillig zu verstehen und beobachtete ihre Reaktion. Was sie vollbracht hatte, war erstaunlich. Mit einer Hand voll Leute und einem Verräter in ihrer Mitte hatte sie eine ganze Armee sabotiert. Und das nicht zum ersten Mal - die Augen der Spinne waren in den Schatten allgegenwärtig. Sie hatten Celsor zugeflüstert, dass dieses Geschöpf nicht zum ersten Mal einer brennenden Feuerhölle entkam, nicht zum ersten Mal die Pläne seiner Majestät durchkreuzte. Sie war zäh. Hart im Nehmen und geschickt im Austeilen. Ein Überlebenskünstler. Obendrein hatte sie Glauben. Um den Priester, welcher sich zuvor ihrer angenommen hatte, war es nicht schade. Ein Dummkopf sondergleichen, eine solche Ressource dazu zu verschwenden, Diebesgut zu sammeln und ein paar lächerliche Münzen zu verdienen. So ungern er es auch zugab, schien sie tatsächlich eine gute Kandidatin abzugeben. Langsam beugte er sich vor, stützte die dürren Ärmchen auf die Knie auf und näherte sich an ihr Bett an. „Stehst du noch immer zu deinem Wort, Ximasxi? Bedenke: Das Leben, welches du führtest, liegt dann hinter dir. Deine Liebe und Folgschaft gehört dann völlig ihm allein. Niemand sonst kann und darf deine Loyalität beanspruchen.“ Ihnen beiden war klar, worauf diese Worte abzielten. Sie hatte ihr Leben schon einmal umgekrempelt. Als sie Spott und Hohn größtenteils hinter sich ließ und Mitglied der Sundergrader Diebesgilde wurde. Kaum jemanden ehrte und respektierte sie so sehr wie Aedan Gilraen, das Oberhaupt der Gilde. Einer der wohl meistgesuchten Männer der Stadt. War sie bereit, der Gilde im Allgemeinen und Aedan im Besonderen wirklich den Rücken zu kehren? Ximasxi dachte zurück, erinnerte sich der Stunden und Tage, die sie in ihrem Versteck verbracht hatte. Kaum schlafend, kaum essend. Sie hatte auf dem Gebälk gehockt, ins Leere gestarrt. Zeit vertrödelt. Sich davor gedrückt, nach Süden zu reisen. Sie hatte diesen tiefen Kummer verspürt, dieses entsetzlich klaffende Loch in ihrer Brust - weil er fort war. Tot, angeblich. Und die ganze Stadt hatte gefeiert. Sie erinnerte sich des unbeschreiblichen Hochgefühles, als sie mit Eloen in das Zelt brach, ihn dort sah. Als sie spürte, wie seine Finger durch ihr Haar fuhren, wie ihr das Herz, verdorrt und hart, wieder aufblühte bei den Worten, der Nachtvater hätte sie nicht vergessen oder verlassen. Ernst blickte sie zu Celsor auf und nickte ergeben. „Das tue ich“, antwortete sie ihm mit fester Stimme. Als Diebin war mehr als nur einmal ihr Überleben davon abhängig gewesen, Details zu bemerken. Gewahrte sie winzigster Veränderungen nicht, konnte das der tödliche Streich eines Wachmannes sein, das Auslösen im Mechanismus einer Falle oder das Klicken in einem Schloss, ehe es für immer dicht machte. So erkannte sie das Zucken in seinen Mundwinkeln, die kaum erkennbare Hebung derer zu einem Lächeln, zufrieden mit ihrer Antwort. Sie hatte ihn nicht enttäuscht und wieder war es zugegen - das Gefühl der Wärme. „Nun denn“, hob der Diener an und hievte sich aus dem Stuhl. Er ging gebeugt, buckelig. Doch selbst das konnte nichts an ihrem Respekt ihm gegenüber ändern. Tief fuhr die Hand Celsors in seine Tasche nieder, kramte darin herum, als würde sich ein ganzes Reich dort befinden - längst nicht so abwegig, wie zu vermuten gewesen wäre. Was er schließlich hervor zog, war ein Ring. Ein unscheinbares kleines Ding, welches einen geradezu winzigen Stein fasste. Woraus er bestand, war unklar. Das Material wirkte… nicht fest. Weich. Als könne man ihn formen und kneten oder er würde sogleich aus der Fassung zu Boden tropfen. In der Schwärze des Steines spiegelte sich kristallklar die gesamte Umgebung, egal aus welchem Winkel man hinein blickte. „Nimm das und trage ihn beständig. Er wird dich unsichtbar halten, solange du an meiner Seite unterwegs bist. Sorge dafür, dass du keinen Laut gibst oder Geruch verbreitest - nur, weil man dich nicht sehen kann, bist du kein Geist oder kannst durch Wände gehen“, instruierte Celsor die ehemalige Diebin scharf, ehe er ihr das Schmuckstück überreichte, „Nun, da du wach bist, sollten wir uns in andere Räumlichkeiten begeben. Dieser Teil des Schlosses, einstmals für die Königin und ihren Staat verplant, eignet sich zwar für die Unterbringung von Patienten, die niemand finden soll… aber irgendwann wird auch durch diese verwaisten und staubigen Korridore mal eine Patrouille geschickt. Und reden lässt es sich in meinen Räumlichkeiten ohnehin besser.“ Der Hofstaat der Königin? Sie waren… im Schloss? In La Coeur etwa? Dem Königsschloss? Fetzen spülten abermals in ihren Geist hinein. Sie erinnerte sich, wie der Ceteusdiener sie in dem brennenden Chaos berührt hatte. Von seiner Hand ging eine entsetzliche Kälte aus, die ihr sofort durch Mark und Bein fuhr. Und dann… dann riss er sie hinfort. Ohne auch nur einen Finger zu krümmen, verzerrte sich alles, spürte sie eine ungeheuerliche Beschleunigung, die an ihr riss, in zu viele Richtungen zugleich, als wolle man sie vierteilen, zerfetzen. Dann war da nur noch… Finsternis. Körperlosigkeit. Und ein befremdliches Gefühl von… materieller Finsternis. Zögerlich setzte sie sich auf, kämpfte die Flut an Schwindelgefühlen nieder. Sie wollte vor Celsor nicht schwach wirken, wollte alles richtig machen. Von der ersten Minute an beweisen, dass sie seines Vertrauens würdig war. Dass sie der Liebe des Nachtvaters würdig war. Vorsichtig hievte sie ihre Beine über die Bettkante, setzte die Klauen auf den Boden und keuchte einen Moment unter dem Schwindel und drohenden Gleichgewichtsverlust, als sie sich zu rasch erhob. „Gib Acht auf die Nähte“, wies Celsor sie lediglich an und verfolgte, wie sie erste, vorsichtige Schritte setzte. Kaum glaubte sie sich auf ihren Beinen sicher genug, streifte sie den Ring über eine ihrer Klauen. Für den Ceteusdiener blieb sie sichtbar wie zuvor, doch für den Rest der Welt war sie nunmehr verborgen. Eine nützliche kleine, magische Spielerei. Der Ring hielt nicht ewig - seine Ladung verbrauchte sich nach und nach. Ihn neu zu befüllen war schwierig und kostete viel Kraft, doch für den Augenblick sollten seine Mächte noch ausreichend sein, den Tiefling eine Weile verborgen zu halten. Immerhin gedachte er auch nur die Räumlichkeiten zu wechseln und nicht, sie durch jedes Zimmer des Schlosses zu führen und ihr dabei einen Kurs über die Historie jedes einzelnen Tandes zu geben. Dass dieser Wechsel jedoch nicht völlig reibungslos und störungsfrei erfolgen sollte, wurde beiden spätestens klar, als ihnen ein Wachmann im Ostteil des Geschosses in den Weg trat. Offenbar war er auf der Suche nach dem Berater seiner königlichen Majestät gewesen. „Herr, seine Majestät erwartet eure Anwesenheit“, ließ der Soldat überraschend schroff verlauten. Ximasxi fiel es nicht schwer, diesen Menschen auszulesen wie ein Buch, gab der sich doch auch keinerlei Mühe, seine Geringschätzung zu verbergen. Celsor hatte bei Hof seinen ganz eigenen Ruf geschaffen. Als duckmäuserische kleine Schlange, als Giftnatter an der Seite der Krone. Ehe man sich versah, hatte man die Zähne im Arm stecken und sank keuchend nieder. Celsor schmiedete Intrigen. Personen, die ihm im Weg standen, verschwanden. Ab und an konnte man einen Höfling bezichtigen und hinrichten. Werkzeuge seines Willens, keine Frage, die nur zu dumm waren, zu erkennen, mit wem sie Handel trieben. Schon so mancher hielt des Königs Berater für eine gute Sprosse der eigenen Karriereleiter. Solche Verschlagenheit und Intriganz kam jedoch nicht überall gut an. Während Phillipe Celsors scharfen Verstand respektierte und in ihm irgendetwas Schützenswertes zu sehen schien, hielt jeder andere gehörigen Abstand. Die von dieser Person ausgehende Gefahr war dabei längst nicht der einzige Grund. Man ekelte sich vor ihm. Er war krank, hieß es hier und da. Vergiftet, sagten andere. Irgendwie versuchte man, dieses abstoßende Erscheinungsbild zu erklären. Niemand gab ihm die Hand, niemand wollte die gleiche Luft wie er atmen - und mancher, der mutig genug war, zeigte das auch. „Hat das nicht einen Moment Zeit? Ich wollte-“ hob Celsor bemüht an, doch die gepanzerte Hand des Soldaten hob sich und gebot ihm Schweigen. „Sofort. Seine Majestät bestand auf eure unverzügliche Anwesenheit“, beharrte der Wächter. Mit einem unzufriedenen Gemurmel blickte der Priester über seine Schulter. Der Wachmann natürlich konnte nicht ahnen, wem dieser Blick galt. Er spähte ebenso über die Schulter der gebeugten Gestalt, sah jedoch nichts. Nur einen leeren Gang, verwaist, verstaubt… und insgeheim begann er sich zu fragen, was für eine Intrige diese falsche Natter nun schon wieder in diesen eigentlich leeren und abgesperrten Bereich des Schlosses getrieben hatte. Während Celsor sich in Bewegung setzte, dem Wächter zur Thronhalle zu folgen, überbrachten die Schatten flüsternd und wie das hintergründige Rauschen eines Wasserfalles Ximasxi die Worte, die zu liefern ihnen aufgetragen wurde. Klare Instruktionen, ihm dichtauf zu folgen, sich bedeckt zu halten, unbemerkt zu bleiben und einfach… abzuwarten. Einige Korridore weiter und ein Stockwerk höher, traten sie dicht hintereinander durch die gewaltigen Flügel der Thronhalle in Selbige hinein. Seine göttliche Majestät König Phillipe der Dritte… war nicht allein. „Ah, Celsor! Ihr kommt gerade zur rechten Zeit. Wir haben uns schon gefragt, ob unsere Männer zu unfähig seien, euch ausfindig zu machen, doch euer Erscheinen rettet Leben. Zumindest deren.“ Welche Andeutungen darin verborgen lagen, war wohl ein offenes Geheimnis zwischen dem König und seinem Berater selbst. „Wir haben einen Gast empfangen“, fuhr Phillipe fort und deutete auf einen stämmigen Burschen, wohl Mitte zwanzig, dessen blondes Haar und sein nicht minder blonder Bart in allerhand kunstvollen Zöpfen geflochten worden waren. Celsor dagegen trat bis auf die gleiche Distanz heran, ehe er sich auf Höhe des Gastes vor dem König verneigte. Einzig Ximasxi, die wenig Interesse an den Vorgängen oder dem Besucher zeigte, schritt vorsichtig die ersten Stufen zum Thron hinauf, zum Machtzentrum dieses Reiches - um sich näher anzusehen, mit wem sie es zu tun hatte. Wer seit jeher die Wache befehligte, wer wirklich hinter den Soldaten, Gesetzen und Widersachern stand. Die schmächtige Figur auf dem Thron wirkte wenig beeindruckend mit seinen dürren Ärmchen, dem gepuderten Gesicht und seinen goldenen Löckchen. „Wir haben hier einen Herrn… aus Kruk. Er ist auf der Suche nach einer Delegation. Ihr erinnert euch an seinesgleichen? Ja?“ Die unangenehm schrille Stimme dieses Balges verzog sich zusehens, erhielt einen scharfen Unterton. Ergeben bestätigte ihm Celsor, dass er sich nur zu gut des Barbarenpacks erinnerte, welches gewagt hatte, Waffen nicht nur in das Schloss zu führen, sondern zu allem Überfluss, sie im Angesicht seiner Majestät gezogen zu haben. Sie waren damals niedergemacht worden, allesamt. Mit Ausnahme einer kleinen Eskorte, welche die Tochter des Botschafters hatte hinausbringen und ihr zur Flucht nach Nordosten verhelfen können. Langsam und auf die Gebote der Verschwiegenheit und Spurlosigkeit bedacht, näherte sich der Tiefling noch weiter dem Monarchen. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, fokussierten kleine… winzige… Pünktchen? Auf seinem Gesicht, unter all der Farbe und dem Puder? Und leuchtete da ein roter Haaransatz unter den goldenen Löckchen? Fasziniert wollte sie noch etwas näher heran und schreckte umso überraschter zurück, als seine Majestät zornig aus seiner Haut fuhr. „Wir dulden keine Frechheiten gegenüber unserer Person! Wir sind göttlich und das Pack eures Landes hat gewagt, uns zu bedrohen?! Ihr aber steht nun hier, dreist wie eure Vorgänger, und verlangt. Ihr verlangt von uns, dem ihr Respekt zu zollen hättet, eine Antwort?“ Hastig presste Ximasxi die Hände auf ihre empfindlichen Ohren. Diese Tonlage, diese grässlich schrille Stimme…! Sie taumelte einen Schritt zurück, hätte fast die Stufe verfehlt und schlimmstenfalls das Gleichgewicht verloren. Hastig peitschte ihr Schwanz durch die Luft, verlagerte, half - und rettete sie vor dem Sturz, dessen Laut sie zweifellos verraten hätte. Mit der gebotenen Professionalität, aber auch einer nicht zu übersehenden Eile schlich sie zu Celsor zurück. Dieser gab, ganz wie Phillipe es hören wollte, gerade die Empfehlung, Dreistigkeiten solcher Art angemessen zu würdigen - was nichts Geringeres als die Hinrichtung des Gesandten aus Kruk bedeutete. Seine Majestät entließ Celsor mit Dank, während er selbst wieder in seinen Thron zurück sank, aus dem er zuvor nahezu sprunghaft hervorgeschnellt war. Am Tor angelangt, funkelte der Berater den Wachmann an. „Öffnet ihr die Tür oder soll ich warten, bis sie verrottet ist?“ verlangte der Priester zu wissen. Verächtlich schnaubte der Soldat, zog dann jedoch die Pforte auf. „Warum schlängelt ihr nicht drunter durch“, hörte Ximasxi ihn leise nuscheln, als der Flügel sich bereits wieder schloss. Zweifellos jedoch war es laut genug gewesen, damit auch Celsor es hatte hören können. Es einfach hatte hören müssen. Hinter der geschlossenen Tür dagegen verlangte der König nach der Wache - und dem Henker. Sie hatten die stärker frequentierten Bereiche des Schlosses gerade verlassen und noch nicht lange lag es zurück, das sich der Tiefling allseitig möglicher Zuhörer abgesichert hatte, da hob sie das Wort und richtete die Frage an Celsor, die ihr schon seit dem ersten Zusammentreffen mit dem Wächter auf der Zunge lag. „Warum lasst ihr euch das gefallen?“ wollte sie wissen, doch der Diener schwieg sich aus, bat um Geduld. Er führte sie zu Treppengängen, die kaum benutzt wurden, tief und tiefer hinab in ein Geschoss des Schlosses, welches kaum bekannt war. Es lag noch unter den Vorratskammern der Küchenangestellten, unter den Gesindeunterkünften und unter den Kerkern, tief im Stein, welcher die Festung trug. Hier nun traten sie durch eine Wegscheide, eine Kreuzung verschiedener Gänge. Ximasxi bemerkte zwar die merkwürdigen Zeichen und Runen, die auf dem Bogen des Gewölbes eingraviert worden waren, maß ihnen jedoch keine Bedeutung bei - bis sie sie durchschritten hatten und sich Celsors gesamte Erscheinung wandelte. Nicht länger die gebeugte Gestalt, kränklich und blass. Stattdessen ein ansehnliches Exemplar… zumindest für einen Menschen. Kurz fuhr er sich mit einem Seufzen über das kohlrabenschwarze Haar, ehe er aufrechten Ganges weiter schritt und sie in eine Kammer führte - jener nicht unähnlich, in der sie erwacht war. Worin die Unterschiede lagen, ließ sich ohne jede Mühe rasch erkennen. Zunächst gab es hier keine von Spinnweben verhangenen und von Staub vergrauten Fenster, dafür aber kleine, skurrile und offenkundig im Eigenbau entstandene Altäre neben jedem einzelnen Bett. Im Zentrum des Raumes stand ein Rundsockel, ein kleiner Podest, auf dem gegenwärtig eine Schale mit Wasser lagerte. „Du hast dort oben die Zeit gut genutzt und dir einen Überblick verschafft, Ximasxi“, hob Celsor an, schritt zu einem der Altäre und löschte die Flammen der Kerzen. Das Licht war nicht Freund des Nachtvaters, sondern Symbol seines Feindes. Deshalb brannte es am Altar, solange Celsor nicht zugegen war und wurde gelöscht, sobald er einkehrte. Um Dunkelheit musste er sich ohnehin nicht sorgen, noch weit weniger als Ximasxi, die immerhin auf ein geringes Restlicht angewiesen war. Die Kerzen der anderen Altäre dagegen waren völlig ausreichend - andere Lichtquellen gab es hier ohnehin nicht. „Mach dir jedoch um seine Majestät keine Gedanken. Er obliegt mir allein. Ohnehin bist du noch nicht reif für einen größeren Auftrag. Deine Initiation muss zunächst erfolgen. Sobald du das Zeichen trägst, werden Ceteus‘ Kräfte in dir zu wirken beginnen. Wie ein aufblühender Samen, der Wurzeln schlägt, werden sie sich durch dich hindurch ranken und mit der Zeit erstarken. Solange das Siegel jedoch nicht vollständig ist, deine Kräfte erwacht sind, kann der Prozess abgebrochen werden. Was unweigerlich deinen Tod zur Folge hätte. Deshalb frage ich dich ein letztes Mal: Bist du dir deiner Sache sicher?“ Einen Moment nur wanderte der Blick der Tieflingsaugen durch die Halle, erfasste die Absonderlichkeiten der Altäre. Mancher davon schien ähnliche Elemente zu tragen wie das kleine Gebilde, welches sie sich selbst geformt hatte. Als Celsor ihre Aufmerksamkeit verlangte, gehorchte sie augenblicklich und… konnte sich ein schüchternes Lächeln nicht verbieten. „Wäre denn mein Tod nicht auch die Folge, würde ich jetzt ablehnen?“ Celsor erwiderte schmunzelnd ihr Lächeln. Oh gewiss, auf den Kopf gefallen war sie offenbar also nicht. Aber ein Minimum an Verstand musste man auch mitbringen, wollte man hier bestehen. „Nun gut, dann höre mir zu. Die Initiation erfolgt über das Siegel. Wir werden nicht nächtelang um Steine in einsamen Wäldern tanzen müssen, es läuft deutlich unspektakulärer ab. Sobald du das Siegel trägst, werden wir dir Prüfungen stellen. Drei Stück, insgesamt. Aufträge, die du erfüllen musst. Am Ende der drei Prüfungen fällen wir das Urteil, ob wir dich gebrauchen können und in unseren Reihen willkommen heißen - oder eben nicht. Und nun komm, es ist spät und ich habe noch zu tun, wir sollten keine Zeit verschwenden.“ Mit jenen Worten führte er sie zu eben jenem Podest im Zentrum der Halle und hieß sie dort zu warten, während er von einem kleinen Miniaturschrein auf einem Altar eine unscheinbare Phiole aus schlecht behauenem Stein entfernte und bis zum Becken brachte. „Da du von Natur aus gut bewaffnet bist, sollten wir auf das Messer verzichten können. Gib etwas von deinem Blut in die Schale, danach meines.“ Mir ihren Krallen schlitzte die einstige Diebin die Haut an ihrem Unterarm ein Stück auf, ließ das Zeugnis ihres Lebens in die Schale tropfen. Schon beim ersten Kontakt der zwei Flüssigkeiten begann sich die Färbung darin zu verteilen, rascher als es bei stillstehendem Wasser geschehen sollte, während die Flammen der Kerzen um sie herum unruhig zitterten. Eine Aufregung überkam sie, die für Ximasxi nur schwer zu begreifen war. Die nächste Stufe der Initiation wurde eingeleitet, als sie Celsors Blut beifügte. Ein paar Tropfen nur sickerten aus seiner Handfläche, perlten von deren Kante hinab in die Schüssel. Abermals trübte sich das Wasser, wurde eine Nuance dunkler, finster, warf kleine Wellen darin. Die Kerzen zitterten und zuckten unter einem Luftzug, den es nicht gab und unlängst glaubte die Diebin Stimmen zu hören, ein Flüstern Dutzender aus der sie umgebenden Dunkelheit heraus, Augen, deren Blicke auf ihr lagen, die sich aber doch nirgendwo zeigten. „Die Magier des Zirkels würden fluchen, wenn sie wüssten, dass ich das hier habe“, erklärte der Priester ruhig, während er der ungleichmäßig geschlagenen Steinphiole den Korken entriss, „Was immer man hinein füllt, bleibt darin. Man leert die Phiole und verschließt sie, nach genau einem Tag hat sie sich wieder gefüllt - mit dem, was zuvor darin war. Es gibt andere, spektakulärere Wege der Initiation, vor allem dieses Teils davon. Aber ich bevorzuge es pragmatisch. Ich hoffe, du hast keine großartige Theateraufführung erwartet.“ Eine merkwürdige Flüssigkeit war es, die das Fläschchen preisgab. Blut, so verriet der einstigen Diebin der Geruch, doch Blut verhielt sich nicht so. Zäh, als wolle es sich gar nicht aus dem Gefäß heraus wagen, klebte es zunächst am Rand, ehe ein vorsichtiges Schütteln Celsors einen einzigen, dicken Tropfen daraus löste. Schon als er die Oberfläche des Gemisches in der Schüssel durchschlug, erstarb das Kerzenlicht im Raum. Das Flüstern der Stimmen schwoll an, aus Dutzenden wurden Hunderte. Sie verstand Fetzen, einzelne Worte und Satzteile. Laut genug waren sie allemal - was sie am Verstehen hinderte, war die schiere Masse chaotisch durcheinander Sprechender. Mit dem verebbenden Licht im Raum konnte sie nur noch die Veränderung in der Schale sehen. Der Tropfen schien irgendeine Reaktion darin auszulösen, warf keinerlei Wellen. Stattdessen wurde die Oberfläche still, glatt - und begann Dinge darin zu spiegeln, die nicht einmal Teil dieses Raumes waren. Dann kehrte die Finsternis ein. Ximasxi hörte, wie Celsor in aller Ruhe das eigenartige Fläschchen verschloss, abtrat und es wohl an seinen angestammten Ort zurückbrachte, ehe er zu ihr hinüber schritt. Was galt es nun zu tun? Was wurde von ihr erwartet? Doch weitere Worte blieben aus, keine Anweisungen mehr. Sie spürte, wie er neben sie trat, dicht neben sie. Ihr Unwillen wuchs, nicht dem Ritus oder dem Nachtvater gegenüber, sondern einzig gegen Celsor, als dieser seine Hand in ihren Nacken legte. „Glaub mir, so etwas hast du noch nie erlebt.“ Mit jenen Worten schien er sie beruhigen zu wollen, doch nur kurz darauf verstärkte sich sein Griff, wurde schmerzhaft. Er hielt sie fest im Nacken gepackt - und drückte abrupt ihr Haupt nieder, in die Schale hinein. Ein erster Reflex wollte ihr raten, Luft zu holen. Doch dafür war es zu spät - sie wusste das. Obgleich sie nichts spürte, keine Nässe an ihren Wangen, keine Feuchte in ihrer Nase, wusste sie dennoch, dass sie längst unter der Oberfläche war. Sie versuchte Celsor zu packen, seine Hand zu greifen, ihn selbst zu erwischen - doch dort war nichts. Gar nichts. Als würde der Mann gar nicht mehr neben oder hinter ihr stehen, als wäre er nicht einmal im gleichen Raum und dennoch hielt seine Kraft sie weiter eisern herabgepresst. Sie stützte sich neben der Schüssel ab, versuchte sie vom Podest zu drücken - doch sie rührte sich keinen Millimeter. Also versuchte sie sich aus der Schüssel gegen seine Kräfte herauf zu drücken. War das hier nun eine Prüfung? Sollte sie sich gegen ihn behaupten? Überleben? Es hatte keine Instruktionen gegeben. Sekunden verstrichen, in denen sie die Luft anhielt, mit sich haderte. Schließlich entschied sie, ihr Überleben abzusichern. Falls das nicht sein Ansinnen gewesen war, so hätte er dergleichen immerhin sagen müssen! Doch rasch zeigte sich, dass sie gegen seine Kräfte gar nicht ankam. Völlig erfolglos stemmte sie sich vom Steinsockel ab, bis auch die letzten Sekunden verrannen. Panik ergriff sie, ihre Lungen brannten, Krämpfe begannen mit der Geschwindigkeit von Buschfeuern durch ihren Leib zu rasen - bis sie die Kontrolle verlor. Mit rasch schwindenden Kräften stieß sie die verbrauchte Luft aus und sog… etwas in ihren Magen, in ihre Lungen. Was immer es war - es war nicht zum Atmen gedacht. Die Symptome ihres nahenden Erstickungstodes waren keineswegs Schauspiel oder Illusion - nur Sekunden, bevor die Ohnmacht sie ereilen konnte, ließ jene ominöse Kraft sie abrupt los. Keuchend, hustend und mit viel zu viel Schwung stieß sich die einstige Diebin vom Sockel ab, taumelte zurück und brach auf die Knie nieder. Sie hatte unter Wasser noch immer das Flüstern der Stimmen hören können, sogar lauter als zuvor und jetzt, jetzt schien man ihr regelrecht in die Ohren zu schreien. So etwas hatte sie noch nie erlebt, keine Frage - noch nie war sie Opfer solch entsetzlicher Schmerzen geworden, solcher Pein ausgesetzt. Zwischen einem aus Selbstbeherrschung geborenen, mitleiderregenden Wimmern und aller Disziplin beraubten, haltlosen Schmerzschreien gefangen, krümmte und krampfte der Tiefling am Boden. Sekunden kamen ihr wie Minuten vor, Minuten wie Stunden - und Stunden waren es, die sie so in völliger Finsternis zubrachte. Was ein Körper zu leisten und zu erdulden fähig war, wurde ihr erst hier wirklich klar - denn es brauchte eine gefühlte Ewigkeit, ehe er alles geben, allen Widerstand aufgeboten hatte… ehe er ihr die Gnade der Ohnmacht schenkte.   „Ximasxi… Ximasxi, du musst aufwachen… du musst atmen, Ximasxi… steh auf…!“ Stimmen kreisten in ihrem Kopf, die immer gleichen Befehle, Kommandos und Bitten wiederholend, vertraut und doch war es nicht die Eigene. Ein kleiner Chor, der sie uni sono immer wieder dazu aufzuraffen versuchte - bis es endlich gelang. Bereits als die Diebin neuerlich hustend den Boden um sich herum abtastete, spürte sie die Gegenwart Celsors. „Herzlichen Glückwunsch… du hast die Initiation überlebt“, erklärte ihr der Priester. Weder aber hörte man ihm rechte Freude an, noch schien es ihn zu ärgern. Er sprach von Glückwünschen, von Herzlichkeit… und doch bekam sie das Gefühl, dass es ihm im Grunde gleich war, ob sie dabei gestorben wäre oder nicht. Das war nicht im Ansatz, was sie sich vorgestellt hatte. Nicht, was er ihr damals in Samara hatte geben können. Vorsichtig, abermals die Blendung durch jegliche Lichtquelle fürchtend, schlug sie die Augen auf. „Wie fühlst du dich?“ fragte der Diener im gleichen Moment, in dem sie die erste grundlegende Veränderung bemerkte. Sie nahm die Welt war… auf eine völlig neue Art und Weise. Gewiss, ihr Gehör, ihr Tastsinn, das Meiste funktionierte noch auf althergebrachte Weise, doch ihre Augen… sahen die Welt nun anders. Im gesamten Raum brannte kein Licht und doch konnte sie alles gestochen scharf sehen, jeden Umriss, die Maserung des Holzes vom Bettgestell, sie sah die kleine Denkerfalter auf Celsors Stirn und ein verwachsenes Ohrloch, welches wohl einstmals einen Ohrring zur Zierde getragen haben mochte. Zugleich war die Dunkelheit, die sie umgab, nicht länger einfach nur die Abwesenheit von Licht. Viel mehr schien sie nun… fester. Fast so, als habe sie Substanz, als könne man die Finger danach strecken, sie berühren und formen. „Anders“, brachte die frühere Gildendiebin einen Moment noch krächzend hervor, ehe sie sich langsam auf die Beine rappelte. Je mehr Zeit verstrich, umso klarer wurde ihr Geist, umso rascher schien sich ihr Körper von den durchlittenen Strapazen und Krämpfen zu erholen. „Anders, hm? Nun… das ist ein Anfang. Du bist nicht sonderlich gesprächig, oder?“ „Nein“, gab sie lediglich zurück, als wolle sie ihre Aussage damit nur noch verdeutlichen. Tatsächlich empfand sie allein seine Frage als völlig überflüssig - hatte sie denn dergleichen nicht bereits hinreichend demonstriert? „Verstehe. Nun gut, dann kommen wir gleich zum Nächsten.“ Celsors Geschäftigkeit wurde jedoch jäh unterbrochen, als des Tieflings Blick auf ihre eigene linke Hand fiel. Auf der Oberseite prangerte ein merkwürdiges Zeichen, verschlungene Strukturen in einer Spirale, in deren Zentrum ein Netz zu sein schien? Sie betrachtete das Mal, doch je bemühter sie es anstarrte, umso rascher schien es die Form zu verändern, umso… unwilliger wirkte es, überhaupt feste Konturen anzunehmen. „Was ist das?“ verlangte Ximasxi zu wissen. Celsor dagegen erhob sich von dem Bett, auf welchem er die letzten Stunden gewartet hatte und drückte ihr einen Kapuzenumhang in die Hand, wie er ihn ebenso trug. „Das ist dein Siegel. Für die Schatten und die Kreaturen darin bedeutet es, dass du eine von uns bist. Für Ceteus, dass du seine Vertraute bist. Aber keine Sorge, man kann es nur bei absoluter Finsternis sehen. Der Umhang ist übrigens deiner. Trage ihn. Ich würde es dir aus Sicherheitsgründen empfehlen. Fernkämpfer können mitunter ziemlich lästig werden. Im Dämmer- und Zwielicht, auch in der Dunkelheit natürlich, schützt er dich. Der Schütze wird dich nur noch als vage umrissene Silhouette wahrnehmen und den Schuss mit hoher Wahrscheinlichkeit daneben setzen. Nun, wie ich dir sagte, entwickeln sich deine neuen Fähigkeiten durch das Siegel erst nach und nach. Sie tauchen auf und erstarken mit der Zeit. Das Erste ist die Dunkelsicht, der du dich bereits erfreuen darfst. Sieh es als eine Art Willkommensgeschenk. Die zweite Fähigkeit betrifft die Schatten. Du kannst in ihnen verschwinden… anfangs. Später wirst du dich in ihnen bewegen, durch sie reisen können. Und hast du erst einmal ein paar Jahre Übung, kannst du sie kraft deines Willens formen. Zu… was immer du gerade brauchst. Fesseln. Waffen. Monster. Danach manifestieren sich weitere Fähigkeiten. In die dunklen Seiten einer Seele eindringen, ein paar hübsche kleine Schadzauber, der eine oder andere Trick in Sachen Illusion und Beschwörung. Nette kleine Spielereien, aber jeder ist da anders veranlagt. Daher kann ich dir nicht sagen, wann was für dich dran kommen wird. Für den Anfang jedoch stehst du unter Beobachtung - unter unser aller Beobachtung natürlich. Ich kündigte dir ja bereits an, dass du drei Prüfungen durchlaufen werden musst. Bist du soweit, dich damit auseinander zu setzen?“ Lieblos. Überstürzt. Ihn interessiert nicht, was du denkst, was du kannst… tu dies, lass das, hol jenes, braver Köter… klare Strukturen, direkte Anweisungen, du hast das immer bevorzugt - aber das? Du hast dein Wort gegeben, natürlich… aber der Nachtvater kann bezeugen: So hat Aedan dich nie behandelt. Er sah dich nie so an. Er hatte nie diesen… Unterton. Er hätte sich so etwas nie erlaubt, nicht wahr, Ximasxi? Bereust du es schon? Die Stimmen in ihrem Kopf mit einem kurzen, aber heftigen Schütteln des Selbigen vertreibend, widmete sie sich wieder Celsor - der zunächst ihr Verhalten als Ablehnung verstanden hatte und sich über ihre nachträgliche Zusage umso irritierter zeigte. Einen Augenblick maß er sie skeptischen Blickes, ehe er seine Bedenken bei Seite schob. „Nun gut. Zunächst einmal: Da du noch nicht selbst fähig bist, größere Entfernungen durch die Schatten zu reisen, werde ich für dich die Brücken schlagen. Du gehst hin, tust, was dir aufgetragen wurde und sobald du fertig bist, öffne ich die Brücke wieder für deine Rückreise. Dein erster Auftrag betrifft einen Mermeruspaladin. Ein Bursche namens Ludwig Isaak von Sperlingsklang. Kurzer Bart, schulterlange, schwarze Haare, ein paar Narben hier und da, helle Augen, breit gebaut. Ungefähr einen halben Kopf größer als ich. Er ist der letzte Mermerusdiener in Lumiél und obwohl wir ihn nicht für eine nennenswerte Gefahr für unsere Pläne halten… ehrlich gesagt, ich persönlich halte ihn nicht einmal für sonderlich kompetent - wir wollen sicherstellen, dass er uns nicht in die Quere kommt. Du sollst ihn umbringen. Und damit das Ganze nicht zu leicht wird: Er wird deine Gegenwart spüren. So wie du seine, solange du dich in dieser Form befindest. Ab dem Augenblick deiner Ankunft wird er also wissen, dass er angegriffen werden wird.“   Ein paar Brocken Informationen, eine mehr oder weniger taugliche Beschreibung der Zielperson und natürlich die wohlmeinende Warnung, dass es keinen Überraschungsmoment geben würde. Mehr hatte man ihr nicht mitgegeben, ehe Celsor, wie er sagte, die Brücke schlug. Natürlich hatte sie Fragen gehabt. Ximasxi hatte auch versucht, diese zu stellen. Man überrollte sie regelrecht. Niemand hatte ihr gesagt, wie die Initiation ablaufen würde, was sie danach erwartete. Niemand hatte ihr gesagt, was sich ändern würde. Zauberei und Magie, davon hatte sie sich immer so weit wie nur irgend möglich fernhalten wollen - und jetzt? Jetzt schien diese Pestilenz durch ihre Adern zu fließen. Statt auf allen Vieren durch das Land zu wetzen, über Mauern zu klettern und ihre Krallen zum Einsatz zu bringen, teleportierte man sie zu einem Gasthaus mitten im Nirgendwo. Sie war nun also als Assassinin unterwegs? Wie lange würde es dauern, ehe sie gezwungen war, bekannte Gesichter zu entstellen, weil die Gilden Sundergrads versuchten, ihr Revier zu verteidigen? Sie war gewiss kein Anhänger der Menschen. Die Meisten unter denen waren Monster und taten so, als hätten sie Zivilisation und Kultur höchstselbst erst erfunden. Noch viel weniger hielt sie von Paladinen, diesen Herren hoch zu Ross, die fein daher plapperten und glaubten, ihr hohles, aufgebauschtes Geschwätz würde dafür sorgen, dass ein jeder Bürger ihnen brav zu Füßen lag. Dieses Verhalten erinnerte sie einfach viel zu sehr an einen Lichtmagier, der ihr einst begegnet war…! Aber mit nicht mehr als ein paar spärlichen Fetzen losziehen und jemanden umbringen? Weil man es ihr befohlen hatte? Die Assassinen wurden immerhin dafür bezahlt, doch… was hatte sie hiervon? Dem Nachtvater dienen, gewiss… das war ihr Wunsch gewesen. Ihm nahe zu sein. Es stand ihr gewiss nicht zu, Celsor anzuzweifeln. Er war nicht dumm. Darüber hinaus besaß er die gleiche Ausstrahlung, welche sie schon damals an ihrem Freund in Samara so fasziniert hatte. Nur war die Celsors noch viel stärker und geprägt von… Macht und Pragmatismus. Es stand ihr nicht zu, anzuzweifeln, dass er den Willen des Nachtvaters vertrat. Das hieß nur leider nicht unweigerlich, dass sie ihn leiden konnte. Es dauerte einige Minuten, ehe sie sich ihre eigene Portion Pragmatismus hatte zusammen kratzen können. Sie stand hier in tiefster Nacht einige Meter von einem Gasthaus mitten im Nirgendwo entfernt und diskutierte im Geiste mit sich selbst darüber, was sie tun sollte und erwarten konnte - dabei galt es zunächst einmal, diesen Paladin aus der Welt zu schaffen, da sie sonst keinen Rückweg hätte. Wo sie hier war, das wusste sie nicht - und wie weit ihr Fußweg zur nächsten Siedlung wäre, wo man sie vermutlich mit Forken und Fackeln vertreiben und ihr liebreizende Dinge wie „Scheusal!“ hinterher brüllen würde, das konnte sie auch nicht sagen. Entsprechend warf sie sich den Kapuzenmantel über, zurrte die Schnüre fest und trat durch die Pforte in das Gasthaus ein. Die Räumlichkeiten Celsors waren unterirdisch. Dass es Nacht war, hatte sie erst bei ihrer Ankunft hier bemerkt - und wie spät es tatsächlich schon zu sein schien, fiel ihr erst richtig auf, als sie eintrat und den Schankraum völlig verwaist vorfand. Die Magd wischte längst den Boden, alle Stühle waren hochgestellt und der Wirt räumte die letzten gespülten Krüge zurück auf das Brett. Entsprechend verwundert blickten sich die Beiden gegenseitig an, als Ximasxi eintrat. Zu solcher Stunde sollte niemand mehr unterwegs sein. Die Straßen waren nicht mehr so sicher wie früher… schon gar nicht für Frauen, die alleine unterwegs waren. „Kann ich euch helfen, junge Dame? Habt ihr-ah!“ Ein kurzer Schreckenslaut, als es dem armen Mann gelang, einen Blick unter ihre Kapuze zu erhaschen. Eine junge Dame würde er sie wohl nun nicht mehr nennen. Die Höflichkeit war zerbröckelt, als er ihre katzenhaften, gelben Augen hatte leuchten und blitzen sehen. „Mein Verlobter hat mich am Altar sitzen lassen. Ich weiß, dass er sich hier ein Zimmer hat nehmen müssen!“ Sie beschrieb den Paladin und musste mit Nachdruck Überzeugungsarbeit leisten. Die Geschichte vom Verlobten war es weniger, die den Wirt störte. Er hatte schon so manch kuriose Geschichte gehört und seltsame Dinge erlebt. Einmal war ihm sogar ein Aasimar begegnet! War einfach vom Himmel herab geflattert. Gegessen und geschlafen hatte er wie alle anderen Gäste auch. Und dann… dann trat er am nächsten Morgen nach draußen und flog einfach wieder davon. Aber ein Kerl solch stattlichen Formates und guter Manieren, der würde doch sicherlich Besseres finden als ein dreckiges kleines Scheusal, nicht wahr? So galten die Bedenken und das Zögern zunächst dem Bestreben des Wirtes, Ludwig vor der vermeintlichen Verlobten zu beschützen, die in Zorn ihrem Liebsten nacheilte, wohl um da ein paar Sachen zu klären. Erst als sie ihm zusicherte, das nichts zu Bruch gehen und Ludwig dennoch brav sein Zimmer bezahlen würde - und natürlich nach einer kleinen, gut platzierten Drohung seine zukünftige Zeugungsfähigkeit betreffend - lenkte der Betreiber des Gasthauses schließlich ein und nannte ihr das Zimmer. Vor der Tür angelangt, zog sie eines der zwei Utensilien hervor, die sie sich für diese Aufgabe als Werkzeuge ausgebeten hatte. Schlösser von Gasthäusern waren meist von geradezu primitiver Bauart - da genügte meist ein einfacher Draht, um den Mechanismus zu überlisten. Entsprechend schob sie das Stück Metall in das Schloss hinein und begann vorsichtig und geübt, darin herum zu stochern. Unten derweil lauschte der Wirt darauf, das vertraute Pochen an einer Holztür zu vernehmen, doch… es blieb leise. Eine unangenehme Stille, weil dort eigentlich etwas sein sollte. „Margaret, geh rauf und schau nach, dass dort alles mit rechten Dingen zugeht!“ trug er daraufhin tapfer und selbstlos seiner Magd auf, die zornig die Hände in die Hüften stemmte, ehe sie nach einem hitzigen Blickgefecht doch noch nachgab. Sie konnte ihre Anstellung hier nicht riskieren - aber ihr Leben war ihr dennoch wert und teuer. So nahm sie eine Öllampe in die Rechte und eines der Küchenmesser in die Linke und schlich sich leise die Stufen nach oben.   Schon eine ganze Weile hatte Ludwig ihre Gegenwart gespürt. Ein Diener des Schattens war zugegen und ganz ohne jeden Zweifel konnte das gewiss kein Zufall sein! Jemand wollte ihn also angreifen. Schon beim ersten Anzeichen der Bedrohung hatte er eilig das Bett verlassen. Immerhin wollte er sich nicht die Blöße geben, im Schlafgewand überrascht zu werden. Das Schwert lag allzeit griffbereit auf dem Bett, während er die Teile seiner Rüstung zusammensuchte. Als er diese vollständig angelegt hatte, wurde selbst ihm bewusst, dass jener Jünger der Spinne sich… erstaunlich viel Zeit ließ. Vielleicht handelte es sich doch um einen Zufall? Immerhin hätte er sonst wohl kaum die gesamte Rüstung vollständig anlegen und den Sitz jedes Teiles genau kontrollieren können. Aber war das überhaupt möglich? Ein Ceteusjünger müsste doch umgekehrt ebenso seine Anwesenheit erspüren können, oder etwa nicht? Gerade, als er sich diesem Gedanken eingehender widmen wollte, hörte er das Geräusch. Es ließ ihn hastig nach seinem Schwert packen und es defensiv vor sich halten, während er genauer darauf lauschte. Nach einigen Sekunden war er sich gewiss: Da stocherte jemand in seinem Schloss herum! Jawohl, am Schloss seiner Tür war irgendwer… es verstummte kurz, das Geräusch - und einen Moment glaubte er ein Flüstern aus den dunkelsten Ecken zu hören. Kein Zweifel, ein Priester des niederträchtigen Verräters war hier! Und er, Ludwig Isaak von Sperlingsklang, würde ihn niederstrecken, für und im Willen seines Herrn! Die Konfrontation nicht länger scheuend, trat er leise zur Tür, als der Laut wieder einsetzte. Just, als der Draht herausgezogen wurde, schob er den Schlüssel von seiner Seite nach und riss die Tür auf, das Schwert bereits zum Schlag bereit. Umso überraschter war er, als eine kreidebleiche Magd vor ihm zurückwich. Auf den Knien hatte sie vor seiner Tür ausgeharrt und nun, da ein gerüsteter und bewaffneter Paladin vor ihr erschien, offensichtlich gewillt, sie zu töten, da stolperte sie zurück, stürzte mit dem Rücken auf den Boden und hob die Arme vor sich, als könne sie damit geschärften Stahl abhalten wie mit einem Schild. Noch immer umklammerte sie dabei den Draht, welcher das Schloss knacken sollte. „Was treibt ihr hier?“ verlangte Ludwig zu wissen. Nur langsam senkte die Magd die Arme. Ihre Hände zitterten und sie schien der Ohnmacht nahe. Ein Anblick, zum Gotterbarmen. „D-Da w-war… i-ich w-wollte doch n-nur… d-der W-Wirt meinte…“ Sie würde jeden Augenblick ohnmächtig werden, das sah Ludwig ihr an. Entsprechend senkte er die Klinge, stellte sie, um die Magd weiter zu beruhigen, neben der Tür in die Ecke des Zimmers. Er reichte ihr den gepanzerten Handschuh und geduldete sich, bis sie zögerlich zugriff. Wieder auf den Beinen, schien sie sich langsam zu fangen. „Da steckte ein Draht in eurem Schloss. Ich… ich… versuchte ihn herauszuziehen, aber er war irgendwie verkeilt und… oh gute Götter, ich brauche Schnaps…“ Der Schock saß ihr tief in den Gliedern, als sie vorsichtig und wankenden Schrittes die Treppe hinab verschwand. Der Schnaps beruhigte später nicht nur ihre Nerven, er ließ sie selig schlafen und vergessen. Alles, was geschehen war - und alles, was sie Ludwig zu erzählen vergessen hatte. Vielleicht wäre der Paladin achtsamer gewesen, hätte er die Geschichte der Verlobten gehört, seiner Verlobten, die des Nachts hierher kam. Eines Scheusals, welches nach seinem Zimmer fragte. So jedoch blickte er seufzend der Magd einen Moment nach, um sicher sein zu können, dass sie nicht die Treppe hinab stürzte. Er sah sich ein letztes Mal im Gang um, erspähte jedoch niemanden sonst, schloss die Tür und wandte sich um. Er wollte die Rüstung wieder ablegen, das Bett aufsuchen, festen Glaubens, die Magd hätte einen glücklosen Dieb verscheucht. Doch schon als er sich umwandte, hatte er sein Schicksal besiegelt. Die Finsternis des Zimmers manifestierte sich binnen Sekunden, Ximasxi trat daraus hervor… und mit nur einem Schlag stieß der Dolch in ihrer Hand, das zweite von Celsor erbetene Werkzeug, direkt in den Schädel des Paladin. Ludwig fischte nach dem Schwert neben der Tür, doch die Klinge war fort. Er ging auf die Knie, Blut sickerte aus seinen verschlossenen Lippen hervor und noch ehe er scheppernd auf dem Boden zur Ruhe kam, war das Leben aus seinem Leib gewichen. „Dummkopf. Und was war daran so schwer?“ fauchte die einstige Diebin lediglich. Ein weiterer Schritt nur, von der Türe fort zum Bett hin zeigte ihr jedoch auf, was so schwer gewesen war. Sie hatte das Siegel erst vor kurzer Zeit erhalten. Als der Draht im Schloss sich nicht als leise und rasch genug erwies, weil dieses dumme Weib glaubte, die Heldin des Tages spielen zu müssen, war eine Improvisation notwendig geworden. Der Chor der Schatten selbst, welcher sie zuvor geweckt hatte und mit ihr Zwiesprache zu halten schien, kam ihr abermals zu Hilfe. Er flüsterte ihr zu, lockte sie, instruierte sie - bis Ximasxi verschwand. Der Schein der Öllampe fiel auf Schatten im Gang, die rasch in Nichts zerfaserten und spät, wie es war, bemerkte die Angestellte des Wirtes nicht einmal, wie zäh diese Dunkelheit im Angesicht des Lichtes zu sein schien. Es war ihr dritter Ausflug in diese Sphäre… doch das erste Mal tat sie es aus eigenen Kräften. Anfangs hatte jener Priester sie aus den brennenden Ruinen des Waffenlagers vor Urthada und dem Rauch gerettet. Dann hatte Celsor sie mittels der Brücke hierher geschickt. Nun aber bewegte sie sich frei und aus eigenem Willen heraus. Alles war anders, so unbeschreiblich anders. Eine Kälte, die nicht schmerzte, ihr sogar vertraut erschien… anheimelnd, gemütlicher als jedes Kaminfeuer es hätte sein können. Eine Finsternis, in der jeder Umriss so viel klarer und deutlicher war als er im Licht je hätte sein können. Sie blickte auf die Magd und sah die Flecken auf ihr, sah die Fasern verdorbener Gedanken und Taten aus Vergangenheit und Gegenwart, Wünsche und Sehnsüchte - selbst der Herr Paladin war nicht rein und frei von Tadel. Die Wand hatte sie sehen können, wie ein dünne Schicht aus Papier, keinerlei Hindernis, nichts Materielles. Nichts hier war echt, nichts hier war fest und undurchdringlich - sie hatte sich in sein Zimmer begeben, ohne auf die Nutzung der Tür angewiesen zu sein und als es soweit war, hatten die gleichen Stimmen sie instruiert, wie sie wieder ihren Körper aus diesen Sphären heraus bekam. Niemand aber hatte sie gewarnt, wie schrecklich kräftezehrend dieser Prozess zumindest für Anfänger sein würde. Als sie von Celsor zurückgeholt wurde, zurück in die Tiefen unter La Coeur, brach sie auf die Knie zusammen. Zittrig, ausgelaugt, mit einem schrecklich dröhnenden Schädel. Der Priester dagegen betrachtete sie mit einer Mischung aus Neugier und… Skepsis. „Das war… beeindruckend. Rasch, präzise und… beeindruckend. Du machst schnellere und größere Fortschritte, als ich es bisher bei anderen Neulingen sah.“ Nun, das mochte gewiss auch mindestens zu einem Teil darin begründet liegen, was sie war. Die meisten Ceteusdiener waren Menschen. Tieflinge glaubten meist an die hohlen Namen der Götter, die ihnen ihre einstmals dämonischen Eltern aus ihren eigenen Welten überliefert hatten. Aasimare hielten es da ganz ähnlich. Viele Elben und Drow hingen noch an ihrer eigenen Götterwelt, die Zwerge glaubten an ihre Ahnen, Orks, Zentauren und Drakoiden an die Geister und mit Goblins und Gnomen war auch nichts anzufangen. Ein Tiefling, der an einen Gott der Menschen glaubte, war bereits eine Kuriosität für sich. Ihn dann jedoch auch noch zu einem Priester zu formen, das grenzte an… ja, an was eigentlich? Ein Wunder? Blasphemie? Celsor konnte bislang noch immer nicht recht einordnen, was er von ihr halten sollte. Ob er erfreut sein sollte, das sie gefunden worden war und sich auf die Initiation eingelassen hatte, oder aber, ob er ihr das Siegel wieder nehmen sollte. „Ruh dich aus. Du wirst die Zeit brauchen. Zwei oder drei Tage. Durch das Siegel bist du übrigens nicht mehr auf Wasser und Nahrung angewiesen. Wenn es soweit ist, erkläre ich dir deinen nächsten Auftrag.“ Mit jenen Worten verließ der Priester sie. Überließ das zittrige Bündel sich selbst. Mit einem rasenden Kopf, voller wirrer, chaotischer Gedanken und unzähliger Fragen, kauerte sie sich auf einem der Betten zusammen, zog die muffige, dünne Decke nachlässig über sich und schloss die Augen. Als würde man auf sie Rücksicht nehmen, wurde das Flüstern der Stimmen leiser und leiser. Nur ein paar Wenige verblieben, schienen mit ihr zu reden, ihr auf die unzähligen Fragen antworten zu wollen - sie erkannte die Stimmen nicht einzeln, nicht direkt. Aber sie erahnte, dass es der gleiche Chor war, welcher ihr im Gasthaus geholfen hatte. Zwei oder drei Tage… was sollte sie so lange tun? Sie würde wohl kaum die ganze Zeit durchschlafen können…   Keineswegs eine Fehleinschätzung, wie sich zeigte. Bereits nach einigen Stunden Schlaf begann für die noch immer ratlose frühere Diebin der Balanceakt zwischen der eigenen Unruhe und Ungeduld gegenüber der absoluten Leere und Beschäftigungslosigkeit in dieser Halle. Andererseits hatte Celsor ihr nicht untersagt, dass sie sich würde umsehen können, nicht wahr? Ximasxis erste Ausflüge führten sie auf dieser Ebene des Schlosses herum, durch allerhand leere und verwaiste Kammern. Offensichtlich wusste niemand von dieser Etage - niemand außer dem Priester. Die Korridore verwahrlosten zusehens, die Gewölbe blieben leer und trugen die Reste einstmaliger Ausstattung, langsam verrottend unter dem Zahn der Zeit und kleinerer Insekten und Pilze. Kein sonderlich spannendes Gebiet für ihre Erkundungen, weshalb es das einstige Gildenmitglied schon bald die Treppe hinauf in höher gelegene Bereiche der Festung zog. Mit dem Schattensteinring an ihrem Finger schlich sie ungesehen und unbemerkt durch die Küchen, in denen allzeit geschäftiger Betrieb war, sah sich in den Wachkammern um und folgte gelegentlich einer Patrouille. Es ergaben sich so unsäglich viele Möglichkeiten. Dinge, die von Wert waren, lagen hin und wieder einfach so herum, völlig unbeaufsichtigt oder von nicht mehr als einem nachlässigen Kämmerer im Auge behalten. Hinter mancher Tür verbargen sich gewaltige Schätze in Form von Kunstgegenständen und handwerklichen Meisterleistungen - durch ihre Vergangenheit wusste sie diese Dinge in Qualität und Wert zu schätzen, wusste, bei welchem Händler sie welche Preise dafür erzielen könnte. Es gestaltete sich zunehmend frustrierend für sie, je länger sie sich umsah, je tiefer sie in die Eingeweide des Schlosses vordrang. Viele Gelegenheiten, die ihr Geist vollkommen unwillkürlich erfasste, sie ihr ins Auge springen ließ - als Resultat einer grundsoliden Ausbildung und Konditionierung. Und nun war all das für die Katz. Umsonst die schönen Schätze, denn nie wieder würde sie mit einem Hehler um den besten Preis feilschen. Alles, was sie sah und erkannte, war bedeutungslos geworden. Obwohl sie den Gedanken zu vermeiden versuchte, wie man beim Katz- und Mausspiel dem Jäger aus dem Weg ging, schlich er sich hin und wieder doch ein und flüsterte ihr sanft zu: Sie hatte ein entsetzliches Loch in ihrem Herzen, in ihrem ganzen Wesen verspürt, als ihr Freund in Samara getötet worden war. Eine Kälte, Starre und Taubheit hatte sich damals ihrer bemächtigt. Damals? Nun, es wirkte, als sei das in einem anderen Leben gewesen. Obgleich es erst ein paar Wochen her sein konnte. Nun aber, da man ihr die Gilde verwehrt hatte, ihr Aedan nahm, da war genau dieses Gefühl zurück. Als hätte man ihr nun die andere Hälfte herausgerissen. Sie konnte nicht zeit ihres Lebens loyal gegenüber zwei Dienstherren sein, das war ihr selbst völlig klar. Über kurz oder lang würden Ziel- und Interessenkonflikte auftreten, denen sie sich nicht versperren konnte und wäre es erst einmal so weit, würde sie wählen müssen, dann konnte niemand mehr garantieren, dass der Ausgang dieser Sache sie nicht vollends zerreißen würde. Doch gleichermaßen Fakt war: Sie vermisste es. Das Diebeshandwerk, die Gilde, Aedan, Sundergrad. Sie vermisste den Zusammenhalt, den sie dort gefunden hatte. Es hatte sich wie… Heimat angefühlt. Nicht unähnlich dem Wald, damals in ihrer Kindheit. Den ersten Tag brachte sie zunehmend resigniert mit ihren Erkundungen zu, ehe sie sich wieder zurückzog und neuerlich schlief - für diesmal weit weniger Stunden als noch zuvor, obendrein unruhiger. Ihre Gedanken verfolgten sie in ihre Träume hinein und obgleich sie davon nichts mehr wusste, als sie wieder zu sich kam, spürte sie doch den Zwiespalt in ihrem Innersten. Sie konnte sich nur schwer aufraffen, wieder hinauf zu klettern, abermals ihre Runden durch die noch nicht bekannten Bereiche des Schlosses zu drehen und doch blieb ihr kaum anderes, um sich zu beschäftigen. Unweigerlich landete sie damit wieder vor den Toren der Thronhalle. Neugierig harrte sie, an die Wand gegenüber gehockt, vor den zwei großen Flügeln aus, bis jemand kommen und Eintritt verlangen würde - oder heraus käme. Sie wollte ihn noch einmal sehen. Diesen Monarchen mit den merkwürdigen Tupfen im Gesicht und dem roten Haaransatz unter seinen goldenen Locken. Sie verstand nicht, was ihn zu dieser Maskerade bewog und ihn zu sehen allein würde ihr das wohl auch kaum verraten können - und dennoch strebte sie in die Halle hinein, als ein Bote, sichtlich blass und zittrig, die Räumlichkeiten verließ. Offenbar hatte er keine gute Kunde überbracht und schon um sein Leben gefürchtet, war jedoch wider Erwarten noch einmal davon gekommen. Etwas musste seine Majestät milde gestimmt haben - und dieses ominöse Etwas war eine kränkliche, gekrümmte Gestalt, die zur Rechten seiner Göttlichkeit stand und sich ausschwieg. Als die Tore geschlossen wurden und der Tiefling eintrat, als sie sich die Torwächter genauer ansah. Selbst dann, als sie - wie ein einfacher Bauer aus dem Pöbel, der solche Dimensionen nie zuvor gesehen hatte - alle Details der prächtigen Halle erfassend durch sie hindurch schritt. Kräftige Säulen, behauen mit Darstellungen von Jagd und Schlachtenruhm, grenzten einen schmalen, äußeren Rundgang ab, in welchem regelmäßig schwer gepanzerte Männer mit Armbrüsten ausharrten. Die Leibgarde seiner Majestät - Bellatoren. Ximasxi hatte von ihresgleichen gehört. Wilde Geschichten über die schier unüberwindlichen Kriegsveteranen. Sie gab nicht viel auf Geschwätz, hatte das noch nie getan und obgleich diese Herren durchaus beeindruckend wirkten, in ihren schicken Platten- und Schuppenpanzern, mit ihren Schilden und Lanzen und Armbrüsten, ihrer großen, breiten Statur… waren es doch nur Männer. Nur Menschen. Sie fielen auf Illusionen herein, sie bluteten, wenn man sie piekte und sie starben, wenn man das oft und tief genug tat. Schließlich aber kam sie abermals zum Thron. Ein jeder, der sich dem Machtzentrum Lumiéls zu nähern gewillt war, hatte Regeln zu befolgen. Man trat bis vor die erste, flache Stufe, verneigte sich und harrte aus. Nur seine Majestät selbst konnte gestatten, näher zu treten. Tat er dies, setzte man einen großzügigen Schritt auf die erste, breite Stufe - und wartete dort. Drei solcher Stufen führten zu jenem kleinen Podest, auf dem die Throne von König und Königin sich erhoben. Niemand wurde je unter der Regentschaft von Phillipe dem Dritten auch nur auf die erste Stufe herauf gebeten - er hielt das nicht einfach nur für ein Sicherheitsrisiko, er war zudem fest überzeugt, dass es kein Wesen dieser Welt würdig wäre, sich seiner Göttlichkeit weiter zu nähern - mit Ausnahme Celsors, seines treuen und ergebenen Beraters. Dieser war es auch, der sich kurz entschuldigte. Seine Majestät ließ ihn ziehen, gab es für den Augenblick doch keine weiteren Staatsgeschäfte zu erledigen. Dass er nicht einfach ging, weil er König und Diebin Zeit zu zweit einräumen wollte, wurde rasch deutlich, als sein zügiger Schritt ihn direkt auf den Tiefling zu führte. Unbemerkt und unerkannt - vor allem aber lautlos. Sie wich rasch vor ihm zurück, regelrecht tänzelnd, entkam um ein Haar zur spät zur Seite und bemerkte den strengen Blick, welcher auf ihr lag. Ahnend, was gewünscht wurde, folgte sie Celsor aus der Thronhalle hinaus zurück in die unteren Ebenen, zurück in die Räumlichkeit, deren endloser Langeweile sie zu entkommen versucht hatte. „Es ist nicht verkehrt, dass du dich umzusehen und mit deinem neuen Heim vertraut zu machen versucht bist, aber von der Thronhalle lass in Zukunft die Finger. Weder seine Majestät, noch die Geschäfte dieses Königreiches gehen dich etwas an - vorläufig. Ist das klar?“ Er hielt ihr also eine Standpauke. Nun, das war nicht die Erste, die ihr zuteilwurde. Es war lediglich die Erste von seiner Seite - und das allein zog ihren Unwillen herauf wie den Vorhang einer Theaterbühne. „Klar. Ich bin ausgeruht“, nuschelte Ximasxi leise, um möglichst zügig zu einem vermeintlich weniger frustrierenden Thema zu wechseln. „Ach, bist du das? Ausgeruht bedeutet nicht, das du dich auch erholt hast“, erwiderte Celsor lediglich und maß die frühere Diebin kritischen Blickes. Sie hielt ihm stand - und versuchte zu verbergen, dass eine Spur Zorn in ihren Augen flackerte. Ein geradezu lächerliches Bestreben, konnte der Priester doch gerade solche Gefühle aus ihr herauslesen wie den Sinn aus Buchseiten. Ximasxi hatte noch nicht begriffen, dass ein Teil ihres Gemütes in die Schatten hinaus strahlte wie das Licht einer Kerze gegen die Dunkelheit anzukämpfen versuchte. In ihren Augen mochte sie sich bändigen und zügeln können, doch umgab sie eine regelrechte Ausstrahlung ihres Gemütszustandes. Für den Diener waren diese Entwicklungen keineswegs beunruhigend. Sie hätte ihn hier und jetzt mit dem Dolch angreifen können, den sie sich zum Spaß vom Gürtel eines patrouillierenden Wächters stibitzt hatte und selbst hätte sie ihm die Kehle durchtrennt, Ceteus hätte die Wunde geflickt, schneller als sie gerissen wurde. „Nun gut, wie du meinst. Deine zweite Prüfung…“ Einen guten Augenblick nur haderte der Priester, erwog, wie viel er ihr sagen sollte, wie viel er andeuten könnte - entschied sich dann jedoch für den minimalistischsten Weg. „Ich werde dich zu jemandem schicken. Direkt in seine Schlafgemach, während er ruht. Du wirst ihm die Kehle durchtrennen, mit dem Messer, das du gestohlen hast. Bist du wieder zurück, wirst du das Messer übrigens zurück bringen.“ Sie war nicht länger eine Diebin. Ihr war durchaus bewusst, dass er ihr das mit allen Mitteln klar zu machen versuchte. Wie bei ihrem ersten Auftrag, hätte sie eine Klinge für sich erbitten können und er hätte ihr eine beschafft. Im Schloss verschwundene Waffen konnten für Unruhe sorgen und Chaos war nun wahrlich das Letzte, was Celsor innerhalb dieser Mauern dulden mochte. Dennoch widerstrebte ihr, etwas, das sie mit ihrem Geschick an sich gebracht hatte, artig zum eigentlichen Eigentümer zurück zu bringen. Wenn er auf seine Waffe nicht aufpassen konnte, hatte er es doch verdient - oder etwa nicht? Zudem war sie immer schon Selbstversorger gewesen. Seit jüngsten Tagen an, kaum der Mutter entwöhnt, hatte sie auf sich allein Acht geben müssen. Sie allein hatte sich Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf besorgen müssen - weil es sonst niemanden gab, der dergleichen für sie getan hätte. Es war ihr unangenehm, für alles, was sie benötigte, ständig um Hilfe und Unterstützung und Mildtätigkeit betteln zu müssen. Natürlich bettelte sie hier nicht… aber es fühlte sich so an. Als würde sie mit den Knien am Boden zu Kreuze kriechen. Dazu kam, dass er sie schon wieder als eine schlichte Mörderin losschicken wollte. Sie hatte keine Vorliebe für das Töten. Gewiss auch keine Abneigung - in der Gilde hatte sie getan, was notwendig war. Aber sie war eine Diebin gewesen. Tote Leute sammelten kein neues Vermögen an. Sie erteilten keine Aufträge zur illegalen Rückbeschaffung dessen, was ein Gildendieb ihnen überhaupt erst gestohlen hatte. Tote Leute waren so viel weniger nützlich! „Was hat-“ hob Ximasxi an, doch dem Tiefling wurde rasch Einhalt geboten. Stattdessen öffnete Celsor abermals die Brücke für sie und bedeutete ihr, hinein zu gehen und zu tun, was man ihr gesagt hatte. Blindlings. Ohne Erklärungen. Nicht einmal das Recht auf Fragen wurde ihr eingeräumt. Wer war sie, den Willen des Nachtvaters in Zweifel zu ziehen? Einmal mehr besann sie sich auf ihren Platz, versuchte es mit aller Strenge und… gewann. Wieder. Wie lange würde dies gutgehen? Wie lange dauerte es, ehe sie diesen Kampf verlor und sich weigerte? Was würde dann geschehen? Zögerlicher als noch beim ersten Mal, trat sie schließlich über die Brücke hinweg. Noch während sie den ersten Schritt darauf tat, hörte sie, rauschend und verzerrt, wie ein Flüstern im Wind, die Stimme Celsors hinter sich. Er beschied ihr, dies sei eine Prüfung ihrer Loyalität. Hatte sie nicht beim ersten Mord ihre Loyalität bewiesen? Ein Paladin des Mermerus, gewiss… aber war das ausreichend? Man hatte offenbar so entschieden und sie war nicht gewillt, das anzuzweifeln. Aber diesmal besaß sie nichts außer ihrem Dolch. Nicht einmal die Beschreibung ihres Zieles, einfach nur die Information, sie würde ankommen und hätte sofort den Schlafenden zu töten, der dort sein würde. Was, wenn dort niemand war? Oder derjenige längst erwacht? Galt ihr Auftrag dann einfach dem Erstbesten, der ihr über den Weg lief?   Was Celsor mit seinen Worten zum Ausdruck hatte bringen wollen, wurde ihr klar, als sie ankam. Schwüle Luft schlug ihr entgegen, das Resultat eines Sonnenunterganges, der noch nicht lange zurück lag. Durch das offene Fenster drang Meeresluft. Sie konnte das Salz darin riechen. Doch noch etwas anderes schwang darin mit. Etwas Unverkennbares. Das einzigartige Bouquet von Gewürzen, Sand und viel zu vielen Bewohnern auf engstem Raum. Sie war heimgekehrt. Zurück in Sundergrad. Kurz nur wandte sie sich um, krallte sich an das Fensterbrett und spähte hinaus. Sie liebte dieses Aroma, die dichten Gassen, die dicken Mauern am Horizont. Sundergrad war für sie untrennbar mit der Gilde verwoben. Mit mehr Möglichkeiten, als man in einem Leben hätte nutzen können. Mit Leuten, die ihr Respekt entgegen gebracht und sie für nützlich befunden hatten. Eine Prüfung deiner Loyalität, hallte es in ihrem Kopf nach. Das Grauen dämmerte nur langsam in ihrem Verstand herauf. Vorsichtig löste sie die Klauen, wandte sich um. Sie war in einem Schlafgemach, ganz wie vorhergesagt. Ein kleiner Nachttisch, ein Schrank, Tisch, Stühle, ein Bett. Verschiedene Utensilien lagen im Raum verstreut. Ein Paar Schuhe, Lederstiefel. Ein Gürtel hing über der Stuhllehne. Ein Ledersäckchen, wohl mit Münzen gefüllt, lag wie eine Einladung auf dem Nachttisch - mit einer dünnen, unscheinbaren Schnur daran, die irgendwo unter dem Bett verschwand. Ganz wie zugesichert, lag in eben jenem ein Schlafender. In Sundergrad wurde es nie wirklich dunkel. Selbst in Neumondnächten warfen die Sterne ihr Licht herab und die See zerriss es, verteilte es in alle Richtungen. Immer brannten Feuer irgendwo, Fackeln, Ölschalen, immer herrschte auf den Straßen geschäftiges Treiben. Zur Nacht hin wurde es leiser, gewiss. Ruhiger, so schien es. Aber rege gehandelt und Absprachen getroffen wurden hier zu allen Stunden des Tages. Doch diese Lichtquellen hätte sie nicht einmal benötigt, nicht mehr. „Nein…“ hauchte sie leise, als sie die Gesichtszüge erkannte. Sie hätte es ahnen müssen, nicht wahr? Die ganze Zeit über hätte sie wissen müssen, dass dieser Moment kommen würde. Was hatte sie schon geglaubt, schalt sie sich selbst - dass ein paar Jahre vergehen würden, wenn nicht Dekaden, ehe man sie das hier zu tun losschicken würde? Natürlich machte man es zu einer Prüfung ihres Willens und Glaubens, zu einer Prüfung ihrer Loyalität. Aedan Gilraen schlief selig und sie sollte ihm die Kehle durchtrennen? Für den Nachtvater… sollte sie den einzigen Menschen töten, der je gut zu ihr gewesen war? Wirklich, aufrichtig und ausdauernd gut. Jeder Schritt, der sie näher an das Bett trug, wurde wackeliger. Sie zog das Messer aus ihrem Gürtel hervor. Die Tür war gesichert, sie hatte Drähte gesehen. Vermutlich ein hübsches Willkommensgeschenk für Eindringlinge. Hatte man sie deshalb gleich in das Zimmer hinein gebracht? Damit sie sich nicht damit aufhalten konnte, zu beweisen, was für eine geschickte Einbrecherin sie wäre? Vorsichtig begab sie sich auf das Bett. Das hier war eine persönliche Angelegenheit. Persönlicher ging es eigentlich kaum. Und obwohl sie sich über seinen Leib grätschte, erwachte der Gildenmeister nicht. Nur einen kurzen Moment neigte er das Haupt zur Rechten. Mehrere Minuten saß sie auf ihm, zweifelnd. Verzweifelnd. Die Klinge in ihrer Rechten wartete darauf, von Ohr zu Ohr gezogen zu werden, doch sie saß lediglich dort und starrte ihn an. Ein kleiner Teil von ihr hoffte, er würde erwachen. Sich wehren. Sie töten, bevor sie ihn töten musste. Die Mehrheit der Stimmen in ihrem Kopf jedoch versuchten ihm all die Dinge mitzuteilen, die sie ihm seit ihrer Abreise aus Sundergrad hatte sagen wollen. All die Erklärungen für ihr Verschwinden. Für die unbeantworteten Briefe. Die sie obendrein nie gelesen hatte. Ihre Rechtfertigung der Geschehnisse im Heerlager südlich von Samara. Sie wollte ihm erklären, was auf welche Weise wann schief gelaufen war. Dass Servatius, diese Schlange vom Zirkel, sie alle betrogen hatte. Es gab so vieles, das sie ihm erklären wollte… Lege die Hand auf seine Brust, Ximasxi… Hastig riss sie den Kopf herum, spähte in die Schatten hinein. Doch dort verbarg sich niemand - nicht im Raum und auch nicht jenseits dessen. Dennoch hatte diese eine, klare Stimme ihr diesen Hinweis geflüstert. Wozu? Zögerlich hob sie ihre Linke. Über sein Herz, Ximasxi, sein Herz… Sie musste die Decke nicht weiter zurück schieben. Das dünne Stück Stoff war im Verlauf der ersten Stunden seiner Nachtruhe bereits eigenständig weit genug herab gerutscht worden. Schon als die Spitzen ihrer Krallen jedoch seine Haut berührten, schwoll das Flüstern der Stimmen um sie herum rasch an. Als sie ihre Handfläche vollständig über seinem Herzen ablegte, brach der Chor zusammen, verstummte und… irgendeine Kraft packte sie, fuhr von hinten in ihren Schädel herein, riss sie fort, zerrte und fetzte ihren Verstand aus ihrem Kopf heraus. Ein mehr als schmerzhafter Prozess, sie verlor die Orientierung, abgeschnitten von ihrem Leib und aller Sinne beraubt, bis sie schließlich Zeuge von etwas wurde. Sieh hin, Ximasxi… er gab nie auf…   Eine Flut von Eindrücken stürmte ihren Geist. Sie hörte Aedan sprechen, viele Male. Mit Dieben, mit Assassinen, manch vertrautes Gesicht darunter, sie sah ihn Söldner werben und selbsternannte Spezialisten bezahlen. Eine Spur. Sie konnte seine Verzweiflung regelrecht spüren. Nur eine einzige, verdammte, noch so kleine Spur würde ihm genügen. Er konnte nicht loslassen, sie nicht loslassen. Die verlorene Diebin wiederzufinden, war ihm ein Anliegen geworden, dessen Priorität stieg - mit jeder Woche, die seine Suche erfolglos blieb. Die Eindrücke wandelten, verschwammen, wurden abgelöst. Die Erinnerungen seiner Suche waren hervor gezerrt worden, ihr etwas aufzuzeigen, doch sie waren kein gegenwärtiger Bestandteil seines Schlafes. Stattdessen sah sie nun ein gänzlich anderes Bild entworfen. An eine Wand gepresst, fauchte sie aggressiv, zischte den Namen ihres Gildenmeisters, der sie gegen eben jene Wand gepresst hielt. Seine Finger fuhren zwischen die Ihren, verschränkten sich miteinander, sein Leib presste sich gegen den des Tieflings. Mit jedem Mal, da er in sie stieß, wurde ihr Fauchen energischer, klammerte sie sich stärker an die Wand. „Ich lieb-“   „Nein!“ Hastig riss die einstmalige Diebin der Gilde die Hand von der Brust des Schlafenden - der von ihrem Ausruf und der Plötzlichkeit ihrer Bewegung aus seinem Traum gerissen wurde. Einem antrainierten Reflex folgend, fuhr seine Linke unter das Kopfkissen, riss den dort aufbewahrten Dolch hervor und hielt ihn an die Kehle des vermeintlichen Attentäters, ebenso, wie der Tiefling ihre Klinge an seine Kehle brachte. Doch keiner von beiden konnte sich überwinden, den letzten Schritt zu tun. Ihr fiel es noch immer schwer, sich damit zu arrangieren, wen sie hier töten sollte… und Aedan gewahrte in letzter Sekunde, dass diese Attentäterin nicht einfach irgendjemand war. Einen peinlich berührten Moment lang starrten sie einander an, schwiegen, während ihr die Röte tief in die Wangen schoss. Was sie gesehen hatte, war nicht für ihre Augen bestimmt gewesen. Sie war in seinen Kopf eingedrungen, hatte sich Teile seiner Erinnerungen angesehen, sich in seine Träume und Sehnsüchte eingeschlichen. Für sie war der Gildenmeister stets so eine Art… Vaterfigur gewesen - und nun zeigte sich, dass er offenkundig sich selbst in einer ganz anderen Rolle sah… oder darin wünschte. Warum? Warum sollte er das tun, warum sollte er eine Missgeburt wie sie… begehren? „Du lebst…“ brachte Aedan fassungslos hervor. Er streckte die Hand nach ihrer Wange. Obgleich sich der Druck ihrer Klinge an seinem Hals verstärkte, ließ sich der Gildenmeister davon nicht beirren. Zu lange hatte er suchen müssen, hatte die Hoffnung fast aufgegeben. Ein jeder war versucht, ihm einzureden, die sei längst tot und fast, um Haaresbreite, hätte er es ihnen geglaubt. Hier aber war sie nun, ganz plötzlich… in seinem Schlafgemach. Auf ihm sitzend. Mit dem Messer an seiner Kehle. „Ximasxi… was… was haben sie nur mit dir gemacht…?“ Einen Augenblick lang war sie schwach. Gönnte sich die Nähe, die sie vermisst hatte, die offenkundig auch ihm weitaus lieber war, als sie je vermutet hätte. Sie schmiegte sich in die Hand, die er ihr bot, doch ihre Worte rissen sie wieder zurück. „Ich kann das nicht!“ fauchte sie erbost, riss sich von ihrem einstigen Gildenmeister los und stürmte davon. Haltlos sprang sie vom Bett herab, wetzte mit der Klinge wieder am Gürtel auf allen Vieren auf eine der finstersten Ecken des Raumes zu… und verschwand darin. Spurlos.   Celsor hatte die Brücke rechtzeitig wieder geöffnet und empfind Ximasxi so, wie es ihr wohl nach einem solch fatalen Versagen zustand: Mit wenig Begeisterung. „Nun, ich muss sagen… nach deinem ersten Auftrag war ich beeindruckt. Ich wollte sehen, was du… hm… vielleicht war es einfach zu früh, was?“ Sie hatte ihre Aufgabe nicht erfüllt, sie hatte versagt und alles, was Celsor dazu einfiel, war der Umstand, es könne dafür zu früh gewesen sein. Sie sah die Enttäuschung in seinen Augen, sie spürte sie wie Wogen im unruhigen Wasser im Raum auf und ab fahren. Doch er schrie sie nicht an. Er schlug nicht zu, quälte und verletzte sie nicht. Nur diese drückende Enttäuschung, ehe er sie wortlos im Raum zurückließ. War es das gewesen? Hatte sie ihn restlos enttäuscht? Was, wenn der Nachtvater sie ob ihrer Schwäche und Unfähigkeit nun doch verstieß? Der Gedanke quälte sie, ließ ihr keine Ruhe. Wieder und wieder ging sie in den folgenden Stunden in Gedanken durch, was sie gesehen und erfahren hatte. Wo ihr Fehler lag. Doch der Fehler war zu umfassend, um einen einzelnen Punkt aufzuzeigen, wo sie anders hätte handeln müssen. Sie schätzte Sundergrad. Und in gewisser Weise hatte sie Aedan regelrecht verehrt. Gab es überhaupt Umstände, unter denen sie ihn hätte töten können? Allein der Gedanke, ihn einfach umzubringen, bestürzte sie zutiefst. Würde ein anderer nun ausgeschickt werden, das zu tun, was sie nicht konnte? Fragen und Zweifel zerfraßen sie, bis der Kummer ihr Herz schwer und schwerer werden ließ. Zusammengekauert sank sie abermals auf dem Bett nieder. Zog die Decke über sich hinweg, als könne sie sich darunter vor der Welt verbergen, sie aussperren. Allein sein.   Für ein paar wenige Tage funktionierte das sogar. Celsor ließ sie in Ruhe und die Besitzer der anderen Betten und Altäre zeigten sich ebenso wenig. Die einstige Diebin verfiel wieder in ihr altes Muster, welches sie kurz vor ihrer Abreise aus Samara bereits entwickelt hatte. Stundenlang saß sie am Kopfende des Bettes, starrte leeren Blickes in den Raum hinein und wirkte dabei fast wie einer jener Wasserspeier, die dieser Tage wider ihrer ausgesprochenen Hässlichkeit einfach überall angebracht werden mussten. Wie viel Zeit letztlich tatsächlich verstrichen war, konnte Ximasxi nicht sagen. Unter der Erde verlor man als Geschöpf, das an Sonnenauf- und -untergänge gewöhnt war, irgendwann völlig die zeitliche Orientierung. Sie schlief hin und wieder ein paar wenige Stunden, meist unruhig und leicht, ehe sie ihr altes Spiel fortsetzte. Manchmal wurde das leere Starren unterbrochen von einigen Momenten, in denen sie sich den zahllosen Fragen zu stellen gewillt war, welche sie beschäftigten. Marterten. Irgendwann aber erwachte sie und etwas im Raum hatte sich verändert. Eine kleine Notiz lag auf dem Nachttisch neben jenem Bett, das sie gegenwärtig nutzte, obwohl es vermutlich nicht einmal das Ihre war. Celsor musste sie irgendwie dort drapiert haben, aber es war schier unvorstellbar, dass er in Gestalt und voller Pracht die Treppe herab geschritten und den Raum durchquert haben mochte, ohne, das sie dergleichen bemerkte und davon erwachte. Vermutlich hatte er sich durch die Schatten hierher geschlichen, nicht einmal vollständig Gestalt angenommen, sondern nur seine Hand den Zettel ablegen lassen. Wie er zu Werke ging, war der früheren Gildendiebin auch völlig gleich. Im Schein der Kerzen im Raum starrte sie auf ihre linke Hand und sah… Haut. Ihre Haut. Unverändert und wie bisher gekannt. Doch sie wusste: Würde sie die Lichter löschen, wäre dort das Siegel. Es fühlte sich nicht länger an wie ein Geschenk des Nachtvaters oder auch nur das seines willigen, bevorzugten Dieners. Ebenso hatte Celsor, trotz eines schwer abzusprechenden Charmes und seiner Intelligenz, inzwischen keinerlei Parallelen mehr zu ihrem Freund aus Samara. Nichts, das sie noch verband - außer dem Siegel. Die Notiz war denkbar kurz gehalten. Pragmatisch. Anweisungen für ihren dritten Auftrag. Diesmal würde es offenbar keine bequeme Reise über irgendwelche Brücken geben. Mit dem Ring sollte sie sich tarnen und die Stadt verlassen, ihr Ziel war Norwingen. Die Menschenstadt oben an der Schneegrenze sollte sie durch die südliche Handelsstraße betreten und sich stets auf der nordwestlich führenden Hauptstraße halten. Kurz, bevor sie die Siedlung wieder hinter sich ließe und in Richtung Xeranor aufbrach, würde sie etwas abseits vom Schuss eine Schneiderstube finden. Ein Mann namens Arian tat dort Dienst - sie sollte ihn aufsuchen. Vielleicht, so erwog Ximasxi einen Augenblick, versuchte Celsor sie zunehmend in die Selbstständigkeit zu führen. Bei ihrem ersten Auftrag hatte er ihr ein Ziel gegeben, es detailliert beschrieben, ihr Werkzeuge zur Verfügung gestellt. Was und so viel sie mochte. Es hatte keine Einschränkungen gegeben, außer darüber, was zu tun war und mit wem. Bei ihrer zweiten Prüfung hatte man ihre Loyalität getestet, so sagte der Priester. Es gab keine Werkzeuge mehr, keine Zielbeschreibung. Nur ein simples ‚Töte, was du vorfindest‘. Und nun? Nun schickte man sie ohne Schattenreise durch das Land in eine andere Stadt zu einem Mann, von dem sie nur den Namen kannte und hieß sie… wie hatte die Anweisung gelautet? „Du wirst wissen, was zu tun ist.“ Diesmal gab es also noch weniger Unterstützung, nicht einmal mehr einen konkreten Auftrag. Der Gedanke, das Celsor sie anleiten wollte, war schmeichelhaft… vor allem für ihn. Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass er dergleichen beabsichtigt haben könnte. Andererseits war er noch immer ein Diener des Nachtvaters, Überbringer seines Willens. Warum aber die Notiz? War er wirklich so unabkömmlich, ihr diese paar Fetzen nicht persönlich vor die Füße werfen zu können? Oder war er aufgrund ihres Versagens bei der letzten Prüfung nicht länger gewillt, sie sehen zu müssen? Es waren altbekannte Zweifel, welche den Tiefling immer wieder aufs Neue zerfraßen, während sie sich anschickte, ihre Sachen zu packen. Zumindest, bis ihr klar wurde, dass es keine Sachen gab, die sie packen könnte. Keine Drähte und Werkzeuge mehr, keine Dolche. Sie hatte nicht die freie Auswahl zwischen ihrer Rüstung und den verschiedenen Zusammenstellungen von Lumpen, abhängig davon, wie man sie sehen sollte, als was sie zu erscheinen gedachte. Sie hatte nur einen Dolch, gestohlen und wider der Anweisungen Celsors nicht zurückgegeben, einen Ring, der ihr nicht ewig dienlich sein würde, spürte sie doch inzwischen selbst, wie er schwächer wurde und ihren Umhang. Alles, was sie hatte, trug sie bereits bei sich. Entsprechend zögerte sie nicht und schritt der Tür zu - an welcher sie nun doch ins Stocken kam. Sie blickte über die Schulter zurück, auf die verschiedenen kleinen Altäre, die wohl anderen Priestern gehörten. Celsor hatte nie ein Wort darüber verloren, doch… keines der Betten war leer. Neben keinem stand einfach nur ein Nachttisch, ohne schmuckreiche, skurrile Aufbauten darauf. War hier überhaupt je ein Platz für sie gewesen? Hätte das hier ihr Heim werden können? Der Abschied, den sie diesmal von diesem Raum nahm, fühlte sich merkwürdig endgültig an. Es war ihre letzte Prüfung - daran mochte es wohl liegen, so redete sie sich zumindest ein. Ein kleiner Teil in ihrem Hinterkopf ging sogar noch weiter und bezweifelte aufrecht, dass sie in Celsors Augen der Liebe des Nachtvaters würdig wäre. Er würde ihr das Siegel nehmen und was dann geschähe, das hatte er ihr schon zu Beginn gesagt. Der Tod. Wie es wohl geschehen würde? Gäbe es einen Kampf? Etwas, wo sie sich ein letztes Mal beweisen müsste? Sich verteidigen könnte?   Bereits als Ximasxi die Hauptstadt durch das Nordtor verließ und damit den Algoras überquerte, einen der Zwillingsströme, die La Coeur zu einer fast uneinnehmbaren Festung machten, vernahm sie wieder das Flüstern der Stimmen. Es war ein neuer Tag angebrochen, die Sonne stand am vormittäglichen Himmel und dennoch waren die Schatten schier allgegenwärtig. In der Stadt durch ihre enge, hohe Bauweise natürlich noch um ein vielfaches mehr als außerhalb, doch das Dunkel gab es überall. In ihm schlummerten die Kräfte jener, die sich der Spinne verschrieben hatten, dienstbare Geister im Fall der Fälle. Wie sie über die Tage ihrer Reise bemerken musste, hatte Celsor sie mit einer weiteren Sache nicht belogen: Sie war nicht länger darauf angewiesen, zu trinken und zu essen. Mehr als das, blieben Durst und Hungergefühl sogar völlig aus. Einen Tag brauchte sie, um in straffem Schritt die Grünflächen nördlich der Stadt hinter sich zu lassen, die viele Jahrhunderte zuvor einstmals Teil einer weitreichenden, die Hauptstadt umringenden Landschaft von Feldern und Äckern waren. Sie erreichte am späten Abend die Südgrenze des Stillen Waldes und - statt ihr Lager aufzuschlagen - wandte sich nach Westen. Medea, eine Dryade, wachte über diesen Hain und Ximasxi hatte von ihresgleichen genug Geschichten gehört. Sie waren Anhängerinnen Phylias, der Göttin des Natürlichen und Lebendigen. Sie wachte über das Gleichgewicht der Dinge und stand im Zweifelsfall, wie so viele andere Narren auch, hinter Mermerus. Jemanden wie sie hätte sie nicht einmal willkommen heißen können, würde sie nicht das Siegel des erklärten Feindes auf ihrer Hand tragen. Sie war ein Mischblut und trug dämonische Kräfte in sich - das allein hätte der Hüterin bereits genügt, sie in Stücke zu reißen. Teile dessen wusste sie selbst… anderes wurde ihr vom Chor der Schattenstimmen zugeflüstert, während sie stets in gebührendem Abstand zur Baumlinie am Wald entlang lief. Den Stillen Wald zu durchqueren hätte sie zwei Tage gekostet - ihn zu umrunden kostete sie zwei Wochen. Eine lange und einsame Reise und doch war es eine Zeit, die sie durchaus zu genießen wusste. Sie war für sich. Niemand, der ihr Befehle erteilte, niemand, der sie in Kellerräume einpferchte, ob sie das wollte oder nicht ungeachtet. Sie war auf sich gestellt und fast fühlte es sich wieder an wie die guten alten Tage in Samara. Ein wenig Kummer befiel sie hin und wieder, doch sie blieb unwissend darüber, ob das nun Fern- oder Heimweh war. Ximasxi passierte im Verlauf ihrer Reise mehrere Dörfer. Meist hielt sie sich außerhalb. Menschen waren ihr nach wie vor zuwider - nun vielleicht sogar etwas mehr als zuvor. Die Namen der Ortschaften zogen an ihr vorbei wie die Gesichter der wenigen Reisenden, die ihr begegneten. Krämer mit ihren Fuhrwerken, Bauern, die mittels ihrer Karren ihre Erträge auf die Märkte schafften. Keiner suchte die Gesellschaft eines Scheusals und sie suchte auch niemanden ihrerseits. Als sie nördlich des Waldes wieder auf die Straße stieß, folgte sie ihr einen halben Tag bis Zadiora. Nur ein weiteres Dorf auf ihrer Reise, klein, unbedeutend. Ihr fiel durchaus auf, wie merkwürdig die Verteilung hier beschaffen war. Wenige Alte und Kinder. Manches leerstehende Haus. Vielleicht hatte eine Seuche hier gewütet - es war ihr einerlei. Auch diese Station auf ihrem Marsch ließ sie rasch hinter sich. Schlaf fand sie, wann immer der Drang zu stark wurde. Dabei konnte sie sich in der Wahl ihrer Unterkünfte immer auf ihr Gespür verlassen. Waren es nicht ihre Sinne und ihre Beobachtungsgabe als Diebin, die ihr einen verwaisten Speicher oder eine heruntergekommene, verlassene Hütte offenbarten, so fand sie zurück zu ihren Instinkten, geschult auf das Überleben in Wäldern, die ihr in diesen Breiten zugutekamen und sie Höhlen und kleine Verschläge finden ließen. Nördlich Zadioras begannen die großen Mischwaldgebiete, die sich von der Westküste bei Jegurath bis hinüber tief in den Osten nach Audron erstreckten. Sie wucherten entlang eines gewaltigen Stromes, der sich hundertfach aufgabelte und ein gewaltiges Gebiet, praktisch den gesamten Norden unterhalb der Schneegrenze und wohl auch manches Stück darüber mit Wasser versorgte. Hier wurde es schwieriger, Pfade zu finden und sich durchzuschlagen. Eine große Handelsstraße führte direkt von Zadiora nach Norwingen, gewiss, und wäre die gepflegt worden und intakt gewesen, hätte sie die Strecke binnen vier Tagen bewältigen können - doch schon bei der ersten Brücke, die den Blutstrom überschlug, zog sie es vor, flachere Stellen zu suchen, um das Gewässer aus eigener Kraft zu überwinden. Dieses morsche, halb eingefallene Konstrukt jedenfalls wirkte wenig vertrauenserweckend und würde ihrer Ansicht nach den nächsten Karren nicht überleben, der darüber hinweg rumpeln wollte. So zogen weitere Tage dahin, in denen sie mit ihren Krallen kleine Steilhänge erkletterte, sich im Geäst von Bäumen zur Ruhe begab und sich querfeldein einen erstaunlich guten und raschen Weg nach Norwingen bahnte. Als sie die Stadt durch das Südtor passierte, eröffnete sich ihr ein Anblick, den sie nur bedingt zu schätzen wusste. Der Tiefling hatte wenig Sinn für Fachwerkskunst, die in nahezu jedem Haus verbaut war. Sie würdigte nicht die Art und Weise, wie die Stadt sich regelrecht in den Wald hinein zu wurzeln schien. Eine Siedlung wie die andere, solange Menschen darin hausten. Die verschiedenen Ebenen der Stadt lagen letztlich darin begründet, dass hier bereits das stetig steigende Gefälle einsetzte, welches sich nordöstlich bis hin zur Gletscherkrone empor zog. So hatte man diverse Landschaften aus Treppen, Hängebrücken und Stiegen errichtet, was Norwingen zusätzlich ein wenig unübersichtlicher gestaltete - zumindest auf den ersten Blick. Nach eben jenen, anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten fand die einstige Diebin jedoch eben jene Straße, die ihr gewiesen worden war und rasch darauf auch die Schneiderstube. Ein Mann namens Arian betrieb sie also. Sie würde schon wissen, was zu tun sei? Nun stand Ximasxi vor dem Haus, starrte es skeptisch an und… wusste es eben nicht. Sie könnte eintreten. Was geschähe dann? Würde er sie sofort angreifen, wusste sie natürlich, was zu tun war. Sich verteidigen. Ihn möglicherweise umbringen. Was aber, wenn er sie einfach fragen würde, ob sie einen schöneren Mantel wünschte? Sollte sie ihm dann zusagen? Immerhin hatte man sie zu einer Schneiderstube geschickt - diese Frage wäre nun alles andere als eine Überraschung. Sollte sie zeigen, wer sie war oder sich lieber versteckt und verborgen halten? Unbewusst begannen die Spitzen ihrer Klauen mit dem Schwarzsteinring in ihrer Tasche herumzuspielen. Ihr gefiel das alles nicht. Sie hatte für diesen Auftrag, der sich in der Gilde niemals so hätte nennen dürfen, viel zu wenige Informationen erhalten. Unsicher, ob sie nun also mit einem Angriff rechnen sollte oder nicht, versuchte sie sich bestmöglich abzusichern. Sie streifte den Ring erneut über ihre Klaue, hielt das Messer griffbereit und trat auf die Pforte der Schneiderei zu. Bemüht und langsam drückte sie die Klinke herab, schon die Tür einen Spalt weit auf und sondierte die Innenräume dahinter. Mehrere Tische standen im Raum verteilt, darauf verschiedene Muster und Auslagen, offenbar Textilien zu Vorführzwecken, während kleinere Separees mit Stellwänden abgegrenzt und mit Spiegeln ausgestattet als Anproben herhielten. Verschiedene Büsten trugen ausladende, prunkvoll Hüte oder elegante Mäntel zur Schau. Vorsichtig trat Ximasxi ein und schloss die Tür lautlos wieder hinter sich. Im hinteren Teil des Raumes öffneten sich zwei türlose Durchgänge in einen Bereich, der offenbar als Werkstatt diente. Eben dort sah sie jemanden sitzen. Gleichwohl, wie eben jener fremde Mann sie sah. Ansah? Durch sie hindurch sah? Einen Moment kam der Tiefling ins Schleudern, wurde unsicher, was sie davon halten sollte. Seine Augen waren trüb… ein Blinder? Dieser Mensch besaß nicht ein Haar mehr auf seinem Schädel, schien bereits ein höheres Alter erreicht zu haben. Vierzig Jahre, vielleicht ein paar mehr? Nein, er konnte sie gar nicht sehen, entschied die frühere Diebin. „Ximasxi, nicht wahr?“ erklang plötzlich seine Stimme. Abrupt stockte dem Tiefling der Atem. Ein Blinder… sie trug ihren Ring… und dennoch sprach er sie an. Mehr noch als das - er nannte sie beim Namen. Wie war das möglich? Eingehender betrachtete sie ihn, doch dieser Mann trug keine Robe, keinen Umhang. Eine Schürze, eine einfache Leinenhose, er hatte sogar noch die Nähnadel samt Faden in der Hand. Er war Schneider. In einer Schneiderstube. Vielleicht ein Magier? Ein Geistmagier? Sag ihm nichts…!, rief sie sich noch zur Raison - nur um sich selbst Sekunden darauf zuhören zu müssen, wie sie ihm versicherte, dass dies ihr Name sei. Fassungslos sah sie sich um, starrte bohrenden Blickes auf ihr Umfeld. Was ging hier vor sich? „Du wurdest geschickt, nicht wahr? Mit welchem Auftrag?“ Sag kein einziges, verdammtes- „Das weiß ich nicht“, hörte sie sich abermals folgsam erwidern, „Ich erhielt eine Notiz, die besagte, dass ich es wissen würde, sobald ich hier wäre. Aber nun bin ich hier und dem ist nicht so.“ Zornig verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. Jemand spielte mit ihr, jemand trieb irgendwelche perfiden kleinen Spielchen und sie konnte ihn nicht sehen. Dass dieser Mann ein einfacher Schneider war, diese Geschichte war für sie längst vom Tisch - nur traute sie ihm deshalb längst nicht zu, dieses ganze Theater hier allein aufgezogen zu haben. Gerade, als der Blinde zu einer Antwort ansetzen wollte, trat eine weitere Figur auf den Plan. Ein weiterer menschlicher Mann, gleichen Alters wohl. Sein kohlrabenschwarzes Haar reichte ihm bis knapp über die Schultern. Ein markantes Gesicht, kalt, gleichgültig - und mit der gleichen Art betrachtete er sie, wenngleich auch überrascht, als er durch die Türe aus den hinteren Räumen her in die Werkstatt trat. „Oh. Du hast Besuch, wie ich sehe“, merkte er lediglich an. Das also war der Übeltäter, dessen war sich Ximasxi fast sicher. Er hatte eben jene blasse Haut, die die Priester kennzeichnete, er trug einen schwarzen Umhang, wenngleich auch von deutlich anderem Schnitt, anderer Beschaffenheit, er strahlte eben diese Aura der Macht aus und… dennoch verstand sie noch immer nicht, was hier vor sich ging. Sie hasste es, Spielball anderer zu sein. Gerade als der Neuankömmling versucht war, wieder zu verschwinden, hieß der Schneider ihn sich doch zu setzen. Nur zögerlich kam sein Kompagnon dieser Aufforderung nach und betrachtete sich mit wenig Begeisterung den Gast, den sie nun in ihren Verkaufsräumen stehen hatten. „Das ist Ximasxi. Sie ist hier und weiß nicht, warum“, erklärte der Schneider mit einem Schmunzeln. „Hat Celsor wieder irgendwen mit kryptischen Nachrichten losgeschickt, um uns zu töten?“ erwiderte der Schwarzhaarige sichtlich gelangweilt und betrachtete neuerlich die frühere Diebin, diesmal jedoch mit einem Blick, als würde ein Viehhändler sich ein mageres Kalb beschauen müssen, das man ihm anzudrehen versuchte. „Sieht ganz so aus“, erhielt er lediglich zur Antwort. „Und sie kommt durch die Vordertür? Einfach so?“ „Mutig, nicht?“ meinte der Blinde mit einem Grinsen. „Ich dachte eher an dumm, aber gut.“ Ein kurzes, geradezu theatralisches Seufzen entfuhr dem Schneider, der seine recht imposante Erscheinung daraufhin vom Stuhl erhob. Er legte Nadel und Faden beiseite, trat vor und lehnte sich, noch immer gut drei Meter von jenem Tiefling entfernt, gegen den Rahmen des Durchganges. „Ximasxi, du brauchst dich nicht wundern, warum du uns so freimütig all diese Dinge erzählst oder weshalb es dir so schwer fällt, uns endlich anzugreifen, wie wir böse böse Leute das verdient haben. Schau, hinter dir. Dort, über der Eingangstür. Das ist ein kleiner Vers aus Magierhänden. Er bezaubert ganz schwach, schwer aufzuspüren, die Leute, die durch die Tür treten. Damit sie für die nächste Stunde nur die Wahrheit zu sagen fähig sind. Und, zugegeben, damit sie ein wenig still halten. Das kann bei Anproben mit feinen Damen wirklich sehr nützlich sein, weißt du? Argod, die gute Dame ist nicht dumm, wahrlich nicht. Schau sie dir doch an. Mit nicht mehr als diesem lächerlichen Hinweis hat man sie hierher geschickt. Sie hat ihre Klinge brav dabei, sie hat sich mit dem Ring zu verstecken versucht und allemal weiß sie ohnehin nicht, wer wir sind. Woher hätte sie auch?“ Einem Kochtopf gleich, den man zu lange auf der offenen Flamme hatte stehen lassen, wandte Ximasxi ihren Kopf wieder vom Anblick der magischen Gravuren im Holz über der Pforte den beiden Bewohnern dieses Hauses zu. Ihr Zorn war unlängst ausgeufert, ins Bodenlose gewachsen - groß und stark genug geworden, um die Grenzen der auf sie gewirkten Zauberei zu brechen. Ein Ruck fuhr durch den zerbrechlich wirkenden, zierlichen Leib, als sie sich aus der unnatürlichen Starre löste und auf ihre erkorenen Feinde zu jagte. Der Blinde stand ihr nahe und war damit unweigerlich ihr erstes Ziel, doch schon als sie Schwung holte und mit dem Dolch nach ihm schlug, spürte sie die Veränderung. Das Flüstern der Stimmen wurde lauter, boshaft. Wie zu Fleisch geworden, krochen die Schatten zwischen den Dielen hervor und packten sie, rissen sie aus ihrem Gleichgewicht heraus zu Boden nieder, umschlangen ihre Glieder und fesselten sie an den Grund, das sie nicht einmal ihren Schwanz hätte rühren können, wäre es nicht gewollt und erlaubt worden - von Argod selbst, dem dieses kleine Spektakel nicht mehr als einen Fingerzeig und ein müdes Lächeln kostete. „Du solltest besser aufpassen, Arian“, erklärte der Schwarzhaarige seinem blinden Begleiter, ehe er sich ebenfalls vom Stuhl erhob, „Flink und geschickt ist sie ja… nun… meinetwegen. Aber erwarte nicht, dass ich dir noch einmal den Rücken frei halte, wenn sie meint, dich töten zu können.“ Der Robenträger zog sich in die hinteren Räume des Hauses zurück, aus denen er soeben erst gekommen war und ließ die frühere Diebin mit dem vermeintlich Blinden zurück. Arian jedoch konnte trotz der Blendung bestens sehen - auf die gleiche Weise, wie sie das vermochte. Noch immer fesselten die Schatten sie an den Grund nieder und erlaubten ihr keinerlei Regung. Was Ximasxi nicht davon abhielt, mit aller Kraft ihre Klauen befreien zu wollen und ihrem vorläufigen Kerkermeister angemessen entgegen zu fauchen. „Na na na, ist das denn ein gebührender Dank für meine Hilfe? Hast du geglaubt, du konntest dich bei deiner ersten Prüfung so gut im Gasthaus in die Schatten schleichen und daraus lösen, weil du einfach nur besser bist als alle vor dir? Oder dachtest du, die Schatten selbst würden dir ein Liedchen davon singen, wie du in anderer Leute Träume einbrichst?“ Die bis dahin gewitzte, freundliche Miene Arians brach ein, wurde ernst, als er sich im Schneidersitz neben ihr auf den Boden begab. „Ich will dir mal etwas sagen, kleine Diebin. Celsor… ist nicht unbedingt dein größter Verehrer. Das konntest du dir sicherlich schon denken, nicht? Sonst wärst du nicht hier. Von Zeit zu Zeit schickt er mal ein paar Neue, die uns aufstöbern und ihr Glück an uns versuchen sollen. Sie kommen durch die Schatten, durch die Fenster, über die Dächer, halten sich für unglaublich klug und sterben alle auch unglaublich schnell. Er schickt zu uns nur die, die er besonders hart prüfen… oder loswerden will. Du hast Aedan leben lassen, das fand er vermutlich nicht sonderlich hinreißend - falls er nicht schon von Anfang an etwas gegen dich hatte. Ein anderer hat dich aus den Flammen gerettet und ihm mehr oder minder aufgedrängt. Der Nachtvater wünschte deine Rettung und keiner von ihnen verstand, wieso. Ich versteh’s auch nicht - aber das ist mir auch egal. Anders als ihnen.“ Du könntest mir vertrauen, kleine Diebin - wenn du nur willst… Sie versuchte noch immer, sich loszureißen - aber allmählich schwanden nicht nur ihre Kräfte, sondern musste sie obendrein die Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens anerkennen. Sie hatte auch versucht, erneut in die Schatten abzutauchen, doch die gehorchten der größeren Macht in der Umgebung und die schier unbeschreiblich Größte hier… saß gerade neben ihr und hielt es für klug, ihr ermüdende Reden zu schwingen. Nur widerwillig ließ sie sich schließlich darauf an, schien ihr doch kaum eine andere Wahl zu bleiben. „Wer seid ihr?“ wollte sie wissen. Nicht etwa eine höfliche Frage, wie man das von jemandem in ihrer misslichen Lage wohl hätte erwarten können, nein. Selbst jetzt noch forderte sie, aggressiv, offensiv - sie gefiel Arian jede Minute ein kleines Stückchen besser. „Oh, verzeih, genau. Wie unmanierlich von mir, nicht wahr? Mein Name ist Arian Schneider und mein Freund, das ist Argod. Einfach nur Argod. Er hat kleinere Familienzwistigkeiten. Jedenfalls… nun, wie erkläre ich das? Celsor ist ein kluger Bursche. Charismatisch, wenn er will. Gerissen. Aber platt. Er ist des Nachtvaters General und darin ist er wirklich gut, aber es fehlt ihm einfach an einer… einer Vision. An etwas Großem. Stell ihn dir als den braven und geliebten Sohn vor. In dem Fall wären Argod und ich sowas wie… die Stiefsöhne. Nicht unbedingt beliebt, aber irgendwie gehören sie ja doch dazu, nicht? Nun ich sehe schon, Familienanalogien sind bei dir irgendwie ziemlich vergebens. Schade, über uns gibt es ein paar hübsche Geschichtchen, aber die hast du alle noch nie gehört. Vielleicht später irgendwann. Für den Anfang ist eines wichtig: Wir haben dir etwas anzubieten.“ Die bittere Miene des Tieflings wurde misstrauischer, je länger Arian sprach. Tatsächlich verstand sie wenig vom familiären Sozialgefüge der Menschen, davon, was Stiefsöhne waren und wie man sie zumindest dem Stereotyp folgend behandelte. Ein Angebot dagegen, das klang irgendwie nach… Verrat. Oder zumindest etwas anderem, das ihr wenig Gefallen würde. Warum sonst auch sollte man sie noch immer an den Boden gekettet halten? „Du wolltest Aedan nicht töten. Und ständig mit wenigen Informationen losgeschickt werden, um irgendwelche Leute zu töten, das willst du auch nicht. Was du aber willst ist, dem Nachtvater nahe sein, nicht? Gut, damit können wir zwei prima leben. Wir können dich dem Nachtvater näher bringen als du dir je zu träumen erhofft hast. Näher, als Celsor dich je lassen würde. Der wird übrigens spätestens in ein, zwei Wochen begreifen, dass du weder tot noch zurückgekehrt bist, also wird er dein Siegel auflösen und dich damit umbringen. Wir könnten es vorher vervollständigen.“ Aber natürlich. Wieso hätte es auch jemals vernünftig klingen sollen? Stattdessen redete dieser kahlköpfige Blinde von Ländereien, in denen Milch und Honig flossen, wie die Menschen so schön zu sagen pflegten. Nur Vorteile, man überschüttete sie mit der Erfüllung all ihrer Sehnsüchte, der Beilegung aller Ängste und Sorgen… … und niemand nannte den Preis dafür. „Was wollt ihr?“ hakte sie deshalb kaltschnäuzig nach, ohne auch nur eine Sekunde auf diese klein-Mädchenfantasien einzugehen, die man ihr hier zum Fraß hatte vorwerfen wollen. Einen Moment schien Arian zu überlegen, ob er grinsen sollte oder nicht, entschied sich dann jedoch als Kompromiss für ein mildes Lächeln. „Wir wollen dafür gar nichts. Natürlich würde ich mich freuen, wenn du bei uns bleibst. Wenigstens für eine Weile. Argod ist ein elender Griesgram, ständig nur am lesen und Sammeln weiterer Bücher und Artefakte. Ich versuche mich wenigstens gelegentlich an etwas Neuem, aber… über die Jahrhunderte wird alles irgendwann langweilig. Ein wenig Abwechslung in der Gesellschaft wäre nett. Dennoch… im Grunde könntest du sogar zu Aedan zurückkehren, wenn dir der Sinn danach stehen sollte. Er allein wird dann zu dir sprechen. Und dir sagen, was du zu tun hast.“ Das Misstrauen konnte man der einstmaligen Diebin noch immer ohne jede Mühe an der Nasenspitze ablesen, weshalb Arian sich schließlich seufzend zurücklehnte. „Du bist ein ziemlich harter Brocken“, erklärte er ernüchtert und starrte sie aus seinen trüben Augen eine Weile an, ehe er die Linke hob und leise mit den Fingern schnippte. Hastig sprang er auf die Füße und verschwand durch die gleiche Tür wie Argod zuvor… und ließ das von materiellen Schatten gefesselte Tieflingsweib einfach am Boden seines Verkaufsraumes liegen, als würde ihn nicht weiter stören, was passieren könnte, sollte nun ein Kunde herein platzen. Einige Minuten strichen dahin, ehe der Schneider zurückkehrte. Er trug ein Bündel unter dem Arm, dem Format nach ein Buch, gewickelt in einfache Leinen. Vorsichtig nahm er abermals bei ihr Platz, diesmal über ihrem Kopfende, sodass sie nicht einmal sehen konnte, welches Werk er da zwischen ihr und sich selbst platzierte und von seinem Umschlag befreite. „Ich sag dir was. Ich les‘ dir ein hübsches kleines Märchen vor. Und wenn ich das beendet habe, sagst du mir, ob du davon mehr willst oder ob du dich lieber in Celsors Gnade begibst, hm?“   Schon die ersten Silben drangen dem Tiefling durch Mark und Bein. Dies war keine Sprache der Menschen, keiner ihrer Dialekte, nicht nordländisch oder aus dem Süden. Es war keine Abwandlung des Elbischen, weder regional, noch aus uralten Überlieferungen. Es entstammte keiner Sprache, die sie je zuvor gehört hatte, keiner Sprache, die überhaupt irgendjemand außer den Geweihten des Schattens je zuvor vernommen hatte und obwohl sie so fremdartig war, so unverständlich schien, erschloss sich der Hörerin die Botschaft der Silben ebenso selbstverständlich, wie der Lesende sie mit seiner Stimme zu formen vermochte. Jeder Zeile und jedem Absatz lag Magie inne, stärker und älter als man es diesem Werk zugetraut hätte und sie entfesselte in Ximasxi etwas, das sie bis dato nicht kannte. Zeit ihres Lebens hatte sie nicht ein einziges Mal den Rausch kennen gelernt, den Drogen bescherten. Bemerkenswert für eine Frau, die viele Jahre in Sundergrad zubrachte, einer Stadt, die einen mehr als nur blühenden Markt mit allerhand Gewürzen besaß. Doch mit jedem Stand, der billig oder teuer die verschiedensten Wirkungen feil bot, bis hin zu beeindruckenden Visionen und gewaltigen Halluzinationen, Traumreisen und Körperlosigkeit, sah sie zugleich auch die Kundschaft. Süchtige und Abgebrannte, die ihr Leben nicht mehr auf die Reihe bekamen, erblindet waren, mit zittrigen Händen und den erbettelten Münzen um eine weitere Dosis feilschten. Kontrolle über sich und ihren Körper, allzeit war das eines der wenigen Dinge gewesen, die sie besessen hatte. Die sie geschätzt hatte. Das war ihr Kapital gewesen, damit hatte sie ihren Lebensunterhalt erwirtschaften können. Nun aber kamen diese… Worte daher und fegten all das mit spielender Leichtigkeit davon. Ihre eiserne Disziplin brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen, ein heißkaltes Prickeln jagte im Eiltempo unter ihrer Haut von Händen und Füßen her ihre Glieder herauf, strömte als eine Woge aus Eis und Feuer durch ihren Torso und spülte ihren um Beherrschung kreischenden Verstand schlichtweg hinfort. Die Glut nistete sich in ihrem Unterbauch ein, der Frost zog als prickelnde Taubheit in ihre Fingerspitzen. Mit den Krallen wetzte sie über den Dielenboden, stöhnend, keuchend, sich windend. Noch immer versuchten die Schatten sie am Boden zu halten, doch sie gaben nach, Millimeter für Millimeter, schenkten ihr… Spielraum. Sie räkelte sich, krümmte und streckte sich, glaubte fast zu verbrennen, während sie mit ihren Krallen behutsam über die eigene Haut fuhr. Sie biss sich die Lippen blutig, nagte verzweifelt auf ihrem Finger, doch nichts konnte ihr helfen, konnte die Laute eindämmen oder ihr… Gefallen schmälern. Selbst der Schmerz schien ihre Wonne nur zu verstärken, bis eine regelrechte Flut sie zitternd und flach nach Atem ringend zusammenbrechen ließ. Ein bebendes Häufchen Elend, das mit völlig leergesprengtem Kopf… Schutz suchte. Sie verstand nicht, was geschehen war. Was Arian mit ihr getan hatte. Wellen von heißkalt brennender Freude rollten noch immer schwächer werdend durch ihren Leib. Bemüht wandte sie sich auf die Seite, krümmte sich zusammen, versuchte die Krämpfe zu beherrschen, wieder Kontrolle zu erlangen. Als sie seine Finger an ihrer Stirn spürte, sah sie sich nicht fähig, danach zu beißen oder zu schlagen. Er hob ihre Kapuze zurück, strich ihr das zerzauste, wirre Haar aus dem Gesicht. Ihre Stirn glühte, ihr ganzer Körper glühte. Es ängstigte sie - nicht zu verstehen, was mit ihr gemacht worden war. Was geschehen war. Was das zu bedeuten hatte. Aber eines wusste sie jetzt mit kristallener Klarheit: „Mehr!“   Vier Tage später trat Arian mit einem schläfrigen Gesicht und einem Seufzen zur Begrüßung in die kleine Stube, die Argod und er für die gemeinsamen Speisen nutzten. Er fand seinen schwarzhaarigen Freund natürlich so wie immer vor: Ernsten Blickes ein Buch studierend. „Weißt du, zwei Zimmer weiter liegt ein Weib im Bett. Sie keucht und stöhnt und manchmal kreischt sie sich die Seele aus dem Leib vor lauter Lust… und das alles wegen eines Buches. Das müsste doch eigentlich genau deine Welt sein, oder nicht? Zumindest täte es dir nicht schlecht, mal wieder etwas am Leben teilzuhaben.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, brühte sich der Schneider eine Tasse Tee auf und nahm am Tisch bei seinem Freund Platz. Sein Blick fiel über die eigene Schulter zu einer Reihe von Stücken, die er heute noch würde fertig nähen müssen. Kundschaft, die einen Auftrag erteilt hatte. Mit dem Nähen hatte er vor gerade einmal zwanzig Jahren angefangen. Wie sich zeigte, konnte er selbst heute noch Talente an sich entdecken, die ungeahnt blieben, bis man sie ausgrub. „Und das Buch?“ erkundigte sich Argod lediglich, ohne auch nur aufzusehen. Mit einem weiteren Seufzen schüttelte der Blinde das Haupt. Er würde seinen Begleiter wohl nie dazu bringen können, einen alten Schicken voller Wissen oder auch nur einfältigen Erzählungen gegen ein paar stramme Hüften und hübsche kleine Brüste einzutauschen. „Sie weiß, dass es der Wille des Nachtvaters ist. Gepresst in Papier und Wörter. Es würde nichts bringen, ihr seinen Namen zu verraten. Falls überhaupt, hat sie darüber ein paar dumme Ammenmärchen gehört. Genügt es nicht, wie es ist?“ Der erste Schluck Tee war… heiß. Die Augenbraue hebend, starrte Arian in die Tasse hinein, „Kannst du dir vorstellen, das Celsor ihr gesagt hat, sie bräuchte nie wieder essen und trinken?“ „Muss sie ja auch nicht“, erwiderte Argod lediglich, nahm nun endlich seinerseits ebenso einen Schluck aus seiner Tasse und riss sich wenigstens für ein paar Sekunden von der Seite los, die er so eifrig las. Der Blinde dagegen griff sich einen grünen Apfel aus der Schale, die in der Mitte des Tisches stand, warf ihn ein paar Mal empor und fing ihn wieder auf. „Natürlich muss sie nicht. Aber ich bitte dich, du weißt selbst, wie sie dann nach ein paar Jahren aussehen. Wie Hungertote. Oder eher… Hungeruntote. Ich könnte niemals auf sowas verzichten!“ erwiderte Arian und biss herzhaft in den Apfel hinein. Mit einem Grinsen verzog er das Gesicht, als die Säure ihn dazu zwang. „Wenn sie das Buch beschädigt-“ hob der Schwarzhaarige wieder an, ernst wie eh und je. „… wird es sich wieder richten“, erwiderte der andere lediglich. „Sie könnte die Seiten verschmieren“, setzte Argod neuerlich an. „Dann zeichnen sie sich neu. Jetzt sei nicht so, du kennst das Buch. Es lässt sich nicht so einfach unterkriegen, das hat es noch nie.“ Abermals biss er ein großes Stück aus dem Apfel, trank dazu einen Schluck und empfand die Mischung aus  gesüßtem Tee und saurem Apfel als eine wunderbare Kombination. Wie die anderen Ceteusjünger auf dergleichen Vergnüglichkeiten verzichten konnten, würde er nie verstehen. Warum beschnitten sie ihr eigenes Leben, ihre Existenz in so gravierender Weise? Niemand hatte je von ihnen Maßregelung verlangt. Gerade Ceteus würde wohl kaum Enthaltsamkeit predigen… „Hat sie dich rangelassen?“ hakte Argod nach und ja, für einen kurzen, geradezu winzigen Augenblick glaubte Arian einen dünnen Anflug eines Lächelns auf dessen Miene erkannt zu haben. Erwischt! „Pff, natürlich nicht“, erwiderte der Blinde mit einer jovialen Geste, „Ich glaube eher, sie hasst mich. Noch immer oder schon wieder, was weiß ich. Für die Frechheiten am Anfang. Den Zauber und das alles. Oder einfach nur, weil ich ein Mann bin? Ich werde nicht recht schlau aus ihr. Muss ich aber auch nicht, damit soll er sich herumplagen, wenn es soweit ist. Und so zügellos, wie sie das Buch verschlingt, müsste eigentlich-“ Eine Redensart besagte: Wenn man von Ceteus spricht, kommt er unter’m Bett hervor. Und kaum, dass sie von Ximasxi zu sprechen begannen, zeigte sich die Gestalt des Tieflings in der von Arian nachlässig offen gelassenen Tür. Ihre Krallen kratzten leicht über das Holz des Rahmens. Sie war… mehr als wackelig auf ihren Beinen. Sah fertig aus, erschöpft, verschwitzt und… zufrieden. Möglicherweise traf befriedigt den Kern auch besser. Dass sie mit dem Buch fertig war, ließ sich leicht erkennen. Das Siegel war vollständig. Es überzog ihren gesamten Leib und zeichnete ein fast rankenhaftes, verspieltes Gewirr aus geradezu kalligraphischen Linien über ihren gesamten Leib. Schnörkel und Spiralen, Dornen und Zeichen mit geheimer Bedeutung, doch mit nur einem zugegeben wackeligen Schritt in das spärliche Licht hinein verschwanden all die Symbole und Musterungen. „Wie fühlst du dich?“ erkundigte sich Arian, der sich langsam erhob und den Apfel bei Seite legte.   Und zum ersten Mal seit endlos vielen Jahren zeichnete sich auf den Lippen der Diebin ein Lächeln ab. Keine grinsende Maskerade, kein Ausdruck von Hohn und Spott. Ehrlich, aufrecht und freundlich. „Es ging mir nie besser.“ Kapitel 28: Kreise der Niederhöllen ----------------------------------- „(…) Es ist eine Gegebenheit der natürlichen Gesetze dieser Welt, ein Aspekt der Natur allen Seins. So, wie in allem die universelle Dualität begründet liegt, zeichnet sich auch unser aller Leben durch Regelmäßigkeiten aus. Wie schon in Vittorionis Werk ‚Klageschrift zum Verbot einer Klageschrift‘ die Zustände der Gesellschaft höchst kritisch betrachtet wurden - was leider zum Verscheiden des Schöpfers jenes Theorems auf dem Mühlrad führte -, so gedenke auch ich ihnen nun all die Dinge, die sie über die Gesellschaft bereits wissen und erfolgreich verdrängen, als unwiderlegbare Wahrheiten vor die Augen zu zerren, bis sie sie als gegeben und unbedingt zu ändern akzeptieren müssen. Mit der Himmelfahrt ist es wie mit der Verdammung. Zwei entgegengesetzte Richtungen, die Heiligen, die Wohltäter, Heiler und guten Seelen, von Mermerus unserem Schöpfer persönlich erlöst, steigen in sein Reich auf. Der verwerfliche, sündhafte und reulose Rest wird in die Niederhöllen herabgezerrt. Nun ist es eine Sache der Physik, die uns bei jedem Bergstieg entgegenspringt, die hier einen wichtigen Punkt liefert: Steigt man die Wand hinauf, so ist der Pfad mühsam, beschwerlich und kostet uns sowohl Kraft als auch Zeit. Hinab aber kommen wir schnell und verführerisch leicht. Mit der Ordnung in unserer Zivilisation verhält es sich nicht anders. Wir haben die Aristokraten, wohlgenährt mit feinsten Weinen in ihren gewaltigen Anwesen hinter hohen Mauern und (Muskel-)Bergen voller Abwehr. Allein in diesen Lebensstil fließt genug Vermögen, um dutzende Familien zu ernähren. War ihr Aufstieg aber schwer, wie die Natur es verlangt hätte? Oh gewiss nicht. Mancher mag sich rühmen, hart gearbeitet zu haben, um solch eine Position zu erlangen - und jenen sei ihr Vermögen durchaus gegönnt, wenngleich ich den Geiz dennoch nicht gutheißen will. Die Mehrheit aber wurde in ein bequemes Leben hineingeboren und glaubt, aufgrund ihres Familiennamens das Anrecht zu besitzen, anderen ihre Lebensgrundlage streitig zu machen oder sie vor lauter Langeweile nach eigenem Belieben schikanieren zu dürfen. Blicken wir an das andere, das untere Ende der gesellschaftlichen Leiter, so sehen wir die Bettler, Wanderarbeiter, Tagelöhner und Obdachlosen, die kleinsten Räder unserer Gesellschaft, deren schier überwältigende Masse doch nahezu alle Staaten der uns bekannten Welt am Laufen hält. Hier aber schlägt sich nun die Natur doch - völlig inkonsequent und irrational - mit aller Härte nieder: Wer schon am Boden zu sein glaubt, der durchwandert die in Vittorionis Werk beschriebenen Kreise der Niederhöllen, den gesellschaftlichen Abstieg, viel, viel schneller. (…)“ - aus Mellaias von Innoun‘ „Abstieg und Verfall“   Als der erste Bote hereingestürzt kam, hatte seine göttliche Majestät Phillipe der Dritte dem abgehetzten Gestammel dieses einfältigen Narren nicht  glauben wollen. Er hatte ihn einen Lügner genannt, ihn angeschrien und zur Exekution davonschleppen lassen. An seiner Seite aber stand ein Mann, ernst blickend, der seit seiner Ankunft in La Coeur, so schien es, nie auch nur eine Miene verzogen oder sonst auf irgendeine Weise eine Emotion gezeigt hatte - und eben dieser Mann nahm die Ankündigung sehr, sehr ernst. Wie alles. Befehle wurden erteilt, Posten in Stellung gebracht, die Garde aufgefahren. Bellatoren sammelten sich um die Thronhalle, des Königs Magier bereiteten sich auf den oft durchdachten und doch nie wirklich erwarteten Ernstfall vor. Der Bote, der hatte exekutiert werden sollen, lief mitsamt den vier Mann, die ihn zum Scharfrichter zu bringen gedachten, mitten in das hinein, was er angekündigt hatte. Fremde waren gekommen. Unverfrorenes, dreistes Pack, das Äxte schwingend und mit Zaubern werfend durch die Gänge rauschte wie eine Horde Barbaren. Binnen Sekunden spickten sie die bewaffneten, schwer gepanzerten Soldaten des Königs mit Bolzen, Pfeilen und magischen Geschossen. Sie waren Gefahrenquellen und zudem leichte Ziele. Unerbittlich krampften sich die Hände der überrascht Sterbenden um seine Arme zu, rissen ihn im allgemeinen Durcheinander mit herab. Blut sickerte binnen weniger Herzschläge aus den Leibern, formte eine warme, aber doch rasch auskühlende, klebrige Lache auf den Dielen und durchtränkte die edlen Teppiche. Der Bote aber stellte sich tot, was ihm das Klügste erschien. Die Aggressoren preschten an ihnen vorbei. Sie griffen das Schloss an. Bei allem, was heilig war - dieser Tage wohl erstaunlich wenig -, welcher Wahnsinn mochte sie befallen haben? Und welcher erst gab ihnen die Kraft, es schon bis hierher geschafft zu haben? Niemand hatte die Zeit, den Tod der Feinde zu kontrollieren. Lieber ein paar schwer verletzte Nachzügler im Rücken als von allen Seiten eingekesselt zu werden. Als der Sturm sich legte, weitergezogen war und das Geschrei von Kriegslust und Sterben sich in andere Korridore verlagerte, wagte der Bote erstmals zu blinzeln. Hatte er nicht, kurz bevor man ihn zu Boden riss, sogar einen Ork gesehen? Was waren das nur für Irre…? Hastig rappelte er sich auf. Wie aus dem Schlachttrog mit den unbrauchbaren Innereien herausgekrabbelt, so sah er aus, als er sich blindlings durch die Gänge flüchtete. Überall lagen die Toten verstreut und nur mit Mühe fand er, panisch und unter Schock, den richtigen Pfad. Er stürzte hinaus, durch des Königs Garten. Leere Augenhöhlen schienen ihre Blicke ihm folgen zu lassen, Gliedmaßen wippten im Wind und winkten ihm zum Abschied. Er bemerkte nicht einmal, dass seine Kehle trocken und kratzig war. Nicht nur vom Atmen - irgendwann auf seiner Flucht hatte er geschrien. Er konnte sich daran nur nicht mehr erinnern. In der Stadt angelangt, kam er erstmals zur Ruhe. Seine gesamten Glieder zitterten, er übergab sich drei Mal, bevor ihm eines klar wurde: Seine Majestät hatte seinen Tod befohlen. Man hatte ihn bereits zum Richtblock schleppen und häppchenweise in den Garten pflanzen oder dem Hunderudel vorsetzen wollen. Er war Vogelfrei, ein Geflohener, todgeweiht. Mit dem Vorhaben, ein neues Leben zu beginnen, türmte er durch die Stadt und schließlich aufs Geradewohl ins Land hinein. Jene Wahnsinnigen aber setzten ihr Werk ungehindert fort. Die Gruppe hatte sich, getreu dem eigenen, wohlgeschmiedeten Plan aus Verzweiflung und Notwendigkeit, inzwischen aufgeteilt. Das halbierte auch die Streitkräfte, die entsandt worden waren, das Schloss zu sichern und die Eindringlinge aufzuhalten. Man musste sich nun auf zwei Orte konzentrieren - eine Gruppe schien sich auf die Kerker zuzubewegen, zweifellos in dem Versuch, jemanden zu befreien. Der Rest von drei Gestalten aber rückte lärmend und eine blutige Spur der Verwüstung ziehend weiter auf den Thronsaal vor. Des Königs beste Männer, die Bellatoren, versagten. Ihre Barrikaden wurden mehrfach durchbrochen - von der Magie der zwei Abtrünnigen, wie es schien. Ein Bannmagier begleitete den kahlköpfigen Berserker, der sich zornestrunken durch die Hallen mähte, unterstützt von einer zweifellos besessenen Schwertkünstlerin. Die Erfolge hielten sich in Grenzen - ein Zwerg konnte im Erdgeschoss von Bolzen regelrecht durchlöchert werden, zwei Wölfe, offenbar Gefährten der Grünhaut, wurden von Schwertern aufgespießt, ehe deren Träger dem Zorn der restlichen Gruppe zum Opfer fielen. Die Situation wandelte sich jedoch, als es einer Reihe beherzter Männer der Krone gelang, dieses blutrünstige Weib niederzumachen, welches sich dem Thronsitz immer weiter genähert hatte. Mit Lanzen pinnten sie sie an die Wand, ehe einer aus der entsandten Unterstützung mit der Axt ausholte und ihr das Haupt von den Schultern schlug. Den Zornesschrei, den der Hüne daraufhin losließ, brachte selbst die gestandenen, kriegserfahrenen Männer zum Zweifeln. Als er jedoch blind vor Wut auf sie stürmen, sie alle zerstückeln wollte, stieß er gegen ein Hindernis. Unsichtbar, unendlich dünn und kein Gebilde der gewöhnlichen Welt - eine Bannmauer versiegelte den gesamten Korridor vor ihm, hielt die Axt des Kahlkopfes ebenso von seinen erkorenen Opfern fern, wie er den beherzten Lanzenstoß auf dessen Brustkorb abwehrte. Geschrei entbrannte, Vorwürfe, Befehle und Verlangen, doch nichts half. Der Berserker wurde regelrecht abkommandiert von jenem Magier in seinem Rücken. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen. Die Berichte aus den anderen Teilen des Schlosses waren verstummt. Die Boten gefallen oder geflohen, die Soldaten noch immer im Kampf. Seine göttliche Majestät, von weißglühendem Zorn ergriffen, befahl die Entsendung der Magier. Nahe der Kerker gelang es ihnen, die auf die Kerker zurückende Gruppe in eben diesen festzusetzen. Sie befreiten in aller Hast sämtliche Gefangenen, ließen sie in einer großen Welle auf die Feinde losstürmen, wohl in der Hoffnung, zu entkommen oder die Barrikade zu überwinden - vergeblich. Fast alle kamen um. Fast. Man fand zwischen all den Leichen die Eine, die von magischem Feuer nicht verbrannt, von Klingen nicht durchbohrt und von Säuren nicht zerfressen werden konnte, um dabei ihr Leben zu lassen. Schreiend vor Qual und Schmerz, aber von der Magie lebendig gehalten, sperrte man das Spielzeug seiner Majestät zurück in die Zelle. Vor dem Thronsaal selbst jedoch gab es nur noch eine Hand voll Wächter. Kriegsveteranen allesamt, unterstützt von einigen Magiern. Dann aber kam das Geschrei immer näher… und näher. Bis es direkt vor den Toren zu toben schien. Lärm und Gepolter, Rufe nach Verstärkung, nach Hilfe, nach… Gnade. Der Lärm aus Schmerz und Tod dämpfte sich selbst herab, die Geräusche verebbten und nichts als Blut drang noch unter der Türschwelle hervor. Ein kräftiger, wuchtiger Tritt riss das versiegelte Schloss der Tore entzwei, verschaffte dem gewaltigen Hünen und seinem vornehm gekleideten Begleiter Zutritt. Seite an Seite traten sie ein, näherten sich ohne rechte Sorge dem Thron immer weiter. Besorgt, ja gar ängstlich, blickte seine nicht mehr ganz so göttliche Majestät zu dem Mann an seiner Seite auf, der jedoch ernst den Blick auf die Eindringlinge gerichtet hielt. Er erkannte jenen Magier. Die Jahre, die nie vergangen waren, schienen ihn verändert zu haben, doch die Robe, die Statur, die Züge dieses vornehm geschnittenen Gesichtes - es war ihm durchaus vertraut. Den Klotz, der kaum einen Meter hinter ihm stand, oh, nun den kannte er umso besser. Sein Vorankommen hatte er über Jahre hinweg behindert, ihn leiden lassen, ihn unterdrückt und von einer Falle zur nächsten gehetzt. Er war gebrochen, hatte verloren und war zu seinem letzten Gefecht erschienen, das - wie es nun offenkundig war - nicht ganz so gelaufen war, wie der Chronist es geplant und auch sorgfältig vorbereitet hatte. Zweifellos lag das begründet im Eingreifen eben dieses alten Bekannten. „Duncan - es ist vorbei!“ Die Worte dieses Mannes schienen pure Magie - sie entlockten dem Chronisten erstmals… ein Lächeln. So fein, dass man es kaum hätte erkennen können, doch es war da. Die Menschen, so zeigte sich, waren wahrhaftig geschaffen, einander  zu vernichten, bis auch der Letzte von ihnen verginge und dem Vergessen überantwortet werden würde. „Das ist es tatsächlich“, hob der Krieger hinter ihm an. Alan vermochte nicht zu sagen, was ihn an diesen Worten so störte. Ein spezieller Ton in der Stimme, den er nicht deuten konnte. Ihm kam es vor, als hätte sein Begleiter nicht zu den Feinden gesprochen… sondern zu ihm? Nur zur Hälfte konnte er sich umdrehen, da fraß sich das Klingenblatt der Axt tief in sein Kreuz, durchtrennte so manches, das zum Überleben nötig gewesen wäre und ließ die Gestalt mit verleierten, erstorbenen Augen zu Boden fallen. Kurz noch verfolgte der Hüne, wie der Griff auf und ab wippte, da sich die Waffe nicht vom Opfer lösen wollte. „Überraschend“, merkte Duncan lediglich an, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Stattdessen sah er zu, wie der Koloss auf ihn zu schritt, die langen, breiten Stufen zum Thron hinauftrat. Das Geplärre zu seiner Seite schmerzte dem Chronisten im Ohr. Er solle etwas unternehmen, er solle ihn beschützen, er solle dieses Ungetüm dort hinfort fegen, er solle… und dann war Schluss. Ein einziger, gezielter Schlag, so kraftvoll und ungestüm von Hass getrieben. Seine Majestät Phillipe der Dritte, selbsternannter Gott dieses verkommenden Flecken Erde, wurde gegen die Rückenlehne seines reichhaltig geschmückten Thrones geworfen, sackte reglos vornüber und rollte sich den rechten Arm auskugelnd die Stufen seines eigenen Imperiums herab. Tot war er nicht - doch nach solch einem Hieb… würde er nie wieder der Gleiche sein. Stille trat nun ein, da das Geschrei verstummt war und beide Männer sich reglos gegenüberstanden. „Warum hast du das getan?“ wünschte der Chronist zu erfahren. „Sagen wir… ich weiß mehr als du. Und meine Pläne haben sich geändert. Deren Pläne,“ hob er an und deutete auf den niedergestreckten Alan, dessen leere Augen inzwischen ins eigene Blut starrten, „wären mir da hinderlich.“ Noch immer war Duncan das Gefühl von Bedrohung oder gar Angst fremd. Stattdessen nickte er verstehend. Thorin hatte vor langer, langer Zeit ein Weib getroffen. Eben diese Frau hatte ihn vor eine Wahl gestellt, eine einzigartige Entscheidungsmöglichkeit, die so kaum jemand in seinem Leben je geboten bekam und er, nun, er hatte so gehandelt wie alle anderen vor ihm auch. Eigentlich, so hatte Duncan geglaubt, hätten die Jahre des Suffs dieses Stück Erinnerung ebenso zersetzt wie sie seinen restlichen Verstand durchlöchert hatten. „Und warum sollte ich dich nicht auslöschen?“ erkundigte sich der Chronist gleichwohl ernst wie interessiert, während er bereits die Energien für den nötigen Zauber zu sammeln versuchte. Dabei bemerkte er erstmals, wie der Schatten eines gehässigen Lächelns über die Miene seines Gegenübers zog - zeitgleich, wie das Gewebe ihm den Dienst versagte. Die Magie war da, er konnte sie spüren, doch sie ließ sich nicht kontrollieren, sie gehorchte nicht mehr. „Weil du das nicht kannst“, erwiderte der Kahlkopf seelenruhig, „Siehst du, diese zwei Dummköpfe kamen in unser Lager und haben erzählt. Ich glaube, sie hören sich gerne reden, beide. Und sie plapperten und plapperten und bemerkten gar nicht, was sie da alles erzählten. Wenn du stirbst, dann erschaffen die anderen von deiner Art eine hübsche kleine Welt, in der alle zufrieden sind und kein Übel existiert.“ Ungläubig schnaubte der Krieger, spuckte zur Seite aus. Eine Geste, die Duncan schon immer als direkt widerlich empfunden hatte. Warum nur mussten die Menschen überall ihre Spuren hinterlassen? „Magier“, spie Thorin die Bezeichnung aus, ehe er ein kleines Stück Tand aus seiner Hosentasche wühlte. Duncan erkannte den Anhänger sofort - ein Machwerk des Zirkels. Ein Relikt alter Tage, derer es leider noch zu viele gab und allzeit hatte er trotz des sich ausbreitenden Einflusses immer zu wenig Kräfte gehabt, sich um deren Erlangung und Zerstörung zu kümmern. Hier nun wurde ihm der kleine Talisman zum Verhängnis - er war es, der seine Zauber blockierte. Just, als Duncan danach greifen wollte, bohrte sich eine Faust in seinen Magen. Ächzend krümmte sich der Chronist vornüber, da kam die wuchtige Rechte von der Seite, traf ihn an der Schläfe und warf ihn ebenso die Treppen herab. Als das Bündel reglosen Fleisches ohnmächtig zum Liegen kam, spuckte Thorin abermals abfällig auf den Boden. „Chronisten“, spie er aus, ehe er mit finsterer Miene auf den Besiegten zuschritt.   Fünf Jahre später. Thorin war ein Kriegshund. Immer schon hatte er sich auf den Schlachtfeldern der Welt am wohlsten gefühlt, ganz gleich, für oder gegen wen oder was er auch immer kämpfte - solange es nur der Kampf war. Blut und Leichen scheute er nicht, sie jagten ihm weder Ekel noch Angst ein. Vielmehr waren sie alte Wegbegleiter, fast Freunde. Wo er war, da herrschte Krieg - oder er folgte ihm dicht auf den Fersen. Entsprechend hatte der Hüne wenig Skrupel, das kleine Lager für seine Zwecke zu benutzen. Seit vielen Tagen und Nächten hatte es fast durchgängig geregnet. Dieser Wolkenbruch war schier unerträglich gewesen. Selbst wenn man im Trockenen blieb, wurde man doch allein durch die extreme Luftfeuchtigkeit bis auf die Knochen durchweicht. Dieser kleine Unterschlupf war ihm da gerade recht gekommen, auch wenn er ihm eigentlich nicht gehörte. Nun aber ging die Sonne auf und sie tat es an einem klaren, strahlend blauen Himmel. In den Morgenstunden dieses anbrechenden Sommertages erhob sich der Krieger und sammelte seine Sachen zusammen. Er würde nicht frühstücken müssen, da bot sich sehr bald schon eine bessere Gelegenheit. Rasch war der Gaul gesattelt, die wenige Habe in den Taschen verstaut und der Kahlkopf wuchtete sich mit Schwung auf den Rücken des schwarzen Kolosses empor. Die Zeit zog dahin und die Landschaft tat es unter den gewaltigen Hufschlägen des Rosses gleich. Der schwarze Hengst preschte über Wiesen und Felder, Hügel und kleinere Täler. Eine sanft geschwungene Gegend, wie sie für das im Überfluss schwelgende Grünland üblich war. Matsch aus dem aufgeweichten Boden und Dreckwasser zahlreicher Pfützen spritzte hinauf, doch nur wenig davon hoch genug, um ihn zu erreichen. Kaum eine Stunde war Thorin unterwegs, da zeichnete sich vor ihm sein Ziel ab: Zadiora. Ein kleines, unscheinbares Dorf nahe der Hauptstadt. Zu Fuß waren es vielleicht fünf Tage, manchmal sechs - je nach Wetterlage. Man verließ die Hauptstadt über das Nordtor, überquerte einen Streifen, der in alten Zeiten - vor Jahrhunderten - für Ackerflächen und Viehzucht genutzt wurde. Danach schloss sich der Stille Wald an, behütet von der Dryade Medea. Hatte man den Hain durchquert, war es kaum noch eine Tagesreise bis man diesen Flecken Nichts irgendwo im Nirgendwo erreichte. Eine lose Ansammlung einiger Höfe und Hütten. Kaum ein Bauwerk hier war der Erwähnung wert. Kein einheitlicher Stil, keine architektonischen Meisterleistungen, nichts hier war der Rede wert. Es gab nicht einmal irgendwelche ‚berühmten regionalen Speisen‘. Oder Tiere. Oder Schnaps. Zadiora hatte seinen Eintrag auf den Landkarten Lumiéls nur deshalb bekommen, weil es der Hauptstadt so nahe lag und vor langer Zeit, als sich noch jemand dafür interessiert hatte, dem Imperium seinen Beinamen ‚Königreich der Monde‘ gegeben hatte. Während diese Bezeichnung, geboren aus dem Irrglauben und der Unwissenheit einfacher Leute, verloren gegangen oder auch schlicht abgelegt worden war, hatte man aus lauter Gewohnheit die Eintragungen auf den Landkarten beibehalten. Es gab hier ein Gasthaus, er hatte es oft genug besucht. Mit dem Attribut armselig war dieses im Grunde schon völlig hinreichend beschrieben, vielleicht hatte man ihm sogar geschmeichelt. Die Betten waren hart, die Zimmer schlicht, der Brunnen stand ein paar Meter vom Haus entfernt und die Gäste waren genötigt, sich den einen, eher mäßig eingerichteten Baderaum zu teilen. Wer klug war, der holte sich eine Schüssel mit Wasser, sobald der Baderaum frei war und stellte sie vorsorglich in seinem Zimmer ab - manch besonders gewitztes Balg aus dem Dorf hielt es für eine glorreiche Idee, Juckpulver oder dergleichen in die Wasservorräte im Baderaum zu mischen, um den Gästen ihren Aufenthalt zu versüßen. Einstmals hatte hier auch ein Tempel seinen Platz gefunden. Ursprünglich der Verehrung des Sonnengottes Mermerus gewidmet, hatte er sich nach Jahrhunderten der Tradition doch lieber dem neuen Gott verschrieben, König Phillipe dem Dritten, statt niedergebrannt zu werden wie so viele andere Klöster und Gedenkstätten. Heutzutage aber verrottete das Dachgebälk, war an mancher Stelle schon eingestürzt, die Wände beschmiert oder zerschlagen, die Fenster kaputt, die Einrichtung verwaist, verrottet und von Ratten bevölkert. Ein Mahnmal für den systematischen Zusammenbruch eines Reiches. Zeichen gab es genug, schlicht überall - selbst hier in diesem kleinen, unbedeutenden Dorf. Kurz ließ Thorin das Ross innehalten, warf einen Blick auf dieses traurig anzusehende Dasein, ehe er den Gaul jenen Hügel hinab und zwischen die Hütten führte. Die Leute gafften und starrten, flüsterten hinter seinem Rücken - und manch besonders unverfrorenes Exemplar auch davor. Er selbst mochte eine imposante Erscheinung sein, das manchem dieser einfältigen Weiber der Schoß warm wurde, doch dieses abergläubische Pack fürchtete sich vor seinem Pferd. Nicht, das es bei jedem Atemzug Feuer spie, dämonische Lederschwingen besaß oder gar kleine Teufel aus seinem After presste. Es war einfach nur ein Pferd. Zugegeben, sehr groß, muskulös und wuchtig. Ein imposanter Anblick eben, der Grund, warum er dieses Tier für sich ausgewählt hatte. Gemeinsam boten sie etwas, wovor die Leute sich zu Recht fürchten konnten und obgleich diese Wirkung Absicht gewesen, störte er sich doch an den Blicken. Es lag so viel… Einfältigkeit darin. Unwissenheit. In aller Ruhe lenkte er das Ross zu den Stallungen des kümmerlichen Gasthofes und wurde dort auch rasch von einem eifrigen, blondhaarigen Burschen in Empfang genommen. Dem Gesicht und seinem Ausschlag nach zu urteilen, mochte der Knabe vielleicht gerade einmal den Flegeljahren entwachsen sein. Auch er staunte zunächst nicht schlecht, doch ihm fehlte die rechte Angst im Blick. „Ich bleibe bis in die Nacht, dann reise ich weiter. Solange - Quartier und Unterbringung für mich und mein Pferd.“ Keine Bitte. Wer bat, der konnte abgewiesen werden. Eine einfache Tatsache, ein Mechanismus, den man über die Jahrzehnte als Söldner rasch erlernte. Der Blonde nickte dienstbar und wollte die Zügel des Pferdes ergreifen, da hob das Ross sich aufbäumend die Vorderhufe, warf den jungen Dummkopf mit einem Hieb zu Boden und stampfte nieder. Starr vor Schreck lag er dort, spürte noch das Zittern im Boden, als die Vorderläufe auf das von wenig Heu gepolsterte Erdreich geschlagen waren - je links und rechts seines Schädels. Thorin stieg, des Vorfalls ungeachtet, von dem Gaul ab, packte beherzt das Hemd des Knaben und zerrte ihn unter dem Pferd hervor auf die Beine. „Er mag dich“, bemerkte der Kahlkopf die Stirn runzelnd. Völlig verdutzt und noch immer sichtlich unter Schock, zitterten doch seine fahrigen Bewegungen in jedem Winkel seines Leibes, starrte der Erbleichte ihn an. „W-Was?“ Unglaube lag in seiner Stimme, wie hätte es anders sein können. “Er hätte deinen Kopf wie eine überreife Birne zertreten und einen Brei aus Knochen, Haaren und Hirn mit dem Stroh und der Erde vermischen können, nicht? Hätte er bei jedem anderen wohl auch getan. Hör gut zu: Du wirst für meinen Gaul sorgen, als wäre es deine verdammte, krank im Bett liegende Mutter, verstanden? Wenn er dir die Hand abbeißt, dann hörst du zu heulen und zu schreien auf und schaffst mehr Futter ran.“ Es lag eine Härte in der Stimme dieses Gastes, die dem Jüngling noch mehr Angst machte als die bloße Vorstellung, das Pferd könne nochmals durchgehen. Noch eine Nuance blasser werdend, rang sich der Stallbursche ein Nicken ab, ehe er vorsichtig nach den Zügeln angelte. Der erste Griff verfehlte aufgrund der Angst, die er hatte - sofort, als das Pferd sich umwandte, zu ihm blickte, zuckte er zusammen und riss die Hand zurück. Erst beim dritten Anlauf bekam er die Zügel zu fassen und führte den Koloss so behutsam wie möglich in die Box der Stallung hinein. Dort angelangt, schloss er das Gatter und versicherte, er würde sich sofort um Futter und Wasser kümmern. Zufrieden blickte Thorin dem Stallburschen nach, ehe er, ein dezentes Lächeln auf den Lippen, den Kopf schüttelnd hinaus trat.   Als die Tür zur Küche so plötzlich aufschwang, fuhr die darin arbeitende Bedienstete des Gasthauses fast augenblicklich zusammen. Um Haaresbreite wäre ihr der Krug entglitten - kaum vorzustellen, was geschehen wäre, hätte sie ihn zu Boden fallen lassen! Die Scherben hätte sie gewiss aufsammeln und vielleicht sogar irgendwie verstecken können, doch das wäre nicht rechtens gewesen. Zumal ihrem Arbeitgeber irgendwann aufgefallen wäre, das ein Humpen fehlt. Er hätte ihr den Schaden von dem kläglichen Lohn abgezahlt, den sie hier dafür bekam, tagein, tagaus, von früh bis spät einen harten Knochenjob zu verrichten. Möglicherweise hätte er sie sogar verprügelt - es wäre nicht das erste Mal gewesen. Immer da natürlich, wo man es nicht sah. So fing sie das Gefäß in letzter Sekunde noch ab und blickte vom Waschwasser auf. Nicht etwa der Besitzer dieses Hauses trat herein, nein - nur der Stallbursche. Allerdings war das für die Rothaarige, die bis zu den Ellbogen in Seifenlauge gesteckt hatte, nur unwesentlich besser. „Wir haben einen neuen Gast und- oh, habe ich dich erschreckt? Das tut mir leid. Wirklich, Vivi, du musst dir das abgewöhnen. Man denkt ja ständig, du seist auf der Flucht!“ Hastig murmelte der Rotschopf eine Entschuldigung daher, ehe sie in dem merkwürdigerweise binnen Sekunden ausgekühlten Wasser weiter die Humpen vom Vorabend für den nächsten Abend vorbereitete. Derweil zog ein sonniges Lächeln über das Gesicht des Jungen. „Ich glaube, du bist die freundlichste und höflichste Person, die mir je begegnet ist!“ meinte er und verfolgte einen Augenblick im Türrahmen stehen bleibend, wie sich ein leichter Rotschimmer in ihre Wangen legte. Von jenem Anblick sichtlich begeistert, trat er ein und schloss die Tür sorgfältig, ehe er die Dreckwäsche der Kundschaft ablud und zu ihr herüber schritt. „Was ich sagen wollte: Wir haben einen neuen Gast, kam gerade mit Pferd. Aber was für ein Monster das ist! Du musst es dir unbedingt mal ansehen, wenn du Zeit hast…!“ Es war nur der nächste Vorwand von vielen, das wusste sie. Erst wenige Wochen hatte sie hier Unterschlupf gefunden, aber so, wie mancher aus dem Dorf sie inzwischen zu kennen glaubte, hatte sich ausgerechnet der Mann, mit dem sie arbeiten musste, offenbar Hals über Kopf in sie verguckt. Schlimmer noch, er schien hartnäckig und nicht willens, sich von der schier unüberwindlichen Mauer aus Abwehrmechanismen und freundlicher Distanzierung abschrecken zu lassen. Scheu und nicht wirklich erpicht darauf, ihm in die Augen zu blicken, erwiderte Vivica lediglich, dass sie bei dem Arbeitspensum niemals Zeit bekäme und begann daraufhin all die Dinge aufzulisten, die es noch zu verrichten galt. Irgendwann mitten in der Liste fiel der Stallbursche ihr ins Wort, erklärte ihr, sie müsse sich auch einmal eine Auszeit nehmen. Niemand würde so viel arbeiten wie sie, so hart wie sie, bei seiner Majestät, niemand sonst könnte das überhaupt! Er hob die Hand, sie sah es aus dem Augenwinkel, gerade noch rechtzeitig. Er hatte den Arm um sie legen, sie vom Abwasch wegziehen, vielleicht auch zu sich ziehen wollen. Geradezu hastig sprang der Rotschopf davon, die Hände noch tropfend vom eiskalten Wasser. „I-Ich… nicht, bitte, ich… bitte nicht.“ Nur unzusammenhängendes Gestammel, doch auch das war er bereits gewohnt. Mit einer fahrigen Geste fuhr er sich durch die blonden, struppigen Haare und lächelte verlegen. „Ist schon… also… in Ordnung, du… ist schon in Ordnung. Schon gut.“ Einmal mehr abgewiesen, doch auch diesmal würde nicht genügen. Ein Denkzettel, eine Erinnerung, bestenfalls. Morgen wäre er wieder bereit, vielleicht übermorgen. Es tat ihr leid, jedes Mal wieder. Er tat ihr leid. Aber zugleich war sie froh um jede weitere Stunde, die er sie in Frieden ließ. Er war ein netter Kerl, hatte ein gutes Herz. Er verdiente Besseres. „Jedenfalls hat er eine Laune, da ist jeder Henker der reinste Stimmungsmacher!“ versuchte der Blonde irgendwie wieder den Anschein der Normalität und Alltäglichkeit herzustellen, „Ist er denn noch nicht hier?“ Ein Kopfschütteln nur, mehr erhielt er nicht zur Antwort. Offenbar fiel es Vivica viel schwerer, wieder so zu tun, als sei nichts gewesen. Etwas, das er ihr durchaus zu erleichtern gewillt war, indem er selbst einfach fortfuhr. „Nun, vielleicht solltest du nochmal eines der Zimmer besonders gründlich durchschauen. Ich glaube nicht, dass der mit dem zufrieden sein wird, was er hier bekommt. Am Ende meckert er noch beim Alten rum. Ist der überhaupt schon wach?“ Abermals tauchte jene zarte Röte auf ihren Wangen auf, diesmal jedoch nicht irgendeines Komplimentes wegen, sondern aus Scham, vielleicht Verlegenheit. „Herr Marius schläft noch“, erklärte die Bedienstete kleinlaut. Oh sie wusste ja, was jetzt käme. Auch das war etwas, das sich zwischen ihnen einfach stets und stetig wiederholte. Wie das Putzen der Krüge, das Ausmisten des Stalles, das Decken der Tische, das Aufschütteln der Betten… „Herr Marius, hm? Vivi, im Ernst - dieser alte, gierige Fettsack verdient nicht halb so viel Respekt oder Freundlichkeit, wie du an den Tag legst und noch dazu… gute Güte, er ist doch nicht mal hier! Wenn du ihn einmal so nennst, wie du von ihm denkst, wird das nicht die Tore der Höllen unter dir aufreißen. Er kommt dann auch nicht aus dem Wandschrank gesprungen, um dir mit der Bratpfanne eins überzubraten. Und ich würde es ihm nie erzählen. Du glaubst mir doch, oder?“ Scheu blickte sie zu ihm auf und einen kurzen Moment… schmerzte ihm dieser Blick. Für den Bruchteil einiger Herzschläge konnte man ihm ansehen, wie verletzt er war, wie gekränkt, doch… was konnte er ihr schon vorwerfen? Sie war eine Wanderarbeiterin, oder nicht? Ihresgleichen scheuchte man von Stadt zu Stadt, keiner wollte sie recht, niemand beschäftigte sie sonderlich lange. Miese Bezahlung, miese Arbeit, miese Brötchengeber. Er hatte immerhin das Glück gehabt, das sein Vater der Vetter dieses miesen Kerls von Gasthausbesitzer war. Nein, das sie allem und jedem misstraute, das wollte er ihr nicht vorhalten. Stattdessen sammelte er sich einen Moment, stellte seine Fassade wieder her und lächelte abermals, während er zum Wandschrank schritt und die Tür nach kurzem Warten und einem Zeigefinger an den Lippen mit einem Ruck aufzog. „HA!“ rief er hinein, als er sie aufgerissen hatte, doch sein Blick fiel lediglich auf Teller, Untertassen, Besteck und Gläser. „Siehst du - da ist er nicht. Ich vermute, er hat Besseres zu tun als dich zu bespitzeln. Vermutlich hockt er im Ofen und versucht bei guter Bratentemperatur sein Fett auszuschwitzen…!“ witzelte der Stallbursche weiter, schelmisch grinsend. Erst als Vivica ihn ernst, aber leise ermahnte, er solle aufhören, endete auch für den Blonden der Spaß. „Nun gut. Ich mach mich wieder raus und fütterte dieses Monster in meinem Stall fett. Kann ich dir nachher zur Hand gehen?“ Die alte Geschäftigkeit trat wieder ein, als er sich zur Tür begab und seine Frage stellend kurz darin verweilte. Er kannte die Antwort im Grunde schon. Sie lehnte ab, das tat sie immer. Er wurde bezahlt um die Tiere zu hüten, zu versorgen und zu bemuttern. Sie wurde für genau das Gleiche bezahlt - nur statt der Tiere sollte sie die Gäste bei Laune halten.   Der Rundgang durch Zadiora war ernüchternd, ganz wie Thorin es erwartet hatte. Das Dorf schien sich kaum verändert zu haben, vielleicht war das seine ‚nennenswerte Besonderheit‘ - die Zeit stand hier völlig still, ungeachtet der Vorgänge im übrigen Königreich. Die Bewohner führten weiter ihr spießbürgerliches kleines Dasein, scharrten im Mist ihrer Viecher und pflanzten Getreide an, sie schwatzten darüber, wer mit wem anbandeln würde und wessen Manieren nun wirklich nicht länger zu dulden wären. Mancher zerriss sich auch das Maul über die Fremde im Dorf, sicherlich. Hier und da schnappte er ein paar Brocken auf, doch so recht interessierte ihn kaum etwas davon. Das Leben in dieser Siedlung war so langweilig wie sie selbst und jeder darin. Entsprechend kehrte er nach einer großzügig bemessenen Spazierrunde wieder zum Gasthaus zurück und trat diesmal auch tatsächlich ein. Der Schankraum machte den gleichen Eindruck wie früher. Vielleicht… wirkte es ein wenig sauberer. Die Luft war nicht so abgestanden und schwanger vom Geruch nach Braten, Bier und Schweiß. Doch für den Augenblick schob er das einfach auf die Uhrzeit. Gerade einmal Vormittag, da wurde vermutlich noch nicht viel gemacht. Tatsächlich war auch außer ihm niemand zu sehen. Kein Gast, keine Magd, einfach niemand. Immerhin, so hätte er eine Weile seine Ruhe. Der Kahlkopf nahm an einem der Tische Platz, fuhr mit dem Finger probehalber über den Tisch. Kein Staub. Auch nicht das schmierige Gefühl von Fettbelag oder irgendetwas Klebrigem. Nun… vielleicht hatten sich doch, ganz subtil, ein paar Dinge in diesem Haus geändert? Es war sauberer, dieses Eindrucks konnte er sich nicht mehr wirklich erwehren, doch es war auch… leerer. „He da?“ rief er in Richtung der Küche, doch niemand reagierte. Ein paar Minuten noch ließ er sich diese freche Behandlung oder eher wohl, Nicht-Behandlung, gefallen, bevor er sich erbost erhob. „Ist das hier Selbstbedienung?“ rief er etwas lauter, da hörte er unvermittelt Schritte. Nicht aber aus Richtung der Küche, vielmehr tippelte jemand eilig den Korridor entlang und von oben, aus dem Bereich der Gästezimmer, flink die Stufen der Treppe hinunter. Langsam ließ sich der Krieger wieder auf seinen Stuhl sinken und betrachtete sich, wer da zu ihm kam. Ein dürres kleines Weib, den roten Schopf zu einer möglichst wenig problematischen Frisur gebändigt. Vermutlich, damit ihr das Gewirr nicht ständig in die Humpen der Gäste herab hing… oder die sie einfach dabei packen konnten. Die Figur war durchaus weiblich, hätte aber für seinen Geschmack noch einiges mehr vertragen können und das an so mancher Stelle. Zumindest aber erkannte er, wen er vor sich hatte - die Fremde, von der alle geredet hatten. „Wie heißt du?“ wollte er zunächst wissen und ignorierte dabei ihre Frage, was er denn zu bestellen gedachte, vollkommen. Als sie nach einer Weile endlich ihren Namen preisgab, verschränkte der Hüne die muskulösen Arme vor der Brust und nutzte den zweiten Stuhl am Tisch als Ablage für seine Beine. „Und warum siehst du mich nicht an, wenn ich mit dir rede, Vivica? Bin ich dir nicht hübsch genug? Sind die Dielen spannender?“ fuhr er sie unwirsch an. Nur zögerlich hob sie ihren Blick - offenkundig kostete sie das reichlich Überwindung. Kaum aber, das ihr Blick den seinen kreuzte, starrten sie einander nur wenige Sekunden schweigend an… da senkte sie den Blick wieder und entschuldigte sich. Das erste Mal. Von sehr, sehr vielen. „Die Bedienung hier im Haus ist ziemlich miserabel, hm?“ Sogleich folgte die Zweite. „Bring mir Frühstück, zwei Portionen. Und einen Krug Bier. Ein Starkes, falls ihr habt.“ Rasch huschte die Gestalt davon und fast wirkte es auf Thorin, als sei sie erleichtert gewesen. Als hätte sie sich von ihm befreit gefühlt in dem Moment, da er sie von sich schickte. Ein Schmunzeln zog ihm für wenige Sekunden übe die Miene, ehe er sich zurücklehnte und wartete. Kurz darauf begann das Klimpern und Klirren, die Küche klang endlich nicht mehr wie eine verwaiste, ausgestorbene Ruine. In aller Ruhe harrte der Krieger aus, bis der Rotschopf mit seiner Bestellung zurückkehrte und zwei Teller vor ihm abstellte. Ein kräftiger Kanten Brot, ein gutes Stück Käse, Speck, Wurst und ein kleines Schälchen mit Gänsefett - auf jedem Teller. Dazu der gewünschte Krug Bier. In der Hoffnung, nachdem sich das Gasthaus weiterentwickelt zu haben schien, das würde auch für das Gebräu gelten, hob er den Krug an die Kehle, während die Bedienung schon wieder davon eilte. Seine Gegenwart, das ging ihm so durch den Kopf, war ihr ganz offenkundig unangenehm. Just aber, als der erste kräftige Schluck seine Kehle herab rann, packte ihn der blanke Zorn. Noch während er ausholte spie er das widerliche Gesöff aus und schleuderte den Humpen zu Boden. Erschrocken und unter einem kleinen Aufschrei fuhr Vivica zusammen und wandte sich halb panischer Miene um - dann begann sie zu realisieren und starrte kummervoll auf den Krug. „Ich wollte Bier! Ich weiß nicht, als was ihr das da bezeichnet, aber das ist kein verdammtes Bier!“ wütete der Koloss und wischte sich mit dem Unterarm über die Lippen. Als wolle sie im Boden versinken, schrumpfte die Magd zu einem Häufchen Elend zusammen, ehe sie kleinlaut und natürlich gesenkten Blickes zunächst eine Entschuldigung nuschelte und dann anmerkte, dass dies bereits das beste und stärkste Bier gewesen sei, das hier zu haben wäre. Unter einem schwerfälligen Schnaufen ließ sich der Krieger wieder auf seinen Stuhl fallen. „Pff, so Drecksloch. So viel hat sich hier also doch nicht geändert. Dann bring mir Wasser. Oder Milch, sofern die nicht plötzlich nach Kuhpisse schmeckt! Und wisch das weg.“ Klare, deutliche Anweisungen in befehlsgewohntem Tonfall - sie schien damit erstaunlich gut umgehen zu können, nickte eilfertig und verschwand wieder in der Küche. Kurz darauf kam der Stallbursche hereingeplatzt. „Ist… ist hier alles in Ordnung?“ wollte er nur knapp wissen, während sein Blick von dem zerschellten Krug zu Thorin wanderte und von dem weiter zu jenem Rotschopf, der gerade Lappen und einen Eimer herbei brachte. Sie trug ihm auf, dem Gast des Hauses einen Krug Milch zu bringen und ließ sie Frage damit schlicht unbeantwortet. Wenige Minuten nur dauerte es, da hatte der Blonde alles beisammen und kam mit dem gewünschten Ersatz in den Schankraum zurück. Gerade rechtzeitig, um Vivica zu sehen, wie sie in ihrer Arbeitskleidung auf dem Boden kniend über die Dielen robbte, um die Reste des schalen Bieres aufzuwischen und die Scherben des Kruges in den Eimer zu bringen. Dabei blieb sein Blick nur eine kurze Zeit geradezu gebannt auf dem Rotschopf klebten, bis ihm auffiel, dass jener Hüne sie ebenso anstarrte - mit dem Unterschied, das sein Blick auf ihrem Hintern klebte. Mit etwas mehr Nachdruck als nötig gewesen wäre donnerte der Stallbursche den Krug auf den Tisch und lenkte damit, ganz wie gewünscht, Thorins Aufmerksamkeit ab. Der Kahlkopf wusste darum, durchschaute diesen einfältigen kleinen Plan ohne jede Mühe und funkelte nur ein paar Sekunden zu ihm herauf. „Sonst noch was?“ hakte der Blonde reichlich unterkühlt nach, doch der Gast ließ sich davon nicht beirren, packte die Schuhe zurück auf den Stuhl, griff sich den Humpen und blickte wieder auf Vivica herab. „Nein nein, im Moment bin ich ganz zufrieden“, spottete er und beobachtete fasziniert, wie die viel zu junge, viel zu schmächtige halbe Portion daraufhin kurz die Fäuste zu ballen wagte. Allein das war in seiner Gegenwart schon nicht ganz ungefährlich - wenn er einen Kampf wollte, den hätte er ruhig haben können. Doch ob er ihn auch überleben würde, das war eine andere Frage. Dessen schien sich der Blonde auch klar zu sein - oder zumindest rechtzeitig darüber klar zu werden -, weshalb er sich zu Vivica begab, ihr schlicht den Lappen aus der Hand nahm und ihr erklärte, er würde weitermachen, sie solle derweil die Küche in Ordnung bringen. Wirklich zu machen war dort nichts und dennoch nickte der Rotschopf darum wissend, dankte artig und möglichst leise und schlich sich davon. Thorin dagegen lachte kurz auf, woran sich der Stallbursche nicht zu stören schien, während er das schale Bier auftupfte. Der Krieger hätte diesen schmächtigen Grünschnabel am liebsten beglückwünscht. Sein Vorhaben, den noblen Ritter und Helden zu spielen war sogar ohne einen Kampf, den er nie hätte gewinnen können, tatsächlich aufgegangen.   Wenige Augenblicke später gesellte sich der Stallbursche mit dem Eimer und dem Lappen in die Küche. „Du solltest die Zimmer nicht reinigen während du lüftest. Deine Hände sind eiskalt“, bemerkte er zunächst lediglich, während er noch immer mit seinem Zorn rang. Er wusch den Lappen aus, stellte den Eimer mit den Scherben in die Ecke und wischte sich dann tief seufzend über die Stirn. „Ich werd‘ sagen, dass ich den Krug zerbrochen hab‘“, meinte er nur. Erst als sich Vivica - distanziert zwar, aber doch näher als er es von ihr üblicherweise gewohnt war - in sein Sichtfeld schob, konnte er sich nicht mehr so gut beherrschen. Sie dankte ihm. Und entschuldigte sich zugleich, ihn da hineingezogen zu haben. Ja sie bot gar an, dass er die Schuld nicht auf sich nehmen müsse, immerhin würde man es ihm ja ebenso vom Sold abziehen. „Klar, aber ich komme davon nicht um und mich wagt der Alte auch nicht zu verdreschen! Gott, was für ein Ekel der Kerl ist…! Wie er dich angestarrt hat…“ Verlegen senkte der Rotschopf wieder den Blick. Bekräftigte, es sei ja nicht der Einzige, nicht der Erste, sie würde das bereits hinreichend kennen und wüsste damit umzugehen. Das allein brach dem Burschen fast das Herz. Es weckte all die Träume zu neuem Leben, mit ihr Hand in Hand über alle Berge zu flüchten. Keine dreckigen Stallungen mehr, keine gierigen Blicke von betrunkenen und Ekeln wie dem dort draußen. Nur sie beide und die Endlosigkeit der Welt. Winkel gab es genug, in denen man sich verstecken und sich etwas aufbauen könnte. Er wollte es ihr vorschlagen, wieder einmal, da erklang die Tür, wie sie sich öffnete und schloss. Beschämte Stille trat ein, ehe Vivica ihren Verpflichtungen nachkam und hinaus in den Schankraum blickte. Ein neuer Gast wäre möglich gewesen oder das dieser Eine gegangen wäre - was sie sich wahrlich gewünscht hätte. Tatsächlich jedoch war es Mittagszeit und manch Alleinstehender Zadioras begrüßte es, sich sein Mahl nicht selbst machen zu müssen. Das lag gewiss daran, dass die Kochkünste der meisten Herren so unterwältigend war, das man Acht geben musste, ob er sich nicht selbst vergiften würde in der Annahme, ein so hübsch anzuschauendes Kraut würde in der Soße gewiss auch gut schmecken. Knapp ein Dutzend anderer Gäste fand sich auf diese Weise, aus ähnlichen und anderen Gründen in der Schenke zusammen und irgendwie schaffte Thorin es, sie alle an eine Tafel zu bringen. Etwas, das deutlich von den sonstigen Zuständen abwich. Sonst saß jeder einsam und allein an seinem Tisch, schweigsam, aß und trank und ging wieder.   Wie sich zeigte, waren diese einfältigen Leute doch immerhin ebenso leicht zu begeistern. Nachdem er sich selbst mit zwei Portionen den Magen vollgeschlagen hatte, nahm der Kahlkopf schlicht seinen Krug, setzte sich an die lange Tafel und wartete, bis der Erste kam. Er fragte ihn, was das Leben so mache und schon nahm der Fremde ihm gegenüber Platz, um einen Schwank nach dem Anderen aus seinem Leben zu präsentieren. Das hier war ein Gasthaus, keine Frage. Man bekam hier Zimmer, Essen, Getränke. Für gute Stimmung, geselliges Beisammensein und Gespräche mussten die Gäste jedoch selbst sorgen - etwas, das hier keiner so recht heraus bekam, wie es schien. Der Krieger dagegen, selbst als Kind zweier einfacher Leute groß geworden, verstand sich ein wenig auf alles. Den Ackerbau, die Viehzucht, das Schmieden und Dachdecken, kaum ein Handwerk war ihm tatsächlich völlig fremd, sodass er zu allem irgendetwas zu sagen hatte. Je mehr Gäste es wurden, umso mehr hellte die Stimmung auf. Jene, die schon beisammen saßen und sich redlich unterhielten, machten einen viel offeneren, freundlicheren und einladenderen Eindruck auf jene, die gerade erst die Schwelle passierten - die Neulinge lud man obendrein sogleich an den Tisch ein, sodass sich die eine, lange Tafel im Schankraum rasch füllte. Bestellungen wurden aufgegeben, üppiger und kostspieliger als üblich, es wurde viel mehr getrunken und Vivica kam schon zu so früher Stunde kaum hinterher, alles rechtzeitig auszuliefern und zugleich Thorins verlassenen Tisch abzudecken. Der Vorteil jener Runde jedoch waren nicht nur die höheren Einnahmen, sondern vor allem auch das größere Maß an Geduld, welches man mit ihr bewies. Immerhin schien sie ganz allein hier für alles und jeden zuständig. Fast eine Stunde lang konnte sie, wenn auch nicht in Ruhe sondern dagegen höchster Eile, so doch zumindest immerhin unbehelligt arbeiten. Obgleich Vivica bereits ahnte, dass dieser Tag erschreckend lang und unerfreulich werden würde, machte sie sich noch keine Vorstellung davon, in welchem Ausmaß sie Recht behalten sollte. Die Linie ihrer Abneigung gegen diesen einen, speziellen Gast setzte sich jedoch derweil konstant fort. Als sie ihm den zweiten Humpen brachte, diesmal mit Wasser, erteilte er ihr einen kräftigen Klaps auf den Hintern, als sie sich umwandte, um zu gehen - und alle am Tisch, Leute, die sie eigentlich als schweigsame, anständige Männer in Erinnerung hatte, grölten Beifall. Nur am Rande bekam sie etwas von den Gesprächen mit, die derweil von Thorin nicht nur initiiert, sondern regelrecht geleitet wurden. „… musst deinem Bock Ochsenkraut geben. Lach nicht, das meine ich ernst. Misch das unter sein Futter und du wirst sehen, er springt gar nicht mehr von den verdammten Ziegen runter!“ erklärte der Hüne, einmal. Ein andermal glaubte sie zu vernehmen, wie er einen Ratschlag über die rechte Temperatur beim Schmieden von Stahl in einfachsten Öfen gab. „Wenn du auf dem Südacker den Gley hast, den ich von den Böden dieser Gegend kenne, dann lass es sein. Dort wird nichts wachsen, jedenfalls nicht das, was du da gern hättest. Bestenfalls noch Gras!“ erklärte der Hüne auflachend, als Vivica ein weiteres Mal Krüge an der Tafel austeilte. Inzwischen die fünfte Runde, wie sie mitgezählt hatte. Doch die Mittagszeit war deutlich überschritten, die Meisten an ihre Arbeit zurückgekehrt oder in dem Versuch verschwunden, die erhaltenen Tipps umzusetzen. Nur noch fünf Mann saßen an der Tafel, Thorin eingeschlossen. Dieser wandte sich, als sie den Krug vor seiner Nase abstellte, prompt zu ihr um. „Wie ist es mit dir, Vivica? Wächst auf deinem Acker schon Gras?“ Völlig verdutzt hielt sie inne. Von Viehzucht verstand sie wohl Einiges, vom Ackerbau dagegen weniger. Wie aber kam er nun auf die Idee, sie würde Felder bestellen? „W-Wie bitte?“ hakte sie unsicher nach, da johlten die anderen vier am Tisch auf und sie begann allmählich zu verstehen. Hochroten Kopfes wollte sie sich davon schleichen, doch Thorin packte ihr Handgelenk. Ruckartig und sichtlich erschrocken riss sie sich los, starrte ihn kurz an, doch er sprang nicht zornig auf oder schrie lauthals ‚Hexe! Hexe!‘, vielleicht hatte er einfach nicht bemerkt, wie eiskalt sie war? „Warum rennst du eigentlich immer gleich vor mir weg, hm? Setz dich zu mir“, verlangte er. Doch ganz gleich, wie vehement sie den Kopf schüttelte, er wiederholte lediglich mit einer scharf schneidenden Stimme den Befehl. Als sie begann, aufzuzählen, welche Arbeiten allesamt noch zu erledigen wären, da sah sie ihn bereits die Faust ballen und um Haaresbreite wäre sie um des lieben Friedens willen geneigt gewesen, einfach Folge zu leisten, als behäbige, schwere Schritte die Treppe herab polterten. „Lass das dumme Ding gehen, so viel Aufmerksamkeit ist sie nicht mal wert und sie hat wirklich noch viel zu tun. Sie muss mir den Krug ersetzen, wenn ich das heut‘ früh richtig gehört hab, hm?“ polterten nicht nur die Schritte, sondern nunmehr auch die Stimme des Schankwirtes von oben herab. Ein reichlich in die Breite gegangener Mann schritt die Stufen hinab und nie zuvor war die Firnhexe so froh, ihren Arbeitgeber zu sehen. „Jawohl Herr, sofort, Herr!“ erklärte sie hastig und eilte in die Küche davon. Der Wirt aber trat, von der sich formierenden Runde offenbar begeistert, an den Tisch, klopfte auf Selbigen. „Na, hat sie euch bisher gut bedient?“ wollte er wissen, doch tatsächlich hatte keiner in der Runde, nicht einmal Thorin, irgendetwas zu beklagen. Als würde er regelrecht nach einem Grund suchen, hakte der Dicke nach. War denn alles schnell genug da? Hat sie auch niemandem etwas Falsches vorgesetzt? War das Fleisch gut durch, das Gemüse zart, das Bier stark genug? Obwohl gerade das von jenem Kahlkopf am Tisch bemängelt worden war, lauschte dieser lediglich den Erklärungen der anderen Narren am Tisch darüber, wie toll und schön und wunderbar denn alles gewesen sei. Sie logen ihm in die Tasche, das wurde dem Hünen klar. Sie mochten weder das schale Bier, das irgendwie verwässert schmeckte, noch diese zähen Schuhsohlen, die er als Bratenstück ausgab. Vivica konnte tatsächlich nichts dafür, zweifellos bemühte sie sich, mit dem, was man ihr zur Verfügung stellte, das Beste zu machen. Aber sie konnte keine Wunder vollbringen, darüber waren sich die Gäste einig. Das Problem war dieser gierige und zudem geizige Fettsack, der den billigsten Mist einkaufte und dafür reichlich abkassieren wollte. Warum man ihm nicht die Wahrheit sagte, war ganz simpel. Im Dorf wurde schnell und viel geredet und hier zu speisen war tragischerweise immer noch besser als daheim am Herd zu stehen, hinter den ein Weib gehört hätte, und sich selbst an einer essbaren Mahlzeit zu versuchen. Den Anschein von Zufriedenheit wiedergebend - obgleich hinter der Fassade genau das Gegenteil der Fall war - gab sich der Besitzer des Gasthofes endlich zufrieden und zog seiner Wege, die ihn natürlich nicht als unterstützende Kraft in die Küche führten, nein, sondern direkt zur Haustür hinaus. Vermutlich hatte er noch irgendwelche Erledigungen zu tätigen, bevor das Hauptgeschäft ins Rollen käme. „Also“, hob der Hüne an und dämpfte seine Stimme etwas, während in der Küche das Geklimper des Geschirrs zu hören war, welches im Akkord gereinigt wurde, „wie ist das mit dem Rotschopf?“ wollte Thorin eigentlich wissen. „Das wüsste hier jeder Kerl gern!“ erwiderte einer der Männer, welcher sich offenbar für den geborenen Komiker hielt und breit grinste. Tatsächlich war er der Einzige, der wirklich amüsiert über seinen Witz lachte, während der Rest lediglich der Höflichkeit halber einstimmte. Nur der Kahlkopf konnte sich lediglich zu einem matten Lächeln überwinden. „Sie kam vor ein paar Wochen hier an. Keine Ahnung woher, interessiert doch auch keinen. Ein Niemand aus nirgendwo. Ist ein hübsches Ding, aber ich glaube, die ist irgendwie… seltsam. Vielleicht treibt sie’s mit Weibern?“ rätselte der Erste. „Ach Quatsch! Jonathan, der Stallbursche, der hat sich doch Hals über Kopf in sie verschossen! Vermutlich zeigt er ihr im Stall ständig, wie man richtig kräftig reitet!“ warf der selbsternannte Komödiant ein und grinste so schmierig, wie Thorin es sonst nur Zuhältern und Drogenhändlern kannte, die über die Preise ihrer Waren feilschten. „Dir hat sie immerhin gesagt, wie sie heißt“, murrte der Letzte im Bunde, „Wir haben Tage gebraucht, um ihren Namen in Erfahrung zu bringen.“ Daraufhin lachte der Kahlkopf kurz auf und erklärte der armseligen Bande von Trauerhäufchen, das sie eben schlicht und ergreifend nicht furchteinflößend genug aussahen. Ihm dagegen würde nie jemand zu widersprechen wagen, weil jeder, der ihn anblickte, sich automatisch zu fragen begann, wie schmerzhaft seine Rechte wohl werden würde, wenn man ihn zu sehr hinhielt, ihm widersprach, ihn sonstwie provozierte. Zum Teil lächelten die Männer darüber - doch zum Teil gab ihnen das auch zu denken.   Die Stunden bis in den Abend hinein strichen nach und nach dahin. Sie waren von der gleichen Geschäftigkeit erfüllt wie der restliche Tag. Mal gab es ruhigere, mal stressigere Phasen und allzeit wurde Ninafer mit den Launen des Kahlkopfes konfrontiert. Er nörgelte, scheinbar nur zum Spaß und um sie zu ärgern. Er zitierte sie herbei und hatte es sich dann anders überlegt, er bestellte sie zu sich, nur um ihr zu sagen, das das Wasser ihm zu warm sei, der Stuhl zu unbequem, das Essen zu fad, zu scharf, zu salzig, er schien sich über alles aus lauter Langeweile aufregen zu können - vielleicht war es auch einfach nur Sadismus, das er sie gerne gescheucht herumirren und in aller Hektik agieren sah.  Als sich das Haus nach der Verwaisung gegen Nachmittag wieder füllte und zum Abend hin mit gut drei Dutzend Männern gut besetzt war, begann sich die Aufmerksamkeit zu verlagern. Entspannen konnte Vivica längst nicht. Viel mehr Bestellungen, viel mehr Sonderwünsche, aber zumindest sah der Koloss davon ab, sie auch weiterhin zu gängeln. Stattdessen… spürte sie seinen Blick auf sich haften, wann immer sie den Schankraum betrat. Sie war dergleichen gewohnt, das hatte sie Jonathan gesagt, doch das änderte nichts daran, dass sie sich dabei unwohl fühlte. Irgendwann begann er abermals, sich aufzuspielen. Er veranstaltete einen kleinen Wettbewerb, bei dem er eine Zielscheibe an einen der Pfeiler hing und kleine Wurfmesser austeilte. Ob das so rechtens sei und sie nicht etwas dagegen unternehmen wollten, fragte die Firnhexe sehr vorsichtig und zögerlich den Wirt, als dieser dem Treiben zusah. Sie schleuderten scharfe Wurfklingen auf die Zielscheibe und feilschten offenbar in Wetten um die besten Würfe. Doch solange das Mobiliar ganz blieb, erklärte der Betreiber, würde ihm das nichts ausmachen - Kerben gab es im Holz hier überall schon genug und diese hatte ihm niemand ersetzt. Auf ihren verwirrten Blick hin hob er ein kleines Säckchen, angefüllt mit zehn Goldmünzen. Ein Vermögen, keine Frage. Erst jetzt, da er es erklärte und auf den just ein Messer mit akkurater Präzision schleudernden Thorin deutete, bemerkte sei die kleinen Schlaufen an dessen Gürtel baumeln. Warum waren ihr diese nicht früher schon aufgefallen? In jedem davon, so rätselte der Wirt eher zu sich selbst, würden wohl sicherlich weitere zehn Goldmünzen stecken. Drei Säckchen pro Seite, also sechs insgesamt. Sechzig Gulden. Was für ein Schatz! Allein das Funkeln in den Augen des dicklichen Mannes bereitete Vivica Unbehagen. Menschen wurden unheimlich, wenn man ihnen zu viel Geld in Aussicht stellte. Ihr schien, als würden kleine Mengen zum Überleben helfen, große Mengen aber den Charakter binnen Minuten restlos verderben. Eine Lektion vieler Jahre harter Arbeit, binnen derer sie vor allem die Seite kennengelernt hatte, die über die Überlebensnotwendigkeit kleiner Geldmengen sprach. Irgendwann endete das kleine Spiel mit dem Messerwerfen, Karten kamen zum Vorschein und das fröhliche Wetten ging weiter. Das Gasthaus wurde zum lautesten Ort ganz Zadioras, vermutlich hatte das kleine, verschlafene Nest seit Jahren nicht solch einen Lärm und Tumult verspürt. Fäuste schlugen verärgert auf den Tisch, weil das Blatt, so gut und doch nicht ausreichend, gegen das des Gegners verloren hatte. Gejohle der Zuschauer wallte auf und ab, Rufe wurden laut. Bier, mehr Bier! Immerhin schien kaum noch jemand von ihr Notiz zu nehmen, solange sie die Krüge voll und die Teller auf weniger störenden Plätzen hielt. Als auch die Kartenspiele scheinbar ihren Reiz verloren und der Abend zu später Stunde ein klein wenig ruhiger wurde, begann Thorin Geschichten darzubieten. Dafür ließ er sich auch kräftig feiern und von den Zuhörern aushalten, doch eines musste man ihm lassen: Seine Geschichten waren tatsächlich wert, bezahlt und gehört zu werden. Sie boten das, was man sich wünschte. Große, grausame Bestien, den einfachen Mann, der sich gegen sie behauptete, verruchte Weiber, die ihr verdientes Schicksal erlitten und natürlich verruchte Weiber, die ihren Nutzen als Weib erfüllten. Bei jeder Pointe brandete das Gelächter über die Schwellen der verblichenen Fensterscheiben hinaus in die aufziehende Nacht, die Leute hämmerten zustimmend oder als Ausdruck ihres Amüsements auf die Tische und mehr als einmal betete Vivica inständig, die Krüge würden dabei heil bleiben. Obwohl der Wirt durchaus angesichts der guten Stimmung und der Rekordumsätze selbst bester Laune zu sein schien - verlassen wollte sie sich darauf jedoch nicht. Mehrfach legte Thorin Pausen ein. Eine Geschichte begann, erreichte ihren Höhepunkt und endete, ehe nach einer Pause die Nächste begann. So hatte jeder Gelegenheit, auszutreten, noch etwas zu bestellen oder sein Mahl zu verschlingen, ohne sich vor Lachen und Prusten während der Erzählung daran verschlucken zu müssen. Diesmal aber trieb seine Pause ihn an die Theke. Während Vivica in der Küche eilig die Speisen für vier Gäste vorbereitete, winkte der Krieger den Wirt zu einer kleinen Unterredung heran. In seinem Rücken derweil sprachen die Gäste über seine Erzählung, zerrissen sich das Maul über jedes Detail der Geschichten und krönten ihre persönlichen Favoriten dieses Abends. So waren sie von überneugierigen Ohren unbehelligt, als Thorin eine weitere Schlaufe löste und das zweite Säckchen Gold auf den Tisch packte. „Ein Zimmer. Und die kleine Vivica kommt mit.“ Deutliche und ganz offensichtlich ernst gemeinte Worte. Der Blick des Dicken fiel auf das Säckchen, er wagte es aufzuschnüren und fand darin, ganz wie erwartet, weitere zehn Goldmünzen. So viel war Vivica nicht im Ansatz wert, wie er befand. Doch… „Das kann ich nicht tun“, erklärte der Alte - und ohne Umschweife landete das dritte Säckchen auf dem Holz. Schwer schluckend blickte der Betreiber des Hauses über seine Schulter, lauschte kurz auf die Arbeitsgeräusche aus der Küche. „Wer soll denn dann die Gäste bedienen?! Der Ausfall, sie kann nicht-“ Doch abermals unterbrach Thorin ihn ungeniert. Das vierte Säckchen landete auf der Theke. „Dann wuchtet eben euren Wohlstandsbauch in eine Schürze, lasst euren Stallburschen sich die Hände waschen und gemeinsam werdet ihr schon Herr der Lage sein, nicht? Eurer Fleisch schmeckt wie Schuhsohlen, da werdet ihr das ja wohl kaum noch verderben können!“ Kurz nur erwog der Wirt, ob er nun wütend oder gekränkt reagieren sollte. Fakt aber war: Die Situation überforderte ihn schlicht.  „Ich… ich weiß nicht, sie würde nie... bei allen anderen hat sie nie…“ hob er an, um sich irgendwie noch aus der Sache herauswinden zu können, doch ohne Zögern löste der Hüne auch die letzten zwei Säckchen von seinem Gürtel. Sechzig Gulden. Ein wahres Vermögen ruhte auf einer Theke, wartete nur darauf, von ihm ergriffen zu werden und dafür musste er nicht mehr tun, als diese nichtsnutzige Gans verkaufen? „Ich versichere euch zwei Dinge“, hob der Krieger daraufhin an und beugte sich noch ein Stück vor, sodass der Wirt es ihm gleich tat, „Ich werde nichts gegen ihren Willen tun und sie wird fähig bleiben, für euch zu arbeiten. Sogar noch diese Nacht.“ Ein Vermögen - und das für kaum ein paar Stunden? Nur zum Schein, obgleich die Entscheidung längst getroffen war, erkundigte sich der Besitzer dieser Kaschemme, was wohl mit dem Geld geschehen würde, sollte Vivica sich weigern. Die Antwort war geradezu beschämend - es wäre sein. So schnell hatte Thorin tatsächlich noch nie jemanden einen Zimmerschlüssel herbeizaubern sehen. Zunächst verschwand der Kahlkopf nach oben, während der Wirt in aller Hast und Eile die kleinen Ledersäckchen raffte und damit in seine Privaträume verschwand. Er würde deren Echtheit prüfen müssen, er würde sie irgendwo sicher wegschließen müssen, er würde… sich setzen und erst einmal tief durchatmen müssen - jetzt, da gehörte er gewissermaßen zu den Reichen des Dorfes!   Thorin hatte alles weitestgehend hergerichtet, wie er es für notwendig und dienlich befand. Ein paar kleine Handgriffe hier und da, ehe er in die Schenke zurückkehrte. Just als Vivica die vier Gerichte austeilte, die sie zuvor so sorgfältig wie eh und je vorbereitet hatte, um nur ja jeglicher Beschwerde von vornherein aus dem Weg zu gehen. „He, Magd!“ rief der Krieger sie zu sich. Erschrocken wie jedes Mal, wenn ausgerechnet er sie ansprach, zuckte sie kurz zusammen und sah ein, dass sie sich nicht so leicht in Richtung Küche würde davon schleichen können. Einige Stufen stand er noch auf der Treppe und harrte aus, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Noch immer blieben beide unbeachtet, während die Gespräche sich im Raum gefestigt und intensiviert hatten. „Mit meinem Bett stimmt was nicht“, schnauzte der Hüne, „Bring das in Ordnung, aber plötzlich!“ Nur zögerlich nickte sie und sah sich um. Überall die Gäste - aber im Moment gab es keine Bestellungen. Jeder schien versorgt. Einen sehr ausgiebigen Moment wünschte sie sich inbrünstig, sie hätte ihre Arbeit nicht ganz so rasch und sorgfältig erledigt, vielleicht hätte es dann etwas zu tun gegeben, etwas, womit sie sich hätte herausreden können. Dabei hatte sie sich doch nur eine Pause erarbeiten wollen. Nur eine winzig kleine Pause… „Wird’s bald?“ fuhr man sie von der Seite an. „Ja, Herr“, nuschelte sie daraufhin ergeben und stieg, sorgfältig auf größtmöglicher Distanz bleibend, die Stufen an dem Koloss vorbei die Treppe hinauf. Thorin folgte ihr, ließ sie in das Zimmer eintreten und wartete, bis sie das Bett sorgfältig kontrolliert hatte. „Was… w-was stimmt damit nicht?“ hakte sie unsicher nach, als sie keinerlei Ungereimtheiten fand. Als sie hinter sich jedoch die Tür zuschlagen hörte, begann sie zu begreifen. „N-Nein, Herr, b-bitte…!“ stammelte sie übernervös, doch Thorin interessierte sich dafür herzlich wenig. Stattdessen lehnte er sich gegen die Tür, das sie, um zu entkommen, schon über das Dach flüchten oder ihn irgendwie dort weg bekommen müsste. Beides waren lächerliche Gedanken. „Sagt dir Iangeon Conster etwas?“ Abrupt schlug er ihr den Boden unter den Füßen weg. Woher kannte dieser Mann diesen Namen? War es das? Nur der nächste Gehilfe, den ihr Jäger vorgeschickt hatte? Doch ehe sie sich hätte verteidigen können, setzte der Kahlkopf nach. „Er lagert knapp außerhalb des Dorfes, weißt du? Er hat deine Fährte bis hierher verfolgt. Ich könnte dich ihm nun ausliefern, das wäre wirklich kein Problem. Ich würde ihm sogar helfen, dich in die Hauptstadt zu bringen. Vor ein paar Tagen war ich dort erst. Die Karren mit den Leichenbergen verströmen einen unglaublichen Gestank, fast die ganze Stadt ist von der Pestilenz entvölkert. Natürlich haben sich einige im Schloss verschanzt. Dorthin würde man dich ja auch bringen. Weißt du, was dort mit dir geschehen würde?“ Panik. Er konnte selbst in der Dunkelheit des unbeleuchteten Zimmers sehen, wie sie in Panik geriet. Ihr Gesicht wurde kreidebleich, ihre seit Verschluss der Tür miteinander ringenden Hände begannen zu zittern und sie machte einen eher erbärmlichen Eindruck. Schlimmer noch als das nervöse Bündel Scheu, das sie unten im Schankraum den ganzen Tag lang schon gewesen war. Nur ein einziges Wort machte Vivica noch Hoffnung. Dieses eine Wort, welches Thorin mit voller Absicht eingesetzt hatte, um ihr die letzte Fluchttür zu lassen. So, wie man es auf der Jagd immer tat - man trieb das Wild in die richtige Richtung. Selbst so ein scheues Reh wie sie fiel darauf letztlich herein. „W-Was… was soll… was soll ich tun?“ wollte sie wissen. Immerhin hatte er ja davon gesprochen, er könnte sie ausliefern - nicht, dass er das auch tun würde oder überhaupt beabsichtige. Es gab also Rettung, eine Alternative. „Komm her“, wies er zunächst nur schlicht an und wie befohlen, trat sie einen Schritt voran auf ihn zu, „Näher“, verlangte er daraufhin jedoch. Bis sie vor ihm stand. Unangenehm dicht, wie sie feststellte. Als er sie jedoch anblickte und keinen Ton mehr sagte, wurde sie unsicherer - mehr noch als ohnehin der Fall. Schließlich kam der Satz, den sie befürchtet hatte. „Auf die Knie.“ „I-Ich… nein, das… ich kann das nicht, ich…“ stammelte sie. Ausflüchte. Sie überlegte sich Ausflüchte, das konnte er ihrer regelrecht rauchenden Stirn ablesen. „Soll ich dich Conster zum Geschenk machen? Hübsch verschnürt?“ Heftig schüttelte sie den Kopf. Alles, bloß das nicht. Er würde sie hier zurücklassen, als Geschenk für den Jäger, dem sie so viele Jahre entkommen war. Conster würde in Zadiora einfallen mit seinen Männern und alle wüssten es sofort: Die Fremde war eine Hexe! Wie man sie anstarren würde… was Jonathan von ihr denken würde…! Und Peter? Sie hatte eine Verpflichtung. Sie konnte ihn nicht einfach im Stich lassen, sie würde ihn wiederfinden müssen… vielleicht… würde er ja nicht tun, was sie so ängstigte? Als Vivica ihm nicht schnell genug dem Befehl nachkam, packte er sie bei der Schulter und zwang sie herab. Er würde ihr nichts tun können, redete sich der Rotschopf ein. Er würde sich verbrennen, vor Kälte. Schon jetzt müsste ihm unangenehm kühl sein. Ihre Magie würde ihn verjagen, ihn das Interesse verlieren lassen, sie würde… Nichts tun. Die Erkenntnis traf sie härter noch als die Erwähnung ihres Jägers. Sie spürte seine Hand auf ihrem Hals und fühlte… Kälte. Nicht etwa ihren Leib, nein. Seine Hand war kühl. Wie aber war das möglich? Ungeachtet ihrer Verstörung löste der Hüne den Gürtel, öffnete seine Hose und befreite, was darin schon den ganzen Tag auf sie gewartet hatte. „Streng dich an, vielleicht lasse ich dich dann gehen“, erklärte er der Firnhexe mit einem geradezu gehässigen Grinsen. Sie hatte von alledem nicht die geringste Ahnung, das wusste er. So sie nicht ein geborenes Talent besaß, hatte sie keine Chance und ganz wie erwartet, zeigten sich nicht nur ihre Kontaktängste, nein. Vermutlich hielt sie das alles für ganz schrecklich unanständig und ungehörig und dachte viel zu viel nach - ganz offensichtlich musste er dem Ganzen also einen kleinen Anstoß geben. Seine Linke packte ihren Haarschopf, löste das Band daraus, verkrallte sich in der nunmehr befreiten Pracht… und zwang ihr Haupt voran. All die Widerworte, die sie hatte geben wollen, das Gebettel, die Wünsche und das Flehen, es ging in einem zunächst krächzenden, wenig später gurgelnden Laut über. Thorin aber ließ sich den Spaß davon nicht verderben. Was sie zahm hielt, konnte er sich gut denken. Selbst jetzt dachte sie vermutlich darüber nach, was Conster tatsächlich mit ihr anstellen würde und ob er nicht die bessere Wahl wäre - ungeachtet der Tatsache, dass sie mit jenem vehementen Kopfschütteln ihre Entscheidung getroffen hatte und es nun zu spät war. Vielleicht aber spekulierte sie immer noch darauf, hier irgendetwas gut machen zu können, um dann eilig davon zu huschen und sich nie wieder in Zadiora blicken zu lassen? Was wohl der liebeskranke kleine Dummkopf dazu sagen würde, wenn sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einfach so verschwand? Vielleicht würde er seine Sachen packen und ihr folgen wollen? Ohne wirkliche Spur liefe er aufs Geradewohl los und damit unweigerlich in sein Verderben, kein Zweifel. Nur gelegentlich erlaubte sich der Hüne ein Keuchen, während er mit der Hand noch immer ihn ihrem Haarschopf verkrallt den Rhythmus vorgab, den zu bewerkstelligen sie nicht fähig war. Sie fügte sich einfach nicht recht in ihre Aufgabe, wie sich ihm zeigte und das, obwohl er doch eigentlich klar und deutlich die Situation für sie umrissen hatte. Als er sich endlich aus ihrer Kehle zurückzog, krächzte die Firnhexe, keuchte, rang nach Luft… und begann nahezu augenblicklich darum zu flehen, er möge sie gehen lassen. „Warum sollte ich? Ich sagte, ich lasse dich gehen, wenn du deine Sache gut machst. Glaubst du, du hast das gut gemacht?“ Sie blickte ihn nicht an, sah wieder auf die Dielen hinab und erzürnte ihn damit um einiges mehr, als hätte sie ihn mit einem schlichten „Ja“ zu belügen versucht. „Glaubst du das?“ fuhr er sie lauter an, bis sie zaghaft den Kopf schüttelte. „Steh auf und dreh dich um.“ Die Anweisung schien sie nur noch mehr zu schockieren, doch für Vivicas Zierden und Ansichten von den Dingen, die möglich und machbar waren und jenen, die nicht darunter fielen, hatte er wenig Verständnis. Oder Geduld. Entsprechend zerrte er den Rotschopf an den Haaren auf die Füße empor, ignorierte ihren Schmerzschrei völlig und presste sie mit der Brust gegen die Tür, fest genug, das sie nicht einmal in Versuchung kommen konnte, die Hand nach der Klinke zu strecken. Schon kurz darauf spürte sie seinen Leib, wie er sich gegen sie drängte, noch bevor Thorin ihr ins Ohr raunte. „An deiner Stelle… würde ich jetzt stillhalten“, warnte er die Rothaarige, ehe eine seiner Wurfklingen an ihrem Nacken ansetzte… und sich mühelos durch all die Schichten an Textil schnitt und schälte. Sie presste die Augen zusammen, versiegelte ihre Lippen und versuchte, sich irgendeinen Fluchtweg zu überlegen. Bis zuletzt wollte sie entkommen. Sie wollte es, als er die Klinge bei Seite legte und überlegte, diese zu packen und sie ihm in die Kehle zu rammen - doch das konnte sie einfach nicht. Sie überlegte, die Tür irgendwie auf zu bekommen… doch sollte sie nackt durch den Schankraum rennen? Mit all den Gästen dort unten, die sie angaffen würden? Ohnehin hielt er sie viel zu fest gegen das Holz gepresst, als das sie sie hätte öffnen können. Damit blieb noch das Fenster…? Erst als sie sah, wie er mit der Rechten nach dem kleinen Topf Gänsefett griff, den er sich zum Frühstück hatte geben lassen, versuchte sie sich loszureißen - erfolglos. Sie flehte abermals, bettelte. Er könne das nicht tun, er solle sie loslassen, sie gehen lassen. Warum nur, fragte sich Thorin insgeheim, wiederholte sie ständig das Gleiche? Hoffte sie, beim siebten, zwölften, hundersten Male hätte er vielleicht ein Einsehen? Mit der Linken in ihrem Haar verkrallt, drängte er sich an sie, zwang sich in sie. Der Schmerzschrei hallte nur gedämpft zwischen seiner rechten Hand hindurch. Ein paar erste, zögerliche Bewegungen rangen ihm ein Aufstöhnen ab, während Vivica sich vor Schmerzen die Lippe blutig biss. Das kleine Töpfchen leerte sich fast völlig, ehe der Hüne begann, sich an ihrem Leib zu erfreuen. Er hielt sie fest gegen die Wand gepresst, schlug einen forschen Takt an, das ihr Becken bei jedem Stoß gegen die Tür knallte. Nur ein dumpfer Schlag, kaum noch hörbar, wie er den Korridor herab in den Schankraum drang. Selbst von ihrem Geschrei hatte man nichts gehört, ihr Gewimmer blieb völlig unbeachtet. Nackter Ekel ergriff sie, vor ihm, vor sich, vor alledem. Wie sehnlichst wünschte sie sich nun Meister Conster herbei, wie sehnlichst wünschte sie sich, das sei nur ein weiterer Alptraum, aus dem sie gleich erwachen würde. Nur ein Alptraum… nur ein Alptraum… Der Rhythmus geriet ins Schlingern, wurde unregelmäßig. Die Atemzüge, die sie kraftvoll hinter sich vernahm, wurden rascher, flacher, bis sie das Beben spürte, welches durch seinen Leib jagte und nun, da er sich fest an sie presste, sich noch ein Stück tiefer hinein trieb, auch sie erfasste. Ein letztes Mal Schmerz. Es war vorbei. Tatsächlich hatte er ihre Jungfräulichkeit nicht berührt, vielleicht… würde sie ja… Noch bevor sich auch nur der erste, vage Gedanke hatte entfalten können, zog er sich aus ihr zurück, riss sie am Schopf gepackt ein Stück in den Raum hinein. Dem Bett entgegen!, wie all ihre Sinne sofort panisch aufschrien, doch noch weit schlimmer wurde es, als er die Tür aufzog… und sie hinaus stieß. Der Hüne folgte ihr dichtauf, schubste und drängelte sie, mehr als einmal stürzte sie zu Boden, raffte sich nur empor, weil er sie anschrie, sie sonst wieder gepackt, gezerrt, an den Haaren heraufgerissen hätte. Längst war jegliches Gelächter im Schankraum erstorben, alle Blicke starrten gebannt auf die Treppe. Wie Vieh trieb der Hüne den Rotschopf splitternackt die Treppe herab. Staunende Blicke hier, Empörung und Scham dort. Eilig kam der Wirt ihm entgegen gehastet, als er den letzten Teller abgestellt hatte und Zeuge des Spektakels wurde. „So war das nicht vereinb-“ weiter kam er nicht, da streckte ihn der Schlag des Kriegers ohnmächtig nieder. „Sieh mich an!“ verlangte er von Vivica. Längst rannen haltlos Tränen über ihre Wangen, hinterließen feuchte, kühle Spuren, ehe sie sich umwandte. Jeder der Gäste konnte nun sehen, was oben vorgefallen war, sah die Spuren untrüglich, doch das war nicht genug. Thorin packte sie an der Kehle und so sehr sich ihre Hände auch in seinen Unterarm verkrallten, sie konnte keine Kraft aufbringen, die ihm gewachsen war. Er zwang sie rückwärts zu laufen, bis sie gegen eine Tischkante stieß. Einer der zahlreichen kleinen Rundtische - auf welchen er sie rücklings niederdrängte. Mehrfach versuchte sie sich wieder aufzurichten, wurde jedes Mal zurückgezwängt. Gerade, als er ihre Schenkel auseinander drängte, wurde die Tür des Gasthauses aufgerissen und der Stallbursche stürmte herein. Vermutlich hatte er durch das Fenster unscharf das Treiben gesehen, doch zwei der Männer, mit denen Thorin noch heute Mittag über Vivica gesprochen hatte, packten ihn bei den Armen und rissen den Hitzkopf zurück. „Sieh gut zu, Kleiner“, spottete der Kahlkopf. Selbst die Firnhexe wandte das Haupt umständlich, blickte aus tränenverhangenen Augen zu ihm auf. Sie hatte nie gewollt. Nie, das etwas Schlimmes geschah. Nicht ihm, nicht ihr, nicht sonst irgendjemandem. „Deine Kleine ist noch Jungfrau… oh, ‘tschuldige - war.“ Mit jenen Worten drängte sich der Krieger in ihren Leib, ein weiteres Mal, stieß auf Widerstand und durchbrach ihn. Ein kläglicher, ersterbender Schrei brach aus ihrer Kehle, ehe sie halb ohnmächtig zusammensank. Mit der Linken hielt er weiterhin fest ihre Kehle gepackt, während die Stöße in ihren Leib den Tisch leicht zum schwanken brachten. Wortlos, starr aus den unterschiedlichsten Gründen, wurden Dutzende Zeuge dessen, bis Thorin nach einer ganzen Weile abermals seinen Höhepunkt überschritt und sich, sichtlich zufrieden, von Vivica zurückzog. Der Krieger zog die Hose wieder herauf, verschloss in aller Ruhe und Sorgfalt den Gürtel, ehe er zu seinem ehemaligen Tisch ging. Die Gäste formten still und schweigend einen Korridor, niemand wagte sich sonst zu rühren oder auch nur ein Wort zu sagen. Selbst der Stallbursche war völlig erstarrt. „Kleiner“, setzte Thorin an, als er vor den Blonden trat, „entweder vögelst du sie jetzt bis zur Besinnungslosigkeit…“ forderte er ihn daraufhin auf und warf einen Blick in die Runde der anderen Gäste, die wie gebannt auf Vivica starrten, „Oder ich kann dir garantieren, das jeder andere hier im Raum ihr jedes verdammte Loch bis in die Morgenstunden stopfen wird.“ Mit einem geradezu freundschaftlichen Klopfen auf die Schulter trat der Hüne zur Tür hinaus. Während er sein Ross aus dem Stall befreite, hörte er noch die Streitigkeiten, die darüber ausbrachen, wer wann alles wie dürfe oder auch nicht dürfe - dann gab er dem Gaul die Sporen.   Ein ganzes Stück abseits Zadioras lag ein kleiner Hain. Das perfekte Versteck, sowohl für die Überreste von Consters Lager, in dem er vergangene Nacht Unterschlupf gefunden hatte, als auch für sein Gefolge. Als der nachtschwarze Koloss von einem Pferd auftauchte, erregte das Gespann sofort die Aufmerksamkeit zahlreicher. „In ein paar Minuten merken sie, das sie eine Eishexe vögeln und ihre Schwänze festgefroren sind“, erklärte der Reiter mit einem Lächeln den Kopf schüttelnd, während er das Medaillon aus seiner Hosentasche zog und im zarten Sternenlicht betrachtete. Dann verfinsterte sich sein Gesicht wieder und wandte sich den Truppen zu. „Macht das ganze Dorf nieder. Seht zu, dass ihr mir den Stallburschen und den Wirt erwischt. Und Ninafer - bring mir das Mädchen! Ich denke, ich will sie behalten.“ Wenige Tage darauf bereisten Wanderhändler Zadiora und kaum hatten sie den Ort betreten, da verließen sie ihn in aller Hast und Eile wieder. Die gleiche Pest, die ganz La Coeur fast entvölkert hätte, schien nun auch das nahe Dorf verschlungen zu haben. Überall Verwesung und Tod - und längst nicht jeder der Dahingerafften blieb auch artig liegen… Kapitel 29: Kleine Halbelben ---------------------------- Alte Bekannte   Ein unregelmäßiges Auf und Ab, ein Hin und Her, empor und hernieder - jede Regung aber wurde bis ins kleinste Detail und maßstabsgetreu nachvollzogen. So fühlte es sich zumindest an. Alistair konnte gar nicht ausdrücken, wie sehr er Schiffe hasste. Diese Dinger waren doch im Grunde nicht mehr als Nussschalen, die man mit einem Segel und im besten Fall noch ein paar Rudern so schnell wie möglich von A nach B zu bringen versuchte, ohne dabei von eben jenen unvorstellbaren Kräften überrascht und schlicht verschlungen zu werden, die auf den Meeren der Welt die Naturgewalten darstellten. Wie konnte der Mensch - oder wahlweise auch Elben, Zwerge, wer immer sich diesem Irrsinn stellte - auch nur im Ansatz hoffen, diesen Gewalten entgehen zu können? Sie zu verstehen oder gar zu meistern? Nein, wer immer sich an eine Nussschale aus ein paar Holzplanken klammerte, der begab sich direkt in den Schoß von Eumenes und die Herrin der See konnte sehr launisch sein. Ein störrisches, eifersüchtiges Biest, eine zürnende, donnernde Walküre oder ein sanftes, liebliches Mädchen - was der Fall war, konnte keiner je vorhersagen. Nur hoffen und beten, das war alles, was gute Seeleute konnten. Nun - Alistair war kein Seemann. Ein Guter schon gar nicht. Das erschloss ihm gewisse andere, praktisch zusätzliche Optionen zum Hoffen und Beten: Sich übergeben. Während sein Magen Kreisel drehte, sich dehnte, verkrampfte, erschlaffte und pulsierte, jede Woge ihn aufs Neue aus dem empfindlichen und meist nur wenige Sekunden vage vorhandenen Gleichgewicht riss, spie der Nordmann schon seit einigen Minuten alles ins Meer, was den Fehler beging, auch nur in die Nähe seiner Speiseröhre zu geraten. Das dabei schon seit diversen Wellen nur noch bittersaure Galle kam, interessierte zumindest sein Innerstes herzlich wenig, ließ den Dieb jedoch angewidert das Gesicht verziehen. Gerne hätte er sich Abhilfe verschafft. Schon die Augen offen zu halten, ja das allein hätte ihm vielleicht bereits weiterhelfen können. Gewiss, ja: Jeden Wellenkamm, den sie ritten, hätte er gesehen. Er hätte die Rücken der Wasserberge hinabstarren und in die Täler vorausblicken können, in die sie gleich niederfahren würden. Das Meer um sie herum wütete, der Sturm peitschte lauthals kreischend, doch obwohl die Mehrheit der Mannschaft es geschäftig auf dem Deck hielt, lachten sie hier, sangen dort, witzelten am Mast oder grinsten feist zu ihm herüber. Sie schienen den Sturm trotz aller Vehemenz kaum ernst zu nehmen, es eher für ein raues Lüftchen zu halten. Und er konnte nicht einmal die Augen offen halten. Ständig klatschten Wellen gegen den Rumpf, sprühte die Gischt herauf und bedeckte sein Gesicht mit einem feinen - und manchmal auch nicht so feinen - Schleier aus Meerwasser, das er spucken und husten und unweigerlich die Lider wieder zupressen musste. Sobald er das aber tat, verlagerte sich fast augenblicklich die Kraft seiner Sinne und ließ ihn doppelt und dreifach so stark jeden Klatscher und jede noch so kleine Woge spüren. Es war zum Verzweifeln! Beim Thema Verzweiflung fiel dem Lairuiner auch gleich noch etwas ein - genauer gesagt, jemand. Die schweren Stiefel, deren Eisenbeschlag sie leise bei jedem Tritt klappern ließ, brachten bereits erste dumpfe Ahnungen herauf, aber dann trat jene Gestalt neben ihn an die Reling und klopfte ihm auf die Schulter. Die vermutlich gut gemeinte Geste brachte nur einen weiteren Schwall Galle herauf, bis er sich, in einer fahrigen Geste über die Lippen wischend, erstmals weit genug aufrichten konnte, um sie anzusehen. Schon ein kurzer Blick in ihre Miene, dieses hämische Grinsen darin, verriet ihm, dass die Geste gewiss aus allem geboren war, aber nicht aus aufrechter Freundlichkeit. Dabei entging längst nicht nur Alistair, das Ashes eher notdürftig und halb bekleidet bei eisigsten Temperaturen hier oben an Deck stand. Das zog unweigerlich gewisse Reaktionen nach sich: Zunächst sein Blick auf die sich zart durch ihr dünnes und von der Gischt längst durchsichtig getränktes Hemd drückenden Knospen ihrer Brüste, daraufhin im Anschluss das selbst bei dieser Nachtschwärze gut sichtbare Erröten seiner Wangen und schließlich die geradezu giftigen Blicke in die Runde der Matrosen, die den vom Stoff kaum verdeckten Rücken bewundernd hier und da ein paar wagemutige Pfiffe ausstießen. Keiner war wirklich so närrisch, Ashes anzurühren. Das lag zum einen daran, dass sie vor drei Tagen dem Dummkopf aus dem Krähennest erst den Kiefer ausgerenkt und dann die Handwurzel gebrochen hatte, weil er seine Finger und schmierigen Andeutungen nicht für sich behalten konnte. Sie hatte Brüste und ein Becken, in das sich stoßen ließe - doch soweit bekam sie keiner, das hatte man einsehen müssen. Keiner außer dieser halben Portion… mit dem sich ebenso wenig jemand anlegen wollte. Alistair hatte Spott und Hohn auf sich gezogen. Er war kleiner als die Meisten, dürrer als die Meisten, aß kaum etwas, spie sich die meiste Zeit die Seele aus dem Leib und wirkte irgendwie schwächlich. Als jedoch jemand seiner Gefährtin gegenüber in einem Maß frech wurde, das ihm als ausreichend erschien, hatte es einen Kampf gegeben. Einen sehr, sehr kurzen sogar. Woher dieser Knilch alles Messer und Klingen zaubern konnte, war die eine Überraschung gewesen, sicherlich - und das in einem eigentlich fairen Faustkampf! Woher er dann aber auch noch dieses unverschämte Glück hatte, jedem üblen Schwinger auszuweichen und jeder Geraden zu entgehen… er war flink, keine Frage, aber so ganz schien das einfach nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Schließlich hatte er den Gürtel durchtrennt und seinen Kontrahenten bloßgestellt. Es hatten eisige Winde geherrscht, natürlich. Und die Überraschung hatte ihr Übriges getan. Trotzdem - beim Anblick seiner unverhüllten Lenden hatte jeder lachen müssen. Selbst Alistair und Ashes. Keiner legte Wert darauf, der nächste zu sein, der von diesem flinken kleinen Wiesel vorgeführt wurde. Also beließ man es bei Blicken, Pfiffen, ein paar derberen Seemannssprüchen, aber… niemand wagte mehr als das. Ein Arrangement, mit dem bisher alle mehr oder minder gut leben konnten - vor allem der Kapitän, der das Glück hatte, diesen wackeligen Frieden nicht extra mit eigener Hand sichern zu müssen. „Ich komme gleich wieder runter…!“ kündigte der Nordmann an und zwang sich ein eher schief geratenes Grinsen auf die Miene. „Hm~hm, natürlich“, erwiderte die Elbe lediglich eine Braue hebend. Daraufhin wagte der Langfinger nochmals einen Blick auf seine Begleiterin. Allein, wie sich die Muskeln hier und da abzeichneten, die Narben aus zahlreichen Kämpfen und mancher Dummheit… und die Ohrringe! Er liebte es, damit herumzuspielen und bisweilen schien sie es auch mehr als nur zu schätzen, wenn er das tat - nun aber kniete er hier, halb über dem Holzlauf hängend und wusste nicht, ob dieses Rumpeln und Ziehen in seinem Bauch nun Übelkeit oder Erregung war. „Ist ein wilder Ritt…“ versuchte er sich zu entschuldigen. Daraufhin lehnte sich Ashes ebenfalls über die Reling und starrte völlig ungerührt in die sich auftürmenden Wogen hinaus. „Ich dachte eigentlich, den hätte ich auch gerade gehabt…“ gab sie lediglich zurück und bescherte ihrem Begleiter damit ein eher peinlich beschämtes Erröten. „T-Tut mir l-leid… ich mach’s wieder gut, versprochen, i-ich… ich-“, doch bevor er sich schnell etwas hatte einfallen lassen können, winkte sie mit einer Handgeste ab. „Ist erledigt.“ Zwei Worte, die ihn einen kurzen Moment inne halten ließen. Nur ein einziges Mal hatte er sie gesehen, genauer gesagt, beobachtet, während sie sich Erleichterung verschaffte - und er hatte kaum leise genug atmen können, um nicht bei dieser kleinen Schandtat erwischt zu werden. Bemerkt hatte sie es irgendwie dennoch. Bis heute wusste er nicht, ob sie sich seiner Gegenwart bereits währenddessen bewusst gewesen war und sich davon einfach nicht hatte stören lassen, ob es sie vielleicht sogar noch anstachelte, oder aber, ob sie es erst nachträglich irgendwie herausgefunden hatte. Dieser Moment damals hatte ihn jedoch gelehrt, dass es keinen Augenblick gab, in dem er je einen stärkeren Drang verspürt hatte, in einen Raum zu platzen und wortlos über ein Weib herzufallen. Das annähernd gleiche Maß an Lust zerwühlte nun selbst seine Seekrankheit und ließ ihn durchaus von Gier getragene Blicke von ihrem Gesäß herauf bis zu ihren Ohren legen. „D-Du… a-aber…?“ hob er eher dem Schein nach entrüstet an, erhielt jedoch zunächst nur ein abfälliges Schnauben zur Antwort, ehe sie sich aufgrund seines weiterhin ungebrochenen Starrens zu ein paar Worten genötigt sah. „Hast du geglaubt, ich warte unten, bis du dir die Seele rausgekotzt hast und mit üblem Atem zurücktorkelst? Du hast etwas angefangen und bist einfach verschwunden - also habe ich es beendet.“ Tatsächlich interessiert verfolgte sie das Mienenspiel ihres Gefährten, welches zunächst von Enttäuschung zu Resignation und Frust überwechselte, von dort dann schließlich zu Kummer und Bedauern - bis er es tatsächlich sogar aussprach. „Schade.“ Ein Wort nur, doch es ließ für einen kurzen Augenblick den Schatten eines Schmunzelns über ihre Züge huschen wie ein scheues Reh, das kurz vor des Jägers Augen auftauchte und dann flink wie der Wind im Unterholz verschwand. „Schade, hm?“ echote die Elbe zunächst, ehe sie ein Stück zu ihm heran rückte, „Denkst du, ich gebe mich mit einem Appetithäppchen zufrieden?“ Allein dieses Leuchten in seinen Augen, so befand die altgediegene Söldnerin, war es wert gewesen. Er folgte ihr unter Deck zurück, warf die Tür ins Schloss und begann ohne zu zögern in die nächste Runde zu starten - eine direkte Art, die sie an ihm inzwischen ebenso zu schätzen wusste wie sein Geschick. So manches hatte sie ihm erst beibringen müssen, doch Alistair, das hatte sich deutlich gezeigt, war ein sowohl aufmerksamer, als auch schnell begreifender Schüler - und er vergaß selten, was ihm einmal auffiel. Es verlangte ihm spürbar Konzentration ab, sich vom Gefühl des Wellenganges zu lösen und so ganz wollte seine Übelkeit sich wohl auch nicht verdrängen lassen, doch das hielt beide nicht davon ab, fast die gesamte Nacht hindurch ihr Zimmer dezent umzuräumen. Das Schiff derweil aber hatte entgegen der Mannschaft das Schlimmste nicht überstanden, im Gegenteil. Keiner hatte es kommen sehen - nicht der Mann im Krähennest, nicht der Steuermann, nicht der Kapitän mit seinen See- und Wetterkarten. Der Sturm wurde schlimmer, viel schlimmer. Kurz vor Dämmerung holten sie die drei Segel ein - kaum ein paar Minuten, bevor der Hauptmast brach. Das gewaltige Knacken und Bersten des Holzes war im gesamten Schiff ein unheilverkündendes Dröhnen und Donnern, begleitet vom Scheppern der Blitze und den grellen Lichtblitzen, die sie durch jede Luke warfen. Für Ashes und Alistair, die aneinander gedrängt gerade erst zur Ruhe hatten kommen wollen, war das eine Katastrophe - und ein Weckruf. Hastig begannen sie ihre Sachen zusammen zu sammeln, all ihre Habe zu verstauen und das Wichtigste umso näher am Leib anzubringen. Ein knapper Blick nach draußen offenbarte vor allem… Schwärze. Sie warteten und brauchten nur ein paar weitere Sekunden ausharren, als eine Reihe von Blitzen ihnen das nackte Entsetzen enthüllte: Die Wellentürme waren keine Türme mehr, sie waren ganze Gebirge geworden und die Nussschale wirkte nun im wahrsten Sinne nichtig. Der Versuch, das Oberdeck zu erreichen, scheiterte drei Mal. Mit jedem Wellenkamm, der über ihnen zusammenbrach, wurde eine Unmenge an Wasser ins Schiff gespült und strömte die Treppen herab. Es riss sie von den Beinen, schleuderte sie den Gang wieder hinab und nur mit Mühe konnten sie einander halten. Beim vierten Anlauf kämpften sie sich erfolgreich an Deck, sahen die Crew herumhechten. Nicht länger in amüsierter Geschäftigkeit, sondern mit hartem Ernst in der Miene, mit Sorge… und manchen mit einem Gebet auf den Lippen, mit denen er nicht etwa sein eigenes Heil erbat, sondern für das Wohl seiner Hinterbliebenen sorgen wollte. Ihnen blieb nicht lange, die Szenerie zu erfassen, da verschluckte etwas selbst Teile des Himmels, des Blitzlichtes, einfach einen ganzen Teil der Welt - und brach schließlich nieder. Die halbe Crew ging über Bord, einfach davon gespült, genauso wie die Reste des Hauptmastes. Die zwei Nebenmasten gaben wie Streichhölzer nach, die Takelage, das Krähennest, kreischende Leiber, alles trieb im Meerestal neben ihnen und dann… kam der große Bruder eben jener Welle. Schon als sei von dessen Vorläufer erfasst wurden, hob sich das eigentlich unzählige Tonnen schwere Schiff höher und höher und höher. Doch es schien kein Ende zu geben - der Wellenkamm war um ein Vielfaches über ihnen… und dann kippte alles. Völlig unvermittelt drehte sich das gesamte Schiff, erst auf die Seite, ehe es sie unter sich begrub. Das Schiff selbst und große Teile davon zerrissen und zerquetschten viele der Kreischenden im Meer, der Strom der Flut riss Alistair herum, wirbelte ihn wie einen Tänzer im Kreis um jede nur denkbare Achse, ließ ihn völlig die Orientierung verlieren. Einen Augenblick schwamm er nach unten statt hinauf, ehe er in der tiefen Schwärze unter sich etwas noch Dunkleres sah. Für einen flüchtigen Augenblick hatte er das Schiff gesehen, wie es unter dem Wellenberg begraben noch tiefer gedrückt wurde, tiefer hinab in das endlose Dunkel - es genügte, ihn begreifen zu lassen, das er in die andere Richtung musste. Eiseskälte stach in seinen Muskeln, das Salz brannte in seiner Kehle, seinen Augen, sogar den Kratzern, die das Liebesspiel mit Ashes hinterlassen hatte. Der Gedanke an sie aber ließ ihn allen Überlebenswillen verlieren, verdrängen - wo war die Söldnerin? Wo war das verdammte Klingenohr, an das er vor Jahren sein Herz verloren hatte? Sie hatte ihre Rüstung nicht vollständig angelegt, gerade genug, um aus eigener Kraft noch schwimmen zu können. Sie musste irgendwo hier sein - einen Moment schwamm er sogar wieder nach unten, freiwillig, sich des Irrsinns bewusst, ehe selbst ihm klar wurde: Hier, in dieser Schwärze, diesem Durcheinander, da würde er sie niemals finden. Die Verzweiflung in seinem Gemüt wog selbst schwerer als die seiner Lungen nach Luft, das Brennen hätte ihn fast dazu gebracht, einen tiefen Zug Meerwasser atmen zu wollen - doch er schaffte es gerade noch rechtzeitig herauf. Ein tiefer Zug… dann spülte ihn die nächste Welle herab, begrub ihn abermals, wirbelte ihn von neuem herum. Irgendwann wurden seine Glieder lahm. Er strampelte, spürte aber seine Beine nicht mehr, er schwamm, ohne die Bewegung seiner Hände wahrzunehmen, er rief einen Namen, ohne seine eigene Stimme zu hören. Bevor die Erschöpfung ihn packte und das Bewusstsein aus ihm heraus schüttelte, war sein letzter Gedanke… die Zufriedenheit darüber, die letzten Minuten immerhin mit ihr verbracht zu haben.   Über sein Tempo in den Kämpfen hatten sie gemutmaßt und gelästert gleichermaßen. So etwas könne nicht natürlich sein. Ein Besessener vielleicht, ein Hort von Dämonen, wer wusste schon wie vielen?! Vielleicht ein Gesandter der Götter, war das nicht ebenso denkbar? Ein Hexer gar! So schmächtig und dürr, würde da die Geschichte des ständig vor dem Zirkel Fliehenden nicht prächtig passen? Tatsächlich aber stammte Alistairs Geschwindigkeit aus nicht mehr denn der Tatsache, dass er klein war, recht wenig wog und diese Fertigkeiten bis zur äußersten Beherrschung trainiert hatte. Jahrelange Übung hatten ihn geschult und geschliffen, aus dem Rohmaterial einen kleinen Diamanten herausgeputzt - zumindest für jene, die einen fähigen Dieb an ihrer Seite wissen wollten. Zu jenem erlesenen Kreis gehörte auch Ashes, die sogar einer noch weit exklusiveren Runde von Leuten angehörte: Denen, denen Alistair auch gerne half. Von den Göttern gesegnet, wie eine These gelautet hatte, war er gewissermaßen dennoch. Zeit seines Lebens hatte er das unverschämte Glück besessen, nur wenige Fallen auszulösen und dann meist den verheerenden Folgen zu entgehen, nur wenige Schlösser mit Lautgebung zu öffnen und dann verklangen diese Töne meist von den zugehörigen Wachen ungehört oder ignoriert. Dieses Glück verdankte er keinen Zufällen, sondern der Tatsache, dass er Lenikki, den Gott der Wanderer und Diebe, den Schutzpatron der Reisenden und Händler, schlicht gut zu unterhalten wusste. Alistair war eine Kuriosität und ständig drauf und dran, sich mit allerhand Unsinn in Gefahr zu begeben. In dieser Nacht aber, da das Schiff ihn um ein Haar erschlagen hätte, als die Wogen des Meeres es wie Spielzeug herumwarfen, da feilschte der oftmals als Affe dargestellte hohe Herr um das Leben des Nordmannes, mit niemand Geringerem als Eumenes selbst. So manche Strippe wurde hinter den Bühnen der sichtbaren Welt gezogen, so manches Interesse sollte gewahrt bleiben und am Ende spien die zornigen Fluten nicht nur den schmächtigen Langfinger wieder aus. Dass er noch lebte spürte er daran, wie ihm noch immer das Salzwasser schier überall brannte. Er spuckte, hustete, keuchte, rang nach Atem und kam auf zittrige Arme und Knie zum Stehen. Nicht nur die Erschöpfung machte es ihm schwer, sich aufrecht zu halten. Strampelnd und zappelnd, um sein Überleben kämpfend, hatte er sich völlig verausgabt. Aber nun zog das Gewicht seiner vollgesaugten Kleider an seinem Leib, die Kälte saß ihm längst im Mark und wollte ihn steiffrieren - und zumindest seine Finger hatten diesem Drängen schon nachgegeben. Er aber zwang sich zu mehr, rappelte sich empor und kam nach einigen sehr bedrohlich schwankenden Momenten zu sicherem Stand auf seinen Füßen - zumindest sicher genug, um sich mit kleinen, beherzten Schritten voran zu wagen. Sie hatten vor mehr als zwei Wochen ihre Überfahrt gebucht. Eine Einladung zum Hofe Anadyrs, sie würden Kathryn wiedersehen, mit ihr ausgelassen feiern und… möglicherweise zu späterer Stunde mit ihr in ihren Gemächern verschwinden. Alles hatte sich geradezu traumhaft angehört. Immerhin war diese Gedankenwelt ausreichend gewesen, ihn auf ein Schiff zu locken… doch in dem Piratenstaat waren sie nie angelangt. Wie weit der Sturm sie vom Kurs abgebracht hatte, der über Tage ihre Route begleitet hatte, konnte der Langfinger nicht sagen. Hier und jetzt, da er unweit merkwürdige Bäume aufragen sah, war es ihm einerlei. Denn was noch viel Wichtigeres unter seine Augen fiel: Trümmerteile. Stücke der Takelage, dutzende, wenn nicht hunderte Holzsplitter, Seile und… Körper. „Ashes!“ brüllte der Dieb aus vollster Kehle und brachte nicht mehr als ein leises, kratziges Quaken hervor. Er stürzte los, zur ersten Silhouette. Irgendein Schwarzhaariger. Keine Atmung. Hastig rappelte er sich wieder auf, spürte, wie viel Mühe ihn das kostete. Alistair rannte weiter und weiter. Sogar das halbe Krähennest passierte er, mit einem Arm darin, der wohl irgendwie von Trümmern abgerissen worden war. Mehr und mehr Leichen wuchteten die gewaltigen Wellenberge an die Küste heran, doch längst hatte er aufgehört, auf die Knie zu gehen. Irgendwann, so war ihm klar, käme er nicht mehr empor. Vielleicht lebte mancher von der Mannschaft noch, vielleicht hätte er hier Leben retten können - doch für den Augenblick, so weit hatte ihn das lange Verweilen in ihrer Gegenwart schon gebracht, zählte für ihn nur dieses eine Leben. Er hielt Ausschau nach silbernen Haaren. Die Wolken waren dicht, aber fetzenhaft - hier und dort gab es Sterne, die bemüht durch die Risse funkelten. Er würde sie sehen müssen. Auf dem Rücken liegend, auf der Seite, dem Bauch, mit dem Kopf zur Baumgrenze oder zum Meer, verdreht, verrenkt, verstümmelt, der Dieb rannte immer weiter, an all den Toten oder vermeintlich Toten vorbei, bis er den hellen Haarschopf, den zu finden er fast nicht mehr geglaubt hatte, endlich sehen konnte. „Ashes!“ brüllte er abermals, etwas lauter, etwas bemühter und doch lächerlich angesichts des Donnerns und Dröhnens, welches vom Meer herüberschallte. Hastig stürzte er zu ihr auf die Knie. Sie war blass, die Haare verklebten ihr Gesicht und seine Finger fanden keinen Puls. Er tastete nur wenige Sekunden panisch danach, ehe ihm klar wurde, dass dort einfach keiner war. „Nein… nein nein nein nein nein, das tust du mir nicht an!“ schrie er sie halb hysterisch an. Er presste ihre Nase zu, versuchte Luft in ihre Lungen zu blähen, drückte den Rhythmus auf ihre Brust, den ihr Herz hätte schlagen sollen. Wieder und wieder über eine gefühlte Ewigkeit hinweg. Er wollte, konnte, würde nicht aufgeben - und dann, als seine Schultern längst steif und verkrampft waren, spie sie plötzlich einen Schwall Meerwasser halb in sein Gesicht, ehe sie sich ebenso hustend und keuchend zur Seite drehte. Sie übergab sich, mehrfach - Sekunden, bevor eine weitere große Welle neue Trümmerteile auf dem Strandstreifen verteilte und ein grobes Stück vom Kiel Alistair überraschte. Schon zum zweiten Mal in dieser Nacht verlor er das Bewusstsein, tat es aber diesmal mit der vagen Hoffnung, zumindest an ihrer Seite aufzuwachen… oder an ihrer Seite zu sterben, sollte das der Wunsch Lenikkis sein. Tatsächlich jedoch riss die Flut niemanden mehr fort - nicht die Elbe, deren Pfad ganz im Sinne Arimaspers nur zu oft von Blut und Gewalt begleitet war und auch nicht ihn, der noch viele Jahre zur Unterhaltung des Affenkopfes beitragen sollte.   „Los, steh schon auf, Schlafmütze“, rumpelte eine Stimme in seinem Kopf. Nur langsam, träge und obendrein höchst unwillig kehrte das Leben in den Leib des Lairuiner zurück. Alistair blinzelte und kniff fast sofort die Augen zusammen. Die Sonne stach von ihrer Mittagsposition zu ihnen herab. Vorsichtig richtete sich der Langfinger auf und versuchte, nachdem er sich halbwegs an die Helligkeit gewöhnt hatte, sich einen Überblick zu verschaffen. Vermutlich hätte diese Gegend einen wundervollen Anblick abgegeben. Die merkwürdigen Bäume, deren Umrisse ihm in der Nacht noch zu denken gegeben hatten, entpuppten sich als Palmenmeer, vermischt mit einzelnen Bäumen festeren und dichteren Wuchses. Der Strand war weit, flach und von feinem Sand, das Meer lag still und friedlich da, nicht eine Wolke weit und breit. Die wenigen, fast zärtlichen Wellen wagten sich nicht einmal auf vier Meter an seine Füße heran, da zogen sie sich schon schüchtern in die See zurück. Doch das Bild des Paradieses wurde empfindlich gestört. Die weißhaarige Söldnerin, die in unvollständiger Kriegsmontur vor ihm aufragte, war da nur ein kleines Detail. Der zweite Punkt war der Verband, den sie offenbar um seine Schulter gelegt hatte und dann war da noch die Tatsache, dass er das Schiff sah. Zumindest Teile davon, hier und dort. In der Ferne erkannte er sogar den Hauptmast, wie er mit der zweiten Hälfte des Krähennestes aus dem Wasser ragte, sich offenbar einer Lanze gleich in den Boden der Bucht gefressen und auf ein paar derberen, größeren Felsen aufgelehnt hatte, um den Himmel erstechen zu können. Jede Welle aber trug weitere Holzsplitter herbei. Hier und da lagen Beschläge von den eisernen Truhen, zersplitterte Holzfässer und natürlich: Leichen. Sie waren schier überall. „Wir müssen los“, erklärte die Elbe schlicht und reichte ihm die Hand. Unter einem leisen Schmerzlaut verzog er das Gesicht, als er den Arm hob, die gebotene Hilfe annahm und er das Gefühl hatte, sie würde ihm fast die Schulter ausreißen, als ihr kräftiger Ruck ihn auf die Beine brachte. „Sollen wir nicht… naja… du weißt schon… nachschauen? Ob einer noch lebt?“ hakte er unsicher nach und blickte sich um. Die Meisten, die im Wasser trieben, taten es mit dem Gesicht nach unten. Sofern die sich nicht nur tot stellten und über unglaubliche Lungen verfügten, wäre da wohl jede Hoffnung verloren. Doch einen Teil der Mannschaft hatte es an den Strand gespült. Ashes jedoch schien der Idee wenig zugetan. „Die sind alle tot“, erwiderte sie so knapp wie vernichtend. „A-… Aber weißt du das?“ erwiderte der Dieb knapp und scheute vor ihrem Blick zurück. Sie mochte ihn, sehr sogar, und sie schätzte ein Stück weit auch sein Herz. Es saß am rechten Fleck, es schien unverwüstlich und bewahrte diesem Chaoten immer ein kleines Stück naiver Unschuld. Aber in Situationen wie dieser, da wollte sie ihn bei den Schultern packen und schütteln, bis die Flausen aus seinem Kopf verschwunden wären. „Denkst du nicht, sie hätten angefangen, sich gegen die Möwen zu wehren? Oder hier und da mal geschrien, wenn die Krabben ihre Ohren abnagen oder die Scheren in ihre Augenhöhlen stecken?“ führte sie ihm bildhaft vor Augen. Daraufhin, wie hätte es anders sein können, übergab sich der schmächtige Nordmann gleich nochmal, während er heiser hervor keuchte, woher sie das wisse. Seufzend verschränkte die mürrische Elbe die Arme vor der Brust. „Rate mal… na weil ich nachgesehen habe!“ warf sie ihm vor und verbot sich weitere Diskussionen. Völlig Unrecht, so musste der Dieb eingestehen, hatte sie ja längst nicht. Es war ihm nicht aufgefallen, weil zu viele Dinge auf einmal auf ihn eingeprasselt waren, doch… es gab hier Vögel. Erstaunlich viele sogar. Und er sah auch einige Krabben herumwandern. Von dem Holz würden die sich gewiss nicht ernähren und was blieb, war eine mehr als unschöne Vorstellung. Sie entschieden, das sie vor allem drei Dinge gut gebrauchen könnten: trinkbares Wasser, etwas Essbares und einen Hafen. Dabei spielte es nicht einmal eine Rolle, wo sie hier eigentlich gestrandet waren - Anadyr war es nicht. Was bedeutete, dass sie ihre Reise nicht abgeschlossen hatten und das nächste Schiff bräuchten. Mit etwas Glück eines, das nicht sofort den nächsten Sturm ansteuern würde. Tatsächlich klärte sich das Problem ihrer Grundversorgung recht zügig. Knapp eine Stunde bewegten sie sich landeinwärts, da stießen sie auf eine gut ausgebaute, gepflasterte Straße. Das kniehohe Gras, welches zwischen den klobigen Steinen hervor wucherte, sprach jedoch von dem alles andere als regen Verkehr darauf. Jedoch brauchten sie ihr nur eine Weile folgen, um einen nahe gelegenen Brunnen zu finden. Der mit Moos überwachsenen Tränke nach, die direkt daneben aufgebahrt stand, handelte es sich um eine Handelsstraße, auf der man Tiergespanne erwartete, die von Zeit zu Zeit fressen, trinken und rasten mussten. Tatsächlich war der Brunnen noch nicht versandet und bot gutes, sauberes Wasser. Mit dem kleinen Faustbeil - der einzigen Waffe der Söldnerin, welche das Wüten der Fluten überlebt hatte - holte sie ein paar Früchte von einigen der Bäume herunter. Wie sich zeigte, war sie nach wie vor eine versierte, geübte Frau, auch im Umgang mit Wurfwaffen. Vor Jahren hatte sie ein Auge verloren und Armbrüste und Bögen dadurch aufgeben müssen. Daran hatte sich grundsätzlich nicht viel geändert, doch sie hatte auf mittlere und kurze Distanz zu Fernwaffen wie dieser zurückgefunden. Nachdem Hunger und Durst gestillt waren, marschierten sie - und natürlich konnte ihr Gefährte nicht eine Minute den Mund halten. Schier alles schien überwältigend und aufregend und spannend zu sein. Die Bäume, der Himmel, das Unwetter - es war wahrhaft erstaunlich, wie schnell ein vermeintliches Trauma bei ihm zu einer spannenden Geschichte avancierte. Dann begann er Beobachtungen über den Mischwald anzustellen, über ein paar Affen, die sie in der Ferne brüllen hören konnten, ein Gürteltier, welches er wohl noch nie zuvor gesehen hatte… für die wenig naturverbundene Elbe war es die reinste Folter. Mehr noch als sein übliches, ununterbrochenes Geplapper. Als sich schließlich eine kleine… Maus, Ratte oder was immer dieses Nagetier sein sollte, einfach so vor ihre Füße setzte, zu ihr aufblickte und zu erwarten schien, das sie tolle elbische Sachen tat, herumtänzeln, singen oder mit diesem Pelzvieh reden, da genügte es ihr nun wirklich. Sie holte mit dem eisenbeschlagenen Stiefel aus - und sandte dieses Ding auf eine kleine Weltreise mit Ausblick auf den Wald unter sich. Irgendwo würde es schon wieder landen, keine Frage. Doch mit einer unaussprechlichen Genugtuung im Blick wurde sich das Spitzohr darüber klar, dass es keine schöne Landung werden wurde, nicht sanft und nicht angenehm - und das allein der Tritt mit diesem Stiefel vermutlich schon mehr Wunden verursacht hatte, als selbst der stärkste Überlebenswille würde überwinden können. Alistair dagegen begriff endlich, dass er sie zusätzlich reizte und hielt seinen überdimensionierten Mund… … für ein paar Minuten. Dann begann er langsam und vorsichtig, aber schlicht unaufhaltsam wieder daher zu plappern. Das zog sich weiter, bis sie endlich jemandem begegneten. Ein dürrer Fischer, wie die Elbe vermutete. Fast zwei Stunden waren sie marschiert und dies war also die erste Seele, die ihnen in diesem gottverlassenen Flecken Erde begegnete. Ein Fischer. Miefig, heruntergekommen, mit offenbar ausgeschlagenen oder ausgefallenen Zähnen und unter einer Reihe von Lumpen und Fetzen verhüllt. „He da!“ grüßte Ashes zunächst rau und wies den Burschen an, stehen zu bleiben. Das Gespräch, welches sich ergab, war für die Anforderungen der Elbe fast schon angenehm. Sie fragte nicht, wo sie hier waren, sondern, wie sie zum nächsten Hafen kämen. Sie wollte auch nicht wissen, wer er war, woher er kam, ob er von Sturm, Unwetter, Schiffbruch oder etwas dergleichen auch nur das Geringste bemerkt hätte. Nur eine Frage - und tatsächlich bekam sie nur eine knappe, präzise Antwort. Wie vermutet, befanden sie sich auf einer alten, kaum noch genutzten Handelsstraße. Das war ein guter Anfang - zum nächsten Hafen aber, so erklärte der Fischer ihnen, ginge es ein paar Tage Fußmarsch in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Würden sie dagegen weiter in die falsche Richtung laufen, wären sie in ein paar Tagen in seinem Dorf, so klärte er sie auf und lächelte feist unter seinen tief ins Gesicht gezogenen Lumpen hervor. Auf die Bekanntschaft mit noch mehr Leuten konnte Ashes gut verzichten - auf Bekanntschaft mit noch mehr Leuten wie dem erst Recht. Ihr Hemd war längst getrocknet und er schien auf die typisch männlich-magische Weise dennoch hindurchsehen zu können. Oder er wollte es einfach nur - was spielte das für eine Rolle? Ohne Dank machten sie also Kehrt und trabten die nächsten zwei Stunden einen gut bekannten Abschnitt der Straße wieder zurück, ehe sie am Ausgangspunkt angelangt darüber hinaus der Straße weiter und weiter folgten. Der erste Tag neigte sich dem Ende. Entgegen Alistairs Hoffnungen resultierte aus seinen vorsichtigen Annäherungsversuchen nicht etwa der nächste wilde Ritt, sondern vielmehr ein Verbandswechsel, der ihm reichlich zu schaffen machte. Wie die Söldnerin ihm erklärte, hatte er sich offenbar irgendwie die Schulter ausgerenkt. Als sie aufgewacht war, habe sie ihn so gefunden - und nach vielen Stunden Ruhe und Kälte erst das Gelenk zurück in seine Position bringen können. Er würde noch einige Tage unter Schmerzen leiden und hätte obendrein einige üble Kratzer gehabt. Was ‚Kratzer‘ für eine Söldnerin bedeuteten - obendrein für eine wie sie, die ihr verlorenes Auge auch gerne als Kratzer bezeichnete, wusste er nicht ganz… und er wahr aufrichtig froh, den Kopf nicht weit genug drehen zu können, damit seine Neugier ihm neuerliche Übelkeit bescheren könnte. Stattdessen begaben sie sich zur Ruhe, schliefen tief und fest beisammen und setzten am nächsten Morgen noch vor der Dämmerung ihren Marsch fort. Sie hatten theoretisch genug Essen und Trinken, doch Ashes kündigte bereits in den Vormittagsstunden an, das sie gewiss nicht die ganze Zeit von Früchten leben wollen würde - sie bevorzugte es, etwas zu töten und sein blutendes Fleisch ins Feuer zu hängen. Mit den voranschreitenden Tagesstunden aber änderte sich mehr als nur der Sonnenstand. Alistair, der ohnehin seit jeher eine furchtbare Orientierungsgabe hatte, bemerkte natürlich nicht das Geringste. Ashes jedoch wurde ernster. „Mir gefallt das alles nicht. Ein Fischerdorf und ein Hafen - warum nutzt niemand diese Straße? Und Häfen liegen auf Meereshöhe, alles andere macht keinen Sinn.“ Erst auf ihre Worte hin blickte sich der Langfinger erstmals seit einer ganzen Weile nach der See um, die wiederzusehen er eigentlich wenig Lust verspürte. Tatsächlich gelang ihm recht gut, das Wasser zu entdecken - überhaupt hatte er eine ganz annehmbare Aussicht. Vermutlich lag das daran, dass sie schon den halben Tag bergauf liefen. Kein richtiger Berg natürlich, die Steigung war alles andere als anstrengend, doch über Stunden hinweg war der Höhenunterschied auch nicht mehr zu leugnen. „Vielleicht ist es ja ein Hügel? Und der Hafen ist auf der anderen Seite, wo es wieder abfällt?“ rätselte der Dieb unbekümmert mit den Schultern zuckend. Er lächelte ihr sonnig zu, nannte sie eine Grüblerin und Schwarzseherin, ehe sie ihren Pfad weiter fortsetzten. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Am späten Abend jedoch, die Sonne sank bereits dem Horizont entgegen, offenbarte sich ihnen des Rätsels Lösung. Die Antwort, warum keiner die Straße nutzte und wo der Hafen lag. Den gab es wirklich - immerhin etwas. Und er war tatsächlich einige Tage entfernt. Ein gewaltiges Stück weiter konnten sie ihn als Schemen in der Ferne ausmachen. Er ließ sich erkennen, weil die Linien, die sich dort nahtlos an die Küste ansetzten, zu geradlinig waren, um einen natürlichen Ursprung zu haben. Dazwischen aber lag Wald. Sehr viel Wald. Und was wohl ohne jeden Zweifel noch wichtiger war: Direkt vor ihnen lag kein sanfter Hang, der wieder hinab führte. Nein. Die Straße endete abrupt. Offenkundig hatte es vor einer halben Ewigkeit bereits einen großen Erdrutsch gegeben. Das Pflaster endete mitten im Nirgendwo und der Abgrund vor ihnen, der stattlich in die Tiefe zurück auf Meerniveau zu führen schien, klaffte wie ein Loch und war hier und da bereits von älteren Bäumen bewachsen. Ashes erschien schier unmöglich, dass dieser Hurenbock davon nichts gewusst haben könnte. Alistair dagegen, nun… „Was für ein Ausblick!“ lobte der Querulant und wagte sich für einen genaueren Blick näher an den Abhang heran. Er spähte, sich vorsichtig vorbeugend, hinunter in die Tiefe. Ein See, wie es schien. Überhaupt - dort unten gab es ja gar keine Palmen mehr! „Ashes, schau nur, da ist ein-“ setzte der dürre Nordmann freudig an, wandte sich halb um und… bekam einen gewaltigen Schrecken. Einen Laut der Überraschung konnte er noch ausstoßen, ehe er panisch mit den Armen zu rudern begann. Er hatte sich unglücklich gedreht, die Pflastersteine unter seinen Füßen aus dem Fundament aus Sand und Wurzelwerk herausgedreht und nun begann natürlich alles abzurutschen. Bevor die Elbe aber rechtzeitig herbei sein und seine ausgestreckte Hand packen konnte, stürzte er bereits in die Tiefe - mit dem Bild vor Augen, wie der merkwürdige, in Lumpen gehüllte Fischer lächelnd hinter ihr gestanden hatte. Dabei war er sich sicher, ihn nicht einfach nur gesehen zu haben. Er war gesehen worden und… er glaubte, etwas unter den Lumpen erkannt zu haben. Ashes aber wirbelte herum und sah… nichts. Wovor war Alistair so erschrocken? Hastig näherte sie sich so weit dem Abhang, wie ihre Vorsicht es zuließ und spähte hinab. Mit etwas Glück - und ihrer Erfahrung nach hatte er davon meist genug und mehr, als er brauchte - wäre er direkt in jenen See gestürzt. Das wäre gewiss nicht gerade schmerzlos gewesen, schon gar nicht für seine Schulter, aber so hätte er zumindest überlebt. Sie… sah nur nichts. Gar nichts. Keine Wellen im See, keine wankenden Baumwipfel, keine Umrisse am Boden, er… war einfach weg? Rasch nur wurde ihr klar, dass sie irgendwie dort hinunter gelangen musste. Der Weg aber, der sicher wäre, war weit, sie würde kostbare Zeit verlieren, doch… sie war nicht Alistair. Sie besaß nicht sein Glück und verließ sich allzeit nur auf ihr Können - und das nicht grundlos. Auch diesmal war sie nicht gewillt, sich Zufällen oder dem Willen der Götter anzuvertrauen und wählte stattdessen den Pfad, den sie vor sich verantworten konnte.   „Was für eine Aussicht…“ nuschelte der Langfinger völlig desorientiert, als er langsam wieder zu sich kam. Die erste Reaktion war, dass er sich ebenso fahrig wie hastig mit dem Handrücken über den Mund wischte. Hatte er gesabbert? Nein, nicht wirklich… oder? Doch allein die Regung verzieh ihm sein Körper nicht recht. Sein Kopf schmerzte abrupt, sein Genick verspannte sich undankbar und dann war da noch die Schulter, die weiterhin- Doch wo war er hier überhaupt? Über ihm sah er keinen Flecken Himmel. Nicht mehr als die ständig lückenlos ineinandergreifenden Kronen dieser skurril gewachsenen Bäume. War er nicht eigentlich einen Hang hinab gestürzt? Unsicher richtete er sich trotz des dröhnenden Schädels noch ein Stück auf, befühlte die kleine Platzwunde an seiner Stirn und sah sich genauer um. Dabei wurde selbst dem schmächtigen Nordmann mulmig zumute. Er saß. Er lehnte an einem Baum. Wenn er aber gestürzt war, aus großer Höhe obendrein… allein die Höhe hätte ihm beim Aufprall schon alle Knochen brechen müssen. Und niemand, niemand stürzte so glücklich, das er friedlich an einen Baum gelehnt in Ohnmacht fiel. Hatte ihn jemand gefangen? Bewegt, nachdem er abgestürzt war? Erst nach und nach begann er sich auch des Grundes für seinen Fall zu entsinnen. Da hatte dieser alte Lumpenfischer hinter Ashes gestanden, gegrinst… ganz so, als wüsste er, was gleich geschehen würde. Nein, er wusste es. Ganz sicher! Und dieser Schemen unter den Fetzen seiner Kleider… „Ashes?!“ rief der Dieb, als er sich langsam auf die Füße richtete und seine Kleider abputzte. Dabei wollte er nicht einfach nur die Krumen der Erde und die vereinzelten Blätter und Kletten loswerden, sondern auch prüfen, ob ihm etwas gestohlen worden war oder er beim Sturz schlicht etwas verloren hätte. Doch alles, bis auf den letzten Draht, war noch genau dort, wo er es zurückgelassen hatte. Wie merkwürdig… ein paar seiner Taschen waren nun wirklich nicht so beschaffen, im freien Fall ihren Inhalt bei sich halten zu können. „Ashes?!“ rief der Lairuiner abermals, doch die Elbe antwortete noch immer nicht. Sein Blick fiel zweifelnd auf die Bäume um ihn herum. Ihre Rinde barg tiefe Furchen, aber ihre Äste begannen erst in höheren Regionen. Er war kein guter Fassadenkletterer gewesen, nie ein Meister Flöte, daher verlockte es ihn wenig, seine Künste im Erklimmen der Wipfel auszuprobieren. Lieber, so entschied er, würde er eine kleine Lichtung suchen und von dort aus hinauf starren. Irgendwo musste er ja die Klippe sehen können und dann wüsste er, wo er war und wo Ashes wäre und wie sie wieder zueinander finden könnten. Durch seinen glorreichen wie schlichten Plan mit neuem Optimismus bestärkt, setzte der Langfinger ein gut gelauntes Lächeln auf und stakste davon durch das Unterholz und dichte Gras des Waldes. Eine ganze Weile marschierte er in ständig wechselndem Tempo, denn mal verfolgte er einen kleinen Schmetterling durch die Baumreihen, mal jagte er etwas, das für ihn wie ein Rehkitz aussah oder verfolgte ein Gürteltier bei seiner zweifellos beschwerlichen Wanderung. Immerhin musste es diesen ganzen Panzer mit sich herum schleppen! Als er schließlich eher ziellos denn wirklich fokussiert auf die Lichtung hinaus trat, die er zwar eigentlich gesucht, dann aber auch wieder aus den Augen verloren hatte, blickte er sich nur kurz im zurückliegenden Wald um, ehe er das Haupt in den Nacken legte. Nun - Himmel sah er. Aber die Bäume standen zu hoch, zu dicht und nah, um die Klippen zu sehen. Ohnehin hatte er ja nicht die leiseste Ahnung, welche Route er die ganze Zeit gelaufen war, wohin sein Weg ihn geführt hatte. Tatsächlich war hatten seine Füße mehrfach die Richtung gewechselt, ihn einmal im Kreis geführt und ein gutes Stück von seinem eigentlichen Weg abgebracht. Nun trat er Schritt für Schritt rückwärts, die Bäume wurden dem Empfinden nach kleiner, überschaubarer und dann, ganz unvermittelt, tauchte die Felskante in der Ferne auf. Leider wurde ihm auch schmerzlich klar: Er wusste nicht mehr genau, von wo er gestürzt war. Der Hang war überwuchert, begrünt durch die Dekaden des Desinteresses an der Wiederherstellung der Straße. Es gab Vorsprünge hier und da, er hätte von jedem davon herabgepurzelt sein können. Von Ashes aber fehlte natürlich dennoch jede Spur. Wie närrisch war auch der Gedanke, ja fast schon die Hoffnung gewesen, er würde sie jetzt dort oben stehen, wenig amüsiert die Arme vor der Brust verschränken und ihn wortlosen Blickes über diese Entfernung heraufzitieren sehen. Stattdessen keine weißhaarige Elbe, nur Stein, Bäume und noch mehr Gestein. Als er sich dagegen umwandte, um ein wenig niedergeschlagen eine gute Sitzgelegenheit zu finden, auf der er seine weiteren Pläne würde schmieden können, erschrak er einen kurzen Moment. Da lag jemand. Einfach so. „Äh… hm… Ma’am…? Lady?... Äh… Herrin?... Hallo?“ Recht zügig gingen ihm die Ansprachen aus - was gab es denn noch für Titel? Statt sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen, näherte er sich der Gestalt vorsichtig an. Dabei beschämte ihn durchaus ein wenig, dass sie völlig unbekleidet war. Obendrein schien es sich um einen Tiefling zu handeln. Ihr Schwanz zuckte manchmal - erst durch diese unvermittelte Bewegung im Gras hatte er ihn bemerken können. Womöglich wäre er sonst sogar noch darauf getreten. Ihre Hörner aber hatten sie verraten, die Schuppen und die mehr als magere Figur. Sie klammerte sich an einen verrottenden Baumstumpf, das Haupt gegen eine Stelle gedrückt, die mit Moos bewachsen war. Erst als Alistair nah genug herangetreten war, bemerkte er, das sie ihn schlecht würde hören können - sie schlief augenscheinlich. In ihren Träumen mochte sie den Baumstamm für sonstwas halten… oder für irgendwen - ihm war es gleich. Wichtiger war: Er hatte keine Ahnung, wo er sich hier befand, wie er von hier wegkommen könnte und wie er zurück zur Zivilisation und zu Ashes fände. Sie dagegen schien hier heimisch und könnte ihm möglicherweise helfen. Insgeheim sah er schon vor seinem geistigen Auge, wie er sie antippte, sie ihn ansprang und während ihre Krallen seine Innereien nach außen verkehrten, stand Ashes kopfschüttelnd daneben, mit diesem ‚Das geschieht dir recht!‘-Blick. Immer wieder hatte sie bemängelt, er sei viel zu vertrauensselig. Zu aufgeschlossen für jemanden, der als Dieb tätig war. Dennoch machte er sein Handwerk gut, wahrlich sehr gut sogar. Vielleicht irrt sie sich ja auch einfach? Selbst Ashes würde ja wohl von Zeit zu Zeit mal Unrecht haben können…! Beherzt trat er also näher, tippte die Schlafende an und flüsterte ihr leise zu. „Könntet ihr wohl bitte aufwachen? Ich… hm… hallo?“ Regung kam in den zierlichen Leib, sie blinzelte, gelbe Augen erforschten das Moos, welches einen kalten, nassen Abdruck auf ihrer Wange hinterlassen hatte, flirrten über das Gras, den verrotteten Baumstamm, den Wald, fixierten schließlich ihn. Mit einem Ruck aber… schien sich seine Vision zu erfüllen. Der Tiefling sprang ihn aus dem Liegen heraus mit einer unmenschlichen Agilität an, riss den völlig überrascht ausrufenden Langfinger zu Boden und wetzte bereits die Klingen, um sie in seine Kehle zu stoßen. Mit aller gebotenen Hast und Eile kramte er etwas Staub aus seinem Beutel hervor und pustete ihn schnellstmöglich der Aggressorin ins Gesicht. Ein kurzes Niesen folgte, ehe sie die Wolke bei Seite wedelte, ausholte… schwankte… und schließlich von ihm herab rutschte. Dabei war er selbst jetzt noch bemüht, sie nicht zu Schaden kommen zu lassen. Alistair konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit seiner Landung zu tun hatte oder ihm wirklich Böses wollte. Er hatte sie beim Schlafen gestört, sie überrascht und vielleicht war ihr auch irgendwie peinlich, mit einem Baum geschlafen zu haben. Oder sie hatte noch nie Menschen gesehen? Immerhin war sie unbekleidet. Lebte sie möglicherweise fernab aller Zivilisation seit jeher hier im Wald? Das würde natürlich umso komplizierter machen, was er beabsichtigte. Mit ein paar Ranken, die er von den Bäumen zog und vom Boden aufsammelte, fesselte er sie an den nächstbesten Baum und band ihr die Hände hinter dem Rücken zusammen. Dann kauerte er sich auf den Boden wenige Meter vor ihr und… wartete. Derweil trank er einen Schluck aus der kleinen Flasche, welche er und Ashes bei dem Brunnen aufgefüllt hatten. Vermutlich verfluchte sie inzwischen, ihm dieses Ding anvertraut zu haben. Ohnehin, die Sonne stand noch am Himmel - wie war das denn möglich? Es war doch schon später Abend gewesen, als er überhaupt erst hinab stürzte. Dann war er erwacht, Stunden gelaufen… hatte er etwa einen ganzen Tag dort gesessen? Die krampfenden Verspannungen in seinem Nacken schienen gewillt, das lautstark zu bejahen. Just aber, als er sich darüber so recht wundern wollte, kehrte endlich wieder Leben in die festgebundene Gestalt ein. Fast augenblicklich gab es einen Ruck an den Ranken. „Nicht doch, bitte! Das ist ein wirklich guter Knoten. Verstehst du mich? Du kannst nicht-“ wollte er ihr erklären, doch ganz so nutzlos schienen ihre Bestrebungen gar nicht zu sein. Mit einem weiteren Ruck riss sich die dürre Gestalt plötzlich los. Er kam gerade noch schnell genug auf die Füße, da war sie schon direkt bei ihm, ihre krallenbewehrte Hand packte seine Kehle, drängte ihn hastige Schritte zurück gegen einen anderen Baum. „Der Knoten issst gut“, fauchte sie erbost, „Aber die Ranken kann man zerssschneiden!“ Als wolle sie ihre Worte untermauern, streckte sie den linken Arm aus und kratzte über die Rinde eines nahestehenden zweiten Baumes. Kleine Holzspäne lösten sich aus der aufgewetzten Rinde, sodass Alistair bei der Vorstellung, sie könne das auch mit seinem Hals machen, unweigerlich schlecht wurde. „I-Ich wollte doch nur wissen, w-wie ich zu einem Hafen komme?!“ krächzte er unter zunehmendem Luftmangel, je fester ihre Klauen sich um seine Kehle schlossen. Schließlich aber wurde der Druck konstant, statt sich weiter zu erhöhen. Ihre Augen verengten sich fast zu Schlitzen, die gelben Iriden bohrten sich durch ihn hindurch, ehe sie abermals die Linke ausstreckte und etwas in die Rinde schnitt. Nur bemüht konnte er das Haupt weit genug drehen, um es sehen zu können. Umso erstaunter war er bei diesem Anblick, zog fast ruckartig den Kopf zurück und gaffte sie wider aller Höflichkeit erstaunt an. „Die… Die Gilde…?“ Für Ximasxi schien das allein noch lange kein Grund, ihn freizugeben. Tatsächlich aber irrte sie sich wohl nicht - sie kannte diesen kleinen Dummkopf. „Alissstair, richtig?“ hakte sie ihrer Vermutung folgend nach. Als er sich um ein Nicken bemühte, lockerte sich ihr Griff etwas, gab ihn jedoch immer noch nicht völlig frei. „Wass machsst du hier? Warum versschleppsst du mich hierher?“ Nun war es an dem Langfinger, völlig verwirrt drein zu blicken. Immerhin, dessen erinnerte sich der Tiefling, hatte dieser Einfallspinsel sein Herz auf der Zunge getragen. Ob er es je gelernt hatte, wusste sie nicht, aber er konnte einfach nicht schauspielern. Die meisten Lügen konnte ihm jemand mit Erfahrung sofort an der Nase ablesen. Sie hatten damals in Sundergrad nur wenig miteinander zu tun gehabt. Er war irgendwie immer Aedans Freund gewesen und sie Aedans… Schützling? Ganz gleich, wie ihre Rolle ausgesehen haben mochte, sie hatten kaum Worte gewechselt. Hier und da hatte er von ihr gehört, sie von ihm, aber dabei blieb es auch. War es das also? Die Gilde konnte einfach nicht aufgeben und man hatte sie jagen lassen? Hatte man ausgerechnet ihn geschickt? Aber warum dann einen Dieb? Warum war sie nicht tot, hingerichtet von einem Assassinen? Vielleicht hatte er sie ja nie umbringen, sondern lediglich zurückbringen sollen. Wollte man ihr also daheim in aller Öffentlichkeit den Galgen schenken, den Prozess machen? Oder sie abermals zu rekrutieren versuchen? Er gaffte sie jedoch an, als hätte er von all ihren leise gezischelten Vorwürfen nie etwas gehört - und sie glaubte ihm sogar. „Du hassst mich betäubt“, warf sie ihm schließlich vor und Alistair zuckte ungeachtet seiner Situation mit den Schultern und grinste, „Du hast mich angegriffen!“, erklärte er daraufhin konternd. Auf die Frage dagegen, was er hier machen würde, hatte sie eine kurze, knappe Antwort erwartet. Etwas Befriedigendes, Erklärendes oder zumindest Prägnantes. Aber es stimmte, was man über den Nordmann erzählte: Hatte er einmal begonnen, konnte er einfach partout nicht mehr den Mund halten. Sie ließ ihn schließlich los, als sie von einer gebuchten Reise nach Anadyr und dem Schiffbruch hörte. Insgeheim aber wünschte sie sich, sie hätte ihm die Kehle weiter zugedrückt. Mit genug Luft zum Atmen, aber zu wenig zum Reden - das wäre das Idealmaß gewesen. Vielleicht könnte sie aus ihren Fesseln eine Leine für ihn bauen, die genau das bewerkstelligen würde - ein kurzweilig sehr verlockender Gedanke. Alistair langweilte sie mit dem immer ausführlicheren und detaillierten Bericht über die Bruchlandung am Strand, die Straße, die Brunnen, die verdammten Gürteltiere, dem Fischer, dem Absturz - es war fürchterlich. Wie konnte jemand so viel reden?! „Dummer Junge, nur am reden…“ fluchte sie leise in ihrer Muttersprache. Abrupt aber war der blasse Dieb still und sah sie verstimmt an. „Selber, du… du blödes Rindvieh!“ Von Fluchen und Kontern verstand der Langfinger ganz offensichtlich also auch nicht das Geringste und obgleich sie darüber schmunzeln musste, schockierte sie ebenso die Tatsache, dass er sie nicht nur verstanden hatte… nein, er hatte ihr sogar geantwortet. Offenkundig schlechter Aussprache, seine Zunge war für das Gezischel von Ihresgleichen einfach nicht geschaffen, aber… die Strukturen der Worte, die Intonation, alles war erkennbar geblieben. „Woher kannst du das?“ verlangte sie neuerlich verengten Blickes zu wissen und setzte die Krallen drohend wieder auf seine Brust. „I-Ich… äh… in Lumiél, da gab es einen kleinen… also… Zwischenfall, am Höllenschlund, mit einigen Drow und ein paar Dämonen und… naja…“ Ahnend, dass er nun wieder die halbe Weltgeschichte auspacken würde, ließ sie neuerlich von ihm ab und wandte sich dem ihrer Schätzung nach höchsten Baum in der Nähe zu. Ungeachtet des Geplappers hinter sich schritt sie auf den Stamm zu, seufzte nur einen kurzen Augenblick gequält, als sich das Gequake nicht etwa entfernte, weil er stehen blieb, sondern kontinuierlich ein kleines Stück hinter ihr blieb. „Wo gehst du denn hin?“ hakte der Dieb ernüchtert nach, als seine vermeintliche Zuhörerin die Krallen in die Rinde schlug und flink wie ein Wiesel einfach den Baum heraufkletterte. „Ich kenne dieses Land nicht gut und diesen Wald gleich gar nicht. Ich muss wissen, wo wir sind, sonst kommen wir hier nie raus.“ Das… leuchtete durchaus ein, wie Alistair befand, aber einen kurzen Moment lang fühlte sich seine Männlichkeit angegriffen. „Und wenn ich nun eine Karte hätte?“ hielt er dagegen und erntete einen spöttischen Blick. „Du kannst Karten nicht mal lesen! Und Schiffbrüchige haben keine Karten. Nicht von der Gegend, in der sie angespült werden. Außerdem würdest du dich sowieso alle drei Schritt verlaufen. Du hast dich sogar in Sundergrad verlaufen, nur weil wir unter der Erde waren!“ Verdattert gaffte der Nordmann in die Krone hinauf. Von Ximasxi war nichts mehr zu sehen, aber er hörte und sah das Geraschel noch. Wer war sie nur? Er erinnerte sich vage an einen Tiefling, damals in Sundergrad. Aedans Liebling, hatte es hier und da geheißen. „Ich hatte mich nicht verlaufen, ich… ich war auf Entdeckungsreise!“ wehrte er sich eher verzweifelt. Daraufhin drang ein fast schon mädchenhaftes Gekicher aus der wippenden Krone heraus, als ihr Schwanz sich einen ausgestreckten Zeigefinger ersetzend schwenkte und ihm damit wortlos bekunden sollte, das er nicht lügen dürfe. „Du hast nicht einmal erkannt, dass der Stein dort im Südviertel einen gelben Schwefeleinschlag hatte und im Norden grauer Granit war…!“ hörte er das noch immer kichernde Flüstern von oben. Fast schon bockig verschränkte er die Arme vor der Brust. Wie wenig es ihm jetzt noch gefiel, sich endlich zu erinnern, wer sie war. Sie hatte ihn damals schon damit aufgezogen. Seine Nase müsse vollkommen ruiniert sein, wenn er die befeuchteten Schwefelsteine nicht riechen konnte. Tatsächlich verfügte er einfach nicht über ihre Sinnesleistung, aber das hatte weder damals eine Rolle gespielt… noch tat es das heute. Schließlich kam der Tiefling wieder aus der Krone herab und sprang aus beachtlicher Höhe vom Ast ab. Sie landete grazil und sicher keinen Meter von ihm entfernt auf ihren Klauen und richtete sich auf. „Ich muss zurück nach Hause, dringend. Auf dem Weg liegen zwei Dörfer und eine Stadt. Eine Hafenstadt. Wenn du mein Tempo mithalten kannst, dann darfst du mitkommen. Es sind ein paar Tage Marsch. Oh und, gib mir deine Weste.“ Die gute Nachricht wurde sogleich verdrängt. Hatte sich Alistair anfangs noch freuen können, das die Zivilisation offenbar gar nicht so weit fort war, grämte ihn ihre Forderung sogleich ein Stück mehr. „Nein! Wieso überhaupt?“ wehrte er ihr Verlangen ab und trat gar einen Schritt zurück. Ihre Miene jedoch wurde auf eine bedrohliche Art freundlicher, als sie den gewonnenen Abstand sogleich wieder schmelzen ließ. „Weil du mir schon zu oft auf die Brüste gegafft hast und ich sicher nicht einen einzigen Schritt in ein Dorf setzen werde, solange ich nackt bin!“ Oh nun, das… war ein Grund, ja. Dennoch schälte sich der Lairuiner nur ungern aus seiner Weste heraus, aber was wäre schon die Alternative gewesen? Entweder führte Ximasxi ihn dann endlos im Kreis… oder einfach gar nicht. Oder noch besser, sie schnitt ihm die Weste vom Leib und dabei möglicherweise noch gleich ein paar Schuhe aus seiner Haut heraus. Auf jede der Versionen konnte er getrost verzichten, weshalb er schließlich klein bei gab. Als sie sich gemeinsam in Bewegung setzten, hielt sich Alistair ein Stück hinter ihr. Nicht ganz grundlos. Zum einen wollte er nicht fortwährend aus ihren miesen Launen heraus die Krallen an der Kehle spüren - bei Ashes war es nicht anders, aber deren Fingernägel konnten einem immerhin nicht die Kehle aufschlitzen. Zum anderen jedoch reichte seine Weste nur sehr, sehr notdürftig über ihr Gesäß und wenn er schon mit einer übellaunigen, ehemaligen Gildendiebin wie ihr durch den Wald staksten musste, dann tat er es lieber mit einer hübschen Aussicht. „Sag mal, wenn du ein eigenes Haus hast, warum schläfst du dann hier im Wald?“ hakte er nur wenige Minuten, nachdem sie sich Ruhe ausgebeten hatte, abermals nach. Der Hinweis, dass er seine Energie aufs Laufen konzentrieren und seinen Atem für den Marsch sparen solle, schien nicht sonderlich gut oder lange gefruchtet zu haben. „Es ist nicht mein Haus“, er widerte sie schroff und knapp angebunden. Davon aber ließ sich der Nordländer nicht abbringen. „Sagtest du nicht-“ „Ich sagte, ich muss nach Hause“, fiel sie ihm rüde ins Wort. Die Hoffnung aber, damit seine Neugier oder seinen Redefluss zerschlagen zu haben, schwankte - und kippte schneller um, als sie befürchtet hatte. „Und warum schläfst du im Wald?“ hakte er weiter nach und strapazierte damit gehörig ihr empfindliches Nervenkostüm. „Tat ich nicht. Ich schlief in meinem Bett ein und wachte im Wald auf!“ fauchte sie schließlich. Warum sonst hätte sie ihn denn anfahren sollen, was er sich erdreiste, sie zu entführen? Den Kopf schüttelnd musste sie jedoch einsehen, dass das Thema nicht beendet war. Das wäre es vermutlich nie, ging es nach Alistair. „Du schlafwandelst also?“ Er fand immer etwas zum Reden. Und wenn er das gesamte Gespräch alleine führen musste…! „Wir sollten hier verschwinden, es wird bald dunkel“, erwiderte sie statt einer richtigen Antwort. Als er sich verhalten umsah und fragte, ob es hier denn Wölfe und Bären gäbe, wurde ihr Blick deutlich finsterer. „Schlimmer… Menschen.“   Fast zwei Tage brauchten sie, ehe sie das erste Dorf erreichten. Eine Aussparung im tiefen, dichten Wald hatte die Position verraten, von den Hütten selbst war bei ihrem Ausblick noch nicht viel zu sehen gewesen. Inzwischen lagen Ximasxis Nerven blank und sie hatte ihren Begleiter mehr als nur einmal angeschrien. Er wollte mit ihr darüber diskutieren, wo sie hier eigentlich waren, doch Fakt war: Sie wusste es nicht. Sie wollte es nicht wissen. Sie hatte sich nie für dieses Land, seinen Namen oder sein Volk interessiert. Menschen, überwiegend. Ein Flecken Erde war ihr so gut wie der andere. Er hatte mit ihr über die merkwürdige Vegetation sprechen wollen, doch sie kannte die Namen dieser Bäume nicht. Ihre Früchte waren essbar, etwas zäh und faserig, aber essbar. Über das Getier wollte er ebenso reden. Gürteltiere fand er wunderbar, wie es schien, darüber konnte er Stunden reden… und tat es auch. Als wäre jede verdammte Panzerplatte einer genauen, minutiösen Untersuchung und Besprechung wert. Selbst über die verdammten Farben wollte er sprechen! Ob sie nicht auch befand, dass die Blätter hier in matterem Grün gehalten wären als die Kronen der Heimat. Ihr Hinweis, Sundergrad sei nicht unbedingt  von Wäldern gesäumt gewesen, brachte ihn kurz ins Wanken - vermutlich aus der Überraschung heraus, dass sie sich überhaupt zu einem kurzen Einwurf hatte hinreißen lassen. Wie es schien, stachelte ihn das aber nur noch mehr an. Er redete weiter, mehr, schneller, viel… mehr. Die wenigen Stunden Schlaf waren dagegen die reinste Wohltat. Sie begaben sich zur Ruhe, Ximasxi tat so, als wäre sie längst eingeschlafen und wartete ab, bis er ebenso in seine Traumlande entfleucht war. Dann setzte sie sich auf und bevor auch sie einschlief… genoss sie für einige hingebungsvolle Augenblicke die schlichte Stille. Natürlich herrschte in einem Wald nie völlige Ruhe. Aber das Säuseln des Windes in den Blättern, Kleingetier, das unvorsichtig durchs Unterholz schlich, ein paar jagende Vögel hier und da, die Kulisse war so viel entspannender, beruhigender als das ständige Geplapper in ihrem Rücken… Der Gedanke, ihn einfach liegen zu lassen und weiter zu gehen kam ihr mehr als einmal. Aber am Ende war Alistair noch immer ein Dieb der Gilde. Ihre Tage dort waren längst vorbei und doch… war die Gilde nicht völlig bedeutungslos geworden. Selbst nach all den Jahren nicht. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als man ihr den Auftrag erteilt hatte, Aedan zu töten. Sie hatte es nicht gekonnt und das wusste sie schon vor dem Versuch. Also hatte sie abgelehnt. Die erste wirkliche Weigerung. Dem Gildenmeister ging es prächtig, wie Alistair ihr versichert hatte. Er führte noch immer und der Rest folgte. Es gab wohl Abmachungen mit der Krone und Sundergrad gehörte noch immer zu einem Gutteil ihm. Das Leben war nicht unbedingt einfacher geworden, aber die Leute waren optimistischer. Oftmals vergnügter, besserer Laune und Zuversicht. Das allein, so unscheinbar die Veränderung wirkte, spülte sehr viel mehr Geld in die Taschen der Diebesgilde, als es früher der Fall gewesen war. Glückliche Leute spielten häufiger Karten, verzockten ihren Verdienst beim Würfeln, achteten weniger auf ihre Geldbörsen. Sie starrten zum Himmel auf, nicht auf ihren Gürtel herab. Sie lächelten Händlern zu, statt den davon flitzenden Kindern nachzubrüllen. Es waren Zeiten voller Möglichkeiten - solcher, die nicht länger aus Not und Verzweiflung heraus geschaffen wurden. Ein wenig Nostalgie war aufgekommen, hatte ihre Lippen versiegelt - und die des Langfingers gelockert. Mehr noch als ohnehin. Doch zumindest war Sundergrad ein Thema gewesen, bei welchem sie immer mit halbem Ohr zugehört hatte. Ewig blieb er dabei natürlich nicht, auch Alistairs Berichte erschöpften sich irgendwann an einem gewissen Punkt - jenem, an welchem er einfach zum nächsten, mal mehr, mal weniger naheliegenden Thema übersprang. Als sie gegen späten Abend die Ansammlung von Hütten erreichten, herrschte eine gewisse Stille zwischen ihnen. Ein paar Minuten war es her, da hatte sie ihn abermals angefaucht, er möge sich endlich beherrschen. Nun schlichen sie zwischen den Häusern entlang. Kleine Fachwerkshütten, die keine Ambitionen hatten, den Himmel berühren zu wollen. Sie blieben bodenständig flach, keines mit mehr als zwei Stockwerken. Eine Reihe von Häusern, Hütten, Scheunen, Lagern. Kein Wall, der sie vom umliegenden Wald abgrenzen würde. Vor einigen Jahrhunderten hatten Holzfäller einfach diesen Kreis ausgeschlagen, die Stümpfe abgebrannt und ihre Hütten darauf gebaut. Daraus war mit der Zeit das hier entstanden. Ein Dorf, welches völlig vom Wald lebte. Obwohl die Sonne bereits tief stand und die Dämmerung im vollen Gange war, hätte Alistair… mehr erwartet. Vor allem: mehr Leben. Sie sahen die Lichter der Kerzen und Öllampen in den Fenstern, sahen die Leute hier und da sogar an eben diesen Fenstern stehen, wie sie Blicke hinaus warfen und die Neuankömmlinge regelrecht durchbohrend damit begleiteten. Alistair sah hier und da einen Fleischhammer oder ein Kräuterbeil in einer Hand, die grimmigen Mienen, die leeren Straßen… all das war kein gutes Zeichen, wie selbst er befand. „Was ist hier los? Was ist mit all den Leuten?“ flüsterte er leise in die inzwischen gespenstisch wirkende Stille des Dorfes hinein. „Wir sollten nicht lange hier bleiben. Suchen wir uns ein abgelegenes Lager und verschanzen uns dort für die Nacht“, kündigte der Tiefling seinen Fragen ausweichend schlicht an. Sie taten, was Ximasxi verlangt hatte, kletterten einige Stiegen der Leiter herauf und tummelten sich zwischen muffigen alten Decken und Tüchern, die offenbar als Reserve für irgendetwas auf dem Heuspeicher einer Scheune abgelegt worden waren. Heu gab es hier im Wald natürlich keines - vielleicht sollte hier Vieh untergebracht sein, doch die gesamte Scheune wirkte eher alt, leer… baufällig und verlassen. Erst, als sie bereits eine gute Weile zur Ruhe gefunden hatten und kurz vor dem Einschlafen standen, wagte Alistair leise erneut zu fragen, was hier vor sich ginge. „Bürgerkrieg“, erwiderte sie knapp wie eh und je, „Sie belauern einander. Keiner weiß, wer auf wessen Seite steht.“ Der Gedanke, hier mitten zwischen die Fronten geraten zu sein und sich nun einfach zum Schlaf zu betten wollte Alistair nicht recht gefallen - doch was blieb schon als Alternative? Unsicher senkte er das Haupt, dankte kurz für die Aufklärung und versuchte über eine Stunde hinweg vergeblich einzuschlafen. Erst nach zähem Ringen mit sich selbst gelang ihm dies und selbst dann dauerte seine Ruhe nur ein paar wenige Stunden an. Sie wurde jäh unterbrochen, als sein Verstand begriff, dass diese Geräusche nicht etwa Teil seiner Träume waren, sondern die Begleiterscheinung tatsächlicher Kämpfe sein mussten. Er schreckte hastig auf, blickte sich um und wollte eigentlich seine Reisebegleitung wecken, die… fort war. Hatte man sie geschnappt? Entführt? Wollte man sie vielleicht gerade draußen feierlich hinrichten? Er hatte schon hin und wieder davon gehört, wie einfache Leute glaubten, Dämonen mit einer guten alten Verbrennung austreiben zu können. Dass sie dabei nur mehr austrieben als nur das Dämonenblut, nämlich gleich sämtliches Leben, das spielte wohl oftmals einfach keine entscheidende Rolle. Angetrieben von der Sorge hastete er schnellstmöglich die Stufen der Leiter wieder herab, doch kaum den Fuß auf den Boden gesetzt, schwang die Tür, die neben dem Scheunentor eingelassen war, brachial auf und donnerte gegen die Wand daneben. „Wir müssen sofort weg!“ fuhr die einstige Diebin den Nordmann an und eilte herbei. Sie waren also aufeinander losgegangen. Irgendwer hatte den ersten Stein geworfen… ein Messer, eine Beleidigung, was immer der Auslöser gewesen sein musste. Dort draußen, auf den Straßen des Dorfes, tobte ein blutiges Gemetzel von Handwerkern und Dachdeckern, Schmieden und Jägern, Förstern und Maurern, die mit allem, was ihnen in ihrem Haushalt in die Hände fiel und tödlich genug erschien, aufeinander losgingen. Vermutlich und dem Geschrei nach zu urteilen waren selbst ihre Weiber daran nicht unbeteiligt. Sich hier zu verschanzen war der Plan gewesen und vielleicht hätte das auch funktionieren können - doch Ximasxi war draußen gewesen. Weshalb, das würde er sie irgendwann fragen müssen, gewiss. Für den Augenblick aber sollten sie ihre Sachen packen und gehen - ihr gehetzter Ausdruck verriet, dass jemand sie gesehen hatte, möglicherweise sogar, wohin sie gerannt war. „Oben ist eine Luke“, erklärte der Langfinger hastig, der bei der Inspektion der Scheune als Lager auch keineswegs untätig gewesen war, sondern sich selbst einen Überblick über die Fluchtwege verschafft hatte - eine alte, aber nützliche Gewohnheit als Dieb und Freund einer Söldnerin, die ständig Ärger aufbrachte. Hinter der Scheune war altes Laub von vielen Jahrgängen, wie es schien, zu einem großen Komposthaufen aufgeschichtet worden. Dor verrottete es, von allerlei Getier durchwuchert und zerfressen und wurde allmählich zu guter Erde verwandelt. Keine angenehme Vorstellung sicherlich, aber immerhin müsste ihr Fall weich werden. „Schnell, wir sollten-“ Weiter brachte der schmächtige Langfinger es nicht, da bemerkte er die leise schleichende Gestalt am Eingang der Scheune, die sich unbemerkt hineingestohlen hatte. „Sie sind hier!“ kreischte der Eindringling aus voller Kehle, ehe er ein Hackebeil hob und auf sie zustürmte. Alistair, der bereits zur Leiter zurückgekehrt war, kam nicht schnell genug nah genug heran. Den Gildendolch bereits in der Rechten und Schattenschnitt, den geschenkten Drowdolch aus Morneth Belegor in der Linken, eilte er voran - kam jedoch zu spät. Ximasxi selbst konnte nicht mehr… als sich seitlich zu drehen. Die Klinge zog einen unschönen Riss durch ihre Flanke, warf sie zu Boden. Bevor ihr Angreifer aber nachsetzen konnte, bohrten sich die Dolche des schmächtigen Langfingers in seinen Bauch. Mit einem Ruck riss er die nah beisammen ins Fleisch getriebenen Klingen nach außen weg und schlitzte den Feind damit regelrecht auf. So rasch und behutsam wie Alistair möglich war, bugsierte er Ximasxi die Sprossen der Leiter hinauf, zurück auf den oberen Boden. Dort ließ sie sich ächzend in die Tücher fallen und presste noch immer die Wunde mit der Hand ab. „Lass sehen!“ verlangte der Nordmann lediglich und schob ihre Hand davon. Er hatte die Wunde befühlen wollen und tat das auch, doch als sie sich unglücklich drehte, ob vor Schmerz, Scham oder aus welchen Motiven auch immer, da bemerkte er etwas ganz Erstaunliches. Nicht etwa unter seiner rechten Hand, die auf ihrer Wunde auflag… sondern unter seiner Linken. Als sie bemerkte, was er erkannt hatte, starrten sie einander einen gedehnten Augenblick an. Eine Verhärtung in ihrem Magen, ihrem… Unterleib. Die Form aber war zu eindeutig und ihr ganzer Körper zu dürr, um diese Tatsache zu verbergen. „Los mach schon!“ fuhr sie ihn zischelnd an. Bemüht kramte er wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrend die Verbände heraus und begann diese großzügig um ihre Verletzung zu legen. „Ich dachte, du hast sie nicht alle… die Weste ist derb… nur ein kleiner Schnitt am Bauch, aber du reckst ihm die offene Niere hin…!“ faselte er dabei, während er den Verband befestigte. „Danke für dein Vertrauen!“ fauchte die einstige Diebin erbost, „Lass uns verschwinden!“ Sie erhob sich unter sichtlichen Mühen, die Schmerzen zu verbergen - erfolglos. „Denkst du, du kannst das? In… In… damit?“ hakte er nach und deutete auf sie. So ganz war nicht klar, ob er tatsächlich auf ihre Verletzung deutete oder… etwas anderes. Beides aber strafte sie mit einem garstigen Keifen, einem Fluch in ihrer Muttersprache, ehe sie das Fenster öffnete und ohne auf ihn zu warten in die Nacht sprang. Kurzentschlossen folgte Alistair ihr und half dem Tiefling daraufhin, sich aus dem Gewühl an Moder und Rottung wieder zu befreien. „Warum haben wir uns eigentlich nicht vorne rausgeschlichen? Die Scheune lag ein Stück abseits, nicht? Wir waren beide mal fähige Diebe, also… ich bin es immer noch!“ hakte er kurz nach, ehe er im Brustton der Überzeugung mögliche Missverständnisse aufklärte, „Wo warst du überhaupt?“ Insgeheim war ihr völlig klar, das sich nun nahtlos fortsetzen würde, was all die Stunden über geschehen war. Sie gab ein Wort von sich und er, er spann eine ganze Geschichte daraus. Dennoch befand sie, war die Erklärung nötig. „Ich wollte mir einen Überblick verschaffen. Wohin, wie weit… das nächste Dorf. Dann kam eine Soldatin, sie sprach mit einem der Bewohner… und schlug ihm die Nase in Stücke, als er die Stimme hob. Sie hat sich durch das halbe Dorf gemäht und stand praktisch schon fast vor den Scheunentoren, als ein ganzer Pulk sie beschäftigt hielt.“ Staunend lauschte Alistair den Berichten über die Geschehnisse. Offenbar waren es also nicht die Dörfler gewesen, die in Bürgerkriegszeiten und Ungewissheit auf den Auslöser gewartet hatten, um aufeinander loszugehen… sondern eine Soldatin war der Grund. Was war das nur für eine Obrigkeit, die einzelne Soldaten losschickte, um unschuldige Dörfler irgendwo in einem tiefen Wald aufzumischen? Doch eines musste er dieser Soldatin lassen: Sie besaß Schneid und Selbstbewusstsein, sich mit einem ganzen Dorf anzulegen…! Kurz nur glaubte er etwas zu ahnen… doch der Eindruck verflog rasch und ganz wie von Ximasxi befürchtet, begann der Langfinger daraufhin wieder zu plappern. Anfangs noch leise, weil sie dem Dorf nahe waren, dann jedoch mit steigender Entfernung wieder unbekümmerter. Was wünschte sie sich, sie hätte ihrem Drang nachgegeben und ihn einfach in der Scheune zurückgelassen! Stattdessen standen ihnen nun weitere vier Tage Marsch zum nächsten Walddorf bevor. Vier Tage Geplapper über Grüntöne, Gürteltierschalen und Steinformationen… kannte die Welt nur keine Gnade?! „Das… ist ein Ei, nicht? Oder? Das ist ein Ei, da… äh… in dir. Du… du legst doch Eier, oder?“ hörte sie ihn hinter sich plappern. Seufzend lenkte sie ein Stück weit ein. „Es ist mein Ei“, erklärte sie garstig zurückfauchend. „Dann… bist du schwanger, irgendwie, nicht?“ Ein verächtliches Stöhnen kam als Antwort, ehe sie ihm leise an den Kopf warf, dass sie nicht irgendwie schwanger war, sie war es. So einfach.  Natürlich gab er damit keine Ruhe. Er wollte mehr wissen. Ob der Vater davon wüsste, woraufhin sie schließlich zurückgab, dass jenes Haus, zu dem sie zurückkehren müsste, ja irgendwem gehören würde, nicht wahr? Das leuchtete ihm ein, veranlasste ihn aber zu noch einer ganzen Reihe weiterer Fragen. Wie sich zeigte, war Alistairs Neugier nicht nur unermesslich groß… sie kannte auch vollkommen schamlos keinerlei Grenzen. Eigentlich hatte sie ihn als ein Männchen in Erinnerung, das sich kaum traute, in der Nähe eines Weibes hörbar zu atmen. Diese Scheu aber hatte sich sehr zu ihrem Leidwesen fast völlig verloren, wie es schien. Auf diese Weise lernte jeder etwas dazu. Alistair, dessen Fragen die einstige Diebin schlicht überraschten, lernte, das auch Tieflinge ganz gewöhnlich den Akt vollziehen konnten und vor allem, dass das kleine Geschöpf, welches in ihr wuchs, nicht ihr erstes Kind werden würde. Daheim schien noch ein Nachwuchs bereits zu warten. Sie wollte den Namen nicht verraten, weder das Alter noch den Vater benennen, nicht ein Wort mehr als nötig gab sie preis, als sie erst einmal befand, genug über ihre Privatsachen verloren zu haben. Ximasxi dagegen musste schmerzlich lernen, das Alistair offenkundig dazu neigen konnte, jemanden zu bemuttern. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber plötzlich verhielt er sich nicht mehr, als habe er es mit einer versierten ehemaligen Diebin zu tun, sondern mit einer zurückgebliebenen Invaliden, die auf jede nur erdenkliche Weise Hilfe benötigte. Etwas, das ihre Nerven sogar noch ein ganzes Stück mehr strapazierte als die Tage zuvor, in denen er wenigstens nur und ausschließlich geplappert hatte, statt ihr zusätzlich auch noch jeden einzelnen Handgriff abnehmen zu wollen. Oh was konnten das für wunderbare vier Tage werden…!   Wie die Dinge meist liefen, hatte das Leben einen ganz eigenen, unerträglichen Sinn für Komödie, was in Ximasxis Fall bedeutete, dass sie sich beim Sprung in den Laubberg eine hässliche kleine Infektion eingefangen hatte. In den Tagen darauf brütete sie allmählich über deren Folgen, sah sich zunehmen geschwächt von ihrem Körper, der mit den wenigen Mitteln, die er hatte, gegen die Eindringlinge ankämpfte. Überraschenderweise war es Alistair, der daraufhin die Initiative ergriff. Natürlich bemutterte er sie weiterhin bestmöglich, wie hätte es anders sein können, doch diesmal… war sie durchaus gewillt, sich darauf einzulassen. Er bemühte sich, Früchte von den Bäumen zu holen, obgleich er nicht wie sie so exzellent und grazil an der Rinde heraufklettern konnte. Er sammelte Wasser zusammen und versorgte sie, während sie sich täglich immer kürzere, kleinere Strecken voran schleppten. Aus vier Tagen wurden sieben - und er redete. Jeden einzelnen Tag schien er sie mit seinem unablässigen Geplapper bei gleichbleibend schlechter Laune halten zu wollen. Dabei erzählte er nicht nur, wie er es vollbracht hatte, die Bäume hinauf zu kommen - seine zwei Dolche als Kletterhilfen missbrauchend -, sondern auch, wie er in Lairuinen aufgewachsen war. Dinge, die sie nie hören wollte, die sie auch weiterhin nicht interessierten und nach denen sie nie gefragt hatte. Vollkommen unaufgefordert tischte er ihr seine Lieblingsgeschichte auf: Die über eine Hasenfalle. Lairuiner Volk hatte groß wie ein Bär zu sein, stark wie ein Bär und laut wie ein Bär, hungrig wie ein Bär. Was sie von Bären unterschied? Nun, sie tranken weit mehr Alkohol und trugen die Felle nicht am ganzen Leib. Alistair aber hatte in einer kurzen Jugendphase kein Hasenfleisch essen wollen, weil er die Tiere lebendig gesehen und für viel zu niedlich befunden hatte. Schon bei diesem Teil der Geschichte durfte er sich einiges an Spott seitens der einstigen Gildendiebin gefallen lassen, doch er schluckte ihren Hohn schlicht herab und erzählte weiter. Er hatte sich also in den Kopf gesetzt, einen Hasen haben zu wollen - als Haustier. Also konstruierte er nach langen Tagen des Beobachtens, Lauerns und Durchdenkens eine kleine Falle. Der Grundgedanke war so simpel wie genial  - das musste nach einer anschaulichen Erläuterung sogar der Tiefling eingestehen, wenngleich sie das natürlich nie laut aussprach. Er installierte seine kleine Apparatur im Wald… und wartete zu lange ab. Die von ihm aufgebaute Falle funktionierte. Leider sogar sehr viel besser, als er sich das hatte vorstellen können. Sie fing den Schneehasen und die schiere Kraft des Mechanismus brachte ihn um. Der Blutgeruch lockte einen Wolf an und die Falle fing und tötete den Wolf. Ein paar Tage darauf lockte der Verwesungsgeruch einen Bären an - und die Falle, wie hätte es anders sein können, fing einen Bären. Immerhin: Der Bär überlebte dank seiner dicken Fettschicht die Falle selbst, entkam aber aus eigener Kraft nicht mehr. Im Dorf hatte man ihn, trotz all des Erfolges, ausgelacht. Ein Schneehasenjäger, der sich eine Mahlzeit als Haustier wünschte. Das allein war schon lächerlich genug gewesen. Aber wenn dieser Dummkopf sich dann auch noch darin versuchte, etwas Kleines zu fangen und seine Falle völlig darin versagte, nun - was sollte das dann erst sein? Dass er sie hinters Licht geführt hatte, bemerkte die Schwangere erst, als sie frustriert feststellen musste, sich auf eine Diskussion mit Alistair über seine Landsleute und das Wesen der Menschen eingelassen zu haben. Immerhin jedoch gelang es ihm hin und wieder, ein paar weitere Brocken zu unterschiedlichsten Themen aus ihr heraus zu kitzeln. Dabei begann sie allmählich zu ahnen, dass manche seiner Äußerungen einfach nur provozieren sollten und weder seinen Überzeugungen entsprachen, noch wirklich einen Teil des Gespräches oder gar den Beginn eines Neuen darstellen sollten. Warum aber er sie reizte, war ihr schleierhaft - weil ihr einfach nicht in den Sinn kam, das sie möglicherweise für ihre Verhältnisse so blass geworden war, dass der schmächtige Langfinger befürchtete, sie würde irgendwann einfach einbrechen und nicht wieder aufwachen. Immerhin gelang es ihnen gemeinsam auf diese Weise mit seinen teils lustig anzuschauenden Bemühungen um Versorgung und ihrem Orientierungssinn, das nächste Dorf zu erreichen. Abermals handelte es sich um eine Ansammlung von Häusern mitten im Wald, doch das Bild hatte sich dennoch spürbar verändert. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, das sie zur Mittagszeit hier ankamen und nicht erst in der Nacht. Doch alles in allem wirkte diese Siedlung weniger verschlossen. Freundlicher, heller. Die Häuser bestanden überwiegend aus Stein, die Straßen waren mit hellem Pflaster belegt, hier und da gab es einen hübsch anzuschauenden Garten. Sie schlenderten zwischen den Häusern umher, auf der Suche nach einem Heiler, einer Apotheke, vielleicht auch einfach einem Pferdegespann, welches sie ein gutes Stück in die richtige Richtung mitnehmen könnte. Längst hatte Alistair begriffen, woher Ximasxis Drängen und Drängeln rührte. Die Ablage ihres Eies stand bevor und die Brut wurde notwendig, sie wollte das in vertrauter, sicherer Umgebung tun und vor allem… in der Nähe des Vaters. Bevor sich ihnen jedoch die Gelegenheit bot, ihre Wunde versorgen zu lassen, wie sich das gehört hätte oder ein Transportmittel zu finden, erlitt der Tiefling einen weiteren Schwächeanfall. Sie brachhalb zusammen und wäre wohl zu Boden gestürzt, hätte Alistair sie nicht abgefangen und gestützt. In den letzten Tagen war das häufiger geschehen, zunehmend - und es bereitete ihm arges Kopfzerbrechen. Statt aber nach ihrem Wohl zu fragen, was sie die letzte Zeit immer mehr und mehr gereizt und zornig hatte reagieren lassen, setzte er ungeniert sein Geplapper fort - und hängte einfach eine provokante Herausforderung an. „… du bist eben schon einfach zu lange raus und außerdem hast du ja ein Kind bekommen, nicht? Du bist eine Mutter. Mütter können nicht stehlen. Du bist eine miserable Diebin, warst vielleicht mal gut, aber das ist vorbei. Schon lange vorbei. Wetten, dass du nicht mal einen Apfel dort im Laden stehlen kannst? Oder mich davon abhalten könntest?“ Wütend funkelte sie zu ihm herauf, lupfte eine Braue und akzeptierte schließlich die Herausforderung. Sie schob den schmächtigen Langfinger von sich, richtete sich auf und trat aller Blicke ungeachtet von ihm gefolgt in den kleinen Krämerladen ein, der einige Schritt entfernt mit dem Versprechen bester Qualität seine Waren anpries. Kaum durch die verglaste Tür eingetreten, knarrten hier und da ein paar Dielenbretter verräterisch. Leises, unauffälliges herumschleichen war damit fast unmöglich. Der Händler aber verließ seinen der Straße zugewandten, offenen Ladenteil. Natürlich behielt er die Auslagen weiterhin im Auge, er wollte ja nicht riskieren, dass einfach jemand vorbei schlich und seine vermeintliche Unachtsamkeit ausnutzte. Zugleich aber wollte er sich ganz und gar der eingetretenen Kundschaft widmen, die dem suchenden Blick nach offenbar mehr wünschte als nur eine Kleinigkeit zum Mitnehmen auf die Hand. Während Alistair freundlich lächelnd sogleich begann, eine ganze Weltgeschichte auszubreiten und den Krämer schlicht halb tot zu schwatzen, bemühte sich Ximasxi um etwas mehr Professionalität, bemerkte jedoch schnell, wie effektiv sich alles gestaltete. Alistairs Geplapper nervte nicht nur sie, es nervte schier jeden - den Händler eingeschlossen. Es ließ ihn geradezu pestilent wirken, obendrein aber auch ungefährlich. Das Augenmerk des Verkäufers lag fast ununterbrochen auf ihr, sie spürte diesen Blick in ihrem Nacken, während sie seine Waren auch nur ansah, während ihr Begleiter vermutlich längst seine Arbeit getan hatte. Es ließ sie innerlich brodeln, diesem Hund seinen Sieg zugestehen zu müssen, nur weil er einfach ständig und überall reden musste, doch… die Effektivität ließ sich nicht bestreiten. Er war ein dürres kleines Menschlein und sie nunmal das Dämonenscheusal. Ihresgleichen war ein fremder, gruseliger Anblick, egal, wohin sie kam. Die Blicke folgten. Daran änderte sich nie etwas. Als sie den Laden wieder verließen, streckte sich der Langfinger an ihrer Seite herzhaft, zog einen Apfel aus der Weste und biss hinein. „Ein wundervoller Tag, nicht?“ griente er breit daher, zog noch einen zweiten Apfel hervor und reichte ihn ihr herüber, „Gesund und lecker!“ verkündete er stolz - zumindest bis zu dem Augenblick, als eine regelmäßiges Scheppern und Klacken ihn ablenkte. Oh er kannte dieses Geräusch, er würde es immer und überall erkennen. Rüstungen mochten sich ändern, das Wappen war von Land zu Land ein anderes - aber wenn eine Kolonne Wächter aufmarschierte, dann klang das Fußgetrappel gepanzerter Stiefel doch immer ähnlich. Tatsächlich trat eine unscheinbare Gestalt von einem Schuster auf der anderen Straßenseite zu ihnen heran, während eine Doppelreihe von je sieben Mann vor ihnen Halt machte. Auf das gerufene „Aaachtung!“ hin wandten sie sich zu ihnen beiden um - und plötzlich senkten sich versetzt vierzehn Piken herab. Auf den ersten Moment hin erschreckte sich der blass gewordene Dieb fürchterlich, verschluckte sich gar an dem Apfel und hustete bemüht kontrolliert, ehe ihm klar wurde, das sämtliche vierzehn Piken ausschließlich auf ihn gerichtet waren - nicht eine auf Ximasxi. „Stimmt… ein wundervoller Tag“, pflichtete sie ihm mit hörbarer Erleichterung in der Stimme bei. Sie nahm dem ungläubig drein schauenden Alistair seinen Apfel aus der Hand, biss selbst herzhaft hinein und trat über - auf deren Seite. Jener unscheinbare Kerl, der sich von der anderen Straßenseite genähert hatte, entpuppte sich als Kommandant der kleinen Truppe… und offenbar als Bekannter der einstigen Diebin.  „Er hat mich nicht entführt“, erklärte die Gehörnte seufzend, „Auch wenn ich wünschte, er hätte“, schob sie deutlich leiser nach. Der Befehlshaber dagegen nahm den von ihr gereichten Apfel entgegen, blickte skeptisch auf das Stück Obst herab, zurück in die blasse, aber erfreute Miene des Tieflings und schließlich auf seine Männer und diese halbe Portion dort vor dem Laden. „Sicher? Unsere Befehle sind eindeutig!“ Oh das wusste sie, sie wusste es nur zu gut. Würde sie nun sagen, Alistair sei ihr Entführer, man würde ihn auf der Stelle aufspießen. Es wäre eine Wohltat gewesen und ihre Ohren, sie klagten und heulten um Vergeltung, doch… er hatte sie mit Wasser und Nahrung versorgt. Er hatte sie mit seinem Geplapper wütend gemacht, ihr damit Kraft gegeben, wann immer sie schwächelte. Stellenweise hatte er sie sogar getragen. Und in einer der Nächte hatte er einen frechen Wolf, einen einzelnen Streuner, fern gehalten, ohne am Morgen auch nur ein Wort davon zu erwähnen. „Sicher“, gab sie daher lediglich zu bemerken. Der Kommandant stieß einen Pfiff aus, vier der Männer traten ab und nur wenig später - niemand schien daran zu denken, Alistair irgendwas zu erklären oder auch nur, die Waffen von ihm zu nehmen - rollte eine geräumige Kutsche an. Ein überbordetes Luxusmodell, staffiert und gepolstert, mit purpurnen Vorhängen vor den verglasten Fenstern und allerlei Zierde und Tand. Der Miene der Schwangeren nach war sie von diesem Anblick ebenso ‚angetan‘ wie Alistair - obwohl der immerhin noch den Verkaufswert des Materials sehen konnte. Schließlich wurden die Piken gehoben und zwei Männer packten zu. Der Kommandant erklärte, er würde mit seinen Männern folgen, während Alistair zur Kutsche bugsiert wurde. Der Truppführer half Ximasxi die Trittstufen hinauf ins Innere, ehe man den schmächtigen Nordmann fast am Hosenbund gepackt und wie Fracht hinterhergeworfen hätte. Während sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung die Bank für sich hatte, wurde er von beiden Gerüsteten flankiert und auf der anderen Seite regelrecht eingequetscht. Gerade noch einen Blick konnte er aus dem Fenster erhaschen und- Ashes? Die Kutsche setzte sich bereits polternd und rumpelnd in Bewegung, eilte unter dem Zug von sechs kräftigen Gäulen davon, während der Nordmann nur für den kurzen, flüchtigen Augenblick eine silberhaarige Gestalt sehen konnte, die wie ein Berserker in die Gruppe der Pikenträger hinein sprang. Aber war das wirklich sie gewesen? „Wir müssen anhalten!“ forderte der Dieb, doch kaum versuchte er sich vorwärts zu bewegen, packte ihn einer der Panzerhandschuhe einer Wächter und verwies ihn rasch auf seinen Platz: Still und brav auf der Bank sitzend. Selbst, als er erklärte, warum er unbedingt halten wollte, interessierte das niemanden hier. Auch Ximasxi nicht. Ganz im Gegenteil, sie legte ihm ein letztes Mal nahe, endlich still zu sein. Ein paar wenige Stunden fuhren sie mit dem rasant durch die Landschaft jagenden Gespann, ehe das Tempo allmählich reduziert wurde und Alistair mehr sehen konnte als nur die hastig vorbeirauschende Landschaft. Er neigte sich jeweils zu jeder Seite herüber, schien die Wächter damit sichtlich in Bedrängnis zu bringen, während er versuchte, einen guten Blick zu bekommen. Was er sah, ließ ihn die wahre Pracht nur erahnen - bis man ihn schließlich aufforderte, auszusteigen. Sich seiner Rolle als Gefangener noch nicht wirklich bewusst, trat er die Stiegen der Kutschenstufen herab und drehte sich mit einem Strahlen im Gesicht im Kreis, all den Prunk regelrecht aufsaugend. Die Kutsche hatte ein hohes Gitter passiert, welches in seiner robusten Beschaffenheit und mit den hoch aufragenden Spitzen Eindringlinge besser fern hielt als jede simple Backsteinmauer es je vermocht hätte. Eine gewaltige, sehr gut gepflegte Gartenanlage wurde davon eingeschlossen. Zahlreiche Springbrunnen waren eingelassen worden. Manchmal spie ein Fisch das Wasser aus, manchmal mehrere Jungfrauen, die ihre Krüge ausschütteten. Die Künstler hatten sich hier ganz offenkundig verausgabt. Selbst mancher Baum und ein Großteil der Hecken war in spezielle Formen geschnitten worden. In einer der Figuren erkannte er sogar Ximasxi selbst, überall plätscherte es, blühten die gut sortierten Felder an farbigem Gewächs, der Duft strömte ihm in die Nase und bei jedem Schritt, den man ihn voran drängte, knirschte feiner, weißer Kies unter seinen Sohlen. „Das ist dein Haus?!“ brachte der staunende Dieb hervor und noch während er überlegte, was es wohl alles für Schätze und Wertsachen in dieser opulenten Residenz zu holen gäbe, fuhr ihn die Schwangere abermals an. „Nicht meines“, stellte sie letztmalig klar. Schon als sie auf den unteren Stufen zur Haustür angelangt waren, wurde diese geöffnet. Scheinbar hatte das Dienstpersonal sie schon von Weitem gesehen. Eilig kam man herbei, besah sich den verdreckten Verband, die entzündete Wunde und ließ sofort das halbe Haus aufmarschieren, um sie in Sicherheit zu bringen, sie aus diesen Lumpen herauszuschälen. „Bitte darauf aufpassen, da, d-da sind wichtige Sachen in den Taschen! Sie… hallo?... Nicht jede Tasche ist sichtbar!“ rief Alistair noch bemüht ins Haus nach, als man längst mit seiner Weste verschwunden war. Ximasxi verschwand kurz darauf ebenso, umringt und kaum noch sichtbar in ihrem Kreis aus Mägden und Knechten. Ihn dagegen schaffte man der letzten Anweisung der Hausherrin folgend in eine Art Salon und setzte ihn dort ab. Auf dem Weg allein hatte er sich schon ausgemalt, wie er hier irgendwann einmal einbrechen würde und was sich dann alles stehlen ließe. Bei dieser Pracht wäre es wohl sogar einiges wert gewesen, Hammer und Meißel mitzubringen und den Stuck in kleinen Steinplatten von der Decke zu kratzen. Die Gemälde an der Decke würde er natürlich nicht so leicht abbekommen. Überhaupt - wie hatten die Künstler sie da nur hinbekommen? Szenerien des himmlischen Friedens, so schien es, die ganze Säle und Räume einnahmen. Die Wände behangen mit zweifellos wertvollen Teppichen, die Böden mit fast royalen Läufern ausgelegt, hier und da kleine Büsten und Vitrinen, in denen Kostbarkeiten wie seltene oder alte Waffen und Rüstungsteile weggeschlossen waren. Natürlich kein einziges Schloss, welches ihn hätte aufhalten können. Und der Salon, in welchen man ihn brachte? Keine Wand ohne Bücherregal und schon beim Überfliegen der Titel, als er die Wände abschritt, kaum dass die Wachen sich zurückgezogen hatten, da wurde ihm der wahre Schatz in diesem Haus offenbar. Manche dieser Werke waren seit Jahren verboten, galten als verschollen, zerstört, waren schier ein Vermögen wert. Allein der Inhalt dieses Raumes war vermutlich mehr wert als das Grundstück, das Haus darauf und jeder Mitarbeiter darin! Der Gedanke, einfach eines der Bücher einzustecken, war… verlockend. Erst ein paar wenige Stunden darauf brachte man ihn fort, offenbar in einen anderen Flügel der Villa. Dort postierten sich die zwei Wachen, die ihn abgeholt hatten direkt zu beiden Seiten der Tür, während er selbst eintrat und Ximasxi vorfand. Sie ruhte in einem Bett, offenbar bestens versorgt und mit sauberen, guten Verbänden am Leib. Nunmehr trug sie auch nicht länger seine verwaschene alte Weste, nein, sie zeigte sich als feine Dame in einem edlen Nachthemd - ganz vornehm und sittlich, niemand hätte ihr jetzt noch ihre Herkunft als dreckiges kleinen Scheusal aus der Gosse Samaras oder gar Sundergrads unterstellen können, ohne sich dabei selbst schlecht zu fühlen. „Oh… mein… Gott…“ flüsterte der Langfinger, während er staunend und behutsam näher trat, „Ist er das…?“ flüsterte er leise, doch Ximasxi schüttelte lediglich den Kopf. „Sie“, korrigierte der Tiefling und lächelte sogar ein wenig, als der Dieb vorsichtig an die kleine Krippe heran trat. Darin strampelte und zappelte ein kleines Bündel Leben, wache, helle Augen in einem matten Gelbbraun strahlten ihm entgegen. Kleine Erhebungen an der Stirn kennzeichneten, wo in einigen Jahren vorsichtig Miniaturhörnchen durchbrechen würden. Die Finger waren schlank und liefen spitzer zu als üblich, ein kleiner Schwanz hatte sich um das linke Bein herabgewickelt - alles in allem sah man dem halb aus der wärmenden Decke herausgestrampelten Mädchen die menschliche Blutlinie sehr deutlich an, doch Ximasxis Anteil daran war ebenso wenig zu leugnen. „Sie ist sooo… hübsch…!“ nuschelte er leise und beugte sich zu dem hellwachen Kind herab, welches ohnehin aus großen, neugierigen Augen die ganze Zeit jede seiner Regungen verfolgt hatte. „Darf ich?“ hakte er nach, blickte kurz auf und wartete das Nicken Ximasxis ab, ehe er die Hand in die Krippe steckte. Die kleinen, schlangen Fingerchen schlossen sich um seine, sie schien einen Moment zu tasten, zu erforschen, ehe sie einen blubbernden Laut von sich gab - und herzhaft zubiss. „Autsch, verflixt!“ fluchte der schmächtige Nordmann, zog überrascht die Hand zurück und blickte den nicht blutenden, aber durchaus ein wenig schmerzhaften Abdruck nadelfeiner, kleiner Zähnchen an seiner Fingerspitze an. „Bissig? Sie kommen ganz nach der Mutter!“ Als sie ihn bat ihr das Mädchen zu bringen, wagte er nur vorsichtig den Griff in die Krippe. Er hatte nie mit Kindern zu tun gehabt, nicht mit… solch winzig kleinen Geschöpfen. Also wickelte er umso behutsamer die Decke um das kleine Gör, hob es heraus und trug es vorsichtig, aber rasch zu seiner Mutter. Irgendwie hatte er beständig Angst, er könne ihr irgendwie… wehtun. Sie wirkte so zerbrechlich. Als er sie abgab, in die Hände Ximasxis überreichte, blubberte das Mädchen abermals und gab ein helles Lachen von sich, welches dem Dieb ein tiefes Schmunzeln entlockte.   Nicht lange stand er bei der einstigen Gildendiebin, da überschlugen sich die Ereignisse abrupt - und obendrein auf höchst unschöne Weise. Tumult brach im Haus aus, Blut floss und Getöse wurde laut. Es gab keine Vorwarnung, keine Ankündigung, aber das Geschrei und Gepolter kam rasant näher. Schon war es direkt vor der Tür des Zimmers. Was immer dort draußen war, mischte die zwei verbliebenen Wachen, die letzte Linie zwischen Ximasxi und einem Feind, mit viel Lärm auf. Sie wurden gegen Wände geschleudert, eines der Bilder stürzte herab. Als der Rahmen auf die darunter befindliche Kommode knallte, erschrak der dünne Nordmann noch etwas mehr, starrte das Gemälde an und… wunderte sich reichlich, woher er dieses blondgelockte Gesicht nur kannte. Sekunden darauf krachte erstmals etwas gegen die Tür, mit einer solch unglaublichen Wucht, das es nicht mehr viele Kräfte gab, die das hätten erklären können. Ein zweiter Tritt des gepanzerten Stiefels ließ das Holz in einem kleinen Splitterregen niedergehen, der Rahmen verbog sich, das Metall gab nach und die Tür schwang auf. Die Wächter lagen im Gang, reglos, vielleicht sogar leblos - und wie eine Naturgewalt trat Ashes ein. Die Elbe hob das von Blut glänzende Schwert. „Du!“ fuhr sie die frühere Diebin bei deren Anblick an. Das Kind in ihren Armen, die verarztete Wunde an ihrer Hüfte, das sie überhaupt geschwächt wirkend im Bett lag - nichts davon schien die Silberhaarige zu bremsen, als sie die Waffe hebend an das Bett heran trat. Als sie aber zum Schwung ausholte, flog die Tür zum Nebenraum auf. In aller Hast und Eile, mit schierer Panik im Gesicht, stürzte sich jemand vor das Ruhelager des Tieflings. „Nicht! Nein, nicht!“ versuchte eine Stimme dem Spitzohr zu befehlen. Sie packte dieses freche Gesindel bei der Kehle, hob ihn empor, quetschte sämtliche Luft aus ihm heraus… und erkannte sein Gesicht. „Du…?“ wiederholte sie ihr bisher einziges Wort in fragendem Tonfall. „Bi-tte… n-nicht… bi…tte…“ krähte die rothaarige, sommersprossige kleine Gestalt und zappelte mit den Füßen auf der Suche nach Bodenkontakt. Der Blick der Einäugigen schweifte weiter zu dem Tiefling, welchen der kleine Rotfuchs so erpicht zu beschützen versuchte. Ein Mündel in ihren Armen. Und es wirkte sehr viel menschlicher als seine Mutter, die aus zornig verengten Schlitzen zu ihr herüber starrte. Alistair dagegen realisierte, was vor sich ging. Er begriff längst nicht alles, erkannte nur die Hälfte, aber ihm war klar, dass es an ihm war, die Lage zu entschärfen. Ohne ein Wort an Ximasxi zu verlieren, ohne tatsächlichen Abschied, griff er die über einem nahen Stuhl liegende Weste, warf sie sich über und eilte zu Ashes. „Gehen wir…?“ flüsterte er ihr leise zu. Ihr zorniges Funkeln fixierte ihn einen Moment, schien ihn in Brand zu stecken… ehe sie die lächerliche Gestalt eines einstmaligen Regenten auf das Bett warf. Wütend und dem Gefühl nach unverrichteter Dinge stapfte die Söldnerin den Weg zurück durch den Irrgarten dieses gewaltigen Hauses, während Alistair ihr erklären musste, dass er im Wald nicht von ihr entführt worden war. Ximasxi hatte genau das Gleiche von ihm vermutet, wohl weit länger, als er geglaubt hatte, war sie sich doch selbst im Dorf, als man sie fand, noch immer nicht völlig sicher gewesen. Er hingegen hatte einen Weg gesucht und war zufällig über sie gestolpert, von da an hatten sie sich zu einem Hafen durchschlagen wollen, damit die Chancen stiegen, dass er Ashes wiedersehen würde. Begeistert war sie von seiner Version nicht. Es gab Erklärungen. Dafür, warum er nicht unter dem Hang war, als sie dort ankam. Dafür, warum sie aus dem Dorf flohen, welches sie erreicht und nach ihm zu durchsuchen verlangt hatte. Warum man ihn wie einen Gefangenen in die Kutsche warf, just als sie ihn im letzten Dorf hatte abermals einholen können. Es erklärte aber nicht, warum er sich beim Sturz aus der Höhe nicht alle Knochen gebrochen hatte. Wie dieses Scheusal in den Wald gekommen war. Es erklärte nicht, wie ein Sturm gegen den Wind ziehen und sie verfolgen konnte - ja, auch sie hatte sich in diesen Tagen über so manches Gedanken gemacht! Rätselnd über diese Fragen verließen sie das Anwesen, durchmaßen den hübschen Garten in zügigen Schritten… und trafen am Gittertor einen alten Bekannten wieder. Schon als Alistair verdutzt die Figur des Fischers erkannte, steuerte Ashes abrupt zur Seite ab. Sie packte ohne Zögern, ohne ein einziges Wort die verhüllte Gestalt, hob die Rechte gerade durch und schlug mit voller Wucht zu. Das unangenehm laute Bersten von Knochen war zu hören und ließ Alistair zusammenzucken. „Mischst du dich noch ein einziges Mal in meine Angelegenheiten, ich schwöre dir, kein verdammter Gott wird dich vor mir beschützen können!“ schrie sie die am Boden liegende Gestalt an. Noch immer lächelte der Fischer unbeirrt. Blut sickerte aus seiner mehrfach gebrochenen Nase, aus der aufgeplatzten Lippe und das Auge, verborgen unter dem Lid auf seiner Stirn, flackerte unruhig. „Alistair, komm schon!“ zitierte sie den Langfinger herbei, als sie bereits einige zügige Schritte weiter war. Der Gerufene zuckte kurz zusammen, löste sich aus seiner Starre der Ratlosigkeit und folgte seiner Liebsten. Eine ganze Weile marschierten sie schweigend und schnurgerade, die Söldnerin wusste genau, wo und wie weit entfernt der Hafen war. Und dann, mitten aus heiterem Himmel heraus, stellte Alistair eine Frage. Wie hätte es auch anders sein können - ohnehin hatte sie sein Geplapper schon viel zu lange entbehren müssen. Diese Frage aber ließ sie gedehnt seufzen und sich nach ihm umdrehen. „Ash, sag mal… was… was hältst du eigentlich von… kleinen Halbelben?“ Kapitel 30: Ein neues Leben --------------------------- Eine sanft wiegende Hüfte, verhüllt von kaum genug Stoff, um die intimsten Stellen zu schirmen. Ein üppiger Busen, der es den Lenden in jeglicher Hinsicht gleich tat und sich davor scheute, allzu viel unter Stoff und Bekleidung zu verbergen. Es war nicht ihre Wahl gewesen. Schwarz als Farbgebung war völlig in Ordnung, doch der dünne Stoffe wirkte hier und da reichlich… transparent. Aber solange es ihn erfreute, gab sie sich damit zufrieden, lächelte sogar, wann immer er ihr neue Ideen zutrug. Nun aber führten ihre Schritte sie auf Zadiora zu. Unlängst hatte jeder sie überholt, natürlich. Das Geschrei und Gezeter kam ihr schon entgegen, da führte ihr kleiner Spaziergang sie gerade einmal zwischen die ersten Hütten. Immerhin gab es für sie nicht viel zu tun. Etwas, das sich durchaus anders hätte verhalten können. Er schätzte sie, ihren Leib ebenso wie ihre Talente. Ein Privileg, darüber war sie sich völlig im Klaren. Ihr wurden Aufgaben anvertraut, von denen die anderen Weiber nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Allein, das sie hier lief, frei, ohne Garde, bezeugte seine innige Hingabe für sie! Ein feines Lächeln zierte wie die Morgenröte aufziehend die sinnlichen Lippen, während sie sich allmählich dem Gasthaus des verfluchten Ortes näherte. Unlängst war im Inneren heilloses Chaos ausgebrochen. Eine Firnhexe, bei den Göttern der alten Tage, wie hatte das denn möglich sein können?! Es gab gewisse… Komplikationen, die zum jähen Ende all der Vergnüglichkeiten führten. Mit einem guten Fleischmesser wollte man das gerade bereinigen. Es war ihre heilige Pflicht als gute Bürger, eine Hexe zu richten, oder etwa nicht? Ihre Magie würde sicherlich in der Sekunde versiegen, in der sie starb. Also war es das Einfachste, ihr die Kehle aufzuschneiden. Ihre Lenden und ihr Rachen waren danach sicherlich noch eine Weile brauchbar, wenn diese Eiseskälte nur erstmal gewichen wäre…! Dann aber war jenseits der Fenster und Türen des Hauses die Hölle losgebrochen. Geschrei türmte auf wie Wogen im sich ereifernden Meer und sie alle wussten, was das bedeutete. Wie hätte es auch verkannt werden können? Selbst der dümmste, einfältigste Junge begriff allein aufgrund der Tatsache, was er da hörte, was draußen vor sich ging. Es waren anfangs nur Rufe aus Panik. Rufe um Hilfe und Beistand, Rettung und Erlösung, Vergebung. Sie veränderten sich jedoch schnell. Aus Angst wurde Panik, aus Verzweiflung Schmerz. Die aus Agonie geborenen, aus zerfetzten Kehlen blubbernden und aus hysterisch zerrissenen Leibern dringenden Laute waren das Zeugnis des Unterganges des gesamten Dorfes. Dort draußen starben die Bewohner zu Dutzenden, wurden dahingeschlachtet in ihren Häusern, auf den Straßen, den Feldern, am und notfalls auch im Wasser - wo immer die namenlose Schreckenskraft sie fand und zu packen bekam. Völlige Stille war in das Gasthaus eingetreten, bis schließlich die Tür geöffnet wurde. Schwere Wolken behinderten inzwischen jegliches Licht von Mond und Sternen, sie sahen nur das Strahlen einer zarten, makellosen Haut, bis die dazugehörige Gestalt sich aus der Nachtschwärze herein wagte. „Meine Da-… hm. Keine Damen. Nun, dann… meine Herren!“ grüßte Ninafer lieblich und schritt durch den sich vor ihr formenden Korridor der Männer hindurch. So mancher gaffte, gierte und erwog die nächsten Übeltaten wie schon zuvor bei der kleinen, rothaarigen Hure, die jener Kahlkopf ihnen zum Fraß vorgeworfen hatte. Sie wusste es, sie konnte spüren, wie sich die Blicke in ihr Gesäß bohrten, ihre Schenkel herauf wanderten, über ihren Hals und ihre Brust strichen. Eine Wärme stellte sich in ihrem Unterleib ein, fast einem Reflex gleich. Überall und jederzeit Bereitschaft zu entwickeln war zu einer essentiellen Gabe geworden - doch ihre Geschenke waren nicht für diese Unwürdigen hier gedacht, deren Schicksal besiegelt war. Schließlich erblickte sie den Tisch nahe der Treppe. Ein kleines Stück Rundholz, aufgebockt auf einem Dreifuß. Leise, gutturale Laute drangen aus der verstopften Kehle. Schnee gleich, sickerte noch immer die Hinterlassenschaft so einiger Männer aus ihrem Unterleib, rieselte in Flocken zu Boden. Ninafer trat zu Vivica an den Tisch heran. Sie schien kaum bei Bewusstsein, erstickte obendrein allmählich. „Hallo!“ grüßte sie die Firnhexe freundlich, ehe sie einen Blick auf deren Situation warf, „Immer diese Theatralik. Kann er nicht ein einziges Mal hergehen und sagen „Du da, du gehörst jetzt mir, komm mit!“? Hübsch bist du, Kleines.“ Ihr Versuch, die Stimme Thorins zu imitieren schlug fürchterlich fehl und klang lächerlich - nie im Leben würde sie solch ein bassiges, wuchtiges Organ replizieren können. Sie ergriff beherzt Vivicas Arm und wollte sie fortziehen - was natürlich nicht klappte. Es gab einen kurzen Ruck und dann schritten die zwei einfältigen Narren gleich mit zur Seite. Sie wandte sich wieder um, runzelte die Stirn und ergriff schließlich das Messer, mit dem der Handwerker, der sie beinahe mit seinem Gemächt erstickte, noch immer ausharrte. Keiner wagte etwas zu sagen oder zu tun - wie schon zuvor, als Thorin Vivica auf dem Tisch entjungfert hatte, schienen alle nur abzuwarten. Das war einer der Gründe, so sagte sich die einstige Adlige in Gedanken, warum sie nie auch nur eine Hand an ihren Körper legen würden. Sie beugte sich tief herab, betrachtete sich die Misere deutlich. Mit der Klingenspitze klopfte sie gegen den Eindringling in ihrer Kehle. Ein helles Klirren - tiefgefroren. Vereist gar, möglicherweise mit ihrer Kehle verschmolzen? Aber nein, nein. Dann hätte sie ja gar keine Luft mehr bekommen. „Hm, ich sehe schon…“ flüsterte sie gedankenversunken, ehe sie sich wieder hob. Ein tief gebeugter Blick auf Vivicas Schoß offenbarte ihr dort ein ganz ähnliches Bild. „Ich weiß…!“ jauchzte die Fremde plötzlich freudig strahlend. Die Männer schöpften schon Hoffnung - die Meisten zumindest - da holte sie schlicht aus… und schlug mit dem Messergriff zu. Ihre Vermutung erwies sich als völlig korrekt, wie sie zufrieden lächelnd feststellte. Der Bursche an ihrer Kehle hatte schon eine ganze Weile seinen Spaß gehabt und die ersten Unterkühlungen ignoriert, er stand schon so lange dort und unterlag der Wirkung ihrer Magie, dass das Eis bis in die kleinsten Ebenen gedrungen war - und nun schlicht zersplitterte. Dick und zähflüssig rann das Blut drängend aus dem halb zerrissenen, halb zersplitterten Stück Fleisch, welches nun an seiner Hüfte klebte, während Ninafer sich ohne Zögern umwandte und abermals ausholte. Diesmal kein Schlag etwa, sondern ein Schnitt. Aus dem dünnen Gürtel um ihre Hüfte holte sie aus einer der kleinen Taschen etwas Pulver heraus, das nicht spektakulärer als gewöhnliche Asche aussah, verstreute es auf der abgetrennten und noch immer in ihrem Unterleib festgefrorenen Männlichkeit und legte damit das Messer fort. Schon bei ihrem ersten Befreiungsschlag war die versammelte Bande an gierigen Hälsen und verdorbenen Geistern ein gutes Stück abgerückt, fast panisch zurückgesprungen. Jedem, der es gesehen hatte, schmerzte augenblicklich das eigene Glied, jedem, der es gehört hatte, bereitete seine bloße Vorstellungskraft den wahren Horror. Als Ninafer der Firnhexe aufhelfen wollte, konnte diese kaum stehen - wohl auch dem Fremdkörper geschuldet, der ihr jeden Schritt erschwerte, den frostigen Fleischsplittern in ihrem Mund. Sie keuchte, spuckte, würgte, erbrach eine Mischung aus Blut, Eis, Fleisch und Samen - ehe sie die zitternde Hand ausstreckte. Abrupt riss sie sich los, packte das Messer und wirbelte herum. Alles und jeden bedrohend, alles und jeden fern haltend, sie wollte fort von hier, von allem - doch noch lange bevor sie auch nur irgendetwas zu sagen fähig gewesen wäre, hatte die einstige Herzogin Ceryddwins in einer anderen Tasche ein leicht violettes Pulver hervorgezogen. Ein beherzter Luftstoß ließ Vivica die Substanz einatmen, sie hustete - und sackte, das Messer fallen lassend, in sich zusammen. Während die Waffe klirrend auf dem Boden aufkam, fing ihre Wohltäterin das zerschundene Mädchen ab und stützte sie. „Na na, komm schon, gehen wir…!“ flüsterte sie ihr leise zu und begann, sie in Richtung des Ausganges zu bugsieren. Die Männer derweil hatten sich hier und da von Schock und Panik erholt, griffen zu Krügen, Messern, Gabeln, allem, was als Waffe herhalten könnte. Doch etwas schwang ihnen entgegen, von Seite des noch immer weit offen stehenden Einganges. Ein so penetrant fauliger Gestank, das sie nicht anders konnten als vor Ekel geschlagen die Ärmel ihrer Hemden vor die Nase zu halten. Der Pulk zog sich dennoch hinter Ninafer zusammen, folgte ihr, lauerte auf einen Moment, zuzuschlagen - bis ein greller Blitz den Himmel für den Bruchteil einer Sekunde erleuchtete. Dann begann der Wolkenbruch seine Wassermassen auszuschütten, um den Gestank herabzudrücken, in die Häuser zu pressen, das Blut von den Feldwegen zu spülen und die frischen Leichen so kalt zu waschen, das sie sich von den Alten nicht unterscheiden ließen - außer am Grad ihres Verfalles. Eben jene teils uralten Kadaver standen in Reih und Glied vor dem Gasthaus, hatten artig gewartet. Kurz nur hielt Ninafer an, Vivicas Arm um ihre Schulter gelegt, ihre Taille umfasst und sie so mit aller Mühe halb tragend. „Sie gehören euch, meine Herren“, erklärte sie höflich jenen, deren Verstand ohnehin nicht ausreichte, um sich auch nur ein Mindestmaß an Manieren merken zu können. Unter Geschrei und Geheul drangen die Untoten durch die Tür ins Innere des Gasthauses, preschten springend durch die Fenster, kamen durch die Dächer im Obergeschoss. Der Rest des Dorfes war bereits still geworden. Ein abgetrennter, irgendwie angenagt aussehender Arm, der ihnen im Weg lag, bezeugte noch immer, warum dem so war. Vivica aber driftete unter dem Einfluss der Chemikalie immer wieder in die Ohnmacht, kämpfte sich wieder hervor und lief ein paar Schritte mit Hilfe, ehe sie neuerlich getragen werden musste. Das, so befand Ninafer, ging so einfach nicht. Sie blieb stehen und blickte sich um. „Ihr da, junger Herr? Ja genau. Könntet ihr wohl so freundlich sein und mir eben mit ihr helfen? Wir müssen das arme Ding von hier fort bringen. Aber nicht beißen, ja? Nicht- Nicht beißen! Was habe ich gesagt? Ja, genau. Ja. So ist es fein.“ Mit einem enervierten Seufzen schüttelte die einstige Adelsdame das Haupt, ehe sie zum Himmel aufblickte. Regen. Sie trug ihre feinen Kleider zur Schau und es musste natürlich regnen. Es wurde kalt, das sogar recht zügig. Je schneller sie hier weg kämen, umso besser. Thorin wäre gewiss nicht begeistert, sollte sie sich erkälten. Und für das Mädchen wäre das auch nicht gut. Sie wollte ihr helfen, ihr ein wenig Zeit verschaffen. Die Eingewöhnung war die schwierigste Phase, je mehr Vorlauf man da hatte, umso besser. Vivica kam weiterhin in kurzen Schüben zu Bewusstsein. Sie sah Waldboden unter sich dahinziehen. Sah kleine, weiße Tierchen in Löchern verschwinden. Löcher in hautlosem Fleisch und Fleisch, welches in Finger überging? Sie roch Moder, Tod, den schwer süßen Geruch verwesenden Fleisches. Hörte das Klappern von Knochen? Ein kleines Wäldchen, Regen, der auf ihren Hinterkopf einprasselte und schließlich eine große Lichtung. Sie hörte Flügelschläge wie von gewaltigen Schwingen, sah diese exotisch gekleidete Fremde vor sich stehen. Sie würde sich später noch erinnern, wie beschämt sie beim Anblick ihrer fast bloßgelegten Brust war, drückte das Wasser im Textil doch nicht nur das ohnehin fast transparente Stück an ihre Haut, nein - sein Gewicht verzog und verrutschte das bisschen Stoff auch noch. Hinter ihr aber stand etwas… eine gewaltige Kreatur. Ein Drache, hätte sie sagen wollen. Ihre Beine zitterten abrupt - der Fremdkörper war fort? Sie erinnerte sich nicht mehr, wie er unterwegs, während eines wackeligen Schrittes, einfach aufgetaut aus ihr herausgerutscht war. Die Bestie voraus aber schrie, fing ihre Aufmerksamkeit ein, zürnte, wütete. Seine Lederschwingen waren gewaltig, doch… da war ein Loch. In seinem Hals. Gewiss groß genug, einen Säugling hindurch zu schieben. Nur träge bemerkte ihr Geist weitere Verletzungen, Wunden. Haut, die fehlte, Fleisch, das aufklaffte. Keine Augen mehr, nur schwarze, starrende Höhlen eines halb skelettierten Schädels. „Keine Angst“, drangen die Worte ihrer Wohltäterin dumpf an ihre Ohren, „Der hat schon seit Tagen nichts gefressen!“ Plötzlich riss diese gewaltige Bestie das Haupt herum, gaffte sie aus seinen leeren Augen an, riss den Schädel herab und… verschlang einen der Untoten am Stück. Noch immer ohne eine Spur von Sorge oder Angst zuckte Ninafer lächelnd mit den Schultern. „Oh nun, also keine Angst… er ist jetzt bestimmt satt. Komm!“ Diese Frau, das war ihr letzter klarer Gedanke, war nicht ganz bei Trost. Sie konnte es nicht sein! Sie führte sie direkt auf dieses Ungeheuer zu und lächelte dabei so sonnig, als würde sie über eine Blumenwiese spazieren. Dann verlor sie abermals das Bewusstsein. Die Augen bekam sie nicht mehr auf, spürte aber noch den Wind durch ihre nassen Haare ziehen. Es war kalt… wieso war ihr nur so kalt? Sie erinnerte sich an ihr Entsetzen, als Thorin das kleine Amulett hervorgezogen hatte. Flügelschläge, gewaltige Lederschwingen und das Rauschen des Windes in ihren Ohren - dann versank sie abermals. Vivica kam nur mäßig wieder zu sich, da war sie bereits wieder mit dieser Wahnsinnigen allein. Sie stützte sie, führte sie lange, feine Korridore entlang. Spiegelnder, glatter Boden, schwarzer Obsidian, die Wände, die in sicher sieben Metern Höhe liegende Decke, alles hier schien daraus gehauen. Keine Absatzlinien, keine Blocke - alles aus einem Stück? Ihrem Geist half es, sich auf solch nichtige Details zu stürzen. Sich lieber damit zu befassen als mit… nun. Man brachte sie in ein Zimmer. Pries es als das Ihre an. Ein großer, geräumiger Kleiderschrank, der sich über die nächsten Wochen und Monate sicherlich nach und nach füllen würde. Die Kommode, fein sortiert, gut eingerichtet. Bürsten, Kämme, Haarnadeln, allerhand Weiberschnickschnack. Die Einrichtung ging auf Ninafers Empfehlungen zurück, wie sie stolz bekundete und sich strahlend umsah. Sie mochte es hier. Es verbreitete einen gewissen… Stil und Charme. Doch sie musste einsehen, dass ihre Patientin dafür wenig Sinn hatte, im Moment zumindest. So brachte sie sie zu ihrem Bett, ließ sie in das weiche Sammelsorium aus Federdecken und -kissen fallen und hockte sich kurz vor das Bett. „Schlaf dich aus, kleine Hexe. Erhol dich ein wenig. Morgen zeige ich dir erst einmal ein wenig das Haus und stelle dich den anderen vor, ja?“ Keine Antwort. Nur leer starrende Augen. Sie hob ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sah das Zucken. Die Rothaarige hatte Angst, regelrechte Panik, wollte keinen Kontakt, keine Berührungen. Sie würde das überwinden müssen. Zügig. Eine andere Wahl blieb ihr nicht, war nie irgendwem geblieben. Sie wünschte eine gute Nacht und ging. Letzte Worte, die kaum lächerlicher hätten sein können. Vivica wollte aufstehen, fliehen, doch was immer da in ihr Gesicht geblasen worden war, zeigte mit jeder Minute mehr Wirkung. Die Aussetzer in ihrer Wahrnehmung, ihrem Denken, ihrem Bewusstsein wurden immer länger und tiefgreifender, sie konnte sich aus eigener Kraft kaum regen und wusste nicht, ob diese Erschöpfung das Resultat der Mixtur war… oder des Spießrutenlaufes, den sie zuvor über sich hatte ergehen lassen müssen. Als der Schlaf sie einfing, war es nicht eine wärmende Decke, die sie ummantelte, sondern der Wolf, der das Lamm endlich zu packen bekam. Gesichter strömten in Windeseile herbei. Die entstellten, verzerrten Fratzen ihrer Peiniger. Wie sie lachten, scherzten, über sie witzelten. Was sie sich nicht immer geziert hätte und wie bereitwillig sie jetzt alles schlucken würde, was man ihr ins Maul stopfe! Wie schön eng sie sei. Sie hörte die Streitigkeiten wieder aufbranden, als man sich fast darum prügelte, wer als Nächstes dürfe. Spürte das brennende Ziehen in ihrem Gesäß, als jemand das Normale für zu gewöhnlich befand. Tränen, die zu kleinen Eisperlen rannen - sie hatten sich aus ihren Augen geschlichen, als es geschah und taten es selbst jetzt im Schlaf. „Siehst du, wie ihre Titten wackeln!?“ keuchte einer halb lachend, stieß nochmal ein Stück kräftiger in sie hinein und prustete dann amüsiert. Mancher fürchtete, sie könne ein Balg austragen, es ihnen anhängen. Ihre Brüste, ihr Bauch, ihre Schenkel, nach und nach begann alles zu kleben. Sie hatte sich gewünscht, sie würde sterben. Schnellstmöglich. Selbst das Ausmaß der Schmerzen war ihr gleich, wenn es nur endlich vorbei wäre - doch niemand hatte Gnade. Als das Eis zurückkehrte, der Frost alles nur noch verschlimmerte, da kam das Messer ins Spiel. Sie hatte es als eine Erlösung empfunden. Das nahende Ende dieser Folter, die Rettung vor dem Erwachen am nächsten Morgen und dann… war sie gekommen. Sie hatte ihr helfen wollen, irgendwie, hatte aber mit ihrer vermeintlichen Hilfe alles nur noch schlimmer gemacht. Die ganze Nacht hindurch litt sie, wimmerte im Schlaf, sandte zahllose Eisperlen in das Kissen hinein, wandte sich von links nach rechts, strampelte die Decke davon - doch sie entkam nicht. Nicht Thorin, nicht den Gästen, nicht dem Geruch nach Verderben und Tod. Der nächste Morgen, den sie so gefürchtet hatte, würde kommen. Es gab keine Alternative. Sie litt, würde aufwachen… und noch weit mehr leiden.   Tatsächlich entwickelten sich die Dinge geringfügig anders, als sie es zunächst erwartet hatte. Wach wurde sie tatsächlich, schon das allein sehr zu ihrem Bedauern. Doch dann spürte sie… Wärme. „Bleibt fort von mir!“ schrie sie völlig hysterisch, ehe sie taumelnd, hastend und springend dem Bett entkam und in eine Raumecke floh. Flirrend glitt ihr Blick durch das Zimmer, suchend, lauernd, befürchtend - doch vom Zentrum ihrer Pein und Qual fehlte jede Spur. Sehr zu ihrer Überraschung erhob sich stattdessen Ninafer, nackt und offenkundig verschlagen. Sie blinzelte, wischte sich den Schlaf aus den Augen… und wünschte ihr mit einem sonnigen Lächeln einen guten Morgen. Hastig sah sich die Firnhexe abermals um, packte schließlich etwas, das sie für einen Brieföffner hielt und umschloss den Schaft mit beiden Händen, damit auf die einstige Adelsdame zeigend. „Du auch!“ schob die Rothaarige verunsichert hinterher, während sie sich einerseits nach Fluchtwegen umsehen, andererseits aber dieses Weib nicht aus den Augen lassen wollte. Zugleich aber drängte der gekränkte und verletzte Stolz in ihr, der bitterlich zerborstene Rest ihrer selbst, den Blick abzuwenden - immerhin war diese Frau nackt! Die Brünette erhob sich dagegen, fuhr sich nachlässig durch ihren braunen Lockenschopf und entstieg völlig ungeniert dem Bett. „Vivica, nicht? Ja, genau. Vivica. Also, Vivica, ich… entschuldige mich bei dir, wirklich. Ich dachte, es sei eine gute Idee, wenn du nicht allein bist. Oder zumindest, nicht allein aufwachst. Als ich damals allein aufwachte, war das furchtbar. Hmmmm, eine gute Handarbeit hast du da. Da ließe sich später bestimmt etwas draus machen! Aber nun leg bitte erstmal das Ding weg, ja? Bitte! Siehst du…“ langsam schritt die Brünette zu einem kleinen Schmuckkästchen herüber, welches gestern Abend noch nicht auf dem Nachttisch gestanden hatte, klappte es auf und holte ein Beutelchen daraus hervor - ebenso unscheinbar wie die Puder, mit denen sie in Zadiora gearbeitet hatte, „Darin befindet sich das, was du gestern schon eingeatmet hast. Möchtest du wirklich den ganzen Tag dämmernd im Bett verbringen? Ich würde dich wirklich viel lieber ein wenig herumführen. Dir die anderen vorstellen. Thorin ist nicht hier, da brauchst du dich nicht sorgen.“ Allein die Erwähnung dieses Namens ließ die Firnhexe kurz zusammenzucken. Herumführen? Andere? Was glaubte dieses Weib eigentlich, was hier vor sich ging? Sie hatte sie gesehen, sie hatte… alles gesehen! Das Gemächt in ihrem Hals steckend, sie hatte bis ins kleinste Detail ihren Unterleib inspiziert, sie hatte die klebrigen Reste auf ihrer Haut- Erst in diesem Augenblick bemerkte Vivica die kleine, nur leicht in der Luft liegende Note nach Flieder. Unsicher griff sie eine ihrer Strähnen und bemerkte, dass sie diesen Geruch verströmten. „Ich habe dich gewaschen“, kam vom Bett her die Erklärung. Fassungslos starrte Vivica zu ihr herüber. Dieses freundliche Lächeln brachte sie beinahe um den Verstand! Sie war… gezwungen, genötigt worden, geschändet, entwürdigt, entführt und… nun ausgerechnet das?! „Bitte, Kleines… können wir nicht… können wir nicht Freundinnen werden?“ Die einstige Adlige legte lächelnd das Haupt schief und der Firnhexe wäre beinahe der Kiefer herabgeklappt. Was wurde hier gespielt? Ihr Becken schmerzte noch immer fürchterlich, selbst zu stehen war nicht ohne Qualen möglich, ihre Kehle kratzte und war trocken, ihre Hände zitterten mit jeder Minute mehr, neue Tränen rannen über ihre Wangen und gefroren einfach nicht, sondern tropften von ihrem Kinn auf die Fliesen herab. Schließlich brach sie zusammen. Ein zitterndes, weinendes Häufchen Elend, dem sich die Brünette gefahrlos nähern konnte. Sie nahm ihr die vermeintliche Waffe ab und setzte sich zu ihr. „Schhht, schon gut“, flüsterte sie leise, ohne auch nur die Hand nach ihr zu strecken. Sie wollte Vivica nicht bedrängen, sie wollte für sie da sein, ihr helfen. Es dauerte mehrere Stunden, in denen das Schluchzen leiser und wieder lauter wurde. Schübe von Erinnerungen, Phasen zunehmender Qual, bis sie einfach keine Tränen mehr hatte, die sie vergießen konnte. „Komm, ich zeig dir das Haus. Das lenkt dich vielleicht ein wenig ab“, bot ihre Wohltäterin an und zog sie auf die Füße, nachdem sie ihr nur die Hand gereicht, sie jedoch nicht gepackt hatte. Sie fühlte sich elend - dem Untoten nicht unähnlich, welcher sie am Abend zuvor herumgetragen hatte. „Hier sind wir Damen untergebracht!“ erklärte Ninafer ruhig, ja vielleicht sogar mit einer Spur Stolz, während sie den Flur hinab deutete, „Im Moment sind wir nur zu viert, aber vielleicht werden wir ja noch mehr. Dann könnten wir uns lustige Abende machen und Geschichten erzählen! Oh ich liebe Geschichten! Thorin kennt Schöne… aber er erzählt so selten welche…“ Abermals löste der bloße Name pures Grauen im Kopf der Rothaarigen aus, die sich daraufhin noch etwas kleiner machte und weiter hinter der früheren Adligen her trottete. Weitere sollten also noch kommen? Platz war gewiss genug - es gab sicher anderthalb Dutzend Türen in diesem Flur und wer wusste schon, was hinter der sanft geschwungenen Biegung lag? Ihr Blick fiel hinauf zur hohen Decke, von der sich gewaltige Kerzenhalter wie Kronleuchter herab wanden. Gusseiserne Monstrositäten - gewiss kein Beweis für Stil und guten Geschmack, wie auch Ninafer, die dem Blick ihres Mündels folgend, das kurz darauf einräumte. Thorin, gewissermaßen der Hausherr, würde es eigentlich schlicht und pragmatisch bevorzugen. Sie sei es soweit gewesen, die der Feste ein wenig Leben und Wohlbefinden einhauchte. Eine wahre Leistung, wie sie befand, immerhin musste man dem Kahlkopf so ziemlich alles bitter abtrotzen und wahrlich nichts kam je… kostenlos. Weiter hinten im Gang hielten sie vor der ersten Tür an. „Sie kam eine Weile nach mir her, musst du wissen, aber… erwarte nicht zu viel von ihr. Sie ist ein wenig… garstig.“ Auf das höfliche Klopfen an der Tür erfolgte wie immer keinerlei Reaktion. Also öffnete Ninafer die Tür einen Spalt breit, noch etwas weiter - und zog sie in weiser Voraussicht wieder zu. Tatsächlich klirrte kurz darauf irgendetwas Schweres erst gegen die Tür, danach auf den Boden. Ein Handspiegel, wie die Scherben und Reste bewiesen. Ninafer störte sich an der Geste selbst herzlich wenig, doch ihr tat es um den Spiegel leid. „Das war wirklich nicht nötig!“ maßregelte sie die Bewohnerin und trat, von der unsicheren Firnhexe gefolgt, ein. Am Fenster dagegen, nunmehr den Blick wieder streng hinaus gerichtet, harrte eine andere Gestalt aus. Ebenso nackt. Ninafer hatte wenigstens die Güte besessen, vor dem Beginn ihrer kleinen Odyssee wieder so etwas Ähnliches wie ein Kleid anzulegen. Ihr hatte sie ebenso eines zur Verfügung gestellt - aus ihren eigenen Vorräten und Schränken, wie sie bekundet hatte, offenkundig in der Absicht, das Gefühl schwesterlichen Teilens heraufzubeschwören. Die Fremde am Fenster jedoch hatte einen vollen Kleiderschrank und lehnte es ab, auch nur ein Stück davon anzuziehen. Sie warf sie hin und wieder gerne zum Fenster heraus, doch meist fanden sie ihren Weg in ihre Habe zurück. Ebenso, wie der zerbrochene Handspiegel sicherlich bald ersetzt wäre. Ihre destruktive Ader ließ sich nicht verschleiern und der Mangel an Manieren noch sehr viel weniger, wie die Brünette ein jedes Mal resignierend bemerken musste. „Fräulein Ashes, das ist Vivica. Sie ist gestern angekommen und hatte keine… sehr leichte Reise. Vivica, das ist Fräulein Ashes.“ Als die Puderdose gleich hinterher geflogen kam, ergänzte die frühere Adelsdame, dass sie sich erinnere, das jenes Weib nicht gerne ‚Fräulein‘ genannt wurde. Tatsächlich blickte die silberhaarige Elbe kurz nur zu ihnen herüber und spuckte spöttisch zu Boden. „Wie schön für sie! Und jetzt verpisst euch, ehe ich unhöflich werde!“ keifte die einstige Söldnerin. Tatsächlich drängte Ninafer ihre Begleitung nach und nach aus dem Raum zurück, ohne dem Spitzohr dabei jedoch den Rücken zuzuwenden. Eine bittere Lektion der ersten Tage - seither trug sie drei unschöne kleine Narben von Stichverletzungen an der linken Schulter und wäre damals fast an ihrem eigenen Blut erstickt. Das war ein wirklich unerquicklicher Abend gewesen. „Sie kam freiwillig hierher. Ich glaube, sie und Thorin kannten sich schon vorher eine Weile und ich vermute, sie tat früher mal das Gleiche wie er. Herumlaufen, Leute anschreien und zusammenschlagen, solche Dinge. Ich weiß noch, dass es in der Halle sehr schnell sehr laut wurde. Was sie nicht alles wollte! Verschwinden sollte er. Das befahl sie ihm, man muss es sich mal vorstellen. Sie verlangte, er solle die Finger von ihrer Stadt lassen. Hm. Wenn ich mich so erinnere, sie verlangte eigentlich nicht wirklich viel, nur… eben wirklich sehr, sehr laut. Vermutlich, weil er nicht wirklich tat, was sie sich erhoffte. Und dann bemerkte sie, dass ihr Arm steif wurde. Ich meine… kann sie denn wirklich geglaubt haben, dass man sie einfach so bis zu ihm hinauf marschieren lassen würde? Ich war zugegeben ziemlich stolz auf mich. Sie hatte die ganze Zeit etwas eingeatmet, ein sehr unaufdringliches Gas. Und die kleine Tablette, die wir zwei vorher genommen hatten, hielt die Wirkung von uns fern. Sie kippte ganz flink um! Hm. Sie konnte sich nicht regen, spürte aber wohl alles. Und weil sie ihm Befehle geben wollte, war er ein wenig erbost. Er nahm sie ziemlich hart ran, die ganze Nacht lang und… und… nun, den Tag darauf und… die Nacht darauf. Ich wusste selbst nicht ganz, wie lange die Wirkung halten würde. Ich glaube, sie ließ zwischendrin schon nach, aber das hält ihn ja nicht auf. Er verlangt recht selten nach ihr, obwohl ich glaube, das ihn diese ungehobelte Art irgendwie manchmal reizt…“ Dass ihr diese ganze Geschichte völlig suspekt war, konnte man ohne Mühe bemerken. Ninafer selbst verstand nicht, wie überhaupt irgendwer an dieser Ashes Gefallen finden konnte. Die Brüste zu klein, die Hüfte zu schmal und für eine Frau ein Stückchen zu muskulös, selbst wenn man über ihre Manieren und ihr Verhalten hinweg sehen wollte. Vivica dagegen sprang regelrecht erschrocken einen Satz von der Tür fort, als sich ein Brieföffner - zweifellos ein Duplikat dessen, was sie am Morgen noch als Waffe hatte einsetzen wollen - wie ein Geschoss mit der Klinge voran durch das Holz der Pforte bohrte und dabei recht gut gezielt auf die Brünette zuhielt - die jedoch in ausreichendem Abstand stand. „Jaja, wir gehen ja schon“, schob diese nach, „Elbische Ohren…!“ erklärte sie den Kopf schüttelnd und hielt der Firnhexe die Hand entgegen. Die, obgleich völlig neben sich, folgte weiterhin.  „Damit wären wir eigentlich auch gleich bei der ersten und wichtigsten Hausregel, Vivica. Du kannst hier tun und lassen, was du willst, gehen, wohin du willst - aber wenn er etwas sagt… etwas bittet, verlangt, befiehlt, es ist völlig gleich: Dann tu es. Glaub mir, das wird in deinem Interesse sein.“ Unsicher, was das zu bedeuten hatte oder womit man sie hier eigentlich konfrontieren würde, hielt die Giftmischerin abrupt vor der nächsten Tür an und klopfte abermals höflich. „N-Nein!... G-Geht weg… i-ich bin nicht da!“ klang die Stimme gedämpft von innen heraus. Abermals musste die einstmalige Herzogin tief seufzen. Sie kündigte ihr Eintreten weiterhin freundlich und geduldig an, ehe sie sich durch einen Türspalt hinein schob und Vivica weiterhin dichtauf folgen ließ. Eigentlich hatte sie diesem Gast ebenso den Neuzugang vorstellen wollen, doch das war… schier unmöglich. Das Weib, welches hier wohnte, hatte die Fenster verhängt. Sie versuchte so viel Dunkelheit wie möglich zu schaffen, in der irrsinnigen Hoffnung, sich darin verstecken zu können. Sie huschte aus dem Kleiderschrank und verschwand agil in Sekundenschnelle unter dem massiven Gestell des Bettes, immer wieder flüsternd und rufend, dass sie verschwinden sollten. So, wie die Giftmischerin befand, ließ sich keine ordentliche Vorstellung beider bewerkstelligen. Also verließen sie jenes Zimmer ebenfalls wieder. „Siehst du, weshalb ich gerne deine Freundin sein würde? Die anderen beiden sind so… schwierig. Und diese ganzen Moderköpfe reden nicht ein Wort! Kat kam eine Weile nach Ashes her, musst du wissen. Auch freiwillig. Sie suchte nach Ashes, glaube ich. Ich… ich war nicht da und ich weiß einfach nicht, was er mit ihr gemacht hat. Sie ist die ganze Zeit so, immer. Man kann einfach kein einziges ruhiges Wort mit ihr wechseln. Ich finde das sehr unhöflich. Und enttäuschend.“ Mit einem Seufzen schüttelte sie das Haupt. Tatsächlich lagen all ihre Hoffnungen auf Vivica. Endlich jemand, mit dem sie ein wenig würde plauschen können. Vielleicht fanden sie ja sogar einen guten Draht zueinander. Die Rothaarige hatte eine wirklich hübsche, wenn auch zierliche Figur. Bestimmt könnten sie ein paar sehr schöne Kleider für sie finden! Und dann würden sie sich gegenseitig bestaunen. Und lesen, sie könnten so viel gemeinsam lesen und darüber reden! Ein klitzekleines Stück Normalität. War das denn wirklich zu viel verlangt? Dann aber, unvermittelt, donnerte etwas durch den Korridor. Tief und gewaltig - es war das Röhren aus einer sehr großen Kehle, ein archaischer Laut einer urgewaltigen Kreatur. Ein Ruf, der nur eines bedeuten konnte. „Oh, er ist schon zurück!“ Sie sah, wie Panik in Vivicas Augen aufzog und diesmal reagierte sie nicht, als die einstige Herzogin ihr die Hand entgegen hielt. Neben sich, hinter der Zimmertür der ehemaligen Piratin dagegen, hörten sie hastiges Fußgetrappel und schließlich ein Quietschen und Scharren, als etwas sehr schweres über die Fliesen bewegt wurde. Ninafer dagegen seufzte gedehnt und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Firnhexe zu. „Liebes? Bitte, komm. Ich weiß nicht, was Fräulein Kat jedes Mal dazu bringt, zu glauben, eine Kommode oder der Schrank vor der Tür würden ihn aufhalten. Wen er will, den bekommt er auch, das ist immer so. Man sollte sich da ein bisschen… Anstand und Würde bewahren, nicht?“ Sie hatte dazu eine ganz schlichte Ansicht entwickelt: Wer nicht wie ein Tier eingepfercht, mit Futter gehalten, domestiziert und gelegentlich gejagt und besprungen werden wollte, nun, der sollte sich wohl nicht wie ein Tier geben. Sie hingegen war keine Gefangene hier, sie wohnte hier. Man hielt sie nicht, sie lebte. Und statt sich jagen und zappelnd und schreiend aus dem Zimmer schleifen zu lassen, schritt sie mit einem freundlichen Lächeln und besten Absichten zu ihm. Das besänftigte oftmals seine Laune. Es erfreute ihn, vereinfachte die Dinge. Vivica… konnte und wollte das nicht einsehen. Natürlich nicht. Es war gerade einmal einen Tag her, im Grunde noch viel zu früh für alles Weitere. „Keine Sorge. Es geht nicht um dich“, bekräftigte sie zuversichtlich, doch auch das konnte die sich neuerlich lösenden Tränen nicht zum Versiegen bringen. Dass sie es vollbrachte, die Firnhexe dennoch folgen zu lassen, glich einem kleinen Wunder. „Ergebenheit, meine Liebe“, flüsterte sie leise in ihr Ohr, „Wenn du dich ihm ergibst, es akzeptierst, es zulässt und ihn in dich lässt… dann findet er genau das richtige Maß an Lust und Schmerz und…“ Längst war der Giftmischerin die Röte in die Wangen gestiegen. Nicht aber Scham war es, die ihr Herz zum Rasen brachte - sondern Vorfreude. Die Firnhexe indes, da war sich die Brünette sicher, plante ihre Flucht. Sie konnte und wollte es ihr nicht übelnehmen. Vermutlich gedachte sei sich mit der mürrischen Elbe und der weinerlichen Piratin zu verbünden und gemeinsam mit ihnen oder notfalls eben auch allein irgendwie zu entkommen. Sie würden Freundinnen werden, da war Ninafer recht zuversichtlich. Wenn sie erst einmal eingesehen hätte, dass aus ihren Fluchtplänen nichts erwachsen konnte, dann würden sie Freundinnen werden. Bis dahin musste sie ihr ja nur helfen, sich einzufinden, einzuleben. Die Gewöhnungsphase, ja, die war immer am schwierigsten. Die Giftmischerin führte ihre Begleitung in eine gewaltige Halle. Scharfe Kanten, Spitzen und Stacheln hier und da. Ein paar aufgespießte Untote verrotteten an mancher Stelle vor sich hin. Ein recht morbider Aufbau, allemal, doch Ninafer befand, das er immerhin einen gewissen Stil hatte. Nicht den Besten, sie hätte manches anders gemacht, aber sie gab sich durchaus damit zufrieden, das ihre Ideen und Ratschläge für den Rest der Behausung gelegentlich angenommen wurden. Als sie vor Thorin trat, lächelte sie. „Willkommen zurück, Thorin“ begrüßte sie ihn. Sein Nicken allein ließ ihre Züge noch ein klein wenig mehr strahlen. Er war kein sehr… exzessiver Mensch, das hatte sie lernen müssen und schon lange akzeptiert. Sie würde viele Dinge nie von ihm hören. Ein ‚bitte‘, beispielsweise. Sie würde ihn wohl auch nie lächeln sehen. Aber manchmal, da gab es kleine Andeutungen. Winzige Ausbrüche. Ihr genügte es, diese zu bemerken. Sie waren das Zeichen für noch viel mehr unterhalb der Oberfläche. Der Kahlkopf aber blickte skeptisch an ihr vorbei zu Vivica - die fast augenblicklich jeglichen Fluchtreflex zu verspüren schien, der denkbar war. „Ich führe sie ein wenig herum, zeige ihr alles“, begann Ninafer und hatte sich wieder in seinen Blick schieben, sich zwischen die Firnhexe und ihn stellen wollen, doch der Hüne trat bereits mit wenigen Schritten zu dem Bündel herüber. Abermals versagte all ihre Magie. Sie wollte flüchten und tat es zu spät, sie wollte kämpfen und hatte keine Chance. Er packte sie bei den Haaren, die gewaltige, kraftvolle Pranke umschloss ohne Mühe ein kräftiges Bündel davon und hielt sie damit an Ort und Stelle. „Ich zeige ihr auch etwas, das sie seit gestern vielleicht vergessen hat. Auf die Knie!“ Hinter Thorin wedelte die Brünette mit den Händen, versuchte ihr zu deuten, dass sie sich herabbegeben sollte - doch ihre erhoffte Freundin widersprach. „Nein!“ schrie sie regelrecht, die Nuance zwischen bodenlosem Zorn und hysterischer Panik kaum noch auszumachen. Sie schlug auf ihn ein, kratzte, versuchte ihn in die Lenden zu treten - bis eine einzige Schelle sie so wuchtvoll zu Boden schlug, das sie völlig benommen gerade einmal vermochte, sich auf den Rücken zu drehen. Ohne viel Federlesens war er über ihr, hockte sich nieder. Ihre Kehle gepackt, zog er ihr Haupt herauf, zwang ihre Lippen auseinander. Sie prustete, versuchte Luft zu holen, sich fortzudrehen, doch es gab keine Rettung - bis unverhofft jemand für sie Partei ergriff. „Bitte, lass sie.“ Überrascht blickte nicht nur die Rothaarige zu Ninafer, sondern auch der Krieger selbst. „Wie war das?“ hakte er in drohendem Ton nach, doch davon unbeirrt schritt die Giftmischerin heran, nahm seine Hand und zog ihn von ihr fort. Etwas, das sie gegen seinen Willen mit ihren schwächlichen Körperkräften nie hätte vollbringen können. „Es ist noch weit zu früh, sie ist nicht bereit. Gib ihr Zeit.“ Statt Vivicas, wurde nun die Kehle der einstigen Herzogin unbarmherzig umschlossen. Er drängte sie in hastig tippelnden Schritten zurück gegen die große aber stets leere Festtagstafel, wandte sie mit einer ruppigen Bewegung um und stieß sie bäuchlings auf die kalte Steinplatte. „Vivica, zurück in-“ hob Ninafer an, schrie dann jedoch unvermittelt und unbeherrscht auf. Ein Schrei, der rasch in ein haltloses Stöhnen überging, ehe sie sich fing und ihre Anweisung beenden konnte, „dein Zimmer!“ Mehr war sie hervorzubringen nicht fähig, da trieb der unbarmherzige Rhythmus des Hünen bereits jeden klaren Gedanken aus ihrem Geist.   Stunden tigerte die Firnhexe vor ihrer Zimmertür auf und ab. Sie hatte den Weg zurück nur schwerlich finden können, viele Gänge sahen erschreckend gleich aus, was ihr kurz den Gedanken in die Knochen trieb, er könne hunderte Frauen aufsammeln und ihnen dergleichen antun wollen. Dann aber wurde ihr noch etwas klar: Je mehr Weiber hier waren… umso geringer wurde die Chance für jede Einzelne, ihm unter die Augen treten zu müssen, oder etwa nicht? Das alles konnte sie jedoch nicht wirklich lange von ihrem eigentlichen Zwiespalt ablenken. Sie war zerrissen zwischen ihrem Wunsch, hier und jetzt sofort fliehen zu wollen. Sie würde eines der weniger unanständigen Kleider anziehen, sich bewaffnen und dann schnellstmöglich einen Weg suchen, so weit wie möglich von hier fort zu kommen. Sie könnte sogar ein Schwert haben - auf ihrer kleinen Irrfahrt zurück hatte sie einige Räume passiert, die offenbar als Ausstellungs-, Schau- oder Trainingsräume dienten und in denen Waffenständer ein ganzes Repertoire an Tötungsutensilien feilboten. Dann aber war da Ninafer, die ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte. Dieses Weib war nicht bei Sinnen, ganz eindeutig. Sie war völlig verrückt. ‚Knapp‘ spottete völlig ihrer Kleidung und dennoch war sie in diesem Aufzug zu ihr ins Gasthaus gekommen. Sie hatte erhaben gewirkt. Freundlich, aber allem voran erhaben. Selbstsicher. Sie war zwischen die Riegen der Schänder getreten, niemand hatte sie zu berühren gewagt. Sie hatte sie befreit, hinaus getragen. Sie von den Spuren, die sie am Morgen ereilt und ihr den Ekel eingetrieben hätten, gereinigt. Ekel empfand sie dennoch - und mehr als einmal hatte sie sich in diesen Stunden übergeben, war wieder zusammengebrochen, hatte wieder Krämpfe gelitten und Tränen vergossen, von denen sie keine mehr zu haben geglaubt hatte. Aber eben diese Wahnsinnige hatte sie eingekleidet. Hatte ihr die Wahl gelassen. War trotz ihres Irrsinns… nett geblieben. Und jetzt, just in diesem Augenblick, da litt sie ganz fürchterlich. Hin und wieder glaubte sie ihre Schreie hören zu können und das allein zerriss ihr beinahe das Herz. Wie konnte dieses Scheusal ihr das antun? Wieso hatte diese Fremde sich für sie geopfert? Sie wollte fliehen, solange sie dazu noch imstande wäre, doch gleichwohl konnte sie nicht fort von hier, ohne zu wissen, wie es Ninafer ging. Sie schuldete ihr das im Mindesten, redete ihr ein zerbrochener kleiner Teil ihrer selbst ein. Die Giftmischerin hatte Fehler gemacht, eine ganze Reihe davon, aber sie hatte es augenscheinlich immer gut gemeint. Die Stunden zogen dahin, die Schreie wurden mal leiser, mal lauter, mal kürzer, mal gedehnter. Schließlich schleppte sich die Brünette tatsächlich den Gang herab. Vivica stürzte ihr regelrecht entgegen und schon als die einstige Herzogin sie sah, rang sie sich ein Lächeln ab. „Oh wie schön, du hast auf mich gewartet…!“ begrüßte sie den Neuzugang. Ihr Lächeln, so bemüht es war, so erschöpft war es auch. Blaue Flecken zierten manche Stelle ihres Leibes, ihre Knie zitterten, ihre Beine drohten bei jedem einzelnen Schritt nachzugeben und ihr Blick flirrte ziellos und ohne Fokus umher. Sie wies das richtige Zimmer und ließ sich, von Vivica gestützt, zu ihrem Bett bringen. Dort sank sie nieder, ließ sich auf den Rücken sinken und seufzte erleichtert. „W-Wie… wie geht es… dir?“ hakte die Rothaarige leise und unsicher nach, während sie sich betrachtete, was dieses Scheusal ihr angetan hatte - was ihr andernfalls geblüht hätte. Zerrissene Kleiderfetzen hier und da, mehr bloßgelegt als noch verdeckt. Ihre Scham bewog sie, den Blick zu ihrem Gesicht zu heben, selbst die Wunden nicht länger anzustarren. Die Giftmischerin aber strich gedankenverloren mit den Fingerspitzen über ihre Brust, ihren Bauch, fuhr einen kurzen Augenblick zwischen ihre Schenkel und seufzte leise. „Es ist, als würde dein Schädel zerrissen…“ flüsterte sie fast tonlos. „Das tut mir-“ hob Vivica bereits ratlos an, wurde jedoch jäh unterbrochen, als Ninafer einmal mehr unter Beweis stellte, wie verwirrt sie sein musste: „… wundervoll…!“ Unsicher, was nun zu tun war, wollte sich die Firnhexe erheben. Sie hatte sehen wollen, wie es ihr ging und nun sah sie es. Offenkundig übel, sehr übel, doch sie schien es selbst nicht so zu empfinden. Was wollte man dazu noch sagen? Nun war es an der Zeit, eigene Wege zu bestreiten… und diesem Wahnsinn zu entkommen. Der Schmach. Vor allem aber dem Monster, welches all dies überhaupt verursacht hatte. Einmal mehr wünschte sie sich inbrünstig in das Leben zurück, das ihr genommen worden war. Zurück zu Jonathan, dem Stallburschen. Zu den vorwitzigen, ungehörigen Gästen, die aber wenigstens zahlten und ihre Hosen geschlossen ließen. Zurück zu dem wohlgenährten Wirt, der ein ungerechter, überstrenger Hausherr war, aber ihr immerhin nie die Hand auf die Hüfte gelegt hatte. Sie wünschte sich zurück zu Wischmob und Arbeitszeiten bis in die frühsten Morgenstunden, in die verdreckten, schlichten Kleider und zwischen die Heuballen, in denen sie übernachten musste, wenn sie auf Reise war und mal wieder keine Münze entbehren konnte. „Du hast einen Monat“, durchbrach Ninafers Stimme die Gedanken der einstigen Magd. Perplex blickte sie zu ihr herab und auch ohne Worte schien die Brünette zu begreifen, dass ihr Gegenüber nicht ganz verstand. Sie winkte sie mit einem Lächeln heran, legte die Hand in ihren Nacken und zog sie herab, um ihr ins Ohr flüstern zu können. „Einen Monat, dann wird er dich nicht mehr schonen…!“ Als Vivica sich jedoch wieder heben wollte, wurde sie zurückgehalten und… riss sich einen Augenblick später gewaltsam los. Einen Zungenkuss hatte diese Irre ihr aufgezwungen. Mit Ekel wischte sie über ihre Lippen. Nur zu gerne hätte sie auf den Boden gespuckt wie Ashes es noch gegen Mittag getan hätte, doch das gehörte sich nicht. Sie wollte etwas trinken, doch hier fand sich nichts. Es war nicht nur der Kuss selbst, der sie so anwiderte, da… war ein Geschmack darin. „Gewöhne dich daran…“ legte die Giftmischerin ihr nahe, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte vergnügt.  Die Erkenntnis nun ließ sie doch noch auf die Fliesen spucken. „Er ist wieder fort“, setzte der Lockenkopf leise nuschelnd fort, „Norwingen geht bald unter. Vielleicht bringt er mir einen Hund mit…“ Obgleich sie sich allein schon des aufgezwungenen Kusses wegen immer weniger an dieses Weib gebunden oder ihr sonstwie verpflichtet sah, gab Vivica ihrem Drang nach und erkundigte sich leise und zögerlich, ob sie irgendetwas für sie tun könne. Tatsächlich erlangte sie damit überraschend zügig die Aufmerksamkeit der einstigen Wanderhure, die sich ihr wieder zuwandte. „Das würdest du tun…? Für mich…? Wie lieb! Ja, du… du könntest bleiben… als Freundin, das… ginge das?“ Eine Mischung aus Ekel, Unwille und Angst zeichnete neue Züge im Gesicht der Rothaarigen, als sie den Kopf schüttelte und leise anhob. „Ich… ich glaube nicht“, gab sie immerhin ehrlich zur Antwort. Doch irgendwie schien Ninafer in ihren Worten etwas völlig anderes zu sehen als sie es hatte sagen wollen. „Das ist ein Anfang“, gab die zurück - denn tatsächlich hatte sie nicht überhört, sondern klammerte sich gar mit ihren Hoffnungen daran, dass das kleine Liebchen gesagt hatte, das sie nicht daran glauben würde. Das allein schloss die Möglichkeit ja noch nicht völlig aus, nicht wahr?   Die Tage strichen dahin. Vivica brach wieder völlig in sich zusammen - mit jeder Nacht aufs Neue. In manchen Dunkelstunden fand sie gar nicht erst zur Ruhe, manchmal betäubte Ninafer sie, wenn sie die Zustände für nicht länger haltbar befand. Mehr als einmal versuchte sie, zu flüchten. Griff sich das immer gleiche Kleid, alles, was sie als waffentauglich hielt und versuchte sich zu einem Ausgang durchzuschlagen. Bemühungen, die von der früheren Herzogin nicht unbemerkt blieben, jedoch auch in keiner Weise behindert wurden. Sie verlief sich. Dutzendfach. Sie kam an den unterschiedlichsten Stellen raus und manche davon sah aus wie schon so viele andere zuvor - dieses ‚Haus‘, wie Ninafer es irreführend genannt hatte, war das reinste Labyrinth. Tatsächlich war es sogar so konstruiert worden, jeden Eindringling im größtmöglichen Maße zu verwirren. Diese gelegentlichen Fluchtversuche wurden abgelöst von den Phasen, in denen sie sich schlicht in der dunkelsten Ecke so klein wie möglich zusammenkauerte und zu verstecken versuchte. Nicht vor Thorin, Ninafer oder Ashes, sondern vor Erinnerungen und Träumen. Vor all den Dingen, die sie quälten. Die Giftmischerin bemühte sich redlich. Kam am Morgen zu ihr, um nach ihr zu sehen, mit ihr zu frühstücken, kehrte aus den gleichen Gründen Mittags und Abends ein, doch zum Essen musste sie die Firnhexe regelrecht zwingen. Gerade in den ersten Tagen konnte sie praktisch nichts bei sich behalten. Sobald irgendetwas auch nur in die Nähe ihrer Kehle kam, erbrach sie unter Ekel und Tränen alles wieder. Es gab keine Ruhe. Keinen Frieden. Und möglicherweise würde es beides nie wieder geben, ganz gleich, wie sehr sich Thorins Lieblingsspielzeug darum bemühte. Eine Weile hatte Vivica geglaubt, diese Wahnsinnige würde sich so um sie bemühen, weil sie insgeheim hoffte, sie wäre weniger häufig dran, wenn noch andere Weiber hier gefangen wären. Später glaubte sie, sie wolle mit ihrem Leid und Elend einfach nur nicht allein sein - von Ashes und Kathryn hörte und sah man tatsächlich nie etwas. Doch nach und nach musste sie anerkennen, das die Brünette wohl wirklich die Einzige war, die sich ihrem Schicksal ergeben hatte und das hier als ihr Heim betrachtete, die Geschehnisse bei jeder Rückkehr als normal hinnahm, ja sogar begrüßte. Etwas, das ihr selbst vollkommen unmöglich war. Sie würde sich niemals mit diesen neuen Gegebenheiten abfinden können, würde sie nicht akzeptieren. Sie litt, jeden Tag - mal mehr, mal weniger, aber es änderte an der Tatsache selbst nicht viel.   Der Kalender Lumiéls hatte zweiundvierzig Tage, acht Monate pro Jahr, zwei pro Jahreszeit. Ihre Zeit strich herum, mit jedem Mal ein wenig mehr. Ninafer wollte ihr Dinge zeigen und lehren, die sie für wichtig hielt. Sie betonte hin und wieder, dass Vivicas Unschuld und Unerfahrenheit für sie zwar niedlich wirkten und einen gewissen Reiz hatten, Thorin dergleichen aber weder nachvollziehen, noch etwas damit anfangen könne. Es würde ihn von nichts abhalten und je besser sie Bescheid wisse, umso besser lagen ihre Chancen, ihn zufrieden zu stellen. Sie wollte das nicht, lehnte es ab - und die Erwiderung darauf ernüchterte. Die Frage, warum sie das nicht wolle, ließ sie unkommentiert. Doch viel erschreckender war die felsenfeste Überzeugung der Giftmischerin, sie könne sich das nicht aussuchen. Entweder, sie gäbe ihm aus eigenem Willen heraus, was er verlangen würde, oder er nähme es sich. Ein Weg war schmerzhaft, aber möglicherweise in einem angenehmen Maße, der andere… war nur schmerzhaft. Je besser sie geübt wäre, umso schneller könne sie ihn zufriedenstellen, sodass er von ihr ablassen würde. Ein Grundgedanke, eine Argumentation, die Ninafer als einleuchtend betrachtete und für Vivica konzipiert und zugeschnitten hatte, damit es ihr leichter fallen würde. Doch die Firnhexe verschloss sich vehement allem, was auch nur im Entferntesten damit zu tun hatte, hier zu bleiben und… zu leben. Davon, dass es ihr irgendwann gefallen könne, hatte sie entsprechend natürlich noch umso weniger hören wollen. An manchen Tagen war es laut geworden, hatte die Rothaarige geschrien, gezürnt, geflucht. Ihr Gegenpart dagegen war stets ruhig geblieben. Höflich, freundlich und geduldig - Vivica brachte das manchmal nur noch mehr in Rage, erst Recht, wenn sie sich dann anhören musste, das dieses Temperament ihr zweifellos nützlich sein könnte, wenn sie es denn nur zuließe. Doch es gab kein Herankommen, keine Annäherung. Allmählich gingen auch der einstigen Herzogin die Ideen aus. Was sollte sie noch tun? Was konnte sie denn überhaupt noch tun?   „Wunderschön, nicht wahr?“ flüsterte die Giftmischerin leise, als sie in die gewaltige Kammer im Herzen der Festung eintrat. Vivica starrte fassungslos auf das Gebilde im Zentrum der gewiss an die dreißig Meter hohen Halle. „Was ist das?“ Vor ihren Augen war ein Schemen, der kaum erkennbar im Mittelpunkt des Geschehens verborgen lag. Um ihn herum der Grund für die schlechte Sicht: Feuerwolken, die wild wirbelten und stürmten. Kein anderer Raum in der gesamten Festung war so warm wie dieser, weil die Gluthitze des Feuersturmes ausstrahlte. Dennoch züngelte kein noch so kleines Flämmchen über die Barriere hinaus - jene letzte Front, die die verzehrende Kraft davon abhielt, die ganze Kammer in Brand zu stecken. Ein feines Feld aus magischen Energien umgab den Flammenzylinder, schloss ihn ein und versiegelte den Brand im Inneren. Wo immer die Kräfte mit besonders destruktivem Nachdrang auszubrechen versuchten, blitzte das eindämmende Feld in einem zarten, hellen Blauton auf. „Das ist… ein… eeeiiin… wichtiges Ding“, bekundete der Lockenschopf sanftmütig lächelnd und nickte bestätigend, als Vivica die Braue lupfend ihre Worte wiederholte, „Ja. Genau. Ein wichtiges Ding. Ich meine, sonst wäre es ja nicht so… so… speziell bewacht, nicht wahr? Schau, ich zeig dir etwas!“ Hoffnungsvoll lächelnd winkte die Giftmischerin die Firnhexe herüber und nun bemerkte diese erstmals an der gegenüberliegenden Wand der Kammer drei Alkoven. In jeder der Kammern harrte, völlig erstarrt, eine Gestalt aus. „Die drei beschützen das… Ding.“ Die Augen verengend trat Vivica näher heran. Die erste Gestalt war eine klein gewachsene Frau. Sie hatte nie ein solches Gesicht gesehen. Ein feiner, schöner Schnitt, doch ihre Augen waren so schmal, die aufgetragenen Farben dagegen geradezu exotisch, ihr Gewand wirkte nicht, als wäre es aus der Hand irgendeines Schneiders Lumiéls gefertigt worden. Ninafer dagegen lächelte beinahe schelmisch, fuhr mit der Hand unter eben jenes Gewand und kniff der kleinen Ikone in die Brustwarze. „Schau!“ hob sie an und deutete auf den Zylinder im Zentrum - fast augenblicklich strahlte der Schild hell gleißend in jeden Winkel des Raumes hinein, als der Feuersturm im Inneren deutlich an Kraft und Geschwindigkeit gewann. Als sie ihre Fingerspitzen von der fremden Brust nahm, beruhigte sich das wilde Wirren darin jedoch langsam wieder. „Sie sind am Leben, aber sie… also ich denke, sie schlafen. Sehr, sehr tief. Das hübsche Fräulein hier ist das Feuer da drinnen, der gutaussehende Bursche hier hält das Feld aufrecht und-“ „Alandor?“ „Hm?“ Verwirrt von der Unterbrechung und dem unbekannten Namen sah sich die einstige Adlige zunächst im Raum um, ehe sie bemerkte, dass ihre Gesellschaft keinesfalls mit Halluzinationen oder gar neuen Gästen sprach, sondern mit dem zweiten Magier, der im mittleren Alkoven steckte. Ein geradezu kummervoller Blick ließ die Brünette nicht einmal hörbar atmen, als Vivica die Hand hob und ihm vorsichtig über die warme Wange strich. „Er war im Norden unterwegs, soweit ich weiß. Mit einem Mädchen. Thorin befand, dass wir keine Verwendung hätten. Für Kinder.“ Ihn schon - doch das ließ sie unausgesprochen. Stattdessen schien es, als würde die Firnhexe ihn kennen und das möglicherweise nicht einmal schlecht. Ein ehemaliger Stammkunde vielleicht? Jemand, für den sie irgendwann einmal die Dielen geputzt hatte? Möglicherweise ja sogar mehr als nur die Dielen…! Der anzügliche Gedanke ließ sie kurz schmunzeln, ehe ihr klar wurde, dass das durchaus ebenso zu Problemen führen könnte, wie es vielleicht auch eine Lösung bot. Möglicherweise war dieser Magier ja ein Mittel, um die kleine Frostkönigin langsam auftauen zu lassen. Man müsste ihn nur irgendwie wach bekommen. „Das würde ich lassen!“ riet Ninafer, als Vivica den Magus gerade aus dem Alkoven ziehen wollte, „Das Feld würde zusammenbrechen und das Feuer uns alle umbringen. Und ich mag nicht sterben.“ Einen kurzen Moment lang besorgte, nein, ängstigte sie sogar, das sie im Gesicht der Firnhexe ein klares ‚Ich aber vielleicht schon‘ lesen konnte. Der Vorschlag dagegen, man könne ja die Feuermagierin zuerst herausholen stieß dagegen auf gleichermaßen wenig Gegenliebe. Dieses Ding, welches so gut abgeschirmt und bewacht wurde, war irgendwie wichtig. Und Thorin würde niemals zulassen, dass etwas in Gefahr gebracht wurde. Er wäre zornig, sehr zornig - und das würde zu viel Leid und Schmerz führen. War die unüberlegte, undurchdachte Pseudorettung ihres alten Bekannten dieses Risiko wirklich wert? Sie wusste ja nicht einmal, wohin mit ihm. Tatsächlich ließ das Vivica einen Moment ins Zweifeln geraten. Eine Gelegenheit, die die einstige Herzogin beim Schopf packte. „Lass mich dir den Ausgang zeigen. Ich weiß, du hast ihn lange gesucht. Ich zeige dir einen davon. Dann wirst du sehen, das es wenig Sinn macht, ihn von hier fortzubringen.“ Mit dem Angebot einverstanden, ließ sich die Rothaarige daraufhin durch die Korridore und Gänge führen - abermals. Dabei konnte Ninafer es nicht unterlassen, ihr einen kleinen Vortrag zu halten. Sie habe über ihre letzten Jahre hinweg den Blick für die Schönheit in der Welt verloren, so bekundete die Giftmischerin überzeugt, sie hätte durch all ihre Arbeit einen ganz fürchterlichen Tunnelblick entwickelt. Immer die Augen niedergeschlagen, den Blick straff gen Boden gerichtet würde sie nie sehen, was gut und angenehm sein könnte, sondern nur, was schlecht war und Arbeit bedeutete. Ihre Zuhörerin ließ das alles unkommentiert über sich ergehen, kam jedoch ins Grübeln, als ihr gesagt wurde, das sie nämlich in all den Tagen, die sie nun schon hier war - immerhin fast ein ganzer Monat - nicht ein einziges Mal einen Blick aus dem Fenster geworfen habe. Das, so musste Vivica eingestehen… war korrekt. Sie wurde in ein Zimmer geführt, welches aussah wie die Zahllosen anderen zuvor, aber offenbar wusste die Brünette immer und überall ganz genau, wo sie war und wohin sie musste. Wie konnte sich ein normaler Mensch in diesem Irrgarten zu Recht finden? Vielleicht war die Antwort auch hier simpel: Gar nicht. Ein normaler Mensch konnte das einfach nicht - Ninafer schon. Sie öffnete eine merkwürdige, mit gespenstischen Reliefs verzierte Tür zu einem Balkon, der längst nicht an jedem Zimmer existierte und dahinter kam überraschenderweise ein längerer Steg zum Vorschein. Eine hölzerne Brücke, die weit hinaus führte ins… Nichts. Fast schon ein wenig ängstlich, allem voran jedoch maßlos erschrocken und überrascht, trat die Firnhexe nur höchst zögerlich über die Schwelle. Die Brücke führte mit Geländer und Überdachung hinüber zu einem großen… Brocken. Einfach nur ein Brocken Stein. In der Luft. Er schwebte dort und hielt immer die exakt gleiche Position. „Das ist der Landeplatz. Aber der alte Griesgram ist gerade nicht da, also können wir die Aussicht genießen! Komm!“ Sie nahm Vivica bei der Hand und führte sie auf die andere Seite. Auf einer kleinen, natürlich geschlagenen Stiege im Stein nahm sie Platz und blickte im wahrsten Sinne des Wortes auf die Welt herab. Einmal mehr plapperte sie munter darauf los, erzählte ihr, der alte Griesgram sei natürlich kein Name, kein Richtiger zumindest. Sie würde nur den Drachen so nennen, welcher sie und Vivica und alle anderen hier herauf gebracht hätte, so wie er Thorin jedes Mal hinauf und hinab bringen würde. Eine Kreatur, die zu Lebzeiten wirklich beeindruckend gewesen sein musste. Danach, nun, sie roch ein wenig streng, fraß ständig die Lakaien auf und wirkte insgesamt ziemlich übellaunig, was bei einem derartig unschön zugerichteten Leib wohl möglicherweise auch verständlich war. Der Felsen nun war also Griesgrams Landeplatz, wie es derer noch sechs weitere am Haus gäbe. Erstmals wurde sich Vivica ihrer tatsächlichen, erdrückend hoffnungslosen Situation bewusst. Entsetzt starrte sei hunderte Meter in die Tiefe, erkannte selbst die großen Gasthäuser Norwingens dort unten nur  vage als kleine Schemen zwischen vereinzelten Wolkenfetzen. Ihr Blick fiel zurück auf das Haus - eine gewaltige Festung mit hoch aufragenden Türmen und Wehrgängen, Hallen und Dächern. Unzählige Stockwerke, in der Luft gehalten von einer unbekannten Macht. Wie lächerlich waren ihre Fluchtpläne nun plötzlich geworden. Mit einem Kleid und einem Brieföffner hatte sie davonlaufen wollen. Warum hatte sie keiner je gewarnt, sei aufzuhalten versucht? Natürlich - weil sie gar keine Chance hatte, von hier zu entkommen. Außer, sie würde sich Flügel wachsen lassen. Sie konnte nur innerhalb der Festung fliehen, sich verstecken. Und dort, das war ihr völlig klar, gab es keinen Ort, keine Ecke, keinen Verschlag, in dem Thorin sie nicht finden würde… oder mindestens Ninafer, die jeden dieser Winkel ohnehin zu kennen schien, als habe sie diese Bastion entworfen. „Siehst du, Liebes,“ hörte sie die Stimme der Giftmischerin hinter sich, „Nicht alles, was wir als schlecht erkennen, muss das auch sein. Vieles hat etwas Gutes an sich, hm? Man muss es nur zulassen.“ Die Worte dieser Frau trieben ihr die Tränen in die Augen. Was würde nun geschehen? Wie lange würde es dauern bis ihr eigener Verstand so zerrüttet und zersetzt wäre, dass sie der nächsten verlorenen Seele genau die gleiche irrsinnige Predigt halten wollte, die sie gerade von der Brünetten bekam? „Nein…!“ keuchte sie atemlos und sank zunächst gegen Ninafers Front, ehe sie sich auf den Boden rutschen ließ. Sie barg das Gesicht in den Händen… und verzweifelte einmal mehr. Dabei blieb unklar, ob sie nun abermals das Angebot der einstigen Adligen abgelehnt hatte, sich hier etwas Neues zu schaffen, oder ob sie tatsächlich einfach ‚nur‘ an ihren vernichteten Fluchtperspektiven verzweifelte. Mit einem etwas getrübten, aber dennoch hartnäckig bestehenden Lächeln auf den Lippen setzte sich die Giftmischerin zu ihrer erhofften Freundin, strich ihr über das Haar und wartete einfach ab.   Die Tage darauf waren… befremdlich. Als Herrin des Hauses, gewissermaßen, hatte sie Vivica begleitet. Sie hatte zahllose Tränen gesehen, sie oft aus furchtbarsten Träumen aufschrecken, weinen, schluchzen, schreien und wüten hören, sie hatte sie fliehen und frustriert oder resigniert zurückkehren sehen. Sie hatte all die Wechsel und Stimmungsschwankungen miterlebt. Doch als sie ihr etwas wirklich Schönes hatte zeigen wollen - den wunderbaren Ausblick, den dieses Heim ihr bot - da trat an Stelle des zügellosen Temperamentes eine Teilnahmslosigkeit, die selbst ihr neu und unheimlich war. Die Firnhexe aß, wenn man ihr etwas hinstellte. Schlief, wenn man sie ins Bett schickte. Trank, wenn man sie darum bat. Sie tat, wie ihr gewiesen und nicht ein kleines bisschen mehr. Sie sprach nicht mehr, versuchte nicht mehr zu fliehen. Manchmal sah Ninafer sie verschwinden. Nicht schleichend, eilend, hektisch. Eher so, als würde sie einen Spaziergang machen… oder ein Grab pflegen. Sie kehrte in die Zentralkammer zurück, zu diesem Magier. Ein paar Mal hatte sie ihre Stimme vernommen, wie sie diesem Burschen erzählte, was geschehen war. Offenbar kannte sie ihn tatsächlich, aber wirklich zu lauschen, das wäre… unverschämt gewesen, nein, so etwas gehörte sich wirklich nicht. Der Monat war um und es verstrichen nur zwei lausige weitere Tage, ehe Thorin auf dem Rücken von Griesgram zurückkehrte. Norwingen gab es nicht mehr und die Seuche begann sich durch die infizierten Flüchtlinge auch in den kleineren Dörfern der Umgebung auszubreiten. Bald gäbe es in dieser ganzen Gegend nicht ein einziges, lebendes Wesen mehr. Oh nun, Ratten vielleicht. Hunde, Katzen, Schaben, Rehe, alles mögliche Getier - aber gewiss weder Elben noch Menschen. Der Unheilsbringer kehrte zurück, doch es verlangte ihn nicht sofort nach irgendjemandes Lenden. Stattdessen begnügte er sich mit einem reichlichen und üppigen Mal, begab sich einige Stunden zu Bett… und forderte erst danach ein wenig Unterhaltung. Er verlangte nach Vivica, recht explizit - und Ninafer holte die Rothaarige ab. Entgegen allem, was sie sich gewünscht hätte, allem, was sie geplant hatte, was sie vorgehabt hatte… waren sie zu nichts gekommen, gescheitert am Widerstand der Firnhexe selbst. Sie bedauerte zutiefst, wie die Dinge gelaufen waren und auch, was geschehen musste. Natürlich hoffte sie, dass sich vielleicht dadurch etwas ändern würde - doch sie bezweifelte, dass eine Wiederholung des Martyriums auch nur irgendwie bei der Heilung helfen konnte. Oder gar die Einfindung begünstigen würde. Nicht unwahrscheinlich war, dass sie daran zerbrach - dann aber, so hoffte sie völlig unbeirrt weiterhin, wäre sie ja da, um ihr zu helfen. Um aus den Scherben etwas Neues zu formen. Vielleicht musste dieser Bruch ja unbedingt sein? Dennoch war es Mitleid im Wissen um das Folgende, als Vivica in den kleinen Raum trat. Ninafer hatte ihr bereits diverse Waffen abgenommen - vermutlich hatte sie noch eine Reihe anderer irgendwo, auf die richtige Gelegenheit wartend und inbrünstig hoffend, das sie dem Hünen ein Ende bereiten könnte. Funktionieren würde das nicht, da war sich die Brünette reichlich sicher. Doch es lag tatsächlich im Interesse der Hexe, ihn nicht anzugreifen - er würde wütend werden und sie das nur zu genau spüren lassen. Ahnend, was für eine gewaltige Katastrophe aus alledem würde erwachsen können, harrte die Giftmischerin noch einen Moment aus, als der Kahlkopf sie bereits hinausgesandt hatte. Schließlich gab sie sich einen Ruck, trat zu dem gelassen in jenem tiefen Sessel ausharrenden Koloss herüber und beugte sich tief zu ihm hinab. Sie flüsterte ihm zu, offenbar bemüht, irgendeine Art von Absprache zu treffen. Vivica verfolgte das Geschehen scheinbar teilnahmslos, doch ihr war klar, dass, sollte dieses Monster den Raum nicht verlassen, jedes letzte bisschen Lebenswille ersterben würde. Ein Teil von ihr - der, der noch immer leben wollte -, hoffte daher inbrünstig, Ninafer würde es schaffen und abermals irgendein Arrangement treffen können. Doch wie lange sollte sich das so hinziehen? Wie oft würde sie den Kopf für sie hinhalten können und wollen? Irgendwann ginge es ja doch nicht mehr. Dann gäbe es keine Flucht. Ohnehin: Scheinbar war der Hüne nicht gewillt, sich in seine Pläne hineinpfuschen zu lassen, schüttelte das Haupt und unterbreitete stattdessen Anweisungen. Oder vielleicht auch einen Vorschlag? War es vorstellbar, dass er überhaupt gewillt wäre, mit der Brünetten einen Kompromiss zu schließen? Immerhin stimmte sie dem nickend schließlich zu, wenngleich ihr auch nicht völlig wohl dabei zu sein schien. Daraufhin steuerte die Giftmischerin direkt zu ihr herüber und begann ohne viel Federlesens, sich aus dem ohnehin dürftig knappen Kleid zu schälen. „Was nun?“ hakte Vivica leise nach. Inzwischen errötete sie kaum noch, zu oft schon war sie mit dem Anblick ihres beeindruckenden Körpers und ihrer Schamlosigkeit konfrontiert worden - der Effekt hatte sich einfach abgenutzt. Ihre Neugier aber, gewiss auch ihre Befürchtungen, konnte sie nicht verbergen, als sie mit nur zwei Worten nachfragte. Die einstmalige Herzogin lächelte ihr offen zu, hob die Hände und… zog die Träger ihres Kleides ihre Schultern herab. „Scht, nicht…!“ bat sie die Firnhexe leise, als diese widerstreben und zurücktreten wollte, „Nicht…! Es ist ganz einfach, meine liebe kleine Vivica. Du bist der Mittelpunkt dieses Abends und es muss… einen zweite Rolle geben, verstehst du? Er… oder ich.“ Als ihr die Bedeutung der Worte klar wurde, schoss die zuvor noch ausgebliebene Röte umso kräftiger in ihre Wangen und ließ sie beschämt nach Luft schnappen, den Blick senken. Sie widerstrebte nicht, als das Kleid sank, versuchte aber mit Händen und Armen ihre intimsten Stellen zu bedecken. Ein abfälliges Schnauben ertönte vom Sessel her und wurde mit einem mahnenden Blick der Brünetten vergolten. Die stahl sich bemüht unter das gesenkte Gesicht, hauchte der kleinen Hexe einen ersten Kuss auf die Lippen und schob sie zurück, Schritt für Schritt, bis diese am Bett angelangte und sich nach einer Weile, etwas Nachdruck und Bemühen darauf sinken ließ. Ihre Gedanken rasten, ihr Blut rauschte in ihren Ohren und die Stimme, die all das irgendwie überleben wollte, versuchte sie tatsächlich ebenso wie die Giftmischerin zuvor zu besänftigen, dass es besser sie wäre als dieses Ungetüm. „Leg die Hand auf meine Brust“, wies die Brünette ihre Gespielin an und lächelte, als diese tatsächlich nicht mehr als das wagte - und selbst jene Regung nur zögerlich. Ninafer drängte sie dazu, sich ein Stück höher ins Bett zu wagen, kletterte über sie und verteilte hier und da kleine, spielerische Zärtlichkeiten. Ein vorsichtiges Austesten, was ihr gefallen würde, was ihr zusagte, was… zu ihrem Vergnügen würde beitragen können. Die einstige Herzogin ließ sich Zeit mit ihrer Gefährtin, erforschte in aller Ruhe und Geduld und hielt sich zugleich mit direkten, einfachen Instruktionen nicht zurück. Vivica befolgte kaum die Hälfte davon, weil sie es nicht wagte. Nicht wagte, sie zu berühren, so zu berühren, da zu berühren. Immer wieder musste sie ermutigen, wiederholen. Höchst langsam kamen sie voran und die Brünette wusste nur zu gut, dass sie diese Zeit auf Kosten der Geduld Thorins vergeudeten - und der besaß nicht sonderlich viel davon. Entsprechend bemühte sie sich schließlich um ein etwas forscheres Vorgehen, vermochte Vivica ein erstes, seichtes Keuchen abzunötigen, eine Weile darauf gar ein verhaltenes Stöhnen. Sie biss sich auf die Unterlippe - eine niedliche kleine Geste, wie Ninafer schmunzelnd bemerkte. Schließlich nahm sie versetzt mit ihrer Hüfte auf der der Rothaarigen Platz, strich ihr über die Brust und begann einen langsamen Rhythmus, dessen Reibung allein, Schoß an Schoß, die Firnhexe einen Moment um Beherrschung kämpfen ließ. „Nicht zurückhalten…“ flüsterte die Mentorin leise, „Genieße es… lass es zu…“ bat sie, doch ihre Worte verhallten ungehört. Erst mit zunehmendem Tempo schmolz die eiserne Disziplin der kleinen Frostkönigin dahin, wagte sie zögerliche Regungen in den Rhythmus hinein. Ninafer befand schließlich das Getane für ausreichend. Ihr Atem ging flacher, zügiger, sie hatte mehr und mehr Initiative gezeigt - sie veränderte neuerlich die Pose, begab sich wieder über die Rothaarige.  Ihre Beine angewinkelt hielten die Hüfte Vivicas offen, ihre Hände mit den Ihren verschränkt zogen ihre Arme über das Haupt empor. Noch während des Kusses begann die Firnhexe zu ahnen. Doch wirkliches Begreifen stellte sich erst ein, als ein Ruck durch den Leib der Giftmischerin fuhr, die Brust an Brust direkt auf ihr lag. Sie keucht tief in den Kuss hinein… ein weiterer Stoß und sie stöhne leise die Kehle durchstreckend auf. Nicht länger der Beobachter, der Stuhl war leer - sie versuchte sich zu befreien, hervor zu wühlen, doch es gab kein Entkommen aus dieser unwürdigen Pose. Wie auf dem Präsentierteller bot sie sich ihm dar - und Thorin ergriff die Gelegenheit beim Schopfe. Abwechselnd zog er sich aus seinem Lieblingsspielzeug zurück und zwang sich tief in den Leib der Hexe hinein, die unter Tränen aufzuschreien versuchte, aber doch nur halb erstickte Laute hervor brachte. Ninafer tat ihr Bestes, ihr zu helfen. Sie zu entlasten, ihr Entspannung zu verschaffen, Vergnügen zu bereiten… doch nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass Vivica das hier nicht einfach nur ablehnte. Sie hasste, sie verachtete es, sie war obendrein nicht gerade ideal gebaut für diesen Mann und nun… nun brauchte es nur diesen einen, einzigen Blick, bis die frühere Herzogin begriff, das auch sie nun gehasst wurde für den Verrat, den sie begangen hatte. Sie würden keine Freundinnen werden. Das allein schon brach ihr das Herz, das selbst ihr die Tränen empor stiegen. Sie hatte ihr doch nur helfen wollen… sie hatte- Abrupt packte die Pranke des Kriegers ihren Haarschopf, riss ihn rüde zurück. „Hör auf zu heulen!“ peitschte seine raue Stimme in ihr Ohr, ehe er ihr Gesäß in Brand setzte und sie vor Pein aufschreien ließ. Er war zurückgekehrt, hatte gegessen, sich zur Ruhe begeben und einige Stunden geschlafen. Kurzum: Er hatte sich erholt und gestärkt - das hier wäre nicht schnell vorbei, oh nein…   Es war dieser Moment des Begreifens, als auch der letzte Funke Wille starb. Kapitel 31: Schicksalsfäden --------------------------- „Bist du eigentlich morgen auf dem Erntefest dabei?“ Noch während sie diese Erkundigung einholte, schlüpfte die unbekleidete Brünette in das Nebenzimmer und versuchte mit aller Mühe, ihre zierlichen Finger von einer Unmöglichkeit zu überzeugen: Sie probierte nun schon zum dritten Mal, seit sie der Badewanne entstiegen war, all ihre Locken irgendwie zu packen zu bekommen, um ihnen endlich das Haarband aufzuzwängen. Doch das Gespinst wollte sich selbst von Wasser gesättigt einfach nicht bändigen lassen und hier und da entschlüpfte immer wieder eine Strähne. Ein jedes Mal war es das Gleiche! Die Rothaarige dagegen, die auf jenem Bett im Nebenzimmer gesessen hatte und nun verdutzt von ihrem Magierbuch aufblickte, ja gar bereits den Stift abgesetzt hatte, wurde mit jeder Sekunde blasser. „Erntefest…?“ hakte sie fast flehend nach, „Der Monat kann doch nicht schon wieder um sein?!“ Auf liebevoll-nachsichtige Weise grinste ihre Mitbewohnerin zu ihr herüber und versuchte die einstige Firnhexe damit aufzuziehen, dass die Zeit und deren Verlauf sich leider nicht nach ihrem Willen richten würde, dazu hätte sie schon das Kind eines Chronisten sein müssen - und die hatten bekanntlich keine! Vivica aber klappte in aller Eile ihr Buch zu und warf den Stift irgendwo wahllos aufs Bett. Etwas, das für die sonst so penibel Ordnung haltende Magierin eigentlich völlig undenkbar war. Umso rascher sammelte sie die verschiedenen Bücher zusammen, sieben an der Zahl. Dabei wog jedes Exemplar mehr als das Vorherige. „Gute Güte, ich muss die hier in die Bibliothek bringen!“ ächzte sie und lud sich den Stapel auf die Arme. Die Brünette dagegen runzelte die Brauen lupfend die Stirn und blickte zum Fenster hinaus. „Jetzt noch? Es wird bald dunkel und… ahhh, verstehe! Du willst also doch noch Salim treffen, nicht? Eine kleine Zusammenkunft in der Bibliothek, hm? Das Haus wird leer sein, keiner, der euch stört, außer dem Wissen von Jahrtausenden kein einziger Beobachter…!“ Mit fast verschwörerischem Ton hatte sie ihre kleine Andeutung mehr und mehr ausgeschmückt, fast kunstvoll versucht, die wilde Leidenschaft auszumalen, die sie sich dabei vorstellte. Mochte ihr bloßer Anblick die frühere Firnhexe nicht schockiert haben, war sie doch schon seit Jahren an die Schamlosigkeit ihrer Freundin gewohnt, so trieb diese Darbietung ihr sehr wohl die Schamesröte in Windeseile die Wangen hinauf. „Shira, bist du wohl still?! Ich habe nichts dergleichen vor!“ betonte Vivica vehement, woraufhin die Nackte jedoch lediglich im Schauspiel die Unterlippe schürzte. „Du magst ihn doch, oder nicht?“ Was sie daraufhin jedoch zu hören bekam, ließ der dunkelhäutigen Schönheit ein wenig das Herz schwer werden. „Er ist… wirklich… nett.“ Einen kurzen Augenblick herrschte völlige Stille im Raum. Die frühere Eishexe wollte eigentlich schnellstmöglich mit dem aufgeladenen Bücherstapel verschwinden, dazu jedoch musste sie erst einmal ihr Zimmer verlassen - was Shira ihr wahrlich nicht leicht machte, stand sie doch ganz zufällig Arme und Beine gespreizt wie ein Netz in der offenen Tür und versperrte die Passage. „Nett, hm?“ seufzte die Brünette, die inzwischen ihr Vorhaben aufgegeben hatte, ein Haarband zu verwenden. Stattdessen stürzte die Lockenpracht hier und da herab und bedeckte eine eher magere Oberweite immerhin genug, damit es nicht vollkommen verwerflich aussah, würde nun jemand herein platzen. „Wieder einer auf der langen Liste allmählich versandender bester Freunde und versumpfender Möchtegernbrüder, wie? Vivi, das ist wirklich ein Problem! Du musst aufhören, immer alle… so… so nett zu finden! Such dir einen Kerl und… bei Jebis, lass dir wenigstens das Hirn herausvögeln, ja? Bitte, tu‘ mir den Gefallen!“ Die Röte in den Wangen ihres Gegenübers intensivierte sich noch einen Moment, Erwiderungen dagegen gab es keine. Die junge Magierin hielt lediglich strikt den Blick gesenkt und erkundigte sich nach einem weiteren Moment, ob sie denn nun endlich gehen dürfe. Abermals seufzte die Entblößte, trat schließlich bei Seite und ließ ihre Mitbewohnerin durch. Shira selbst trat zurück in ihr eigenes Zimmer und begann, mit zwei Fingerspitzen in einem kleinen Tongefäß zu rühren. Eine etwas flüssig geratene Salbe, die sie von einem hübschen jungen Händlerssohn erworben hatte - gegen Rabatt, verstand sich. Damit gedachte sie ihre Haut zu pflegen, just als Vivica die Tür aufzog. Beide bewohnten diese Etage des Hauses allein - doch es gab noch zwei Stockwerke über und ein weiteres unter ihnen. Natürlich hatte keiner von ihnen darauf geachtet, ob im Treppenhaus Schritte zu hören waren und nun, da ein fremdes Augenpaar auf die nackte Magierin gaffte, empfand die Rothaarige das als beinahe unverzeihlichen Fehler. „V-Verzeihung!“ nuschelte sie hastig, unsicher, ob sie sich nun bei dem Starrenden oder Shira selbst entschuldigen sollte. Zumindest diese Frage wurde geklärt, als die Brünette sich kurz aufrichtete, freundlich dem Burschen zuwinkte, der noch immer mitten in der Bewegung erstarrt in ihr Schlafzimmer gaffte und ihn grüßte. „Adepten… pff!“ scherzte sie, ehe sie damit begann, die Lotion auf ihrer linken Wade zu verteilen. Vivica dagegen zog die Tür ins Schloss, nuschelte abermals etwas inzwischen völlig Unverständliches und eilte mit rotem Kopf die Treppenstufen herab. Es gab Dinge, die würden sich nie ändern, ganz egal, wie viel Zeit verging. Nerwen Grimmsilber hatte ihr damals Lektionen erteilt, eine Kindheit aufgebaut und einen guten Menschen aus ihr zu machen versucht. Vieles davon hing ihr noch immer nach und war so tief in ihr Blut geimpft worden, das selbst die Lehren des Zirkels es hier und da eher übertüncht und erweitert, nie aber abgerissen oder ersetzt hatten. Der Anstand und der Glaube an Tugend, Moral und Sittsamkeit - das waren solche Grundpfeiler ihrer Person, die einfach seit jeher bereits zu gefestigt gewesen waren. An manche Dinge hatte sie sich gewöhnen können. Wie zum Beispiel an Shiras eher fragwürdigen Umgang mit Männern. Doch das betraf ja auch nicht sie selbst. Als sie auf die Straße hinaus trat, empfing sie eine dichte Wand aus Wärme und stehender Luft. Keine Zustände, an die sie sich nach all den Jahren nicht schon gewöhnt hätte, im Gegenteil - sie hatte sogar fast augenblicklich das Gefühl, dass es ein wenig zu kühl war. Zumindest für diese Jahres- und Uhrzeit. Der Herbst kam, das konnte sie spüren. Dennoch waren ihre Schritte noch immer leicht und beschwingt wie der lebhafte Sommer. Ihr Weg führte sie durch allerlei Gassen und Straßen, vorbei an einigen Sandsteinhäusern als alten Tagen. Sie vermisste ein wenig Die Holzblock- und Fachwerkshütten ihrer Heimat. Lumiél ließ sich mit Alrym wahrlich kaum vergleichen. Das schlug sich nicht nur in den klimatischen Verhältnissen oder der Architektur nieder. Die Lebensweise war hier eine völlig andere. Frauen waren nicht die minderwertigen Menschen, die am Herd zu stehen oder im Bett zu dienen hatten. Die Kunst wurde zu einer Bildungsform erhoben und Bildung, bei den Göttern, war frei. Zugänglich für selbst die einfachsten Bauerskinder. Jeder durfte in die großen Bibliotheken und wer die Werke nicht lesen konnte, nun, der durfte dort eben lesen lernen. Selbst kleinere Dörfer hatten hier und da ein paar einzigartige Werke, die es wert machten, bei einer Reise durch das Land kleine Umwege einzuschlagen. Es war ein Fundus, wie eine große, gewaltige Schatzkiste, in deren unzähligen Ecken man immer wieder Neues finden und lernen konnte. Losgezogen war sie damals, um ein Abenteuer zu erleben - zu lernen und zu studieren, so hatte sich inzwischen gezeigt, schien ihr großes Abenteuer zu sein. Sie war zufrieden damit, mehr noch. Sie hätte gesagt, sie sei glücklich. Doch Vivica hatte ebenso eine Lektion gelernt, schon vor vielen Jahren, die ihr mit der Zeit verloren gegangen und wieder entfallen war: Das wenige Dinge je so beharrlich konstant bleiben, wie sie zu sein scheinen. Als sie hier und da grüßend, immer freundlich lächelnd und schließlich ein wenig außer Atem bei einsetzender Dämmerung die großen Tore der Bibliothek am Stadtrand durchschritt, glaubte sie genau zu wissen, was auf sie zukommen würde. Salim war nicht der Bibliothekar - dafür war er nun wirklich viel zu jung! Zudem besaß er keinerlei Magie, er war… normal. Ein gewöhnlicher Mensch. In ihrer Sichtweise hatte das nie einen nennenswerten Unterschied gemacht. Jetzt nicht mehr. Doch er hatte sich ganz eindeutig in sie verliebt und das brachte sie immer in die Zwickmühle, ihn einerseits nicht verletzen zu wollen, andererseits aber auch klar stellen zu müssen, das er nicht war, was sie wollte und suchte. Bei Jebis, sie wusste ja selbst noch nicht einmal, was sie wollte. Oder ob sie jemanden suchte. Warum sollte sie eigentlich? Diese ewigen Debatten mit Shira waren doch letztlich der einzige Grund, warum sie immer und immer wieder darüber nachdenken musste. Sie war zufrieden damit, wie die Dinge waren. Reichte das denn nicht? Ihre Schritte führten sie immer tiefer in die Bibliothek. Hatte man die großen Tore erst einmal passiert, vollzog der schwere rote Teppichläufer eine leichte Biegung nach links und bot dann einen ganz passablen Blick. Hatte man den Empfang erst einmal passiert, war da nur noch dieser gut fünf Meter breite Hauptgang, von dem aus sich die gewaltig aufragenden Bücherregale zu beiden Seiten abzweigten. Kleine, rollbare Leitern hier und da ermöglichten es, auch die obersten Regale zu durchstöbern, doch wer machte sich schon die Mühe? Es war viel leichter, die Helfer des Bibliothekars zu fragen - seine drei Söhne. Jeder von denen kannte sich hier ganz passabel aus, doch irgendwie hatte sie immer die späten Nachmittags- und Abendstunden erwischt, um hier aufzutauchen. So war es immer Salim gewesen, der ihr Kommen bemerkte und anwesend war, um Auskünfte zu erteilen. Vielleicht… hatte er darin eine Absicht erkannt, die nie da gewesen war - diese Befürchtung hatte sie schon mehrfach gehegt. Nun aber, da sie zwischen den ersten Regalen hindurch schritt, kam sie sich merkwürdig… verlassen vor. Der Empfang war verwaist. Die Sturmlampen bereits allesamt gelöscht. Die großen Fenster in enormer Höhe zeigten nur noch einen dunkelblauen Himmel, der immer weiter in die Schwärze fiel - denn in Alrym sank die Sonne schnell. Wo war denn nun dieser verflixte Bursche? Nicht, das sie es darauf anlegen würde, wieder eines dieser unbequemen Gespräche mit ihm zu führen, nur… Kurz ertappte sich Vivica bei dem Gedanken, die Bücher einfach auf den Tresen zu legen und wieder zu gehen. Vielleicht könnte sie noch eine kleine Notiz dazu schreiben. Der Anblick der Bücherregale aber und die darin stumm verborgen liegende Drohung, sie müsse all die Leitern heraufklettern und selbst herausfinden, welches Buch wo einzusortieren wäre, bereitete ihr ausreichend Grund, gedehnt zu seufzen. Sie hatte eines ihrer kleinen Projekte begonnen und wollte eigentlich heim. Die Badewanne war nun endlich frei, der Tag lang genug gewesen und ihr stand der Sinn nach Entspannung und Zerstreuung… nicht danach, schwere Wälzer herumzutragen oder ungelenk auf Leitern zu balancieren. „Salim?“ wagte sie schließlich leise zu flüstern, als könne sie hier irgendjemanden stören. Keine Antwort. Tatsächlich aber glaubte sie, stattdessen etwas anderes zu hören. Unsicher, was das war, entschloss sie sich ein paar Schritte weiter zu gehen. Nach und nach passierte die einstige Hexe immer mehr der Regalwände. Sie wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Als würde jedes dieser uralten Werke heimlich hinter ihrem Rücken die Augen aufschlagen und jedem ihrer Schritte folgen - tatsächlich aber sah sie nicht das Geringste, sobald sie sich umwandte. Das späte Zwielicht hatte eine fast perfekte Dunkelheit geschaffen, die es ihr nur noch ermöglichte, grobe Umrisse zu sehen. Irgendwo in schier gewaltiger Höhe über ihr ragten die Fresken und Reliefs der kunstvollen Deckenbearbeitung auf, doch sie sah nur Schwärze um sich herum… mit einer Ausnahme. Ein heller Schein, eher ein zartes Flackern in Tönen, die zwischen Gelb und tiefem Orange wechselten. Eine Kerze, das war unverkennbar, möglicherweise war eine der Sturmlampen übersehen worden, doch… warum ausgerechnet hier? Als sie leise Stimmen hörte, atmete Vivica erleichtert auf. Sie hatte gefürchtet, als Einzige hier zu sein und so sehr sie die Bibliothek auch schätzte, mutterseelenallein war es hier drin doch recht… gespenstisch. Nun aber schien es, dass der junge Mann ein zweifelhaftes Glück gehabt hatte. Ausnahmsweise war nicht sie es, die ihn davon abhielt, endlich die Tore zu verschließen und den Tag ruhig ausklingen zu lassen. Ein anderer Gast hatte ihn also noch auf Trab gehalten! Mit einem freundlichen Lächeln und wieder etwas sichereren Schritten trat sie die letzten Bücherwände entlang und schließlich um die Ecke. Nur Sekunden, bevor ihr Blick auf die Szenerie fiel, merkte ihr Verstand zweifelnd und alle Alarmglocken läutend an, das sie keine dieser Stimmen erkannte. Das allein musste ja nicht grundsätzlich schlimm sein - vielleicht zwei Gäste? Und Salim, der irgendwo in den hinteren Tiefen des großen Hauses für die beiden Recherche betrieb? Manche Bücher wurden so selten nachgefragt oder waren so schwer zu klassifizieren, dass es eine tatsächliche Plage war, sie aus dem Gewühl hervorzusuchen. Doch dann bekam sie zu sehen, was alles im Fackelschein der Kerze lag. „Oh Gott!“ stieß sie erschrocken aus und schlug sich noch im gleichen Atemzug die Hand vor den Mund, während sie einige wenige Schritte zurück trat und vor Überraschung sämtliche sieben Bücher fallen ließ. Eines davon stürzte ihr gar auf den Schuh, doch das Leder war derb genug, den groben Aufprall abzuhalten - und vom Rest spürte sie im Moment ohnehin nichts. Salim hatte sie gefunden… glaubte Vivica zumindest. Sie hatte in den ersten Sekundenbruchteilen inbrünstig gehofft, auf seinen Hinterkopf zu starren. Das man ihm mit einer Keule oder dergleichen den Schädel eingeschlagen hätte. Stattdessen aber… ließ seine Körperhaltung keinen anderen Schluss zu: Diese unkenntliche, breiige Masse war einmal sein Gesicht gewesen. Nase, Augen, Ohren, Lippen… Kiefer, Stirn, Wangenpartien - nichts davon war mehr vom Rest zu trennen. Fetzen von Hirn, Knochensplitter und Haarbüschel klebten jedoch noch immer an dem schier gewaltigen rechten Vorderhuf des Zentauren, der dort an einem der Lesepulte stand und durch die Seiten eines enormen Buches blätterte. Seelenruhig. Sie tat ein paar weitere Schritte zurück, trat aus der rechten Bücherabteilung in den breiten Mittelgang zurück, da wandten sich die Gestalten am Lesepult zu ihr um. Der Zentaure ließ sich alle Zeit der Welt, trabte unruhig umher und sie, sie konnte nicht aufhören, den Teppich anzustarren. Kreisrunde Abdrücke mit kleinen, klebrigen Schädelresten, die stets nur von seinem rechten Vorderhuf hinterlassen wurden. Der massige Pferdekrieger zog einen wuchtigen Wurfspeer von einem Rücken, holte jedoch nicht aus. Stattdessen traten die zwei anderen Gestalten ein Stück weiter hervor. Zierliche, dürre Körper, makellose Haut und fein geschliffene Gesichter - dennoch war der Anteil des Menschenblutes in diesen Elben unverkennbar. „Schau einer an, wen haben wir denn da“ tönte in tiefem Bass die Stimme des Zentauren. Ihr Blick riss sich endlich vom Fußboden los, von Salims sterblichen Überresten und den kalten Blicken der Elben. Entsetzen stand ihr noch immer in den Zügen, sie spürte ihre Knie weich werden, doch es war nicht nur die Entrüstung über das Schicksal des Jungen. Es war die Tatsache, dass sie diese Eindringlinge und Mörder kannte. Rajah Tascana, Elena und Artasis Rijin - Begleiter und Marionetten eines Chronisten namens Duncan. Sie tat sich schwer, sich dieser Namen zu erinnern. Es war zu lange her, dass sie deren Spuren gefolgt war. Aber hier nun standen drei der Gestalten aus seinem Theaterstück, an Strippen gezogen, aber der Spieler im Verborgenen. Was taten sie hier? Warum hatten sie… das dort angerichtet? Kurz nur huschte ihr Blick zögerlich an Rajah vorbei zu dem Lesepult. „Ihr wartet draußen. Wenn sie flüchten will… tötet sie“, wies der Krieger an und sandte das Halbelbenpärchen von seiner Seite. In aller Ruhe traten Elena und Artasis ab, ließen die zwei ungleichen Kontrahenten zurück. Für eine Flucht, da war ihr vollkommen klar, war es nun ohnehin zu spät - diese Chance hatte sie schon lange vertan! Sie hörte in der Ferne, wie das große Eingangstor geschlossen wurde. Mit einem kurzen Tritt beförderte der Zentaure mit dem Hinterhuf den Tisch durch die Luft. Das Buch landete… irgendwo. Und die Lampe zerschellte. Immerhin hatte sie Glück im Unglück - es wurde zwar dunkel, doch er sah damit zweifellos so schlecht wie sie und anders als seine Erwartungen es wohl gewesen waren, geriet das verbliebene Öl in der Lampe nicht in Brand. Die Bibliothek würde überleben, was immer hier auch geschehen würde. Langsam passten sich ihre Augen an, die Seinen ebenso. Inzwischen war ein fast voller Mond aufgegangen, Sternenlicht sandte ein kühles Weiß durch die gewaltigen Fenster in die große Bücherhalle hinein. Hatte es vorhin gespenstisch gewirkt, war es nun um ein Vielfaches unheimlicher… denn dort stand dieser zig hunderte Kilo schwere Berg von einem Kraftpaket, reglos wie eine böswillig starrende Statue und sie wusste, dass er ihr nach dem Leben trachtete - oder mehr noch. Sie sah sich um, bekämpfte zugleich mit aller Kraft die Panik, die sich breit zu machen versuchte. Was waren ihre Optionen? Sie würde das Haus nicht ohne weiteres verlassen können, die Elben würden sie erwarten. Und Rajah, der wüsste gewiss, wie sie aufzuhalten wäre. Vielleicht könnte sie sich irgendwie hinaus schleichen, doch dazu müsste sie erst einmal dieses Monstrum vor ihr abhängen. Als er ihre Gedanken von ihrer Stirn zu lesen schien, veränderte sich die Miene der Statue. Bei den schwierigen Lichtverhältnissen war das hämische Grinsen zunächst fast nicht auszumachen - doch es war da. Er stand dort, seelenruhig, und verspottete sie. Ein Ruck ging schließlich durch den Frauenkörper, sie jagte nach rechts davon und warf sich in weiser Voraussicht abrollend zu Boden. Just wo eben noch ihre Brust gewesen wäre, jagte der Wurfspeer durch die Luft hindurch und bohrte sich einige Zentimeter in den Boden, die kunstvollen Marmorfliesen dabei schlicht wie Papier zerreißend. Der Zentaure riss den Speer wieder hervor und begab sich auf die Jagd. Sein Opfer floh. Solange sie in Bewegung war, sah er ihre Umrisse. Alle paar Meter trat sie in das auf den Boden fallende Licht der Fenster und je schneller sie lief, umso besser gelang ihm der Wurf. Er verfehlte sie dennoch, einmal, zweimal, dreimal. Schließlich gab sie ihren irrsinnigen Versuch auf, den Ausgang erreichen zu wollen und verschwand wieder in der rechten Seite der Bücherwände. Den Speer als Stoßwaffe erhoben, trabte Rajah so leise wie möglich ebenfalls hinein. Die Teppiche dämpften zudem das Geräusch seiner Hufe noch weiter herab. Anfangs konnte er hören, wie sie noch davon jagte, doch dann… wurde es still. Totenstill, in der gesamten Bibliothek. Auch Vivica, die inzwischen schlich, dann kaum noch einen Schritt wagte und schließlich am hölzernen Kopfteil einer Sektion sich fest mit dem Rücken gegen das Regal presste, begriff die heikle Situation rasch. Er könnte praktisch überall sein!  „Gute Götter, wenn ihr mich hört… ich will nicht sterben…!“ flüsterte sie fast lautlos. Ihre Hände zitterten, das spürte sie. Sie verkrallten sich im Holz des Regales und zitterten selbst dann noch. Wie weit würden ihre Beine sie tragen, ehe sie zusammenbrach? Wie lange würden sie hier drinnen Katz und Maus spielen, ehe seine Wurflanze sie durchbohren würde wie der Pfeil den Hasen? Sie brauchte einen Plan - und den brauchte sie schnellstmöglich. Am besten sofort! Sie schloss die Augen, kniff sie regelrecht zusammen. Versuchte zu resümieren, was man ihr gelehrt hatte. Tief durchatmen. Tiefer! Ruhe bewahren. Sie stellte sich das Meer vor, welches sie bei ihren Ausflügen mit Shira schon oft genug gesehen hatte… und von dessen endloser Weite und Schönheit sie doch nie genug bekam. Langsam fand ihr Herz in einen erträglicheren Rhythmus zurück, ihre Atmung wurde wieder friedlicher. Sie löste sich von der Vorstellung des Meeres und wanderte durch die Bibliothek. Tage und Wochen, Monate und Jahre hatte sie hier zugebracht. Sie hatte Generationen von Bibliothekaren kommen und gehen sehen. Zweimal war dieses Bauwerk abgebrannt und restauriert worden. Sie kannte gewiss mehr der hier gelagerten Bücher als irgendwer sonst! Wie also gelangte sie hinaus? Als sie eine Idee hatte, ja fast schon eine Eingebung, da riss sie lächeln die Augen auf - und warf sich unter einem hektischen Aufschrei gerade noch rechtzeitig zur Seite. Die Faust des Ungetüms rammte sich gegen das Holz und kurz war nicht klar, ob er vor Zorn oder Schmerz aufschrie, einer Sache aber war sie sich umso sicherer: Letzteres würde Ersteres nur anfachen! Kaum einen halben Meter krabbelte sie in ihrer Zirkelrobe, ein reichlich umständliches Unterfangen, ehe sie empor kam und hastig davon eilte. Rajah sagte auch diesmal kein einziges Wort. Er packte lediglich seinen Speer und jagte ihr nach. Sie rannte und rannte - und wunderte sich, warum er nicht längst wieder sein Geschoss geworfen hatte. Da passierte sie… etwas. Ihre Sinne waren völlig überreizt und überlastet, Adrenalin jagte wild durch ihre Adern, sie erkannte es erst einige Buchreihen weiter hinten - es waren die Splitter der Öllampe gewesen und das… das brachte sie auf eine weitere Idee. Hastig schlug sie zur Linken ein, rannte zwischen den zwei Buchwänden entlang. Rajah folgte ihr wenige Meter hinterher, holte aber im Eilgalopp rasch auf. Sie glaubte schon seinen stinkigen Atem zu spüren, da wandte sie sich kurz um, blickte dem personifizierten Schrecken in die böswilligen, hasserfüllten Augen und bekam Angst… kontrollierte Angst. Es war genau das ausreichende Maß. Sie streckte die Linke nach hinten, die Rechte nach vorne. Konzentration bedurfte es keiner, nur… des Gefühles von nackter Furcht. Alles, was an Feuchtigkeit in der Luft enthalten war, sammelte sich in Sekundenbruchteilen als Reif am Boden. Die Fliesen wurden mit einem Schlag spiegelglatt. Vivica hatte sich darauf eingestellt, setzte ein, zwei letzte Schritte, ehe sie sich fallen ließ und rutschte. Quer durch den Mittelgang und zwischen den Bücherwänden der linken Seite entlang, bis das Regal endete. Sie packte das Holzschild der Seite, schrie auf vor Schmerz, als der plötzliche Ruck ihr die Schultern auszureißen drohte und doch… schlitterte sie um das Regal herum. Rajah dagegen geriet - mit Hufen obendrein - rasch ins Schleudern, verlor das Gleichgewicht und torkelte, taumelte, bis er stürzte und nicht wieder auf die Beine kam. Er schlitterte viel schneller, weil mehr Masse auch mehr Trägheit bedeutete, rauschte wenige Sekundenbruchteile nach ihr vorbei… und prallte mit voller Wucht gegen die äußere Hauswand. Die Magierin jedoch zögerte nicht lange. Sie rappelte sich hastig auf, jagte wieder zwischen den Büchern entlang zum Mittelgang und versuchte, den Ausgang zu erreichen. Hinter sich, weit hinter sich, wie sie fast erfreut bemerkte, hörte sie das maßlos rasende Brüllen ihres Feindes. Sollte er doch wüten, er käme niemals rechtzeitig, um- Ein Rumpeln und Poltern alarmierte sie. Das kann nicht sein…! Ihr erster Gedanke aber betrog sie, wie ihr rasch klar wurde. Mit seinem ganzen Gewicht musste er sich gegen die eigentlich sogar im Boden verankerten Regale geworfen haben. Nun aber waren die Seile gerissen, welche die Dächer der Buchwände mit der Decke sicherten. Die Bolzen im Boden brachen mitsamt der Stücke von Fliesen und Fundament heraus und das erste Regal kippte. Ein brachiales Knacken folgte und das Zweite gab dem enormen Gewicht nach - ein Dominoeffekt. Mit jedem Mal von mehr Wucht begleitet und daher schneller ausgelöst, kippte die gesamte linke Seite der Bibliothek. Sie rannte schneller und schneller, doch es gelang ihr nicht. Gerade noch rechtzeitig, um selbst nicht erschlagen zu werden, sprang sie wieder zurück und sah ihre Fluchthoffnungen ruiniert. Das letzte Regal stürzte der Länge nach zu Boden, zertrümmerte den Empfand und riss die großen Eingangstore in Stücke. Ein Berg aus spitzem, zersplittertem Holz und unschätzbar wertvollen Büchern, auf die zu treten sie nie gewagt hätte, versperrte nun die rettende Freiheit vor ihr. Die junge Magierin flüchtete zurück in die rechte Flanke des Raumes, zu den noch stehenden Regalen. Sie war nicht entdeckt worden… oder doch? Einige weitere Minuten konnte sie sich verbergen, wurde zwar gefunden, entkam jedoch erneut. Rajah jedoch, das wurde ihr klar, wurde wütender und wütender. Als sie schließlich versuchte, eine neue Route einzuschlagen, kam es zur Konfrontation. Im hintersten Bereich des Hauses gab es eine kleine Tür, die zu privaten Sälen und einer Treppe führte. Jene Treppe mündete auf einem kleinen Speicher für besonders… heikle Thematiken und Werke. Sie hätte versuchen können, über eines der Fenster nach draußen zu gelangen - doch kaum verließ sie den Mittelgang, fraß sich der Wurfspeer nur Zentimeter von ihr entfernt in den Steinboden. Sie wirbelte erschrocken herum - und wurde von einem wuchtigen Fausthieb zu Boden geschickt. Benommen versuchte sie sich umzudrehen, davon zu kommen, doch vor ihren Augen tanzten Sterne, die eigentlich an den Himmel gehört hätten. Desorientiert wurde ihr das ihr drohende Schicksal erst klar, als ein mächtiger, verklebter Huf rechts vor ihr auf den Teppich donnerte. Sie wandte sich auf den Rücken zurück, blickte zu dieser grausam grinsenden Miene empor. „Glaub mir, ich werde meinen Spaß haben, bevor du krepierst… und während du krepierst… und danach…!“ tönte die Bestie schließlich. Nur vage konnte sie das Haupt heben. Ihre Augen weiteten sich vor nacktem Schrecken, als sie das schlicht unmenschliche Gemächt des Biestes sah, bereit, ihr sämtliche Innereien zu zerreißen, das sie jämmerlich verbluten würde. Sie versuchte davon zu kommen, doch er langte herab und packte gnadenlos ihre Kehle. „Du wirst bereuen, als Weib geboren zu sein!“ drohte er ihr letztmals und brachte damit das Fass zum Überlaufen. „… und du, ein Mann zu sein!“ zischte sie erbost und überwand ihren nicht unerheblichen Ekel. Mit beiden Händen packte sie sein Glied, würgte die Galle herab, als sie das heiß pulsierende Zucken unter ihren Fingern spürte und sprach eine Formel aus. Rajah schrie vor Schmerzen, versuchte sich loszureißen, doch selbst als er zurücktaumelte, wirkte die Magie noch. Vivica dagegen kam zittrig auf die Füße empor. Die Flucht hatte ein Ende, hier und jetzt! Ein Tritt nur, mehr brauchte es nicht, um sein Gemächt zu zerstören. Das poröse, weiche Gestein, aus welchem es durch den Zauber verändert just bestand, gab sofort nach. Doch damit war nichts entschieden. Sie legte eine Hand auf seine Flanke und sprach die nächste Formel - das Gewebe gehorchte. Fast vollkommen erschöpft zog sie schließlich ihre Finger zurück, wankte ein paar Schritte und versuchte, wieder Distanz herzustellen. Rajah dagegen brach auf die Knie ein, übergab sich keuchend, hustend, würgend. Die Magierin jagte wackeligen Schrittes an ihm vorbei. Sein halbherziger Versuch, sie zu greifen, scheiterte an neuerlichen Magenkrämpfen. „Das ist alles?“ schrie er in erschreckend heller Stimme, „Du machst mich zu einem Menschen? Glaubst du, jetzt im Vorteil zu sein?“ Er kämpfte sich wieder auf die Beine empor, versuchte seinen Speer aus dem Boden zu ziehen. Doch das wuchtige, schwere Mordinstrument zuckte keinen Millimeter. In diesem Körper fehlten ihm schlicht die Kräfte dafür. Rasend vor Wut ließ er die Waffe zurück und jagte dem verdammten Miststück in Richtung Ausgang hinterher. Er kletterte bemüht über die Trümmer und achtlos über all die Bücher hinweg, trat ins Freie… und wurde von zwei Pfeilen niedergestreckt. Der Schuss Elenas fraß sich ohne jede Mühe in das Herz und brachte es krampfend zum Stoppen, der Schuss Artasis‘ riss ihm die dürre weiche Kehle auf. Vorsichtig trat die Halbelbe aus einer Gasse heraus, während ihr vermeintlicher Gemahl sich von einem niedrigen Häuserdach herabschwang. Gemeinsam näherten sie sich ihrem Opfer, starrten überrascht herab. Wie war das möglich? Rätselnd blickten sie einander an. Dann aber schoss etwas aus den Trümmern am Eingang der Bibliothek hervor. Ein blitzschneller… Schneehase? Ohne zu zögern hob Elena den Bogen, schoss vier Pfeile ab - doch das Tier jagte geschickt im Zickzack davon und verschwand rasant zwischen den Bäumen und Häusern. Am Boden vor ihnen, auf den Stufen der Bibliothek, war die Wandlung jedoch fast vollendet. Aus den roten Haaren war wieder ein schwarzer Schweif geworden, aus den zierlichen Füßen und Händen massige Hufe und der grazile Frauenkörper ein muskulöser Zentaurenleib. Nichts aber änderte sich an den zwei Pfeilen, die in Brust und Hals Rajahs steckten - und nichts an der gewaltigen Lache klebrigen Rotes, das rasch auskühlend die Stufen und den Boden darum verschmierte. Kein Wort der Trauer oder des Bedauerns. Beide Halbelben schulterten ihre Waffen… und zogen ab. Sie hatten, wofür sie gekommen waren. Vivica dagegen jagte wie von Ceteus persönlich getrieben zurück, hoppelte die Stufen herauf und donnerte unüberlegt mit dem Kopf gegen die Tür. Die Pforte wurde kurz darauf geöffnet und Shira half ihrer Mitbewohnerin auf die Füße. Einen Augenblick noch rieb sich die einstige Firnhexe den schmerzenden Schädel, versuchte wieder zu Atem zu kommen. Sie hatte sich völlig verausgabt. Vier Zauber dieser Klasse waren einfach zu viel…! Nur mühselig konnte die Dunkelhäutige ihr abpressen, was geschehen war. „Was soll das heißen, Salim ist tot? Ich dachte… ihr wart unanständig?“ brachte die Brünette fassungslos hervor und deutete auf die reichlich großzügigen und schwer fehlzudeutenden Flecken auf Vivicas Robe. Sie erinnerte sich noch schmerzlich gut an das Pulsieren und Zucken im Pferdeleib, den Ekel, den sie herabwürgen musste… „Was hast du gemacht?!“ „Ein Buch gelesen“, erwiderte die Rothaarige trocken und ernst. Während Rajah von Pfeilen durchbohrt worden war, hatte sie einen Blick auf das Werk werfen können, welches diesen Lakaien so viel Mühe und Umweg wert gewesen war. „Ich muss verreisen, Shira!“ „Wir, Liebes. Ich lasse dich keinen Unfug machen… nicht allein!“   Der See sagte man vieles nach und es gab über die Meere, ihre Tiefen und Untiefen sicherlich mehr Geschichten als über die verworrenen, düsteren Winkel der Welt. Für so manch einen waren die großen Ozeane der Welt aber vor allem eines: Eine Belastung für ihren Magen. Alandor zählte sich nicht zu dieser unglücklichen Gruppe von Leuten, doch er teilte dieses Schiff mit einer Hand voll derer. Fast sieben Wochen dauerte die Überfahrt nach Alrym und zuvor hatte er bereits einen Monat in dieser Hafenspelunke festgesessen, die nun wirklich allem entsprach - voran hauptsächlich schlimmsten Erwartungen und zahlreichen Befürchtungen - jedoch gewiss nicht seinen Standards. Aber was nahm man nicht alles für Leid und Elend auf sich, um endlich vom Fleck zu kommen?! Das Schiff indes hatte sich zwar als Abwechslung, nicht jedoch als Besserung erwiesen. Die Kabine war klein und mager eingerichtet, sie ließ wirklich jeglichen Luxus mangeln. Selbst manches, was er als Selbstverständlichkeit empfand, wurde hier nicht aufgeboten. Die Gäste durften sich im Laufe der Überfahrt ein Rasierbesteck… teilen. Teilen! Etwas so Essentielles! Das empörte ihn noch immer, doch die Vorstellung, mit einem Vollbart anzukommen und im ersten guten Gasthaus vom Wirt mit einem „Arrrhhh, die Hafenkneipe is‘ weita unt’n, Käpt’n!“ und einem rotzfrechen Grinsen wieder abgewiesen zu werden, jagte ihm genug Sorge und Schrecken ein, sich schließlich darauf einzulassen. Dennoch versuchte er, sich so selten wie möglich… am Gemeinbesitz zu bedienen. Er hatte sich irgendwann angewöhnt, wider der missbilligenden Blicke der Mannschaft und anderer Gäste, sein Besteck und sein Geschirr zu behalten, es lieber selbst zu reinigen und auf seinem Zimmer zu verwahren. Wer wusste schon, was für Gestalten hier sonst von sämtlichen Tellern aßen und in was für Geschwüre sie ihre Gabeln rammten? Nein, das Schiff war wirklich keine Verbesserung. Ein wenig Linderung hatte er in Spaziergängen gefunden. Unter Deck freilich nicht, dort war alles zu eng, gequetscht. Die Crew, die Fracht, die anderen Gäste, deren gutes Kapital diese Route und den Proviant finanzierte, einfach alles war… zu viel gewesen. Aber an Deck gab es einen endlos über die Kuppel der Welt gespannten Himmel und ein nicht weniger bezauberndes Meer. Dabei, so musste der Bannwirker eingestehen, hatten sie das sagenumwobene Glück, jeglichem Sturm, ja auch nur einer rauen Brise, auf so langer Fahrt geschickt aus dem Weg gegangen zu sein. So konnte er an Deck sitzen, gelegentlich kleinere Entwürfe und Skizzen in sein Buch eintragen, hier und da ein paar Notizen ergänzen. Und natürlich, die recherchierten Hinweise durchgehen, wieder und wieder. Alrym. Nichts änderte sich letztlich dadurch, er hatte nur das Land und den Zielhafen, nicht aber das Ziel im Landesinneren. Er würde Hilfe brauchen, doch zumindest da war er optimistisch - das Land hatte zwar offiziell eine eigenständige Regierung, unter der Hand jedoch gehörte es quasi dem Zirkel. Kein Bewohner, ob Bauer oder Ratsmitglied, würde das Wort eines Magiers abweisen. Sie wagten es einfach nicht. Das lag nicht nur in der enormen Macht begründet, in der Allgegenwart der Magie und ihrer Anhänger und Wirker, sondern vor allem darin, das Alrym von der Gegenwart des Zirkels, seiner Ordnung und seinen Mitteln profitierte. Dem Land ging es schon lange nicht mehr so gut wie dieser Tage und das trotz der Konkurrenz aus Lumiél. Just als seine Gedanken in die Heimat schweifen und sich mit den überraschenden Entdeckungen und Veränderungen dort befassen wollten, riss ihn ein wirklich unschöner und unappetitlicher Laut aus den Gedanken heraus. Ein Stück neben ihm war er wieder, dieser junge Bursche. Genau der gehörte zu diesen Leuten, die das Meer einfach nicht vertrugen. Das Frühstück lag inzwischen ein, zwei Stunden zurück - er hatte sich bemüht, sich gut und lange gehalten… aber da war es wieder. Und fütterte nun anverdauert in kleinen Bröckchen die Fische. Reizend. Alandor nahm sich etwas Zeit, diese arme Seele zu mustern. Feine Gesichtszüge, ein wenig weibisch vielleicht. Dazu leicht angespitzte Ohren, ein Mischblut eben. Die Gestalt war eher von kleinem Wuchs, dürr und kümmerlich. Als hätte man ihm nicht genug zu essen gegeben. Nun, vielleicht war er einfach schon zu lange auf dem Meer unterwegs und hatte sich nie daran gewöhnen können. Von was sollte ein Körper groß und stark werden, wenn er ständig alles Essbare erbrach? Kurz darauf aber trat, wie schon die Tage und Wochen zuvor, die Begleitung dieses Halbelb auf den Plan. Sie war ein Vollblut, keine Frage. Allein schon die spitzen Ohren verrieten sie. Dabei hätte man in ihr gut und gerne einen Barbaren aus Kruk erkennen können. Für eine Elbe war sie schlicht zu breit gebaut, zu muskulös… und ständig marschierte sie in Rüstung und Bewaffnung auf, als würde ihr gleich eine Legion schwerster Paladine ins wilde Schlachtengetümmel folgen. Sie imponierte ihm, gleichwohl, wie sie ihn abstieß. Dieses Weib besaß keinerlei Manieren, rüpelte und pöbelte ständig herum und bedachte gerade ihn, obgleich er sich immer weitestmöglich von ihr fernzuhalten versuchte, mit besonders giftigen Blicken. Irgendwie glaubte er sie zu kennen. Ihr Gesicht, die Narbe über dem Auge, welches milchig daher starrte… Alandor verfolgte, wie die Gerüstete dem Halbelben auf den Rücken klopfte. Ein paar mehr zotige Ratschläge und Sticheleien, die dem Ärmsten zweifellos unglaublich hilfreich erscheinen mussten. Dann wieder einer dieser tödlichen Seitenblicke - als wolle sie ihm sagen, dass es schon zu viel wäre, auch nur in ihre Richtung zu blicken. Kurz war sich der Bannmagier uneins, ehe er innerlich mit den Schultern zuckte und sich unter Deck in seine Kabine begab. Das Land war inzwischen in Sichtweite gelangt und der Kapitän hatte ihm zwar leicht enerviert, aber dennoch höflich mitgeteilt, dass sie gegen frühen Abend einlaufen würden. Es galt also ein paar Sachen zu packen, die Habe zu sammeln und die Ankunft ein wenig vorzubereiten. Für ihn bedeutete das hauptsächlich, dass er - sobald die Tasche erst einmal gepackt war - sich auf seinem Bett niederließ und begann, die Zauber aus seinem Magierbuch zu studieren. Natürlich hoffte er, sie nicht zu benötigen. Doch kein Magier wurde je vollwertig, überlebte seine Abschlussprüfung und bekam die Robe des Zirkels, wenn er sich auf Hoffnungen und Glaube verließ. Jebis mochte ein waches Auge haben, aber er war kein Schutzpatron der Art, die sofort herbeigestürzt kam und dem weinenden Kind das Händchen tätschelte und die Arbeit abnahm. Tatsächlich zogen die Stunden dahin und der Bannwirker verinnerlichte die grundlegenden Zauber seines über die letzten Jahre weiter angewachsenen Repertoires. Diesen Zuwachs hätte es vielleicht nicht gegeben, wäre diese Jagd nicht so… turbulent geworden. Er hätte sich gerne mit jemandem zusammen getan. Einstmals hatte eine Ordensmagierin namens Linh Fang diesen Part übernommen. Sie bot die Offensive, während er unterstützte und verteidigte. Doch als man damals ihre Verbindungen nach Ulthwe aufdeckte, verschwand sie mit dem erstbesten Schiff zurück nach Shou Lang. Zumindest war das das, was alle Welt wusste und glaubte - ganz sicher war er sich dessen nicht. So hatte er nach und nach selbst ein wenig offensivere Verwendungsmöglichkeiten seiner Zauber lernen müssen. Gravitation zu bannen war eine sicherlich lustige Sache, aber brachte einen ernstzunehmenden Effekt im Kampf nur dann ein, wenn sie schnell und ausreichend stark wirkte - der Zauber musste die Ziele entweder sehr schnell sehr hoch heben, damit der Fall bei Abklingen der Magie sie umbringen würde, oder er musste sie sehr hart und stark anziehen und zu Boden drücken, um ihnen durch Brechen der Beine mindestens die Beweglichkeit zu rauben. Gedanken wie diese hatten die Seiten gezeichnet. Es waren unschöne Überlegungen gewesen, geboren aus unschönen Notwendigkeiten und gleich gearteten Konfrontationen. Ein ums andere Mal jedoch war ihm Duncan entwischt. Er hinterließ kaum verfolgbare Spuren, bemühte sich auch jedes Mal, eben diese zu verwischen. Selten blieb ihm genug Zeit - Alandor erwies sich als geschickter, flinker Jäger. Aber die Spur aus Brotkrumen würde sich ewig fortsetzen, wenn er ihn nicht irgendwann endlich einmal einholen und stellen könnte. Alrym… vielleicht würde es ja hier ein Ende finden. Er hätte gewiss keine Einwände, sich wieder etwas weniger feindseligen Vorhaben zuzuwenden. Als das Schiff - wie vorhergesagt - in den Abendstunden einlief, verschaffte sich der Bannmagier nur einen knappen Überblick. Die Hafenstadt war… oh nun, wie die meisten anderen Hafenstädte auch. Dreckig, klein und rückständig. Ein paar Hütten aus exotischem Palmenholz hier und da, vermutlich aus genau den Bäumen geschlagen, die sich im Hinterland bereits als kleines Palmenwäldchen abzeichneten. Ein ganzes Stück weiter östlich konnte er weiße Strände sehen, die zum Verweilen einluden. Vermutlich war das Wasser dort auch klarer. Nicht unbedingt sauber und genießbar, aber klar genug, um sich über die Rechtmäßigkeit belügen zu können, wenn man darin schwimmen wollte. Hier am Hafen jedoch roch es - und das längst nicht nach guten Suppen und edlen Weinen, wie er es sich im Moment wünschte. Sein Pfad führte ihn daher von den Stegen fort. Wenige Minuten zuvor war sie bereits schon am Hafen angelangt. Sie hatte sich umgesehen, dann einen guten Platz ausgewählt. Ein paar Dockarbeiter kamen vorbei, hier und da. Man erzählte der alten Vettel, die da am Pier saß, auf ihre Frage hin ganz genau, wo das Schiff einlaufen würde. Also hatte sie sich doch nochmal auf ihre müden Knochen gehoben und war hinüber gelaufen… um sich am nächsten Pier niederzulassen. Als die große Galeone einlief, hätte ihr Tiefgang sie fast auf Grund gesetzt. Dann kamen die Landestege, drei an der Zahl, und die kleine Meute an Arbeitern begann Hand in Hand mit der Mannschaft, Waren ein- und auszuladen. Kisten und Säcke noch und nöcher. Nur wenige Passagiere stiegen aus, noch weniger ein. Für die Meisten war dieser Hafen nur ein Zwischenstopp. Alrym, was wollte man denn auch schon in Alrym? Wer Magierwunder sehen wollte, der ging nach Ordewey! Wer nicht nur Wunder, sondern die wahre Kraft der Magie erleben wollte, den zog es nach Akkara. Aber Alrym? Alrym war das Land, das keiner brauchte. Offiziell. Als ein hübscher junger Mann das Schiff verließ, folgten die Augen der alten Vettel. Lächelnd strich sie sich durch das fettige, längst ergraute Haar und zog das Halstuch zurecht. Sie hörte auf, mit den Beinen über den Steg zu wippen, krabbelte umständlich auf die Planken zurück und raffte sich auf. Sie würde ihm ja folgen müssen. Alandor zog es zu einem guten Gasthof. Einem Guten - dummerweise grinste nur jeder, den er nach einem solchen fragte und nannte ihm den immer gleichen Namen. Das machte dem Zirkelmagier recht zügig deutlich, dass es in diesem Hafen leider auch nur ein Gasthaus zu geben schien - was bereits so manches darüber aussagte, welche Standards dort herrschen würden. Denn wenn es keine Konkurrenz gab, warum sollte man sich dann um Qualität bemühen? Der treffend betitelte Tote Fisch roch zwar nicht so, bot aber sonst genau das auf, was der Name versprach und was sein neuster Gast befürchtet hatte. Eine billige kleine Kaschemme, die nicht viel kostete, bei der man sich aber dennoch über den Tisch gezogen fühlte, das Wenige zu zahlen. Mit schmierigem Grinsen nahm der Wirt die sauberen Münzen entgegen, die es vom Zeitpunkt des Handwechsels zweifellos nicht mehr waren und händigte ihm einen Schlüssel aus, den Alandor nur unter einiger Überwindung in die Hand nahm. Hier etwas zu essen kam gar nicht in Frage - durch den Spalt in der Tür zur Küche hatte er die Magd gesehen, die seelenruhig erst in der Nase bohrte und dann ungeniert das Fleisch für die Bratpfanne klopfte. Mit der bloßen, ungewaschenen Hand, verstand sich. Wer wusste schon, wie sie es erst nach dem Toilettengang mit der Hygiene hielt? Gute Götter, das hier keine Seuchen alle paar Tage jemanden dahin rafften, glich einem Wunder. Ja, der Zirkel brachte Wohlstand, Bildung und Zivilisation. Aber leider zwang er die Leute nicht dazu, dem auch nachzukommen. Mancher schien sich in einem versifften Saustall einfach viel wohler zu fühlen - etwas, das ihm völlig unbegreiflich war, doch seine Beobachtungen waren diesbezüglich unbestreitbar. Die Vettel, die dem neusten Gast des Toten Fisches nachgeschlichen war, harrte kurz vor der Tür des Gasthofes aus. Zwei Stockwerke ragte das große Haus vor ihr auf. Nur mit Mühe konnte sie den Kopf weit genug in den Nacken legen, war ihr der Buckel doch deutlich im Wege. Schließlich spuckte sie auf ihre Hand, fuhr sich nochmal ein wenig Schmutz entfernend durch das Gesicht, ehe sie nach der Tür griff. Als die Pforte sich öffnete, blickte der Wirt erwartungsvoll auf - und sah sogleich das nächste Opfer seines Hauses. Frauen kamen seltener hierher, allein obendrein. Doch an die dort würde sich keiner heranwagen, soviel stand fest. Ein wenig mulmig wurde selbst ihm, als diese hünenhafte Kriegerin näher trat. Schritt um Schritt und er glaubte, sie würde immer weiter wachsen. Tatsächlich hielt die schwarzhaarige Bärin direkt vor seiner Theke. „Zimmer!“ blaffte sie ihn an und donnerte mit einer aderzerfurchten Hand einige Münzen auf das von einer gesunden Patina überzogene Holz. Er schob ihr den Schlüssel zu, nahm sich der Münzen an und… hielt ihrem starrenden Blick nicht stand. Der Herr des Hauses wollte sich bereits in die Hinterräume zurückziehen, da blaffte sie den nächsten ‚Wunsch‘. „Bier! Bier für mich“, verlangte sie, blickte sich dann um und starrte in einige reichlich trostlose oder desinteressierte Gesichter. Hafenarbeiter, die Meisten zumindest. Der  feine Herr dort in der Ecke jedoch fing ihren Blick für längere Zeit ein. „Bier für alle!“ rief sie johlend in den Raum. Prompt hatte sie alle Aufmerksamkeit. Fast alle. Die Hafenarbeiter klönten, lachten auf, prosteten ihr zu. Mancher lud sie mit einer Geste an seinen Tisch ein, obwohl kaum jemand wirklich hoffte, dieses Weib heute in ein Bett zu bekommen. Vermutlich brächte sie das klapprige Gestell zum Einsturz und würde jeden Tropfen Männlichkeit aus den Lenden saugen - die Muskeln dafür schien sie zu haben. Der feine Herr Magier dagegen ignorierte sie weitestgehend und warf auch einen überkritischen Blick in den Humpen, als das Freibier endlich ausgeteilt wurde. Wein jedoch, das war der hünenhaften Schwarzmähne klar, erfragte man hier vergeblich. Entsprechend verging nicht viel Zeit, da verließ Alandor seinen Tisch auch wieder. Das spendierte Bier hatte er nicht einmal angerührt, aber sehr intensiv angestiert. Als erwarte er jede Sekunde ein kleines, schwimmendes, krabbelndes, klebriges Etwas darin zu entdecken. Er begab sich die Stufen hinauf ins Obergeschoss, wo irgendeine der Zimmertüren ein hoffentlich wanzenfreies Bett für ihn bereithalten würde. Kaum war er außer Sicht verschwunden, schob auch die Kriegerin ihren ebenso unangerührten Krug von sich und folgte. Den Bannwirker hielt es nicht grundsätzlich lange auf den Füßen. In seinem Zimmer angelangt, verstaute er zuerst sein Magierbuch unter dem Kopfkissen, das sogar recht zügig, ehe er sein Schwert auf dem kleinen Rundtisch ablegte und dann das Bett genauer prüfte. Keine Wanzen soweit - immerhin das. Die Decke hatte nicht die beste Qualität, die Matratze und das Kissen ebenso wenig, aber… immerhin wirkte alles sauber und frisch bezogen. Vermutlich war das bei diesem Personal hier bereits ein guter Fang. Er hielt nicht einmal eine Sekunde inne, als er hörte, wie sich hinter ihm die Tür seines Zimmers leise schloss. Abermals. Stattdessen trat der Zirkelmagier zum Fenster herüber und blickte kurz durch das milchig-verschmierte Glas hinaus auf die Stege des Hafens. „Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich überrascht wäre. Mich wundert nur… warum gerade du?“ Nur nachlässig blickte er über die Schulter. Die Illusionen waren zerfallen, aufgelöst. Keine gebeugte Vettel mehr, keine bärige Kriegerin. Messerscharfe Klauen schabten über die schmierigen Bodendielen, bei jedem einzelnen Schritt. Sie bewegte sich elegant, ihre wiegende Hüfte war eine Sehenswürdigkeit - so wie ihr gesamter Leib, der sich die Blöße gab, keinerlei Hüllen zu tragen. Hier und da bedeckten kleine Schuppenstellen ihre Haut, gehalten in einem dunklen Rotbraun. Gelbe Katzenaugen fixierten ihn forsch, die schmalen Lippen zu einem kecken Lächeln gezogen. Ihre krallenbewehrten Hände strichen einen Moment ihre Hörner herab über Wange und Hals - und endeten bei ihrer Brust, als hätte er Augen im Hinterkopf. Tatsächlich mochte sie das vielleicht hoffen, Alandor jedoch… konzentrierte sich. „Warum wohl?“ hauchte ihre Stimme süß daher, „Er wusste genau, das du mich nicht töten würdest. Seien wir ehrlich, mein Lieber, du hast eine Schwäche für mich. Möglicherweise irre ich mich ja. Möglicherweise bin nicht ich es? Sag…“ Eine weitere Illusion brach in ihre Bestandteile. Ohne jede Mühe hatte Cassidhi verschleiert, das sie nicht länger einige Meter entfernt ausgeharrt hatte. Nun stand sie direkt hinter ihm, legte ihre Arme um seine Brust und strich geradezu liebevoll kratzend über seinen Torso, während sie ihm neckisch zu hauchte, „… reizt dich jeder Tiefling so wie ich es vermag?“ Sie verfolgte sehr genau seine Reaktionen. Sein Puls beschleunigte sich durchaus, aber nicht im gewünschten Maße. Nicht Angst war es, die sein Herz einen Takt höher trieb. Nein - er fürchtete sie kein Stück. Trotz ihrer kleinen Einlage. Sie hatte es geahnt und sich daher nicht recht Mühe gegeben - vielleicht lag darin auch der Fehler. Tatsächlich war es ihr lieber, wenn er sie nicht fürchtete. Das machte manche Dinge vielleicht einfacher. „Warum bist du hier?“ wollte er nun abermals wissen. Fast ein wenig beleidigt schürzte sie die Lippen und biss ihn mit nadelspitzen Zähnen vorsichtig in den Nacken. „Warum wohl. Ich soll dich aufhalten, ein wenig hinhalten, Zeit gewinnen. Du weißt schon, das alte Spiel. Bevor du weiter den ganzen Süden auf den Kopf stellst und die Nadel im Heuhaufen suchst. Ich bin gewissermaßen… ein Friedensangebot, hm? Sieh es doch ein, Alandor - du hast gegen ihn nicht den Hauch einer Chance. Und er, nun… er gab sich in der Vergangenheit wirklich viel Mühe, dich nicht töten zu müssen. Das wäre ihm lieber. Er hat ja nichts gegen dich. Und mir… mir wäre es auch lieber…“ „Hast du denn überhaupt einen eigenen Willen?“ Mit jener Frage auf den Lippen wandte er sich zu ihr um, doch statt ihm zu antworten… begann sie ohne Umschweife, ihn aus der Robe zu schälen. Der Bannwirke widerstrebte nicht, was Cassidhi lediglich als Einverständnis auffasste. Es ließ sie hoffen, dass sie ein letztes Mal eine schöne Zeit haben würden, ehe diese leidige Sache endlich ihr Ende finden würde. Sie drängte ihn zu jenem leidlich guten Bett herüber und schließlich auf die Matratze nieder. „Glaub mir, das wirst du nicht vergessen…“ hauchte sie verheißungsvoll und ließ ihr Haupt, hier und da kleine Liebkosungen setzend, tiefer und tiefer sinken. Als ihre Lippen sich an seinen Lenden zu schaffen machten, sog Alandor erstmals tief Luft ein. Es entlockte ihr nicht mehr als ein Kichern, sie verstand es als Kampfansage und erklärte ihm, er könne ruhig versuchen, ihr zu widerstehen. Tatsächlich verfügte sie nicht nur über exzellente Kenntnisse und eine natürliche Begabung für das Stehlen von… nun, schlichtweg allem, sie besaß auch ganz andere… Qualitäten. Ihre gespaltene Zunge machte es dem Magier dabei um ein Vielfaches schwerer, die Konzentration zu halten, als es das ohnehin schon gewesen wäre. Sie neckte und reizte ihn, spielte eine Weile mit ihm, ehe sie befand, dass sein Puls ausreichend raste, um eine Weile ihren Spaß haben zu können. Wieder zu ihm herauf kletternd, drückte sie ihm ihre Lippen auf, zwängte forsch ihre Zunge zwischen die Seinen und verwickelte ihn in ein kleines Gefecht, während sie mit den Klauen behutsam nachjustierte und ihre Hüfte schließlich auf seine nieder drückte. Selbst dabei aber ließ sie sich Zeit, zwängte ihn Millimeter für Millimeter hinein und brachte ihn damit beinahe um den Verstand. Auch das ließ sie zufrieden grinsen - ehe sie sich schließlich auf ihm aufrichtete. Sie verstand sich auf die Verführung. Sie hatte es dutzende, wenn nicht hunderte Male getan, noch bevor sie beide sich getroffen hatten - und inzwischen, so viele Jahre später, mochte es wohl schon eine vierstellige Summe sein. Die Erfahrung hatte geschult, daran konnte kein Zweifel bestehen. Souverän ließ sie ihre Hüfte auf seinem Becken kreisen, entzog sich ihm, nur um dann mal quälend langsam, mal mit einem Ruck wieder aufzuschließen. Sie strich mit ihren Krallen über seine Brust - oder ihre Eigenen. Immer wieder trat die pure Zufriedenheit auf ihre Miene, wenn sie ihn keuchen oder aufstöhnen hörte. Seine geschickten Finger fanden den Weg in ihren Schoß, reizten zusätzlich ihre sensiblen Bereiche und verschafften ihr ein noch weit höheres Niveau an Lustempfinden. Eine ganze Weile brachten sie so zu, spielten sie sich zunächst aufeinander ein, ehe Cassidhi das Tempo zunehmend steigerte, ihn immer härter forderte. Seine Konzentration schwand dahin, er brauchte jeden Funken, um sich zu beherrschen - sie konnte es ihm ansehen, es hören, spüren. Er kämpfte verbissen gegen die pure Ekstase, die sich unweigerlich näherte. Als sie ihn fast soweit hatte, löste der Tiefling vorsichtig die letzte noch bestehende Illusion auf. An ihrer Hüfte erschien ein schmales Band, kaum so zu bezeichnen, war es dennoch ein Gürtel. Er hielt keine Hose auf Höhe, er verdeckte nichts und er bot scheinbar keinen Halt - außer dem Dolch, den sie am Rücken trug. Eben jene Klinge förderte sie zutage, als sei sicher war, das seine Mühen, konzentriert zu bleiben, zu widerstehen, ihn unweigerlich dazu brachten, die Augen fest geschlossen zu halten. Er ertrug den Anblick nicht, sie, ihre Blöße, wie sie ihn wie einen sturen Gaul zuritt - und das würde nun sein Verderben werden. Just aber, als sie mit der Klinge noch im Rhythmus befindlich ausholte, spürte sie eine Präsenz - seine Präsenz! Er hatte sich die ganze Zeit schon im Gewebe zu schaffen gemacht, dieser hinterhältige kleine Bastard, hatte sie umgangen, sich um sie, die Tieflingsdiebin, herumgeschlichen und begonnen, ihre Fäden zum Gewebe nach und nach zu schwächen und zu kappen. Es hatte irgendwann auffallen müssen - nun aber war es spürbar. Er hatte die falsche Verbindung berührt. All ihre Magien spalteten sich letztlich in drei Ströme ab: Die Illusionen, die sie unbewusst und willentlich zu erschaffen vermochte. Manche ihrer Sinnesleistungen waren auf magische Weise stärker als die anderer Lebewesen. Und zuletzt… war da die Geistmagie. Eben jenes dünne, aber ungeheuer starke Band, über welches Duncan Kontakt mit ihr hielt. Er wollte es durchtrennen. Als einfacher, einfältiger kleiner Magier hatte er natürlich nicht auseinanderhalten können, welche Fäden welche Magie versorgten - er hoffte tatsächlich, sie ohne Blutvergießen retten zu können. Unter einem erbosten Aufschrei wollte sie den Dolch in seiner Brust versenken, fuhr mit der Waffe nieder - zeitgleich jedoch riss Alandor die Lider auf, erkannte rechtzeitig das Unheil und die Not zur raschen Handlung. Es blieb kein Spielraum mehr für Feinheiten und das Risiko, sie mit einem abrupten Kappen aller Fäden in Schock zu versetzen, zu traumatisieren oder ja, gar zu töten, musste nun unweigerlich in Kauf genommen werden. Mit einem letzten Ruck riss er alle Fäden des Gewebes entzwei, hoffend und bangend. Wenn es nicht  funktionierte, dann wäre sein Leben verwirkt - wäre es ebenso, hätte er zu spät reagiert. Tatsächlich wusste der Bannwirker nicht das Geringste darüber, was nun geschehen würde. Er hatte in den vielen Konfrontationen das Gewebe zeitgleich zum eigentlichen Kampf zu studieren und zu beobachten versucht - eine knifflige und gefährliche Angelegenheit. Nun aber schien ihm ein Coup gelungen. Cassidhis Hand entkrampfte regelrecht, die Klinge stürzte irgendwo neben dem Bett scheppernd zu Boden und unter einem tiefkehligen Aufstöhnen sank die Gestalt des Tieflinges auf seine Brust nieder. „W-Wer… er seid ihr…?!“ keuchte die Gehörnte heiser - just im gleichen Moment spürte der Bannwirker, wie ihm alle Kontrolle entrissen wurde. Heißkalte Schauer jagten durch seinen Leib, ein Zucken und Krampfen presste ihn tiefer in ihren Leib hinein. Unwillkürlich schloss er die Arme um ihren zitternden Leib, stieß, der Beherrschung beraubt, nochmals in ihre Lenden, ehe er tief um Atem ringend versuchte, wieder zu klarem Verstand zu kommen. Cassidhi Rytka, so es diese Frau je gegeben hatte… war fort. Nicht etwa tot - sie existierte einfach nicht mehr. Wer immer dort auf ihm lag, war von dieser erzwungenen Gestalt befreit. Dass sich das Tieflingsweibchen nicht unbedingt vor Dankbarkeit überschlug, war zu erwarten gewesen. Etwas, das er nicht völlig durchdacht hatte, da ihm eben auch nicht klar gewesen war, wie unmittelbar die Reaktion eintreten würde. Was musste wohl jemand denken, der sich erinnerte, zuletzt mit einem freundlichen, aber sehr verschwiegenen Menschen gesprochen zu haben und plötzlich erwachte man in der Hitze eines fremden Landes Jahrhunderte später in einer billigen Absteige auf einem Bett, während man mit jemandem auf eine Weise verkehrte, die je nach moralischem Kompass ein paar starke Bier oder eine ganze Ehe voraussetzen sollte? Sie hatte versucht, ihm zugute zu halten, dass sie selbst offenkundig ihren Spaß dabei gehabt hatte - doch so recht wollte nichts Sinn für sie ergeben. Was war geschehen? Jener fremde Mensch versuchte es ihr zu erklären. Er sprach von Geistmagie, die sie beherrscht hätte - eine lange, lange Zeit. Wie lang genau, das vermochte er ihr nicht zu sagen. Sie bemühte sich zwar, ihm etwas darzulegen, doch er schien wenig daran interessiert, wer sie war. Die Geschichte einer Näherin aus einer kleinen Tieflingsenklave interessierte ihn nicht. Er erkundigte sich nach dem Tag, als sie auf dem Markt beim Verkauf ihrer Waren Duncans Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Obgleich er ihrer Ansicht nach Rafael hieß und seinerseits ein Händler war, welcher im Ausland größere Regimenter an Bekleidung absetzte. Doch das hier war nicht ihre Heimat - schon der fassungslose Blick aus dem Fenster verriet es. Dunkelheit versuchte die Wahrheit zu verhüllen, aber die Laternen beleuchteten einen Hafen und… Palmen. Sie hatte in ihrem ganzen Leben nie zuvor Palmen gesehen. Alandor gab sich in dieser Nacht freimütig. Mit einer Bekannten hatte er das Lager geteilt, mit einer Unbekannten war er selbigem entstiegen. Also zahlte er ihr ein eigenes Zimmer, beschaffte ihr im Ort ein paar einfache Kleider. Nichts, das mehr als ein paar wenige Silberstücke kostete. Er gab ihr genug Geld für eine Überfahrt in ihre Heimat - und überließ sie dann sich selbst. Was sonst hätte er auch tun sollen? Ohnehin wäre er im Grunde zu nichts davon verpflichtet gewesen. Es war ein Test. Ein Experiment. Und er hätte vielleicht auch zugegeben: Es war ein Stück weit Vergeltung. Cassidhi hatte ihn damals verlockt, ihn schließlich ans Bett gebunden und aller Habe beraubt zurückgelassen. Sie hatte sich obendrein immer gerühmt, dass man sie nie würde überraschen können. Nun… er hatte sie Lügen gestraft und es ihr heimgezahlt. Obendrein war nun klar, dass die Konzentration der Marionetten Duncans ebenso gestört werden konnte, dass sie unachtsam und unaufmerksam werden und getäuscht werden konnten. Sie waren nicht perfekt, nicht vollkommen, nicht unüberwindlich. Vielleicht hatte der Chronist deshalb solch eine große und überaus schlagkräftige Gruppe um sich gesammelt. Nun aber fehlte ihm schon das vierte Mitglied seiner Truppe. Der Verlust der Diebin und des fleischlichen Tauschobjektes würde sich bemerkbar machen - außer natürlich, Duncan würde schlichtweg umdisponieren und aus Elena, der Halbelbe, einen Ersatz für den Tiefling machen. Sie vermochte zwar keine Illusionszauber zu wirken, hatte keine solch hübsch anzuschauende Hüfte und weniger Brust, doch im Zweifelsfall würde Alandor nicht darauf wetten wollen, dass das genug Mängel wären, Männer bei Verstand zu halten. Während die Fremde, deren Namen er nicht einmal erfragt hatte, ein paar Türen weiter versuchte, irgendwie mit der neuen Welt klar zu kommen, wälzte er selbst Unterlagen und Karten, die er sich vom Wirt hatte beschaffen lassen. Er fuhr immer wieder, die diversen Notizen auf dem Tisch ausgebreitet, die Südküste Alryms ab. Ortsnamen waren für ihn interessant, markierte Städte, Pläne von Ruinen und die Verzeichnisse von magischen Knotenpunkten. Einfach alles, was irgendwie für Duncan von Interesse hätte sein können. Schließlich wählte er sechs Punkte aus, die seine künftige Reiseroute ergaben. Der Chronist hatte einen immer mehr dahinschmelzenden Schild an Puppen vor sich - doch das bedeutete auch, das er möglicherweise mit mehr Eifer zu Werke ginge und vor allem, das er sich zunehmend weniger Gedanken machen musste, das eine solch große Gruppe auffallen könnte. Immerhin - solange Rajah dabei wäre, dessen war sich der Bannwirker in seiner Zufriedenheit sicher, würde er immer Leute finden, die sich an diesen Tross erinnern könnten…   Ein Rascheln im Wald - das konnte alles oder nichts bedeuten. Vielleicht jagte nur ein kleiner Affe auf der Futtersuche durch das Gestrüpp, vielleicht aber pirschte sich der nahende Tod langsam heran. Der junge Wachmann war nicht gewillt, sich davon überraschen zu lassen. Er packte einmal mehr seine Pike, sprang auf die Füße und sah sich in der Richtung um, die er als Quelle des Lautes vermutete. Genau ließ sich das nicht sagen - die Palmen standen zwar nicht dicht, aber die Gegend war felsiger und voller dornigem Gestrüpp, es gab genug Möglichkeiten, sich vor den Blicken der vermeintlich ahnungslosen Beute zu verstecken. „Wer da?!“ fragte er mit bemüht starker Stimme und doch konnte man ihm die Unsicherheit und das unbändige Maß diverser Befürchtungen anhören. „Geht nicht gleich auf mich los“, ertönte es zur Antwort. Allein schon, dass eine Antwort kam, wohlformuliert und mit freundlicher Stimme vorgebracht, ließ den Burschen entspannt die Pike senken. Es gab an dieser Stelle, da er sein Wegelager aufgeschlagen hatte, zwei dünne Trampelpfade - einer führte zum Küstendorf hin, einer davon weg ins Landesinnere hinein. Dieser Fremde aber, der sich durch die Büsche kämpfte, der kam nicht dieser Pfade daher. Dennoch entspannte der Soldat noch ein wenig mehr und stellte seine Waffe schließlich bei Seite, als er das Emblem bemerkte, welches in hübsch verzierten und verschnörkelten Schwingungen auf der Robe des Reisenden prangerte. „Ein Magier, hm? Ich bin überrascht, wirklich, das ging sehr schnell. Erst vor zwei Tagen habe ich die Taube geschickt. Aber ich will nicht undankbar klingen, Herr. Bitte, setzt euch doch, trinkt etwas. Ich… ich habe nicht viel aus dem Dorf retten können, eigentlich sollte ich wohl auch schon lange nicht mehr hier sein. Aber irgendwer muss ja… euch informieren, nicht wahr? Dachte ich mir so.“ Das etwas nervöse und sichtlich ratlose Gestammel half Alandor zunächst nicht weiter und dieser Knilch sah sich offenbar auch nicht genötigt, ihm zur Hilfe zu kommen, während er unter allen Mühen versuchte, so langsam und sorgfältig wie möglich seine Robe von diversen Dornen und Ranken zu befreien. Das hätte ihm noch gefehlt, das er seine Magierrobe an ein paar Büschen zerriss, wenn sie Jahrhunderte voller Schlamm, Kampf und hastiger Flucht überstanden hatte! Noch während er aber darauf zielte, den Schaden für den Stoff gering zu halten und im Geiste über seine Route zeterte, die schon vor einigen Stunden immer unpassierbarer und verwilderter geworden war, begann sein Schädel zu rattern und zu rauchen. Der Wachmann hatte ihm von einer Brieftaube erzählt, davon, dass er hier auf ihn gewartet hätte. „Ihr konntet nicht viel… retten?“ hakte der Bannwirker nach, während er endlich befreit auf die kleine Ausbuchtung am Wegesrand trat und sich mit einem missbilligenden Blick an den jungen Mann auf einem der liegenden Palmenstämme niederließ. Daraufhin ließ er sich die kleine lederne Flasche geben und nahm einen Schluck - davon ausgehend, es handle sich um Wasser. Umso mehr reute ihn, gleich mit Gier getrunken zu haben, als das heiße Brennen seine Kehle hinab stürzte und seinen Magen in Aufruhr versetzte. Hustend und spuckend keuchte er um Luft und versuchte, den Schnaps von seinen Atemwegen fern zu halten. „Oh bei den Göttern…!“ ächzte Alandor bemüht und hätte fast das wertvolle Gut verschüttet. Sein Gesellschafter lachte kurz amüsiert auf, schwieg jedoch ebenso rasch, als ihn der strafende Seitenblick traf. „Verzeiht, Herr. I-Ich hätte euch vielleicht warnen sollen.“ Nun - dem wiederum konnte er wirklich nur zustimmen. Nachdem er sich etwas sortiert hatte, blickte der Magier sich um. Eine der üblichen Raststätten, ein gutes Stück weiter seewärts konnte er die Ansammlung der Hütten erkennen. Es war der vorletzte Stopp auf seiner Route - danach würden ihm die Ideen ausgehen und mit etwas Pech… hätte er Duncans Route dann tatsächlich endgültig verloren. Etwas, das er so nicht hinzunehmen gewillt war. „Es begann in der Nacht“, hob der Soldat schließlich seinen Report an und schilderte nach und nach die Geschehnisse, soweit sie ihm bekannt waren, „Ich glaubte hin und wieder auf meiner Schicht etwas zu hören. Machte kleine Kontrollgänge durch das Dorf, aber alles war ruhig. Nachts geschieht nicht viel. Die Wellen rauschen, man hört die Arbeiter auf den Stein klopfen, wenn es mal sehr still wird, aber das war’s auch. Und dann, zu weit späterer Stunde, da tönten plötzlich Hörner. Schaut mich nicht so an! Ich sage es euch, Herr! Hörner! Die Klänge waren zunächst ganz leise, kamen vom Meer her, dachte ich. Vielleicht ein paar der Männer, die… aber es waren keine von uns. Hearwas und ich, wir blickten uns an und… naja wir wollten mal nachschauen, das kam uns doch merkwürdig vor. Also haben wir unsere Sachen gepackt und sind aus der Stube raus. Weit kamen wir nicht. Die ganze Siedlung lag in völliger Dunkelheit, irgendwer hatte alle Nachtlampen gelöscht. Und aus einer Gasse gegenüber der Wachstube kam ein Speer gesegelt. Er traf Haerwas in die Brust, riss ihn einfach um und… ich sah… das Unverständnis in seinen Augen, als das Leben wich… ich konnte mich von dem Anblick nicht losreißen. Kurz darauf traf mich etwas am Hinterkopf. Eine Keule, hätte ich geschworen, kann aber alles Mögliche gewesen sein. Ich denke, man hielt mich für tot. All das Blut, das meine Haare verklebte… man sieht es jetzt noch ein wenig. Als ich am Morgen zu mir kam, war das Dorf vernichtet. Regelrecht entvölkert. Ich sah von Pfeilen durchsiebte Weiber auf den Straßen liegen, Kinder waren bei dem Versuch, aus dem Fenster zu klettern, mit wuchtigen Speeren aufgepflockt worden. Ich schwöre, Herr, so etwas habe ich noch nie gesehen… es war grässlich. Die… die Speerspitzen, das fiel mir bei Haerwas auf, kamen mir seltsam vor. Ich weiß nicht, ob das etwas zur Sache tut. Aber sie wirkten wie aus Stein. Ich sah so etwas nie zuvor. Ich meine… Speere werden doch geschnitzt und geschmiedet! Nicht geschlagen! Als ich die Hörner wieder hörte, packte ich alles, was ich greifen konnte. Ich glaube, ich hörte ein paar Pfeile hinter mir in den Sand schlagen, als ich wie der Wind rannte, aber ich blickte nicht zurück. Ich lief, bis mir die Lunge brannte und… und dann noch ein Stück weiter. Als ich hier ankam, schrieb ich sofort die Nachricht und habe die Taube zur Akademie geschickt. Ich hatte nur nicht erwartet, dass ihr so schnell sein würdet. Obendrein… zu Fuß? Ihr… ihr kommt auch aus der falschen Richtung…?!“ Nach und nach wurde dem Wachmann, der so verzweifelt auf Rettung und Beistand gehofft hatte, klar, dass er vor sich gewiss so ziemlich alles Denkbare hatte: Vom abtrünnigen Hinterlandflüchtling über den verworrenen Botaniker bis hin zum abenteuerlustigen Wanderer. Alles… nur das nicht, was er wollte: Informierte, gut auf die Situation vorbereitete Verstärkung. Entsprechend schockierte ihn nur noch in mäßigem Maße, als Alandor ihm tatsächlich mitteilte, von der Nachricht nie etwas gehört oder gesehen zu haben. „Aber was bringt euch dann her, Herr?“ erkundigte sich der Soldat und ließ bereits wieder die Schultern sinken. Er würde also noch einige Tage mehr ausharren müssen, bis die Akademie jemanden schicken würde, um sich um das Dorf zu kümmern. Um das Dorf… und um ihn. Wohl war ihm bei dem Gedanken wirklich nicht. Die Küste war nah, dieses verfluchte Massengrab war nah - und wer konnte schon sagen, welche Kräfte dort todbringend gewütet hatten? Oder, ob es diese nicht irgendwann dazu veranlassen würde, nach dem flüchtigen Überlebenden zu suchen? Zumindest die umliegende Gegend würde man sicherlich patrouillieren lassen, nicht wahr? Er wollte fort von hier, zurück zu seiner Familie. Das erste Jahr Wachdienst kaum überstanden und schon Teil einer Katastrophe - seine Schwester hatte Recht behalten, als sie den Wachdienst, selbst in einem Land des Zirkels, für zu gefährlich befand. Er wollte sie wiedersehen, sie und ihre kleine Tochter in die Arme schließen und… ihnen Recht geben können. Je länger er hier aber ausharrte, umso geringer seine Chancen, zu überleben - aber das Pflichtgefühl hielt ihn auf Posten. „Ich verfolge die Spuren einiger sehr gefährlicher Leute. Sie könnten möglicherweise etwas mit dem zu tun haben, was eurem Dorf geschah. Ein Zentaure war vermutlich bei ihnen?“ Doch sehr zum Verdruss des Magiers schüttelte der junge Bursche den Kopf. Kein Rajah bedeutete, dass Duncan hier nicht sein könnte. Dennoch wagte er, wohl aus Verzweiflung heraus, den Schritt, ihm auch die restliche Gruppe zu beschreiben. Die zwei Halbelben schließlich erkannte der Soldat. Nun war es wieder am Wachmann, Fragen zu stellen. Wer diese Leute seien, was sie verbrochen hätten, warum sie solch ein Massaker anrichten würden und was sie sich von alledem versprachen. Alandor jedoch antwortete nicht mehr, stattdessen erhob er sich, klopfte seine Robe ab und warf einen grüblerischen Blick in Richtung der Hütten. Wenn Rajah nicht bei der Gruppe war, dann gab es nur drei Möglichkeiten: Er war als Hinterhalt irgendwo versteckt worden. Aber dann hätte man jemand weniger auffälligen ausgewählt, oder nicht? Die zweite Variante wäre die Glücklichere - er war tot. Irgendetwas könnte geschehen sein, vielleicht hatte ein Magier ihn aus dem Gewebe gerissen, irgendetwas vollbracht, um Rajah Tascana zu vernichten. Doch an sein Glück wollte der Zirkelmagier nicht glauben. Die dritte Variante war der Mittelweg zwischen Falle und Verlust: Er war im Auftrag Duncans noch irgendwo anders unterwegs und könnte als gefährliche Variable genau im falschen Zeitpunkt zurückkehren und zum Rest der Truppe stoßen. „Hört mir gut zu, junger Freund. Ihr werdet nun eure Sachen hier packen und zur Akademie marschieren“, begann Alandor zu ordern, „Vielleicht begegnet ihr auf dem Weg einigen Magi des Zirkels, die man zur Untersuchung hierhergeschickt hat. Erzählt ihnen alles - aber nicht ein Wort verliert ihr über mich, verstanden? Diese Angelegenheit könnte sonst sehr schnell sehr viel komplizierter werden. Falls ihr ihnen nicht begegnet, geht zur Akademie, erstattet Bericht und wartet auf die weiteren Befehle, die man euch dort geben wird.“ Fast schon erleichtert, diese Anweisungen erhalten zu haben, nickte der Wachmann eifrig, begann schon zusammen zu räumen, als ihm der abschätzige Blick des Bannwirkers bewusst wurde. „Herr… ihr könnt nicht dorthin gehen. Nicht alleine! Selbst einen Magier würde wohl in Stücke reißen, was mächtig genug ist, ein ganzes Dorf ohne großes Geschrei zu meucheln…!“ Tatsächlich glaubte der Angesprochene nicht, dass es leicht werden würde. Doch was für eine Wahl bliebe ihm schon? „Ich muss dieser Spur folgen, bevor sie erkaltet. Was immer er hier will, er darf es nicht bekommen!“ erwiderte Alandor die Miene finster verziehend. „Herr… ‚er‘?“ Eine weitere Frage, die unbeantwortet, diesmal sogar ungehört blieb. Der Bannwirker setzte sich in Bewegung und schritt gemächlich auf das Dorf zu, sich derweil Gedanken machend, mit welchen Kräften er wohl konfrontiert werden könnte. Sein Informant hatte ihm letztlich nicht viel, aber doch ausreichend für eine schlüssige Theorie liefern können. Er selbst hatte die Angreifer nicht zu Gesicht bekommen und konnte sich die Hergänge nicht erklären, doch es gab Indizien. Der Angriff bei Nacht war ein solcher, obgleich das Verweilen der Aggressoren bei Tageslicht nicht ganz in seine These passen wollte. Der Einsatz von Wurfspeeren, Pfeilen und Hörnern mit scheinbar steinernen Spitzen war ebenso richtungsgebend wie die Tatsache, dass die ersten Hornlaute von der Küste her kamen. Als Alandor schließlich die äußeren Hütten erreichte, drängte er sich gegen den massiven Granitstein und lauschte. Zu hören war nichts, also tauchte er vorsichtig in das Gewebe ein. Dort konnte er durchaus eine Präsenz wahrnehmen, doch… sie war verschwommen. Ungenau. Als hätte man versucht, eine Kerze zu sehen, während man sei vor die Sonnenscheibe hielt - etwas überstrahlte dieses Präsenz. Er konnte nichts mit Gewissheit sagen, weder etwas über deren Kraft noch ihren Ursprung. So blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als sich auf seine anderen Sinne zu verlassen und sich wieder in die Siedlung hinein zu wagen. Erst ab der Hälfte der Hütten traf er auf ein erstes Zeichen von Leben. Bis dahin war ihm genau das Stadtbild zuteil geworden, welches der einzige Überlebende zu beschreiben versucht hatte. Durchbohrte Weiber auf den Straßen, aufgeschlitzte Männer in den Gassen, ein paar mit wuchtigen Speeren an die Wände genagelte Kinder hier und da - ein Massaker an allem, was hier lebte. Selbst vor den hiesigen Tieren hatte man nicht halt gemacht. Ein paar tote Hunde, eine offenbar zerdrückte Katze und einer der hiesigen, großen Schildkröten hatte man das Haupt abgeschlagen. Hatte vielleicht jemand aus der Riege der Angreifer gedacht, ein Magier würde sich unter den Bewohnern verstecken? Ausgerechnet in Gestalt einer schwer zu übersehenden, ungeheuer langsamen Schildkröte? Tatsächlich erzürnte ihn der Anblick des armen Geschöpfes ein Stück weit - das war ein schlichtweg respektloser Umgang mit Phylias Geschöpfen. Dann aber fand er die Angreifer und ihm wurde rasch klar, weshalb man selbst Ratten erbarmungslos gejagt hatte: Naga. Die schlangenartigen Meereskreaturen standen in einem fragwürdigen Ruf. Ihre Männer waren Stoßtrupps, blinder Gehorsam ihre größte Tugend und in aller Regel stand ein weitaus verschlageneres Weibchen dahinter und ließ ihre ‚Truppen‘, die meist nicht mehr als Eiferer und Konkurrenten untereinander waren, gegen die Küstenstädte aufmarschieren. Blinder Gehorsam. Hatte der Befehl also gelautet, alles Leben niederzumachen, dann nahm man das wortwörtlich - und machte alles nieder, was sich bewegte. Die kleine Gruppe der Kreaturen stand beisammen, offenbar zischelten sie ihre Meinungen über ein gefundenes Spielzeug daher und wurden nicht recht schlau daraus. Alandor hingegen presste sich an die Hauswand und überlegte. Sie mussten alle paar Stunden ins Meer zurück, da sie auf das Salzwasser angewiesen waren. Sie besaßen Lungen, doch die konnten ihre Körper nur sehr begrenzt versorgen - sobald ihresgleichen an Land ging, litten sie unter zunehmender Entkräftung und einem penetranten, fortwährenden Erstickungsgefühl. Daher auch das Horn in den Morgenstunden - es war eine Art Wachablösung gewesen. Wie aber diese Kreaturen hier stehen und überhaupt sehen konnten, das war ihm ein Rätsel. Ihre Augen waren extrem stark an die Finsternis in den Meerestiefen angepasst, vermutlich wirkte hier irgendeine Art von Magie… Naturmagie! Artasis beherrschte Naturmagie - er wäre fähig, ihnen die extrem überreizten Sehsinne zu nehmen und weit genug herab zu dämpfen, das sie sich bewegen konnten. Aber bei einer Menge an Naga, die ausreichte, ein Dorf zu vernichten, würde er stark geschwächt sein… und obendrein ganz in der Nähe. Fand er den Elb, gelänge es ihm vielleicht, ihn in einen Kampf zu verwickeln. Er würde seine Kräfte brauchen, müsste den Zauber aufgeben und die Schlangenwesen würden zurück ins Meer fliehen - oder schlicht binnen Sekunden erblinden. Was immer sie überhaupt erst hierher getrieben hatte. Vermutlich, so rätselte der Bannwirker weiter, hatte Duncan ihnen irgendwelche Versprechungen gemacht, die zu halten er natürlich nicht gedachte. Das übliche Problem aller, die sich auf ein Bündnis mit dem Chronisten einließen - er tat ohne jegliche Skrupel oder irgendeinen nachvollziehbaren Kodex, was immer er für nötig befand. Leichen, die dabei seinen Weg pflasterten, waren eben schlichte Notwendigkeiten gewesen. Noch gab es keine tatsächlichen Beweise für die Verwicklung der Gesuchten - aber wie sonst ließe sich dieser Zufall erklären? Alandor versuchte sich tiefer in die Siedlung zu schleichen, nahm ein paar verwinkelte Gassen und Straßen, kletterte hier und da umständlich über Hinterhofspaliere und kleine Zäune, doch die Patrouillen, die die Straßen entlang schlängelten, wurden häufiger - und ihre Kopfstärke höher. Er kam der Küste zwar näher, immer weiter an die Fischerhütten heran, in denen er am ehesten sein Ziel vermutete, es gelang ihm jedoch einfach nicht, wirklich durchzubrechen. Er konnte der Konfrontation nicht entgehen. Zögerlich warf er nochmals einen Blick um die Ecke jenes Hauses, an welches gepresst er sich vor den Blicken der Naga versteckt hielt. Er konnte die letzte Reihe der Fischerhüttenvor dem Strand und schließlich der offenen See bereits gut sehen, es waren nur einige Meter - binnen derer er auch eine große, breite Hauptstraße überqueren musste, die regelrecht von den Schlangenwesen bevölkert schien. Derweil war ihm aufgefallen, dass es tatsächlich nur und ausschließlich männliche Naga waren. Den Unterschied auszumachen war leicht, hatte man auch nur ein Märchenbuch über diese Kreaturen gelesen. Die Weiber pflegten einen regelrechten Körperkult und versahen ihre Leiber lediglich hin und wieder mit ein wenig Schmuck oder Zierde, die Männer dagegen - obendrein anders als ihre Pendants nicht zur Magie fähig - trugen Rüstungsteile, die oftmals aus Tierresten gefertigt oder aus Muschelkalk und ähnlichem Material hergestellt worden waren. Dabei gab es einmal mehr das Indiz, dass hier keine wohlgeformte Armee stand, sondern ein loser Verbund aus Einzelnen - es herrschte keinerlei Einheit, was die Bewaffnung und Rüstung anbelangte. Manche trugen knöcherne Helme, andere nur schwere, steinerne Brustpanzer. Die durch und durch muskulösen Schlangenleiber konnten solche Gewichte ohne Mühe tragen, sie selbst brachten ja immerhin schon ein Beträchtliches auf jede Waage. Dabei sollte man sich jedoch nie dem Trugschluss hingeben, ihre Masse mache sie an Land langsam und träge - wie jede Schlange konnten sie unangenehm schnell werden und Alandor war sich nicht völlig sicher, ob die berühmten Naga-Giftzähne, die es auf manchen Märkten zu kaufen gab, von Männchen oder Weibchen stammten - oder ob das grundsätzlich nur dumme Ammenmärchen waren. Immerhin jedoch wurde er sich darüber einig, wie sein weiteres Vorgehen aussehen sollte. Es war riskant, natürlich. Das war es meist, wenn es zur Konfrontation mit Duncans Handlangern kam. Obendrein gab es Variablen in seinem Plan, die ihm einiges an Kopfzerbrechen bereiteten - doch er war hier. Jetzt. Und der Weg zurück vermutlich durch ebenso viele Naga patrouilliert wie der voraus. Entsprechend konzentrierte er sich, rezitierte im Kopf noch einmal die Sprüche, die er benötigen würde… und trat beherzt voran. Direkt hinaus auf die Hauptstraße, unter die Augen von mindestens einem Dutzend Nagawachen, die sofort mit ihren Waffen erhoben daher kamen. „Artasis!“ schrie der Bannwirker so laut wie möglich den Hütten zu, doch der Elb zeigte sich nicht einmal. Weder kam er aus den Hütten heraus, noch auch nur an das Fenster, wie es wohl der einfachste Glücksfall gewesen wäre. Also kein schlichter Zauber, um den Elb auszuschalten und die Naga mit nur einem Wurf unschädlich zu machen. Stattdessen hatte er all die Invasoren der näheren Umgebung angelockt, kaum eine Kreatur, die sich nicht nach seinem lauten Ruf umgedreht hatte und ihm folgte. Der Bannwirker aber sah sich eingeschlossen, umkreist von den großen, schuppigen Leibern.  Sie lauerten. Auf ein Betteln, einen Befehl, auch nur irgendetwas. Schließlich öffneten sich die Lippen des Eindringlings… doch statt etwas von sich zu geben, formten sie lautlos Buchstaben. Einen Moment verwirrt, blickten einige der Krieger sich an, ehe sie - nur zur Vorsicht - ausholten - und ins Leere stießen. Alandor beendete seine Formel, wirbelte herum und ließ drei der Schlangenwachen von der Schwerelosigkeit erfasst in die Höhe schnellen, während er selbst durch die freigesprengte Lücke davon jagte. Die Invasoren setzten sich augenblicklich in Bewegung, ignorierten die drei Schwebenden, die versuchten, sich irgendwie umzudrehen, zu befreien, notfalls aus der Luft heraus einen Speer nach ihrem Feind zu werfen. Als sie schließlich vom Zauber freigegeben wurden, erwies sich das enorme Gewicht ihrer Leiber als fatal - selbst die recht geringe Höhe zerquetschte ihre Innereien und ließ alle drei qualvoll verendend auf dem Pflaster zurück. Derweil hetzte der Magier von seinen Feinden dicht gefolgt durch die Straßen und wartete insgeheim auf den richtigen Zeitpunkt. Er beschrieb mit einer ersten Rechtsbiegung allmählich eine Kurve und manchem der Naga wurde klar, dass er versuchen würde, zum Strand zurückzukehren - statt eingekreist oder mit einem Schild von Wachen vor sich, hätte er alle Feinde im  Rücken und freies Feld direkt voraus. Immer größer und größer wurde dabei der Rattenschwanz an Verfolgern, bis er abermals rechts einbog und direkt auf das Meer zuhielt. Zischend und in ihrer Muttersprache Flüche speiend sammelten sich inzwischen gewiss gut vier Dutzend Krieger hinter ihm - bis der Magier abrupt herumwirbelte und eine weitere Formel ausspie. Die Magie des Gewebes verdichtete sich, formte sich nach seinem Willen und jagte wie eine Schockwelle alles Lebendige erfassend die Straße hinab. Jeder der Angreifer wurde getroffen, jeder Einzelne. Sie verloren zuerst nur den Geschmacks- und Geruchssinn, dann plötzlich, keinen halben Herzschlag später, waren sie taub, blind… und schließlich nach wenigen Sekundenbruchteilen völlig gefühllos. Die unkontrollierten Leiber stürzten auf- und übereinander, bäumten und türmten sich auf, während der Zirkelmagier bereits wieder hastig das Weite suchte. Er hatte sich kostbare Sekunden erkauft, doch das war es auch: nur wenige Sekunden. Um so viele Ziele zu treffen war viel Energie nötig gewesen und sie verteilte sich auf jeden einzelnen Kopf gleichwertig. Hätte er nur zwei oder drei Gegner betäuben wollen, sie hätten nun ein paar Stunden dort gelegen. Doch ‚ein paar Stunden‘, geteilt durch die neue Anzahl an Feinden… machte einige Sekunden daraus. Um seine geringe Chance wissend, hetzte er voran und… kam abrupt zum Stehen, kaum, dass er neuerlich die letzte große Hauptstraße zu passieren gedachte. Ohne von ihm bemerkt worden zu sein, musste sich ein halbes Dutzend der Krieger abgesetzt haben, um hier eine letzte Linie aufzubauen. Er würde sie niedermachen können, keine Frage - doch das kostete ihn die wenige Zeit, die er hatte. Sein Plan… war ruiniert. Dem Magier mochte angesichts der auf ihn gerichteten Speere keine gute Lösung einfallen, vor allem nicht so schnell, wie er sie gebraucht hätte, doch… ganz plötzlich veränderte sich die Lage auf völlig unerwartete Weise. Ein tiefes, kehliges Brüllen kündigte eine unverhoffte Verstärkung an. Ein durch Mark und Bein fahrender Laut, der… einfach nicht hierher passen wollte. Was er dann zu Gesicht bekam, verschlug dem eigentlich versierten und erfahrenen Zirkelangehörigen völlig die Sprache. In einiger Entfernung sah er ein gewaltiges Ungetüm heranstürzen. Ein Koloss von einem… Eisbären? Der bullige Leib jagte über den Sand hinweg, stampfte mit jedem Mal kleine Sandkörnerwolken in die Luft. Wie ein lebender, schneeweißer Rammbock preschte das gewaltige Untier in die Feinde hinein und riss sie mit sich zu Boden. Dem Koloss folgte dichtauf ein Baraku - die für diese Gegend zwar weit üblicher waren, doch was hatte solch ein Raubtier hier am Strand verloren? Obendrein allein? Die große, wolfartige Gestalt hetzte voran und warf sich die Kiefer weit aufreißend auf den Naga, der mit seinem Speer den Bären zu fällen drohte. Zähne rissen ihm den Hals auf, ein wildes Knurren drang aus dem blutgetränkten Maul heraus, während die Bestie wie wild geworden an seinem Opfer herumriss. Der Eisbär richtete sich derweil zur vollen Größe auf, ließ zwei der Naga zurückweichen, ehe er einen mit der Pranke schlicht davon fegte und gegen eine Hauswand schleuderte. Der Zweite wollte fliehen, setzte dem Meer zu, um Verstärkung zu rufen, da wurde alles noch ein wenig kurioser, als eine Schneeeule laut kreischend niederfuhr. Ihre scharfen Krallen verpassten das Opfer, doch ihr Ruf und Erscheinen allein genügten, den völlig verwirrten Aggressor zurück zu treiben - direkt in die Fänge des gewaltigen Tieres. Während die merkwürdige Tierbande die Verteidiger in Schach hielt, bemerkte Alandor eine Regung an einem der Fenster. Artasis, ganz wie er es vermutet hatte, zog seinen Bogen vom Rücken, spannte einen Pfeil ein und schlug schließlich erst zuletzt, um so spät wie möglich seine Position zu verraten, das Fenster auf. Der Pfeil konnte sich gerade noch von der Sehne lösen, da hatte Alandor die Bannmauer beschworen. Ein großes, unsichtbares Quadrat direkt über der Hütte - und er ließ es mit unbeschreiblichen Kräften auf Selbige niederfahren. Undurchlässig für alles Weltliche, wurde die einfache, hölzerne Fischerhütte schlicht zerdrückt. Unter der Magie zermalmt, tiefer und tiefer, bis selbst Artasis Körper nicht mehr schmal und dürr genug war, um in einem Stück zu bleiben. Ein letztes Mal legte der Bannwirker nach, drückte mit Wucht noch einmal auf den von Holz, Glas und Blut durchsetzten Sand herab, ehe er seinen Zauber beendete. Wie erhofft, brach damit die Magie ab, welche den Naga die gute, klare Sicht bei Tag ermöglichte. Fast die Hälfte der verbliebenen Invasoren erblindete, die neue Lage nicht schnell genug begreifend. Der Rest hingegen presste sich panisch die Hände auf die Augen, wagte nur selten nach der Richtung zu blinzeln und stürzte sich hastig in die Fluten zurück, wohin der Magier mit seiner merkwürdigen Unterstützung auch den Rest der Bande trieb. Als das Dorf von den Invasoren bereinigt war, erlaubte er sich erstmals einen Blick auf die kuriose Bande, die ihm da zu Hilfe geeilt war. Inzwischen hatte er Illusionen in Verdacht, vielleicht auch Familiars oder Tierbeistand von Naturmagiern - Vermutungen, die sich zerstreuten, als der Baraku vor seinen Augen die Form zu verändern begann. Wandler also - eine selten von Adepten der Magie gewählte Schule. Umso faszinierender war die Transformation mit anzusehen. Schließlich stand vor ihm eine der offenkundigen Einheimischen. Ihre dunkle, geschmeidige Haut wurde ab den Schultern von braunen, unbändigen Locken gesäumt und zu allem Überfluss… stand sie nun in voller Blöße vor ihm. „Na hallo mein Hübscher…!“ tönte Shira süffisant lächelnd, „Freust dich, mich zu sehen, hm?“ Die Dunkelhäutige wollte die Hand ausstrecken und - zweifellos, um ihn weiter zu beschämen - auf die Offensichtlichkeit ihrer Worte hindeuten, doch schon die kleinste Regung ihrer Schulter ließ sie vor Schmerz das Gesicht verziehen und eine ganze Reihe unflätiger Flüche ausspeien, die Artasis, seine Mutter, seine Rasse, Bögen, Kämpfe und eigentlich die ganze Welt einschlossen. Erst da bemerkte auch der Bannwirker den Elbenpfeil, welcher gefiedert aus ihrer Schulter ragte. „Vorsichtig, nicht daran ziehen. Wartet, ich helfe euch!“ bot er an und wollte sich bereits an Shiras Verletzung zu schaffen machen, als diese das Wort hob. „Du hast nicht gesagt, dass er so… hübsch sein würde. Kann ich ihn behalten?“ scherzte die Wandlerin. Schmunzelnd wandte sich Alandor um und… erstarrte. Aus dem massigen Eisbären war inzwischen eine junge Frau geworden - in Zirkelrobe. Skeptisch wanderte sein Blick zurück zu Shira, die scheinbar seine Gedanken lesend mit den Schultern zuckte. „Ich mag das Gefühl nicht, nach einer Wandlung Stoff auf der Haut zu haben“, erklärte sie lediglich und biss abermals die Zähne zusammen. Schulterzucken… eine schlechte Idee. Als sich der Magier wieder umwandte, glaubte er obendrein, dass dieses Gesicht ihm bekannt wäre. „Es ist schön, euch wiederzusehen, Meister Lamerak“, begrüßte ihn die Rothaarige und deutete einen geradezu höfischen Knicks an. Vielleicht war es die Art, wie sie diese Geste vollführte. Ihre übermäßig taktvollen Worte, die Form ihres Gesichtes, vielleicht auch einfach nur der Ausdruck in ihren Augen - er wollte einen Moment lang nicht glauben, wer vor ihm stand, als er es endlich begriff. „V-… Vivica?“ hauchte er atemlos und trat von Shira ab zu der einstigen Firnhexe herüber, die sichtlich über das Erkennen erfreut lächelte, „Du bist… wunderschön!“ setzte er nach und besah sich die gemachte Magierin des Zirkels. Die Robe stand ihr hervorragend, wie er befand! Dann jedoch führte der sich in ihre Wangen legende Rotschimmer ihm vor Augen, wie unangemessen seine Worte gewählt worden waren. „I-Ich meine… ich mag deine Frisur!“ ergänzte er fast schon hastig. Einige Haarnadeln hielten ein recht kompliziert wirkendes Steckwerk beisammen. Lächelnd wagte sie es wieder, aufzublicken. „Das habe ich mir von Linh abgeschaut“, gestand sie freimütig zu. „Du… weißt wo sie ist?“ platzte es fast augenblicklich aus ihm heraus. Die Überraschung war ihm deutlich anzusehen, doch Vivica zog es vor, sich auf diese Frage hin auszuschweigen - bis Shira neben beide trat und kurz ihren Blick von einem zum anderen schweifen ließ. „Ich störe euch Turteltauben ungern. Wirklich! Eigentlich würde ich euch gerne eines der Betten hier geben. Und ein paar Stunden Zeit. Aber ich denke, wir sind hier noch nicht ganz fertig, hm?“ Erst ihr Weckruf machte beiden Bekannten klar, dass ihre Mitstreiterin durchaus Recht hatte. Es galt zunächst einmal, ihre Wunde zu versorgen. Dabei warf Alandor einen Seitenblick auf die am Boden hockende Schneeeule. „Ein Eisbär, hm? Etwas Besseres war dir nicht eingefallen? Ein Eisbär am Palmenstrand? Und wer ist das hier? Ein Freund von euch? Ein wenig schüchtern, oder?“ Während Vivica recht zügig zu der alten Gewohnheit zurück fand, seine beständige Nörgelei mit resignierendem Seufzen zu quittieren, lachte Shira schlicht lauthals auf - bis der Schmerz sie sich auf die Lippen beißen ließ. Doch noch immer schüttelte ein Glucksen ihren Leib, während die einstige Eishexe ihm erklärte, dass es sich nicht um einen dritten Wandler handelte, sondern vielmehr um Karottel. „Das ist…? Unmöglich! Das muss doch schon zwei, drei Jahrhun-“ setzte der Bannwirker an, ehe ihm die Dunkelhäutige ins Wort fiel und zunächst erklärte, Vivica würde ihr Elixier mit der Eule teilen. Als er daraufhin noch eine Spur entsetzter und mit stummen Anschuldigungen zu ihr herüber blickte, gab die Brünette die kleine Blendung auf, amüsierte sich abermals herzlich, ehe sie erklärte, ihre Freundin habe sich nur schwerlich von der Eule lösen können. Daher würde sie nun schon die Ururururururururenkel Karottels bei sich halten, ungeachtet der hiesigen Temperaturen. Denn für die Firnhexe wäre es ja ein leichtes, der Schneeeule die nötigen Temperaturen zu schaffen - sie dagegen, die Leidtragende dieser Obsession mit einer Eule, müsse heizen. In Alrym. Während die Rothaarige hin und wieder seufzend oder die Augen verdrehend an der Pfeilverletzung arbeitete, bärmelte Shira darüber, wie schwer es wäre, eine Wohnung zu finden, in der man nicht nur ein Tier halten durfte, das regelmäßige Portionen frischer Mäuse und Ratten bevorzugte und deren Kadaver aus lauter Freundschaftlichkeit manchmal im Bett versteckte, sondern obendrein auch noch eine Wohnung, die über einen Ofen verfüge. Tatsächlich veranlasste das den Magier dazu, nachzuhaken, wer genau sie eigentlich war, woraufhin sich die Dunkelhäutige mit einem kecken Grinsen vorstellte. „Ich bin die, die Vivica jeden Abend mit heim nehmen darf, bis wir erschöpft ins Bett sinken!“ erläuterte sie vielsagenden Blickes. Damit nun trieb sie die Teilnahmslosigkeit und vorgespielte Gleichgültigkeit aus ihrer Begleiterin endgültig heraus, die vehement protestierte und sich zu erklären genötigt sah, dass sie lediglich die Wohnung teilen würden. „Du kannst ja mal mit uns mitkommen, ich beweise dir, dass sie lügt…!“ verlockte Shira den Bannwirker, dessen blick skeptisch zwischen beiden Weibern schwankte. Er kannte die Brünette nicht, doch er hatte einmal, vor sehr sehr vielen Jahren, eine junge Firnhexe gekannt. Verschlossen bis zum Kehlkopf, mit sieben Lagen Kleidung geschichtet wie eine Zwiebel. Der Anstand hatte sie gezwungen, selbst bei den bezwungenen Straßenräubern eine Entschuldigung zu nuscheln, dass man ihnen hatte wehtun müssen und schon der Gedanke an einen harmlosen Kuss hatte sie dazu gebracht, jeder noch so gesunden Tomate Konkurrenz zu bereiten. Die Ausbildung zum Magier veränderte vieles, gewiss, aber es erschuf eine Person nur in den wenigsten Fällen neu - und sie, dessen war er sich relativ sicher, gehörte nicht dazu. Jedoch, als er sie so musterte, bemerkte er den kleinen Anhänger um ihren Hals. Eine winzige Glasphiole, in der sich eine leuchtende, bewegende Masse zu befinden schien. „Und das da? Was ist das?“ erkundigte sich Alandor und deutete auf den Anhänger, der daraufhin von Vivica schlicht unter ihre Robe gebracht wurde. „Ymir-Essenz“, erwiderte sie knappen Wortes und richtete ihre ganze Konzentration wieder auf das Verbinden der nunmehr bereinigten und gesäuberten Wunde - die Frage jedoch, woher sie etwas derartig Kostbares und Seltenes habe, ließ sie kurz stocken, „E-Ein… ein Geschenk. Genau. Von… von meinem… Mann.“ Ganz wie erhofft, gab sich der Bannwirker daraufhin höflich… aber um ein Vielfaches weniger neugierig. Fast hätte sie neuerlich seufzen wollen. War es denn so simpel? Abermals fokussierte sie sich auf ihre Arbeit, beendete die letzten Handgriffe und gab Shira frei. „Du verfolgst schon wieder Duncan“, hob die frühere Eishexe ernst an und richtete sich auf, ihre Robe wieder straffend, „Drei seiner Gefolgsleute waren kürzlich bei uns. Ihn interessiert nicht das Dorf, aber weiter unten am Strand befindet sich der Eingang zu einer Zwergenmiene. Die Magier lassen sie betreiben, weil Menschen in dem weichen, sandigen Gestein nicht gut arbeiten könnten. Zwerge kennen sich mit den Gefahren besser aus.“ Die Erklärung war nicht wirklich vollständig, wie der Zirkelmagier befand. Duncan wollte also die Miene? Doch weshalb sollte er sich für eine Miene interessieren? Auf Nachfrage hin wurde ihm offengelegt, dass es sich um eine der fünf größten Orihalc-Mienen ganz Alryms handelte. Eben jenes magische, ungeheuerlich seltene Metall, aus welchem zahllose besonders starke Artefakte gefertigt wurden… gerade in Alrym, quasi der Hochburg der Artefakteschöpfung. Die Standorte der Mienen selbst waren streng geheim und wurden tatsächlich gut gesichert, doch in den Dörfern und Städten wurde festgehalten, welcher Konvoi in welcher Größe welches Tor passiert hatte. Auf diese Weise musste Duncan über die Torbücher einen der Orihalc-Transporte zurückverfolgt haben. „Gut. Er ist also in der Miene und will das Rohmetall. Mir ist egal, wofür - er darf es nicht bekommen“, erklärte Alandor ernst, bis Shira spöttisch aufschnaubte. „So hübsch, wie er ist, sonderlich helle ist er nicht, hm? Was denkst du, warum wir hier sind?“ Von der Schlagfertigkeit und Angriffslust der einheimischen Magierin schlicht überrumpelt, hörte er sich daraufhin an, was beide geplant hatten. Offenbar waren sie aufgrund ihrer besseren Informationslage schon einen Schritt weiter. Quellen, die etwas über den genauen Aufbau der Miene sagten, hatte es leider keine gegeben - zumindest keine, auf die zuzugreifen ihnen zu Gebote gestanden hätte. Schon gar nicht in der gebotenen Eile. Doch sie hatten einen vagen Plan dafür, wie sie in die Miene gelangen würden. Es gab nur einen Zugang in einer zweifellos gut gesicherten Felspalte am Strand, ein klein wenig abseits. Dass die Naga allesamt männliche Krieger waren, machte das Folgende nur umso leichter - denn Shira gedachte sich in eine Succubi zu verwandeln, eine sehr spezielle Art von Teufel aus den Niederhöllen. „Ich… dachte immer, Verwandlungsmagier bräuchten sehr viel Wissen über das, was sie werden wollen? Sehr detaillierte Körperstudien und dergleichen, um-“ hob der Bannwirker irritiert an, ehe Vivica die Hand hob, ihm Einhalt gebot und ihn lediglich mit einem resignierenden Seitenblick zu ihrer Mitbewohnerin ermahnte, nicht weiter nachzufragen. Überrascht hoben sich beide Brauen des Zirkelmagiers, doch… er tat, wie man ihm riet und zog keine weiteren Erkundigungen ein. Stattdessen willigte er ein, gemeinsam mit seiner früheren Bekannten die Miene von Duncans Gegenwart zu befreien, sobald der Eingang erst einmal bereinigt wäre. Shira, die aufgrund der Schulterwunde in nahezu jeder Form kaum noch des Kampfes fähig gewesen wäre, bevorzugte daher ohnehin die Zuarbeit und zog sich zurück, um ein kleines Ritual durchzuführen. Die Verwandlung in eine Teufelin bedeutete einen enormen Kraftaufwand, der Ritus sollte diese Energien ein wenig schmälern, sodass sie die Form länger würde halten können. Im Anschluss, so besagte es zumindest der Plan, würde Shira nach ihrer Rückverwandlung Karottel nehmen und in Sicherheit bringen. Die Akademie war fünf Tage entfernt, doch innerhalb der Miene wäre sie mit ihrer Wunde keine Hilfe mehr und auch, wenn sie es nicht direkt sagte: Der Firnhexe behagte die Vorstellung nicht, ihren kleinen Familiar in Gefahr zu bringen.   Ein leises Zischen und Brodeln, wann immer die klauenbewehrten Füße auf den Sand setzten. Unruhig flatterten die Lederschwingen, während die wiegende Hüfte sich näher und näher wagte. Unlängst war sie entdeckt worden und eine ganze Reihe an Speeren und Pfeilen richtete sich auf sie - bis sich eben jene Waffen auch wieder senkten. Als sie die sinnlichen Lippen öffnete, drang ein glockenhelles Kichern aus ihrer Kehle, schien von überall zugleich auf die Ohren ihrer Opfer einzuwirken. „Wollt ihr mir wohl einen Gefallen tun…?“ hauchte sie kaum hörbar und doch trug der Wind ihre Worte an jedes Ohr. Die Naga nickten hier und da, starrten geradezu ergeben zu der infernalen Kreatur herüber, deren bloße Schönheit alles überstrahlte, was sie je erlebt hatten. „Unterhaltet mich…!“ Einige Sekunden des Zögerns und Zauderns. Unterhaltung? Es gab so viele Arten der Unterhaltung. Doch nur eine Weise derer war ihnen so geläufig und vertraut, dass sie fast im gleichen Atemzug aufbrandete, alle Alternativen hinfort spülte und ihren gesamten Geist auf das Kommende einschärfte. Sie würden tun, was sie immer schon getan hatten. Um die Gunst des Weibes buhlen und kämpfen! Die Schlangenwesen gingen in zischelnden Drohlauten aufeinander los, Pfeile jagten vorbei, Kalkspeere durchbohrten Leiber - und wenige Minuten später hob sich die Eule als verabredetes Zeichen in die Lüfte. Als Alandor und Vivica an der Felsspalte angelangten, war die infernale Brut bereits verschwunden. Sie hatte sich zurückgezogen, den Weg freigelassen. Der Bannmagier schauderte dennoch, als er durch das blutige Schlachtfeld schritt. „Alles eines Weibes wegen…!“ brachte er das Haupt schüttelnd hervor. Hinter sich jedoch schritt die einstige Firnhexe einher und hob eine Braue. „Hm, furchtbar, nicht wahr? Andererseits, wir hatten damals auch eine ganze Menge Ärger, falls du dich erinnerst… eines einzigen Weibes wegen, nicht?“ Den Seitenhieb auf Suzuri hatte er wohl verdient, wie er sich eingestehen musste. Dennoch war er von Vivicas neuer Schlagfertigkeit… überrascht. Sie betraten die Miene Seite an Seite und schon sehr bald waren es nicht länger schiefe und schräge Steinplatten, ein natürliches Gefälle ständig unterschiedlicher Höhe und obendrein von der letzten Flut noch nass, während ein paar gelegentlich in rohen Fels gehauene Fackelhalter ihnen das nötige, wenn auch schummrige Licht spendeten, sondern wohlproportionierte Stufen einer perfekt gehauenen Treppe, überdies trocken. Die Zwerge hatten ganze Arbeit geleistet. Statt der Fackelhalter an den Seiten hingen nun kleine, speziell entworfene Sturmlampen von der Decke herab, der Boden war nicht länger glitschig - wie immer sie das auch bewerkstelligt hatten - und der Geruch nach Fisch, Salz und Meer wurde allmählich abgelöst von Stein und Erde. Eine ganze Weile ging es für sie nur hinab und hinab, mal in sanft geschwungenen Linksbögen, dann in einer etwas schärferen Rechtskurve. Doch schließlich erreichten sie den Sockel der ersten Ebene. Die Treppe endete, lief aus in eine größere Halle. Zahlreiche Schienen für die Bergbauwagen endeten hier, manche der Stahlbehälter auf Rädern standen sogar noch halb geleert herum. Überall stapelte sich Werkzeug, Spitzhacken, Schaufeln, Sturzhelme, Sturmlampen, derbe Schürzen aus Leder und eben solche Handschuhe und Stiefel. In insgesamt sechs verschiedenen Stollen verschwanden die Schienen, die Meisten davon wirkten, als würden sie rasch abfallen und deutlich weiter in die Tiefe führen. Am anderen Ende der großen Kammer jedoch ragte ein vielleicht auf zwei Meter begrenzter Podest auf. Gerade hoch genug, das man ihn nicht ohne weiteres erklettern könnte. Üblicherweise gab es Leitern, die hinauf führten, denn von dort oben sollte der Aufseher dafür sorgen, dass kein Zwerg lange Finger bekam oder sich einfach in eine der Loren legte und während seiner Schicht ein paar Stunden unbemerkt schlief. Die Leitern aber waren nun verschwunden, von den Zwergen fehlte jede Spur und der Vorarbeiter war auch nicht an Ort und Stelle. Das elektrische Licht, welches diesen Raum beleuchtete - ein Wunderwerk zwergischer Technik - flackerte hin und wieder, während sich die beiden Magier tiefer in den Raum trauten. Völlige Stille. Doch beiden war klar: Dieser Ort eignete sich so gut wie kein anderer für einen Hinterhalt. Sie hatten nicht gewusst, worauf sie sich einlassen würden und waren gezwungen, zu improvisieren, wenn es so weit kam. Nun standen sie hier und rechneten mit einer Attacke, deren Richtung sie nicht einmal benennen konnten. Erst der spöttische Beifall gab ihnen Aufschluss über diese: Von der Warte des Aufsehers her kam das Klatschen, bis schließlich Duncan aus dem Dunkel dessen trat, was immer dort hinten noch liegen mochte. Flankiert wurde der Chronist inzwischen nur noch von Nero, Elena und Beatrix - den letzten Überlebenden seiner Puppenstube. „Ich gestehe, ich bin sowohl überrascht, als auch beeindruckt, Alandor. Du wärst eine wahrlich gute Ergänzung meiner Lakaien gewesen, doch ich begreife nun auch, warum es all die Jahre nicht funktioniert hat. Du bist einfach zu… hartnäckig. Nachdem du herausfinden musstest, das die junge Dame dort an deiner Seite eine Hexe ist und du sie erfolgreich hast überreden können, dem Zirkel eine Chance zu geben, dachte ich, das würde dich schwächen. Als obendrein mit ein wenig Unterstützung der Orden endlich begriff, wer das Fräulein Fang wirklich war, da dachte ich abermals, es würde dich aufhalten. Ein Verbündeter nach dem anderen hat aufgegeben oder versagt - aber du hast dich davon nicht entmutigen lassen. Deine Willensstärke beeindruckt mich, aber sie führt mir auch vor Augen, dass es schon damals an der Gletscherkrone ein Fehler war, dich am Leben zu lassen. Nun steht ihr beide hier vor mir, glücklich wiedervereint und bereit, das vermeintlich Böse abzuwenden. Ihr begreift selbst nach zwei Jahrhunderten nicht ein noch so winziges Bisschen mehr als zuvor von dem, was ich zu tun, was ich dieser Welt zum Geschenk zu machen beabsichtige. Kleingeistig versucht ihr, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Aber ich bin nicht so einfältig und unbelehrbar, wie ihr hofftet. Seht… es war wirklich ein Fehler von euch, hierher zu kommen. Denn diesmal wird es kein Wiedersehen geben. Ich weiß nicht, wie gut deine Orientierungsgabe gereift ist, Alandor, aber wir sind nicht unter dem Strand. Über uns befindet sich eine dünne Schicht Granit, darüber viele Meter von Salzwasser durchdrungener Sand und Schlamm und dann noch sehr viele Meter mehr der reine Ozean. Beatrix hier wird gleich den besagten Granit aufbrechen -und die Flut wird sich die gesamte Miene einverleiben.“ Mit jenen Worten trat Duncan einen halben Schritt zurück und die Hexe, die ihn seit jeher begleitete, zwei Schritte vor. Sie begann bereits ihre Energien zu sammeln, sich auf das Ziel zu konzentrieren. Die zwei Eindringlinge jedoch tauschten nur kurz Blicke, ehe beiden klar wurde, dass sie handeln mussten - und das sofort. Der Bannwirker begann einen Zauber zu sprechen, da neigte der Chronist nur das Haupt. Allein die Geste ließ mehrere Pfeile mit Kalkspitzen aus den unbeleuchteten Stollen herbeiregnen. Alandor brach seinen Zauber ab und riss binnen eines Wimpernschlages die physische Bannmauer vor sich empor - gerade rechtzeitig, um nicht vom präzise gezielten Geschosshagel niedergestreckt zu werden. Der Chronist zeigte keinerlei Regung, während Vivica sich an die Lore presste und in ihrem Buch zu blättern begann. Irgendwo musste es doch einen Zauber geben, den sie auch über die Distanz werfen konnte! Als Beatrix sich ausreichend fokussiert hatte, schleuderte sie nicht etwa den Granit herab, sondern einen Flammenstoß auf den Bannwirker herab. Die physische Barriere hätte zwar weitere Geschosse abhalten können, doch Magie passierte sie vollkommen ungehindert. Alandor war gezwungen, seinen Angriff auf die Hexe abermals aufzugeben, um zusätzlich eine magische Barriere auszusprechen. Von der Aufrechterhaltung zweier Schilde gleichzeitig strapaziert, bereitete ihm zusätzliche Schwierigkeiten, das Beatrix‘ Flammenstoß kein Ende nahm. Dies war kein Feuerball, der einmal geformt und geschleudert wurde - ein kontinuierlicher Strom züngelnder Glut entsprang ihren Händen und heizte den gesamten Raum immer weiter auf. „Das war immer schon das Problem mit deiner Defensive“, hörte der Zirkelmagier seinen Kontrahenten durch das Fauchen des Feuerstromes hindurch resümieren, „Deine Barrieren halten nicht ewig - und sie wurden zu einem bestimmten… Zeitpunkt erschaffen.“ Die Ereignisse überschlugen sich. Noch bevor ihm wirklich klar wurde, was nun geschehen würde, begriff Vivica die Tragweite jener Worte. Hastig riss sie sich die kleine Phiole mit der Ymir-Essenz vom Hals, zerschlug das Gefäß mit der flachen Hand am Boden und stürzte hinter der Lore hervor auf Alandor zu. Die Glasscherben, die sich in ihre Hand geritzt hatten, brannten fürchterlich. Die Substanz daran sickerte allmählich in ihr Blut ein, eine tiefes Eiseskälte, die sie nur zu gut kannte. Bei ihrem Mitstreiter angelangt, verpasste sie ihm eine gehörige Ohrfeige - und die feinen Glasscherben in ihrer Handfläche wurden nicht nur tiefer in ihre Haut getrieben, manche rissen die Seine auf, ließen ihn an der Essenz teilhaben. Die Verwandlung geschah Sekunden, bevor Duncan ohne große Mühe in das Gefüge der Zeit griff. Er suchte sich eine zentrale Stelle im Schild seines Gegners und drehte dort die Zeit zurück, Sekunde für Sekunde - bis zu dem Zeitpunkt, zu welchem dort noch keine Barriere gewesen. Ein kleines Loch formte sich, welches jedoch völlig ausreichte für Beatrix’ Flammenstrom. Sie konzentrierte die Glut noch ein wenig mehr, presste den Feuersturm regelrecht durch die entstandene Öffnung und brannte alles hinfort, was hinter dem Schild lag. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern oder auf weitere Anweisungen zu warten, hob sie die Hände und vollführte eine reißerische Geste. Sekundenbruchteile trat Stille ein, ehe die Decke bedrohlich zu knacken begann und erste, fein Bröckchen aus dem einstmals makellosen Granit rieselten. Die Bannmauern waren eingebrochen, der Rauch verzog sich… und von beiden Eindringlingen fehlte jede weitere Spur. Kurz erwog Duncan, ob die Magie sie vielleicht restlos verbrannt hatte, doch es gab nicht einmal Spuren von Asche. Stattdessen entdeckte sein sorgfältig prüfendes Auge die kleine, zerstörte Phiole hinter der Lore. „Anfänger“, bekundete er ohne jegliche emotionale Regung und begann sich mit seinem Gefolge aus der Miene zurückzuziehen.   Tatsächlich hatte die Magie des Feuerzaubers ihre Wandlung sogar gespeist und noch ein Stück weit beschleunigt, als erst einmal das Loch in seine Verteidigung geschlagen worden war. Ihre Körper begannen sich aufzulösen, ihr Blut verschwand im Nichts und ihre Roben wurden zu einem Teil der schwach leuchtenden Geisterscheinung, die zurückblieb. Doch ein Geist zu sein und sich als Geist zu bewegen war längst keine einfache Sache. Weder Alandor, der noch nicht einmal rechtzeitig begriff, was mit ihm geschah, noch Vivica hatten Erfahrungen darin, in einer solchen Form zu wandeln - weshalb sie schlicht jeglichen Bezugspunkt verloren und ‚stürzten‘. Ob man von einem Fall reden konnte, war fraglich. Fakt war, das sie in die Tiefe sanken, durch zahlreiche Schichten unterschiedlichen Gesteines und mehrere Ebenen der Miene hindurch, bis der kurzweilige Zauber der Ymir-Magie endete und sie bei der erstbesten Gelegenheit wieder mit Körpern aus Fleisch und Blut in einen der Mienenschächte ausspuckte. Von der Decke in gut anderthalb Metern Höhe stürzten sie herab - dank der für Zwerge geschaffenen Verhältnisse war es aber immerhin flach genug, damit der Aufprall nicht schmerzte. „Was war das?!“ fuhr der Bannwirker hektisch auf und stieß sich beherzt den Kopf an. Er sackte wieder zu Boden herab, sah sich jedoch beinahe panisch um. Vivica ging es nicht besser - eine solche Erfahrung war wohl für jeden Lebenden zutiefst… verstörend. Sie hatte den Tod gespürt, wie er breit grinsend an ihr vorbei zog, die Hand ausstreckte, nur um ihr Angst zu machen… und sie dann doch ignorierte. Im nächsten Augenblick war sie körperlos gewesen, schwerelos, sie hatte nicht mehr auf konventionellem Wege sehen, hören, riechen oder fühlen können, stattdessen stand ihr nun eine Bandbreite neuer Sinne und Eindrücke zur Verfügung, derer sie nicht Herrin war und ehe sie es sich versah, war sie in Bewegung - als ein Schatten von etwas einstmals Lebendigem huschte sie durch festes Gestein hindurch, völlig widerstandslos. Entsprechend war auch sie neben sich, außer Atem und aufgewühlt. „Plan B“, keuchte sie verdrossen und versuchte, sich in ihren Körper wieder einzufinden. „Plan B?!“ fuhr ihr Begleiter sie hektisch an und presste die Hand auf seine Brust, um sein Herz zu beruhigen, „Das ist so klug wie ein Eisbär am Strand!“ schob er nach und kam nur langsam wieder zur Ruhe. Vivica jedoch wollte seine ständige Meckerei nicht auf sich sitzen lassen. „Ich mag eben Eisbären! Wäre dir ein Schneehase lieber gewesen? Oder eine Schildkröte? Jeder Magier braucht einen Plan B - deine Worte! Du erinnerst dich? Ich habe einen Plan B gehabt, ich… i-ich hatte ihn eben nur vorher noch nie gebraucht…!“ Tatsächlich trug ihre Erklärung sogar dazu bei, dass er sich beruhigen konnte. Er erinnerte sich wirklich an dieses Gespräch. Er hatte damals gerne mit der jungen Hexe gesprochen, sehr gerne sogar. Eine Ausreißerin auf der Suche nach Ruhm, Gold und dem großen Abenteuer, um allen zu beweisen, wie reif und erwachsen sie war. Es hatte ihn an seine eigene Anfangszeit erinnert und er sah mehr in ihr als sie selbst zu erkennen fähig gewesen wäre. Er hatte damals in ihr gesehen, was sie heute war. Dieses Gespräch jedoch hatten sie geführt, nachdem sie sich zerstritten hatten. Wütend darüber, von ihr im Unklaren über ihre Natur als Hexe belassen worden zu sein, hatte es viel Lärm und böses Blut gegeben. Sie hatte selten versucht, das Gespräch zu finden, den Konflikt aufzulösen. Nur mit Linhs Hilfe war es ihnen schließlich gelungen und das… war einer der ersten wirklichen Dialoge gewesen, die sie danach geführt hatten. Plan A waren ihre großen Abenteuer gewesen - er schlug ihr Plan B vor. Den Zirkel, der ihr die Abenteuer nun gewiss nicht verbieten würde. Er selbst war schließlich auch ständig auf Reisen. Bezwang große Monster und rettete kleine, verzogene Gören. Ihm zuliebe hatte sie ein Einsehen gehabt. „Wir sollten hier nicht bleiben“, erörterte Alandor seufzend und half ihr auf die Füße - soweit eine einen Meter fünfzig niedrige Decke das zuließ, „Duncan wird die Miene fluten, wir müssen zusehen, dass wir hier herausk-“ Als er mitten im Satz abbrach, wollte die einstige Hexe die Gelegenheit für eine Frage nutzen, doch ein „Schhht!“ war die unhöfliche Antwort. Dann jedoch… lauschte sie - und hörte, was er hörte. Ein Rauschen. Das sehr schnell lauter wurde und näher kam. „Lauf!“ befahl er ihr eilig und schon wenig später rannten beide so gut die Stollenhöhe es zuließ tiefer in die Miene hinab. Hinter ihnen kam das Meer angeschossen, um sie in eisigen Wassern zu baden. Vivica würde gewiss nicht erfrieren, anders als Alandor, doch sie beide konnten gut und gerne ertrinken - denn in ihrem Zauberbuch fand sich nichts, das unter Wasser zu atmen fähig wäre. Ein Schicksal, dem sie beide gerne entgehen wollten… offenbar jedoch meinten die Götter es nicht gut mit ihnen. Ausgerechnet jener Tunnel, in welchem sie sich befanden, endete an einer frischen Grabungs- und Schürfstätte. Keine weiteren Schienen, keine Tunnel mehr, keine Abzweigungen. Nur das Ende, eine kleine, knubbelige Kammer und der sichere Tod vor Augen. Sie hörten das inzwischen tosende Lärmen und Sekunden darauf sahen sie die Flut sprunghaft um die Ecke schnellen. Hastig wandten sie sich um, blickten alles an, doch nichts von den Werkzeugen hier half ihnen, selbst die Lore als Boot war eine schrecklich einfältige Idee, bis ihr nur noch eine Option in den Sinn kam. „Schlag mich!“ fuhr sie ihn hastig an. Verdutzt starrte er, doch die Firnhexe packte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn - es ging hier um ihr beider Überleben! „Schlag mich!“ verlangte sie lauter. Eine Schelle hinterließ rote Fingerabdrücke auf ihrer noch immer blass wirkenden Haut - doch es genügte immerhin. Hastig trat sie einige Schritte in den Gang zurück und riss an Magie aus dem Gewebe, was sie zu packen bekam. Schier alle Kräfte gebündelt, nicht ein fein vorbereiteter Zauber, sondern Kraft, rohe Gewalt, mit der sie eine Barrikade formte. Das Wasser begann zu trudeln, große Brocken schwammen plötzlich darin, dehnten sich immer weiter aus, scharrten an den Wänden entlang, zerborsten lautstark krachend und formten sich neu, immer mehr der Treibkörper verbanden sich zueinander, formten einen wachsenden Pfropfen, bis… wenige Zentimeter vor dem Eingang in ihre kleine Kuhle ein gewaltiger Kloß gefrorenen Meerwassers den Zugang völlig versperrte. Nicht ein Tropfen drang zu ihnen herein. Völlig erschöpft sank Vivica zitternd auf die Knie. Die Belastung war schlicht zu viel. Das hier, das würde ihnen nicht das Leben retten. Es wäre nur ein Aufschub. Ein paar Minuten. Irgendwann würde der Druck das Eis brechen. Oder es würde schmelzen. Oder… sie würden einfach hier drinnen ersticken. Wie lange die Luft wohl ausreichte? Ihre Sorgen konnte Alandor ihr ohne jede Mühe an der Stirn ablesen - es erging ihm immerhin nicht anders. Er ließ sich zu ihr sinken, lehnte sich neben ihr an die grob behauene Wand und starrte auf das von Salz und Treibgut trüb gewordene Eis. Jenseits glaubte er Schatten zu sehen. Vielleicht Werkzeuge, die vorbeigespült wurden. Oder Naga, die ihre Präsenz bemerkt hatten und zu Ende bringen wollten, was die Flut noch nicht geschafft hatte. „Ideen?“ hakte sie leise nach und seufzte erschöpft, als er vorläufig nur mit dem Haupt schütteln konnte.   „Ein Bär war keine dumme Idee“ begann der Bannmagier viele Minuten später einzuräumen. „Hm doch, war er“, hielt die frühere Firnhexe plötzlich dagegen, zuckte jedoch mit den Schultern, „Aber mir fiel nichts Besseres ein. Ich habe die ganzen Jahre mit Studieren zugebracht, mit Lesen und Lernen und… nicht mit praktizierter Magie. Ich bin bei Xeranor aufgewachsen, da kenne ich die dortigen Wildtiere einfach am besten. Aber… danke.“ Mit einem aufmunternden Lächeln lehnte sie sich leicht gegen ihren Kameraden. Alandor wusste die Nähe zu schätzen, es behagte ihm, erinnerte ihn irgendwie an früher. Sehr viel früher. Vivica war nicht länger das dürre kleine Mädchen, welches sommersprossig grinsend mit leuchtenden Augen von großen Abenteuern sprach. Sie war erwachsen geworden. Eine ordentliche Magierin des Zirkels geworden, führte ein eigenes Leben, hatte eine Familie, wie es schien. Sie war den Pfad gegangen, den er sich damals für sie gewünscht hatte. „Du hast mir vorhin nicht geantwortet“ hob er leise nach und erklärte sich auf ihren fragenden Blick hin, „Wegen Linh. Weißt du, wo sie ist? Ob es ihr gut geht?“ Vorsichtig richtete sich die Rothaarige wieder auf, wühlte einen kurzen Moment nur in ihrer Tasche und förderte schließlich ihr Magierbuch zutage. „Ich möchte dir etwas zeigen“, begann sie mild lächelnd, „In der Nacht, als Linh so plötzlich verschwand? Ich fand ein Buch unter meinem Kopfkissen. Ich hätte es beinahe nicht bemerkt, nicht mal beim Schlafen, aber du kennst mich. Ich wollte am nächsten Morgen das Bett aufschütteln, damit die Magd weniger zu tun hat und… fand es. Inzwischen habe ich das Meiste davon in mein eigenes Buch übernommen. Da, schau! Das ist unser „a“, aber gedehnt. Praktisch ein… ein „ah“. Ich musste fast eine Dekade lang das Buch studieren, ehe ich ihre Schriftsprache wirklich begriff.“ Vorsichtig nahm Alandor das Werk in seine Hände, blätterte unter ihrem fast nostalgischen blick durch die Seiten. Hier und da verlor sie ein paar Worte darüber, was sich dort befand. Buchstaben, Wortgruppen, Beispielsätze - die Schriftzeichen reihten sich von Seite zu Seite exotischer und komplexer aneinander. „Und du hast das Buch nie dem Zirkel gegeben…“ brachte er staunend hervor, ohne von jenem Werk aufzublicken. Vivica dagegen hob das Haupt und starrte auf die mehr als verfahrene Situation herüber, in welcher sie sich schon eine Weile befanden. „Nun, ich habe uns gerade mit Eishexerei davor bewahrt, wie ordentliche, tapfere Zirkelmagier zu ertrinken. Ich schätze, ich… werde wohl nie völlig durch und durch eine Magierin sein, hm? Ganz ehrlich, ich hätte das nicht gekonnt. Der Gedanke war da, aber… es fühlte sich einfach falsch an. Wie Verrat, verstehst du? Nach allem, was sie für uns-… i-… ich meine… für mich… was sie für mich getan hat. Seither schreibe ich ihr hin und wieder ein paar Briefe, ja. Sie ist wieder daheim, bei ihrer Familie. Inzwischen hat sie sogar eine Eigene mit… Urururururururenkeln oder dergleichen. Sie hat ja die Rezeptur mitgenommen und… ähm… das… also… d-das gehört nicht mehr zu… Alandor, gib es wieder her! Bitte, gib schon!“ Der Bannwirker jedoch dachte nicht im Traum daran, ihrem Begehr nachzukommen. Stattdessen hob er das Buch außer Reichweite, aber noch nah genug, um selbst eine Passage aus der Seite rezitieren zu können. „Im Anschluss die Kaninchenkeule von beiden Seiten bei großer Hitze scharf anbrennen - ein gewürztes Öl empfiehlt sich für den besonderen Geschmack!...“ „Gib es wieder her oder ich-“ Gleichermaßen amüsiert wie erstaunt las der Magier noch ein paar Zeilen von anderen Seiten vor, ehe er sich der Firnhexe ungläubigen Blickes zuwandte. „Du machst aus deinem Zauberbuch ein Kochbuch?!“ „Oh das reicht!“ wütete der Rotschopf, „Komm, gib mir deins!“ Überrascht zuckte Alandor zurück und wollte wissen, was sie verlange - umso mehr suchte er Abstand, als sie sein Magierbuch haben wolle, um sich, wie sie es nannte, auch einmal über seine Beschäftigungen lustig zu machen. Ein kurzes Gerangel entbrannte, in dessen Verlauf er ihr eigentlich ihr Buch hatte wiedergeben wollen. Doch er rechnete nicht mit ihrer Beharrlichkeit, weshalb Vivica das verspätete Angebot schlicht ignorierte und aus der Tasche seiner Robe sein eigenes kleines Büchlein herausfischen konnte. Nunmehr hielt sie es ganz wie er, ignorierte sein Verlangen danach und blätterte, es sorgfältig außerhalb seiner Reichweite haltend, darin herum. Etwas, das sich jedoch schlagartig änderte, als sie die ersten Zeichnungen fand. „Alandor…!“ flüsterte sie leise, zog das Buch nahe zu sich heran und drehte es um, damit die Perspektive stimmte, „Die sind… wunderschön…!“ nuschelte sie leise und blätterte immer weiter. Kleine Skizzen hier und da, manche mit Graphit, andere mit Kohle, ein paar in schwarz und weiß, wenige sogar bunt oder mit Ölfarbe gezeichnet. Im mittleren Teil schließlich fand sie Zeichnungen von Blitze, Peters gewaltigem Hund - und sich selbst. „Was ist aus ihm geworden?“ hörte sie die Stimme ihres Begleiters, als sie mit der Fingerspitze über das Gesicht des störrischen Zirkusjungen fuhr. „Er nahm meine Entscheidung nicht gut auf. Er mochte dich nie wirklich und das ich mich entschied, deinem Rat zu folgen, das fasste er als Verrat auf. Der brachte mich hierher, verschwand aber wenige Tage später. Ich weiß nicht, was aus ihm wurde.“ Längst waren ihre Fingerspitzen weiter gewandert, strichen fast verliebt über ein Abbild ihrer Selbst. Ein hübsches, wildes junges Ding in einer schweren Plattenrüstung, den viel zu großen Zweihänder erhoben und bereit, ihn auf eine merkwürdige Bestie niedergehen zu lassen. „Hast du mich so damals gesehen?“ wünschte sie zu erfahren, doch er verneinte. Das sei, wie er glaubte, dass sie sich selbst gesehen habe. Dabei konnte sie ihm gewiss nicht widersprechen - genau diese Art von Abenteuern hatte sie sich immer gewünscht. Damals zumindest. „Mir ist schnell klar geworden, das Abenteuer… so wie ich sie mir wünschte… kaum existent sind. Die wirklichen Monster, die man bekämpfen müsste, tragen oft ein freundliches Lächeln, handeln in besten Absichten, zum Wohle aller oder wirken so unscheinbar wie jeder normale Bürger. Du hattest damals Recht, ich stellte mir das alles viel zu einfach vor und-… und…“ Sie konnte nicht einmal ihren Satz wirklich beenden. Stattdessen spürte sie, wie ihr kurz nach Umblättern der Seite eine tiefe Röte in die Wangen schoss. Er hatte sie gezeichnet… auf eine Weise, die sich wirklich so gar nicht gehörte. Unsittlich aller Hüllen entblößt räkelte sie sich auf einem Bett, ein keckes, aufforderndes Lächeln auf den Lippen, während sie den Betrachter mit dem Finger herbeizuwinken schien. „So… sah ich dich…“ nuschelte Alandor neben ihr, räusperte sich und zog ihr dann das Buch aus der Hand, welches sie nunmehr widerstandslos preisgab, da sie das Gefühl hatte, in etwas… sehr Intimes eingedrungen zu sein. Mit einem Schlag aber verschwand die peinlich berührte Stille, die Schamesröte und Vivica wandte sich ihrem Bekannten hastig zu. „Ich habe eine Idee! Du kannst uns hier rausbringen!“ Abermals irritiert von ihrem Vorstoß erklärte sie ihm, dass sie ja nicht die Einzige wäre, die ihr eigentlich natürlich zugedachtes Element hatte ablegen müssen. Da begann auch er zu begreifen - und der Gedanke gefiel ihm so gar nicht. „Vivica, das funktioniert so nicht! Teleportation ist schon bei Sichtkontakt zum Ziel enorm schwierig. Hier aber müsste ich durch Gott weiß wie viele Meter Stein und eisiges Salzwasser springen, mit dir, ohne zu wissen, wie weit genau! Ich habe seit Jahrzehnten keine Hexerei benutzt, seit Jahrhunderten. Das wird nicht klappen!“ „Papperlapapp!“ erwiderte die Rothaarige unwirsch und wedelte mit den Armen, um ihn endlich dazu zu bringen, das er wieder den Mund halten würde, „Ich habe vor einigen Jahren eine Studie begonnen, Adepten des ersten Lehrjahres und einige Magier, die schon ein paar Jahrhunderte alt waren. Eine vergleichende Studie mit der Theorie, dass die Kräfte und Fertigkeiten der Hexerei sich parallel zur Entwicklung der rein magischen Fähigkeiten als Angehöriger des Zirkels ebenso steigern würden. Drei von fünf Studienmitgliedern wiesen eine in Abhängigkeit von ihrem Alter an Kraft und Präzision gesteigerte Fähigkeit zur Hexerei auf!“ Einmal mehr war es an dem Bannwirker, sich sehr zu wundern. Er hatte von dieser Studie gehört, sogar die fachliche Abhandlung darüber gelesen. Als Autor war die Akademie angegeben worden, deren Mitglied das Werk verfasst hatte - was üblich war, wenn jemand, der keinen wirklich ruhmhaften Namen besaß oder noch viel zu jung war ein gutes und beachtenswertes Werk auf die Beine stellte. Er hätte nur im Leben nie vermutet, bereits etwas in Händen gehalten und mit Neugier gelesen zu haben, was aus der Feder Vivicas stammte. „Drei von fünf ist nicht gut!“ bekräftigte er, konnte jedoch nichts dagegen halten, als sie erwiderte, das sie in spätestens einer Stunde vermutlich ersticken würden, falls bis dahin nicht das Wasser eingedrungen wäre oder ein Naga sie entdeckt hätte und es mit dem Speer aufbräche. Schließlich gab sich der Bannwirker geschlagen, tat es der einstigen Hexe gleich und erhob sich auf seine Füße. „Und nun?“ hakte er ratlos nach. Dabei musste er sich gefallen lassen, dass sie ihm in belehrendem Tonfall genau das erklärte, was er ihr damals überhaupt erst beigebracht hatte. Ein jeder Hexer und jede Hexe bezogen ihre Magie aus dem Gewebe direkt und die Stärke ihrer Zauber aus ihrem emotionalen Zustand. Hier unten, an diesem Ort, war das Gewebe weder besonders stark noch sonderlich schwach. Das spielte ihnen zwar nicht gerade in die Hände, stellte ihnen glücklicherweise aber auch kein Bein. Es war also alles nur eine Frage seiner Emotionalität… und einer guten Portion Glück, zu den sechzig Prozent zu gehören und am richtigen Ort zu landen, falls es funktionieren würde. Ihre Bemühungen, ihn anzuleiten… waren dagegen kläglich. „Linh hat dich gehasst!“ hob sie zunächst an. Er jedoch rümpfte nicht einmal die Nase. „Sie war Ordensmagierin. Sie hasste mich nicht, sie… misstraute mir. War das alles, was du hast? Dann kann ich mich wieder setzen?“ Natürlich versuchte Vivica es weiter, selbst gegen den Unglaube ihres Begleiters und seine abgebrühte Rationalität. Genau die, so stellte sie rasch fest, war das Grundproblem. Alandor war ein analytischer Verstand. Er zersetzte, sezierte und zerdiskutierte schier alles. „Suzuri war eine Schlampe!“ - erfolglos. „Ich hatte mit Peter jede Menge Spaß, während du nebenan dumme Kritzeleien verbrochen hast!“ - tatsächlich glaubte sie eine erste Regung zu bemerken, versuchte sich jedoch noch an einer anderen Spur, von der sie sich etwas Wallung verhoffte. „Dein heiß geliebter Zirkel hat deine Mutter abgeschlachtet!“ - und wieder erfolglos. Eine ganze Weile bemühte sie sich mit gut einem Dutzend Ansätzen, ihn irgendwie in Rage zu versetzen, doch die Mehrheit ihrer Anläufe schlug einfach ins Leere. Fehltritt reihte sich an Fehltritt, bis sie sich der Zeichnung erinnerte, die sie zuletzt in seinem Buch bemerkt hatte. Dieser kecke, auffordernde Blick, die einladende Geste, die zerwühlten Laken unter und neben ihrem gezeichneten Pendant… Vorsichtig griff sie seine Hände, zog ihn ein Stück näher zu sich heran und blickte zu ihm auf. „Na gut, es klappt nicht. Du wirst nicht wütend und wir gehen hier unten drauf, fein. Dann… dann möchte ich zumindest, dass du etwas weißt. Ich… ich bekam damals nicht wirklich die Gelegenheit, es dir zu sagen. Ich weiß nicht mal, ob ich mich getraut hätte, aber… ich habe dich bewundert. Ich denke, es war wohl sogar mehr als das, ich… habe dich geliebt.“ Nun - zumindest hatte sie ihn sprachlos bekommen, das war wohl immerhin ein Teilerfolg, wie sie sich eingestand. Indes fiel es ihr trotzdem fürchterlich schwer, das hier als Mittel zum Zweck einzusetzen. Einfach, weil diese Dinge ihr selbst auf merkwürdige Weise selbst nach so langer Zeit noch immer sehr nahe gingen. Doch nun, da sie vor ihm stand, seine Hand hielt, es war… als wären kaum ein paar Tage vergangen. „Nun… hast du einen Mann, bist sicherlich glücklich und-“ hob er mit heiserer, fast flüsternder Stimme an, brach jedoch ab, als sie sich auf die Zehenspitzen hinauf drückte. „Das war gelogen“, gestand sie offen ein. Wenige Millimeter nur trennten sie. Vivica spürte seine Blicke auf ihren Lippen liegen. Mit einem gewaltigen Aufwand gab sie sich den letzten Ruck, setzte ein Stück vor und drückte einen kurzen, fast schon flüchtigen Kuss auf seine Lippen - gerade genug, ihn gierig zu machen. Alandor reagierte, indem er die Arme um ihre Taille schlang, sie fest an sich zog. Er hatte ihre Lippen geschmeckt, einen kurzen Augenblick nur… und er wollte mehr, so viel mehr als nur das - nichts schien sich geändert zu haben. Ein gewaltiges Aufwallen in der kleinen Kammer ließ die Steinchen über den Boden hüpfen. Eiskaltes Wasser drang an den Rändern des Pfropfens hindurch und kleine Steinchen rieselten von der Decke. Schockwellen jagten wie expandierende Kugeln durch das Gewebe - und die kleine Kammer blieb leer zurück.   Ein Gefühl der Ekstase, als die Magie wild, pur und kraftvoll durch jede Faser ihrer Leiber strömte. Selbst, nachdem sie wieder warmen, sandigen Boden unter den Füßen spürten, wagte zunächst keiner von beiden die Lider zu öffnen… oder den leidenschaftlichen Kuss abzubrechen. Erst als Alandor das Gefühl hatte, er müsse jede Sekunde ersticken, konnte er sich von ihr losreißen. Eng umschlungen standen sie mitten im Nirgendwo. In einigen hundert Metern sahen sie den Strand, zur anderen Seite eine ganze Reihe vereinzelter, verstreuter Palmen. Aber keine Spur eines Dorfes, der charakteristischen Berge, nichts Vertrautes weit und breit. Stattdessen watschelte behäbig und offenkundig an ihrer Präsenz desinteressiert eine der gewaltigen Schildkröten vorbei. „D-Du… du könntest mich jetzt… loslassen…“ hauchte Vivica leise. „Ich… weiß…“ gab er ihr zur Antwort - und tat dennoch nicht dergleichen. Kapitel 32: Das Offensichtliche ------------------------------- Über Stunden hinweg hielten ihn grässliche, wirre Träume gefangen. Haltlos wälzte er sich von einer Seite des schmalen kleinen Bettes auf die Andere. Ein gewaltiges, loderndes Meer aus Flammen. Sie züngelten in einen sternlosen schwarzen Himmel hinauf, endlos, kalt, grausam. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er eine Stimme vernahm. So süß wie ein Weib nur klingen konnte. „Dreh dich um“, forderte sie ihn auf. Er sah Fell, sah Hörner, vor Leidenschaft lodernde Augen. Längst hatte die Welt ihm, Fetzen für Fetzen, seine Naivität zu nehmen versucht. Leidenschaft gab es in vielen Formen. Die Fleischeslust, der er selbst nur zu gern zusprach, war lediglich eine Form. In letzter Zeit hatte er diese aber viel öfter gesehen: Mordlust. „Komm näher“, säuselte die Stimme und völlig unwillig, ihr zu gehorchen, sah er sich mit Schrecken genau das doch tun. Eine gespaltene Zunge zischelte zwischen sinnlichen, vollen Lippen hervor, fremdartige, boshaft klingende Worte drangen aus der Ferne an sein Ohr heran und dann war da… dieses Kaninchen. Es zauberte sich selbst aus einem am Boden liegenden Hut heraus, keinen Meter hinter der fremden Schönheit. Doch je länger er es anstarrte, umso mehr Fell verlor es. Anfangs einzelne Haare, dann büschelweise, bis das nackte Tier dort hockte, schnuppernd, suchend. Langsam wandte sich der Hasenkopf. Er konnte das Knacken hören, als sein Genick brach, doch das Haupt drehte sich einfach weiter. Die Haut begann sich abzulösen, nässendes, blutiges Fleisch kam zum Vorschein. Das Tier starrte ihn schließlich an, öffnete das Maul, entblößte gewaltige Reihen überdimensionierter Fangzähne und entließ einen herzzerreißenden Schrei. Es klang so erschütternd menschlich, es klang nach purer Agonie und Höllenqualen, die Stimme dieser Frau klang… vertraut. Kurz nur krallten sich seine Finger in die Laken, ehe er abrupt die Augen aufriss und noch im Liegen hinaufschreckte. Völlig durchnässt, atmete er schwer und rasch. Ihm wurde schwindlig, sein Gleichgewichtssinn drohte zu versagen und alles, was ihm fehlte, um des Chaos halbwegs Herr werden zu können, war Orientierung. Diese gesellte sich nur träge hinzu. Behäbig und gemächlich, als gäbe es nichts zu fürchten. Er begann sich umzusehen. Erkannte das ärmliche kleine Holzgestell, auf dem sein sogenanntes Bett aufgebaut worden war. Erkannte die Wände aus Stein um ihn herum, wie sie nahtlos in Decke und Boden übergingen. Vorsichtig, als wolle er die Abwesenheit der fremden Schönen zunächst prüfen, schloss er die Augenlider und erlaubte sich einen tiefen, beherrschten Atemzug. Ja – ja, so war es besser. Langsam hob er die Beine aus dem Bett heraus und setzte sich auf die Kante. Dünne, noch immer zittrige Finger fuhren durch das dunkle Haar. Er hatte es vor kurzem abschneiden müssen. Nun reichte es ihm gerade einmal bis zum Kinn. Ein leises Seufzen drang aus der Kehle, ehe er seine schmale Gestalt empor wuchtete und mit etwas unkoordinierten Schritten auf das Waschbecken zuhielt. Im Grunde handelte es sich um nicht mehr als eine Steinsäule mit einer Wasserschüssel darauf. Daneben war noch genug Platz für ein paar kleine Utensilien, die er für seine Hygiene und Körperpflege als unerlässlich betrachtete. Ein Kamm, beispielsweise. Oder die Schale mit Rasierschaum. Erstmals für diesen Tag warf er einen Blick in den Spiegel. Auf den Rändern der Säule aufgestützt, blickte er seinem Selbst tief in die Augen. „Wer bist du?“, fragte er leise und ließ den Kopf kurz sinken. Er holte Luft. Atmete durch. Konzentrierte sich. Spürte den einzelnen Strängen des magischen Gewebes nach, welches sie alle umgab. Noch während er die ersten Worte sprach, hob er das Haupt wieder, neuerlich seinen eigenen Blick suchend. „Du bist-“ Malek! Erschüttert wich er unter einem Schreckensruf zurück. Für Sekundenbruchteile nur… da hatte er nicht länger sein eigenes Gesicht gesehen. Nicht nur. Da waren fremde Züge, die es überlagerten, eine dunklere Haut, die sich fleckenhaft durchzusetzen schien. Hastig schritt er an den Spiegel heran, starrte sein Ebenbild zornig an. Er war er. Niemand anderer! Mit einer Hand nahm er kaltes Wasser auf, verteilte es in seinem Gesicht, wischte es über Stirn, Schläfen, Augen, Wangen. „Das geht schon zu lange so…“ seufzte er leise in den Raum hinein. Malek. Nein, Malek war er nicht. Zu Beginn hatte er sich einzureden versucht, dass es nicht schlimm sei, sich so zu nennen. Sich so rufen zu lassen. So Fremden vorgestellt zu werden. Das Haus D’spayre war ein Adelshaus Samaras, mit seinem Familiennamen hätte er nicht einfach nur vorsichtig sein müssen, hätte doch jemand seine Herkunft erkennen können. Nein schlimmer noch, es gab Steckbriefe. Und die waren in solchen Kreisen bekannt. Alle. Immer. Er wäre keine drei Fuß weit gekommen, da hätte man ihn geknebelt, gefesselt und auf den nächsten Karren geworfen. Malek. Das war ein dummer Kleinganove gewesen. Mit etwas Glück war er das immer noch. Ein Hexer obendrein, wenn auch weder sonderlich stark, noch irgendwie talentiert. Er hatte seine eigenen Kräfte kaum unter Kontrolle und das lag wohl auch daran, dass er sie so gut wie nie einsetzte. Schwarznekromantie war nicht unbedingt etwas, das man als Zaubertrick vorführte und ein Kreis versammelter kleiner Kinder applaudierte freudig kichernd. Selbst die begriffen, dass es irgendwie falsch und widernatürlich war, Tote zu hören, zu sehen, ihre Leiber zu reanimieren, ihre letzte Ruhe zu stören. Egal, ob es sich bei dem Verstorbenen nun um einen einstmals sorgenden Familienvater handelte, oder einfach nur um einen vor mehreren Tagen plattgetretenen Frosch. Er war einer dieser Männer gewesen, die nicht genug haben und bekommen konnten. Wie alle Hexer, die nicht freiwillig zum Magier ausgebildet werden wollten, war er Zeit seines Lebens auf der Flucht gewesen. Man entwickelte irgendwann eine gewisse Paranoia, völlig unweigerlich. Aber Malek war zugleich Südländer. Er hatte seine Jugendjahre in Sundergrad überlebt. Mit Weibern zu flirten, ihnen alles vom Himmel herabzulügen, was nötig war, um sie ins Bett zu bekommen – das lag ihm mindestens ebenso im Blut wie das Glücksspiel. Nur war Malek einfach niemand, der Glück hatte. Irgendwann im Verlaufe seiner Flucht vor dem Zirkel war er an Anna geraten. Eine Hexe, die sich ebenfalls versteckte. Wenn man ständig floh, bekam man viele Gelegenheiten für Affären und kurzzeitiges Vergnügen – doch eine wirkliche Bindung? Eine Beziehung führen? Man konnte es auf das Simpelste runterbrechen: Anna hatte Brüste und sie war schlicht da gewesen. Vorhanden, verfügbar. Für beide war das ausreichend gewesen, über eine ganze Weile hinweg. In Samara glaubten sie schließlich den Zirkel abgeschüttelt zu haben und heirateten. Doch seine Gattin hatte ihre Schattenseiten entwickelt. Nicht nur ihre gelegentlichen Fingerübungen, die sie als Geisthexe bevorzugt mit seinem Geist vollzog, sondern auch ihre Eifersucht. Es zeigte sich rasch, dass sie nicht passten und mehrfach drohte sie, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Sie war es schließlich, die Familienvermögen besaß. Sie hatte das Grundstück in einer hübschen Gegend kaufen können. Er… er war nur ein mittelloser Niemand, der alles Geld, was er je in die Finger bekam, hoffnungslos verzockte, verhurte und versoff. Das tat er auch mit Annas Geld, als er sie umbrachte. Doch seine Gattin blieb nicht tot. Er hatte sie bestrafen wollen und möglicherweise war das dumm gewesen, kurzsichtig – doch als Geist kehrte sie zurück, sann auf nichts anderes als Rache. Getrieben von diesem einen Wunsch hatte Drakimh sie nur mit Hilfe aufhalten können. Malek lebte heute noch – so er sich nicht inzwischen selbst irgendwie ein Grab geschaufelt hatte -, weil er eingegriffen und ihn vor der Rache seines Weibes gerettet hatte. Der Südländer schuldete ihm gewissermaßen etwas und so, wie die Dinge lagen… waren sie mit dieser Aktion nun wohl quitt. Er hatte seine Identität angenommen, für ein paar Wochen zunächst. Inzwischen für Monate. Manchmal glaubte Drakimh, sich zu verlieren. In Momenten wie diesen. Da er aus Alpträumen von Feuer und Absurdität aufwachte. Er hatte sich ein Ritual angewöhnt, um dem entgegenzutreten. Jeden Morgen fragte er sich, wer er sei. Nannte sich beim Namen, während er in den Spiegel starrte. Er fürchtete den Moment, wenn ihm ein anderer daraus entgegen blickte und diesen Namen nicht mehr erkennen würde. Drei Wochen waren sie nun schon hier. All die Wochen der Vorbereitung, des Türeneintretens und der Verhandlungen in zwielichtigen Gegenden nicht mitgezählt. Er vermisste frische Luft, vermisste watteweich wirkende Wolken, vermisste den blauen Himmel, eine kühle Brise. Ob draußen wohl immer noch Frühling war? Langsamen Schrittes trat er zur Tür herüber, legte die Hand auf die Klinke… und hielt inne. Er blickte in sein Zimmer zurück, auf die überaus spartanische Ausstattung. Alles war nicht nur schlicht gehalten, es wirkte geradezu billig. Man hatte ihm sein eigenes Zimmer gegeben, sicherlich. Aber es änderte nichts daran, dass die Atmosphäre hier ihm entgegen schrie: Wir vertrauen dir nicht! Über die letzten Monate hinweg hatte er sich ein gewisses, schauspielerisches Talent angewöhnen müssen. Hatte lernen müssen, überzeugender zu werden, seine Rolle besser auszukleiden, sich nicht beim Aufbauen der gewaltigen Lügengebilde im eigenen Netz zu verheddern. Man hatte das mit ihm geübt und dennoch… steckte er hier fest. Hier unten. Durfte nicht hinaus. Er hob die freie Hand vor sich, konzentrierte sich kurz. Kleine Blitze liefen zwischen den gespreizten Fingern herauf, zuckten von deren Spitzen in den Raum hinein und verloschen. Er vermisste die Zeiten, als alles noch so viel einfacher war. Natürlich war ihm klar gewesen, dass er sich nicht unbedingt eine simple Aufgabe vorgenommen hatte, als er diesem Unterfangen zustimmte. Lumiél war offiziell noch immer ein Land, in dem der Handel mit Sklaven verboten war. Schlicht und klar: Verboten. Unter der Hand dagegen schienen Steuergelder des Reiches in die Errichtung und Besetzung von Anlagen wie dieser zu fließen. Die Krone verdammte Sklaverei. Bezahlte aber insgeheim Söldner, ehemalige Soldaten und Veteranen, um selbst Sklaven zu fangen. Im eigenen Land. Die man dann verkaufte, wussten die Götter an wen oder wohin. Natürlich niemand, der wichtig war. Ärmliche Personen aus den übelsten Vierteln der großen Städte. Hier und da ein paar, die man vom Land wegfing. Doch zählte man die Summe der Einzelnen auf, so war es nicht weniger als ein Geschäft im ganz großen Stil. Die wievielte Anlage war dies, die sie infiltrierten, um sie auszuhebeln? Die Vierte? Die Fünfte? Es hatte Informationen gegeben, dies hier sei die letzte Bastion. Der Feind war von zahlreichen Nachrichten, Gerüchten und einer Hand voll Überlebender gewarnt worden. Sie waren sehr viel vorsichtiger geworden, sehr viel… präziser. Den Sklavenhandel im Land zum Erliegen zu bringen und seiner selbsternannten göttlichen Majestät gehörig auf die Finger zu klopfen war aber nur möglich, wenn sie den Drahtzieher erwischten. Eine einzige Person hatte all dies hier errichten können. Mit Verfügung über die nötigen Mittel, über Arbeitskräfte und Material sicherlich. Aber alles war die Idee und Planung einer Person gewesen. Kein Name, kein Geschlecht, nicht einmal eine Rasse. Nur ein Ort und ein Datum, mehr hatten sie nicht herausfinden können. Leider hatte sich die Ankunft dieses großen Meisters verzögert und nun saßen sie hier fest. Tagein, tagaus. Gebunden an die Rollen, die zu spielen sie zugestimmt hatten. Es war schockierend, wie schnell sich eine gewisse Routine einstellte. Wie rasch man selbst im Leben als Sklavenjäger Alltag empfand. Gewohnheit. Draußen hörte er leise die Stimmen von ein paar anderen Männern. Sie lärmten offenbar kräftig herum. Ärger. Eine Prügelei vielleicht. Er wollte mit solcher Primitivität eigentlich nichts zu tun haben, doch… er hatte so eine Ahnung. Entsprechend schüttelte der Magier den Kopf, riss sich aus seinen Gedanken los. Mit etwas Glück wäre das alles bald vorbei und nicht mehr als eine leidige, anstrengende Geschichte, die sie irgendwann in vielen Jahren ihren Kindern und Enkeln erzählen könnten. Die Klinke wurde herabgedrückt und ihm schlug prompt in einer ersten Welle entgegen, wo er sich befand. Leises Wimmern vereinzelter Stimmen bildete hier und da die Grundlage. Er hörte es sogar aus einigen der anderen Zimmer, die sich vom Mittelgang abzweigten. Drakimh schloss die Tür hinter sich und hörte auf, Drakimh zu sein. Malek hatte geschlafen. Schlecht geträumt. Er allein hatte sich diese lächerlich enge Lederhose angezogen und dieses Leinenhemd übergeworfen, das aussah, als wolle man einen Piraten aus diesen schnulzigen Liebesromanen nachbilden. Er hatte sich dieses Silberkettchen um das Handgelenk gelegt und die hübschen Stiefel angezogen. Nochmals atmete er tief durch und schritt den steinernen Korridor herab. Zu jeder Seite zweigten sich weitere Zimmer wie das Seine ab. Der Schlüssel zu seiner Tür verschwand in der Hosentasche und er lauschte auf die Geräusche hier und da. Von vorne, aus Richtung der Haupthalle, hörte er das Lärmen. Doch abseits, linkerhand, rechterhand, konnte er hin und wieder unterdrücktes Aufschreien hören. Es machte ihn schlichtweg krank. Auch das zehrte so ungeheuerlich an seinen Nerven. Sklaven waren vielseitig einsetzbar. Manche wurden an irgendwelche dubiosen Sammler verschickt, wie man es mit einem der hier eingesperrten Tieflinge vorhatte. Manch fanatischer Aasimar zahlte ein kleines Vermögen, um mal einen Tiefling töten zu können. Bordelle wollten ihren Kunden gerne solch ausgefallene Exotik bieten können. Andere Tieflingsenklaven wollten ihre eigenen Reihen bestärken. Magier suchten Geschöpfe für ihre Experimente. Und selbst, wenn man nicht zu einer ausgefallenen Rasse gehörte: Drow brauchten immer Sklaven. Ob nun als Arbeitskräfte, um neue Bauwerke zu errichten oder Alte auszubessern, ob als Kanonenfutter für ihre Schlachten, als Lakaien und Bedienstete für ihre Häuser oder simpler noch, als Opfergaben. Man schob die Sklaverei gerne den Drow zu. Die bösen, verruchten Dunkelelben. Die Einzigen, die solch bestialische Vorgehensweise anderen, intelligenten Wesen antun würden. Klar, sicher doch! Für viele Sklaven – genauer aber ihren Wert – machte es keinen Unterschied, ob sie jungfräulich waren, ob man sie gut behandelt hatte. Sie mussten arbeiten oder kämpfen können. Für viele Weiber, die in den Käfigen landeten, bedeutete das ein sehr hartes Urteil. Sie durften die hiesigen Wachmannschaften und Söldner unterhalten, bis der Tag gekommen wäre, an dem man sie verschiffen würde. Für die Meisten war es ein beinahe erfreuliches Ereignis, endlich hier weg zu kommen. Viele fügten sich dann so viel bereitwilliger, solange sie nur so viel Distanz wie möglich zwischen sich und ihre Peiniger brachten – unwissend, das es am anderen Ende der Reise selten für sie besser werden würde. Aus dem Korridor heraus trat Malek direkt auf einen hochgelegenen Rundgang. Er legte die Hände auf die steinerne Brüstung und blickte herab. Gute fünf Meter unter ihm lag der Hallenboden. An den Wänden entlang stapelten sich die Käfige. Immer zwei übereinander formten ein dichtes Geflecht aus Metallstreben und massiven Schlössern. Sie waren hübsch aufgeteilt, all die Sklaven wie sie da waren. Männer links, Frauen rechts. Jede Sparte nochmals unterteilt. Nach Rassen, nach Verwendungszweck, danach, ob man sie schon verkauft hatte oder nicht. Der grundsätzliche Aufbau der Anlage kam ihm schmerzlich bekannt vor. Als sie nahe Samara ein Sklavenlager gestürmt hatten, in einem kleinen Dorf namens Halwith, da hatten sie ganz ähnliche Strukturen vorgefunden. Nur war das hier eindeutig eine Kommandozentrale – alles war um ein Vielfaches größer. Hatten sie Halwith mit einem Dutzend Wächter und ein bisschen kniffliger Taktik überrennen können, hätte es hier schon eine kleine Armee gebraucht. Eine gut ausgerüstete, gut informierte, gut koordinierte Armee. Eine Ressource, die ihnen einfach nicht zu Gebote stand. „Hey, Finger weg!“ brüllte Malek erbost hinab, als er endlich die Quelle des Tumultes ausmachen konnte. Einer der Männer, ein nordischer Schrank von einem Kerl, fingerte an einem der Käfige herum. Natürlich nicht irgendeinem Käfig, das hätte Malek egal sein dürfen. Egal sein müssen. Es war dieser eine Käfig! Eilig rannte er den Gang folgend hinab, da ihm bereits bestens klar war, das man ihn zwar gehört hatte… sich aber einen Dreck darum scherte, was er zu sagen hatte. Er stieß einen der Bogenschützen zur Seite, die hier oben patrouillierten und eigentlich für Ruhe und Ordnung hätten sorgen sollen. Tatsächlich war denen aber alles egal, solange kein Gefangener Mätzchen machte. Erst wenn die glaubten, sie hätten irgendetwas zu entscheiden, wurden die Wachen aufmerksam. Hastig nahm er immer zwei Treppenstufen auf einmal, packte den Handlauf und wirbelte herum, die nächste Treppe auch noch herab, die letzten Stufen überspringend. Als er beim Zentrum der Querelen angelangte, wiederholte er seine Anweisung. Mehrere Männer hatten versucht, den Hünen aufzuhalten. Da sie alle in ihren beschlagenen Lederrüstungen herumstanden, waren sie offenbar die eigentliche Wachmannschaft – was auch den nahezu leeren Tisch erklärte, auf dem noch immer die Karten und Einsätze herumlagen. Nur ein einziger Spieler war nicht aufgestanden. „Hey Süßer“, grinste Rahsa ihn breit an und zwinkerte ihm zu, bevor sie ihren Sitz etwas verrutschte und einen der anderen, nunmehr leeren Stühle als Ablage für ihre Beine benutzte. Sie hielt noch immer ihre Karten fest in der Hand, obwohl er keine Sekunde lang bezweifelte, dass sie längst einen Blick in das Blatt aller anderen geworfen und wohl auch ihre Chancen durch ein paar unauffällige Austauschmanöver aufgebessert hatte. „Hey“ erwiderte Malek lediglich und widmete sich wieder dem Gerangel an den Käfigen. Ein wenig schien er Rahsa damit tatsächlich zu enttäuschen, zog diese doch eine beleidigte Schnute. Natürlich war ihr das nicht völlig ernst. In den letzten drei Wochen, die er hier unten hatte zubringen müssen, hatte er sie als jemanden kennengelernt, die selten überhaupt irgendetwas wirklich ernst nahm. Eine Weile hatte ihm das gut gefallen, vielleicht ein wenig zu gut, doch irgendwann war auch bei der Brünetten der Moment gekommen, in welchem ihm klar wurde, das sie nicht grundlos hier unten war und mit diesen Leuten arbeitete. Für sie war Leben nicht viel wert. Genauer gesagt, war Leben für sie so viel wert, wie andere dafür zu zahlen bereit waren. Um es nehmen zu können. Um es zu erhalten. Um es vor Unheil zu beschützen. Er wollte sich mit ihr nicht auseinandersetzen, nicht hier und jetzt. Stattdessen brachte er aus seinem Gürtel den Dolch hervor. „Ich sagte: Finger weg!“ Das zuvor noch leise Stimmchen schwang einen kurzen Moment laut auf. Offenbar genügte das, damit sich die Aufmerksamkeit verlagerte. Die Männer, die den Bären hatten aufhalten wollen, ließen endlich von ihm ab und traten ein paar Schritte zurück, während der Gigant selbst sich mit wütendem Schnaufen ihm zuwandte. Eine überaus hässliche Wunde zog sich blutend und klaffend von der Stirn herab über Auge und Wange. Nur für einen Sekundenbruchteil wagte Malek einen Blick vorbei zu werfen, in das metallene Gittergestell hinein. Das Weib, das dort kauerte, hielt noch immer eine blutige Gabel fest umklammert und defensiv vor sich gerichtet. Panik stand ihr in den Augen und sie hatte sich bis ans hinterste Ende ihres Käfigs zurückgedrängt. „Was war das…?“ zürnte der Nordmann, warf scheppernd die Käfigtür zu und trat langsamen Schrittes auf Malek zu. „Willst du mir drohen, Wicht?“ setzte er nach und zeigte auf den Dolch in seiner Hand. „Lass das, ich will dich nicht verletzen!“ erwiderte Malek, doch sein Gegenüber lachte nur, machte sich über ihn lächerlich, das so ein Hänfling ihn ja wohl kaum mit solch einem Zahnstocher verletzen könne. Noch während der Fleischberg lachte, halb zu seinen Kumpanen umgewandt, von denen nicht einer einzustimmen wagte, riss der Ochse sich herum, nunmehr eine zornesverzerrte Miene tragend und setzte den ersten Schlag direkt ins Leere. Malek war Malek, gewiss, doch mehr als ein Name und ein paar grobe Charakterzüge gab es dazu nicht. Sie hatten sich nicht hingesetzt und eine detaillierte Charakterstudie dieses Menschen aufgebaut, um ihn perfekt imitieren zu können. Nein, wer sich hier verteidigen musste, das war Drakimh – und der hatte inzwischen so einige Lektionen darüber gelehrt bekommen, wie man sich effektiv mit Stich-, Schlag- und Schnittwaffen verteidigte. Geschickt wich er seinem Feind aus, setzte vor, traf ihn und wich dem Konter aus. Rahsa war die Einzige, die laut brüllend Malek anfeuerte, jubelte, applaudierte. Die anderen hielten sich deutlich bedeckter, doch es war ohnehin ein offenes Geheimnis, das Rahsa diesen nordischen Holzkopf nicht sonderlich leiden konnte. Das beruhte auf Gegenseitigkeit und Maleks Nachfrage vor zwei Wochen, ob er sie denn bedrängt hätte, blockte diese mit ihren üblichen, charmanten Witzen ab. Inzwischen war er sich sogar recht sicher, dass dieser Ochse sie nicht einfach nur bedrängt hatte, da musste mehr als nur das geschehen sein. Als die Brünette schließlich von ihrem Stuhl aufstand, flink ihre Haare zu einem Zopf band und den Neuling abermals anfeuerte, da zog sie nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die brennende Wut des Nordmannes auf sich. „Ich reiß dich in Stücke, du kleine Schlampe!“ brüllte dieser und zuckte dennoch unter einem Aufschrei zusammen, als sich der Dolch in seine Seite bohrte. Bis dahin hatte Drakimh den Hünen schon ein paar Mal getroffen. Andere hatten ihn anfangs ausgelacht, als sie sahen, wie er beinahe um seine Gegner herumtanzte. Man hatte hier und da begonnen, ihn als die Fliege zu rufen. Ein Beiname, geprägt durch den Eindruck, dass er nicht tödlich, aber ungeheuer lästig für jeden Feind sein könne. Hier nun zeigte sich, dass er sehr wohl gefährlich war. Bisher hatte er den Muskelberg mehrfach mit oberflächlichen Schnitten verstehen. Er hatte ihm aufzeigen wollen, das er ohne seine Bewaffnung gegen einen geschulten und bewaffneten Gegner wie ihn nicht bestehen könnte, ja das er ihn nicht einmal treffen würde, hatte ihm den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Doch seine Taktik scheiterte. Stattdessen hatte er das Massiv nur noch weiter aufgestachelt, noch zorniger gemacht. Rahsa besaß ihrerseits einen anderen Kampfstil, das wusste Malek. Er wusste daher auch, dass dieser Gigant sie sehr wohl treffen würde. Das bedeutete Knochenbrüche, möglicherweise Schlimmeres. Es war nicht viel Zeit geblieben, um groß zu überlegen. Er hatte eine Chance gesehen und sie blindlings ergriffen. Vielleicht hatte er eine Niere getroffen, er wusste es nicht. Als er um Hilfe bat, waren die zuvor noch stumm versteinerten Männer herbei, packten den Fleischberg an den Armen und schleppten ihn davon. Die Klinge ließ man in der Seite, bis jemand sich besser darum würde kümmern können. Noch immer Flüche und Verwünschungen brüllend, aber zumindest widerstandslos, ließ sich der Kerl abtransportieren. Ein paar wenige Männer verblieben bei Rahsa und dem Tisch. Zumindest sie schien sich prächtig amüsiert zu haben. „Das war leichtsinnig!“ warf Malek ihr verstimmt vor, doch sie löste lediglich ihren Zopf wieder auf, grinste breit und erwiderte mit einem genüsslichen Blick seinen Leib herab „Und du warst so… edelmütig!“ Unter einem Seufzen winkte er ab, ließ sie dort stehen und schritt zu dem Käfig herüber, dessen Tor zugeworfen worden war. Zu war es damit noch lange nicht, nur angelehnt. Aber die Gefangene kauerte noch immer darin, sich an ihre Gabel klammernd, zitternd. Sie war nicht dumm – was hätte die Flucht ihr gebracht als ein paar Pfeile im Rücken? Es gab keinen Ort, an den sie fliehen konnte. Hier kam niemand raus, nicht ohne eine Horde Dämonen. „Gib mir die Gabel“, verlangte Malek, als er das Tor aufzog und die Hand fordernd hineinstreckte. Er sah ihr Zögern, sah, wie sie überlegte, wie ihre Gedanken rasten. Oh sie wusste genau, was jetzt auf sie zukommen würde. Sie fürchtete sich, sie fürchtete nichts so sehr wie das. Verhalten wagte sie den Kopf zu schütteln. „Die Gabel… Sofort!“ panisch zuckte sie zusammen, klammerte sich aber nur noch fester an ihre letzte Verteidigung. Er streckte die Hand noch tiefer hinein, wissend, was geschehen würde. Sie holte aus, versuchte, das Stück Metall in seinem Unterarm zu versenken, ihn aufzuschlitzen wie einen Fisch. Geschickt wich er der Attacke aus, langte mit dem freien Arm hinein und packte ihr Handgelenk. Von hier an war es ein Leichtes, ihr die Waffe abzunehmen. Schließlich lehnte er sich noch ein Stück weiter vor, tiefer in den Käfig hinein, packte sie am dunkelbraunen Schopf und zerrte das vor Schmerzen und Unwillen hysterisch schreiende Bündel aus dem Käfig heraus. Wie einen Sack Mehl ließ er sie auf den Boden fallen. „Wann lernst du das endlich…? Alles wäre viel leichter, wenn du nicht so rumzickst!“ fuhr er sie scharf an. Er griff das Weib hart am Oberarm, riss sie auf die Beine empor und zottelte sie die Stufen herauf. Sie hatten schon die halbe Strecke zum Korridor zurückgelegt, da versuchte sie zu fliehen. Er bekam sie abermals am Handgelenk zu fassen, zog sie ruckartig zurück. Mit einer Hand presste er sie an die Wand, drückte ihr die Luftzufuhr ab, während er sein Knie zwischen ihre Schenkel schob, sie aufdrückte. „Du wirst tun, was ich dir sage oder ich schmeiße dich persönlich in das Zimmer dieses Bastards!“ drohte er ihr unverhohlen und deutete in die Richtung, in die man den Nordmann abgeführt hatte. Von unten war vereinzelt Gejohle zu hören, Beifall und zustimmende Rufe. „Ist das klar? Haben wir uns verstanden?“ zischte er dem nackten Bündel zu. Als sie schließlich nickte, gab er sie frei und ließ zu, dass sie sich die Tränen von den Wangen wischte. Abermals von ihm gepackt, folgte sie eine ganze Weile, sie verließen die Halle, kehrten zurück in den Korridor, bis vor die Tür seines Zimmers. Er sperrte sie auf, drückte die Pforte ins Innere und wies sie an, einzutreten. „He, Malek!“ Überrascht blickte sich der Angesprochene um und sah einen anderen der Wächter den Gang herabkommen. „Was gibt’s?“ „Lass sie quieken wie ein Schwein…!“ forderte der Kerl ihn breit grinsend auf. Ohne auf seiner Miene eine Regung zu zeigen, nickte er dem Wachmann zu, packte das unwillige Stück Fleisch und schleuderte sie regelrecht in sein Zimmer hinein. Sie landete hart auf dem Boden, ließ ein Wimmern und Schluchzen hören, just als der Wächter an der noch offene Tür vorbei marschierte. Malek aber schloss die Pforte… und hörte auf, zu existieren. „Oh gute Güte, das tut mir so leid! Geht es dir gut?“ erkundigte sich Drakimh hastig, als sich Dinara langsam aufrichtete und sich den Dreck abklopfte. Ihr Blick fiel auf die Schüssel mit Wasser und nur zu gern hätte sie sich gesäubert. Nach drei Wochen… sie konnte den Gestank der anderen nicht mehr aushalten. „Ich bin nicht aus Porzellan“, erwiderte sie lediglich um ein Lächeln bemüht. „Möchtest du vielleicht… meinen Umhang haben? Oder… oder die Decke?“ Amüsiert aufschnaubend setzte sich die Kriegerin auf die Kante seines Bettes und schlug die blanken Schenkel übereinander. „Würde dich das vergessen lassen, wie meine Brüste aussehen?“ Etwas in Verlegenheit geraten, kratzte sich der Magier einen Moment und senkte betroffen den Blick. Er war ertappt worden. Was änderte das aber schon? Dinara hatte ihn in den vergangenen Monaten vieles gelehrt, sie waren einander nah und näher gekommen und neuerdings, auch bevor sie in diese Anlage eingedrungen waren, hatte sie es sich offenbar zum Ziel gesetzt, ihn so oft wie möglich zu beschämen. Vorzugsweise damit, was er sah, sobald er sie anblickte. Sich einmal mehr im Recht sehend, schüttelte die Kriegerin lächelnd den Kopf und legte sich auf sein Bett. „Oh gute Geister… liegen… die Beine ausstrecken…!“ Inzwischen durchliefen sie dieses Prozedere beinahe täglich. Malek gab vor, sie würde einfach perfekt in sein Beuteschema passen und machte Besitzansprüche geltend. Immerhin war er es ja auch gewesen, der das kleine Luder eingefangen, in Ketten gelegt und hierher gebracht hatte. Er, der Kleinganove aus Samara, der mit so vielen irren Geschäftsideen gescheitert war. Endlich war ihm das Richtige zu Ohren gekommen und er sah seine Chance. Sklaven zu fangen war so viel leichter, wenn man sie zuvor umgarnen und einwickeln konnte, wenn sie freiwillig den Großteil der Strecke mitliefen. Er hatte von den Gerüchten gehört, hatte Geld investiert, hatte sie ausfindig gemacht und Dinara, nun, die und ihre kleine dreckige Tieflingsfreundin hatte er als Gastgeschenk mitgebracht. Er würde mit dem Anführer verhandeln – und nur mit dem. Sowohl darüber, wie sich eine zukünftige Zusammen- oder Mitarbeit Maleks mit den Sklavenjägern darstellen könnte, als auch über Wert und Preis der zwei Weiber. Bis die Verhandlungen aber abgeschlossen waren, das hatte er von Anfang an deutlich gemacht, waren die Beiden sein Besitz, seiner allein! Es hatte sich rasch herausgestellt, dass das so nicht funktionierte. Niemand wollte etwas von Ximasxi. Sie fauchte, sie kratzte, sie biss. Selbst ihr Futter zur Verfügung zu stellen, hatte hier schon einen der Wächter einen Finger gekostet. Mit so einem Ding, das schon mehr Tier als alles andere war, wollte man sich gewiss nicht vergnügen. Aber Dinara hatte Neugier geweckt. So wie alle frischen, unverbrauchten Weiber, die hier hereinkamen. Die einzige Möglichkeit, ihr das Leid und Elend zu ersparen war… es ihr selbst anzutun. Zumindest zum Schein. In den ersten Tagen hatten sie versucht, die Zeit, in der er sie angeblich auf jede nur erdenkliche Weise erniedrigen und schänden würde, nutzvoll herumzubringen. Doch Fechtübungen blieben nunmal nicht unbemerkt. Das Geräusch aufeinander treffenden Metalls hatte einen Wächter alarmiert, er hatte Zutritt zur verschlossenen Kammer verlangt, Kameraden gerufen. In aller Hast und Eile hatten sie einen Kampf inszeniert, etwas Unordnung geschaffen. Am Ende stellte sich den Männern, die die Tür aufbrachen, alles so dar, als wäre eine Gefangene unwillig gewesen und habe versucht, ihren Peiniger mit einem Kerzenständer zu erschlagen. Den er mit dem Dolch abwehrte. Man hatte sie ausgepeitscht und in den Tagen darauf hatten zunächst einmal ihre Wunden heilen müssen. Später verlagerten sie sich weiter auf Gespräche. Selten einmal, wenn sie auf dem Gang Schritte hörten, imitierte Dinara genau das, was von ihr erwartet wurde: Schmerzverzogenes Keuchen, Gewimmer und unterdrückte Schreie. „Du kannst dich ruhig waschen. Ich werde einfach behaupten, das ich etwas so Verdrecktes sicher nicht an mich ranlassen wollte.“ Sie legte das Haupt zur Seite, betrachtete ihn einen Moment und schien seinen Vorschlag zu überdenken. Tatsächlich klang das gar nicht so dumm und sie… oh sie war mehr als dankbar für die Gelegenheit. „Ist in Ordnung“, erklärte sie regelrecht aufspringend und trat zur Schüssel herüber. Ein kleiner Lappen gereichte ihr völlig, um das Nötige zu tun. Derweil zog sich Drakimh einen Stuhl dicht neben das Bett heran, ließ sich auf diesen sinken und rutschte herab, das er selbst die Beine gerade durchstrecken konnte. Die Hände über dem Bauch gefaltet, ließ er seine Gedanken schweifen, während die Kriegerin sich in seinem Rücken säuberte. „Wie läuft es mit Rahsa?“ erkundigte sich Dinara. Seufzend straffte der Magier seine Haltung wieder etwas. „Gut soweit. Sie scheint mich nicht mehr zu verdächtigen.“ Hinter sich hörte er die Kriegerin auflachen. „Wer hätte je gedacht, dass dein Talent mit Frauen jemals wirklich nützlich werden könnte…! Und was sagt sie zu mir?“ Einen Moment hatte er ernsthaft widersprechen wollen. Sein Umgang mit allen Lebewesen war respektvoll und höflich, solange man ihm ebenso begegnete. Zu Damen dagegen war er möglicherweise – aber nur möglicherweise – ein klein wenig… charmanter als zu Männern. Aber das gehörte sich schließlich auch so! Dann wiederum fiel es ihm schwer, ihr zu widersprechen, weil sie einfach viel zu oft von Umständen und göttlichem Willen, wie ihm manchmal schien, einfach Recht zugesprochen bekam. Ähnlich verhielt es sich mit Ximasxi. Entsprechend ließ er seine Widerworte fahren und konzentrierte sich auf ihre Frage. „Sie glaubt, ich übe. An dir, für sie.“ Kurz musste er selbst schmunzeln. Das klang irgendwie falsch, es klang so, als sollte er sich dafür schämen, als wäre es rüde und unhöflich und so vieles anderes, was er nicht leiden konnte und doch… und doch musste er einfach grinsen. Das gefror ihm einen Moment lang vor Überraschung, als sich plötzlich ein paar Frauenhände auf seine Schultern legten. Kurz kneteten sie die nicht unerheblichen Verspannungen. Sie fragte ihn, ob er immer noch schlecht schlafe und mit nicht mehr als einem Nicken bestätigte er ihr dies. Ihre Fingerspitzen aber wanderten über sein Schlüsselbein herab, über seinen Bauch, bis… ihre Lippen nah genug an seinem Ohr waren, hineinzuflüstern. „Und in Wahrheit übst du an ihr für mich, hm?“ Sie hatte es wieder getan. Unter einem Auflachen erhob sie sich, kehrte zur Wasserschüssel zurück und setzte unverblümt ihr Treiben fort, während er sich einmal mehr… bloßgestellt vorkam. „Manchmal habe ich das Gefühl… ich würde mich in der Rolle verlieren“, begann er nach einer Weile deutlich ernster seinen Sorgen Ausdruck zu verleihen. Seit Monaten spielte er nun schon Malek. Er hatte gelernt, so zu reden. Sich so zu geben. Er war rüde geworden, rau, boshaft, zugleich aber gewitzt. Der südländische Charme ergänzte sich mit seinem Eigenen, Grenzen verschwammen und manchmal, da kam es ihm vor, als wäre das fremde Wesen invasiv. Als hätte diese Maske, diese Fassade, einen eigenen Willen entwickelt und schickte sich an, ihn zu verdrängen. Ihn zu übernehmen. Er erzählte ihr erstmals von seinem morgendlichen Ritual vor dem Spiegel, von dem Schrecken, den er diesen Morgen gehabt hatte. Er erzählte ihr von Xarak. Natürlich kannte Dinara die Geschichten. Der König aller Untoten, der über nahezu gottgleiche Kräfte verfügte und das ganze Pantheon herausforderte. Eine Gemeinsamkeit, die er mit Ceteus dem Schatten hatte, weshalb es gelegentlich zu ein paar fragilen Pakten gekommen war. Als sie damals in Samara Malek gegen Anna geholfen hatten, da war Magie geflossen. Der Zirkel hatte immer die Doktrin verbreiten lassen, dass alle Hexer gemeingefährlich seien. Nicht einmal, weil sie es wollten, weil sie böse oder grausam waren – sondern einfach, weil ihnen eine Kraft in die Wiege gelegt worden war, mit der sie nicht umzugehen gelernt hatten. Der Zirkel konnte ihnen das beibringen. Konnte aus einem unbeherrschten Hexer einen besonnen kalkulierenden Magier machen. Malek hatte das nie gewollt, er hatte sogar seine eigene Magie nie gewollt – sie immer nur als letztes Mittel eingesetzt. Wie auf dem Friedhof seinerzeit. Noch heute glaubte Drakimh ihn zu spüren. Wenn er sich genug konzentrierte, wenn er nur tief genug in das Gewebe hineinspürte, dann war da… eine Präsenz. Etwas Unnatürliches, Kaltes. Es schien schlafend. Tatsächlich aber lauerte es und starrte man nur lange genug hin, begann es zurückzustarren. Damals auf dem Friedhof glaubte er diese kalte Kralle verspürt zu haben, die sich auch nach ihm ausstreckte. Dabei war er nicht einmal ein Schwarznekromant. All diese Sorgen trug er Dinara vor, verflocht sie zu einem Netzwerk aus Gründen und Nöten, Ängsten und Problemen, die alle in einen Punkt hinein gipfelten: Er glaubte wahnsinnig zu werden. Sich selbst in dieser gewaltigen Intrige zu verlieren, die hier jeder gegen jeden zu spinnen schien. Schließlich, nachdem sie ihm aufmerksam zugehört und ihre Wäsche beendet hatte, stellte sich die Kriegerin vor ihn. Sie ließ sich auf seinen Knien nieder, nahm seine Wangen in ihre Hände und hob seinen Blick empor. „Du bist Drakimh D’spayre, ein freundlicher, höflicher, liebenswerter, wenn auch immer noch ziemlich naiver Holzkopf. Und wenn du das möchtest, wenn es dir hilft, dann sage ich dir das jeden Tag wieder. Ich werde sicher nicht zulassen, dass du hier bleibst und Malek hier herauskommt. Denn um ehrlich zu sein: Ich habe dich viel lieber als ihn. In Ordnung?“ Als er nickte, zog ein warmes Lächeln auf und hellte Dinaras Miene deutlich auf. „Fein. Und jetzt hör auf, mir auf die Brüste zu starren.“ Erst als sie es sagte, senkte sich sein Blick und kaum, das er das bemerkte, zwang er sich wieder, starr empor zu blicken. Erwischt hatte sie ihn aber dennoch. Schon wieder. Amüsiert lachte sie leise auf, erklärte ihm, dass er sich eigentlich schämen müsse, dass das nun wirklich jedes Mal wieder funktioniere. Gerade zu Beginn hatte sie ihre Schwierigkeiten damit gehabt, nackt zu sein. Ständig. Angegafft von so vielen, die sich dabei zweifellos noch weit mehr und weit Schlimmeres vorstellten. Es war ein widerwärtiges Gefühl, sorgte dafür, dass sie sich ständig putzen wollte. Als würde nur von den Blicken allein ein schleimiger Film auf ihrer Haut zurückbleiben. Doch immerhin hatte sie Vertrauen. In ihren gemeinsamen Plan. In Drakimhs Fürsorge. Darin, das er begonnen hatte, in ihr eine Freundin zu sehen… und mittlerweile wohl auch mehr als nur das. Er würde sie nicht im Stich lassen, nicht, solange ihm noch irgendetwas zu Gebote stand. Dinara erhob sich wieder und streckte sich erneut auf seinem Bett aus. Die Matratze war hart und gewiss nicht von bester Qualität, doch war sie noch immer um Längen weicher als Fels und Metall. Allein das Gefühl, sich ausstrecken zu können, war eine Wohltat. „Ich mache mir Sorgen um Ximasxi“, begann die Kriegerin schließlich, „Sie redet nicht mehr mit mir. Sie redet mit gar keinem mehr… glaube ich. Manchmal, da denke ich, sie nachts leise flüstern zu hören. Aber ich bin mir nicht sicher. Sie schottet sich immer weiter ab… ich denke, es geht ihr schlecht.“ Ein Seufzen war die erste Reaktion, die Drakimh erübrigen konnte. Zu dritt waren sie in Samara aufgebrochen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Jeder von ihnen hatte so seine eigenen Motive gehabt, diese Herausforderung zu suchen. Er selbst hatte immer als ein Held gefeiert werden wollen, hatte Ruhm erlangen, große Abenteuer bestreiten und den Menschen helfen wollen. Drakimh der Große, Retter und Bezwinger! Er hatte schon frühzeitig lernen müssen, dass die Welt sehr viel kälter und rauer war, als er sie sich vorgestellt hatte. Außerhalb der beschützenden Wände des elterlichen Heimes und der aussperrenden Mauern der Akademie in Ceryddwin hatte sich ein völlig anderer Mechanismus etabliert. Angst wurde immer verbreiteter als erstes Mittel einer Herrschaftssicherung. Gewalt immer üblicher. Unterdrückung, Ungerechtigkeit – er konnte das unmöglich einfach mit ansehen, es alles geschehen lassen und die Hände in den Schoß legen. Natürlich hatte man ihm auch rasch aufgezeigt, dass er nicht alle Übel der Welt würde kurieren können. Zumindest nicht alle zeitgleich. Also nahm er sich vor, ein Verbrechen nach dem anderen zu tilgen. Die Sklaverei in Lumiél aufzuhalten war nobel, gewiss. Aber schon so manches Mal hatte er resignierend überlegt, ob er sich für seine erste Aufgabe nicht doch deutlich übernommen hatte. Sie waren hier in eine Sache hineingeschlittert, so viel größer und gewaltiger, als das es ein kleiner Magier hätte aufhalten können. Da waren guter Rat und Verbündete teuer. Beides hatte er bekommen – beides zu hohem Preis. Dinara war hier, weil ihre Lebensaufgabe sie trieb. Sie hatte üble Zeiten mitgemacht, hatte als Kind das Abschlachten ihrer gesamten Familie erleben müssen. Um Haaresbreite hätten die Bestien sie auch noch ihrer Unschuld beraubt, doch sie entkam. Sie fand eine Zuflucht, neue, schützende Hände, die sie Stärke lehrten, den Umgang mit der Waffe. Sie schwor Rache und mehr noch, sie schwor, ihren Bruder zu finden und zurückzubringen. Was von der Familie übrig war, musste erhalten werden. Um diese Ziele erreichen zu können, bat sie die Götter um Kraft. Um die Stärke, die dazu nötig war. Ihre rituellen Tätowierungen sprachen noch immer von jenem Pakt, den sie geschlossen hatte. Um diese Kraft zu erlangen, bot sie den Göttern an, auf etwas zu verzichten. Sie schwor sich Enthaltsamkeit, sich, den Alten, der Welt. Ihr Weg hatte sie weit geführt, durch fremde Länder, in viele dunkle Gegenden. Spuren und Fährten, Jahre alt, waren kaum zu finden, kaum wieder aufzunehmen. Doch in Lumiél war sie fündig geworden. Mehr noch als das: Hier war sie fündig geworden. Drakimh konnte nicht einmal erahnen, wagte nicht zu ermessen, wie sie sich fühlen musste. Ihr Bruder, geliebt, vermisst, gesucht und ersehnt, saß keine Meile von ihr entfernt nackt und abgemagert in einem Sklavenkäfig und wartete darauf, ob irgendwann vielleicht jemand Interesse daran hegen würde, ihn zu kaufen. Wie Vieh auf einem Markt. Er war hier, lebendig – und in ein paar Tagen wäre er frei. Ein Gutteil ihres Versprechens wäre damit erfüllt und was verblieb, das war der Wunsch nach Vergeltung. Im Laufe der letzten Monate aber war dieser Wunsch… verrutscht. Oder sie selbst war es, die eine neue Perspektive erlangt hatte, die einen neuen Blickwinkel einnehmen musste. Gewiss waren die wenigen, aber aufschlussreichen Gespräche mit Ximasxi ebenso wenig unschuldig daran wie die deutlich längeren und häufigeren Dialoge mit Drakimh – oder all das, was sie auf ihrer bisherigen Reise erlebt und durchlitten hatten in dem Versuch, dieses Uhrwerk zum Erliegen zu bringen. Ximasxi selbst war ein Fragezeichen. Sie log selten und wenn, dann zu gut, um enttarnt zu werden. Gemeinsam hatten sie sich nach Halwith aufgemacht in den Süden, hatten Sundergrad bereist und mit dem Oberhaupt der Diebesgilde gesprochen. Das Tieflingsweib war Mitglied dieser Schattenorganisation, deren gierige Griffel sich durch das ganze Land erstreckten und selbst die Taschendiebe im eisigen Audron erreichten. Jeder hatte Abgaben zu leisten, jeder hatte seinen Anteil zu zahlen. Denn gestohlen, geraubt und geplündert wurde immer und überall – aber nur mit Erlaubnis der Gilde. Alles andere konnte schnell… unangenehm werden. Ungesund obendrein. Hier nun aber war ein reichlich beeindruckendes Netzwerk aufgebaut worden, hier wurden hunderte, wenn nicht tausende Gulden mit illegalen Geschäften umgeschlagen und nicht nur hatte die Diebesgilde nie ihren Anteil an diesen Geschäften zu Gesicht bekommen, nein schlimmer noch: Weder hatte man je von dieser Organisation gehört – was bei jener Größenordnung schon beachtlich war -, noch konnte man sich noch der Neutralität rühmen. Gildendiebe waren verschwunden und, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, umgebracht worden. Weil sie herumgeschnüffelt hatten, weil sie Fragen stellten, weil sie diesem Geheimnis zu nahe gekommen waren. Damit hatten sich die Sklavenhändler einen mächtigen und verschlagenen Feind geschaffen. Nicht länger war dies nur eine Angelegenheit des Geschäfts, es drohte persönlich zu werden. Ximasxi hatte eigene Befehle bekommen, als in Sundergrad Absprachen getroffen und Abkommen geschlossen worden waren. Sie handelte im Interesse der Gilde, das wusste Drakimh. Sie war geradezu blind vor Loyalität gegenüber ihrer Vereinigung von Fassadenkletterern, Trickbetrügern und Straßenräubern. Nur… was nun eigentlich im Interesse der Gilde lag, darüber war sich der Magier nicht ganz sicher. Er hatte nie wirkliche kriminelle Energie besessen und es fiel ihm selbst jetzt alles andere als leicht, sich in den Verstand eines notorischen, chronischen Verbrechers einzudenken. Für ihn stellten sich die Dinge so dar, dass die Sklavenjäger mehrere Gildendiebe getötet und eine gewaltige Menge Geld unbemerkt geschleust hatten. Sie waren nun, zu dritt, als Aufräum- und Vendetta-Kommando entsandt worden, um an alle – inklusive seiner Majestät – eine deutliche Botschaft zu senden: Lege dich niemals mit der Gilde an! Sie zerstörten, plünderten und brandschatzten ein Versteck nach dem anderen. Nun waren sie im Letzten angelangt und würden das auch hier wiederholen, würden den Anführer fassen, ihn aus dem Verkehr ziehen und die ganze Geschichte zerschlagen und begraben. Ob die Gilde das jedoch wirklich so einfach sah, das konnte er nur zu ahnen versuchen. „Ich habe dafür gesorgt, dass sie ihre Lumpen und ihr Mundtuch behalten konnte. Ich wünschte, es wäre anders, aber mehr kann ich im Moment einfach nicht für sie tun“, versuchte der Magier sich zu rechtfertigen. Unter einem neuerlichen Seufzen schüttelte er ernster Miene das Haupt. Ximasxi besorgte ihn ebenso, auch ohne die Nachricht ihrer weiterführenden Isolation. Dieser Prozess war nichts Neues. Anfangs hatte er sich bemüht, ihr aufzeigen zu wollen, dass nicht alle Menschen Monster waren. Vor allem er selbst nicht! Er hatte ihren Spott ertragen, er hatte ihre Verhöhnungen erduldet und ihre Verwünschungen geschluckt. Er befand, er hätte sich wirklich mehr als genug Mühe mit ihr gegeben. Doch sie, sie fauchte und plärrte und fluchte munter weiter, drehte sich alles zu Recht, dass es in ihre fürchterlich boshafte, finstere Weltsicht passte. Sie wollte gar nicht glücklich sein! Als er ihr das einmal gesagt hatte, hatte sie ihn ausgelacht. Hart und verbittert klang es. Im Verlaufe dieser Reise hatten Dinara und er sich einander immer weiter angenähert… während der Tiefling immer weiter abzudriften schien. Er hatte sie anfangs als eine Freundin zu betrachten versucht. Wegen der Dinge, die sie gemeinsam überstanden und der Kämpfe, die sie Rücken an Rücken ausgefochten hatten. Doch mit fortschreitender Zeit war das immer schwerer geworden. Inzwischen konnte er nicht mehr sagen, was sie eigentlich füreinander waren. „In ein paar Tagen kommt dieses Genie, das hinter allem steckt, hierher. Dann ist diese Sache endlich vorbei, du hast deinen Bruder zurück und sie… sie kann… ich weiß nicht. Zurück zu ihrer Gilde, schätze ich.“ Etwas deprimiert schaute sich Drakimh im spärlich eingerichteten Zimmer um, ehe er einen Entschluss fasste. Er wollte die knapp bemessene Zeit, die er mit Dinara verbringen und er selbst sein konnte, nicht mit Trübsal und schlechter Laune zubringen. Entsprechend wandte er sich um und blickte seine Gesellschaft eingehender an. Die Tätowierungen, deren Geschichte sie ihm erzählt hatte, die kleineren und größeren Narben hier und da. Vor allem jene beiden, die sich von ihrem Bauchnabel zur Hüfte zog und die, die von ihrem Schlüsselbein zur Brust führte. „Woran denkst du?“ hakte die Brünette nach, die Brauen bereits zu einem skeptischen Blick gehoben. „Ich…dachte gerade daran, was für ein ungünstiges Bild es abgeben würde, wenn nun jemand hereinkäme. Wunderschön zu betrachten, eine wahre Augenweide, aber wohl auch irgendwie ungünstig, nicht wahr? Immerhin sollten wir-“ Sie ließ ihn nicht einmal ausreden. Ein geradezu süffisantes Lächeln auftragend, erklärte sie ihm, dass es dann vielleicht besser wäre, wenn er sich zu ihr legen würde. Der reinen Höflichkeit halber zierte er sich noch einen Moment, ehe er sich doch vom Stuhl erhob. Statt sich aber neben sie zu legen, wie sie es ihm angeboten hatte, blieb er über ihr. Die Unterarme auf der Decke aufgestützt, hielt er sie mit Armen und Beinen eingesperrt. Sein Blick verlor sich einen ausgedehnten Moment im Braun ihrer Iriden, ehe er wieder anhob. „Weißt du… nun, da wir deinen Bruder gefunden haben… da könnten wir möglicherweise ja-“ Abermals unterbrach Dinara ihn. Das wissende Lächeln war ein Stück weit angewachsen. Sie hatte die Hand gehoben und ihn im Schritt gepackt. Es war nicht die Überraschung allein, die ihn nach Luft schnappen ließ. „Aber aber, Herr D’spayre! Ich muss doch wohl bitten, das ihr euch zügelt, immerhin seid ihr hier in Gegenwart einer Dame“, maßregelte sie ihn, während sie zugleich seinen Gürtel löste. Mit tiefen, zwanghaft regelmäßigen Atemzügen versuchte der Magier die Kontrolle zu halten – wenn schon nicht über die Situation, so doch wenigstens über sich selbst. Noch einmal ein gewaltiges Stück schwerer wurde dies, als sie ihn von jenem Druck befreite. Die Hosen saßen unangenehm eng und nahezu alles zeichnete sich darunter völlig mühelos ab, das ließ unweigerlich auch keinen rechten Platz für… verfängliche Situationen und Reaktionen. Statt aber die Grenzen ihres Spaßes zu kennen, neckte sie ihn schamlos weiter, ließ ihre Fingerspitzen daran herauf und herab tanzen. Ein heißkalter Schauer jagte ihm den Rücken herab, ließ ihn unwillkürlich die Lider senken. Just als er diesen allmählich ins Grausame umschlagenden Streich beenden wollte, packte ihn Dinara jedoch im Nacken. Sie hielt ihn nicht einfach nur fest, sie zog seinen ganzen Leib ein gutes Stück herab, wandte sein Haupt, das sie ihm abermals zuflüstern konnte. „Ich schlage dir etwas vor“, säuselte sie leise. Allein ihr heißer Atem ließ ihn abermals schaudern. Was war nur los mit ihm? Seit wann ließ er sich so rasch und so widerstandslos in die Passivität verdrängen? Als sich ihre Hand etwas forscher schloss, Druck ausübte, ihn nicht länger einfach nur kitzelte und neckte, sondern regelrecht gezielt um den Verstand brachte, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie lange er schon dieser Art von Vergnüglichkeit hatte absprechen müssen. Wann hatte er sich zuletzt mit einem Weib vergnügen dürfen? Wann war er einer Dame nahe gewesen, hatte ihr Freuden bereitet, sich von ihr gehörig Freuden bereiten lassen? Er kramte so tief in seinen Erinnerungen, wie er nur konnte und fand… Kaska. Das Schaudern, das daraufhin folgte, war nicht von Wohlgefallen ausgelöst worden – wurde allerdings schnell davon geprägt. Je intensiver sie sich mit ihm befasste, desto schneller wurde alles andere verdrängt. Bilder, Gedanken, alles löste sich in Wohlgefallen auf, in Sehnsucht, in Verlangen, in das Gefühl, über einen viel zu großen Zeitraum etwas unglaublich Schönes vernachlässigt, unfreiwillig darauf verzichtet zu haben. „Wir“, hob Dinara leise an und hauchte erneut gegen sein Ohr, „und damit meine ich wir alle, werden noch ein paar Tage durchstehen und diese Sache hier zu einem Abschluss bringen. Und dann, wenn es endlich soweit ist… dann… schauen wir weiter… hm?“ Sein Atem hatte sich merklich beschleunigt, er wollte etwas erwidern, widersprechen, vorschlagen… was wollte er? Während seine Gedanken in heillosem Chaos versanken, zog Dinara ihre Hand zurück. Sie bemerkte seinen Blick mit einem gewissen Amüsement, vielleicht verspürte sie sogar eine kleine Spur von Schadenfreude, doch sie hatte nicht vor, ihn unnötig leiden zu lassen. Sie schälte beide Arme unter ihm hervor, packte mit einem forschen Grinsen seinen Hintern und drückte ihn ein Stück herab. Während ein Teil von ihm sich Platz zwischen ihren fest zusammengepressten Schenkeln schuf, wo zuvor keiner gewesen, zerfaserte schließlich auch das letzte bisschen Vernunft und Kontrolle. Abrupt und stoßweise ausatmend, fuhr ein kleines Aufbeben durch den Leib des Magiers. Die Lider fest herabgepresst, senkte er die Stirn neben Dinaras Haupt auf das Kissen, bemühte sich, versuchte sich zu beherrschen… keuchte gegen ihren Hals. Enthaltsamkeit zu schwören bedeutete nicht, die Versuchung abzuschaffen. Sie verspürte Lust und Verlangen wie jede andere Frau auch – hier und jetzt in einem geradezu quälenden Ausmaß. Enthaltsamkeit bedeutete, der Versuchung schlichtweg zu widerstehen. Ob sie das noch länger wollte, darüber war sie sich noch im Unklaren. Eines aber glaubte sie ganz gut zu wissen: Drakimh hatte sich schon mit einer ganzen Menge anderer Damen vergnügen dürfen und der horrende Mangel an Disziplin und Konzentration, schlicht an Ausdauer, den er gerade eben an den Tag gelegt hatte… das ließ sich nicht einfach nur auf ein paar Monate Zwangszölibat zurückführen. Sie wusste das, er wusste das. Sie wussten es beide – und dennoch wagte bisher keiner von ihnen, das auszusprechen, was Ximasxi seit jeher als offensichtlich bezeichnet hatte. Drakimh fing sich nur langsam wieder, hob das Haupt und blickte ihr aus glasigen, noch entrückt wirkenden Augen entgegen. Er würde sich entschuldigen wollen, so fürchtete die Kriegerin – weshalb sie ihm, kaum dass er die Lippen öffnete, den Zeigefinger darauf legte. Einen Moment harrte er aus, nickte schließlich verstehend. Ein paar Augenblicke länger noch wartete er, sammelte sich, ehe er sich erhob. „Das tut-“ hob er an, bekam aber sofort den Mund verboten, „Du kannst dich natürlich nochmals waschen, soll ich dir das Wasser bringen?“ erkundigte er sich peinlich berührten Blickes. Dinara dagegen setzte sich auf die Bettkante und blickte seufzend an sich herab. Die Entscheidung, die sie nun traf, fiel ihr nicht sonderlich leicht – doch sie zögerte nicht lange. „Nein, ist schon gut“, erklärte sie und sah sich erst auf seinen irritierten Blick hin genötigt, sich zu erklären, „Drakimh, du bist ein lieber Kerl, aber noch immer manchmal ziemlich… nun ja, naiv. Die Geschichten, die du erzählst? Was wir hier angeblich jedes Mal tun? Ich habe keine Schnittspuren, keine blauen Flecke, nicht einmal Kratzer oder Bisse, keiner von uns beiden. Mit verklebten Beinen in den Käfig zurück zu gehen ist jetzt nicht unbedingt mein Traum, aber es wird auf jeden Fall alle Zweifel und Verdächtigungen für ein paar Tage ablenken. Bis wir diese Sache hier beendet haben.“ Obendrein, so hoffte sie Söldnerin zumindest, würde kein anderer Wächter mehr auf die Idee kommen, sie kurz ausleihen zu wollen, war sie doch nun sichtlich beschmutzt. Sie wusste zwar, dass es wirklich genug Männer gab, die das nicht sonderlich scherte – doch einen Versuch war es allemal wert. Wenige Minuten später standen sie wieder an der Tür und die Kriegerin lächelte ihm aufmunternd zu. „Der Gürtel“, mahnte sie noch, als er die Tür schon öffnen wollte. Hastig schloss er das Stück. „Bereit?“ erkundigte er sich höflich und erst, als sie nickte, atmete er selbst noch einmal tief durch. Die Tür öffnete sich… und Drakimh verschwand. Malek dagegen stieß die kleine Schlampe auf den Gang hinaus, verschloss die Tür hinter sich und zerrte sie mit festem Griff um den Oberarm zurück in die Halle hinunter. Der Fackelschein brach sich auf ihrer Haut und ein paar besonders aufmerksame Adleraugen begannen zu tuscheln, bis am Tisch der Kartenspieler das gleiche Gejohle und Gejubel ausbrach wie schon zuvor. „Ja ja ja, ihr Halunken!“ Mit einem breiten Grinsen richtete sich Malek an die Gruppe der Spieler. Er zog sich einen Stuhl herbei, drehte ihn mit der Lehne zum Tisch und ließ sich darauf nieder. In das Kartenspiel einzusteigen war nicht jederzeit möglich, aber nächste Runde wäre er mit dabei. Rahsa war die Erste, die sich darüber freute. Stunden würden dahinziehen. Malek würde mitspielen, mitlachen, seinerseits ein paar schamlos schmutzige Witze erzählen. Je derber, desto besser. Er würde andere Wächter kommen und gehen sehen. Manchmal brachten sie erschöpfte, wimmernde Sklavinnen zurück. Manchmal holten sie sich welche, die sich genauso panisch wehrten wie Dinara zuvor – nur war ihre Hysterie nicht gespielt. Und Malek, ihm wäre das alles völlig egal. Er würde Karten spielen. Gelegentlich viel Spaß wünschen oder einen guten Ritt. Während er innerlich den Würgereiz zurückhalten musste. All den Ekel, all den sengenden Zorn. Stattdessen lächelte er. Ignorierte das Flehen um Hilfe. Und tätigte seinen nächsten Einsatz…   Der Tag war gekommen. Zunächst war es nur ein Klopfen an seiner Tür, bevor Rahsa den Kopf hereinsteckte und ihm erklärte, man würde ihn nun erwarten. Noch schlaftrunken und zerzauster Haare, ließ der Magier zunächst den Kopf wieder auf das Kissen fallen. Sekunden verstrichen zäh und langsam, da wurde ihm mit einem Schlag klar, was das hieße. Die Tragweite ihrer Worte ereilte ihn: Ende! Nicht demnächst irgendwann, nein. Heute. Jetzt. Fast vier Wochen waren sie hier unter der Erde gewesen, hatten in dieser Anlage ausgeharrt. Noch mehr Zeit war auf der Jagd nach Handlangern verstrichen, nach Mittelsmännern, Boten, Zwischenhändlern. Jetzt endlich könnten sie das Leiden beenden. Zurück ins Licht. In ein Gasthaus. Ordentliche Betten. Bessere Gesellschaft. Kein Wimmern und Schreien mehr. Er könnte wieder Drakimh sein, das Malek-Sein jemandem überlassen, der sich damit auskannte. Malek, zum Beispiel. Hastig stolperte er regelrecht aus dem Bett hervor, schwang sich behände in seine Kleider hinein und verstaute den Dolch. Die Morgenwäsche verkam zu einer flinken Katzenwäsche. Doch noch bevor er sich losriss und zur Tür stürmte, strahlte er ein so freudiges Lächeln, wie man es lange nicht mehr gesehen hatte, in den Spiegel hinein. „Ich weiß wer ich bin!“ knurrte er kämpferisch, lachte kurz auf und eilte hinaus. Er fühlte sich so beschwingt wie schon lange nicht mehr. Endlich würde alles voran gehen, sie konnten dieser Farce ein Ende setzen! Er hätte ein Liedchen pfeifen oder zur Qual aller Zuhörer eines seiner berüchtigten Gedichte anstimmen wollen. Doch die wenigen, letzten Minuten, so rief der Magier sich zur Raison, die würde er noch durchhalten müssen – und können. Bei Jebis, er würde sich jetzt ganz sicher keine Fehler leisten! Man brachte ihn in einen Bereich der gewaltigen Anlage, den er zuvor nicht betreten hatte. Verwunderlich war das nicht – er schritt, nachdem es andere direkt vor ihm getan hatten, einfach durch eine überaus massiv wirkende Wand hindurch. Wie sich auf der anderen Seite herausstellte, war der Fels Teil einer raffinierten Illusion. Raffiniert nicht nur, weil er spürbar gewesen war, einen minimalen Widerstand aufbot, weil er so realistisch gewirkt hatte, nein. Raffiniert, weil selbst Drakimh die Magie darin erst spürte, als er das Feld durchschritt. Dahinter lag nicht mehr als eine offene Holztür, die nach Passage der Gruppe von der Nachhut sorgsam geschlossen wurde. Sie befanden sich nun in einem Raub, der nicht länger einfach nur karg war. Er war… leer. Die große Halle wurde nur am Eingang von zwei Fackelhaltern beleuchtet, sodass sich im hinteren Bereich völlige Dunkelheit ausbreiten konnte. Rahsa wartete ungeduldig die Arme verschränkt und mit dem Fuß einen Rhythmus tippelnd, während zwei weitere Wächter Position an den seitlichen Wänden bezogen hatten. Schließlich klopfte es, die Brünette eilte zur Tür zurück und ließ nochmals vier Personen ein. Zwei stellten sich rasch als Drakimhs Begleiterinnen heraus, während sie von zwei weiteren Sklavenjägern gehalten wurden. Man postierte die Gefangenen hinter Rasha und dem vermeintlichen Malek, die zwei zusätzlichen Wächter postierten sich neben der Tür am Eingang und warteten schließlich ab. „Nun stellen wir doch mal auf die Probe, mit wem wir es hier zu tun haben“, ertönte unvermittelt eine Stimme aus dem finsteren hinteren Bereich der Halle. Zwei weitere Wächter traten gerade weit genug hervor, um sichtbar zu werden. Wen sie allerdings begleiteten – den Sprecher -, ließ sich noch nicht erkennen. „Warum sollten wir dich nicht einfach töten und die beiden behalten? Oder besser noch, wir sperren dich gleich mit in einen der Käfige, hm?“ Drakimh lauschte angestrengt, doch er konnte noch nicht viel mehr ausmachen als eine Männerstimme. Weich und offenkundig intelligent, sicher gar belesen und gebildet. Aber daran allein ließ sich nicht viel abschätzen. Also hieß es, noch einen Moment länger die Rolle zu spielen. „Ich bin euch loyal und lebendig viel mehr wert. Ich habe die beiden hier als Geschenk mitgebracht, als Beweis, dass ich allein mit meinen Methoden viel bessere Quoten erreichen kann als eure Rasselbande hier. Und mit Verlaub, die meisten von denen wirken auch nicht gerade, als seien sie die hellsten Sterne am Firmament.“ Ein kurzes, wohl der Höflichkeit geschuldetes Lachen ertönte am anderen Ende. Drakimh hörte ein paar Schritte und begann in diesem Moment zu begreifen, wie das Spiel ablaufen würde. Mit jeder Antwort, die dem Fremden zusagte, kam er ein wenig näher. Es war beinahe symbolhaft: Sie näherten sich einander an und am Ende stünden sie sich nicht nur gegenüber, sie hätten auch ein Abkommen geschlossen. „Du denkst also, du bist charmant genug, hm?“ Eine Probe. Es lag ein beinahe lockender Tonfall darin versteckt. Ein einfaches Ja würde ihm nun den Hals in die Schlinge legen, das begriff Drakimh. „Rahsa kann bezeugen, wie charmant ich sein kann. Für die beiden hinter mir hat’s auch gereicht. Oh und… dieser eine, großmäulige Koloss? Ich glaube, der würde meine Worte auch bestätigen.“ „Wenn er das noch könnte, versteht sich“, wandte der Fremde ein und Drakimh setzte die Pointe seiner kleinen Ausführung zeitlich präzise und geschickt. „Natürlich – wenn er das noch könnte…! Muskeln allein sind nicht alles. Es ist nicht nur das, was ich euch mit diesem leidigen Zwischenfall bewiesen haben sollte, sondern vielmehr, dass dieser Kerl eine Gefahr für die Integrität des Geschäfts war. Er hätte Ware beschädigen können. Wie sähe das denn vor der zahlenden Kundschaft aus?“ Ein langsamer, aber noch nicht spöttisch klingender Applaus folgte. Die Art, wie ihn arrogante Adlige vielleicht von sich gaben? Konnte es sich beim Drahtzieher dieser ganzen Misere möglicherweise um ein Blaublut handeln? Würde Phillipe einem aus der Oberschicht solch ein Unterfangen zutrauen? Das erschien nicht klug. Selbst für den König nicht. Er gäbe damit einem einzigen Adligen sehr viel Macht in die Hand, mehr noch als das, unwiderlegbare Beweise und Druckmittel. Hatte sich seine Hoheit vielleicht gegen einen eigenen Handlanger ebenso abgesichert? „Und warum genau sollte ein kleiner Beutelstecher und Halsabschneider, ein Glücksspieler ohne Glück, eine Schabe aus dem Bodensatz Samaras, nun ausgerechnet bei mir Anklang finden? Was treibt dich ausgerechnet zu uns? Soweit ich hörte, hast du doch stets und allzeit genug eigene, glorreiche Ideen für umwerfend lächerliche Geschäftsmodelle, nicht wahr?“ Für jemanden, der zuvor so freundlich dahergeredet hatte, war der Umbruch zu Spott und Beleidigung einfach zu hart. Das war keine Maske, die fallen gelassen wurde – es war eine Maske, die gerade aufgesetzt worden war. Wie schon zuvor, wollte man ihn locken. Der echte Malek war bekannt dafür, dass er sich leicht provozieren ließ. Vielleicht sollte das hier in Erfahrung gebracht werden? Seine Geduld, seine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung? Oder man vermutete inzwischen, er sei nicht der echte Malek? Um seine Rolle zu bestärken, knirschte er ein wenig mit den Zähnen, ballte die Fäuste und senkte den Blick zu Boden, doch er blieb ruhig, riss sich scheinbar noch zusammen. „Ich… ich gebe zu, das einige meiner Ideen… weniger erfolgreich waren als erhofft. Und das es eine ganze Weile nicht gut für mich aussah. Das ist ja auch der Grund, warum ich hier bin. Soweit mir das zu Ohren kam, zahlt ihr gut. Ich brauche das Geld, um meine ganzen Schulden zu tilgen. Das gibt euch die Sicherheit, dass ich eine Weile bleibe. Obendrein ist das hier nicht mein Plan. Er läuft gut, soweit ich das in der Haupthalle sehen konnte. Etwas verderben kann ich also nicht. Nur beitragen. Es besser machen. Die Entscheidungen, die ich vermasseln könnte, die fällt am Ende immer noch ihr – egal, was ich dazu sage.“ „Falls du dazu etwas zu sagen hast“, korrigierte der Fremde. Dennoch schien er mit der Antwort zufrieden und trat einige weitere Schritte hervor. In das Licht der zwei Fackeln am Eingang und damit kaum noch vier Meter von Drakimh entfernt, tauchte nun die Gestalt des Drahtziehers auf… und keiner von ihnen schien seinen Augen recht glauben zu wollen. „Überrascht?“ hakte der Elb nach und lächelte unterkühlt. Mit einem langen, dünnen Finger strich er sich eine verlorene Strähne hellgelben Haares hinter das spitz zulaufende Ohr zurück. „Vor einer Weile wurde mein Orden im südlichen Teil dieses Landes nahezu ausgelöscht. Ich entkam, dachte ein wenig über mein Leben nach und kam zu dem Schluss, dass es ein guter Zeitpunkt wäre, mir eine neue Anstellung zu suchen. Beeindruckend, nicht wahr? Mein Orden hatte gewissermaßen… Erfahrung mit der Verwaltung solcher Angelegenheiten. Das kam mir wiederum zugute.“ Kein Adliger, nein. Aber er hätte es wissen können. Nur Elben konnten die gleiche, widerwärtig-triefende Arroganz aufbringen. „Ihr werdet euer Geschäft einstellen. Sofort.“ „Und warum sollte ich das tun?“ erkundigte sich der Elb völlig ungerührt. Drakimh dagegen warf lediglich einen Blick über die Schulter. Dinara packte vorwärts, griff sich den Dolch aus seiner Scheide, trennte die eigenen Fesseln und danach auch die Ximasxis auf. Die Waffe vor sich gehalten, ging sie in die Defensive, versuchte die sechs Wächter und Rahsa im Auge zu behalten. Drakimh selbst hatte sich distanziert. Zwischen den gespreizten Fingern zuckten gut sichtbar die Blitze hin und her. „Weil ich freundlich darum bitte“, zischte er. Seine Mühen, sich zu beherrschen, wurden auf die Probe gestellt. All das Elend, das er hatte sehen und tatenlos ertragen müssen. Das zufriedene Grinsen im Gesicht dieser Männer, die mehr Monster waren als alle Bestien, die diese Welt in ihrem Schoß hervorbringen konnte. Dennoch: Ein Magier agierte stets kühl und überlegt. Gerade deshalb wurde ihm rasch schmerzlich bewusst, was an der Situation nicht stimmte. Dinara und Ximasxi sollten längst in Rangeleien mit den Wächtern verwickelt sein, ein paar von denen sollten längst von Blitzen niedergestreckt einen widerwärtigen Geruch nach verbranntem Fleisch und kochendem Blut verbreiten. Stattdessen hatte keiner der Sklavenjäger sich gerührt. Nicht einmal gezuckt hatten sie. Als die zwei Wachen, die sich an den seitlichen Wänden postiert hatten, einfach zerfaserten und sich auflösten, begann der Magier zu begreifen. „Illusionen“, hauchte er ungläubig. Er blickte zu den beiden Männern, die vor dem Elb aus dem Dunkel getreten waren und auch sie lösten sich auf. „Seht ihr… die Zauber, die diese Tür dort verbergen, funktionieren nicht nur für die Tür. Glaubt ihr etwa, ihr seid der Erste, der sich hier mit irrwitzigen Plänen einschleicht und mir irgendetwas vorschlagen möchte? Ich lebe schon eine ganze Weile länger als ihr, junger Freund. Oh und mit euren Blitzen wäre ich vorsichtig, wirklich. Ihr könnt es weder sehen, noch hören oder spüren… aber ihr steht im Wasser. Ungefähr knöcheltief.“ Ungläubig sah sich Drakimh um. Tatsächlich gab es auf den Bodenkacheln keine einzige Spur davon. Keine nasse Stelle, nichts. „Ich möchte euch gerne zeigen, warum ich nun alleine mit euch in einem Raum voller Wasser stehe. Welche Magie die Elben beherrschen ist euch ja gewiss vertraut, nur gibt es die eine oder andere Form, sagen wir, Subklasse? Die bei unseresgleichen nicht mehr ganz so beliebt sind, lieber versteckt und verschwiegen werden. Ich kann wirklich vorzüglich mit Wasser umgehen, aber viel besser noch…“ Das Spitzohr streckte die Hand aus. Als nächstes spürte Drakimh den unnatürlichen Sog an Energien, der sich manifestierte und Rahsa traf. Fassungslos musste er mitansehen, wie die Söldnerin sich an die Kehle griff, an ihre Augen und Ohren. Sie wollte schreien, konnte es aber nicht. Blut rann ihr aus jeder Körperöffnung, ergoss sich in Strömen aus ihrem Mund, als sie auf die Knie brach. Ja selbst an ihrem Nacken konnte man sehen, dass sie begonnen hatte, Blut zu schwitzen. „Viel besser noch mit Blut....!“ Als sich Drakimh aus seiner Starre löste und verlangte, er solle das grausame Spiel beenden, lachte der Elb lediglich auf. Es war zu spät – die verlorene Menge allein würde sie umbringen. Als sie zudem ohnmächtig auf den Boden zusammenbrach, lag sie mit dem Gesicht im Wasser und ertrank, ohne dass man es ihr ansehen konnte. „Was ist mit denen?“ verlangte Dinara zu wissen und deutete auf die zwei Wachen, welche Ximasxi und sie hereingeführt hatten. „Oh dafür kann ich nichts“, erklärte der Elb und hob die Hände, „Ich habe nur ihre Fähigkeiten ein wenig verstärkt, damit sie ihren Teil spielen kann. Da wir nun übrigens die Formalitäten soweit geklärt hätten: Ich bin bereit, den Handel anzunehmen.“ Fassungslosigkeit drohte seinen Verstand völlig zu überwältigen. Gleichermaßen hilflos wie Dinara, musste der Magier beobachten, wie die Diebin langsam voran schritt… und sich neben das Spitzohr stellte. Die Wachen dagegen waren verschwunden. „Kluge Entscheidung. Die Gilde wird’s verzeihen. Irgendwann. Wenn die Schuld beglichen ist“, ließ sie den Elb wissen, der daraufhin zufrieden mit einem Nicken einwilligte. Dann jedoch wandte sich der Tiefling an ihre beiden Begleiter. Einstmaligen Begleiter. „Drakimh, Dinara. Jetzt keinen Fehler machen. Siehst schockiert aus. Bist immer noch naiv, hm? Ich sag dir das Offensichtliche: Ich verrate euch. Hier. Jetzt. Gerade eben. Sollte dir nicht wehtun. Weißt du, was dir wehtun sollte? Hättest es kommen sehen müssen. Hab’s dir immer gesagt: Ich arbeite für die Gilde. Ein paar Käfige voller Sklaven. Ein paar Truhen voller Gold. Das nützt der Gilde nichts. Rache nützt der Gilde nichts. Ein Geschäft, nicht mehr. Wir haben’s eingerissen. Ist Zeichen genug. Jetzt bauen wir’s wieder auf. Hängt viel mehr Geld dran als nur ein paar Truhen voll. Dinara. Hab was ausgehandelt. Kannst jetzt deinen Bruder nehmen. Drabi nehmen. Gehen. Weit weg wär‘ mir lieb. Kein Wort, zu niemandem, kommt nicht zurück. Wäre… hässlich. Ihr solltet gehen. Jetzt. Bevor ich mich anders entscheide. Bevor ich sage: Dein Bruder oder Drabi.“ Völlig vom Geschehen überrumpelt, wusste der Magier nicht mehr, was er tun sollte. Er wollte mit Ximasxi reden, ja. Ihr irgendwie Vernunft beibringen. Und diesem schmierig grinsenden Elben das Lächeln aus dem Gesicht brennen. Er wollte die Sklaven befreien, nicht einen, alle. Er wollte… verstehen, was gerade geschehen war. Warum es geschehen war. Wie es soweit hatte kommen können. Wie sie, die nun mehrfach selbst in Käfigen gesessen hatte, selbst schlechte Behandlung erfahren hatte, das Leiden anderer so hautnah gesehen und mitverfolgt hatte, dort stehen konnte… und das alles ignorierte. Es sogar guthieß. Weil es irgendwem Münzen einbrachte. Hier und jetzt, anhand der Entscheidung, die sie so offenkundig leichtfertig über sich brachte, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie verschieden sie wirklich voneinander waren. Möglicherweise immer schon gewesen sind. Dinara hingegen zögerte nicht. Sie kannte die Diebin zwar nicht wirklich besser, aber sie wusste, wann man ihr eine einmalige Chance bot und ernstgemeinte Konsequenzen androhte, wenn man diese nicht wahrzunehmen gedachte. Sie packte Drakimh am Handgelenk, zerrte ihn in Richtung der Holztür. Wenige Schritte von ihr entfernt wurde sie aufgerissen, jemand stürmte sichtlich in heller Aufregung hinein – und kam gehörig ins Trudeln, als er Rahsa tot am Boden liegen sah. „Was zum-?“ hob er an, wurde jedoch hart unterbrochen, als der Elb mit überraschend autoritärer Stimme zu erfahren verlangte, was die Unterbrechung sollte. „Soldaten, Boss! Mehrere Spähposten haben Meldung gemacht. Eine ganze Menge Truppen des königlichen Heeres, sie nähern sich in Verbänden aus unterschiedlichen Richtungen. Voll gerüstet, schwere Bewaffnung. Ziehen direkt hierher!“ Abwägend blickten Ximasxi und der neuste Verbündete der Sundergrader Diebesgilde einander an. Schließlich war die Entscheidung getroffen worden. „Teilt das Geld auf, jeder gleichviel, wir sammeln uns am vereinbarten Punkt, schickt die Leute in Gruppen raus. Und legt in der Haupthalle Feuer. Mit etwas Glück lenken ein paar schreiende Sterbende sie ab.“ Entsetzen zog im Gesicht des Magiers auf. Sklaverei… und nun Mord? Und noch immer stand Ximasxi daneben, ausdrucksloser Miene? „Das kann nicht dein Ernst sein?!“ fuhr er sie zornig an. „Du hast es versprochen!“ fiel Dinara ihm obendrein ins Wort. Ximasxi hingegen blickte zwischen beiden hin und her. „Versprochen? Versprochen hab ich nichts. Beeil dich. Wird ja nicht sofort brennen, hm? Wir treffen uns am Ausgang. Ich warte kurz auf euch. Verspätet euch nicht!“ Mit jenen Worten eilte die Diebin mitsamt ihrem Verbündeten in die dunklen Bereiche der jenseitigen Hallenwand. Drakimh und Dinara hingegen stürzten aus dem versteckten Raum heraus und kämpften sich schiebend und drängelnd durch die Wand ihnen entgegenströmender Sklavenjäger und –händler. Viele von diesen Ratten, die nun das sinkende Schiff verließen, schleppten an Waffen, Rüstungen, Wertgegenständen, was immer sie nur tragen konnten. Zusätzlich zu den gut und prall gefüllten Beuteln, die sie bei sich hatten. Jeder einzelne von ihnen war ein Rettungsfloß für die enormen Geldmittel, die sich noch immer in dieser Anlage befanden. So viel wie möglich wollte man davon gesichert wissen. Für den Neuanfang dieses… Projektes. Allein der Gedanke, alles könne neu beginnen, alles verloren sein, das sie nichts erreicht hatten, machte Drakimh schlichtweg krank. „Wir können das nicht zulassen!“ ließ er Dinara wissen, als sie am hochgelegenen Rundgang ankamen. Unten loderten bereits die von Schnaps und Spiritus angefachten Flammen. Ein wütendes Fauchen, das selbst die panischen Schreie der Gefangenen übertönte und das Wimmern schlicht erstickte. Hier oben wurde es heißer und heißer, Rauch würde sich ansammeln und bald schon alle ersticken. Ihnen blieb nicht viel Zeit. Ximasxi dagegen hatte sich an ihr eigenes Wort gehalten. Sie hatte den Elb mit einer der ersten Gruppen hinausgeschickt und noch verfolgt, wie sie in Richtung eines nahegelegenen Haines entkommen waren. Soweit, so gut. Sie hatte ihren Dienst für die Gilde erfüllt. Nach Bilderbuch, wie sie für sich befand. Der Anführer war gestellt worden, der Handel abgeschlossen. Die Gilde würde möglicherweise sogar eigene Gelder in den Wiederaufbau fließen lassen, denn das Geschäft dieses Spitzohres hatte sich als ungeheuerlich lukrativ erwiesen. Man verbrannte nicht die Ressourcen, die man noch verwenden konnte. Oh nun… mit Ausnahme der Sklaven, die vermutlich gerade Feuer fingen – die mussten als Ablenkungsmanöver herhalten. Ihre Meinung von Menschen war nie besonders hoch gewesen, von Sklaven noch ein wenig niedriger. Sie hatten sich fangen lassen, so einfach. Und statt es hinzunehmen, bettelten sie, flehten, heulten und wimmerten und machten es einem unerträglich, unmöglich, etwas Ruhe zu finden. Als inzwischen schon die vierte Gruppe sich hinausgewagt hatte, verlor sie allmählich ihre Geduld mit Drakimh und Dinara. Die ersten Rauchschwaden kamen angekrochen, der Strom an flüchtenden Söldnern ebbte allmählich ab und sie hatte nicht vor, für die heroischen Anwandlungen dieser zwei Dummköpfe ihr Leben zu lassen, oh nein – das ganz gewiss nicht! Mit der sechsten Gruppe brach sie schließlich selbst auf. Sie eilte tief gebückt die Stufen herauf, versteckte sich zwischen dem hohen Gras. „Los, los los los!“ fuhr sie ihre Begleiter an. Sie klapperten und schepperten und rasselten. So eine Geräuschkulisse war kaum zu ertragen, schon gar nicht für sie, die gewohnt war, unhörbar zu sein. Sie trieb ihre Gruppe zur Eile an, konnte sie doch die Stimmen der herannahenden Soldaten hören. „Da vorne!“ erschallte es kurz darauf auch prompt und es hagelte die ersten Geschosse. Bolzen und Pfeile, sie konnte ihnen geschickt ausweichen… bis sich plötzlich etwas durch ihre Wade bohrte. Unter einem markerschütternden Kreischen vor Schmerz aufschreiend, sackte sie zu Boden. Sie versuchte weiter voran zu kommen, doch die Wunde brannte fürchterlich, schrie geradezu auf, da war… ein Widerstand. Fassungslos starrte sie an sich herab, starrte auf ihr Bein – den Haken, der es durchschlagen hatte und das Seil, das am anderen Ende hing. „Ich hab einen!“ rief jemand. Hastig versuchte sie, das Seil zu durchtrennen, scharrte, kratzte, biss darauf herum – wo waren ihre verdammten Dolche, wenn sie sie brauchte! Ein plötzliches Geräusch ließ sie aufschrecken. Hastig wirbelte sie herum, sah noch das Emblem seiner göttlichen Majestät auf einem schweren Brustpanzer prangern, ehe der Schwertknauf sie direkt auf die Stirn traf. Schwärze blitzte auf, umfing sie, während ihr Leib in sich zusammenstürzte.   Über Stunden hinweg brannte die Anlage, rauchte und rußte. Erst Tage später konnte man jemanden für einen kurzen Zeitraum hineinschicken. Es fand sich kaum noch etwas von Wert. Das Wenige, was man zurückgelassen hatte, war vom Feuer verschlungen worden. In einer großen Halle auf den tieferen Ebenen fand man zahlreiche Käfige, darin die bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Überreste der Unglückseligen. Doch derer waren es nicht halb so viele, wie sie erwartet hätten. Manche Türen standen zudem offen… die Schlösser hatten sich in der Hitze wohl verzogen und waren aufgesprungen… Kapitel 33: Ich packe meine Koffer... ------------------------------------- Reiseplanungen und –vorkehrungen gab es immer schon zweifellos so viele Wege und Varianten, wie es auf der Welt Persönlichkeiten und Hintergründe gibt. Mancher bevorzugt es schlicht und einfach, andere weitsichtig und umfassend. Mancher überdenkt die einzelnen Stationen und Notwendigkeiten in jedem Detail, andere lediglich grob, um ihre Flexibilität zu wahren. Was jedoch in der Regel alle Reisen gemein haben ist, ganz unabhängig von bezaubernden Landschaften, malerischen Sonnenauf- und –untergängen oder interessanten neuen Bekanntschaften, die Ermüdung. Beinahe jeder Reisende ist am Ende seiner Route erschöpft, ausgelaugt. Mancher glücklich, andere um diverse Nervenstränge beraubt, aber nahezu alle sind sie ausgelaugt. Dies ist die Geschichte Reise, die kurzfristig hat geplant werden müssen. Von Beginn an stand sie unter einem schlechten Stern und ganz diesem Omen folgend, würden jene, die aufbrachen, an ihrem Ziel angelangt am Ende sein – in mehrfacher Hinsicht.   „Wo ist das verdammte Ding!?“ fauchte Ximasxi zornig und wühlte sich zum inzwischen dritten Mal durch einen kleinen Wust an Kleidern. Stoffhosen, Plunderhosen, Schuhe mit kleinen Glöckchen daran, edle Seidentücher, alle möglichen Varianten, um Brust und Hüfte zu verdecken – oder den Eindruck zu erwecken, sie seien angekleidet, zugleich aber jeglichen Blick zuzulassen. Im Verlaufe der letzten Monate hatte sich viel in ihrem Besitz angesammelt. Zunächst war es ein Kleiderschrank gewesen. Groß, robust und beeindruckend grob. Natürlich ließ er diesen martialischen Eindruck nicht auf sich sitzen, dergleichen konnte man schließlich nicht in königliche Gemächer einschleppen, ohne eine hübsch inszenierte öffentliche Hinrichtung fürchten zu müssen. Er war mit allerhand Schnitzarbeiten übersäht, mit Geheimfächern am Boden des Hauptteiles ausgestattet, bot kleine Nebenfächer für die Unterbringung von Schuhen, Handschuhen, Schmuck und Geschmeide. Sogar ein Seitenteil, welches sich aufklappen ließ, um darauf Hüte und Masken zu drapieren. Die kleinen Beistellhocker waren natürlich als kleine Geschenke im Preis inbegriffen gewesen, mit feinstem rotem Samt bespannt und nicht weniger kunstvoll verziert, sollten sie der neuen Besitzerin des hölzernen Ungetüms ermöglichen, auch die höchsten Fächer bequem zu erreichen. Tatsächlich zeigte der Schrank inzwischen an diversen Stellen üble Kratzspuren. Tiefe Furchen, die quer über das Holz zogen, hier und da die schönen Schnitzereien ruinierten. Ximasxi war schlichtweg manches Mal wie ein Wiesel so flink und gelenkig auf dem Schrank herumgeklettert – für sie war es viel bequemer, die oberen Fächer von noch höherer Position zu erreichen, statt sich auf ein Podest zu stellen und weit gestreckt mit den Armen blind in einer Schublade herumzuwühlen. Sie hatte Aufträge ausgeführt. Damit begann die Katastrophe. Ihr Herr hatte ihr Anweisungen erteilt und sie zog los und befolgte diese. Manches von dem, was sich nun in ihrem Schrank befand, war das Resultat des Gedankens, man könne sie mit Kleidern beschenken. Und sie würde sich darüber… freuen. Nun, dieser Irrtum war natürlich schnell korrigiert worden. Der Tiefling war alles, aber keines der adrett und taktvoll kichernden Modepüppchen, wie sie auf adligen Maskenbällen im Dutzend herumstolzierten. Maskenbälle… ja – solch einen hatte sie auch einmal besucht. Daher stammte dieses Ungetüm aus Textil. Tatsächlich waren es feinste Stoffe, so dünn wie Papier… und dennoch das größte Stück in ihrem Repertoire. Sie hatte es tragen müssen, es war eine direkte Anweisung gewesen und sie wagte nicht, ihrem Gebieter zu widersprechen. Damals wäre ihr das zumindest nie in den Sinn gekommen. Sie erinnerte sich noch gut. Der geschlossene, große Saal, die seichte Musik. Weiber mit hochgeschnürten Brüsten, die sie der Auslage einer Metzgerei gleich ihrem Tanzpartner feilboten, während der damit beschäftigt war, die Überlast an Aufgaben zu bewältigen. Immerhin durfte er die Tanzschritte nicht verpatzen, musste höfliche Konversation betreiben und durfte seinen Blick nicht auf die so ungeheuerlich adrett dargebotene Ware herabschweifen lassen. Sie hingegen, sie hatte diese ganze Szenerie zwar nicht verstanden… doch sie hatte den Abend dennoch genossen. Ihr Herr hatte sie zum Narren gehalten, sie allesamt – und zumindest das war ihr klar. Er, dessen Erscheinungsbild so lächerlich war… zumindest in den Augen anderer. Ein kleiner König, klein im wortwörtlichen Sinne, schmal und nahezu weiß gepudert und mit dieser schrecklichen Perücke mit den langen goldenen Locken. Hinter seinem Rücken wurde er der Puppenkönig genannt. Vor Jahren hatte man noch gelacht, später gelächelt… irgendwann waren Angst und Sorge so tief in die Seele jedes einfachen Tölpels und reichen Galans gesunken, das niemand mehr zu grinsen wagte. Seine Augen und Ohren waren überall, Spitzel und Lästermäuler wurden bezahlt, das Volk gegen das Volk gerichtet. Doch wen interessierte das Volk? An diesem Abend hatte er die gesellschaftliche Elite in einen Topf mit den Bauern und Handwerkern geworfen. Sie erinnerte sich noch an den salzigen Geschmack auf ihren Lippen und den Wonnelaut aus seiner Kehle, den sie nur gedämpft unter der Tischdecke vernehmen konnte. Sie erinnerte sich an die schlichtweg empörten, schockierten Blicke, als sie unter der langen Festtafel hervor kroch und sich artig wie die anderen Hofdamen auf die Bank setzte, geradezu demonstrativ mit der Zunge über ihre Lippen fahrend. Schon beim Tanz hatte sie die Blicke genossen. Ein Tiefling, unter ihnen, eine Gewöhnliche! Es war herrlich gewesen. Nun störte es. Die Erinnerungen an all die Aufträge und Gelegenheiten hielten sie zurück, lenkten sie ab. Ximasxi wühlte sich durch einen Berg vergangener Dinge, riss sie achtlos herab und warf sie auf einen Berg. Schließlich – in einer Schublade – fand sie endlich, wonach sie gesucht hatte. Alles wurde auf ihrem Bett gesammelt. Einen Tisch gab es in ihrem Zimmer nicht. Keine Stühle, kein Nachttisch, keine Kerzenhalter. Nur das Bett und den Schrank. Sie hatte es stets einfach bevorzugt. Schlicht. Doch sie konnte sich nicht beschweren, nicht behaupten, er hätte es ihr nicht auch anders dargeboten. In Gedanken ging sie noch einmal alles durch. Lange hatte es gedauert, Wochen gar mit täglich sich verschlechternden Nachrichten, ehe sie ihn hatte überzeugen können, dass es Zeit wurde. Zeit für eine kleine Unternehmung. Eine kleine Reise. Vorhin hatte sie ihn aufgesucht. Den kleinen Puppenkönig, wie er in seinem viel zu großen Thron saß und über die Geschicke eines Reiches verfügte. Sie hatte ihn gebeten, alle anderen hinauszuschicken. Einschließlich Celsors, seines Beraters. Sie mochte ihn nicht… sie traute ihm nicht. Und das, so wusste sie nur zu gut, beruhte auf Gegenseitigkeit. Rasch hatten beide ihre Absprachen treffen können. Noch am gleichen Abend würden sie das Schloss und die Hauptstadt verlassen. Sie wusste, wie man zu einem Hafen kam, wie man sich notfalls auf einem Schiff versteckte, um das Inselreich zu verlassen und er… er kannte genug Länder, Adelsmänner und Staatsoberhäupter, um zu gewährleisten, dass sie sichere Küsten ansteuern könnten. Die letzten Stunden hatte sie daher mit Packen verbracht. Zwei große Trinkschläuche – sie wusste ja nicht, ob er selbst überhaupt einen besaß -, eine Decke, die Sturmlaterne, Seil. Ihre Rüstung hatte sie gleich angelegt, die Wurfmesser und Dolche verstaut, den Würgedraht versteckt. Viel benötigte sie nicht. Was sie an Essen brauchte, konnte sie sich erjagen – in dieser Jahreszeit war das Grünland satt und prall an Überfluss. In ihrer Kindheit schon hatte sie im Wald geschlafen, nackt, ohne Decke und Bett oder gar die Wände eines Hauses um sich. Ein Stück weit, so musste sie sich eingestehen, freute sie sich sogar auf diese Unternehmung. Alles war ihr Recht, solange sie von dieser stinkenden, dicht gedrängten Ansammlung an Menschen fortkam. Nach bestem Wissen und Gewissen ausgestattet, ging sie gedanklich bereits ihre Route durch, während all die Habe, die als nötig erachtet wurde, in einem Beutel und schließlich auf ihrem Rücken landete. Erst an der Tür ihres Zimmers angelangt, warf sie einen letzten Blick zurück auf das geplünderte Chaos, das sie hinterlassen würde. Viel weniger die Kleider fingen ihre Aufmerksamkeit ein, als das Bett selbst. Sie erinnerte sich noch gut an diesen einen Morgen. Sie war aus ihrem Zimmer herausgeschlichen. Durch die Seitentür direkt in sein Zimmer hinein, obwohl er es ihr verboten hatte. Sie hatte ihn gesehen, so wie er wirklich war. In den Tagen darauf hatte sie sich mutiger gefühlt, hatte sich häufiger hinüber gewagt. Wochen hatte es gedauert, doch irgendwann brach die Barriere und er, er besuchte sie. Hier. In dem Reich, das er ihr zugestanden hatte. „War schön“, merkte sie knapp zu sich selbst zischelnd an, ehe sie die Tür öffnete und einen vorsichtigen Blick auf den Gang warf. Niemand war zu sehen, entsprechend schlüpfte sie geschickt hinaus, schloss die Pforte völlig lautlos und tat, was sie am besten konnte, tat, womit sie über die letzten Wochen hinweg jede Autorität, jeden Wächter, jeden Elitesoldaten in der Festung völlig um den Verstand gebracht hatte: Sie schlich. Nicht mehr und nicht weniger als das. Lautlos, ungesehen und mit der Heimlichkeit der einstmals möglicherweise besten Diebin der Sundergrader Gilde entschlüpfte sie jedem Auge, jedem Ohr und fand ihren Weg durch das gesamte Schloss vorbei an der Aufmerksamkeit unzähliger Knechte, Mägde, Wachen und Patrouillen. Hier und da schnappte sie Gespräche auf, den üblichen Tratsch über die neusten Vorgänge, das Verbreiten aktueller Gerüchte über wichtige Persönlichkeiten oder aber, was stetig zugenommen hatte, Vermutungen über die weiteren Geschehnisse, war die Lage doch inzwischen reichlich prekär geworden. Für all das aber interessierte sie sich wenig. Irgendwann kam sie im leerstehenden Ostflügel des Schlosses an. Niemand interessierte sich hierfür, weil dies eigentlich die Räume der Königin waren. Eingeplant für den Fall, das ein Regent sich mit seiner Herzdame nicht so recht anfreunden und sie lieber ein gutes Stück entfernt wissen wollte. Wie vereinbart worden war, wartete sie bis kurz vor Dämmerung dort – erfolglos. Als der Himmel sich bereits konsequent dunkler zu färben begann, knurrte der Teufelssprössling unzufrieden. Unpünktlichkeit. Sie hasste Unzuverlässigkeit jeglicher Art und gerade bei etwas, das alles andere als unwichtig war, sollte man meinen, würden die Prioritäten korrekt gesetzt werden! Es dauerte noch einige Minuten länger, bis ihr Herr endlich auftauchte… und als er es tat, traute sie ihren Augen nicht. Sie hatte schon vieles erlebt und gesehen, hatte in ihren schlimmsten Befürchtungen manches erwartet, doch… das da schlug dem Fass den Boden aus!   Manchmal begrüßte man einander mit Phrasen wie ‚Ein schöner Tag, nicht wahr? ‘ Man verwies auf die eigene Unbeschwertheit, auf das prächtige Wetter oder wollte seinen Gegenüber einfach nur mit einem seichten Hinweis zu einem Gespräch einladen. Seine per königlichem Edikt zur Gottheit Lumiéls ausgerufene Majestät Phillipe der Dritte war natürlich niemand, den man mit solchen nichtssagenden, gewöhnlichen Phrasen anzusprechen wagte. Allerdings hörte man auch in den letzten Tagen ganz grundsätzlich immer seltener im Schloss jemanden sagen, dass es ein schöner Tag sei. Die Zeiten waren finster geworden, zumindest für die Bewohner der Festung von La Coeur. Selbst die noch nicht geflohenen Einwohner am Fuße der Burg wirkten noch etwas deprimierter, ängstlicher und paranoider, als es in der Hauptstadt sonst der Fall zu sein schien. Grund war die verdammte Revolution. Ein paar Bauernlümmel und versehrte Kriegshunde, ausgemustert und abgeschoben, hatten doch tatsächlich gewagt, sich aufzulehnen. Anfangs nicht ernst genommen, belächelt und mit ein paar wenigen Zerschlagungsversuchen bedacht, hatte sich dieses Unkraut als unangenehm zäh erwiesen. Die Rückschläge nährten Phillipes Zorn, seine cholerische Ader war weithin bekannt und niemand wollte, dass diese kleine Gestalt zu brüllen begann. Schon allein, weil seine Schreie die Eigenart hatten, Glas in Schwingung zu versetzen, so schrill konnte diese kleine Person kreischen. Eine höchst unangenehme Tonart. Boten waren aufgespießt, Offiziere gefoltert worden. Versagen konnte schließlich nicht einfach so konsequenzlos hingenommen werden. Doch mit fortschreitender Zeit wurde diese kleine Ansammlung von Bauern größer, gewiefter, schlafkräftiger. Sie plünderten Steuereintreiber, sie plünderten Wachstationen und Waffenkammern, ja gute Güte, sie rissen sogar ganze Städte aus der hütenden, kontrollierenden Hand seiner Göttlichkeit! Mehr und mehr zog diese Revolte nicht nur seinen Zorn auf sich, sondern auch seine Bereitschaft, dagegen vorzugehen – doch diese Schritte kamen einfach zu spät. Zu viele hatten sich als Ausbilder dem Widerstand angeschlossen, zu viele Sympathisanten tratschten jede Truppenbewegung schneller weiter als der Wind sausen konnte, zu viele charismatische Persönlichkeiten hatten sich in diesem Pfuhl eingefunden, um das mögliche Verscheiden der Anführer zur sofortigen Bedeutungslosigkeit zu verdammen, weil sie einfach ihre Pläne hätten übernehmen und ihren Märtyrertod rächen können. Seine Majestät geriet in Bedrängnis. Zunächst war das nur ein Ausspruch für seine Truppen, die in strategischem Rückzug Landstriche, Dörfer, später sogar ganze Städte hatten aufgeben müssen. Gefangene legten ihre Rüstungen ab und wechselten zum Feind über, ja ganze Truppenteile, die den Befehl bekamen, eine Stadt zu räumen und sich zu sammeln, legten die Waffen ab und kehrten zu ihrem Leben als einfache Bürger zurück, bevor der Feind einrückte, alle Schwüre auf Vaterland und Königstreue brechend – das räudige Pack! Entsprechend gab es einfach keine schönen Tage mehr. Schon seit Wochen, seit Monaten nicht. Auch an diesem Morgen war er in seinem Bett erwacht und hatte sofort diesen Quell des Zorns verspürt, wie er ihn antrieb und schon so früh, ohne jeden ersichtlichen Grund, schreien lassen wollte. Oh nun, einen Grund gab es natürlich: All das, die Rückschläge, die Verluste, die Massendesertierungen, das waren keine Einbildungen gewesen, keine schlechten Träume, aus denen man bequem erwachen konnte. Er hatte sich an seine Kommode gesetzt und das alltägliche Prozedere kühlte seine Wut ein wenig herab. Sorgsam trug er einige Schichten Puder auf, bis auch der letzte noch so winzige Schatten einer Sommersprosse irgendwo unter dem Weiß bei diversen Lichteinfallswinkeln nicht mehr zu sehen war. Viel Weiß konnte ja nicht schaden – nobles, edles Blut hatte weiße Haut zu haben. Je heller, desto vornehmer und er, als König, als Überragender über allen anderen, musste schließlich auch repräsentieren, der Vornehmste von allen zu sein. Gleiches galt für seine Haare. Das stets kurz geschorene, rote Gestrüpp war ihm verhasster noch als die Sommersprossen. Beides Hinterlassenschaften seiner Mutter, der verdammten Hure. Kaum aber kam die Perücke auf sein Haupt, atmete er erleichtert aus. Lange, golden fließende Locken. Das galt als schön, hatte er sich sagen lassen. Obendrein hatte er sich inzwischen an den Anblick gewöhnt und alles, wirklich alles war besser als sich selbst mit diesem Fuchsrot sehen zu müssen. Als Ximasxi in den frühen Mittagsstunden auftauchte und um eine Unterredung bat, warf er kurzerhand alle anderen hinaus. Er tat es ruhig. Leise. Und alle folgten, fürchtend, er könne seinen Befehl wiederholen. Schrill und laut. Obendrein landete man dieser Tage schneller auf einer Pike in seinem Fleischgarten als man das Wort überhaupt aussprechen konnte. Immer schon hatte es diesen Bereich zwischen der Festung und der Mauer gegeben, welche den Bereich des Schlosses von der Hauptstadt abgrenzte. Früher einmal hatte es dort einen kleinen Pfirsichhain gegeben. Doch nachdem sich gelegentlich Langfinger, Bettler und Verhungernde eingeschlichen hatten, befand man den Hain für ein Sicherheitsrisiko. Wenn dieses unwerte Gesindel herein kam, würden es Assassinen und Meuchelmörder auch schaffen. Also rodete man die Bäume und ließ auf Anordnung des Königs nur ihre zugespitzten Stämme stehen. Tief verwurzelte Pfähle. Sie hatten mahnend und bedrohlich wirken sollen – tatsächlich taten sie das auch, sobald die ersten Monarchen begannen, Weiber, die in Ungnade gefallen waren, lebendig dort drauf zu setzen. Eine Wache packte ihr linkes Fußgelenk, eine andere ihr Rechtes und sie wurde langsam herabgezogen, bis Blut den Boden tränkte und ihre Schreie in einem gurgelnden Röcheln erstickten. Von der Idee der Abschreckung begeistert, war der Garten später ergänzt wurden. Durch immer mehr Pfähle, Piken und gelegentlich sogar ein paar Kreuze. Es gab einen gewaltigen Krähenschwarm über La Coeur, der nie wich und sich ausschließlich von den aufgebauten Unglückseligen ernähren konnte. Tatsächlich wusste man inzwischen recht gut um die Krähen… und ließ gelegentlich ein paar Gehängte von der Mauer baumeln. Wenn sie das Pech hatten, das ihr Genick beim Sturz nicht brach, dann starben sie meist durch das Ersticken… durften bis dahin aber häufig die scharfen Klauen der geflügelten Folterknechte erleben, ihre scharfen, pickenden Schnäbel. Der Vorteil für die Wache war natürlich, dass ein Erstickender nicht seinen Schmerz herausschreien konnte. An Tagen, an denen zehn, zwölf Mann zugleich gehängt wurden, wäre das laut und lästig geworden… Ximasxi hatte in den vergangenen Tagen immer wieder angesprochen, das es möglicherweise klüger wäre, den Rückzug anzutreten. Inzwischen hörte er dieses Wort höchst ungern, doch er konnte nicht leugnen, dass die Berichte sich zunehmend verschlechterten – und ihm allmählich die Überbringer der Neuigkeiten ausgingen. Die Revolutionären rückten mit großen Verbänden allmählich in Richtung La Coeur vor. Sie hatten Elben und Zwerge rekrutiert, sogar von Magiekundigen und Goblins war die Rede – all dieses niedere Gezücht, er hätte sich nicht so viel Zeit mit ihnen lassen sollen! Schließlich hatte er vorgestern eingewilligt und heute nun, heute befand sie für den richtigen Tag. Allein die Nachrichten, die im Verlauf des Morgens eingetrudelt waren, bestärkten ihn in der Einsicht, dass sie möglicherweise Recht haben könnte. Möglicherweise. Entsprechend begab er sich unter der Erklärung, er sei ermüdet, gegen frühen Nachmittag in seine Gemächer – bis er den Kopf nach einer Weile aus der Tür steckte. „Du da, Wache! Man möge einen Knecht zu uns bringen, mit Taschen. Vielen Taschen. Und Beuteln. Und diesen Säcken, für den Rücken. Ja, genau. Was stehst du da herum und starrst uns an? Verschwinde!“ Die Wächter vor seinen Gemächern hatten schon viel erlebt. Geschrei, allem voran. Das ihres Königs ebenso wie das der unglücklichen Weiber, die man in sein Spielzimmer brachte und danach meist tot oder zumindest dem Sterben nahe wieder herausschleifte. Zudem konnte keiner leugnen, dass man auch ihm in den letzten Tagen die Anspannung immer stärker anmerkte. Doch das? Er hatte nie zuvor ratlos gewirkt. Nie, nicht eine Spur. Doch was blieb ihnen schon an Wahl? Beide Männer blickten einander an, zuckten mit den Schultern und der Angesprochene machte sich auf den Weg, den Auftrag seines Königs zu erfüllen. Mit einem der Knechte kehrte er wenig später zurück, dem er beim Tragen all der Behälter helfen musste. Eben jenen Wust legten sie, einmal in das Zimmer seiner Göttlichkeit eingetreten, der Anweisung folgend auf dessen Bett ab und beendeten ihre Schicht ersatzlos… ganz so, wie Phillipe der Dritte es verlangte. Der Bedienstete hingegen harrte noch einen Moment unschlüssig bei der Tür stehend aus und verfolgte, wie seine Hoheit völlig ratlos in den übergroßen, prall gefüllten Kleiderschrank starrte. „Eure Hoheit, kann… k-kann ich vielleicht zu Diensten sein? Wollt… wollt ihr verreisen?“ Die Frage war gefährlich, das wusste der Page selbst nur zu gut, doch Phillipe war zu sehr mit der Auswahl beschäftigt, um ihm nun mit Tod und Verdammnis zu drohen, weshalb er lediglich zustimmte. „Es ist der Rebellen wegen, nicht wahr?“ hakte der Knecht zögerlich nach, „Schon heute Abend werden sei vor dem Südtor ihr Lager aufschlagen, habe ich gehört… bitte… bitte, Mylord! Ihr müsst mich mitnehmen!“ Es gab Reizworte, die man in Phillipes Gegenwart besser nie benutzte – im Interesse der eigenen Gesundheit. Ihm zu unterstellen, er müsse etwas… traf genau in diese Kerbe. Langsam wandte sich der Monarch um, bereits ein zorniges Flackern in den Augen. „I-Ich… ich trage die Sachen für euch!“ plapperte der Knecht hastig daher. Einen kurzen Moment nur dauerte es, da begann seine Göttlichkeit tatsächlich zu stutzen. Ja… daran hatte er ja noch überhaupt nicht gedacht. Irgendjemand müsste ja das alles tragen. Und die Wachen, die hatte er ja gerade weggeschickt. „Kennst du dich mit Mode aus?“ verlangte er daraufhin kritischen Blickes zu wissen. „E-Ein wenig…“ erwiderte sein Gegenüber. Unzufrieden schnaufte Phillipe, ehe er schließlich einen Blick in den überfüllten Schrank warf. „Ja, das wird dann wohl reichen müssen! Komm her.“ Gemeinsam begannen sie, die Taschen zu bepacken. Dabei musste sich Phillipe immer wieder schweren Herzens zwischen verschiedenen Stücken entscheiden, die allesamt wichtig und kostbar waren, jedoch die gleiche Funktion erfüllen würden. Es machte ja einfach keinen Sinn, zwei Halstücher für sonniges Wetter mitzunehmen, man konnte sie ja nicht gleichzeitig tragen. Nicht, das er überhaupt je eines getragen hätte. Letztlich jedoch traf er auch noch die ebenso schwierigen Entscheidungen über den Verbleib von Schmuck und Juwelen, ging systematisch die Schränke, Kommoden und Nachttischlein durch. Sehr zu seinem Verdruss hatten am Ende doch zwei Rucksäcke und sechs große Taschen. Nun konnte jeder einen Rucksack auf den Rücken nehmen, eine Tasche in jede Hand und die Dritte um den Hals gehängt wie das Fass bei Rettungshunden, wie sie im Bergland üblich waren. Doch lange überlegte Phillipe hin und her, wie es sich umgehen ließe, das ausgerechnet er, der Gott und König dieses Landes, wie ein Gewöhnlicher Gepäck schleppen sollte. Leider, so musste er beim Blick aus dem Fenster schließlich einsehen, ließe sich das jedoch nicht umgehen… und er würde obendrein zu spät kommen. Mit dem Knecht hinter sich kehrte seine Göttlichkeit schließlich am vereinbarten Treffpunkt im abgelegenen Seitenflügel des Schlosses ein, schwitzend, schnaufend und außer Atem. „Wir empfinden dies als eine Unzumutbarkeit sondergleichen und fühlen uns zutiefst gedemütigt durch… hah… durch diese Situation und… und… und wir finden, das nichts und niemand uns zwingen sollte, wie ein Maulesel auszusehen!“ Unter jenen gekeuchten Worten lud seine Hoheit das Gepäck ab und wies die völlig versteinerte Ximasxi an - deren Blick den Knecht keine Sekunde außer Augen ließ -, nunmehr sein Gepäck zu tragen. „Wer ist das da?“ verlangte sie jedoch zu wissen. „Ein Bediensteter“, erwiderte Phillipe irritiert das Offensichtliche. Der Knecht dagegen war sichtlich schockiert, die Assassinin hier vorzufinden und flüsterte seinem Monarchen zu, ob dieser es wirklich für eine kluge Idee halte, das Scheusal mitzunehmen. Just aber, als Phillipe ihn herrisch anfahren wolle, das niemand seine Gespielin so zu bezeichnen habe außer höchstens ihm selbst, schnellte der Tiefling vor und packte den Burschen beim Kragen. Sie fauchte ihn an, das sie sehr viel besser hören könne, als alle Welt es ihr zuzutrauen schien und noch während er damit beschäftigt war, eine erlogene Entschuldigung stammeln zu wollen, holte sie aus… und schleuderte ihn von sich – in flachem Bogen durch das Fenster. Damit garantierte sie ihm einen höchst unschönen Sturz über die Höhe von drei Stockwerken und damit den sicheren Tod. „Was sollte das denn? Nun wirst du alle Taschen tragen müssen!“ merkte Phillipe resignierend an und deutete auf den Berg an Gepäck. Als sie ihm jedoch forsch erwiderte, sie würde nicht beabsichtigen, irgendetwas von seinem nutzlosen Kram zu tragen, ging sein Zorn mit ihm durch. Ruckartig brach er aus ihm heraus, ließ ihn aufstampfen und merklich die Stimme heben. „Dein König hat dir einen Befehl erteilt und wenn wir das verlangen, dann wirst du gehorchen!“ Kurz nur zuckte sie zusammen, ehe beide einander mit Blicken maßen. Vorhin noch hatte er sich von seinem Zimmer verabschiedet, hatte geradezu liebevoll die Hände über das Holz mancher dort stehender Apparatur gleiten lassen. Die Unebenheiten gespürt, das verkrustete, eingetrocknete Blut. Manche hatte versucht, sich von den Fesseln zu befreien. Fingernägel waren aus den Betten gerissen, als sie unter Qualen über das Holz scharrten, hilflos, ausgeliefert. Ximasxi dagegen hatte keine Nägel verloren… sie hatte Furchen geschlagen. Tiefe Kratzer im Holz zeugten noch von den unzähligen Stunden, in denen er sich damit vergnügt hatte, ihren Geist zu brechen, zu korrumpieren, ihr ganzes Wesen mit Schmerz, Leid und Pein anzufüllen und zu verdrehen. Es waren so prächtige Zeiten gewesen und er konnte nicht leugnen, etwas für sie zu empfinden, das er bis dahin nicht gekannt hatte – hier und jetzt aber, da keimte neuerlich der blanke Wille auf, sie schreien zu lassen. „Fein“, lenkte die einstige Diebin mürrisch ein, „Ich trag das Gepäck, bis wir aus dem Schloss sind – einverstanden?“ Er hätte möglicherweise besser hinhören, ihre Worte kurz durchdenken sollen. Zu schnell sah er sich als Sieger, erklärte sich für einverstanden und musste im Folgenden machtlos mitansehen, wie sie Tasche um Tasche packte und einfach zum Fenster hinauswarf. Schließlich band sie das Seil an einer massiven, steinernen Säule fest, die einmal umgekippt das Fenster blockieren würde. Gemeinsam ließen sie sich an der Fassade herab, ohne bemerkt zu werden und einmal unten angelangt, forderte Phillipe ihr Versprechen ein. „Wieso? Bis wir aus dem Schloss sind. Sind wir. Trag’s selbst.“ Überfordert blickte der Monarch auf den Berg an Taschen. „Aber… aber das ist viel zu viel?!“ tönte er und veranlasste die frühere Diebin dazu, erbost zu zischen. „Leise, verdammt! Nimm das Wichtigste und komm endlich!“ Das Wichtigste. Er griff sich einen der Rucksäcke, packte kurz um, nahm noch zwei Taschen und folgte dem Tiefling den Hang herab. Der Fleischgarten war ein übersichtliches Gebiet, war es zumindest einstmals gewesen. Mit all den Piken und Pfählen jedoch, die nun Kadaver trugen, konnte man dazwischen herumschleichende Personen so schlecht ausmachen wie damals im Pfirsichhain – zumal die Nacht hereingebrochen war und die Sicht noch weiter erschwerte. Das traf natürlich auch Phillipe, der damit Glück im Unglück hatte. Auf der einen Seite war er auf Ximasxis konstante Führung durch den Irrgarten unterschiedlich stark verrottender Kadaver angewiesen, andererseits blieb ihm der Anblick dieser zumeist erspart, sofern er ihnen nicht zu nah kam. Doch der Geruch war da, omnipräsent und nicht zu überdecken. Der schwer süßliche Geruch nach Verwesung, nach ausgeschiedenen Exkrementen, nach Faulsäften und vergossenen, vergorenen Körperflüssigkeiten. Zu dieser Stunde hörte man kaum noch Krähen rufen, nur selten hier und da ein Flügelschlagen. Phillipe erbrach sich auf dem Weg hinab drei Mal. Zuerst nur des Geruches wegen. Beim zweiten Mal, weil er beinahe ausgerutscht wäre und in seinem Versuch, irgendwo Halt zu finden, sich an einem Kiefer festhielt. Er griff dabei direkt in nasses, weiches Fleisch hinein, das sich nur durch den geringen Druck seiner Finger sofort vom Knochen schieben ließ – und das dritte Mal schließlich, als nichts mehr da war, um sich festzuhalten und er tatsächlich ausrutschte und in etwas landete, das sich in der Dunkelheit als Innereien entpuppte, die wohl einem Gepfählten gehört hatten. Nach dem dritten Erbrechen ließ seine Göttlichkeit bereits die erste Tasche zurück, vornehmlich, da er sich unwissentlich auf eben diese übergeben hatte. Die Zweite blieb auf dem Weg, als sie ihm nicht nur zu schwer wurde, sondern er obendrein feststellen musste, das sie gelegentlich am Boden schleifte und wohl schon so manches an Säften aufgesaugt hatte. Das Gewebe würde fleckig werden und den Geruch bekämen sie nie wieder aus dem Textil heraus. An der Mauer angelangt, schlichen sie daran entlang bis zum Torhaus. „Der Rucksack“, verlangte Ximasxi und legte sich dessen Riemen ebenfalls über die Schultern. Hoffend, das sie nicht auffallen würden, wenn sie nur schnell genug an den zweifelsfrei verdutzten Wachen vorbei schlenderten, würde dies zumindest nach ihrem Plan das letzte Mal sein, das jemand Phillipe den Dritten lebendig gesehen hatte. Tatsächlich gelang es ihnen sogar, an den Wächtern vorbei zu schlüpfen, ohne überhaupt bemerkt zu werden. Die Koordinationsgabe der früheren Diebin brachte sie jedoch nicht nur aus dem direkten Einzugsbereich des Schlosses heraus. Sie fanden ihren Weg durch die Straßen und Gassen La Coeurs nahezu unbemerkt und unbehelligt. Bei den schlechten Lichtverhältnissen und der kurzen Dauer würde niemand ein paar Bettlern oder Besoffenen glauben, die noch mit der Alkoholfahne in der Kehle daherlallten, sie hätten seine Göttlichkeit am Gesindehaus gesehen oder bemerkt, wie er neben einem Hurenhaus in eine pechfinstere Gasse verschwand. Für Phillipe war dieser Ausflug bereits jetzt – da er die Taschen allesamt nun leider hatte zurücklassen müssen – überaus aufregend, zugleich aber auch ein gutes Stück beängstigend. Er hatte die Festung seit Jahren nicht verlassen, nicht einmal, um in die Stadt zu gehen, die direkt an ihrem Fuße lag. Zu gefährlich, hatte Celsor ihm gesagt. Die Notwendigkeit einer großen Eskorte stand in keiner Relation zu den Gefahren, in den engen, übervölkerten Straßen oder von den zahlreichen, hoch aufragenden Dächern überrascht zu werden. Die Bogenschützen machten Phillipe dabei tatsächlich weniger Angst als die von seinem Berater erwähnten Frustrierten, die mit Eiern, Tomaten und faulen Kartoffeln werfen würden. So saugte er bei jedem Schritt zwar die Eindrücke in sich auf, wie sie sich ihm darboten, warf zugleich aber immer wieder Blicke nach oben, ob nicht doch jemand dort stünde. Nach einer ganzen Weile erreichten sie die nördlichen Bereiche der Stadt, insbesondere eine ruhige Gegend mit schäbigen Wohn- und Lagerhäusern, auf die die frühere Diebin abgezielt hatte. Phillipe bemerkte das merkwürdige Kachelmuster im Pflaster der Gehwege und Straßen, wie es sich – ohne deren Verlauf zu folgen – scheinbar willkürlich kreuz und quer zog. Sie folgten diesem Muster bis zum äußeren Stadtwall im Norden und traten auf einen kleinen Platz direkt an der Mauer, der von Häusern eingezäunt nicht mehr aufbot als ein großes Loch im Boden, aus dem es ganz fürchterlich stank – fast so übel wie die Note während ihres Spazierganges durch den Fleischgarten. Da kein anderer Weg hier heraus führte, wunderte sich der Monarch doch sehr, was sie hier zu suchen hatten. Ximasxi weiterhin folgend, trat er hinter sie, als diese direkt an der Kante zu jenem Loch stehen blieb. Von unten drang nunmehr nicht länger nur der bestialische Gestank herauf, sondern auch das Rauschen von Wasser… oder etwas, das zumindest wie Wasser klang. „Die Perücke“, verlangte sie einsilbig und streckte die Hand aus. Nun allmählich die Absichten und Zusammenhänge begreifend, hob er hastig die Arme und drückte das Kopfteil umso fester auf sein Haupt. „Nein!“ erwiderte er trotzig. Um Fassung bemüht, seufzte die Attentäterin kurz auf, ehe sie es mit Vernunft probierte. „Außerhalb der Mauern des Schlosses sucht das halbe Land nach einem puderweißen Mann mit goldenen Locken! Das ist auffällig! Das Puder können wir später abwaschen, aber die Perücke ist zu viel…!“ Als er sich weiterhin unwillig zeigte, sah der Tiefling ein, dass dieser Schritt möglicherweise zu viel war, als das er ihn spontan einfach so gehen konnte. Weshalb sie ihm wenig galant unter die Arme zu greifen gedachte. Ihre Klaue schoss hervor, packte die fürchterliche Lockenpracht und zog sie ihm vom Haupt. Jedoch zeigte sich schnell, dass die hoch aufragende, sehnige Gestalt des Tieflings nicht wesentlich mehr Kraft aufbringen konnte als die schmächtige kleine Figur des selbsternannten Gottes. „Das ist unsere, lass los!“ fauchte er. Gemeinsam rissen sie an dem Stück, lehnten sich mit ihrem Körpergewicht in das Tauziehen hinein. „Komm zur Vernunft!“ fauchte sie ihn an, doch er zerrte nur umso besessener, bis letztlich geschah, was wohl unausweichlich hat sein müssen. Mit einem lauten Fauchen und einem schrillen Aufschrei verlor das Gespann schließlich Halt und Gleichgewicht, stürzte in die Grube und damit in den großen Ablauf der Abwasserkanäle La Coeurs. Einmal mehr hatten sie Glück im Unglück. Jede offene Wunde hätte sich binnen Tagen, wenn nicht Stunden infiziert – doch sie hatten beide keine. Obendrein war der Kanal groß und tief genug, damit sie sich beim Sturz nicht Knochen brachen oder doch noch größere Wunden zufügten. Das änderte jedoch nichts daran, dass sie eintauchten. In alles, was in der Stadt unerwünscht war. Zumindest blieb ihnen die schleimige, anhaftende Brühe voller Bröckchen nicht lange treu. Rasch gerieten sie in den Sog der Schwerkraft und wurden, da sie sich ohnehin schon knapp an der Außenmauer befunden hatten, mit der Summe der Abwässer hinausgespült. Ein tiefer Sturz folgte, binnen dessen Phillipe, der absolut nichts mehr sah, hatte schreien wollen. Ximasxi immerhin behielt wissend den Mund geschlossen und wurde deshalb nicht mit dem Gefühl konfrontiert, dass irgendetwas Festeres sich auf ihre Zunge befand, als das Abwasser hineinströmte. Als der Monarch im Fluss ankam, erbrach er sich schon zum vierten Mal binnen weniger Stunden – obgleich er kaum mehr als bittere Galle in den Fluss hinauswürgte. Der Attentäterin gelang es rasch, selbst im finsteren Wasser bei Nacht, ihren Begleiter auszumachen. Sie wusste nicht, ob er das Schwimmen nie erlernt hatte, konnte sich das jedoch gut vorstellen – weshalb sie eifrig zupackte und ihn bis zur Wasseroberfläche empor zog. Sie hatte ihm so vieles entgegen schreien und fauchen wollen und anfangs, als seine Ohren noch verstopft waren und er nur die Hälfte mitbekam, drangen auch einige überaus unschöne Flüche und Schimpfwörter in ihrer Muttersprache über die Lippen der Teufelsbrut. Die starke Strömung des Algoras riss sie zügig hinfort, verteilte die widerwärtige Brühe der Hauptstadt auf das gewaltige Durchlaufvolumen des Gewässers. Immer wieder versuchten Stromschnellen, sie unter die Oberfläche zu reißen, doch die einstige Diebin war zu geschickt, dieses Spiel mit sich treiben zu lassen. Es war erschöpfend. Das Wort selbst spottete sogar den Ausmaßen dessen, als sie endlos scheinende Minuten später am Ufer ankamen. Der Fluss hatte sie ein gehöriges Stück nach Osten getragen. Sie hatten die Stelle passiert, an der Algoras und Alinarus zusammenflossen und einen gewaltigen, noch stärkeren Strom formten. Dieser hatte sie noch zügiger davon geschleppt wie der Räuber die Beute und es war schwer und kräftezehrend gewesen, sich aus dem Zentrum zu befreien. Als sie am Ufer angelangten, brannten ihnen sämtliche Muskeln im Leib, zugleich fühlte sich jeder Millimeter Haut erfroren an – trotz des Sommerwetters -, und die Nachtwinde, wenngleich auch lau, sorgten nicht unbedingt für eine Besserung. Ihre Kleider stanken erbärmlich und würden wohl auch nie wieder annehmbar riechen können. Phillipe zog – jetzt erst – angewidert die von kleinen Kotklümpchen verdreckte und grünbräunlich eingefärbte Perücke hervor, an die er sich bis zuletzt geklammert hatte und schob sie angewiderten Blickes in den Fluss zurück. „Wir wünschen uns ein Bad… bitte…?“ Der beinahe flehende Ton ihres Herrn stimmte Ximasxi versöhnlicher angesichts der Tatsache, dass er sie erst hierher gebracht hatte. Ihr eigener Plan war sehr viel ausgefeilter, subtiler und… weniger schmutzig gewesen. „Müssen uns sowieso umziehen. Immerhin, Puder ist weg.“ Geradezu schockiert befühlte Phillipe seine Wange, spürte der trockenen, staubigen Oberfläche nach, die da hätte sein sollen. Fort – alles fort. „Nein… nein nein nein, das… das haben wir gleich…!“ hastig riss er sich den Rucksack vom Rücken und begann sehr zur Überraschung der Attentäterin darin zu wühlen, bis er eine kleine Schatulle hervorzog. Ein Schminkkästchen. Doch das Parfümfläschchen darin war irgendwann zerbrochen und dass Puder, wenn es nicht vom Parfüm getränkt worden wäre, hätte spätestens das Bad in den Abwässern nicht überstehen können. Was sich neben den vermeintlich unentbehrlichen Utensilien zur Verbergung seiner Identität noch in dem Rucksack befand, wollte Ximasxi nun doch wissen. Während der Monarch unter einem geradezu panischen Blick das Kästchen von sich warf und an der Frage zu verzweifeln schien, wie er nun sein Gesicht verbergen solle, zog die einstige Diebin den Rucksack herbei und begann dessen Inhalt hervor zu zerren. Mit jedem Stück aber, welches zum Vorschein kam, wurde sie ungehaltener. Das Erste, was sie ergriff, war… eine zweite Perücke. Goldgelbe Locken und restlos vom Schmutzwasser durchtränkt. „Das kann nicht dein Ernst sein…“ hauchte sie tatsächlich nahe an der Sprachlosigkeit. Sie zog einen dicken, derben Stofffetzen hervor, der eindeutig in irgendeine Wintermodekollektion gehörte, ein paar purpurner Hausschuhe, ein Halstuch. „Notwendiges! Du solltest das Wichtigste mitnehmen!“ wies sie ihn scharf zurecht. „Das habe ich!“ versuchte sich der selbsternannte Gott zu wehren und provozierte sie damit nur noch weiter. „Parfüm? Ein verdammtes Nachthemd? Wo ist das Wasser? Essen? Eine Decke? Irgendwas!?“ Oh sie sah Erkenntnis, ja. Ihm fiel gerade ein, dass es gar keine dumme Idee gewesen wäre, davon irgendetwas mitzunehmen. Und just die offenkundige Tatsache, dass er lebensunfähig genug war, nie daran gedacht zu haben, erzürnte sie nur noch mehr. Wie sollte sie ihm nachtragen, das er falsch packte, wenn er über Jahre hinweg keine wirklichen Sorgen hatte? Hatte er je selbst in der Küche seines Schlosses gestanden? Wusste er überhaupt noch, wo diese sich befand? Unter einem schweren Seufzen warf sie den Rucksack mitsamt Inhalt in den Fluss zurück. Er selbst und sämtlicher Inhalt waren verdorben. Würde man nun anfangen, etwas Essbares hineinzupacken, wäre es binnen weniger Tage verdorben. So sehr sie auch zürnen und wüten wollte… sie konnte es nicht Phillipe anlasten. Er hatte ein anderes Leben geführt, unter anderen Umständen – diese Umstände waren es, die sei anfauchen und zerkratzen wollte, doch aufgrund deren Immaterialität blieb ihre Rage… ziellos. Ein bedrückendes Gefühl, welches sie erst nach ein paar Minuten bändigen und herabschlucken konnte. Schließlich streckte sie ihre klauenbewehrte Hand nach Phillipe aus und half ihm auf die Füße empor. Er ließ die Schultern hängen und sah, neben all dem Ekel, den sie ebenso noch immer verspürte, schrecklich traurig drein. Ein Ausdruck, den sie so bei ihm zuvor noch nie gesehen hatte. „Komm. Wir suchen einen Hof. Baden, essen, schlafen. Neu einkleiden. Los, Kopf hoch. Wird schon werden.“ Sie fühlte sich nicht wohl. Die Rolle desjenigen, der andere irgendwie aufbauen und ihre Laune heben musste, das war ihr fremd und allein deshalb schon unangenehm – doch was blieb ihr sonst zu tun? Sie hielt seine Hand und gemeinsam schritten sie vom Ufer fort. „Uns ist kalt“, klang es leise in der Nacht. Kurz darauf folgte ein Seufzen. „Und wir sind müde…“ wurde wenig später nachgeschoben und das Seufzen wiederholte sich, nur tiefer, ausgedehnter…   Knapp anderthalb Tage benötigten sie, um einen der seltenen Höfe zu erreichen, die das nahezu verwaiste Umland La Coeurs noch mit ihrer Präsenz beehrten. Es war immer schwieriger geworden, Leute davon überzeugen zu können, in der Umgebung der Hauptstadt zu siedeln und Viehzucht oder Ackerbau zu betreiben. Der Boden war gut, keine Frage. Doch La Coeur war eine Festung. Als Stadt ausgelegt, doch als Bastion konzipiert. Dicht gedrängt hockte sie dort auf der Flussinsel, mit großen, schweren Mauern und pferchte seine Bewohner zusammen wie die Hennen in einem viel zu kleinen Stall. Dort zu leben war unschön. Der Wache La Coeurs sagte man viel Übles nach, sie sei der zweitgrößte Sauhaufen nach den Männern Sundergrads. Die dunklen Straßen würden ihren Bewohnern die Lebensfreude tageweise heraussaugen und die wenigen, dicht gedrängten und allzeit überfüllten Märkte boten nicht nur kaum Platz, sondern auch kaum ausreichende Absatzmöglichkeiten, um die eigenen Produkte gewinnbringend umsetzen zu können. So kurios es anmuten musste, funktionierte die Kombination aus Stadt und Agrarkultur im Umland doch sonst überall – in La Coeur scheiterte dies. Mit der Zeit waren die Viehzüchter und Bauern abgewandert. Viele trieben sich nun in der Gegend um Samara herum, hatten neue Dörfer und Vororte gegründet, doch den Großteil zog es in den Westen des Landes. Ohnehin bereits als Kornkammer Lumiéls bekannt, gab es dort weite, unglaublich fruchtbare Flächen, auf denen selbst der einfältigste Narr nahezu alles zum Wachsen bringen konnte. Für die wenigen hartnäckigen Bauern um La Coeur bedeutete das vor allem, das sie eine neue gesellschaftliche Schicht schufen: Die Großbauern. Männer von Vermögen und oftmals mit einer bescheidenen Vision ihres Landes kauften auf, was die Bauern abstoßen wollten. Sie kauften Grundstück um Grundstück, bis gewaltige Areale ihnen allein gehörten, erklärten alles zu Ackerfläche… und sandten dann ganze Horden und Armeen von Tagelöhnern aus, die Felder zu bestellen, zu wässern, zu pflügen, die Erträge einzufahren. Oftmals gab es dann Abkommen zwischen diesen Großbauern und der nächstgelegenen Wache, das die Soldaten selbst mit den Erzeugnissen versorgt werden sollten. Sie bekamen sie gegen einen niedrigeren Preis, mussten sich ihre Vorräte dafür aber auch selbst abholen. Der Hof, den Ximasxi jedoch ansteuerte, war viel zu klein. Ein einfaches Haus mit nur zwei Etagen, eine kleine Scheune, kein Gesindehaus. Obendrein bemerkte sie sehr wohl, das Phillipe offenkundig entging – doch woher hätte er es auch wissen sollen? „Sollten wir nicht… uns anschleichen? Oder etwas dergleichen?“ Tatsächlich amüsiert lachte sie kurz auf. Ein hartes, trockenes Glucksen, ehe sie den Kopf schüttelte und etwas langsamer lief, damit er zu ihr aufschließen konnte. Sie hatte ein strenges Tempo vorgegeben, Trödelei konnten sie sich ihrer Ansicht nach nicht leisten und auch, wenn er schon nach wenigen Stunden zu jammern begonnen hatte, das ihm die Füße weh taten, so hielt er doch gut durch. „Ist alles leer. Sind geflohen. Vor Tagen schon“, merkte sie an und blickte sich nochmals um. Doch an den Zeichen dessen änderte sich nichts. Der Krieg kam – alle nahmen sie die Beine in die Hand. „Woran erkennst du das?“ wollte er wissen. Einen Moment lag ihr auf der Zunge, er solle ihr einfach vertrauen. Doch das schuf Abhängigkeit. Sie wollte ihn nicht abhängig machen. Schon gar nicht von sich selbst. Er war hier und schien neugierig – sollte er also lernen! Sie verwies ihn auf das Vieh, welches in kleinen Gittern sich zusammendrängte. Es waren erst die Mittagsstunden, die Sonne hatte vor nicht langer Zeit begonnen, wirklich warm zu werden – doch das Getier schien durchgefroren, suchte noch immer die Nähe zum anderen. Sie waren offenbar nicht gewohnt, draußen zu übernachten und hatten doch genau das getan. Darüber hinaus stand das Scheunentor offen, die Pferde waren wohl bei dem Unwetter vor vier Tagen durchgegangen und geflohen. Eines davon trabte in einer stattlichen Entfernung noch ziellos weidend herum – sie hatten einen Teil des Zaunes niedergerissen. Niemand hatte sich darum gekümmert. Das deutlichste Zeichen aber war wohl die Haustür. Phillipe war mehr als überrascht, dass sie es sehen konnte, doch die Pforte stand offen. Einen Spalt breit nur, doch sie stand offen. Natürlich hätten das alles Zufälle sein können, ihre Beobachtungen waren nicht mehr als Indizien – doch während ihrer Ausflüge hatte sie dieses Bilder immer häufiger zu Gesicht bekommen. Die Leute hatten Angst, die Leidtragenden zu sein, wenn die Heere aufeinandertrafen und sie zwischen den Mahlsteinen einfach zu toter Bedeutungslosigkeit aufgerieben wurden. Die Brandlinie des Bürgerkrieges hatte sich kreisförmig um La Coeur geschlossen und war näher und näher gerückt – jeder, der konnte, versuchte zu entkommen, bevor das Inferno losbrach. Als sie die Hütte erreichten, trat die frühere Diebin die Tür lautlos aufschiebend ins Innere und lauschte. Mehr aber als den Wind konnte sie nicht vernehmen, weshalb sie schließlich einen Vorstoß wagte. „Jemand da?“ rief sie. Immerhin waren sie nun artige Bürger. Schlichte Reisende, die wie alle anderen vor dem Schrecken der Gewalt flohen. Doch ihnen antwortete niemand. Ohne weiteres Zögern trat die Gehörnte in die Wohnstube, in die Küche, sie begann sich einen Überblick vom Haus zu verschaffen. Fenster, Türen, Fluchtwege, Ausstattung. Sie fand in den Schlafräumen genug Kleidung, um die widerwärtig nach Gosse stinkenden Fetzen zu ersetzen, die ihnen noch immer klebrig, obgleich längst getrocknet, am Leib hingen. Obendrein schienen die Bewohner in aller Eile aufgebrochen zu sein. Die Speisekammer hinter der Küche war zwar oberflächlich geplündert worden, doch scheinbar hatte man mit leichtem Gepäck reisen wollen – viel war übrig geblieben und seinem Schicksal überlassen worden. Für sie beide war das natürlich perfekt. Ein gemachtes Nest mit voller Ausstattung, in das man sich setzen konnte. Leider jedoch gab es so einiges an Luxus, worauf sie verzichten mussten. Allem voran wollte Phillipe etwas essen. Er war völlig ausgehungert. Immerhin kannte seine Majestät die Zustände nicht, einen ganzen Tag lang nichts zu Essen serviert zu bekommen. Zumindest mit den Beschwerden darüber hatte er sich zurückgehalten. Kaum aber, dass er die Finger nach einem halben Käserad streckte, verweigerte die Attentäterin ihm dies. „Willst du dir den Magen verderben?“ zischelte sie eilig und deutete auf seine Finger. Kurz nur hob er sie an die Nase und schniefte verächtlich. Sie würden sich zumindest Hände und Gesicht waschen müssen, bevor sie etwas essen konnten. Das wiederum setzte Wasser voraus… und da begannen die Probleme. Im früheren Heim des Monarchen gab es ausgeklügelte Systeme dafür. Ein großer, tiefer Brunnen innerhalb des Schlosses befriedigte alle Bedürfnisse der Burgbewohner nach Wasser, doch es gab ein erstaunliches System von Läufen, Schleusen und Aquädukten, die es im Schloss verteilten. Hier hingegen hieß es: Den Eimer in das Seil einklinken, hinablassen, füllen und mit der Kurbel wieder heraufdrehen. Bevorzugt, ohne selbst in den Brunnen zu fallen. Das kostete nicht nur Zeit, es kostete vor allem viel Kraft. Zumindest brauchten sie für die Wasserschale, die ihnen als Hand- und Gesichtswäsche dienen sollte, nur einen Eimer. Ximasxi erinnerte sich jedoch des Badezubers im oberen Stockwerk. Dann käme noch dazu, den schweren, massiven Holzeimer – vom Wasser noch schwerer gemacht – ins Haus und die Stufen herauf zu tragen. Dutzende Male. Obwohl sie tagelang ohne Nahrung gut hätte überleben und selbst ein paar Hasen und Mäuse roh hätte verspeisen können, war ihr beim Anblick des schmächtigen Königs klar, wer diese Tortur ausführen durfte und wer damit an die Grenzen seiner Kräfte getrieben werden würde. Sie beschloss daher, selbst ebenfalls etwas zu essen. Vorsorglich, gewissermaßen. Nachdem sie ihre Reinigung vollzogen hatten, packte die Teufelsbrut den Tisch voll. Von allem etwas landete darauf, doch kaum wollten sie das Mahl beginnen, musste sie erneut eingreifen. „Nicht!“ fuhr sie ihren Begleiter lediglich an und nahm ihm den Leib Brot und das Messer aus der Hand. „Nicht zum Körper zu schneiden!“ erklärte sie ihm und deutete an, wie leicht man abrutschen und sich die Klinge ins Fleisch jagen könne. Sie tranken irgendeinen Obstsaft, der bereits leicht angegoren schmeckte – doch mit einem Blick auf ihren Herrn, dem sie trotz all seiner Versuche, darüber hinweg zu täuschen, den Kummer doch ansehen konnte, befand sie das für möglicherweise gar nicht so schlecht. Vielleicht würde es seine Laune ein wenig heben können. Nachdem sie sich die Bäuche vollgeschlagen hatten, machte sich Ximasxi rasch ans Werk. Was sie an Kleidung hatten, legten sie ab, nachdem sie – immerhin zwei Stunden brauchte sie dafür – den Zuber befüllt hatte. Das Wasser war eisig kalt, doch unter dem beschichteten Holzmassiv gab es eine ausgeklügelte kleine Vorrichtung. Man hatte den Zuber selbst auf ein simples Eisengestell aufgebockt, mit genug Platz darunter, um eine kleine Feuerstelle in einer großen Metallschale zu ermöglichen. Die Mittel waren simpel, doch für ein paar einfache Bauern musste die frühere Diebin doch den Innovationsgeist einen Moment lang würdigen. Natürlich stand das Monstrum dadurch zu hoch, um einfach hineinklettern zu können. Gerade für Kinder wäre das unmöglich gewesen und obgleich sie ihren Herrn nicht beleidigen wollte, war das doch wohl oder übel zumindest seine Größenklasse. Nachdem das Feuer also geschürt war, zog sie den kleinen Tritt herbei, der hinter der Tür in der Zimmerecke hatte ausharren müssen. „Vorsicht, kalt“, mahnte sie noch, als er hinein kletterte. Tatsächlich konnte sie sehen, wie er fast augenblicklich zu zittern begann. Das würde ihn möglicherweise ein wenig gegen das Wetter in den nächsten Tagen abhärten. Es würde schließlich nicht immer warme Betten und vier Wände geben, längst nicht. Das Problem mit dem Verfahren zum Aufwärmen des Wassers war natürlich, das die aufsteigende, angenehme Wärme irgendwann in einen Kochtopf umschlagen würde. Ihnen blieb also nicht endlos viel Zeit, weshalb sich auch Ximasxi bemühte, zügig ins Wasser zu kommen. Allein das bloße Gefühl, wie der erste Dreck beinahe augenblicklich von ihrer Haut gelöst wurde, war schon eine Wohltat und ein Grund, angenehm erleichtert zu seufzen. Nachdem sie es sich in dem großen Bottich bequem gemacht hatte, tauchte sie ein paar Mal in das eisige Nass unter, ehe sie sich mit den Armen auf der Kante abstützend treiben ließ. Sie bemerkte den Blick Phillipes, wie er auf ihr ruhte, sie taxierte. Früher war sie beinahe wahnsinnig geworden, wenn sie jemand angegafft hatte. Sie wusste um die Entstellung ihres Gesichtes durch den gewaltsamen Zusammenstoß mit einem überaus wütenden Hund, mehr noch aber wusste sie um die verbreiteten Ansichten zu Schönheit und Erträglichkeit. Sie als Tiefling, direkte Nachfahrin einer Teufelin, trug zahlreiche Male ihres Blutes. Die Hörner, die Haut, die raubtierhaften Augen, der Schwanz, die Klauen – man konnte ihre Abstammung nicht übersehen, nein, dank ihrer Zunge konnte man sie nicht einmal überhören. Und Tieflinge galten als vieles. Verlogen. Hinterhältig. Kleptomanisch. Aber gewiss nicht als schön. Er aber, dieser seltsame kleine Menschenmann, dem sie damals die Augen hatte auskratzen wollen, als er die ersten Nadeln in ihr Fleisch schob… empfand wider seiner Freude daran, sie zu foltern und leiden zu lassen, keinerlei Vorurteile. Für ihn waren nahezu alle gleichermaßen Ungeziefer. Die Menschen rückte er ein Stück heraus, weil sie zwar großteilig von unwertem Leben durchwuchert wurden, es jedoch ein paar wenige gab, die seine Zustimmung fanden. Ab irgendeinem Punkt hatte er sogar begonnen, etwas in ihr zu sehen. Eine höhere Ästhetik, Reize, die sie nicht erkennen, nicht begreifen konnte. Er hatte begonnen, genau diesen Blick zu entwickeln. Heute fiel es ihr schwer, erbost zu sein, wenn er sie anstarrte. Im Gegenteil – ein Stück in ihr sehnte sich nach diesen Blicken und seiner Zuneigung. Als er jedoch die Lider niederschlug und stattdessen auf die still daliegende Wasseroberfläche vor sich blickte, hob die einstige Diebin das Wort an. „Was ist los?“ wollte sie schlicht wissen. Große, pathetische Reden standen ihr nicht, waren noch nie ihr Metier gewesen. Oh sie hatte mal einen jungen Magier gekannt, der sich gern hatte reden hören. Der konnte Reden schwingen, und was für welche! Aber sie nicht. Sie brachte die Dinge gern auf den Punkt. Eine alte Angewohnheit aus ihrem alten Leben, die sich irgendwie klammheimlich in das Neue hinübergerettet hatte. Damals war es ihr unangenehm gewesen, längere Sätze zu benutzen. Man hörte ihr Zischeln dann zu stark, ihre Herkunft wurde noch auffälliger. Menschen mochten das nicht, reagierten aggressiv, weil sie in ihrem verbohrten Unwissen glaubten, sie selbst sei aggressiv. Was zischelte, musste ja böswillig sein, ganz zwangsläufig, nicht wahr? „Wir… wir befinden es nicht für gerecht“, erörterte der Monarch kleinlaut und blickte auf das Spiegelbild seines Gesichtes, „Unser ganzes Leben lang haben wir versucht, diesen scheußlichen Anblick loszuwerden. Ihn wenigstens zu verstecken. Nun soll er uns das Leben retten?... Außerdem ist uns kalt.“ Sie hätte am liebsten aufgelacht. Tatsächlich hatte sie nie einen anderen Menschen erlebt – selbst Drakimh nicht -, der es so natürlich vollbrachte, die unwichtigsten Nöte, geboren aus fehlendem Luxus, genauso wichtig und dringlich klingen zu lassen wie tiefschürfende, existenzielle Angelegenheiten. Tatsächlich war sie sich nicht einmal sicher, was ihn im Moment mehr belastete – sein eigener Anblick oder die Kälte. Ximasxi löste sich vom Wannenrand und schwamm mit wenigen Zügen zu ihm herüber. Ihr Blick fiel auf den rasch schmelzenden Abstand zwischen ihren Leibern und das nunmehr bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Spiegelbild. Mit der Kralle unter seinem Kinn zwang sie ihn, sich von diesem Anblick zu lösen und sie anzuschauen. „Schäm dich nicht. Nicht dafür“, bat sie ihn leise, „So wie du bist, siehst du so viel besser aus als mit diesen falschen Haaren und dem Puder.“ Kaum gewann der Satz an Länge, tauchte das Zischeln wieder auf. Doch hier, nur mit ihm allein, war die Scham nicht drängend genug, um Einfluss auf ihr Verhalten zu nehmen. „Kalt, hm?“ hakte sie nach einer kurzen Pause nach, binnen derer sie hoffte, er würde ihre Worte ernst nehmen, „Kenn da was, das wärmt.“ Tatsächlich musste sie rasch bemerken, dass sein vorheriger Blick möglicherweise nicht ganz so unschuldig-bewundernd gewesen war… oder aber, ihre gemeinsame Nähe zueinander schneller angeschlagen hatte, als sie erwartet hätte. Ihre messerscharfen Krallen umfingen weiche, verletzliche Haut und neckten ihn einen Moment lang, ehe sie sich mit ihrer schmalen Hüfte quälend langsam auf seine sinken ließ. Das vom Feuer angeheizte Wasser begann sich allmählich zu erwärmen, die unteren Schichten stiegen auf und sorgten so unweigerlich dafür, dass sich die eindringende Hitze gut im gesamten Zuber verbreitete. Die zwei eng umschlungenen Leiber dagegen versorgten sich ein gutes Stück selbst mit Glut und Feuer, wenngleich ihr Treiben auch gelegentlich einen kleinen Schwall des Wassers hinaus beförderte und das Feuer zu ersticken drohte. Zumindest ein Gutes hatte dies: Die Flammen wurden gedämpft und ihnen verblieb mehr Zeit im Wasser, bevor die Wärme unangenehm werden konnte. Als Ximasxi am Abend in das für die gemeinsame Übernachtung auserkorene Zimmer trat, zog ein breites Lächeln über die Lippen ihres Herrn. Er hatte sie noch nie zuvor in einem Kleid gesehen. Keinem richtigen Kleid, geschweige denn, einer Bauerntracht. Und obwohl er ihr, durchaus ernst, zusprach, dass sie selbst der Kleidung der Gewöhnlichen Reiz und Charme abverlangen könne, fühlte sie sich darin alles andere als wohl. Wahl hatte sie dagegen wenig – es hatte nur eine Hose gegeben und sie konnte Phillipe wohl schlecht in einen Rock zwängen. Zumindest hatte sie die Seitenteile bereits großzügig aufgeschlitzt, um nicht zu viel ihrer Bewegungsfreiheit einbüßen zu müssen. „Wir sollten nicht zu lange bleiben“, merkte sie knapp an. Morgen würde sie aus einigen Lumpen und zerrissenen Laken ein paar provisorische Tragetaschen basteln. Darin sollten genug Vorräte Platz finden, damit sie immerhin die halbe Strecke hinter sich bringen könnten. Bei zügigem Marsch natürlich. Dass Phillipe eben diesen nicht gewohnt war, bezeugten die Blasen an seinen Füßen. Er beschwerte sich hier und da darüber, doch sie glaubte zumindest, das er sehr viel öfter sich den Mund zu halten zwang, als er dem Drängen nachgab. Früher hatte jede noch so kleine Beschwerde dafür gesorgt, das ein ganzer Hofstaat sich darum kümmerte, die Übel zu beseitigen – doch er war nicht dumm genug, zu glauben, sie würde nun den Hofstaat ersetzen können. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung, aus ihm einen eigenständig überlebensfähigen Mann zu machen… „Müssen wir wirklich schon wieder los?“ erkundigte sich Phillipe zwei Tage später, als sie den Hof wieder verließen – bereits einen Tag hinter Ximasxis Zeitplan. Sie konnte seine Frage durchaus verstehen, der Bauernhof wirkte verlockend. Er war klein, abgeschieden. Die Betten waren weich und die Speisekammer voll. Es war ein kurzsichtiges Vorgehen. Das Resultat langer Jahre, in denen er lediglich eine von verschiedenen, dargebotenen Alternativen gewählt hatte, ohne die Konsequenzen tatsächlich selbst abzuschätzen. Celsor hatte weite Strecken regiert und verdächtig viel Einfluss genommen. Schon während ihrer Zeit im Schloss hatte sie sich oftmals gefragt, was es mit dem kränklichen Kuttenträger auf sich hatte und was wohl aus Phillipe geworden wäre, hätte es diese manipulative Schlange nie gegeben. Auch Weitsicht war eine Qualität, die sie ihrem Begleiter erst noch würde beibringen müssen. Sich selbst traute sie zu, unbemerkt und unerkannt zu leben, sogar so nah bei der Hauptstadt. Es gab gewiss nicht viele Tieflinge in La Coeur oder Lumiél selbst, was sollte ihresgleichen auch schon hier zu suchen haben? Doch sie konnte es abstreiten, sollte man sie mit der Linken des Königs und seiner bevorzugten Attentäterin in Verbindung bringen. Ximasxi Natternzunge war eine Diebin gewesen, dann abrupt aus aller Öffentlichkeit verschwunden. Eine durchaus ähnliche Teufelsbrut tauchte wenige Wochen später an der Seite des Throns auf, gewiss, aber… sahen für Menschen nicht sowieso alle Tieflinge gleich aus? Diese Attentäterin war stets vermummt gewesen, niemand hatte ihr Gesicht je völlig sehen können. Sich selbst sprach sie die nötige Gerissenheit zu, die allseitige, allzeitige Vorsicht, diese Geschichte zu wahren. Doch Phillipe… obwohl er derjenige mit der besseren Tarnung war, trug sie sich mit der festen Überzeugung, dass er sich verraten würde. Vermutlich schon bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Ein einziger zorniger Ausbruch und er brüllte die Leute an, das sie ihrem König zu gehorchen hätten – ja, das konnte sie sich gut vorstellen. Überdies: Was sollten sie tun, wenn die Vorräte erschöpft waren? Gewiss, es gab noch das Vieh auf dem Hof. Sie wusste jedoch sehr wenig über Viehzucht. Praktisch gar nichts über Ackerbau. Sein Wissensstand war diesbezüglich wohl noch um einen Gutteil schlechter als ihrer. Selbst gesetzt den Fall, sie würden mit dem Vieh allein irgendwie überleben, sich hier verschanzen können. Die Rebellen würden die Stadt überrennen, den Thron erstürmen. Ein neuer König würde gekrönt werden, zweifellos. Man würde versuchen, den völligen Zusammenbruch in die Anarchie zu verhindern, das System wiederaufzubauen. Irgendwann kämen Steuereintreiber, auch zu ihnen. Was dann? Sie konnten die Männer dann schlecht mit einem Schwein bezahlen. Also brauchten sie Münzen. Ximasxi könnte diese natürlich stehlen. Doch wesentlich leichter und unauffälliger wäre es, schlicht weniger riskant, würden sie sie verdienen. Dazu müssten sie Produkte haben, die sie verkaufen konnten. Wie das Vieh, beispielsweise. Würden sie sich für die Lebensrolle von Viehzüchtern eignen? Sich dann mit ihrem Getier auf einen Markt stellen und sie feilbieten? Sie zu ausreichendem Gewinn loswerden können? Keiner ihrer Kontakte und Hehler würde ein Schwein kaufen. Es mussten also die überfüllten, gesättigten Märkte La Coeurs sein. Oder sollten sie die wochenlange Reise zu den Märkten Samaras auf sich nehmen? Wo die halbe Wache sie möglicherweise wiedererkennen könnte? Nein, das klang vorläufig nicht nach einer praktikablen, durchsetzbaren Lösung. Ihnen blieb vorläufig auch weiterhin nur die Landesflucht.   Sieben Tage später war von den Vorräten kaum noch etwas übrig – und sie hatten noch längst nicht die halbe Wegstrecke hinter sich gebracht. Ximasxi hatte immer wieder versucht, Phillipe zu mäßigen, ihm beizubringen, dass er sich zügeln müsse. Doch seine Majestät war nicht willens, sich hineinreden zu lassen. Wie eine so kleine Person so viel verschlingen konnte, ohne eine kleine, aber überaus dicke Person zu werden, war ihr völlig schleierhaft. „Wir haben Durst…!“ tönte es irgendwo hinter ihr. „Dann trink!?“ erwiderte sie lediglich, bereits ahnend, worauf das hinauslaufen würde. Ganz wie erwartet, erklärte er ihr daraufhin, sein Schlauch sei leer. Als sie ihn aufforderte, er solle ihn wieder auffüllen, wollte er wissen, wo er das tun könne. Am Bach natürlich – nur hatten sie den vor zwei Stunden hinter sich gelassen. Sie wollte von ihm wissen, warum er nicht vorhin bereits daran gedacht hätte und die Antwort war schlicht ernüchternd: Weil er vorhin noch keinen Durst hatte. Einen Moment lang war ihr danach, mit den Krallen durch ihre Haare zu fahren und vielleicht ein paar davon auszureißen, doch sie unterließ es. Vermutlich sollte sie dankbar sein, das sie La Coeur durch die Abwasserkanäle verlassen hatten – was wäre das für eine Endlosdiskussion geworden, ihm jeden Schuh und die Hose und das Hemd einzeln ausreden zu wollen! Sie versuchte sich zu gedulden, versuchte zu ignorieren, wie sehr ihr all dies an den Nerven zerrte. Immer wieder rief sie sich ins Gedächtnis: Er wusste es nicht besser. Er konnte auch nicht besser. Seine Beine waren lange Märsche nicht gewohnt. Seine Arme nicht geübt darin, einen Baum hinaufzuklettern. Sein Rücken kannte Stein und Erde noch nicht als Unterlage zum Schlafen und immer dann, wenn er ruhte, war es still. Hier aber gab es Vögel und nachtaktive Jäger, hier gab es Mäuse und Kröten, Ameisen und Spinnen. Sie erinnerte sich noch viel zu gut an den beinahe hysterischen Ausbruch vor zwei Tagen, als er von einem der Achtbeiner im Schlaf beklettert worden war. Er hatte die ganze Nacht kein Auge mehr geschlossen und dadurch am Tag darauf den Marsch deutlich ausgebremst, mehrfach wäre er ihr fast umgekippt. Denn in den Nächten aufbleiben, das kannte er ebenso wenig. Genau diesem Umstand war zu verdanken, dass sie überhaupt entschieden hatte, am Tag zu reisen und nachts zu rasten. Sie selbst hatte mit der Dunkelheit kein Problem, ganz im Gegenteil – doch würde sie ihn beständig führen müssen, kämen sie noch langsamer voran und er wäre völlig übermüdet und verwirrt über den abrupten Wechsel seines gewohnten Rhythmus. Als wären die Umstände nicht so schon anstrengend genug, da wollte sie sich weitere Schwierigkeiten ersparen. Ximasxi gab schließlich nach und reichte ihm ihren Schlauch. Sie aß viel weniger, trank viel weniger, lebte von viel weniger – und das immer schon aus Gewohnheit und Armut heraus. „Sind wir hier überhaupt richtig? Das sieht nicht richtig aus!“ mischte er sich eine Weile später wieder ein, nachdem er ihr den Schlauch zurückgegeben und mit ein paar schnelleren Schritten zu ihr aufgeschlossen hatte. Kurz schloss der Tiefling die Augen, atmete beherrscht durch, ohne dabei jedoch auch nur in ihrem Schritt langsamer zu werden. Zu keiner Sekunde strauchelte sie oder wirkten ihre Bewegungen unsicherer als zuvor. Etwas, das Phillipe durchaus bemerkte und bewunderte. „Ich kann mich orientieren. Nicht wie du. Du wolltest nach dem Mittag in die falsche Richtung. Zwei Mal.“ Schon die rasch aufziehende Röte der Peinlichkeit machte ihr deutlich, dass er sich noch sehr gut an den Streit vor wenigen Stunden erinnerte. All die Strapazen schlugen ihm auf das Gemüt und er hatte sich den Vorsatz gefasst, ins Schloss zurückzukehren. Vielleicht hatten die Rebellen ja aufgegeben oder waren besiegt worden. Sie wären nicht das erste Heer, welches an der Belagerung La Coeurs scheiterte! Ja, gewiss war längst der Aufstand vorbei und er könne zurück in all den Luxus, die Pracht und die gewohnte Umgebung – zusammen mit ihr natürlich. Als sie sich dagegen aussprach und ihn zur Vernunft zu bringen versuchte, wurde er jähzornig, begann herumzuwüten und erklärte, das er eben notfalls auch ohne sie zurückkehren würde. Also suchte er sich eine Richtung aus und marschierte los. Er kam ganze zwanzig Fuß weit, da machte sie ihm gelassen noch immer am Boden sitzend über einen Nachruf klar, dass dies nicht die Richtung sei, aus der sie gekommen waren. In seinem beinahe schon kindlichen Trotz rief er, dass er das genau gewusst habe… drehte sich direkt um hundertachtzig Grad und marschierte weitere vierzig Fuß, bis sie ihm abermals erklärte, das auch dies die falsche Richtung wäre. Schließlich war er stehengeblieben und hatte sich mit einem Ruck auf seinen von Grasflecken gefärbten Hosenboden fallen lassen. Die Hände zu Fäusten geballt in die Wangen gestemmt, wirkte er bockiger denn je. Zugleich aber auch merkwürdig… verletzlich. Sie hatte sich neben ihn gesetzt, mit ausreichend Abstand, ihn nicht zu bedrängen und gemeinsam blickten sie auf den Sonnensee. In den vergangenen Tagen hatte die Teufelsbrut eine Route gewählt, die sie in großzügigem Bogen um La Coeur herum führte. Abseits der großen Hauptstraße nach Samara schlichen sie über Trampelpfade oder gleich querfeldein nach Südwesten, bis sie das Nordufer des Gewässers erreicht hatten. An seinem Ufer entlang würden sie sich südlich durchschlagen, bis sie parallel zur großen Handelsstraße von Samara nach Herothing die Hafenstadt ansteuern würden. Dabei hatte sie immer peinlich genau darauf geachtet, sich vom Sonnensee selbst fern zu halten. So verlockend er als Wasserquelle und Badeort wirken mochte, so zauberhaft schön die Landschaft war – sie hatte lange genug in Samara gelebt, um Gerüchte zu hören. Genug derer und mitunter sogar aus für sie verlässlich wirkenden Quellen. Es gab etwas im See. Wusste der Nachtvater, was es war. Ein Ding. Etwas Lebendiges. Hin und wieder fraß es einen Fischer. Zumindest nahm man an, dass sie gefressen wurden. Ihre Boote waren manchmal zertrümmert, manchmal kamen sie mit reichlich Blutspuren ans Ufer zurück. Von den Besitzern fehlte stets jede Spur. Etwas, das groß genug war, Menschen als Beute zu sehen war gewiss auch gefährlich, gerissen und stark genug, sich diese selbst dann zu holen, wenn sie wehrhaft waren. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, sich oder Phillipe auf die Speisekarte zu setzen. Sie saßen eine Weile dort, blickten schweigend auf die ruhige Wasseroberfläche hinaus. Bis sie schließlich wissen wollte, was los sei. „Du hast gestern gesagt, ich solle es mir abgewöhnen.“ Die frühere Diebin brauchte einen Moment, seine Andeutung korrekt einzuordnen, doch rasch erinnerte sie sich des angesprochenen Umstandes. Sie hatte ihn gebeten, nicht mehr von sich im Plural zu sprechen. Das würde die Leute nervös machen, sie bestenfalls an seinem gesunden Verstand zweifeln oder – schlimmstenfalls – sie den König erkennen lassen. Er konnte sie beide mit einem einzigen ‚wir‘ verraten. „Wir… I-Ich war unser Leben lang nur… Thronerbe und König. Wir tragen u-… meine Kleider nicht mehr. Keine Krone. Kein Zepter. Kein Thron und kein Schloss. Wenn wir das jetzt auch noch aufgeben… wer s-… wer bin i-ich dann noch?“ Einen Moment hatte sie befürchtet, er würde jeden Augenblick wie ein Schlosshund zu heulen anfangen, doch er hielt sich gut. Überraschend gut sogar. Seine Stimme klang zwar erstickt, doch selbst der glasige Blick fiel ihr nur bei näherer Betrachtung auf. Ihr war von Anfang an klar geworden, dass dies eine gewaltige Umstellung für ihn bedeutete. Die Notwendigkeit zur Umgewöhnung, der regelrechte Zwang, sich als einer der Gewöhnlichen auszugeben, die er so sehr verachtete. Und doch saß sie nun hier und fragte sich, ob sie unterschätzt hatte, wie schwer es für ihn werden würde. „Wir haben nie ein Wort darüber verloren“, hob sie beinahe flüsternd an, „Kann sein, das ich irre. Aber wolltest du König werden?“ Viele Minuten verstrichen, in denen er überlegte. Revidierte. Sein Leben zurückspulte und die vielen verpassten Gelegenheiten bedachte. Tänze, die er nur beobachtet hatte. Wie gepackt er lauschte, als die Mägde – sich seiner Gegenwart nicht bewusst – von Dorffesten erzählten. Wie der Kämmerer ihn stets geohrfeigt hatte, wenn er hatte spielen wollen. Das gezieme sich eines Königssprosses nicht. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, schüttelte er langsam und vage das Haupt, kaum wahrnehmbar. „Sieh’s als Chance“, setzte die Attentäterin nach, „Kannst neu anfangen. Dich neu erfinden. Rausfinden, wer du sein wolltest. Und es sein.“ Er gab sich einsichtig, nickte geistesabwesend. Natürlich waren ihre Worte kein Wundermittel, das ihn sofort zum freudigen Grinsen brachte. Sie gab sich mit der vorsichtigen, verhaltenen Antwort völlig zufrieden, saß noch eine Weile bei ihm und erhob sich dann, um ihn aufzufordern. Immerhin mussten sie die Reise schnellstmöglich fortsetzen und so viel Raum zwischen sich und jeden Rebellen bringen, wie möglich war – und von denen wimmelte es in diesem Land neuerdings.   Mit den wenige Stunden später inzwischen zwei leeren Wasserschläuchen waren sie wohl oder übel nun doch gezwungen, sich dem Ufer zu nähern. Selbst als sie nicht sofort aus dem Hinterhalt heraus überfallen oder anderweitig überrascht wurden, ließ die Vorsicht und Wachsamkeit der Teufelsbrut keine Sekunde nach. Unwissend, ob die Kreatur auch am Ufer jagte, befüllte die Gehörnte die Schläuche selber, stets ihren Blick über das ruhig scheinende Wasser schweifen lassend. Sie begab sich allein auf die Jagd, Phillipe mit der klaren Anweisung zurücklassend, er möge sich bedeckt halten und außer Sicht bleiben. Als sie mit einem in Ufernähe gefangenen Kaninchen zurückkehrte, war er zum Glück noch da – und lebendig. Der Eindruck änderte sich jedoch, als dieser nach dem Schüren einer kleinen Feuerstelle erst einmal kreidebleich anzulaufen begann. Grund dafür war zweifellos die Zubereitung des heutigen Abendmahles. Wenn seine Majestät nach Essen verlangte, wurde dieser Befehl in die Küche weitergetragen, wo eine Reihe von nahezu augenblicklich gestressten Mägden und Köchen ans Werk ging, um schnellstmöglich die höchste Qualität zu produzieren, die ein verwöhnter Gaumen sich wünschen konnte. Was man vor ihm dann abstellte, war ein Teller. Darauf war bereits alles fertig. Die Kartoffeln in Stückchen oder zerdrückt, das Gemüse angenehm zerkleinert, sogar Fischfilets und Steaks bereits hübsch zugeschnitten, gebraten, mit Soße übergossen und mit kleinen Kräuterbeilagen dekoriert. Hier hingegen hieß es, zunächst einmal das Fell vom Tier abzuziehen. „Kann man säubern. Trocknen. Du sagtest, du schläfst schlecht. Für den Kopf?“ überlegte sie laut und legte das grob mit ihren Klauen geschnittene Hauptstück bei Seite. Der Rest wurde ruppig befreit, bis nur noch das blutende Bündel Fleisch dort lag. Sie selbst hatte wenig Probleme damit, es so zu essen und das tat sie auch – zumindest mit den Stückchen, die sie sich vorsorglich bereits sicherte, ahnend, dass ihr Begleiter weniger Hunger als üblich haben würde. Sie befreite den Rest des Tieres von allem, was nicht genießbar war, schlitzte es auf und nahm es großzügig aus, ehe sie die Reste auf einen Stock brachte und über die Feuerstelle hielt. Als das Abendessen soweit zubereitet war, hielt sie ihm den Stock entgegen, doch er starrte nur völlig entsetzt – und bemerkenswerterweise mit viel Ausdauer noch immer kreidebleich – das ehemals flauschige Tier an. So, das wurde ihr nun klar, würde das nichts werden. Also holte stieß sie den Stock in den Boden, befestigte ihn ein wenig mit Steinen und begann, Fleisch von ihrer Beute abzuzupfen und ihm in die Hand zu drücken. „Kaninchen. Schmeckt gut, probier’s!“ verlangte sie und wollte schon lachen, als sie sah, wie zögerlich er sich den Streifen Fleisch unter die Nase hielt, als könne es sich um gepresstes Gift handeln. Als er vorsichtig abbiss, merkte er an, dass es nicht wie im Schloss schmecke, wo er schon einmal Kaninchen probiert hätte. Bei Menschen klang es schon mitunter merkwürdig, wenn sie lachen mussten, zugleich aber versuchen wollten, Höflichkeit und Anstand zu wahren und sich eben dieses Lachen verbieten, es unterdrücken wollten. Bei Ximasxi dagegen klang der resultierende Laut geradezu kurios. „Hab’s probiert. Immer mal wieder. Alles überwürzt, fürchterlich. Man schmeckt das Tier gar nicht mehr.“ Nicht, das sie grundsätzlich etwas gegen Gewürze hatte. Sie hatte sich während ihrer Zeit in Sundergrad regelrecht vernarrt in die dortige Angewohnheit, Speisen sehr scharf zu würzen. Doch es bestand ein Unterschied, ob man etwas scharf würzte oder einfach nur ein halbes Kilo von allem, was das Regal hergab, hinein kippte. „Gewöhn dich besser dran. Musstest die Vorräte ja so schnell aufbrauchen – das da gibt’s jetzt öfter.“ Ein wenig schien er sich schon zu schämen, zuvor so maßlos mit dem Wenigen umgegangen zu sein, was sie aus dem verlassenen Bauernhof hatten mitnehmen können. Die Vorstellung aber, Ximasxi jetzt jeden Abend dabei zu beobachten, wie sie mit bloßen Händen Tiere tötete, zerriss, häutete und ausweidete ließ ihm schon jetzt den Magen verkrampfen, sodass sie sich auf einen Kompromiss einigen konnten: Sie würde die Tiere eben außerhalb seiner Sichtweite töten und er, er würde nicht hinsehen, wenn sie sie zubereitete. Wie sich herausstellte, hatte sein Appetit doch nicht ganz so fürchterlich leiden müssen, wie zunächst erwartet. Dennoch blieb für die einstige Diebin noch genug vom gebratenen Fleisch übrig. Sie nahm sich, was sie vertragen konnte. Essen hatte bei ihr stets den Stellenwert von einer überlebensnotwendigen Zwangsläufigkeit gehabt – das Konzept der Menschen, am Essen Lust zu empfinden war ihr zwar nicht mehr fremd und neu, doch sie hatte sich dies nie aneignen können. Letztlich wohl auch, weil sie die Verschwendung ihrer durch harte Arbeit erbeuteten Finanzmittel nicht einsah. Einen Laib Brot bekam man für eine Kupfermünze und konnte eine Woche davon zehren, aber solch ein angebliches Wundermahl, wie es dem Monarchen kredenzt wurde, machte kaum ein paar Stunden satt und kostete das Hundertfache. Als sich beide im späteren Verlauf des Abends zur Ruhe begeben wollten, veränderte sich jedoch regelrecht abrupt das Klima am Ufer. War es auf dem Land stets kühler als in der Stadt und in der Nähe von Gewässern noch etwas frischer, so sanken die Temperaturen noch ein weiteres Stück und ein dicker Nebel begann sich auszubreiten. „Sei auf der Hut!“ mahnte die Attentäterin ihren Begleiter rasch zischelnd, während sie sich bereits in die Defensive begab und unbemerkt eines ihrer Wurfmesser zwischen die Krallen nahm. Der undurchsichtige Teppich breitete sich rasant immer weiter aus, stieg auf Kniehöhe und machte es unmöglich, noch erkennen zu können, wo Land und wo Wasser war. All ihre Sinne schrien ihr zu, dass es sich hierbei um das Wirken von Magie handelte, der Nebel war keineswegs natürlichen Ursprunges. Hätte Phillipe ein wenig mehr Zeit als Naturbursche verbracht und gesehen, wie sich normaler Nebel bildete, wie er sich verhielt, sogar er hätte es erkennen müssen, auch ohne Anbindung an das Gewebe. War das also das Machwerk des Jägers aus dem See? Er führte Beute in die Irre? Es würde Sinn ergeben. Leise wies sie Phillipe an, ihr zu folgen und gemeinsam schulterten sie ihre Taschen und traten langsamen Schrittes zurück. Just aber, als sie dabei waren, die ersten Bäume zu passieren, fasste der Monarch sie beim Arm und deutete auf etwas, das möglicherweise noch am Ufer stand, möglicherweise aber auch bereits ein paar Meter im Wasser. „Schau, ein Alter!“ Unschlüssig, was er davon halten solle, ob das nun wichtig oder gefährlich war, harrte Phillipe der Einschätzung Ximasxis, deren Worte ihm schließlich ein reichlich mulmiges Gefühl verschafften. „Da ist niemand. Zumindest kein Mensch“, erklärte sie leise flüsternd, während der scheinbare Angler die Rute einholte und sich, obwohl er sie unmöglich hatte hören können, langsam zu ihnen umdrehte. „Es ist unhöflich, nicht wenigstens so zu tun, als würde man darauf hereinfallen“ erklang plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Dass der tatsächliche Angreifer aus den Bäumen kommen würde, hatte die Attentäterin bereits ein Stück weit erwartet. Ebenso, das die Attacke damit zwangsläufig in ihren Rücken fallen würde. Was sie überraschte war zunächst die weibliche Stimme. Doch was scherte sie, wer sich hier herumtrieb? Der drohende, spöttische Unterton war für sie eindeutig genug, dass sie angegriffen wurden und das führte unweigerlich zu dem, was Ximasxi für angemessene Gegenmaßnahmen hielt. In einem rasanten Wirbel fuhr sie herum, holte noch in der Drehung aus und schleuderte das Wurfmesser mit der akkuraten Präzision eines Zirkusartisten. Die Klinge bohrte sich zwischen die Rippen der Feindin und riss sie unter einem schmerzerfüllten Aufschrei zu Boden – direkt aus ihrem Sichtfeld heraus und in den kniehohen Nebel hinein. Sie hatte noch ein paar blonde Haare und blasse Haut sehen können, jedoch niemanden, der ihr bekannt vorkam… oder auch nur ihres Interesses wert war. Wichtig dagegen war für sie in diesem Augenblick, dass sie sich eine Fluchtroute geschaffen hatten. Sie waren im Besitz all ihrer Habe, ein Angreifer überwältigt, der andere zu weit weg. „Lauf!“ verlangte sie von Phillipe und noch während sie an der überlebenden Feindin hinwegsetzten – selbst heute noch tötete sie nicht, wenn sie das nicht musste -, vernahmen beide hinter sich ein tiefes, zorniges Wüten. Die Bestie war zweifellos einen Anblick wert, doch sie beherrschte sich und eilte mit ihrem Gefährten weiter. Wie es schien, war das blonde Weibchen der Kreatur nicht unwichtig, sodass sie zumindest keine Verfolger fürchten mussten. Mit Einverständnis des einstmaligen Gottes Lumiéls marschierten sie die Nacht durch, um auch ja kein Risiko einzugehen und brachten so viel Distanz zwischen sich und den Lebensraum der Kreatur, wie möglich war. Den folgenden Tag liefen sie weiter, wenngleich auch deutlich langsamer und sie begannen, wie von ihr geplant, den Sonnensee zu verlassen, um parallel zur großen Handelsstraße zwischen Samara und Herothing die finale Strecke zurückzulegen. Tatsächlich gab es einen kleinen Flusslauf nicht weit von eben jener Straße, der von den Händlern regelmäßig benutzt wurde, um ihre Pferde und Esel zu tränken. Natürlich lockte das Wasser auch alle anderen Arten von Getier an – damit bot es einerseits die perfekte Grundlage, um ihre Schläuche stets gut gefüllt und ihre Mägen mit Getier bereichert zu halten… andererseits jedoch musste sie sich zunehmend häufiger Phillipes Beschwerden darüber anhören, das ihn Mücken zerstechen würden. Was sich nach wenigen Tagen auch wahrlich nicht mehr leugnen ließ…   Ganze drei Tage lang hielt sie diese beständigen und ihrem Empfinden nach immer häufiger, nichtiger und penetranter werdenden Beschwerden aus. Es juckt! Wir sind müde! Hier wollen wir nicht schlafen, der Boden ist zu hart! Können wir nicht rasten? Hier wollen wir nicht rasten, das Gras ist ja ganz nass! Wir haben Durst! Wir haben Hunger! Das wollen wir nicht essen! Es existierte ein Band zwischen ihnen, geknüpft in Blut und Qual. Er hatte die Wände ihres Geistes eingerissen und etwas Neues gezimmert, er formte Charaktere wie der Künstler den Ton und ließ sie leer, ausgebrannt und hohl zurück, wenn ihm danach war. Sie glaubte ihm viel zu schulden, Erleuchtung allem voran und sie barg in sich eine nicht unerhebliche Sympathie für ihren Retter und Erlöser, sie glaubte ihn sogar zu lieben, doch… diese Tage stellten eben jenes Band auf eine überaus harte Zerreißprobe. Sie erwischte ihn sogar einmal dabei, wie er mit rot verschmiertem Mund zu ihrer gemeinsamen Raststätte zurückkehrte und strahlend erklärte, das er das zuvor verweigerte Essen gar nicht hatte probieren müssen, sei dort hinten doch ein ganzer Strauch voller Beeren. Vogelbeeren. Die ihren Namen nicht grundlos trugen. Noch während die ersten Vergiftungserscheinungen einsetzten, half sie ihm dabei, sich zu übergeben. Direkt in den Fluss, bis nur noch Galle kam. Das ersparte ihm nicht das das Leiden, die Krämpfe, das Fieber. Vielleicht, so hoffte sie, würde er ja irgendetwas daraus lernen – darauf vertrauen wollte Ximasxi jedoch lieber nicht. Stattdessen entschied sie, dass es so nicht weitergehen konnte. Irgendwann käme sie auf die Idee, ihn einfach schlafend liegen zu lassen oder schlimmer noch, ihm, der sie vor sich selbst gerettet hatte, persönlich die Kehle aufzureißen. Stattdessen also neigten sie ihre Marschroute, durchquerten den kleinen Fluss an einer flachen Stelle und ließen sich von einem Händlerkarren einholen, wie es sie auf dieser Route immer mal wieder gab. Sie stellte Phillipe als ihren Gatten dar und behauptete dem Alten gegenüber, der einen Karren voller Kohlköpfe von einem Zweispanner ziehen ließ, sie seien aus Samaras Elendsviertel und würden nun einen Neuanfang in Herothing suchen. Heruntergekommen genug sahen sie dafür allemal aus, wie der Fremde zu befinden schien. Er wirkte nicht freundlich und gewiss nicht vertrauensselig, doch immerhin anständig genug, sie nicht abzuweisen. Solange sie die Finger von seinem Kohl lassen würden, wäre alles in Ordnung. Natürlich beschwerte sich Phillipe auch weiterhin. Vorrangig nun, das ihm der Hintern ganz fürchterlich wehtun würde. Das war nicht weiter verwunderlich, seine Majestät hatte bislang nur auf feinsten Stoffen und gepolstertem Grund gesessen – bis sie diese Reise begonnen hatten, zumindest. Jedoch waren die Sitzbänke im Karren hartes Holz und es gab nichts, womit man das ausreichend hätte abschwächen können. Doch zumindest vielen dafür zahlreiche andere Sorgen weg. Sie zankten sich nicht mehr darüber, wann und wo sie rasteten, wie schnell ihr Marschtempo war und wo sie schlafen sollten. Hin und wieder quengelte er ein wenig, ob sie denn immer noch nicht da seien. Glücklicherweise schien sich davon in aller Regel der Fahrer angesprochen zu fühlen, der sich dann stets bemüßigt sah, zu erklären, wie viele Tagesreisen es denn noch waren. An den Abenden dagegen hielt der Wagen an. Während die Pferde ausgespannt wurden und am Fluss tranken und weideten, schlug die dreiköpfige Gruppe ihr Nachtlager auf. Offenbar gab es entlang des Weges immer wieder kleine, geräumte und halbwegs befestigte Plätze, die Reisende, Wanderer und Händler extra für diese Gelegenheiten angelegt hatten. Zentral befand sich eine mit Steinen befestigte Feuerstelle, die sie ebenso nutzten, wie es Dutzende vor ihnen taten und wie es auch Dutzende nach ihnen tun würden. Ximasxi selbst war in diesen Tagen weit entspannter als zuvor, jedoch auch sehr schweigsam. Sie verbrachte ihre Zeit überwiegend damit, ihren Gönner im Auge zu behalten, ihren Gefährten zu beobachten oder einfach nur zu genießen, wie viel schneller und problemloser die Landschaft nun dahinzog. Da sie ihre ursprüngliche Route anders geplant hatte, hatten sie einige Tage verloren – nun holten sie wenigstens ein paar davon wieder auf. Überdies wollte sie gar nicht so viel reden. Viel zu groß war ihre Sorge, sie könne den Prozess stören, den sie an ihrem Herrn beobachtete. Phillipe war durch ihre Schweigsamkeit nicht direkt gezwungen, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, jedoch begünstigte die Stille dies. Am Lagerfeuer brachte der Alte ihn mit ein paar Fragen hin und wieder ins Reden und sie erfuhr Details über seine Jugend, die sie anders wohl schwerlich zu hören bekommen hätte. Hin und wieder fiel er noch immer in alte Muster zurück und sprach von sich in der Mehrzahl. Anfangs hatte sie gegengesteuert und bekräftigt, er würde sie mit einschließen – später unterließ sie es einfach, überging es. Viel zu neugierig war sie, was ihr Begleiter zu erzählen hatte. Dass er dennoch alles andere als dumm oder geistlos war, zeigte sich in der vorsichtigen Art, wie er von den Dingen erzählte. Er beschrieb seinen Vater als einen egoistischen, gierigen Menschen, ohne ihn beim Namen zu nennen, ohne je die Worte La Coeur oder Hofstaat oder dergleichen ähnliche Fallen zu verwenden. Auf ähnlich geschickte Weise manövrierte er seine Erzählung durch seine Jugendjahre. Wie man ihn stets in fremde, unwillige Hände gegeben habe, damit er Erziehung erfahre – denn sein Vater war nicht willens, sich mit ihm zu beschäftigen. Er war nur da. Das Erbe. Irgendwann einmal von Bedeutung, aber eben erst später, viele Jahre später. Er erzählte, wie die Weiber ihn verstoßen und ausgelacht hätten, weil er von so kleinem, schmächtigem Wuchs war und ihr blühte durchaus einen Moment das Herz auf, als er sie über das Feuer hinweg anblickte und meinte, dass sich zumindest dies zum Besseren gewendet habe. Was Ximasxi Gedanken bereitete, war seine zukünftige Rolle. Sie hatte ihm gesagt, er könne herausfinden und werden, was er schon immer werden wollte. Auch diesen Punkt sprach er an – jedoch mit der bitteren Einsicht, dass er stets und allzeit so damit beschäftigt war, jemand zu sein, der er nicht war, jemandes Erwartungen erfüllen zu wollen, die für ihn unerreichbar bleiben mussten, das er sich nie darum hatte Gedanken machen können, was er selbst eigentlich wollte. Wo er sich in vielen, vielen Jahren selbst sehen wollte. Es hatte immer nur das Erbe gegeben, die Verpflichtung seinem Vater gegenüber. Er wusste nicht einmal, ob er irgendetwas nennenswert gut konnte. War er fähig, aus rohem Holz einen Stuhl zu bauen? Oder einen Gaul zu zähmen? Konnte er Weizen auf einem Feld zum Wachsen bringen? Oder anderen Leuten Waren andrehen, selbst wenn diese es gar nicht wollten? Er musste diese Antworten wissen, entschied Ximasxi. Sie würde bei ihm bleiben, solange er sie ließ – doch die Antworten auf diese Fragen musste er alleine finden. Sie würde ihn unterstützen, wenn er sich aufmachte, das herausfinden zu wollen. Vielleicht konnte sie ihm sogar ein paar Ideen und Anregungen geben. Doch welchen Weg er letztlich beschritt, das konnte sie ihm nicht abnehmen. Ganz gleich, wie verloren und ratlos er wirkte.   Als sie wesentlich früher als erwartet die Wälder um Herothing erreichten, war für die einstige Gildendiebin der richtige Zeitpunkt gekommen. Noch ein Stück von den ersten Anwesen der hiesigen Adligen entfernt, kletterte sie aus dem Wagen auf den Kutschbock hinaus und nahm neben dem Händler Platz. Phillipe verfolgte die kleine, akrobatische Einlage lächelnd – bis es plötzlich einen Ruck gab. Die Pferde bemerkten den Blutgeruch rasch und drohten durchzugehen, doch die Attentäterin stieß lediglich den Sterbenden von der Bank herab auf die Straße. Während der Inhalt seiner weit geöffneten Kehle sich auf dem Staub verteilte, gab sie den Tieren das, was sie brauchten: Ordnung und einen klaren Befehle. Phillipe dagegen kletterte so nah wie möglich an den von ihr zuvor benutzten Ausgang heran und wollte wissen, weshalb sie ihn umgebracht hatte. „Wir. Erinnerst du dich? Hab dir gesagt, es verrät dich. Er hat’s gewusst. War stiller als sonst. Ein wenig ängstlich. Kannte wohl Geschichten über mich. Er wollte uns ausliefern. Bei den Rebellen in Herothing. Jede Wette. Ist sicherer so.“ Vielleicht hatte er ihnen auch von Anfang an nicht geglaubt. Ein Tiefling und ein Mensch, verheiratet? Aus dem Elendsviertel Samaras obendrein? Sie musste zugeben, es hatte nur wenige wirklich gute Geschichten gegeben, mit denen sie zu erklären fähig gewesen wäre, warum ausgerechnet sie beide miteinander reisten und warum Phillipe diese merkwürdigen Sprachgewohnheiten hatte – doch all diese Ansätze waren ihr eben auch erst nachträglich eingefallen. Nun war es zu spät. Ein Leben endete, einmal mehr durch ihre Hand und auch, wenn sie es stets zu vermeiden versuchte, zögerte sie doch nicht, wurde es erst einmal notwendig. Hatte sich die Teufelsbrut anfangs noch Gedanken gemacht, wie sie die Stadtwachen Herothings passieren könnten, war ihr rasch eingefallen, wie unnötig die Überlegung war. Die Stadtwache hatte einstmals ihnen gehört und Herothing war schon vor langer Zeit gefallen. Was es dort nun gab, offenbarte sich ihnen als ein kleines, provisorisches Torhäuschen, in dem drei leicht gerüstete Burschen saßen, alle in unterschiedlichen Rüstungen, Kleidern und Bewaffnung, die miteinander Karten spielten und sich offenbar kaum dafür interessierten, wer ging… und auch nur mäßig dafür, wer kam. Einen Zoll verlangte man ihnen nicht ab und diesmal war ihre Geschichte auch weit besser, weniger verdächtig: Sie war die Händlerin, er der Reisende, den sie aus lauter Nächstenliebe mitgenommen hatte. Natürlich rief es noch immer einiges Stirnrunzeln, skeptische Blicke und sogar eine Nachfrage hervor, wie sich wohl ein Tiefling beim Anbau von Kohl und dessen Vertrieb schlagen würde. Doch sie konterte, das sie genau aus diesen engstirnigen Gründen heraus nach Herothing reisen und ihre Waren auf ein Schiff verladen müsse, welches sie in eine Tieflingsenklave brächte, wo man die Früchte ihrer Arbeit zu schätzen wisse, während sie hier bestenfalls Steine nachgeworfen bekäme. Als ihre schauspielerisch perfekt einstudierte Szenerie sich zu einer zornigen Predigt über Toleranz und Vorurteile auszuufern drohte, wiegelten die provisorischen Wachen rasch ab und schleusten sie durch. Die Pferde auf gerader Strecke zu halten, war nicht so schwer gewesen und glücklicherweise besaßen die Tiere nun genug Überlebensinstinkt, nicht die tiefen, steilen Terrassen gerade aus herabzustürzen. Stattdessen lenkte sich der Wagen beinahe von selbst die Schlangenlinie entlang in großer Steigung immer weiter herab, bis sie auf Meeresebene im Hafenbereich ankamen. Hier ließen sie den Karren schließlich achtlos stehen. Eine kostenlose Mahlzeit für die Armen, die sich hier unten tummelten und dankbar für jede Gelegenheit waren. „Wie geht es nun weiter?“ erkundigte sich der flüchtige Monarch, während sie die Dielen des Piers entlang schritten. „Das Schiff da. Schwarze Flagge, roter Turm drauf? Kommt aus Angmar.“ Als er erstaunt zu wissen verlangte, woher sie das wisse, schlich ein breites Grinsen über die Miene des Tieflings. „Habs in den Büchern gelesen. Das Schiff wird erwartet. Seit einem halben Jahr. Sind für Verhandlungen hier. Truppen. Unterstützung gegen die Revolte. Wird jetzt nicht mehr gebraucht, kann bald heimsegeln. Die Rebellen würden sich nie trauen, die anzugreifen. Wollen keinen Krieg, so kurz nach dem Krieg. Schon gar nicht gegen die. Wir gehen an Bord. Handeln was aus. Fahren mit.“ Wie viele Raubtiere hatte auch die Delegation Angmars gehofft, noch ein wenig Beute schlagen zu können, bevor ein Verbündeter kollabieren würde – und danach hätte man sich natürlich an dessen Resten gütlich getan. Nun jedoch schien es, als wäre eine neue Führung etabliert worden. Noch saß sie wackelig, war jedoch stark genug und hatte ausreichend Rückhalt und Mittel, um keine unnötige Provokation riskieren zu wollen. Für die Delegierten war die Situation mehr als frustrierend, denn die neue Führung Lumiéls schien nicht begeistert von der Idee, Bündnisse mit Sklavenhändlerstaaten aufrecht zu erhalten. Zugleich ließ man sie warten, sehr, sehr lange sogar. Als sich für die Botschafterinnen und Botschafter eine Möglichkeit ergab, aus Lumiéls offenkundig misslicher Lage vielleicht, irgendwann in der Zukunft, doch noch einen gehörigen Profit zu schlagen… da ließ die Delegation von einem Boten ausrichten, das man des Wartens überdrüssig sei und heimkehren würde. Man legte der neuen Regentschaft nahe, sich darüber aufklären zu lassen, wie man mit Gesandten anderer Reiche umzugehen habe. Das Schiff selbst aber legte ab – mit zwei Gästen des Reiches von Angmar an Bord. Gesandte, gewissermaßen, die der Führungsriege Angmars ein Angebot zu unterbreiten hatten. Gemeinsam standen diese beiden am Bug des Schiffes und verfolgten, wie der Rumpf die Wellen teilte, während Lumiél immer kleiner und kleiner wurde. „Wir haben es geschafft“, erklärte die einstige Diebin und erlaubte sich ein erleichtertes Seufzen. Sie waren tatsächlich entkommen. Sie fühlte sich beinahe augenblicklich etwas… freier. Als müsse sie nicht mehr erwarten, das hinter jedem Stein ein Dutzend Feinde hervorgesprungen käme. „Wir haben es wirklich geschafft!“ bekräftigte sie erfreut abermals. Lächelnd wandte sie sich ihrem Begleiter zu. „Was sagst du dazu?“ „Warum schaukelt das Schiff so…? U-Uns… uns wird schlecht…!“ Noch während Phillipe der Dritte, Gottkönig Lumiéls im Exil, sich über die Reling beugte, klopfte ihm Ximasxi seufzend auf den Rücken. Manche Dinge änderten sich nie… Kapitel 34: Ein Neubeginn ------------------------- Siddarmark. Seit er hier angekommen war, fühlte sich Thorin wohler. Freier. Nicht genug, sein ohnehin schon seltenes Lächeln wiedergefunden zu haben, aber doch immerhin etwas beschwingter, um nicht von der lähmenden Trägheit eingeholt und zur Tatenlosigkeit verdammt zu werden. Dieser Flecken der Welt erinnerte ihn oftmals an Kruk. Die weithin kargen Landschaften, gerade an der zerklüfteten Küste, die zahlreichen Moore, die sich nahtlos an unübersichtliche Baumwollplantagen anschlossen. Immer mal wieder wurde das Bild aufgelockert von ein paar Bergen, die sich gelegentlich zu ganzen Gebirgszügen verketteten. Die Hafenstädte waren klein. Dank der Jadestraße gut besucht und teuer zu bereisen, aber klein. Wer nicht gerade mit Jade, Silber, Kupfer oder Baumwolle handelte, der kam nur aus einem Grund nach Siddarmark: Pferde. Es gab Länder, in denen gehörte es im gewöhnlichen Volk zum guten Ton, einen Hund zu haben. Als Lebensbegleiter, Weggefährte, Stütze und Verteidiger. Als Seelentier, wie es gelegentlich bezeichnet wurde. Was dort die Hunde waren, waren hier die Gäule. Angeblich gab es in der ganzen Welt kein Land, dessen Züchter sich so sehr darauf verstanden, das Vieh in Form zu bringen. Thorin selbst verstand nicht viel von Pferden. Er bevorzugte es, mit beiden Füßen auf dem Boden zu bleiben. Doch während seiner Reise war er immer wieder an großen Höfen vorbeigezogen. Angeschlossen an schier gewaltige Weideflächen. Viele davon wurden bewacht. Es zog ihn nicht nach Xiva. Die einzige, wirklich nennenswert große Stadt im ganzen Königreich, Regentschaftssitz von Ragaurd Timur, dem gegenwärtigen Herrscher aus einer langen Linie von Timuren. Gesellschaft, Zivilisation, das bedeutete vor allem: Verwicklungen. Durch irgendwen, in irgendetwas. Er verzichtete. Mit Freuden. Die Welt sollte ihn in Ruhe lassen. Er nahm sich, was benötigt wurde und gab, was das Mindeste war. Siddarmark war größer als Lumiél, aber dennoch dünner besiedelt. Viel Platz, um unauffällig sein zu können. Um das eigene Leben zu leben, ohne Bestandteil der Leben anderer zu werden. Hier gab es keine übereifrigen Herrscher, die jähzornig ihre Soldaten aussandten und ihnen jede Form von Willkür nachsahen. Hier gab es keine fortwährenden Beschwerden über Ungerechtigkeit, keine langen Gesichter über Unterdrückung. Die Wachmänner, denen er hier begegnet war, waren respektable Personen. Gute Männer, wie man wohl gesagt hätte. Nicht, das er noch daran glaubte, dass es so etwas wie gute Männer überhaupt gab. Dennoch war das Heer des Landes nicht allmächtig. Ganz im Gegenteil. Die Bevölkerung war dünn, das Land weit – es gab zu wenig Rekruten für die Wache, um wirklich überall die Sicherheit gewährleisten zu können. In den Mooren mochte sich kaum ein Flüchtiger freiwillig herumtreiben, ohne von irgendwelchem übergroßem Getier verspeist oder vom Sumpf selbst verschlungen zu werden. Doch noch weiter im Hinterland, wenn man allmählich nahe an die sich gewaltig auftürmenden Bergketten herankam, die Siddarmarks Territorium vom Rest des Kontinentes abtrennten, dann verirrte man sich schnell in riesige Täler, dicht bewaldet, an deren Rändern in den aufragenden Höhen ausreichend Höhlen zu finden waren, um selbst einen kleinen Staat zu formen. Das Hinterland war reich. An fruchtbarem Boden, an Getier – und an Überraschungen. Wer klug war, vermied Reisen ins Hinterland. Immer wieder versuchten Händler anderer Nationen, sich eine fruchtbare Stute oder einen potenten Gaul zu sichern, indem sie persönlich bei den Züchtern aufmarschierten. Oder jemand wollte eine Teilhaberschaft an einer der zahlreichen Mienen erwerben, indem er mit einer kleinen Kohorte von Söldnern vor dem Mieneneingang auftauchte und ein wenig heiße Luft verströmte. Die Leute entwickelten die kuriosesten Vorstellungen und Pläne, doch die meisten besaßen ein klein wenig Verstand und informierten sich ausreichend über Land und Leute. Es gab natürlich immer wieder die, die dessen offenkundig nicht fähig waren. Leute, die nicht begriffen, das schon ein einziger erfahrener Söldner – jemand wie er, gewissermaßen -, völlig ausreichend war, um bei der teilweise tagelangen Passage durch die dichten, hoch aufragenden Wälder völlig ungestört zu bleiben. Aber im letzten Dorf hatte ihn ja niemand anheuern wollen. Stattdessen waren im Gerüchte zu Ohren gekommen und er entschied, dass es einen Versucht wert wäre, diesen nachzugehen. Was konnte schon Schlimmes geschehen? Sein Geldbeutel würde ausbluten, nach und nach. Das war unausweichlich. Siddarmark war mit einer rauen Schönheit genau das, was er wollte, was er gesucht hatte und zu brauchen glaubte, vor allem nach den Geschehnissen in der Heimat. Doch Gasthäuser, die gute Betten hatten, hatten oft auch gute Preise. Wer nicht das schalste, bitterste Bier haben wollte, zahlte drauf. Wer den Braten gerne frisch und warm wollte, zahlte drauf. Leben war teuer geworden, so schien ihm. Sein Blick hob sich zu den Wipfeln. Das Licht der Mittagssonne strahlte hier und da wacker ankämpfend durch das nahezu alles aufsaugende grüne Blätterdach. Die Winter sollten hier fürchterlich sein. Der Torf, der zu dieser Jahreszeit im Eiltakt gestochen wurde, brannte dann unentwegt in den Öfen nieder. Aber noch war Sommer und alles schien nur so vor Leben und Energie zu bersten. Ihm war danach, ein Lied zu pfeifen. Nur für den Bruchteil eines Lidschlages zwar, aber der Drang war kurz da gewesen. Thorin bemerkte ihn, nahm ihn wohlwollend zur Kenntnis. Vielleicht besserte sich seine Laune ja ein wenig. Vielleicht hatte diese Reise tatsächlich den heilsamen Effekt, den er sich erhofft hatte. Nach allem wünschte er sich kaum mehr, als wieder in seine altbekannten Muster hineinzufinden. Zurückzukehren zu den Dingen, die er kannte, die er schätzte, ja sogar den Dingen, die er nicht leiden konnte. Eine gewohnte Routine, eine vertraute Umgebung. Etwas Stabilität, nachdem er sich durch so viel Chaos gewühlt hatte. Leider schien ihm die Erholung jedoch nicht vergönnt. „Nicht doch…“ nuschelte er unter einem Seufzen. Zu keinem Augenblick wurde der kahlköpfige Hüne langsamer, das hätte ein grober Fehler sein können. Vor ihm erstreckte sich die ungepflasterte Straße in gerader Linie durch den dichten Wald, sodass er schon von weitem eine vorzügliche Aussicht auf die Szenerie hatte, die sich ein ganzes Stück weiter vor ihm abspielte. Sein Blick schweifte, suchte die nahe Umgebung ab. Er konnte nicht sagen, ob man ihn bereits bemerkt hatte, ob es vielleicht einen Hinterhalt gab für solche, die helfen wollten, ob er bereits belauert und verfolgt wurde. Was er wusste war lediglich: Da stand ein Karren, der Zugochse lag am Boden und es schien, als wären die Reisenden gerade erst angegriffen worden. Auf die Entfernung konnte er nur undeutlich sehen, was vor sich ging und hätte er die Wahl gehabt, er wäre in den Wald abgedreht oder auch einfach zurückgegangen. Doch ohne das Wissen, ob man ihm bereits folgte, konnten böse Überraschungen auf ihn warten. Wenn schon nicht direkt bei der Kehrtwende ein Pfeil im Rücken, so vielleicht der Dolch an der Kehle, sobald er ein paar Tage später wieder im vorherigen Dorf angekommen wäre und sich friedlich und sicher wähnend am Abend in seinem Zimmer ins Bett legte und einschlief. Immerhin waren Zeugen immer eine fürchterlich lästige Angelegenheit. Je näher er kam, umso klarer wurden die Vorgänge. Offenbar handelte es sich um eine Familie, die mit ihrem gesamten Hausstand reiste. Vielleicht zogen sie um, vielleicht wollten sie das Land verlassen. In letzterem Fall zumindest wären sie in die falsche Richtung unterwegs gewesen. „Wegducken…“ flüsterte Thorin leise vor sich hin, doch der Älteste entschied sich stattdessen, beide Arme zur Abwehr zu heben. Der Schmerzschrei des Mannes zog durch den Wald, als ein Knüppel ihm die Arme brach. Er ging auf die Knie, zeternd, fluchend, bis ein zweiter Hieb gegen den Schädel ihn lautlos werden und zur Seite umkippen ließ. Der Hüne schüttelte lediglich den Kopf und verlangsamte noch immer seinen Schritt nicht. „Abrollen… genau… hoch… antäuschen… hm…“ Der älteste Sohn, so vermutete der Kahlkopf, bewies sich als nicht völlig ungeschickt. Er konnte seine Gegner gut ausmanövrieren, über deren genaue Anzahl und Ausrüstung sich Thorin noch unsicher war. Soweit konnte er drei sehen – aber das waren unmöglich bereits alle. Schließlich zerrte man ein aufschreiendes Weib herbei. Der Krieger war nun nah genug, die ersten Details erkennen zu können. Sie war möglicherweise seine Mutter, vielleicht auch eine ältere Schwester. Eine hübsche, wenn auch schlichte Tracht tat genau den fatalen Fehler, zu betonen, was sie hatte: Eine gute, weibliche Figur. „Nicht erpressen lassen…“ nuschelte der einstige Söldner, doch als man dem Weib eine Waffe an die Kehle hielt und sie zu wimmern begann, hob der Bursche die Hände. Eine Anweisung wurde geblafft, er kniete, legte die Waffe ab und erhob sich wieder, zwei Schritte zurücktretend. „Das… war dumm.“ Ganz wie Thorin es erwartete, trat jemand mit schnellen Bewegungen auf den Jungen zu und brachte zu Ende, was begonnen worden war. Für das Weib, so schien es, würde nun alles noch sehr viel unschöner werden. Wenn sie Glück hatte, würde man sie töten. Irgendwann im Verlaufe des heutigen Tages. Hatte sie Pech, war sie nun Beute und man würde sie verschleppen, sie als neuen Teil des Unterhaltungsprogrammes eine ganze Weile herumreichen, bis sie lästig, unnütz oder aufmüpfig wurde. Zu sehr, um es noch ertragen zu können. Jede Frau hatte in solch einer Lage ihren Nutzen, um die Männer bei Laune zu halten, aber irgendwann überwogen einfach Risiko und Kosten. Dann wäre die Gnade ihres Todes nahe, bis dahin… Agonie. Er sah, wie man ihr das Kleid an den Schultern zerriss. Es war schade um das schöne Stück. Auf eine unangenehme, bedrückende Weise erinnerte ihn die einfache Tracht an jemanden, den er gekannt hatte. Gut gekannt… und geschätzt. In vielerlei Hinsicht. Thorin aber wollte sich den Erinnerungen nicht stellen, wischte sie mit der Hand bei Seite wie eine lästige Fliege, die penetrant vor seinem Gesicht schwirrte. Er war nun spätestens bemerkt worden, auf ein paar dutzend Meter Entfernung. Gemächlichen Schrittes und ohne jedes äußere Anzeichen von Unruhe und Anspannung schritt er voran. Er musterte diese Bande einen Moment, als tatsächlich deren Verstärkung aus den Seiten hervortrat und sich zum Karren gesellte, offenbar willens, die Beute zu schützen und abzutransportieren. Oder sich an der ersten Runde mit der Hinterbliebenen zu beteiligen. Sieben Mann. Hier und da eine leichte Lederrüstung, meist schäbig, abgewetzt, in miserablem Zustand. Ein wenig also wie seine Eigene, nur das die lediglich so übel zugerichtet aussah, von ihm aber beständig in guter Qualität gehalten wurde. An Waffen wurde es sogar noch ein wenig bunter. Brieföffner, Fleischerbeile, Kräutersicheln, sogar eine Spitzhacke. Der, den er als Anführer herauspickte, trug ein Kurzschwert. Stumpf, schartig. Aber dennoch wohl die beste Waffe. Strauchdiebe also, Wegelagerer. Sie plünderten alles, was nach leichter Beute aussah. Verwendeten als Waffen, was immer sie in die Hände bekamen oder stahlen sie einfach dort, wo sie kein Risiko fürchten mussten. Die Revolution in seiner Heimat hatte nicht viel anders angefangen. Verstecken, überfallen, plündern, verschwinden. Es grämte ihn, das so viele Dinge stur darauf fixiert schienen, ihn an das Vergangene zu erinnern, während er sich nach Kräften bemühte, es abzuschließen und zurückzulassen. Doch auch diesen Gram sah man dem geradezu steinern wirkenden Gesicht nicht an. Stattdessen hielt er einen Moment mit dem Schwertträger Augenkontakt. Sie musterten sich. Für Thorin ging es darum, herauszufinden, ob dieser Kerl wirklich der Anführer war. Wäre er es nicht, würde er sich nach diesem umblicken, würde um Befehle betteln, ob mit oder ohne Worte. Doch seine Vermutungen wurden bestätigt. Dieser Bursche wiederum versuchte ihn abzuschätzen. Der Krieger trug einen Lederpanzer, war von hohem, kräftigem Wuchs und trug eine Streitaxt gut sichtbar auf dem Rücken. Das war weder die übliche Beute dieser Bande, noch jemand, mit dem sie sich anlegen wollten – wie viel Ärger würde also daraus erwachsen? Der Kahlkopf hatte beabsichtigt, die Antwort einfach ‚keiner‘ lauten zu lassen. Er passierte den Karren, warf einen Seitenblick auf den Ochsen, dem man viel zu viele Wunden zugefügt hatte. Vermutlich hatte sich das Tier gewaltig gewehrt, als man es angriff, aber in den Karren fest eingespannt, war ihm letztlich kaum Freiraum geblieben. Stümper, so lautete Thorins Urteil über das Vorgehen dieser Bande. Anfänger vielleicht, Grünschnäbel. Oder die Leute waren in dieser Gegend einfältig genug, dass sie ihre Taktiken nie wirklich hatten ausgefeilter wählen und verbessern müssen. Natürlich hatte die Überlebende ihn bemerkt. Sie rief um Hilfe, mehr als einmal und er, er passierte den Wagen. Einfach so, all ihre Hoffnungen zerstörend, all ihre Verzweiflung ignorierend, all den Schmerz gleichgültig betrachtend, den sie erleiden würde. Man hatte sie auf dem Boden der Straße festgepinnt, einer der Männer wurde beim Namen herbeigerufen, um ihre Hände über ihrem Kopf festzuhalten. Immer wieder schrie sie auf, rief um Hilfe, bettelte um Gnade, verneinte, was man offenkundig zu tun gedachte. Er hörte, wie der Stoff riss, weiter und weiter, hörte, wie ihr Flehen in Wimmern überging. „Verdammt nochmal, stopf ihr endlich das Maul!“ drang es an sein Ohr. „Das Miststück hört einfach nicht auf, zu zappeln!“ zeterte ein anderer. Man schlug vor, sie bewusstlos zu schlagen, doch es wurde erwidert, dass das den Spaß halbieren würde, bestenfalls. Sie hört einfach nicht auf, zu zappeln… sie hat nie aufgehört… Ein schwerer Kloß bildete sich in Sekundenschnelle in Thorins Hals. Er wurde langsamer. Die Hilferufe der Fremden schienen plötzlich so viel lauter. So viel eindringlicher. Du hast sie damals gehört… als sie nach dir rief… bevor sie- „Geh weiter.“ Kein Befehl. Der frühere Söldner neigte das Haupt zur Seite und sah den Truppführer. Alarmiert hatte er sich vom Karren abgestoßen, die Hand am Griff seines Schwertes. Er hatte ihn nicht angewiesen, zu verschwinden. Tatsächlich hatte man es seiner Stimme anhören können. Er hatte ihn darum gebeten. Wissend, dass ein Befehl mehr Provokation gewesen wäre, als die Situation vertragen konnte. Du hättest alles für sie getan, oder etwa nicht? Erneut schrie das Weib auf, er zuckte zusammen. So als habe ein Ton ihn empfindlich getroffen, wie eine Ohrfeige. Schließlich wandte sich der stehengebliebene Kahlkopf zum Karren und der Gruppe um. Unter einem schweren Seufzen fuhr er sich mit der Hand über das kahle Haupt und trat mit wenigen Schritten an den Anführer dieser lausigen Bande heran. „Haben wir jetzt ein Problem?“ wollte der wissen. Ein kluges Kerlchen. Der Krieger konnte es sogar in seinen Augen erkennen. Er war nicht streitlustig, er war nicht lebensmüde. Wie hatte jemand mit so viel Weitsicht und Intelligenz ausgerechnet mit solch einer Bande nutzlosen Gesindels enden können? Nicht, das ihn die Antwort auf die Frage wirklich interessiert hätte… „Noch nicht“, erwiderte Thorin mit rauer, trockener Stimme, „Sag deinen Jungs, sie sollen das Mädchen gehen lassen.“ In diesem Moment erst horchte auch der Rest der Truppe auf. Sie hatten Thorin bemerkt und ihn nicht für wichtig empfunden, schien er doch vorbeizuziehen, nun aber stand er hier und verlangte etwas. „Und falls nicht?“ erkundigte sich sein Gegenüber, nachdem er einen Blick hinter den Karren geworfen hatte. Das Weib lag auf dem Boden, festgehalten in den Resten ihrer völlig zerschnittenen Kleidung. Fast nackt hatte man ihre Schenkel auseinander gepresst, doch noch war ihr Schoß unberührt. Erneut holte der Kahlkopf tief Luft, seufzte schwerfällig. „Hör zu: Ich habe eine ziemlich lange Reise hinter mir. Und davor, davor hatte ich ein paar ziemlich, ziemlich beschissene Jahre hinter mir. Im Moment will ich nur noch in ein Gasthaus, mich waschen, etwas essen, etwas trinken und schlafen. Aber wenn es sein muss“, mit jenen letzten Worten blickte er abschätzend in die Runde. Nicht, weil er erst jetzt ihre Kampfstärke bemaß, sondern, weil alle Anwesenden genau wissen sollten, dass er sich einen Eindruck von ihnen verschaffte, „dann schlachte ich euch alle ab. Die Hälfte von euch wird hier auf dem Boden liegen, röcheln, jappsen und langsam den Graben mit Blut füllen, bevor ich auch nur den ersten Schlag abbekomme. Und die andere Hälfte hacke ich in Stücke, bevor auch nur einer von euch sowas wie Erschöpfung an mir sieht.“ Mit bitter ernster und trockener Stimme gesprochen, war es die feste Überzeugung darin, die dem einen oder anderen der Bande tatsächliche Unsicherheit und vielleicht nicht direkt Angst, so doch zumindest Sorge einflößte. Was die anderen jedoch trieben oder dachten, interessierte den Kahlkopf wenig. Er maß seinen Blick mit dem des Bandenchefs. Völlig wortlos fochten sie ein Duell aus, bei dem es um nichts anderes als Stärke ging. Darum, herauszufinden, ob der Krieger bluffte. Ob er wirklich nicht nur so fähig, sondern auch dieses Blutbades und aller möglichen Wunden für sich selbst willens war. „Lasst sie gehen“, hob der Anführer schließlich an. Mit scharfem Tonfall und deutlich lauter wiederholte er seinen Befehl, als zwei seiner Gruppe aufbegehren wollten. Murrend und maulend ließ man das Weib los. Thorin hingegen schritt um den Karren herum, half ihr auf die Füße hoch und zog eine Decke aus der Gesamtheit ihrer Habe. Es hätte dort Kleider gegeben. Andere Trachten. Notfalls Hosen der Männer, die nun tot einige Meter entfernt im Staub lagen. Thorin aber gab ihr eine Decke. Eine lausige, muffige Decke – und überließ den Rest der Bande. Denn ebenso, wie deren Anführer ihn zuvor nicht unnötig hatte provozieren wollen, indem er Befehle bellte, gedachte Thorin kein weiteres Blut unnötig zu vergießen. Hätte er sich nun an dem Karren bedient und dem Weib so viel von ihrer Habe in die Hand gedrückt, wie sie wollte, dann wäre er nicht nur Konkurrenz geworden, er hätte sie den Erfolg ihres Tages gekostet. Zwei der Gemüter waren bereits verstimmt, weil sie nicht auf ihre Kosten mit dieser Fremden gekommen waren. Er gedachte die Wut nicht überkochen zu lassen. Zumal auch der Überlebenden durch die Gabe der Decke eines klar wurde: Was immer sie besessen hatte, gehörte ihr nicht länger. Was sie nun hatte, das waren ihre Schuhe und eine Decke. Und das Glück, noch am Leben und frei zu sein. Vielleicht würde sie ihm irgendwann vorwerfen, dass er nicht den Ochsen aus dem Gespann gelöst und selbst den Karren davon gezogen hatte. Und so recht war er sich nicht sicher, was er dann mit ihr tun würde. Man ließ die beiden ziehen und obgleich der Kahlkopf hinter sich noch das Gemaule und die Beschwerden hörte, vernahm er doch ebenso zufrieden, wie sie strikte Befehle bekamen, vom Karren zu greifen, was immer sie tragen konnten. Es waren noch zwei weitere Tagesreisen bis zum Dorf. Der Hüne teilte seinen knapp bemessenen Proviant mit der Fremden, sprach sonst jedoch kein Wort. Sie selbst suchte ebenso kein Gespräch. Lediglich einmal hatte sie versucht, ihren Dank auszudrücken, war jedoch am Kummer über ihren Verlust gescheitert. Er hörte sie am Abend, wie sie sich in den Schlaf zu weinen schien. Die Welt ist so. Was immer du dir aufbaust, sie erlaubt es dir nur, um es dir dann mit Wonne aus der Brust reißen zu können. Lebe mit diesem Wissen. Gewöhne dich daran. Es wird dir nicht das letzte Mal passiert sein. Nichts davon sprach er aus. Zu sehr hatte der einstige Söldner mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Am letzten Tag ihrer Reise hatten sie obendrein keinerlei Proviant mehr übrig, doch auch das schien weder ihn noch die Fremde zu stören. Er hatte sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt, interessierte sich auch nicht dafür. Erst als sie die Grenze zum Dorf passierten, als die Baumreihen sich lichteten und Platz machten für ein paar einfache Holzpalisaden, auf deren Obergang die Soldaten der Wache patrouillierten, richtete er das Wort an sie. „Habt ihr jemanden hier, zu dem ihr könnt?“ wollte er lediglich in Erfahrung bringen. Sie antwortete nicht, nickte lediglich. Thorin übernahm die Erklärungen am Eingangstor, fasste kurz und knapp den Überfall zusammen. Seine Begleitung schien bereits von den wenigen Worten neuerlich nah an die Tränen herangetrieben zu werden, beherrschte sich jedoch. Der Wächter empfahl ihr, die Wachstube aufzusuchen, sobald sie sich dazu in der Lage sähe, um dem Kommandanten einen genauen Bericht zu erstatten und die Angreifer zu beschreiben. Diesmal nickte sie nicht. Sie reagierte schlichtweg gar nicht auf diesen Hinweis. Als das Tor sich für sie öffnete, schritten beide hinein. Kein weiterer Dank, keine Verabschiedung, sie ging einfach. Ihm war das nur recht. Sein eigener Weg führte ihn an diesem noch immer recht sommerlichen Nachmittag nicht etwa zur Wachstube. Was ihn in diese Gegend verschlagen hatte, war das Gerücht einer hübschen Belohnung für das Einfangen oder zumindest Vertreiben einer Bande von Räubern. Nicht etwa diese paar Amateure, denen er bereits begegnet war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es um die ging. Dafür war die Belohnung zu hoch, dafür waren diese Leute nicht fähig und gefährlich genug gewesen. Dass die Steckbriefe überhaupt existierten war ein Verweis darauf, dass die Wache sie mehrfach zu jagen versucht hatte, daran gescheitert war und stattdessen jetzt mit der Devise vorging: Wir haben uns bemüht, aber die bekommt niemand zu fassen, also seid so klug und reist nur mit Eskorte! Die Dörfler selbst waren es, die nicht gewillt schienen, dieses Maß an Unfähigkeit hinzunehmen. Sie hatten zusammengelegt und mit Erlaubnis der Wache eigene Steckbriefe rausgegeben. Er war sicherlich nicht der Erste, der sich daran versuchte, aber wenn diese Bande wirklich so gut war, könnte er sehr wohl der Erste sein, der sie wirklich zu packen bekam. Entsprechend suchte er nach dem Haus des Dorfvorstehers, zu welchem er sich schließlich gegen frühen Abend einfach durchfragte, da er es leid wurde, im Dorf erfolglos auf und ab zu laufen. Vor dem gewiesenen Gebäude bemerkte er schon frühzeitig einen Rotschopf. Eine junge Frau, vielleicht in der Mitte ihrer Zwanziger, die eine reichlich lange Mähne in zwei Zöpfe zu bändigen versucht hatte. Das, was sie da trug, konnte kaum als Rüstung durchgehen. Ein paar Lederbänder, notdürftig zusammengepfercht und mit irgendetwas aneinander befestigt. Nicht Nadel und Faden, so hoffte der Hüne. Eines aber musste er dem Mädel lassen: Ihr Anblick ließ ihn schmunzeln. Kurz nur, aber er spürte deutlich, wie seine Mundwinkel empor zuckten. Es war eine so… ungewohnte Bewegung. „Pass auf, wo du rumstehst“, fuhr er das Weib an, als er sie direkt vor der Tür zum Haus beinahe umrempelte. Sie kam gehörig ins Schleudern, fing sich jedoch. Offenbar hatte sie wenige Sekunden, bevor er die Pforte erreichte, ebenso entschieden, eintreten zu wollen. Und in dieser lächerlichen Aufmachung schwante ihm bereits, dass sie glaubte, sich ebenso um die Räuber kümmern zu können. Oh wie er es leid war, zu sehen, wie sich jeder Idiot für einen Kopfgeldjäger, Attentäter, Meisterdieb oder fähigen Söldner hielt, nur weil er sich irgendwoher eine billige Waffe und eine lausige Rüstung hatte besorgen können. Schlimmer noch wurde es aber, als die Rothaarige tatsächlich hinter ihm begann, eine Entschuldigung zu nuscheln. Eine Entschuldigung. Genuschelt. Diebe waren die einzige illegale Profession, die von sich behaupten konnte, dass der beste Ruf war, keinen zu haben. Assassinen brauchten einen Ruf, um an gute Klienten zu kommen. Auftraggeber mit einem stattlichen Vermögen. Genauso verhielt es sich bei Kopfgeldjägern und Söldnern. Man zahlte für den guten Namen mit. Denn der gute Name war nur und ausschließlich deshalb gut, weil man ihn sich mit Erfolgen verdient hatte. Söldner standen überdies in einem überaus schlechten Ruf – einem gut gepflegten, schlechten Ruf. Ein Weib wie die dumme Gans da draußen, die sich entschuldigte, und das obendrein so leise und piepsig wie eine von der Katze überraschte Maus… war mehr eine Beleidigung für seinen Berufsstand als alle schlechten Vorurteile gegenüber Söldnern zusammen. Entsprechend scherte sich Thorin nicht. Nicht um sie, nicht um ihre Entschuldigung, nicht darum, ob sie umkippte und im matschigen Boden landete. Stattdessen schloss er die Haustür demonstrativ hinter sich, trat an einen großen, quer stehenden Tisch heran und begann seine Verhandlungen mit dem Dorfvorstand. Er verlangte die dreifache Summe des Angebotenen und begründete diesen Sprung mit genau drei Umständen: Der fortwährenden Unfähigkeit der Wache, der steigenden Verzweiflung der Gemeinde angesichts all der Freiwilligen, die an dieser Aufgabe zuvor schon versagt hatten und schließlich mit seinem Dasein als geldgieriger Bastard von einem Söldner. Der Alte auf der anderen Seite des Tisches versuchte zwar zu verhandeln, doch Thorin hatte Blut gewittert. Diese Leute waren auf Leute wie ihn vorbereitet gewesen, sie hatten mit solchen Frechheiten gerechnet, was vor allem bedeutete: Sie hatten so viel Geld. Und wenn sie es schon mal hatten, konnten sie es ja auch hergeben. Entsprechend blieb er hart, als sein Gegenüber ihn ein wenig herunterhandeln wollte und ging mit der Zusicherung des dreifachen Lohns hinaus. Ein guter Tag soweit. Obendrein hatte das Dorf alles schriftlich festgehalten, sodass es sogar eine gewisse Seriosität gab, da das Siegel der Wache auf dem Papier aufgebrannt war. Kaum hinausgetreten, stemmte er die Fäuste zufriedenen Blickes in die Hüfte und blickte über die Dächer des Dorfes hinweg in den hoch aufragenden Wald hinein. Ein paar Räuber verscheuchen also. Ein Kinderspiel. Er würde einfach- „Ähem… äh… E-Entschuldigung?“ Unter einem deutlich hörbaren, enervierten Seufzen senkte er den Blick, senkte ihn ein ganzes Stück, bis er diese verdammte Möchtegernsöldnerin wieder im Visier hatte. „Was?“ brummte er lediglich wortkarg. Sie deutete an ihm vorbei, haspelte ein wenig herum und brachte keinen ganzen Satz zustande. Dennoch kam durch, dass sie hinein wollte und er den Eingang ja immerhin blockierte. Nicht, das er das nicht auch vorher schon gewusst hatte, doch selbst jetzt schien sie nicht wirklich zu begreifen, wie unglaublich ungeeignet sie war. Entsprechend trat der Kahlkopf bei Seite und schüttelte lediglich das Haupt, als die Rothaarige im Inneren verschwand. Er lehnte sich neben der Tür an die Wand, verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust und versuchte zu lauschen, doch mehr als ein gelegentliches Piepsen konnte er kaum vernehmen, alles war einfach viel zu leise. Als sich die Tür wieder öffnete und das Weib heraustrat, sah er sich bemüßigt, sie nun seinerseits anzusprechen. „Was wolltest du da drin?“ verlangte er zu wissen. Scheu kuschte sie sofort einen Schritt zurück, sprach ihn mit ‚Herr‘ an und erklärte, sie habe ihre Hilfe angeboten. „Das ist mein Auftrag. Ein Rat: Halt dich fern.“ Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr ihre Art zu sprechen merkwürdig bekannt vorkam. Nicht zuletzt deshalb, mehr einer Ahnung wegen, wollte er das Gespräch so knapp wie möglich halten. Er stieß sich von der Hauswand ab und schritt an ihr vorbei, sie abermals mit der Schulter anrempelnd. Vielleicht war ja wenigstens das deutlich genug. Den restlichen Tag über ließ er es sich gut gehen. Im Gasthaus einquartiert, hatte er sich ein Zimmer geben lassen, hatte eine gewaltige Platte bestellt und über den Verlauf von zwei Stunden hinweg leergegessen. Alles auf Kosten des Hauses, für den zukünftigen Wohltäter. Angesichts seiner reichlich imposanten Gestalt war es nicht schwer gewesen, den Hausherrn davon zu überzeugen, dass es das Beste für das Dorf sei… und für ihn. Seitdem hatte er sich schon vier Krug Bier kommen lassen, als ausgerechnet das kleine Prinzesschen eintrat. Sie sah sich an der Tür stehend um, bis jemand anderes hinein wollte und sie bei Seite drängte. Wie schon der Krieger zuvor, wurde sie angeschnauzt und sie entschuldigte sich artig, wenn auch leise. Schließlich schlich die Rothaarige zum Tresen herüber und sprach mit dem Wirt, der sichtlich nicht gewillt war, länger als nötig mit ihr zu plauschen. Dass er die buschigen Brauen hob sprach dafür, dass dieses Sommersprossengesicht irgendwas Lustiges zu erzählen hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf und deutete stattdessen auf das Schwert, welches sie einfach mit sich herumschleppte. Sie griff danach, schüttelte überraschend vehement den Kopf und der Wirt zuckte mit den Schultern. Er war gewillt, seine Arbeit fortzusetzen, bis sie sich etwas vom Finger zog, einen Ring möglicherweise, den der Gasthausbesitzer als ausreichend befand. Erst dann drückte er ihr einen der Zimmerschlüssel in die Hand und schon jetzt, da er nur auf die Distanz und außerhalb jeglicher Hörreichweite diese Szene verfolgt hatte, wusste Thorin ganz genau, dass dieses Weib sich gerade gnadenlos hatte über den Tisch ziehen lassen. Seufzend schüttelte er den Kopf, bis plötzlich jemand die Sicht versperrte. „Hm?“ Er zog verärgert die Brauen zusammen und blickte auf, entspannte sich jedoch ein wenig, als  vor ihm die Frau auftauchte, die er vor dieser Bande stümperhafter Idioten gerettet hatte. Tiefe Furchen unter ihren Augen zeugten von wenig befriedigendem, falls überhaupt vorhandenem Schlaf. Sie wirkte erschöpft, die Augen waren noch immer rot geädert. Offenkundig hatte sie, bei wem immer sie untergekommen war, sich gehörig die Augen ausgeheult. Doch immerhin, sie trug wieder Kleidung. Nicht einmal Schlechte obendrein, vermutlich gehörte sie also zu irgendeiner größeren, mittelständischen Familie. Fast bedauerte der Hüne ein wenig, dass es nicht länger nur die Decke war, die sie um ihre Schultern wickelte. Sie hatte überaus weibliche Rundungen und das wiederum gefiel ihm. Es erinnerte ihn jedoch auch wieder. Entsprechend hin- und hergerissen seufzte er auf, als sie begann, sich entschuldigen zu wollen. Er würde hier sitzen, sie stand und würde erzählen und erzählen, was nicht alles geschehen sei, was der ursprüngliche Plan gewesen wäre, bevor es zu diesem schrecklichen Desaster kam, wie es nun weitergehen solle. Er aber war kein Mann der höflichen Sorte, der des Anstands halber so tat, als würde ihn das wirklich interessieren und er würde nicht lediglich nicken, um ihr noch etwas länger in die prall gefüllte Auslage starren zu können. Entsprechend schnitt er ihr schon nach kurzer Zeit unhöflich, aber direkt das Wort ab. „Hör zu, Hübsche“, begann er wohlwissend, sie möglicherweise damit bereits verärgert zu haben. Aber so war das eben, wenn die Dinge unbequem wurden. Er hatte sich ja unbedingt einmischen müssen. Keine gute Tat blieb ungestraft und er wollte wetten, dass sich dieser Spruch jede Sekunde bewahrheiten würde. „Da ist kein Herz, das deine Worte wärmen könnten“, erklärte der Hüne und klopfte sich mit der geballten Faust auf die linke Brust, „Da ist schon eine Weile keins mehr. Aber da oben, da sind Laken, die du mir wärmen könntest. Und ich kann dir versprechen: Du wirst an nichts anderes mehr denken und wenn du einschläfst, wirst du eine ganze Weile gar nichts mehr denken.“ Es waren keine Anzüglichkeiten darunter gewesen. Sicherlich, das Angebot war von reichlich fragwürdiger Moral. Sie mochte möglicherweise gerade Sohn und Mann verloren haben – er hätte es genau gewusst, hätte er sie weitersprechen  lassen -, und nun bot er ihr an, ihr die Erinnerungen an ihren Verlust aus dem Verstand heraus zu vögeln, genauer gesagt, diese leidigen, schmerzvollen Erinnerungen gleich mitsamt ihrem Verstand heraus zu vögeln. Doch er hatte sich all die Sprüche verkneifen können, die ihm auf der Zunge lagen. Über ihre recht üppige und für ihr Alter gut gehaltene Brust, über die prallen Hüften, über die strammen Schenkel. Es war ja nun nicht so, als hätte er nicht selbst einen Blick riskiert, als sie dort nackt auf dem Staub der Straße lag. Und dennoch: Das Klatschen der Maulschelle hörte man im gesamten Schankraum über die Lautstärke aller Gespräche und des Gelächters an einem Tisch hinweg. Abrupt wurde es viel, viel stiller, Männer drehten sich um, andere sahen von ihrem Essen oder ihren Karten auf. Die Überlebende aber stand vor ihm, einen Abdruck ihrer Hand hatte sie auf seiner Wange hinterlassen, ihre Schultern bebten, sie zitterte, ihr Atem wurde unregelmäßig und neue Tränen rannen ihre Wangen herab. Einen kurzen Moment blitzte Zorn in seinen Augen auf. Sie sah es. Sie sah es, fürchtete es und trat einen halben Schritt zurück, erkennend, das der Mann, welcher sie gerettet hatte und dem sie hatte danken wollen, möglicherweise keinen Deut besser war als die, die sie überfallen hatten. Er, im Gegensatz zu diesen Halunken, hatte möglicherweise einfach nur einen generösen Tag gehabt. Thorin bekam sich unter Kontrolle, der wütende Ausdruck verschwand. Das hier war unvermeidbar gewesen, das war ihm klar. Besser, sie erkannte es jetzt, als sich noch Tage und Wochen zu grämen oder zu fragen, was falsch gelaufen war. Sein Gast machte auf dem Absatz kehrt und verschwand aus der Taverne. Ein paar der Männer blickten ihn noch einen Moment an, manche grinsend, andere geradezu rügend, als hätte er irgendetwas verbrochen. Vermutlich glaubten sie sogar, er habe das. Sicherlich sprach sich schnell genug herum, wer er war. Wer sie war. Was er getan hatte. Und nun das – wie konnte er es nur wagen, sie zum Weinen zu bringen? Nach allem, was die Ärmste durchlitten hatte? Verächtlich schnaubend packte er seinen Krug, nahm einen sehr, sehr tiefen Zug und stellte ihn leer recht geräuschvoll wieder ab. Sein Blick schwirrte durch den Schankraum, erfasste wieder die Rothaarige. Als Einzige unter all den Gästen starrte sie ihn noch immer an. Erst jetzt schien sie sich darüber klar zu werden und wandte sich hastig um, damit sie weiterhin den Wirt um diverse Nerven erleichtern konnte. Geradezu wölfisch musste der Kahlkopf bei der Vorstellung grinsen. Er hatte kein Mitleid. Mit keinem von denen. Jeder Mensch, jeder Elb, Zwerg und Gnom, hatte all das Übel dieser Welt verdient, was ihm widerfuhr. Die Meisten sogar noch weit mehr. Und schuldig… schuldig waren sie alle. An diesem Abend begab sich der Krieger angetrunken zu Bett, mit dem heldenhaften Vorhaben, am nächsten Tag auszuziehen und den Räubern einen Teil ihrer Kopfgelder zuzusichern, wenn sie sich dafür eine andere Gegend zum Wildern suchen würden. Banden wie diese gab es zuhauf. Wurde eine gefasst, war die Woche darauf die Nächste da. Diese hier schien ganz gut etabliert, nicht übermäßig brutal oder gewalttätig. Sie erleichterte viele um all ihre Habe, tötete aber nur selten und hatte bisher niemanden entführt. Nach Thorins überaus fachkundiger Meinung… gab es wirklich Schlimmere und genau die würden ankommen und den frei gewordenen Platz einnehmen. Besser, man behielt den zahmen Teufel, statt ihn gegen einen Tollwütigen auszutauschen.   Siddarmark. Seit Vivica hier angekommen war, fühlte sie sich wohler. Freier. Sie hatte das bedrückend enge Korsett einer Gesellschaft hinter sich gelassen, war entschlüpft. Sie hatte bewiesen, alleine auf sich aufpassen zu können. Gerne wäre sie stolz heim zu Nerwen, hätte an die stets ein wenig vereiste Tür der einsam vor den Toren Xeranors stehenden Hütte gepocht und der alten, verbitterten Elbe gesagt, wie wunderbar sie alleine zurechtgekommen sei. Doch… andererseits fürchtete sie sich davor. Genug, um Lumiél zu verlassen. Eins kam zum anderen, so hätte Alandor es sicherlich gesagt. Eine Verkettung von Ereignissen, welche sie in letzter Konsequenz wie die Ertrinkende hier an die Küste geschwemmt hatte. Sie würde heimkehren, gewiss. Eines Tages würde sie auf einem der großen Schiffe die Überfahrt in die Heimat buchen, sie würde den langen Weg von Sundergrads heißer Sonne über das saftig-volle Grünland bis hinauf in die frostigen Schneeländer auf sich nehmen, sie würde ihrer Ziehmutter gegenübertreten und beweisen, was in ihr steckte. Sie gedachte das zu tun, indem sie Nerwen klar aufzeigen konnte, das sie sich geirrt hatte. Klar und unwiderlegbar, sodass die alte Elbe keinerlei Chance bekam, daran herumzudeuteln oder sie auf Basis irgendwelcher Halbwahrheiten, Verdächtigungen und Vermutungen wieder für den Rest ihres Lebens wegsperren zu wollen. Nötig war dazu eigentlich nicht viel. Sie musste nur eine Heldin werden. In ihren Träumen und sehnsüchtigen Vorstellungen war das immer so viel einfacher gewesen, als es sich bisher erwies. Sie kam in die Dörfer und Städte, wurde willkommen geheißen. Man klagte ihr das größte, vorherrschende Leid und sie nahm sich der Sorgen der Bürger an. Mit dem Schwert in der Rechten und unerschrocken-mutig trat sie allem Übel entgegen, würde die Probleme auflösen und als Retterin geehrt und gefeiert werden. Dann zog sie weiter, um das Spiel zu wiederholen. Bis ihr Name im ganzen Land und weit über seine Grenzen hinaus bekannt wäre! Immer wieder im Verlauf ihrer Reise war die Firnhexe jedoch gezwungen worden, an sich herab zu schauen. Sie sah nicht unbedingt aus wie die Heldin, die sie in ihren Träumen und Vorstellungen war. Eher wie… wie hatte dieser Bauernlümmel im Hafen sie genannt? Ein Landei, das glaubt, sie wäre etwas Besonderes. Aussprüche wie diese taten ihr nicht einfach nur weh. Sie ernüchterten. Sie zogen sie herab und drohten ihr immer wieder das wenige bisschen Mut zu stehlen, welches sie für dieses Unterfangen hatte zusammenkratzen können. Dabei hing inzwischen so viel mehr an ihren Plänen als nur, Nerwen zu beweisen, dass sie sich geirrt hatte. Es gab andere, die auf sie zählten. Menschen, die ihr wert und teuer werden… die darauf vertrauten, dass sie nicht aufgab. Egal wie unschön die Dinge waren, die andere ihr nachriefen. Immerhin einen Vorteil hatte ihre Reise nach Siddarmark: Rothaarige waren hier ein klein wenig häufiger anzutreffen, weshalb niemand auf die Idee kam, ihr Steine nachwerfend etwas über Hexen zu brüllen und das man den Zirkel holen und sie abfackeln würde. Überhaupt schienen die Leute hier – zumeist – ein wenig netter zu sein. Auch fröhlicher. Freundlicher. Die Wachen zogen nicht fortwährend dieses schrecklich miesepetrige Gesicht oder gafften einen an, als würden sie einen jede Sekunde anspringen und fressen wollen. Alandor hatte ihr damals erklärt, Siddarmark sei ein hübscher Flecken Erde, solange man nicht versuchen würde, etwas zu stehlen. Und solange man nicht auf die Idee kam, mit irgendwem wegen irgendetwas verhandeln zu wollen. Aber sie war ja auch nicht hier, um zu verhandeln. In der Heimat waren die Dinge… chaotisch. Viele große Namen balgten herum, Allianzen, deren genaue Bedingungen niemand so recht kannte, wurden in Windeseile geschlossen, zerschlagen, verraten, aufgelöst, Fraktionen erhoben lauthals fordernd ihre Stimmen, um dann im Geheimen flüsternd zu verklingen. Es war… einfach kein Ort mehr gewesen, um sich als neuer Stern am Himmel der legendären Abenteurer zu präsentieren. Die Öffentlichkeit war bereits überlastet mit zu vielen Namen, die an jeder Ecke gewispert wurden. Siddarmark hingegen war viel ruhiger. Hier würde man sicherlich dankbarer sein, wenn man etwas zu erzählen hatte. Zumindest glaubte sie das über die ersten Tage ihrer Reise hinweg. Doch egal, wie oft sie in ein Dorf kam: Man nahm sie nicht wahr. Höchstens ein paar irritierte Blicke hier und da. Es kam auch niemand ausgerechnet zu ihr und klagte ihr sein Leid. Im Gegenteil. Kam sie zu jemandem und fragte, was es zu tun gäbe… dann bekam sie das, was sie schon kannte. Sie durfte dabei helfen, Ställe auszumisten. Oder im Haus Ordnung zu schaffen. Äcker zu pflügen und das Vieh zu füttern. Einmal half sie sogar einer überaus misstrauisch wirkenden Bäuerin, ein Fohlen zur Welt zu bringen. Man trug es sofort danach davon, so als könne sie sich das kleine Ding einfach in die Tasche stecken und davonrennen wollen. Keine heroischen Aufgaben. Keine Monster zu erschlagen, keine Entführten zu retten, keine Dämonen zu vertreiben. Wobei ihr die Dämonen nach ein paar unschönen Erfahrungen im Norden Lumiéls ohnehin gerne gestohlen bleiben konnten. Darum durfte sich der Zirkel der Magier kümmern, dafür war er ja immerhin da, nicht wahr? Stattdessen hatte sie in Scheunen übernachtet. Aus Viehtränken getrunken. Ihren Wasserschlauch an öffentlichen Brunnen aufgefüllt. Sie bekam in den Gasthäusern gutes Essen, befand sie selbst zumindest – solange sie dafür arbeitete. Als Bedienung brachte sie den Gästen ihre Krüge, ließ sich die forschen Sprüche, die frechen Töne und dreisten Gesten gefallen. Sie hatte versucht, ihr Aussehen anzupassen. Irgendetwas musste damit ja nicht stimmen, das man sie einfach nicht ernst nahm und stets nur als Magd einzusetzen bereit war. Sie trug ihr Schwert anfangs geschultert, weil sie das als weniger umständlich befand. Später kaufte sie sich von ihrer wenigen Habe einen Gürtel samt Scheide, trug es stets gut sichtbar über all ihren Kleiderschichten. Doch das genügte nicht, also begann sie, wenn auch sehr unwillig, weniger zu tragen. Mehr noch als das, musste sie einsehen, dass es vor allem anderes sein sollte, was sie würde tragen müssen. Hosen zum Beispiel, obwohl für eine Frau nun eigentlich nicht schicklich. Das gehörte sich nicht, Hosen waren Männersache… doch sie überwand sich. Es kostete Zeit, aber sie schaffte es. Jede kleine Veränderung fühlte sich wie ein Sieg an. Ähnlich war es mit der Rüstung. Einem alten Schmied hatte sie geholfen, seinen Karren mitten im Unwetter aus dem Schlamm zu ziehen, als er stecken blieb. Sie hätten sich beide Tod und Teufel holen können. Zum Dank hatte er ihr eine einfache Lederrüstung herausgesucht. Sie hatte sie erst ablehnen wollen, doch ihr wurde noch während sie dazu anhob klar: Abenteurer brauchten Rüstungen! Und sie, sie erinnerte sich noch genau an ihren letzten Versuch, eine zu bekommen. Sie hatte ihren Geldbeutel auf einem Tresen ausgeleert und den Schmied gefragt, was sie dafür bekäme. Er hatte sie ausgelacht und erklärt, dass ein paar Armschoner vielleicht drin wären. Verschmäht wagte sie kaum zu fragen und schluckte schwer, als er ihr obendrein sagte, was eine richtige, ordentliche Rüstung zu kosten habe. So viel Geld würde sie nie zusammenbekommen! Nie im Leben, nicht mit allen Ställen, Gasthäusern und Kälbchen dieser Welt! Das er ihr da ausgerechnet eine Rüstung schenken wollte, das war ausgezeichnet, das war wie ein Wink der Götter! Obendrein erwähnte er, sich diese Belohnung überlegt zu haben, weil er ihr Schwert bemerkt hatte. Sogar dafür wollte sie ihm dankbar um den Hals fallen. Jemand hatte es bemerkt! Jemand hatte es bemerkt und hatte sich etwas dabei gedacht. Das war ein Anfang. Und es war eine ungeheure Erleichterung, erkennen zu dürfen, dass ihre Veränderungen durchaus wahrgenommen wurden und damit nicht umsonst waren. Hier und da hatte sie natürlich ein wenig ausbessern müssen. Er wies ihr die Stellen und erklärte, wie sie das am besten anstellen könne und sie gab sich wirklich Mühe. Das er ihr nicht gleich sein teuerstes Werk nachwarf, das war ihr völlig klar gewesen. Das wäre ja auch irgendwie unverschämt, es dann anzunehmen. Immerhin hatte sie ja nur einen Karren gezogen. Doch nach diesem Hoch folgte auch wieder die allmähliche Ausnüchterung. Sie kehrte zurück zu Leuten, die ihr Ställe als Obdach, Essen gegen Arbeit und Wasser aus Brunnen boten, sie kehrte zurück zur Bedeutungslosigkeit eines herumziehenden Niemands, der gewiss nicht bei größeren Nöten um Rat gefragt wurde. Sie erinnerte sich häufiger daran, wie Peter über Sundergrad gesprochen hatte. Ihr Aufenthalt dort war aufgrund der fest eingeplanten Abfahrt des Schiffes nur sehr, sehr knapp ausgefallen, doch die Stadt hatte mit ihrem viel zu dichten Gedränge, der überaus knapp geschnittenen Mode und der brütenden Hitze nicht unbedingt den besten Eindruck bei ihr hinterlassen. Ihr war damals rasch klar geworden, dass Welten zwischen Peter und ihr lagen, auch zwischen dem, was sie schön und angenehm fanden. Dennoch musste sie in Siddarmark häufiger an den Zirkusjungen denken. Er hatte nicht nur von der Stadt geschwärmt. Es waren Details, die nachts, wenn sie auf ihrem Bett lag, langsam zu ihr vorkrochen und in ihren Geist eindrangen. Hauptsächlich Details darüber, wie der große Adamant zu einem halben Dutzend Identitäten gekommen war, zu Geld, einem klein wenig Wohlstand und einem akzeptablen Ruf. Akzeptabel nach seinen Kriterien natürlich. Gerüchte hatten dabei eine große Rolle gespielt und Vivica war manches Mal durch die Dörfer gezogen, hatte Häuser umschlichen oder die gleiche Straße ganz zufällig drei, vier Mal frequentiert, in der Hoffnung, sie könne auch etwas aufschnappen. Ein zufälliges Gespräch vielleicht, ein paar der berüchtigten Waschweiber beim Tratschen, aber… dieses Glück war ihr natürlich nicht vergönnt. So, so schien es, funktionierte das mit den Gerüchten also nicht. Es dauerte ein paar Tage, ehe sie sich des zentralen Elements wirklich klar wurde: Kneipen. Eben die Art von Gasthaus für die niederen Schichten, in denen sie häufig gearbeitet hatte und es noch immer tat. Nur wusste sie aus erster Hand reichlich gut: Wer mit zehn Krügen gleichzeitig balancierte oder fünf Portionen Essen austrug, durch eine raufende oder tanzende Menge, vorbei an Männern, die ihr einen Klaps auf den Hintern geben wollten, nur weil sie keine Hand für eine Ohrfeige frei hatte – unabhängig davon, dass sie sich nie gewagt hätte, eine zu erteilen -, der hatte genug zu tun. Zu viel, um ‚nebenbei‘ auch noch Teil der Gespräche zu werden oder wenigstens zuzuhören, was so getratscht wurde. Ein paar Wochen nach ihrer Ankunft im Land der Pferdeherren gewöhnte sie es sich daher an, die ersten paar Abende im örtlichen Gasthaus zu arbeiten, ehe sie sich dann zwei oder drei Tage als Gast direkt ins Gedränge setzte. Sie konnte nicht behaupten, das zu mögen. Überall wurde gedrängelt, geschoben, betatscht. Ihr war es stets lieber gewesen, ein wenig Abstand zwischen sich und anderen zu wissen. Doch nur so konnte sie ihre Augen und Ohren überall ein wenig haben. Gerade anfangs erwies sich das als schrecklich. Schrecklich anstrengend, schrecklich überfordernd, schrecklich unnütz. Sie schnappte viel auf, oh ja doch. Vieles klang so, wie es erzählt wurde, sogar überaus spannend. Doch mit inzwischen sechsundzwanzig Jahren war selbst Vivica nicht mehr naiv genug, all die Räuberpistolen zu glauben, die da in völlig überzogener Manier zur Belustigung eines breiteren Publikums wiedergegeben wurden. So lernte sie, dass Tische, an denen viel gelacht wurde, eher von geringerem Nutzen und Interesse waren. Tische, an denen die Gäste sich beständig umsahen waren solche, bei denen man im Interesse der eigenen Gesundheit nicht zu sehr zuhören sollte. Interessant waren dagegen meist die, die die Köpfe zusammensteckten, ohne sich beständig nach Wächtern oder Verfolgern umzuschauen. Als sie auf diese Weise vor ein paar Tagen endlich etwas Nützliches aufgeschnappt hatte, wäre sie beinahe vor Freude jauchzend aufgesprungen. Nun wiederum befand sie sich schon vier Tage auf der Reise nach Süden, tiefer ins Hinterland Siddarmarks hinein. Ihr gefielen die gewaltigen Wälder hier, riesig gewachsene Laubbäume und dichtes Unterholz, man konnte wunderbar jagen und rasten. „Na wen haben wir denn da?“ erkundigte sich plötzlich eine fremde Männerstimme. Vivica zuckte überrascht zusammen und blickte sich um. Aus einem der dichten Gebüsche trat ein junger Mann hervor. Schwarze Locken, ein Leinenhemd. Sie bemerkte den Dolch an seinem Gürtel ebenso wie den Bogen in seiner Hand. „Ganz allein unterwegs? Ist eine gefährliche Gegend hier. Hab gehört, es soll eine Räuberbande in der Nähe geben“, erklärte der Lockenkopf mit sonnigem Lächeln und sichtlich gut gelaunt. Die Rothaarige entspannte sich etwas. Alandor hatte ihr vor langer Zeit gesagt, solle sie je wirklich kämpfen wollen, wären ihre Haare eine Schwachstelle. Er fand sie schön, wie er gesagt hatte und sie wusste noch, wie ihr die Röte in die Wangen geschossen war, doch sie würden ab müssen. Ihre hübschen Haare einfach abschneiden… nein, das hatte sie nicht übers Herz gebracht. Aber Linh zeigte ihr, wie sie daraus ordentliche Zöpfe flechten konnte. Diese trug sie seither und neigte in einer schlechten Marotte dazu, ständig an den einzelnen Haaren des rechten oder linken Zopfes herumzuzupfen, sobald sie nervös wurde. Als sie sich diesmal dabei erwischte, warf sie ihren Zopf beinahe hastig über ihre Schulter zurück. „J-Ja, ich weiß!“ erklärte sie und versuchte möglichst selbstsicher zu klingen, „Ich habe davon gehört, meine ich. Also, ich… hm… ich bin Vivica!“ Der Schwarzhaarige stellte sich als Bran vor und erklärte auf ihre Frage nach den Waffen hin, dass er auf der Jagd gewesen sei. Großwildjagd. Den Dolch brauche er lediglich… nun, weil es eben keine so sichere Gegend war. Als sie daraufhin stolz behauptete, sie würde das ändern, lächelte Bran freundlich. „Ich bin sicher, dass du dein Bestes versuchen wirst“, erklärte er und legte ihr in einer geradezu brüderlichen Geste die Hand auf die Schulter. Seine Zweifel als Bestätigung missverstehend, lächelte Vivica nur noch breiter. „Und das willst du mit dem Schwert anstellen? Sieht… ziemlich teuer aus. Darf ich es mir mal ansehen?“ Sie blickte an sich herab. Rüstung, Hosen, Wanderstiefel. Einen Moment war sie zuversichtlich. Alles sah schon so viel besser aus, so viel mehr nach einer ernstzunehmenden Heldin! Dann jedoch wanderte ihr Blick zu dem Schwert an ihrer Seite. Nur langsam zog sie es aus der Scheide. „Ihr müsst mir versprechen, damit sehr vorsichtig zu sein. Es ist wirklich fürchterlich scharf.“ Vorsichtig reichte sie die Klinge weiter. „Es gehörte einem Freund“, erklärte sie einen Moment noch strahlend, ehe ihre Miene sich trübte, „Ich hoffe, ich kann es ihm irgendwann wieder zurückgeben…“ „Geht ihr ihn besuchen?“ wollte Bran wissen, doch sie schüttelte den Kopf. „N-Nein… es… e-es ist… kompliziert. Er ist nicht mehr hier.“ Die Antwort so rätselhaft hinnehmend, wie sie war, erkundigte er sich nach dem kleinen Goldring an ihrem Finger. Vivicas Miene wurde noch etwas betrübter. „Den hat mir ein Freund geschenkt… a-also, ein anderer Freund.“ „Ist der auch ‚nicht mehr hier‘?“ erkundigte sich Bran eigentlich eher aus Jux, runzelte jedoch die Stirn, als sie lediglich nickte und den Blick auf das kleine Schmuckstück geheftet hielt. „Nun gut…“ seufzte der Lockenkopf. Er hob die Hand an die Lippen und stieß einen lauten, hellen Pfiff aus. Die Firnhexe erschrak fürchterlich und zuckte zusammen, erst recht, als plötzlich eine ganze Reihe anderer Gestalten aus den Büschen hervorsprangen. „Ich habe das Schwert. Und ich denke, sie ist harmlos“, erklärte Bran und nahm etwas Abstand von Vivica, die ihn irritiert anblickte und wissen wollte, was denn los sei. „Das hier, mein Liebchen, ist ein Überfall. Und die Räuber, von denen du gehört hast, das sind wir.“ Ihr Herz schien völlig aus dem Takt zu stolpern, als sie diese Worte vernahm. So sehen doch keine Räuber aus! Wo sind sie verlotterten Bärte? Die Lumpenkleider! Die… das… d-das ist alles verkehrt…! „Mein Schwert… b-bitte gebt es mir zurück!“ wünschte sie sich, doch Bran schüttelte auflachend den Kopf und erklärte, das sei so ziemlich das Dümmste, was er gegenwärtig tun könne. „Bisschen dumm, hm?“ hakte ein beinahe vollständig vermummter Kerl nach, der sich mit zwei Dolchen von der Seite angenähert hatte. Bran hingegen zügelte diesen. „Nein, ich denke nicht. Aber geradezu herzallerliebst naiv“, erwiderte er, verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und legte den Kopf ein wenig schief, als würde ihm das helfen, die inzwischen völlig eingekreiste Rothaarige besser abzuschätzen, „Weißt du, du hast Glück, das ich dich gut leiden kann, Vivica. Leute wie du sind selten geworden, gerade dieser Tage. Darum… nehmen wir dein Schwert und den Ring. Alles andere darfst du behalten und gehen. Ich würde dir nur raten, nicht wieder in unsere Gegend zu kommen.“ Das Schwert. Der Ring. Sie wollten ausgerechnet zwei der drei Dinge, von denen sie sich unmöglich trennen konnte. Sie verlangten danach und sie, sie stand da und stammelte. Wie hatte denn alles so schnell aus dem Ruder laufen können? „Bitte… bitte, Bran! Ich möchte euch nicht wehtun, niemandem hier… gebt mir bitte mein Schwert wieder und… u-und verlasst einfach diese Wälder… j-ja?“ Helden töten Monster. Keine anderen Menschen. Mit anderen Menschen redeten sie, brachten ihnen Vernunft bei, zeigten ihnen ihre Fehler auf und gaben ihnen eine zweite Chance. Bran hingegen zuckte mit den Schultern und erklärte, er habe ihr ein gutes Angebot unterbreitet, aber sie wolle offensichtlich nicht annehmen. Als einer seiner Männer abrupt von hinten vorsprang und sie an den Handgelenken packte, erschreckte sich die Firnhexe. Der Aggressor bekam das als Erster zu spüren – ein Kälteblitz fuhr durch seine Hände und ließ seine gesamten Arme binnen Sekunden taub werden. „Teufel noch eins!“ rief der aus und sprang zurück, „Die’s kalt wie der Winter!“ Vivica wiederholte ihre Bitte, doch das eben noch sonnige Lächeln Brans war verschwunden, war einer hart kalkulierenden Miene gewichen. Er nannte die Namen zweier, die sie angreifen wollten, sie packen und zu Boden bringen sollten. Gerade als man sie in den Staub drückte und ihr den Ring mit einem Dolch samt Finger von der Hand trennen wollte, schrie die Rothaarige in ihrer völligen Verzweiflung auf. Es war das für einen Wald dieser Größe notwendigerweise reichlich vorhandene Grundwasser, welches ihrem Ruf folgte. Jahrzehnte dicke Schichten von fester Erde und Gestein brachen rüttelnd und rumorend auf, das Beben irritierte die Räuber sichtlich, ein paar rangen sogar um ihr Gleichgewicht – da brach direkt neben der Firnhexe der Boden auf. Eine gewaltige Eislanze schoss daraus hervor, bohrte sich durch die Brust des Angreifers, der ihr den Ring hatte nehmen wollen. Wie eine endlose Pike wurde der Angreifer davongetrieben, von jenem Eispfahl, der sich immer weiter aus dem Boden bohrte und ihn senkrecht in die Hohe schob, bis das Eis ihn an einem Baum schließlich festpinnte. Die Räuber gerieten in helle Panik, stoben auseinander und flohen in alle Richtungen. Bran warf einem anderen das Schwert zu, als Vivica ihnen nachschrie, das sie es zurücklassen sollten. Weißbläuliche Augen erfassten mit kalter Wut den Rennenden, sie streckte die Hand aus und eine zweite Lanze bohrte sich aus dem Grund, spießte den Flüchtenden auf. Gut drei Meter hinter über dem Boden, auf Höhe der Straßenmitte, als er das Schwert endlich fallen ließ und der Speer zu wachen aufhörte. In wenigen Stunden wäre alles weggetaut, sicherlich… doch die zwei großen Löcher im Boden würden bleiben, die bis hinab zum Grundwasser führten. Vivica erhob sich, blickte sich um. Blut der zwei Gepfählten rann aus ihren Leibern am Eis entlang gen Boden. Das Licht, welches durch das dicke Blätterdach fiel, brach sich im Eis und ließ das Blut in verschiedenen Rottönen schimmern. Es hätte wunderschön sein können, wäre es nicht solch ein grausiger Anblick gewesen. „Es tut mir so entsetzlich leid…“ hauchte Vivica beschämt. Sie schritt um den ersten Pfahl herum, hob ihr Schwert vom Boden… und setzte ihren Weg fort. Deine Magie reagiert für dich, wenn du es nicht tust. Das funktioniert instinktiv, du kannst es nicht steuern. Also solltest du endlich aufhören, dir alles anzulasten, was geschieht, wenn andere dich in Zwangslagen bringen! Sie hätten es ja auch einfach sein lassen können, nicht wahr? Alandors Worte, obgleich er nicht mehr da war, schmerzten noch heute. Sie begleiteten sie, während sie endlich die Tore des Dorfes passierte. Sie allein, Vivica Aandergast, hatte zwei Leben genommen. Schon wieder. Dabei hatte sie sich geschworen, ihre Magie nicht einzusetzen. Eine wahre Heldin durfte nicht gefürchtet werden, aber Hexen wurden unweigerlich gefürchtet. Immer. Überall. Also musste sie mit dem auskommen, was Alandor und Teneros ihr an Schwertkunst hatten vermitteln können. Das war ja immerhin auch nicht wenig! Dennoch hatte sie ihre Zweifel, als sie sich durch das Dorf gefragt hatte, wo es denn zum Vorsteher ginge. Vor der Tür des Hauses schritt sie über Stunden hinweg auf und ab, das Für und Wider mit sich selbst besprechend. Die offensichtlich verstörte Rothaarige, die nuschelnd und brabbelnd vor dem Haus des Dorfältesten herumlungerte, rief zwar bei einigen Dorfbewohnern und ein paar patrouillierenden Wachen verwunderte Blicke hervor, aber noch sah niemand Handlungsbedarf. Sie hatte ihre Magie nicht im Griff. Lange hatte sie sich darüber belügen können, doch dieser Zwischenfall hatte es wieder bewiesen. War sie wirklich die Richtige, diesen Leuten zu helfen? Was, wenn sie alles noch schlimmer machen würde? Wenn sie noch mehr Menschen töten würde? Bran musste jetzt schon fürchterlich schlecht von ihr denken – zu recht obendrein! Sie sollte sie denn da vernünftig mit ihm reden? Und was ist mit Alandor? Peter? Linh? Teneros? Du kannst jetzt nicht einfach aufgeben! Ihre Leben sind vielleicht in Gefahr. Du hast es versprochen, Vivica, also überwinde dich und sprich mit denen! Sie atmete tief durch, raffte all ihren Mut zusammen. Sie würde dort hinein gehen. Sie würde so selbstsicher auftreten wie nie zuvor und sie würde Bran und seine Bande verjagen, ohne Magie, jawohl! Kaum aber wandte sie sich um und setzte einen Schritt, kam eine menschliche Dampfwalze daher. Dieser jemand rannte nicht einmal, er lief nur. In völlig normalem Schritttempo. Doch als sie kollidierten, da schien es, als würde ein Fischerboot vor eine Galeone geschoben – sie prallte einfach ab. Gehörig strauchelnd ruderte sie mit den Armen, um nicht hinzufallen. Hier war eine Menge Matsch, wohl vom letzten Regenguss und mit völlig verdreckten Sachen konnte sie sich ja wohl kaum dort drinnen sehen lassen und mit einer Respektsperson sprechen! „E-Entschuldigung, d-das tut mir wirklich wahnsinnig leid, ich habe einen Moment wohl nicht aufgepasst u-und…“ Sie hatte hastig daher geplappert, nervös wie eh und je und war obendrein auch noch immer leiser geworden. Der Fremde aber, dem sie aus Versehen in den Weg gelaufen war, schien sich nicht einmal sonderlich daran zu stören. Er ging hinein und… und er schloss die Tür. Was dann wohl hieß, das er ungestört sein wollte. „N-Na gut…“ nuschelte die Rothaarige, zog einen ihrer Zöpfe hervor und begann wieder, daran herumzunesteln. Drinnen wurde es immer mal wieder laut, sie hörte eine tiefe Stimme, die recht… fordernd klang. Schließlich trat der Fremde wieder heraus, auf den sie zuvor kaum einen Blick hatte erhaschen können und Vivica glaubte noch ein ganzes Stück mehr einzuschrumpfen, als er obendrein die Fäuste in die Hüfte stemmte und sein Kreuz, ohnehin überaus breit, noch breiter erscheinen ließ. Die Muskeln an seinen Armen waren nicht weniger beeindruckend als die Axt auf seinem Rücken und der Lederpanzer, den er trug, schien so viel besser verarbeitet, aber auch schrecklich mitgenommen. Dieser Mann musste ungeheuerlich stark sein und reich und erfahren… Noch ein wenig weiter zusammenschrumpfend, bat sie ihn schließlich kleinlaut, er möge einen Schritt zur Seite gehen, damit sie hinein könne. Dort einmal vor dem Tisch angelangt, nahm sie erst Platz, als der Älteste sie dazu aufforderte. „Ich… a-also ich… m-mein Name ist Vivica“, hob sie stammelnd an. Sie fühlte sich wie bei einer Prüfung durch Nerwen… nur schlimmer. „Ich habe von… v-von eurem Problem gehört. Mit Bran… äh… d-den Räubern, m-meine ich. Ich wollte euch meine Hilfe anbieten… vielleicht?“ Ihr gegenüber schien sichtlich überrascht, jedoch nicht zwangsläufig verärgert, enttäuscht oder belustigt – was die Firnhexe schon einmal für ein gutes Zeichen hielt. Als er jedoch erklärte, das Dorf sei nicht sehr wohlhabend und durch die beständigen Übergriffe der Räuberbande habe man noch weniger als ohnehin schon, wandte sie hastig und natürlich für die Unterbrechung um Verzeihung bittend ein, das eine Entlohnung gar nicht nötig sei. Die Verwunderung des Dorfvorstandes schien ins Grenzenlose auszuwachsen, doch er erklärte sich damit freundlich lächelnd und dankbar einverstanden und ließ sie ein reichlich offiziell aussehendes Dokument mit ihrem Namen unterschreiben. Schon als sie sich vom Stuhl erhob, strauchelte sie kurz. Ihre Knie waren butterweich, alles schien sich zu drehen und doch wollte sie schreien und jubeln, wollte tanzen, aufspringen, herumhüpfen und ihre Freude in die Welt hinausschreien. Was sie natürlich nicht tat. Sowas tat man nicht. Nein. Das gehörte sich so gar nicht. Entsprechend gesittet, ruhig und beherrscht schritt sie hinaus und wollte bereits nach einem Gasthaus suchen, als sie angesprochen wurde. „Huh?“ sie wandte sich um… und entschuldigte sich sofort erneut. Der muskulöse Kahlkopf von vorhin wollte von ihr wissen, was sie drin zu tun gehabt hatte. „Ich… i-ich habe dem Dorf meine Hilfe angeboten, Herr. Es… es gibt da nämlich Räuber, die-“ Bevor sie ihre Erklärungen überhaupt beenden konnte, fuhr er ihr rüde dazwischen und erklärte, sie solle sich fern halten. Da das sein Auftrag sei. Aber sie hatte doch gar nicht-…? Während er ging, überlegte sie. Erinnerte sich. Das Dokument, welches sie unterschrieben hatte. Darauf waren viele Linien gewesen. Viele Namen. Allesamt durchgestrichen. Mit Ausnahme der Zeile direkt über jener, auf der sie unterschrieben hatte. Dann… dann wollten sie also beide mit den Räubern reden, um sie zur Vernunft zu bringen? Ja das war doch wunderbar! Zwar war ihr ein wenig mulmig dabei, mit diesem Hünen zu arbeiten, immerhin würde es sicherlich unglaublich schwer werden, ihn nicht irgendwie zu enttäuschen… sie konnte in den falschen Momenten so schrecklich tollpatschig sein…! Aber sie hatten ja ein gemeinsames Ziel, dann würden sie sicherlich- Doch er war bereits weg. Irgendwo um eine Ecke verschwunden. Selbst als sie zur Ecke schritt und auf die Querstraße spähte – er war fort. Wie unhöflich… er hat sich wohl gelangweilt, weil ich nur herumstand und überlegt habe! Oh weh… nicht das ich ihn beleidigt habe…? Wie Vivica auf ihrer Suche nach einer Unterkunft schnell herausfinden musste, gab es im gesamten Ort nur einen einzigen Gasthof, der hatte jedoch sehr zu ihrer Erleichterung einen großzügig bemessenen Stall für die Reit-, Nutz- und Lasttiere der Gäste. Daher vorab schon entsprechend zuversichtlich gestimmt, trat die Rothaarige in den Schankraum ein. Zunächst ließ sie ihren Blick schweifen, um das Nötigste zu erkennen. Welche Art von Klientel hier üblich war, vor allem. Sie entschied schnell, dass es hier zu viele Grabscher und Trunkenbolde gab, um für ihr Essen arbeiten zu wollen, deshalb sie sich mit den Resten ihres Wegeproviantes zu begnügen gedachte. Gerade als sie jedoch zur Theke wollte, flog hinter ihr die Tür auf und ein weiterer Gast stromerte hinein, sie dabei einfach rüde bei Seite schiebend. „Oh, Verzeihung, das tut mir wirklich sehr leid!“ entschuldigte sie sich artig, bekam jedoch lediglich ein halbtrunkenes „Jaja, scho‘ gut“ zurück genuschelt. Immerhin nahm man ihre Entschuldigung an! Sie wagte sich schließlich doch noch an den Tresen heran und versuchte irgendwie die Aufmerksamkeit des Wirtes zu erlangen, bis der endlich aufhörte, die Krüge zu putzen und sich ihr widmete. „Was soll’s’n sein, junges Fräulein?“ erkundigte er sich in einem schwierig zu verstehenden, aber für die hiesigen Einheimischen typischen Dialekt. „Ich habe gesehen, das euer Gasthaus eine Scheune hat u-und… n-nun ja, i-ich wollte fragen, ob ich vielleicht… ob ich-“ „Ob’de drin schlafen kannst?“ kürzte der Betreiber des Hauses ihre Bitte ab. Sie nickte, bemühte sich um ein freundliches Lächeln, welches jedoch einen Moment ins Straucheln geriet, als der Gastwirt sie kurzerhand fragte, was er davon habe. Sie blickte sich kurz über die Schulter hinweg im Schankraum um, erklärte dann widerwillig, sie könne ja dafür arbeiten, doch selbst das wurde ihr verwehrt. Er habe schon zwei Mägde, er brauche keine Dritte. Sie versuchte, so wie sie es mit Peter geübt hatte, um den Preis für ein Zimmer zu feilschen, zeigte ihrem Gegenüber dabei jedoch leider nur auf, das er sie bis auf die Unterwäsche würde ausziehen können, bliebe er nur hart genug. „Was’n mit dem Schwert, hm? Sieht doch gut aus“, erkundigte sich der Besitzer der Schenke und deutete auf das Stück herab. Die Erinnerungen an Bran und seine Gemeinheit brandeten rasant auf, ließen sie mit beiden Händen die Klinge packen und fest an sich drücken, als könne der recht bullig geratene Wirt jede Sekunde über den Tresen hinweg packen und es ihr stehlen wollen, um sich dann in einer Wolke aus Rauch und Dunst aufzulösen. „Das gehört einem guten Freund, ich kann… ich darf es nicht… e-es ist nur geliehen!“ erklärte sie hastig und log dabei fürchterlich schlecht. Alandor hatte es ihr geschenkt. Sie schämte sich auch beinahe augenblicklich, so überstürzt gelogen zu haben und wollte erklären, dass sie das Schwert ja brauche, um die Räuber zu vertreiben, doch ehe sie zu Erklärungen ausholen konnte, deutete der Schankwirt auf den Ring an ihrer Hand. „Und der? Auch geliehen?“ wollte er wissen, eine Braue skeptisch gehoben. Nein, geliehen war der nicht. Geschenkt, wie das Schwert. Als Peter damals in ihr Zimmer kam und sie bat, die Augen zu schließen, saß sie auf dem Bett. Ihr Bauch kribbelte, weil sie nervös war und nicht wusste, was sie erwarten sollte. Dann nahm er ihre Hand… und schob den Ring auf den linken Ringfinger. Sie zuckte kurz, öffnete die Lider, als er es ihr erlaubte und schaute dann auf dieses wunderschöne kleine Stück. Schlicht und doch hinreißend, genau wie sie – so hatte er es damals ausgedrückt. Sie kannte sich aus, mit Traditionen, mit Gepflogenheiten. Völlig sprachlos starrte sie Peter an, rot wie eine Tomate musste sie gewesen sein und fragte, haspelte vielmehr, ob er wisse, was es bedeute, einen Ring an diesen Finger zu bringen. Heute – viele Jahre später – begann sie zu zweifeln. An dem, was er daraufhin sagte. Er meinte, er wisse von gar nichts. Es sei nur ein Geschenk. Ein kleines Schmuckstück, eine Aufmerksamkeit. Heute ahnte sie, dass er genauso schrecklich nervös gewesen sein musste wie sie. Dass er sich tatsächlich mit ihr hatte verloben wollen. Irgendwie. Warum auch immer. Heute ahnte sie, dass sie irgendwie falsch reagiert hatte und er es sich anders überlegte. Sie würde gerne glauben, dass das besser für ihn sei. So könne er herumziehen, sich eine andere, eine bessere Freundin suchen. Doch da lag ja der Hund begraben: Er konnte es nicht. Er zog nicht mehr herum. Er war fort. Genauso wie Alandor. Und Linh. Und Teneros. Sie waren alle fort. Du tust es für sie. Ich bin sicher, er hätte Verständnis. Zögerlich löste sie den Ring von ihrem Finger und händigte ihn dem Wirt aus. Mach, dass es das wert war! Hier in diesem Dorf, mit dieser Räuberbande, muss deine Legende beginnen! Der Wirt prüfte kurz die Echtheit des Ringes – tatsächliches, massives Reingold. „Dafür kannst du so lange im Stall übernachten, wie du willst. Erschreck mir bloß die anderen Viecher nicht!“ Sie versprach, sich gut zu benehmen – und kaum hatte sie ausgesprochen, schepperte es irgendwo hinter ihr. Hastig wirbelte sie herum, sah sich nach der Ursache um und erkannte den großen Hünen von vorhin. Ein Handabdruck glühte rot auf seiner Wange, während eine Frau, offenbar den Tränen nahe, davon stürmte. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass er wie du redet? Trifft man nicht so oft, weißt du… ich glaube… also wenn er nicht selbst aus dem Norden kommt, und gebaut wie einer von dort ist er ja, dann stammt er zumindest aus Lumiél! Die Vorstellung war fantastisch. Ein Flecken Heimat, hier in der Ferne. Durch Zufall hatten die Götter ihr einen kleinen Flecken Heimat geschenkt. Ihn ihr mit auf die Reise gegeben. Das klang zu schön, um wahr zu sein… Obendrein gaffte sie. Beinahe panisch bemerkte sie das und registrierte obendrein, dass er es ebenso bemerkte. Oh Gott wie peinlich! Hastig wirbelte sie wieder herum und eilte sich, das Haus zu verlassen, um es sich im Stall für das Abendbrot gemütlich zu machen.   Der nächste Morgen begann für Vivica bereits unangenehm früh, als ein Pferd sich dazu auserkoren sah, sie darauf hinzuweisen, dass die Sonne gerade so über die Wipfel im Osten zu brechen begann. Immerhin hatte sie damit zugleich einen guten Weckruf und konnte frisch und früh ans Tagewerk gehen. Es gab schließlich viel zu tun – heute würde sie eine Heldin werden! Gleichwohl überrascht und zusätzlich erfreut war sie, zu bemerken, dass dieser groß gewachsene Bursche vom Vortag ebenfalls ein Frühaufsteher zu sein schien. Er passierte das Nordtor des Dorfes zwar schneller, als sie ihn einholen konnte, doch knapp außerhalb gelang es ihr, mit einem kurzen Spurt zu ihm aufzuschließen. „Verzeihung? Herr? Ich… es tut mir leid, ich kenne euren Namen nicht! Ich… ich wollte mich wegen gestern nochmal entschuldigen? Ich hoffe, ich habe euch nicht irgendwie beleidigt? Herr? Ich habe auf dem Papier bei Herrn Dorfvorsteher gesehen, das ihr auch gegen die Räuberbande vorgehen wollt? Vielleicht… also ich meine… möglicherweise kann ich ja helfen?“ Die epische Legende von Gehilfin Vivica? „I-Ich meine… vielleicht können wir ja einander helfen…?“ Sie bemühte sich, mit dem Hünen Schritt zu halten, der querfeldein ein ziemliches Tempo vorlegte. Ihre Versuche, die Relationen zwischen ihnen zu ihren Gunsten nachträglich zu korrigieren blieben jedoch so fruchtlos und unbeachtet wie jedes einzelne andere Wort, welches sie bisher verloren hatte – sehr zu ihrer Frustration. Allmählich bekam selbst Vivica das Gefühl, dieser Fremde wäre nicht unbedingt die Ausgeburt an Manieren und Anstand. „Ihr könntet ja wenigstens stehenbleiben und mir euren Namen sagen!“ entfuhr es der jungen Rothaarigen frustriert, die sich augenblicklich entsetzt die Hände vor den Mund schlug und eine Entschuldigung nuschelte, die nicht einmal durch ihre Finger dringen konnte. Der Kahlkopf hingegen blieb tatsächlich stehen, wandte sich zu ihr um und blickte sie aus einer scheinbar völlig unflexiblen, steinernen Miene ernst an. „Geh. Zurück. Ins Dorf“, bekräftigte er langsam und überdeutlich betont. Es erinnerte sie sehr an die Art und Weise, wie Nerwen früher mit ihr gesprochen hatte. Wunderbar! Da war sie um die halbe Welt gereist, hatte so viel gesehen und erlebt, um jetzt immer noch herumkommandiert zu werden? Rückgrat, Vivica! Beweise Stärke! Stärke, genau! „Ich will aber nicht!“ erwiderte sie trotzig, stapfte mit dem Fuß auf den weichen Boden und reckte stolz das Kinn. Statt jedoch irgendetwas zu sagen oder auszudiskutieren, wandte sich der Krieger einfach wieder um und setzte seinen Weg fort. Wissend, dass ihre Wut nicht angemessen war, sah sie sich dennoch ihr gegenüber machtlos und eilte dem Hünen trotz seines eindeutigen Wunsches hinterher. „Ich bin Vivica!“ hob sie neu an, „Du kommst auch aus Lumiél, oder? Ich bin in der Nähe von Xeranor aufgewachsen. Warst du mal in Xeranor?“ Er knurrte lediglich das Wort „Elben“ deutlich missgünstig hervor, nannte seinen Namen noch immer nicht und stapfte weiter voran. Nun… immerhin schien er Xeranor zu kennen. Das… war nicht viel. Aber vielleicht ein Anfang. Möglicherweise? Den halben Tag brachte sie bis in die Mittagsstunden damit zu, diesem Massiv hinterher zu eilen, bis sie beide endlich auf eine größere, freie Fläche traten, die sich direkt vor einem Höhleneingang befand. Ihr Landsmann begann unverzüglich etwas Holz zu sammeln und zündete ein kleines Feuer in der dafür vorgesehenen, von einem Steinkreis geschirmten Stätte an. Mehrere flache Findlinge lagen um die Feuerstelle verteilt, offenbar wurde dieser Rastplatz häufiger genutzt und war daher halbwegs hübsch hergerichtet worden, zumindest mit dem, was die Natur hier so hergab. „Hübsch hier. Ist das die Räuberhöhle?“ erkundigte sie sich einen Blick in den vermeintlichen Kriminellenbau werfend. Tatsächlich befanden sich am Einfang auf zwei erhobenen Sockeln große Metallschalen, in denen Öl brannte und daher ein gutes Stück weit Licht in die dahinterliegenden Gänge warf. „Ich werde dich nicht mehr los, oder?“ erkundigte sich der Hüne unter einem tiefen Seufzen. Ein freundliches Lächeln aufsetzend, wandte sie sich ihm zu und nahm auf einem der Steine Platz, als er ihr diesen mit einer Handgeste zuwies. „Mein Name ist Thorin. Ich stamme aus La Coeur.“ Das Lächeln der Firnhexe wurde noch etwas breiter. Sie erlaubte sich sogar, nochmals aufzustehen, um angemessen einen Knicks vor ihm aufführen zu können. „Es freut mich sehr, Thorin“, ließ sie ihn wissen. „Also – was soll diese ganze Geschichte hier? Du sagst, du hast deine Hilfe angeboten?“ Sie nickte beflissentlich. „Als nächstes sagst du mir, du hast den Lohn akzeptiert, den sie dir geboten haben, hm?“ Geradezu freudig schüttelte sie den Kopf. Nun konnte sie beweisen, was für eine Heldin sie war! „Nein, ich habe ganz auf den Lohn verzichtet!“ Sie war sich nicht ganz sicher, was sie da kurz auf dem Gesicht ihres Begleiters lesen konnte. Es war nicht die übliche Art von Belustigung, die sie kennengelernt hatte, seit sie als Frau mit Waffe herum zog und Leuten anbot, ihnen bei ihren Problemen zu helfen. Dennoch glaubte sie, er würde jeden Moment lachen. „Götter, was für eine Söldnerin willst du denn eigentlich sein?!“ klang es stattdessen aus seiner Richtung. „Gar keine!“ erwiderte Vivica trotzig. „Aha? Wie nennst du es dann? Plünderin? Abenteurerin? Heldin? Oder-… oh je.“ Das kurze Blitzen in ihren Augen hatte sie verraten, das war ihr völlig klar. Als er andeutete, als er es sogar aussprach… wenn auch nur hypothetisch… als er sie eine Heldin nannte… da konnte sie nicht anders, als noch ein klein wenig breiter zu strahlen. Ja, genau das war es, was sie wollte. Sie versuchte natürlich, sich zu beherrschen, gewann schnell die Kontrolle zurück und wollte von ihm wissen, was so schlimm daran sei, eine Heldin sein zu wollen. „Du taugst dafür nicht.“ Der Satz traf sie mit der Wucht eines Hammerschlages in die Magengrube. Sie glaubte tatsächlich, ihr würde einen Moment übel werden, schwindlig. „A-Aber… aber… w-warum nicht…?“ Erneut seufzte ihr Landsmann tief, erhob sich und deutete ihr, das Gleiche zu tun. „Du hast ein Schwert, hm? Greif mich an. Ich werde dich nur noch als Heldin Vivica ansprechen und jedem von deinen großen Taten erzählen, wenn du einen Schlag gegen mich schaffst.“ Allein die Aussicht, von jemandem ernst genommen zu werden, war verlockend. Obendrein noch ein wenig Unterstützung bei der Verbreitung ihrer Legende zu erhalten… geradezu unwiderstehlich. Sie warnte Thorin, ihre Klinge sei sehr scharf und er, er schien sich nicht zu sorgen. Keine Spur. Drei Versuche räumte er ihr ein. Ihr Erster erstarb schon lange vor dem eigentlichen Beginn. Sie wollte die Klinge in einer fließenden Bewegung aus der Scheide ziehen, doch die war ledern, bog sich, die Klinge blieb irgendwie, irgendwo hängen – und er, er trat in ganz gemächlichen Schritten an sie heran, packte ihr Handgelenk, ihre Kehle und erklärte, sie sei nun tot. Er zog für sie die Waffe, drückte sie ihr in die Hand und nahm wieder Abstand ein. Sie versuchte sich an einem diagonalen Hieb, doch er wich zur Seite aus, umrundete sie viel zu schnell und packte sie von hinten. „Tot“, erklärte er wieder und nahm für ihren letzten Versuch Haltung ein. „Machen wir’s spannender. Ich sage dir sogar, was ich tun werde“, erklärte er und trat noch einige weitere Meter zurück, „Ich werde in gerader Linie auf dich zukommen. Du musst nicht mehr machen, als mich aufzuhalten.“ Er begab sich in Position… und stürmte voran. Vivica erinnerte sich an einen Schlag, den Teneros ihr einst gezeigt hatte. Für jemanden wie sie, der über wenig Kraft verfügte, musste der Schlag eben mit Trägheit geführt werden. Sie hob die Klinge in die Horizontale, drehte sich einmal voll im Kreis und ließ die Waffe an geschreckten Armen nach außen rotieren. Bei der anschließenden, zweiten Drehung würde sie ihren Feind auf Höhe der Körpermitte treffen. Es gab kein Entkommen, kein Ausweichen, kein Anschleichen, keine Finten – außer er würde schummeln. Dann jedoch, während der zweiten Drehung, musste sie ihren Fehler einsehen. Ansehen, genauer gesagt. Der Krieger schlitterte über den Matsch vor der Höhle, tief genug, um unter ihrem Hieb einfach hindurch zu tauchen. Er trat ihr gegen das Standbein, sie verlor ihr Gleichgewicht, stürzte auf ihn. Thorin hingegen umklammerte ihre Taille mit einem Arm, packte in die Luft. In Sekundenschnelle war sie plötzlich unter ihm, von seinem Körpergewicht und seinem Arm in Position gehalten – und die Klinge ihres Schwertes wurde von ihm direkt neben ihrem Kopf in den Boden gebohrt. „Tot“, erklärte er abermals. Sie atmete schwer, war aufgeregt, nervös… und ein fremder Mann lag auf ihr. Bis in die Haarspitzen beschämt, wurde sie mit jedem Herzschlag ein wenig röter. Der Kahlkopf selbst hingegen schien einen Moment in der Situation gefangen, ehe er sich schließlich erhob, ihr die Hand reichte und sie auf die Füße zog. Er zerrte ihre Klinge aus dem Boden, doch statt sie ihr sofort zurückzugeben, setzte er sich damit wieder an seinen Platz am Feuer. „Außerdem müssen die Haare ab. Ich hätte dich bei deiner zweiten Attacke drei Mal am Zopf packen können. Sowas tut nicht nur höllisch weh, du bist dann auch deinem Feind ausgeliefert.“ Es waren harte, ungnädige Lektionen, die er ihr vor die Füße war. Sollte sie doch selbst sehen, was sie damit tat? „Gib mir bitte mein Schwert zurück“, bat Vivica leise. Sie fühlte sich… unwohl. Nie zuvor glaubte sie so sehr daran, für die bevorstehenden Aufgaben nicht zu taugen, wie in diesem Moment. Zumindest reichte er ihr widerstandslos die Klinge herüber, nachdem er sie sich einen Moment betrachtet hatte. Es hätte ein schwacher Trost sein sollen… doch im Moment fühlte sie sich nicht, als könne sie überhaupt irgendetwas trösten. „Was hat es mit der Waffe überhaupt auf sich, hm? Wenn ich deine Rüstung so sehe, die übrigens eine Nummer zu klein für dich ist und wirklich schrecklich schlecht gearbeitet wurde… die Qualität passt nicht. Das Schwert ist zu wertvoll. Und… es wurde gekürzt?“ Sie war erstaunt, was er von einem so kurzen Blick auf die Klinge alles sagen konnte. Noch immer deprimiert, jedoch im Begriff, ein ganz klein wenig ihre Laune aufzuhellen, nickte sie vorerst nur. „Sowas kostet ein Vermögen. Ein Schwert kürzen, meine ich. Man muss es komplett neu ausbalancieren.“ „Ich weiß. Ich… ich habe lange darauf gespart“, erklärte die Firnhexe mit niedergeschlagenem Blick. Schließlich hob sie das Haupt, sah diesen Hünen an. Die Freude, einem Landsmann begegnet zu sein, hielt sich inzwischen arg in Grenzen. Die Heimat begann sie zusehends an ihre Verluste zu erinnern. „Woher weißt du so etwas? Bist du… bist du ein Schmied?“ Der Krieger lachte amüsiert auf, wenn auch nur leise und kurz. „Hm nein“, hob er zu einer Antwort an, „Ich war schon sehr vieles. Soldat, Plünderer, Schmied, Zimmerer, Heerführer, Tagelöhner, Söldner, Bettler, König, Viehzüchter, Staatsfeind, Zechpreller… und ein paar Idioten haben mich sogar einen Helden genannt. Deshalb, Vivica, will ich dir erklären, warum das Konzept eines Helden nicht funktioniert.“ Er räusperte sich kurz, nahm einen Schluck aus seinem Schlauch und versicherte sich ihrer Aufmerksamkeit. Die Firnhexe ahnte bereits, das ihr nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte… aber Anstand und Höflichkeit geboten, das sie, ein Weib, artig und schweigend dazusitzen hatte, während er ihr etwas erzählte. Und Nerwen hatte keinen manierlosen Höhlentroll großgezogen. „Helden kämpfen mit Ehre, richtig? Jemandem im Kampf zum Beispiel Staub ins Gesicht blasen, damit er geblendet ist und ihm dann das Schwert in die Kehle stoßen, das wäre ehrlos, nicht wahr? Oder jemanden an den schicken roten Zöpfen packen und daran herumwirbeln? Das Problem mit Ehre ist: Sie tötet. Wenn du den ehrbaren Helden spielen willst, bist du so gut wie tot. Im Kampf gibt es keine Ehre. Im Kampf geht es um das nackte Überleben. Lass dir das von einem gesagt sein, der Tausende Leben ausgelöscht hat und auf hunderten von Schlachtfeldern war: Du magst Ehre haben, anderen aber ist sie egal, solange sie am Ende des Tages noch stehen. Sie werden alles einsetzen, um dafür zu sorgen. Tust du nicht das Gleiche, wirst du verlieren. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann. Damit sind wir schon beim nächsten Punkt. Helden reiten auf edlen Rössern daher, nicht? Sie haben schicke Rüstungen und beste Waffen. Sie steigen nicht in einem Stall ab oder trinken das Brunnenwasser. Sie residieren, und das nur in den feinsten Häusern. Weil es ja verdammte Helden sind! Hast du dich mal gefragt, wie die legendären Helden das alle gemacht haben? Sowas kostet Geld. Eine verdammt große Menge Geld. Ich kann dir sagen, es gibt drei Wege, wie das möglich war. Erstens: Sie haben reiche Eltern oder reich geerbt. Dann verprassen sie das von vorherigen Generationen mühsam angeschaufelte Vermögen und verarmen ihre Familie bis in den Bankrott hinein. Glückwunsch, die Vorfahren werden sich vor Gram im Grabe umdrehen! Zweitens: Sie plündern. Ja, in den Geschichten klingt das immer sehr romantisch. Leere, mit Fallen gespickte, längst vergessene Tempel, in denen große Schätze lagern. Beim Plündern denkt aber niemand daran, dass die ach so großen Helden nach einem erfolgreichen Kampf über das Schlachtfeld wandern und den Getöteten die Geldbeutel vom Gürtel schneiden, weil sie ihre große Siegesfeier am Abend ja auch irgendwie bezahlen müssen. Oh und mein persönlicher Liebling – Drittens: Helden erpressen. Und zwar die, für die sie letztlich diese ganzen Heldentaten vollbringen. Sie pressen so viele Kupfer-, Silber- und Goldmünzen aus ihnen heraus, wie sie können. Aber weil das unschön klingt, lassen Barden sowas gerne unter den Tisch fallen. Es klingt einfach nicht gut, wenn der strahlende Held feilscht und droht. Du schüttelst den Kopf, kannst du ruhig machen. Ich sage dir: Ich habe einige dieser Legenden getroffen. Ich habe mit einigen Legenden gekämpft, Seite an Seite, ich sah, wie die Welt funktioniert. Weißt du, was wahre Helden sind? Ehrbare, prinzipientreue, vorbildliche, blutjunge… Leichen. Und wenn ich die Wahl habe, ob ich die ehrbare, aber bettelarme Leiche sein will, oder der verkommene Lebende, der ein paar Wochen gut essen und schlafen kann – was denkst du, was ich wähle?“ Thorins Worte setzten ihr zu. Sie wusste diese Dinge. Insgeheim hatte sie sie immer gewusst. Aber sie hatte Hoffnung gehabt. Nun saß hier ein Mann, alt und erfahren, der von sich behauptete, er sei alles schon gewesen. Vom Bettler über den Schmied bis zum König. Ihr Blick senkte sich auf die Waffe in ihren Händen. Er hatte erkannt, dass die Klinge gekürzt worden war. Alandors Langschwert war für ihn selbst kaum handlich gewesen und er hatte sie noch überragt. Wenn Thorin das erkennen konnte… welchen Grund hatte sie dann, ihn bei den anderen Behauptungen einen Lügner zu nennen? Doch was er über das Heldentum sagte, war grausam. „Nein… das… das ist nicht wahr…!“ hauchte sie mit bebender Stimme. Der Kahlkopf jedoch setzte ungerührt nach. „Ach, ist es nicht? Gut, Heldin. Du bist in eine Falle hineingelaufen“, schon als er das erwähnte, blickte sie schlagartig auf, klammerte sich an ihr Schwert und sah sich panisch um, „Wir werden beobachtet, seit wir das Feuer angezündet haben. Also, wie gedenkst du dich nun, tugend- und ehrenhaft, aus der Sache heraus zu schlängeln?“ Sie sah sich hastig um, in alle Richtungen, konnte jedoch nicht das kleinste verräterische Zeichen erblicken. „Oh ja, sehr unauffällig. So weiß niemand, was ich dir gerade gesagt habe und keiner würde vermuten, dass du eine Falle witterst.“ Er schüttelte seufzend den Kopf, griff nach seiner Axt und erhob sich schwerfällig und wie ein alter Mann ächzend. Das Feuer ließ er unberührt. „Was machen wir denn jetzt?“ hakte die Rothaarige hastig nach. „Ich weiß ja nicht, was Fräulein Heldin machen will. Aber ich, ich gehe jetzt da rein, überlebe deren Hinterhalt und werde dann völlig unehrenhaft und verkommen meinerseits ‘ne Falle auslegen.“ Mit jenen Worten trat er an den Höhleneingang und wandte sich halb zu ihr um. „Was nun? Wird gleich unangenehm hier. Ich würde an deiner Stelle verschwinden. Nicht, das du dir noch ‘nen Zacken aus deiner Ehrenkrone brichst…“ Zorn regte sich in der Firnhexe – schon wieder. Du hast es ihnen versprochen, ihnen allen! Tu, was nötig ist! Mit einer für die Rothaarige überraschend finsteren Miene trat sie, das Schwert gehoben, neben ihn und erklärte, sie sei bereit. Tatsächlich überrascht, hob der Krieger die Brauen, seufzte und schüttelte kurz den Kopf. Schließlich wagten sie sich gemeinsam hinein, wobei Vivica rasch zurückfiel, um – wie er es nannte – die Nachhut zu decken. Damit ihnen niemand in den Rücken fiel, so erklärte er es. Natürlich nicht, ohne ihr auch zu sagen, dass sie nicht nur über den Kampf, den Umgang mit ihrem Schwert und Kampfmanöver offensichtlich noch eine gewaltige Menge zu lernen habe, sondern obendrein auch über Kampftaktik. Zu sehr mit ihrer Wut beschäftigt, sah sie deutlich zu spät das Aufblitzen seitlich. Sie waren einige Meter in die Höhlen hineingelaufen, der Lichtschein wurde immer schwächer und schwächer und ihre Schatten dafür länger, doch in jenem schwachen, flackernden Schein hatte Metall etwas gespiegelt. Unter einem überraschten Aufschrei wirbelte sie herum, konnte das Schwert jedoch nicht mehr rechtzeitig in Position bringen. Stattdessen riss sie panisch die freie Hand vor. Es war stets ein widerwärtiger Anblick, wenn große Teile des im Körper eines Lebewesens vorkommenden Wassers zu gefrieren begann. Wasser dehnte sich in diesem Prozess aus, was das Gewebe völlig zerstörte und der Klotz aus Eis, der sie dann zerspringend unter sich begrub war eiskalt und sterbend warm gleichermaßen. Thorin dagegen war vorangestürmt, direkt in die Dunkelheit hinein, als er ebenso das verräterische Aufblitzen von Metall erkannt hatte – gerade rechtzeitig, um dem präzise gezielten Pfeil auszuweichen und den Bogenschützen niederzustrecken, bevor er flink nachsetzen konnte. „Du kannst zaubern?“ hakte Thorin irritiert nach, als er sie aus dem Berg von Eis, Blut und Fleisch hervorzog. Während sie sich prompt übergab, schien er mit dem Anblick keinerlei Probleme zu haben. Zwischen Keuchen und Würgen versuchte sie ihm zu erklären, dass sie lediglich mit Eis zaubern konnte. „Vivica, du musst mir jetzt gut zuhören: Das hier ist ein Hinterhalt!“ erklärte er. Sie wandte ein, dass sie das doch ohnehin schon gewusst hätten, immerhin hatte er ja genau das draußen schon gesagt. „Nein nein, da hatte ich nur gehofft, dich endlich ins Dorf zurückscheuchen zu können, aber du Klette bist ja einfach nicht gegangen!“ Sie wollte völlig empört protestieren, doch ihr Magen krampfte noch immer zu sehr. „Es ist sehr wichtig, dass du jetzt genau tust, was ich dir sage. Du versteckst dich in diesem Seitengang im Schatten, bis ich dich rufe. Sobald ich das tue, kommst du nah genug, dass ich dich sehen kann. Ich werde etwas sagen. Es ist nicht wichtig, dass du verstehst, was es ist. Sobald du siehst, dass ich zu sprechen aufgehört habe, versteckst du dich wieder im Schatten, klar?“ Sie verstand nicht. Natürlich verstand sie nicht und im Grunde hätte ihm egal sein können, was mit ihr geschieht. Als sie sich tatsächlich weigerte, seinem Plan zu folgen, offenbar eine weitere Finte wähnend, reichte es ihm. „Ich kann dich hier auch einfach stehen lassen. Das sind ein Dutzend erfahrene, kampferprobte Räuber, von denen jetzt nur zwei tot sind – der Rest kommt jede Sekunde hier rein. Was hältst du davon, wenn ich die einfach dir überlasse, hm?“ Sie wollte ihn korrigieren. Es seien nur noch acht, weil sie zwei andere auf der Straße umgebracht hatte. Doch das hier, das war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit, um das anzusprechen. Stattdessen ließ sie im Wirbel des Geschehens aus Versehen ihrer Wut freien Lauf – mehr oder minder. „Das wäre sehr, sehr… gemein! Ich habe die Nachhut gedeckt! Meinetwegen hat der da dir nicht in den Rücken fallen können!“ Noch während alles sich etwas unangenehm schnell zu drehen schien, packten die zwei großen Pranken des Kriegers ihre Schultern. Eindringlich sah er ihr in die Augen. „Genau deshalb will ich, dass du das hier überlebst. Klar? Also tu, was ich sage!“ Er drehte sie um, schob sie in die richtige Richtung und verbarg sich selbst. Während sie dort stand und ihren Magen und ihren Kreislauf unter Kontrolle zu bekommen versuchte, wurde ihr allmählich klar, woher sie den Namen Thorins kannte. Es hatte in Lumiél Steckbriefe mit diesem Namen und seinem Gesicht gegeben. Mit geradezu astronomisch hohen Summen darauf. Schmied und Staatsfeind. Warum nicht auch Held? Oder König? Faktisch schien er sie bisher nur einmal belogen zu haben – was den Hinterhalt anging. Weil sie hatte loswerden wollen. Nun hatte er offenbar seine Meinung geändert und wollte zumindest  für ihre Sicherheit sorgen. Was blieb ihr anderes, als gehorsam abzuwarten? Dass er mehr Ahnung vom Kampf und der nötigen Taktik hatte, hatte er bereits ausführlich bewiesen – so ungern sie das auch zugab. Was, wenn diese Räuber ein ganzes Dutzend Thorins waren? Sie konnte von Glück reden, überhaupt bis hierher überlebt zu haben. Als dann sein Ruf ertönte, eilte sie herbei. „Beschütze Vivica“, flüsterte der Kahlkopf. Sie bekam die Worte nur am Rande mit, viel zu sehr war sie von jenem sich ihr bietenden Anblick schockiert. Fünf Pfeile ragten aus Thorins Brust. Sie hatte die Geräusche des einsetzenden Kampfes völlig überhört. Zweifelnd, ob sie gerade einem Schock unterlag oder es am lauten Rauschen des Blutes in ihren Ohren lag, setzte sie noch einen Schritt vor. Ihr Landsmann rammte einen faustgroßen, merkwürdig weiß glühenden Zylinder direkt in die vereisten und teilweise bereits wieder schmelzenden Überreste des getöteten Räubers. Das Glühen zog aus dem Stab heraus direkt in die Lache aus Eissplittern, Blut und Wasser hinein und begann daraus etwas zu formen. Alles Wasser aus der Umgebung aufsaugend, während der kahlköpfige Hüne direkt vor ihren Augen von Geschossen durchbohrt starb, erhob sich ein Eiselementar und ging geradezu tollwütig auf die eindringenden Räuber vor, als diese sich Vivica vorknöpfen wollten.   Drei Tage später war die Firnhexe auf dem Weg südwärts. Tiefer ins Landesinnere. Sie wanderte die Straße durch den Wald ohne rechte Lust entlang. Eine Heldin hatte man sie genannt. Endlich. Sie hatte so lange darauf gewartet, doch nun, da der Moment gekommen war und man versprach, andere würden davon erfahren… kam ihr der Sieg schal vor. Viele Menschen waren auf grässlichste Weise ums Leben gekommen. Man hatte sie hoch gepriesten dafür, dass sie den Lohn abgelehnt hatte. Gerade deshalb kam es ihr fast wie Spott vor, als der Schmied des Dorfes zu ihr kam und erklärte, sie könne gegen halben Preis eine gute Rüstung bei ihm erstehen. Halber Preis. Das war noch immer viel zu viel für ihren knappen Geldbeutel. Und Thorin… der war tot. Durchlöchert von Pfeilen. Mit seiner letzten Handlung hatte er sie zu retten versucht. Warum ausgerechnet sie? Sie hatte in einem dunklen Seitengang gekauert und gewartet, bis das Schreien und Sterben aufhörte. War es das, wofür man sie Heldin nannte? Es war eine schreckliche Vorstellung, auch nur darüber nachzudenken, doch… was, wenn Thorin mit allem Recht hatte? Mit allem, was er über sie und Helden gesagt hatte? Ein völlig undefinierbarer Laut ließ sie auffahren. Eine große Gestalt wankte aus den Büschen seitlich der Straße heraus und direkt auf sie zu. „Zurück!“ verlangte sie und zückte ihr Schwert. „Das sieht schon viel fließender aus“, erklang plötzlich eine vertraute Stimme. Skeptisch zog die Rothaarige die Brauen zusammen, als die Gestalt begann, sich Erde und Matsch aus dem Gesicht zu streichen. „T-… Thorin? A-Aber wie… wie… was bist du?!“ Hatte sie einen Moment das Schwert sinken lassen, hob sie es wieder an. „Ist eine lange Geschichte“, erklärte der Hüne lediglich, „Belassen wir es doch erstmal bei: ‚schwer zu töten‘, hm? Den Rest erzähle ich dir vielleicht irgendwann mal.“ Ungläubig ließ sie die Waffe sinken… und schließlich fallen. Sie stürzte mit wenigen Schritten auf ihn zu, allen Anstand und alle Distanz vergessen, warf sich ihm in die Arme und war für einen kurzen Moment einfach nur so unglaublich… erleichtert. „Ich bin so froh…! Ich sah dich sterben und…“ Es war befremdlich, diesen Mann, den sie zuvor stets so grimmig erlebt hatte, lächeln zu sehen. „Ja, und du hast mich beerdigt. Ist zwar nett gemeint gewesen, aber bitte, nächstes Mal? Lass das!“ Er erkundigte sich, ob sie denn erreicht habe, was sie wollte und die Firnhexe erzählte ihm von einer kleinen Feier zu ihren Ehren, davon, dass sie wirklich gar nichts bekommen habe, außer dem Angebot des Schmiedes und der Pflicht, an einem Abend so viele Hände zu schütteln, das sie kaum dazu gekommen wäre, etwas zu essen. „Weißt du, ich hab mir was überlegt“, hob der Hüne an, „Wir könnten diese Nummer öfter durchziehen, hm?“ Natürlich wusste sie nicht, von welcher ‚Nummer‘ er sprach, weshalb der Krieger erklärte, das er es ganz sicher nicht darauf anlege, noch häufiger zu sterben. Nein, seine Idee sah anderes vor. „Ich komme in ein Dorf und verlange – weil ich ein dreckiger, gemeiner Söldner bin, den doppelten Lohn. Du kommst in das Dorf und machst die Aufgabe freiwillig. Ohne Lohn. Wir erledigen den Job zusammen… und teilen dann. So bekommt zumindest jeder den Einfachen, hm?“ Das war Betrug. Gewissermaßen. Oder etwa nicht? Die Frage, wie weit sie ihre Prinzipien biegen konnte, ohne sie zu brechen, wurde von Thorin in einer Härte aufgeworfen, wie sie ihr zuvor nie begegnet war. Die Vorstellung war verlockend, wenigstens irgendeine tatsächlich brauchbare Form von Dank zu erhalten. Nicht länger im Stall schlafen zu müssen. Als Heldin gefeiert zu werden und sich auch zugleich wie eine Heldin geben zu können. Sich endlich eine gute Rüstung kaufen zu können. „Wie hast du das mit dem Elementar gemacht?“ wollte sie in Erfahrung bringen – nicht nur aus Neugier, sondern allem voran, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Thorin kramte daraufhin aus seiner Tasche den Stab hervor. Er leuchtete nur in der untersten Partie, der Rest schien matt… leer. „Ein Artefakt. Hat mir während der Rebellion daheim ein Magier geschenkt. Drakimh. Ziemlich arroganter Bastard, aber… er wusste, wie man einen guten Auftritt hat. Ich glaube, er hat das Ding irgendwann vom Zirkel geklaut. Es lädt sich sehr langsam auf, saugt wohl irgendwie Magie aus der Umgebung. Einmal im Monat kann ich es in ein Element halten und es flößt ihm Leben ein. Luft, Erde, Wasser, Feuer… oder eben Eis. Funktioniert vielleicht sogar mit Leichen, ich bin nur nicht wirklich drauf aus, das rauszufinden.“ Fasziniert betrachtete sie den Stab, bevor dieser wieder in der Hosentasche des Hünen verschwand, als wäre er nichts Besonderes. Im Gegenzug jedoch schritt der Krieger wieder zu dem Gebüsch hinüber, welches ihm Deckung geboten hatte und zerrte ein kleines Bündel hervor. „Du hast nicht gut zugehört, hm?“ erklärte er ruhig und löste den Knoten einer Decke. Zum Vorschein kamen zahlreiche Waffen, Rüstungsteile, Geldbörsen – alles wild durcheinander. „Da ist auch eine brauchbare Rüstung in deiner Größe dabei.“ Die Verlockung war groß, das konnte Vivica nicht leugnen, sie wuchs beständig an und er schien das Thema auch partout nicht auf sich beruhen zu lassen… bis er jedoch das Bündel wieder schnürte und erklärte, sie würden im nächsten Gasthaus darüber entscheiden. Was sie nicht gebrauchen konnten, würde verkauft werden und das Geld würden sie teilen – weil sie die Nachhut gedeckt habe. Sie wollte bereits einwenden, dass das nicht wirklich in Relation zu der von ihm geleisteten Arbeit stand, als er ihr bereits mit seinem nächsten Ansatz das Wort abschnitt. „Mir kam übrigens eine Frage in den Sinn: Wieso willst du eigentlich unbedingt Heldin werden?“ Ausgesprochen, so befand der Krieger kurz nachgeschoben, klang das beinahe lächerlich. Nach allem aber, was er für sie getan hatte, befand die Rothaarige, hatte er ein Recht auf die Antwort. Auf eine richtige Antwort. „Ich hatte ein paar wirklich gute Freunde. Wir… wir waren in Lumiél und sind dort einem Mann begegnet. Einem wirklich fürchterlich bösen, mächtigen Magier. Er… er hat mir meine Freunde weggenommen. Ich forderte ihn heraus und er sagte mir, ich könne um meine Freunde kämpfen, gegen ihn, sobald andere mich eine Heldin nennen. Er verspottete mich damit. Lachte mich aus. Ich forderte ihn auf, das zu schwören… und er tat es.“ Thorin runzelte die Stirn. Das war eine reichlich… kuriose Geschichte. Entsprechend wollte er wissen, was sie mit weggenommen meinte, ob sie nun Sklaven seien oder tot, doch Vivica konnte ihm keine klare Antwort geben. „Sie sind… sie sind irgendwo. Und irgendwann. Einen nach dem anderen hat er sie fortgeschickt. An irgendeinen Ort auf dieser Welt… hoffe ich. In irgendeine Zeit.“ Von ihren Worten deutlich alarmiert, packte der Kahlkopf sie bei der Schulter und zwang sie, stehen zu bleiben und ihn anzublicken. „Reden wir von Duncan?“ verlangte er bitterernst zu erfahren. „Du… du kennst ihn?“ Obwohl keine klare Antwort, war es für den Kahlkopf doch offensichtlich Antwort genug. Vivica hatte Raubkatzen gesehen, die ihren Buckel krümmten, das Fell sträubten, die Krallen ausfuhren und bedrohlich fauchten. Thorin schien plötzlich auf ganz ähnliche Weise von Sekunde zu Sekunde finsterer zu werden, zorniger,… gefährlicher. Mit gepresster, leiser Stimme erklärte er, ihn zu kennen. Selbst die Firnhexe konnte ihm anhören, mit welchem gewaltigen Ausmaß an Beherrschung er sich unter Kontrolle zu halten versuchte – und es gelang ihm nur um Haaresbreite. Erst nach einigen Augenblicken konnte er sich langsam zügeln. „Wir werden ihn finden“, erklärte der Krieger mit bitterster Entschlossenheit, „Wir werden ihn finden und ihn besiegen. Du… du hast jetzt einen Lehrmeister. Und wir, wir haben noch viel zu tun!“ Kapitel 35: Die Ruhe vor dem Sturm ---------------------------------- Ein leises Rascheln. Ein zartes Klimpern. Mehr war nicht nötig, um sie aus ihrem Dämmerzustand zu reißen. Für einen kurzen Moment schreckte sie regelrecht empor. War sie wirklich eingeschlafen? Nein. Gedöst hatte sie, aber… sie hatte es nicht verpasst, oder? Hastig blickte sie zu jenem Bett, an dessen Seite sie saß. Der Stuhl unter ihr knarzte leicht, erregte die Aufmerksamkeit des Mannes, der in jenem Bett lag. Er konnte sich kaum bewegen. Sein Bart war es gewesen, der geraschelt hatte. Die kunstvoll geschmiedeten Zierringe darin, die aneinanderstoßend das Klimpern verursacht hatten, als er den Kopf zu neigen versucht hatte. „Schhh, ruhig“, flüsterte sie ihm zu und versuchte wider physikalischer Gesetze noch ein Stückchen näher an das Bett und ihn heranzurücken. Ihre Blicke trafen sich. Mehrere Atemzüge verstrichen, in denen sie ins Chaos stürzte, spiegelnd für eben jenes Chaos in seinen Augen. Sie sah die Liebe darin, jene tiefe Verbundenheit, die sie so lange geteilt hatten. Aber sie sah auch die Angst. Die Bestürzung. Die Verwirrung. Er öffnete die Lippen, formte Worte, die nicht hörbar wurden. Aber sie verstand. Sie konnte jedes Wort verstehen… auch ohne Ton. „Ruhig“, bekräftigte sie nochmals, „Du bist zuhause.“ Er erkannte die Decke nicht. Das Zimmer. Die Vase auf seinem Nachttisch. Für die Dauer eines Herzschlages hatte sie befürchtet, er hätte sie nicht mehr erkannt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass dies geschah. Aber der Medicus hatte ihr erklärt, dass es nur noch eine Frage von Stunden wäre – und sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen und gedöst hatte. Die Ahnen allein mochten wissen, wie viel Mühe es ihn kostete, die Finger zu krümmen, die Hand zu bewegen. Er versuchte den Arm zu heben – erfolglos, bis sie es für ihn tat, seine prankenhafte, raue Hand in die Ihren nahm und einen zarten Kuss auf deren Rücken hauchte. Ein Kloß in ihrer Kehle ließ sie schwer schlucken, vergeblich. Tränen begannen, noch zurückgehalten hinter Staudämmen aus Willen und Selbstbeherrschung, ihre Sicht zu verschleiern. Ihr Schmerz wurde zu seinem Schmerz. Sein Blick wurde glasig, richtete sich erneut an die Decke. Er versuchte stark zu sein. Für sie. Für sie beide. Dieser sture Holzkopf hatte es immer versucht… und meist sogar Erfolg gehabt. Sie war sich nicht sicher, ob heute ein weiterer Tag dafür war. Ob heute wieder so ein Tag wäre, an dem er für sie beide stark sein musste. Oder nur für sie. Oder für sich selbst. Als er ihr das Haupt wieder zuwandte, brannte eine lange vergessen geglaubte Entschlossenheit in seinem Blick. Da war noch eine Sache, die es zu tun galt. Sie konnte es ihm ansehen. Eine Sache, ehe er seinen Frieden finden konnte. „Versprich es mir“, krächzte seine Stimme kaum hörbar und rau. Er hatte sie seit Tagen nicht genutzt. Heute… welcher… welcher Tag war heute überhaupt? Gute Güte. Vielleicht hatte er sie auch schon seit Wochen nicht genutzt. Zaghaft schlich sich ein bittersüßes Lächeln auf ihre Lippen. Sie wollte sanft den Kopf schütteln, wagte ihm jedoch nicht auf so vielfältige Weise zu widersprechen. „Sie ist keine vierzig mehr…“ erwiderte sie. Mit einer Kraft, die sie ihm nicht mehr zugetraut hätte, versteiften sich seine Finger um die Ihren. Wortlos las sie von seinen Lippen den Wunsch ab. Abermals. Unter den ersten, die Dämme brechenden Tränen nickte sie zögerlich. Sie sah, wie sein Bart zuckte. Sah die Rüge in seinem Blick. Unter Tränen musste sie kurz auflachen. Sie hatte ihm selten Dinge verheimlichen können. „Fein“, setzte sie neu an. Sie beugte sich ein Stück vor, einen weiteren Kuss auf seinen Handrücken platzierend und seine Pranke vor ihr Gesicht haltend, als wolle sie sich dahinter verstecken. „Beim kleinsten Zahnrad des Weltenmechanismus‘ schwöre ich, das ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, sie zu behüten, eine jede Stunde eines jeden Tages, bis meine Pfade mich vor die Tore der Ahnen führen.“ Wie einen einstudierten Reim oder Psalm hatte sie ihren Schwur vorgetragen. Nur zu zwei anderen Gelegenheiten hatte sie ihn je genutzt. Bei ihrer Hochzeit, um ihm Treue und Beistand zu geloben, wie finster die Zeiten auch werden mochten… und nach einem Kampf, der sie blutüberströmt und dem Tode nahe zurückgelassen hatte, um ihrem Widersacher klar zu machen, das es keinen Ort auf dieser oder irgendeiner anderen Welt geben mochte, an dem er sich vor ihr würde verstecken können. Er war mit ihrem Schwur zufrieden. Die Bewegung schien wie in Zeitlupe abzulaufen, kaum wahrnehmbar neigte er das Haupt und hob es wieder… nickte. Heiß spürte sie die Tränen über ihre Wangen rinnen. Sie wollte betteln. Flehen. Auf Knien wäre sie gekrochen, hätte zu den Ahnen gebetet, den Göttern, zu welchem Geist oder welcher Maschine auch immer sie musste. Doch kein einziges Wort verließ ihre Lippen und kein Gedanke zeigte Demut. Was sie wollte… stand nicht zur Debatte. Die Dinge hatten eine Ordnung. Und der Ablauf dieser Dinge war unausweichlich. Selbst hätte sie es gekonnt, egal wie groß die Versuchung auch gewesen wäre, sie hätte weder die Zeit anhalten, noch zurückdrehen wollen. Das hier… so schmerzhaft es auch war… hatte seine Richtigkeit. Irgendwann, in ein paar Dekaden, würde sie das vielleicht anerkennen können, ohne dabei vor Kummer bittere Galle auf den Boden spucken zu wollen. Vorsichtig erhob sie sich vom Stuhl. Sein Haupt neigte sich zurück, er starrte wieder an die Decke empor. Schwere, unregelmäßige Atemzüge hoben die über ihm liegende Decke. Langsam bettete sie seine Hand wieder neben seinem Leib, beugte sich über seine Gestalt. „Schlaf“, flüsterte sie ihm leise zu, „Du wirst deine Kräfte brauchen.“ Es war eine Lüge. Vielleicht die Größte, die sie je erzählt hatte. Und sie wusste es. Doch egal, wie sehr sie sich bemühte, sie konnte sich dessen nicht schämen. Nicht, wenn er die Kraft fand, ein so wissendes, besänftigendes Lächeln für sie zu mustern. Noch ein Stück tiefer beugte sie sich, drückte erst einen Kuss auf seine Stirn, dann einen weiteren auf seine Lippen. Als sie wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm, hatte er die Augen geschlossen. Er war wieder eingeschlafen. Und auch ohne Magie oder Kenntnisse der Heilkunde wusste sie, dass sie zum letzten Mal in seine Augen geblickt hatte. Er würde nicht mehr aufwachen… und die Wucht dieser Erkenntnis traf sie so hart, wie sie nie erwartet hätte. Obwohl sein Herz noch schlug, brach sie in jenem Stuhl sitzend völlig zusammen. Ihr Schluchzen, ihre Tränen, ihre eigenen, ersticken Atemzüge und all das Gebettel, das zu äußern sie sich verboten hatte, füllten die Luft des Raumes, nahmen so viel Platz ein, das sie die Tür nicht hörte, die Schritte nicht hörte. Ihr Kummer kannte keine Grenzen und keine Rücksicht mehr. Eine harte Hand legte sich auf ihre Schultern, sie reagierte jedoch nicht darauf. Selbst dann nicht, als sie weitere Schritte vernahm, das Geräusch eines zweiten Stuhls, der herbeigezogen wurde. Jemand umarmte sie umständlich, eine Stirn kam auf ihrer Schulter zum Liegen. Und nach einigen Augenblicken spürte sie die Feuchtigkeit weiterer Tränen durch ihre Kleider dringen. Sie hatte versprochen, stark zu sein, wenn er es nicht mehr konnte. Sie hatte an einer Hand abzählen können, wie oft sie ihre Versprechen gebrochen hatte. Jetzt konnte sie das nicht mehr.   Mit einem tiefen, heftigen Atemzug fuhr Luzula in ihrem Bett empor. Hatte sie im Schlaf den Atem angehalten? Ihre Brust hob und senkte sich hektisch, um die Entbehrung aufzuarbeiten. Vorsichtig befühlte sie ihre Wangen, wischte ohne Groll, ohne Scham und ohne Kummer die Feuchtigkeit hinfort. Ein Traum. Nur ein Traum. Es war zu viel Zeit vergangen, als das sie sich von diesem Speziellen noch so hätte aufwühlen lassen wie damals. Siebenhundert Jahre hatte er ihr geschenkt, siebenhundert Jahre und eine Tochter. Mehr hatte sie nie zu verlangen gewagt, mehr hatte sie sich nie erhoffen können. Und dreihundert Jahre später war der Schmerz verblasst, die Wunde vernarbt, aber verheilt und zurück blieb nur das Wissen um die gemeinsamen Patzer und Erfolge, um die guten und schlechten Zeiten, die sie bestritten hatten. Es war wie ein Tuch, welches alles einfärbend über dem Ganzen lag. Gemeinsam. Wie viel so ein Wort doch verändern konnte.   Es war noch tiefste Nacht gewesen, als die Seherin aus ihren Träumen erwacht war. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihr Bett zu verlassen und den Tag zu beginnen. Müßiggang war aller Laster Anfang, sagte man unter den Menschen, nicht wahr? Und was für die Langbeine galt, das galt für Zwerge doppelt! Immerhin hatte ihr Volk einen gewissen Ruf zu wahren. Sehr zum Verdruss ihrer Tochter natürlich, die durch da Geklapper und Gerassel in der Küche irgendwann unweigerlich wach wurde und völlig verschlafen in den grässlich grell erleuchteten Raum trat, nur um die rhetorische Frage zu stellen, was der ganze Radau eigentlich sollte. „Frühstück, Vahla. Das beinhaltet normalerweise die Aufnahme lebensnotwendiger Proteine, Mineralien und anderer Nährstoffe, darüber hinaus wird es in vielen Kulturen als soziale Aktivität betrachtet, zu der man einander von der Qualität der vergangenen Nacht berichtet und die Pläne für den kommenden Tag austauscht“, erklärte Luzula mit einem wissenden Lächeln und einer geradezu heimtückischen Selbstverständlichkeit. „Mooom…!“ quengelte die junge Zwergenfrau und schüttelte verschlafen den Kopf, „Das ist nicht lustig! Kannst du nicht irgendwie… an deiner komischen Maschine arbeiten oder so? Ich will nachher nicht aussehen wie ein Tiefenlaurer, der in eine Kompanie gerannt ist, nur weil du nicht schlafen konntest… schon wieder.“ Eine Spur von Schalk hatte sich in Luzulas Grinsen gestohlen, als sie ihre Arbeiten unentwegt fortgesetzt hatte, nur um bei der besonderen Betonung jener letzten Worte doch noch innezuhalten. Einen Moment musterte sie ihre Tochter, versuchte das Für und Wider abzuschätzen und notierte gedanklich eher am Rande, das aus ihrem kleinen Mädchen längst eine hübsche junge Frau geworden war. Nicht, das sie das davon abhielt, sie zu necken oder, des Spaßes halber, gelegentlich noch immer wie ein Kind zu behandeln. Üblicherweise ließ sich Vahla damit recht gut provozieren – etwas, das sie wohl von ihrem Vater hatte. Sie neigte dazu, sich dann rasch in allerhand Weise zu verteidigen und auf ihre immerhin schon gut sechshundert Jahre Lebenserfahrung hinzuweisen. Lebenserfahrung. Der bloße Gedanke ließ sie lächelnd den Kopf schütteln. Ihre Tochter war wohlbehütet aufgewachsen, hatte Nothrend noch nie verlassen. Nicht, das sie es ihr verboten hätte. Sie schien diesen Drang einfach selbst nicht zu besitzen. Auch etwas, das eindeutig von ihrem Vater stammte und nicht von ihr. „Gut, ich sag dir was“, hob Luzula an und stemmte die Hände in die Hüfte. Dabei wog die mechanische Hand weitaus schwerer und die Kälte kroch zügig durch ihre Kleidung in die Nieren. „Du machst uns nachher Frühstück, und ich verspreche dich so lange schlafen zu lassen und mich in mein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Sind wir im Geschäft?“ Sie streckte die mechanische Prothese aus. Ein Meisterwerk verschiedener Schmieden und Feinmechaniker. Die Eisenhände und Kupferschläge hatten wirklich etwas Sensationelles geschaffen. Traurig, das dazu erst die Verbindung beider Clans in einer groß gefeierten Hochzeit nötig gewesen war. Ein kurzer Blick über den Arm ließ für die Dauer eines Herzschlages Schwermut in ihr aufkommen. Die kleinen, feinen Runen, die hier und da leuchteten, erinnerten sie noch immer an den stämmigen, kräftigen Traum von einem Mann, der sie gefertigt hatte. Schließlich jedoch legte sich eine zierliche Hand in die metallenen Finger. „Fein! Aber wehe du tust nur wieder so, als würde es schmecken!“ erwiderte Vahla mit prüfendem Blick auf ihre Mutter. Luzula versuchte dem auszuweichen. Sie zählte die Sommersprossen ihrer Tochter. Begutachtete den hübsch geflochtenen Zopf. Vermaß die kleine Schupsnase in Relation zu den breiten, vollen Lippen. Aber letztlich konnte sie nicht anders, musste sich dem Feind doch stellen. Kaum kreuzten sich ihre Blicke, spürte Luzula die mühsam aufgebaute Ernsthaftigkeit dahinbröckeln und ein Kichern drang aus ihrer Kehle. Beschwichtigend im Angesicht des Grolls ihrer Tochter hob sie die Hände empor. „Gut, schon gut, schon gut, ich… ich werde etwas sagen, wenn es wieder so fürchterlich wird wie beim letzten Mal.“ Ein unzufriedenes Schnaufen ertönte. „Das wäre reizend“, zickte Vahla ein wenig, „Arrkan dachte, ich wollte ihn umbringen.“ Spätestens jetzt gab es kein Halten mehr. Luzula versuchte sich an der Küchenzeile festzuhalten, während ein herzhaftes Lachen tief aus ihrem Bauch heraufrollte und sie sich krümmen ließ. Neue Tränen schossen in ihre Augen und die Laute aus ihrer Kehle hallten durch das gesamte Haus wider. Es dauerte einen Moment, ehe Vahlas Trotz fortgespült wurde, doch schließlich erkannte auch sie die amüsantere Seite ihrer beständigen Fehlversuche, ihren Liebsten zu bekochen. Natürlich hätte sie versuchen können, von ihm zu lernen. Er war… so… perfekt. … also im Kochen. Und so. Nur traute sich Vahla einfach nicht, ihn darum zu bitten. Sie war immerhin die Frau, oder nicht? Es war ihre Pflicht, egal wie oft ihre Mutter etwas anderes behauptete. Nur egal wie sehr sie sich bemühte, egal wie viele Bücher sie über das Thema las, sie fand einfach keinen Konsens mit dem Erzfeind ihres Lebens: Dem Kräuter- und Gewürze-Regal.   Nachdem sich beide einige Minuten später beruhigt hatten, war die junge Eisenhand in ihr Schlafquartier zurückgekehrt und Luzula schlich mit dem Kerzenhalter in der Hand durch die weiten, leeren Flure des gewaltigen Anwesens. Sie hatte sich redlich bemüht, die Räumlichkeiten, die tatsächlich bewohnt wurden, dicht beisammen zu halten und entsprechend umzudekorieren. Neu einzurichten. Aber für ihr Arbeitszimmer bevorzugte sie eine gewisse Abgeschiedenheit. Vielleicht jedoch, so überdachte sie ihre Entscheidung, als sie zum dritten Mal auf halber Strecke in einem Korridor innehielt, sich umsah und den Weg, den sie gekommen war, zurück ging… ja, vielleicht sollte sie ein kleines, klitzekleines bisschen weniger abgeschieden zu arbeiten versuchen. Das Haus war ja schließlich fast größer als der Palast. Kein Wunder, das sie sich ständig darin verlief. Eine angemessene Ausschilderung an den Korridorwänden wäre vielleicht praktisch…? Das Anwesen überhaupt zu bauen war schon eine Sache für sich gewesen. Die Seherin des Kupferschlag-Clans und der beste Runenschmied, den der Eisenhand-Clan je hervorgebracht hatte, beide obendrein lebende Legenden, Helden ihres Volkes noch vor ihrem Eingang in die Ahnenhallen, Freunde des Königs obendrein… natürlich hatten sie sich nicht einfach irgendein gemütliches kleines Haus irgendwo in der Stadt nehmen dürfen. Stattdessen verlief sie sich nun ständig in diesem Ungetüm, das keine halbe Stunde vom tatsächlichen Palast entfernt errichtet worden war. Das wiederum… war gar nicht so verkehrt. Immerhin hatte sie als Beraterin des Königs gewisse Verpflichtungen. Die, beispielsweise, gelegentlich unangekündigt hereinzuplatzen und ein paar wirklich kluge Dinge zu sagen, denen kaum einer folgen konnte. Oder jene, dem Herrn Donnerbart gelegentlich Dinge zuzuflüstern, die er dann sagen konnte, um klug zu klingen. Oder, falls nötig, einfach dafür zu sorgen, dass jemand, der etwas vermeintlich Kluges gesagt hatte, das dummerweise auch noch viel Anklang fand, einfach zukünftig den Mund hielt. Wie dieses Edikt zur Flutung der unteren Ebenen. Ganz abgesehen von der Geringschätzung der dort lebenden Bevölkerung, den horrenden Schadensersatzansprüchen durch zerstörtes Eigentum und beschädigten Wohnraum – wer kam auf die Idee, mehrere Ebenen der Stadt fluten zu wollen, nur um die Anstellung weiterer öffentlicher Reinigungskräfte zu vermeiden…?! Ernsten Blickes schüttelte Luzula den Kopf, während sie endlich an der richtigen Tür angelangte. Sie zog die Kette unter ihrem Nachthemd hervor, an der ein kleiner, silberner Schlüssel baumelte. Er öffnete alle vier Schlösser – sofern man sie in der richtigen Reihenfolge betätigte. Als sie im Inneren verschwand und die Tür schloss, glühten die Runen am Türrahmen kurz auf und die Schlösser verriegelten automatisch wieder.   „Mutter, wir kommen zu spät!“ tönte Vahlas ungeduldiger Ruf nun schon zum dritten Mal durch die Tür. Luzula seufzte tief, schüttelte mit dem Anflug eines Lächelns den Kopf und beendete die Zeichnung mit wenigen weiteren Linien. Vorsichtig rollte sie dieses und eine ganze Schar weiterer Pergamente zusammen, ehe sie sich zum Gehen wandte. Als sie die Türklinke betätigte, leuchten an der Außenseite erneut die Runen auf. Automatisch erloschen alle Lichter im Arbeitszimmer und die Tür verriegelte wieder, als sie ins Schloss gezogen wurde. Sie warf einen kurzen Blick auf Vahla, bereits wissend, was jetzt kommen würde. Wie erwartet fand sie ihre Tochter in einem Kleid vor. Einem sündhaft teuer aussehenden, unverschämt eng geschnittenem Kleid. Ihre Tochter strahlte über das ganze Gesicht, konnte den leichten Schimmer von Scham und Unsicherheit aber nicht verstecken. „Na, was sagst du?“ Abermals musterte sie ihr Kind. Sie hatte die Figur ihrer Mutter geerbt, das war… immerhin etwas. „Wenn ich den Satz ‚Ich bin schwanger‘ vor dem Satz ‚Ich bin verlobt‘ höre, sorge ich dafür, dass dein Schneider samt seiner Familie und allen, die seiner Blutlinie  folgen, verstoßen wird.“ Die bittere Ernsthaftigkeit Luzulas verschreckte Vahla einen kurzen Moment, deren Lächeln in sich zusammenstürzte. Sie schien noch verwirrt, beschäftigt damit, zu begreifen, was gerade gesagt worden war, als Luzulas Schalk durchblitzte und sie zu grinsen begann. Begreifend, das die Drohung eher spielerischer Natur war und es sich tatsächlich um ein Kompliment gehandelt hatte, kehrte Vahlas Strahlen mit doppelter Stärke zurück, frei von jeder Spur von Unsicherheit. Unter einem herzhaften Ausruf fiel sie ihrer Mutter um den Hals, die daraufhin lächelnd den Arm um ihr Kind legte. „Ich hoffe nur, du erwartest heute keine allzu eloquenten Antworten von ihm. Er wird gewisse Durchblutungsstörungen haben…“ flüsterte Luzula ihrer Tochter in die Ohren, die daraufhin hochrot anlief. Sie musste es nicht sehen, um das zu wissen. Vahla war ein Spätzünder und hatte noch keinerlei nennenswerte Erfahrung mit Männern gemacht. Luzula war für diesen Umstand auch durchaus dankbar gewesen… die meiste Zeit zumindest. „Na komm, los geht’s. Sonst sind wir wirklich noch zu spät.“   „S-Seherin E-Eisenhand…!“ grüßte ein strammer junger Zwergenbursche sie auf dem Platz. Luzula konnte nicht anders als ihre Miene zu einer Grimasse zu verziehen. Einerseits wollte sie grinsen, weil jeder Blinde hätte bemerken können, wie schwer es Arrkan fiel, seine Augen der Höflichkeit wegen bei ihr zu belassen, während sie doch ganz eindeutig zu der hübschen jungen Zwergin zu ihrer Linken driften und sie aus vollstem Lauf angaffen wollten. Andererseits wollte sie ihm übelnehmen, dass er sie so ansprach. Also tat sie einfach beides. „Wie oft habe ich dir jetzt gesagt, dass du das lassen sollst?“ rügte sie ihn streng. Er kam nur langsam zu Sinnen, überdachte seine Worte… und lief rot an, sich der Antwort erinnernd. „Einundvierzig Mal.“ Luzula schnaubte, irgendwo zwischen Belustigung und Groll. Na immerhin zählte er immer noch mit. Wirklich übelnehmen konnte sie ihm die Reaktion jedoch nicht – er war ganz offenkundig mehr als… abgelenkt. „Fein, diesmal lasse ich dir das noch durchgehen.“ Schon wieder. „Aber das du mir ja gut auf meine Kleine hier aufpasst, ja?“ Während Arrkan eifrig nickte, erklang Vahlas langgezogener, theatralischer Einspruch. „Muuuum…!“ Tatsächlich winkte Luzula ihr Kind nochmals zu sich heran, ein kleines Stück abseits. Vahla folgte, einen trotzigen Blick zur Schau tragend, als wolle sie verdeutlichen, dass sie ihr längst noch nicht vergeben hätte. Doch Luzula kannte ihre Tochter und wusste, wie die Dinge zu richten waren. „Dass du mir ja gut auf ihn aufpasst, hörst du?“ flüsterte sie ihrem Kind zu. Vahlas Miene hellte auf, geradezu belustigt. Ein leichtes Kichern unterdrückend, nickte sie eifrig. Arrkan war ein guter Junge. Aber ein bisschen… weich. Nicht, das daran irgendetwas verkehrt wäre. Jeder sollte leben und sein, wie es ihm passte – so zumindest die Meinung der Seherin, und wer außer dem König würde schon wagen, mit ihr zu streiten? Nun gut, wer, außer dem König und ihrer Tochter? Aber Vahla hatte wenigstens ein paar Grundlagen in einfachem Waffenkampf. Speere, Äxte, Schilde, notfalls ein Stuhlbein. Luzula hatte entgegen Garwinns Wünschen ihr ab und an ein paar Tricks gezeigt, die sie mindestens aus einer Kneipenschlägerei retten würden. „Und nun geh schon, schnapp ihn dir!“ feuerte sie ihre Tochter an, die daraufhin nochmals nickte und eilig zu ihrem Liebsten zurückkehrte. Etwas lauter richtete sie ihre Worte an den jungen Burschen. „Und das du sie mir ja nicht zu früh zurückbringst!“ Rot anlaufend nickte der junge Mann, bot Vahla den Arm dar und führte sie in Richtung des Tores jener Mauer, die das Palastviertel umschloss. Die Geste, ihr den Arm anzubieten, damit sie sich einhaken konnte… gefiel Luzula. Guter Junge. Er hatte ihren Segen. „Sie werden so schnell erwachsen, hm?“ ertönte eine raue, gealterte, aber wohlvertraute Stimme hinter ihr. Ein Lächeln zog über ihre Lippen, bevor sie seine Figur neben sich zum Stehen kommen sah. „Manchmal zu schnell… und manchmal nicht schnell genug“, erwiderte die Seherin. Einen Augenblick verharrten beide in Schweigen, ehe sich Ragnar abermals an Luzula wandte. „Du lässt sie gehen? Einfach so?“ wollte er wissen, die dichte, buschige Augenbraue skeptisch gehoben. Ein geradezu heimtückisches Lächeln breitete sich auf Luzulas Lippen aus, ehe sie ihren mechanischen Arm hob. Ein paar der Runen drehend und drückend, nahm sie die nötigen Kalibrierungen vor. Schließlich schoss ein konzentrierter Strahl gelben Lichtes aus der gebündelten Energie der Runen und öffnete ein Portal keine drei Meter vor ihnen, direkt auf dem Platz. Die Wachen auf der Mauer wurden nicht einmal unruhig. Als die Seherin das das erste Mal getan hatte, war heilloses Chaos ausgebrochen. Erst recht bei dem, was danach folgte! Denn auch diesmal drehte sich die spiegelartig wirkende, schimmernde Fläche nicht allzu lange, ehe eine fremde Kreatur daraus hervorbrach. Wie ein gewaltiges, monströses Insekt wandte sich das tausendfüßlerartige Wesen, auf dessen segmentierten Rückenteilen Arme empor sprossen, die das Laufen im Notfall ebenso gut übernehmen konnten wie die krabbenartigen Beine. Als Pfeifer erstmals auf dem Hofplatz aufgetaucht war, hatte man ein Attentat auf die Krone vermutet. Man hatte Pfeifer drei Mal umgebracht und er war jedes Mal einfach wieder aus dem Portal gekommen. Die Beraterin des Königs hatte man zu Boden gerungen, in Ketten gelegt, aber glücklicherweise war Pfeifer nicht auf die Idee gekommen, sie befreien zu wollen oder die ihn attackierenden Zwerge anzugreifen. Er kehrte einfach ständig zu ihr zurück und die heillos überforderte Wache wusste nicht, wie sie ihre Armprothese bedienen konnte, um das Portal zu schließen. Erst mit Ragnars Auftauchen hatte sich die Situation damals entschärfen lassen. Heute war die Kreatur zwar alles andere als gern gesehen, selbst Ragnar fühlte sich in ihrer Nähe unwohl, doch Luzula pflegte mit diesem… Ding einen innigen, geradezu freundschaftlichen Umgang. „Pass auf die zwei auf, hörst du? Ich hab so ein Gefühl…“ flüsterte des Königs Beraterin dem Wesen zu, während sie in Richtung der Palastmauer blickte. Das junge Paar war längst verschwunden, doch Pfeifer hatte überlegene Sinne und konnte sie in ganz Nothrend mühelos wiederfinden. Dabei unbemerkt zu bleiben, das war die Kunst. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit jagte der Fremdweltler davon, dem glücklichen und ahnungslosen Paar hinterher. Ragnar hatte das Spektakel verfolgt, neugierig und ebenso zurückhaltend wie immer. Erst als Luzula sich ihm zuwandte, tauschten sie eine angemessene Begrüßung aus. Die Umarmung dauerte nicht lange und Seite an Seite begaben sie sich in Richtung des Palastes davon. „Wir haben uns zu lange nicht mehr gesehen… und das, obwohl wir praktisch Nachbarn sind!“ erörterte Ragnar. Seine Begleitung dagegen lächelte nur vage. „Zwei Monate, vier Tage und sieben Stunden ist es her. Und eine Minute. Und elf Sekunden. Dreizehn. Fünfzehn.“ Der König des lumiél’schen Zwergenreiches lachte heiter auf. „Eine Antwort, die einer Kupferschlag würdig ist!“ Sie durchschritten gemeinsam das erste Tor und streiften durch die hell erleuchteten, prunkvollen Korridore des Palastes. Hier zumindest könnte man sich gefahrloser verlaufen: Alle paar Meter stand eine Wache vor irgendeiner Tür, hauptsächlich die Gemächer von Boten, Spionen, Botschaftern und Gesandten der verschiedenen Familien. Und jede der Wachen konnte zweifellos Auskunft geben, wo im Namen der Ahnen man gerade war und wohin man sich richten musste. „Wie ist es dir ergangen?“ begann Luzula das Gespräch mit ein wenig seichteren Themen, während die Blaupausen in dem kleinen Rucksack mit jedem Schritt schwerer zu wiegen schienen. „Wie wohl? Verdammte Höflinge. Allmählich machen Gerüchte die Runde, ich würde alt werden. Ich! Alt! Pah… junges Gemüse.“ Luzula schmunzelte, erwiderte jedoch nichts. Ragnar war nun schon ein ganzes Stück über die tausend Jahre. Ein guter König, einer der Besten vielleicht, der sie durch mehr als nur eine Krise geführt hatte. Aber so sehr er sich dem auch widersetzen wollte, war an den Worten der Buhler etwas dran: Auch für einen guten König stand das Rad der Zeit nicht still. Thorin, ein früherer Freund Garwinns, hätte davon sicherlich auch das eine oder andere Liedchen singen können. Wussten die Ahnen, wo der sich rumtrieb… „Was gibt’s Neues aus dem Osten?“ erkundigte sich die Seherin, wissend, dass sie damit bereits heiklere Themen anschnitt. Die Bühne der Weltöffentlichkeit hatte sich lange Zeit nicht sonderlich für Tieflinge oder Aasimare interessiert. Es gab sie und sie waren eine seltene Kuriosität. Die einen waren Ungeziefer, die anderen… einfach seltsam. Hübsch, aber irgendwie auch gruselig. Das war zumindest die landläufige Meinung gewesen, bis beide Parteien aus irgendeinem diffusen Grund plötzlich Krieg ausgerufen hatten. Und nicht nur irgendeinen. Es war ein Vernichtungskrieg, auf den sich beide Seiten eingelassen hatten. Am Ende dieses Kampfes würde es auf dieser Welt nur noch eine Seite geben. Die andere wäre getilgt. Das hätte die meisten anderen Völker nicht sonderlich interessiert, wäre da nicht die Art und Weise, wie dieser Krieg geführt wurde. Selbst das Abschlachten der Alten, Kranken und Kinder hätte wenig Aufsehen erregt – Krieg war eben schmutzig. Aber als in mehreren Konfrontationen auf diversen Schlachtfeldern immer höhere Verluste unter Rassen zu beklagen waren, die mit ihren Scharmützeln nicht einmal etwas zu tun hatten, verfinsterte sich die Stimmung. Als dann obendrein noch jemand auf die glorreiche Idee kam, die Vorfahren zu Hilfe zu rufen, war alles aus und vorbei. Tieflinge beschworen Teufel und Dämonen und Aasimare… was auch immer in deren Blutlinie herumgepfuscht hatte. Das war eine konstante Belastung für das magische Gewebe, zu stark an vereinzelten Punkten. Risse taten sich auf, die selbst der Zirkel der Magier nicht mehr schnell genug zu stopfen fähig war. Immer mehr drang aus fremden Welten in diese. Anfangs waren es nur deren Bewohner. Manche kamen aus Neugier, aus Dummheit, aus Zufall hierher. Andere leider etwas gezielter. Aber inzwischen waren es nicht nur deren Bewohner. Ganze Landschaften wurden durch ihr Äquivalent aus einer anderen Welt ersetzt. Und schlimmer noch, um manche Risse herum begannen sich neue physikalische Gesetze zu etablieren. Die fliegenden Gärten hatte man beispielsweise eine Weile lang wirklich hübsch gefunden. Gewaltige Klumpen Erde, voller Bäume, Gräser, Kräuter, ganze Wälder wucherten darauf und sie schwebten still und majestätisch durch die Lüfte. Naja zumindest, bis einer dieser Brocken die Einflusszone verließ. Und eine Stadt mit mehreren tausend Einwohnern einfach unter sich zerschmetterte, als er herabfiel. Die Magier hatten unweigerlich begonnen, sich einzumischen. Während der Orden versuchte, die Kämpfe zu minimieren, versuchte der Zirkel, die Löcher zu stopfen. Nur öffneten die sich schneller, als die Magier hinterher kamen. Irgendwann zeigte der Orden dann sein wahres Gesicht und begann eine gnadenlose Hetzjagd. Jeder Tiefling, jeder Aasimar, ob krank, verwundet, an Kampfhandlungen interessiert oder nicht, jeder friedliche Teufel, jeder Paktpartner, alles was auch nur ansatzweise im Entferntesten mit fremden Welten zu tun hatte, wurde gejagt. Und die Jahrtausende alte Tradition, ihre Ränge nur mit den Besten und Stärksten zu besetzen, sie nur auf offensive Handlungen auszubilden, machte sich grausig bezahlt. Die Leichenberge in aller Herren Länder türmten sich gewaltig in die Höhe. Während überall Genies, Entwickler, Techniker und Zirkelmagier damit befasst waren, Lösungen für das Problem der sich inzwischen selbstständig öffnenden Risse zu finden, gab es nun die Ostfront. Alles, was auch nur den Anschein hatte, nicht von dieser Welt zu sein und genug Beine, um fliehen zu können, war nach Shou Lang gereist. Sogar Tieflinge und Aasimare hatten vor der Hölle, die der Orden entfesselt hatte, gemeinsam auf Schiffen kauernd Reißaus genommen, so hieß es. Doch der Orden hörte nicht auf, nicht, solange die Gefahr restlos getilgt wäre. Shou Lang stand unter konstanten Angriffen. Die Nation war gewaltig, fremdartig… aber nicht unbesiegbar. Und während der Rest der Welt irgendwie versuchte, nicht von dem Berg anderer Sorgen und Probleme ertränkt zu werden, hielten sie alle zugleich den Atem an. Über die eine Frage, die irgendwann wichtig werden würde: Was geschah, wenn der Orden gesiegt hatte…? Auch Ragnars Gedanken waren mit Sorgen verhangen. Mit eben dieser Frage belastet. Er schüttelte lediglich ernsten Blickes den Kopf. „Sieht nicht gut aus“, erklärte er. Das Problem mit der Antwort war… das man sie gut in beide Richtungen deuten konnte. Und keine von beiden Richtungen wirkte sonderlich einladend. Luzulas Gedanken kehrten zu Vahla zurück. Es war… keine schöne Zeit, in die sie hineingeboren worden war. Eine Zeit lang hatte es gewirkt, als wäre mit der Rückkehr der Drachen in diese Welt das trübe, finstere Blatt zum Besseren gewendet worden. Als würde diese sich erhebende, gewaltige Macht von Weisheit und Güte endlich wieder etwas mehr Licht in die Welt bringen. Vielleicht hätte das auch geklappt, hätte nicht irgendein Idiot auch die andere Hälfte der Drachen geweckt. Wirklich böse Drachen gab es nicht. Nur offenbar ziemlich… Wahnsinnige. Doch die Seherin behielt all das für sich. Die Drachen waren ein völlig anderes Thema. Ein anderer Krieg. Einer, aus dem die Zwerge glücklicherweise bisher geschafft hatten, sich herauszuhalten. Sie trugen ihren Bürgerkrieg in Shou Lang aus. So wie die Aasimare und Tieflinge. So wie der Orden und die fremden Welten. Es schien, als würden alle Kriege sich gegenwärtig dort konzentrieren. Und Luzula… sie wusste die Antwort. Sie hatte sie gesehen, in ihren Träumen, hatte sie berechnet. Sie tat es immer wieder und wieder. Aus Langeweile, manchmal. Aus Angst, gelegentlich. Oder aus der schlichten Hoffnung, das Ergebnis sei diesmal ein anderes. Dies war der Krieg. Nicht irgendeiner. Nicht eine wahllose Ansammlung von Konflikten. Es war der eine Krieg, der, mit dem das Ende begann.   Irgendwo waren sie abgebogen. Hatten eine in eine Mauer eingebaute Geheimtür genutzt. Die Gänge hier waren keine kunstvoll gehauenen Korridore, sondern eher grobe Stollen. Nur alle paar dutzend Fuß fand sich eine Fackel. Keine Wachen, die man um Auskunft bitten konnte, keine Büsten, Bilder und Teppiche. Stattdessen kreuzte gelegentlich der eine oder andere Gnom ihren Weg. „Ich sehe die Pläne in deinem Rucksack“, setzte Ragnar nach einer kleinen Ewigkeit an, die sie in Schweigsamkeit Seite an Seite einfach nur laufend zugebracht hatten, jeder seinen eigenen, stetig düsterer werdenden Gedanken nachhängend. „Die nächste Bauphase?“ erkundigte sich der König. Seine Beraterin nickte. „Bist du dafür bereit?“ wollte sie wissen, doch Ragnar schnaubte zunächst nur. Es brauchte einen Moment, ehe er sich fing. „Jedes Mal, wenn du mit diesen Plänen ankommst, muss ich erklären, wohin solche Summen verschwinden, das ich damit drei neue Armeen aufstellen und für meine ganze Lebensspanne füttern, bezahlen und ausrüsten könnte. Oder eher… ich muss es verschleiern. Ich glaube nicht, dass ich dafür je bereit sein werde. Wie viel ist es diesmal? Also… im Vergleich zum letzten Mal?“ Luzula ließ sich die Worte ihres Königs durch den Kopf gehen. Sie konnte nicht einmal erahnen, was für eine Bürde er tragen musste. Und sie… sie war diese Bürde. „Fast das Doppelte“, gestand sie ein. Ragnar blieb abrupt stehen. Sie ging noch ein paar Schritte, bemerkte dann erst sein Fehlen und hielt inne. Besorgt blickte sie zurück, sah die steinerne Miene ihres Freundes. „Das wird ein Problem sein, nicht wahr?“ erkundigte sie sich unsicher. Sie konnte den Weltenmechanismus berechnen, sie konnte Geschehnisse sehen, die sich jeglicher Vorstellungskraft entzogen… aber ihre Gabe versetzte sie nicht in die Lage, unvorstellbare Unsummen an Münzen aus dem Nichts erscheinen zu lassen. Ragnar harrte dort aus, vielleicht eine Minute, vielleicht zwei, ehe er sich langsam wieder in Bewegung setzte, die Miene finster. „Nein“, antworte er grob und hart, „Ich schaff das schon. Irgendwie.“ Er wusste selbst noch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. Die von Luzula bezeichnete Menge verschlang fast die Hälfte ihres Etats. Jedoch nicht nur des Etats für Nothrend. Das waren Größenordnungen, die sie mit der dritten Überarbeitung bereits gesprengt hatten. Es war der Etat für das gesamte Reich. Und vermutlich würde noch vor seinem Ableben eine Reihe an Plänen eintrudeln, für die mehr Geld nötig war, als das Zwergenreich Lumiél aufbieten konnte. Doch er erinnerte sich noch an Luzula. An die junge, schüchterne Frau, die mit ihren gekritzelten Plänen ankam. Er erinnerte sich an das Zittern in ihrer Stimme, an die Angst in ihrem Blick… und daran, wie all das verschwand und einer beängstigenden Schärfe, Härte und Gewissheit Platz machte, sobald sie von ihren Plänen zu berichten begann. Selbst heute noch hatte Ragnar nie auch nur den Hauch von Zweifel in Luzula gefunden. Sie glaubte an ihr… kleines Projekt, wie sie es anfangs genannt hatten. Anfangs, ehe ihnen beiden angesichts immer größerer Baukosten der Witz quer in der Kehle stecken blieb. Sie kamen schließlich an der Baustelle an. Die monströse Apparatur, die sich vor ihnen dutzende Meter in die Höhe erhob und irgendwo in der Decke der Höhle verschwand… war kaum mehr als ein einzelnes Haar im Vergleich zum restlichen Körper. „Wie lange noch?“ wollte er von ihr wissen, einmal mehr nach Zweifeln in ihrer Stimme suchend. Nach irgendeinem Grund, dieses irrsinnige Monstrum abzureißen, das ganze Projekt einfach hinter dieser Tür zu vergessen und totzuschweigen. Luzula holte tief Luft. Das war nie ein Thema, das sich als sonderlich erfreulich erwiesen hatte. „Ein-, schlimmstenfalls zweitausend Jahre.“ Ragnar japste nicht nach Luft. Er gaffte sie nicht schockiert an. Er hatte ähnliche Zahlen schon früher gehört. „Vahla ist klug“, begann die Seherin anzusetzen, „Einmal die Woche muss ich die Bibliothek mit einer neuen Charge füllen. Sie hat ein makelloses Gedächtnis, sie ist nicht wählerisch, wenn es zu ihrer Lektüre kommt. Technische Handbücher, Esoterik, fantastische Romane… sie verschlingt es. Alles.“ Sie konnte sehen, wie Ragnars Schultern zu sinken begannen. Er starrte auf die Apparatur und auch ohne dass er ein einziges Wort darüber verlor, wusste sie einfach, dass er begann, sich klein zu fühlen. Winzig im Vergleich zu den Geschehnissen in einer viel zu großen Welt. Und dumm im Angesicht einer virtuosen Idee, die Luzula eisern verfolgte und die er mit seinem Verstand einfach nicht völlig erfassen konnte. „Warum weihst du sie nicht ein?“ Ragnar konnte die Stille hinter sich vernehmen. War es das? War das der Moment des Zögerns und Zweifelns, auf den er gewartet hatte? Er hörte Schritte hinter sich, ihm begann zu dämmern… das er sich irrte. Nein. Das war nicht der Moment. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und mit geradezu mütterlicher Güte hob Luzula leise hinter ihm an. „Lass sie noch. Beide. Dein Sohn wird sich früh genug mit den Regierungsgeschäften herumschlagen müssen und Vahla… ich wollte immer, das sie ein normales Leben führen kann. Sich ihren Weg aussuchen kann. Diesen Luxus werde ich ihr vielleicht nicht bieten können, aber… sie soll so viel leben, wie sie kann. Ich will ihr so viel Zeit geben, wie mir möglich.“ Mit sanftem Druck wandte die Seherin Ragnar vom Anblick der Maschine ab. Er sah sie an, ihre Blicke trafen sich. Die mechanische Hand kam schwer auf seiner anderen Schulter zum Liegen. „Unsere Kinder“, begann sie eindringlich, „werden den Hauptteil des Projektes abschließen. Ich weiß, dass sie das schaffen werden, weil ich sie kenne. Besser, als sie sich selbst. Sie werden das bewältigen, rechtzeitig – und dank ihnen werden wir überdauern. Wir alle.“ Ragnar hatte nicht bemerkt, wie sein Blick trübe geworden war. Er rührte sich nicht, sagte kein Wort, als Tränen über seine Wangen rannen und sich irgendwo in seinem Bart verloren. Ein zögerliches Nicken, voller Unsicherheit, besänftigt nur von dem zarten, warmen Lächeln auf den Lippen einer deutlich gealterten Luzula. Sie zog ihn in eine enge Umarmung, versuchte ihm Trost zu spenden, ihm eine Stütze zu sein. Während der König in ihren Armen versuchte, sich zu fangen, wanderte der Blick der Seherin zur Maschine. Ernst und beinahe schon zornig starrte sie das Metall an. Krieg war schmutzig. Das war er immer gewesen und würde er immer sein. Er erforderte harte Entscheidungen. Hässliche Entscheidungen. … und sie triefte vor Dreck in ihrem Kampf gegen die Zeit… Kapitel 36: Lady Acedia ----------------------- Lächeln, mahnte sie sich abermals, Immer lächeln. Mit der Mühe, als würde sie einen Troll gegen seinen Willen bewegen wollen, hob, zog und schob sie an ihren Mundwinkeln herum, bis der gepresste, forcierte Ausdruck auf ihre Lippen zurückkehrte und ihre Mundwinkel sich zittrig hoben. Nichts von alledem sah man ihr an. Sie hatte dieses Lächeln zu lange geübt, um zuzulassen, dass andere sahen, was es sie kostete. Dabei wäre die Alternative so simpel…   „Es reicht. Wirklich, es reicht, das ist jetzt genug“, bekräftigte sie, während ihre Hand in aller Seelenruhe hinter ihre Gestalt griff. Unsicher, was er zu erwarten hatte, starrte der breit gebaute Zwerg sie an. Obwohl er ein ganzes Stück kleiner war, blickte er auf sie herab. Und sie war diesen Blick leid. Sie war seine herablassende Art leid und seine selbstgerechten Worte. Der elbische Bogen kam zum Vorschein, wurde gehoben, ein Pfeil aus dem Köcher gezogen. Keine fließende, rasche Bewegung, nein. Sie musste sich umdrehen. Musste nach ihrem Köcher suchen. Er stand an der Wand gelehnt, zwischen einem Stuhl und der Tür. Ein paar Schritte trugen sie herüber, ein einzelner Pfeil verschwand aus der Summe des Inhalts und ein paar weitere Schritte trugen sie an ihre Ausgangsposition zurück. Sorgfältig legte sie an, hob die Spitze. Der Zwerg hatte das Schauspiel verfolgt. Zunächst erstaunt, doch mit wachsendem Unbehagen. Ungläubig gaffte er sie an. Hatte er zu Beginn gefragt, was sie sich erdreistete, zu unterbrechen, schien ihm allmählich zu dämmern, worauf das hier hinauslaufen würde. Eine buschige Braue hob sich, verhöhnte sie selbst jetzt noch, da sich ihr Pfeil auf ihn richtete. Er setzte an, etwas zu sagen, begegnete in jenem Moment ihrem Blick. Jenen schönen, blauen Augen. Kalt wie das Nordeis, das die Unachtsamen erfror. Die Dringlichkeit seiner Situation wurde ihm mit einem Schlag bewusst, er hob die Hände, plötzlich der Panik nahe, stammelte Entschuldigungen, Mahnungen, Gebettel, alles wild durcheinander. Also wirklich. Der Anblick hätte sie fast auflachen lassen. Vielleicht, so rätselte sie, sollte sie ihm einen Rat mitgeben. Dass er sich das alles früher hätte überlegen müssen – dann wiederum, was nutzte ihm der Rat jetzt noch? Ihr Arm riss sich wie automatisiert zurück, die Spannung wuchs von Sekunde zu Sekunde und während die Stimme des Zwergs schriller wurde, hysterisch, in ihren Ohren zu schmerzen begann, zögerte sie eine letzte Sekunde. Hierfür würde sie sich was von Thorin anhören dürfen. Er mochte dieses Zwergenpack. Dessen ungeachtet schnellte der Pfeil von der Sehne. Blut. Blut überall. Der verdammte Teppich war voll davon. Hatte dieser Dummkopf denn noch nie einen Kampf bestritten?! Man zog Pfeile nicht einfach heraus. Schon gar nicht an solch sensiblen Stellen und erst recht nicht, wenn man gegen sie antrat. Nicht, das er Letzteres hätte wissen können. Doch seit ein paar einschlägigen Erfahrungen unschönerer Natur verwendete sie Geschosse mit kleinen Widerhaken. Sie herauszuziehen richtete in der Regel mehr Schaden an als sie durchzudrücken. Dummkopf. Den Teppich wieder sauber zu bekommen würde ewig dauern.   Das Lächeln auf ihren Lippen, obwohl aufrichtig wirkend, hatte kurz einen verträumten Einschlag erhalten. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die aktuellen Geschehnisse, als man sie dazu aufforderte. Worum ging es? Waren sie mit dem letzten Thema schon durch? Gute Güte, wie viel von diesem Irrsinn musste sie sich noch anhören? Konnte sie nicht einfach…   … sein schickes neues Hemd packen? So hübsch, so fein gearbeitet, nur die besten und teuersten, seltensten und edelsten Stoffe, von den geschicktesten Händen vernäht und verziert. Es machte sie rasend, diesen dekadenten Fummel an ihm zu sehen. Ihre dünnen, geschickten Finger vergruben sich darin. Hoffentlich zerknitterte sie das verdammte Material! Sie riss ihn vom Boden. Nicht, dass das möglich sein sollte. Physikalisch undenkbar. Sie war kleiner als er, schwächer als er, er wog vermutlich ein Stück mehr. Egal. Wen interessierte schon Physik – sie war eine Elbe, verdammt nochmal! Oder… zumindest zur Hälfte, wie dieses blasierte Vollblut in ihrem Griff betonen würde. Wind fuhr ihr wie die geschmeidige Hand eines Liebhabers durch die Haare. Sie schloss kurz ihre Augen, ignorierte das Zappeln, das ihre angespannte Armmuskulatur belastete und neigte das Gesicht in den morgendlichen Wind hinein, gab sich den Liebkosungen ihres Gespielen einen Moment lang hin. Der Wind trug den Geruch nach einbrechendem Sommer mit sich. Nach Vitalität und Leben, nach satten Wiesen, weiten Wäldern, dichtem Unterholz und prall gefüllten Beerensträuchern. Sie hätte sich darin verlieren können. Hätte sich dank dessen beruhigen können. Aber das ständige Gezappel vor ihr, die wütenden Ausrufe und Forderungen, das alles mahnte sie, das es wirklich an der Zeit war. Sie öffnete ihre Augen wieder, wartete ein paar Herzschläge ab, binnen derer sich ihre Augen an das Sonnenlicht gewöhnten. Ihr Blick fuhr zu seinem verdammten, schicken neuen Hemd zurück. Noch immer zappelten seine Füße wenige Zentimeter über dem Boden. Ein einziger Schritt ihrerseits und sie zappelten mehrere hundert Meter über dem Boden. Kurz nur lehnte sie sich vor, blickte hinab. Die Kreuzwegfeste war Teil des gewaltigen, ehemals verfluchten Bollwerks der Schwarzen Mauer. Sie war nahtlos in den Wall eingelassen worden und befand sich am östlichen Ende – direkt am Ende. Unter ihnen ging es in die Tiefe der Meeresbucht, die an dieser Stelle des Atolls zu einer Landenge führte. Ein kleiner, leicht zu verteidigender Flaschenhals und dort unten war nur die schäumende See, die sich an uralten Klippen brach. Er versuchte nach ihr zu schlagen, während sich seine linke Hand in ihren Unterarm krallte. Der bloße Versuch brachte ihr Gemüt zum überkochen. Er hatte versucht sie zu schlagen? Er hatte versucht, sie zu schlagen! Nicht, wie es sich gehört hätte, mit der Faust. Nicht, wie es sich gehört hätte – angesichts seiner Situation – mit voller Kraft. Nein, dieses kleine Aas hatte versucht, ihr eine Ohrfeige zu verpassten. Als sei sie ein kleines Mädchen, das gescholten werden musste. Als könne man sie selbst wider der Situation nicht ernst nehmen. Ihr Blick bohrte sich in ihn, durch ihn durch, wanderte zu jener linken Hand, deren Finger sich in ihr Fleisch zu graben versuchten. Sie aber, das dumme kleine Gör, hatte etwas, das er aufgrund seines enormen Sinns für Reinlichkeit und Hygiene aktuell nicht besaß. Fingernägel. Sie löste eine Hand aus seinem Hemd, grub selbige in sein Handgelenk. Er wimmerte kurz, versuchte einen Schmerzschrei herunter zu würgen, versuchte seine Position zu halten, sie nicht loszulassen – doch er war chancenlos. Blut rann über sein Handgelenk, seine Hand, seine Finger, floss auf ihren Arm über. Er ließ schließlich los – und sie tat das Gleiche. Sie empfand keine nennenswerte Befriedigung dabei, ihn in den Tod stürzen zu sehen. Das unbeschreibliche Ausmaß an Angst in seinen Augen, das hilflose Rudern mit den Gliedmaßen, in der verzweifelten Hoffnung, aus Luft und Nichts möge sich etwas materialisieren, das ihm Halt und Rettung versprach. Nein, sie empfand keine Befriedigung, als sie ihn fallen sah. Die kam erst, als sein Körper an den Felsen aufschlug, von den Wellen fortgetragen und wieder und wieder im Wogen der Wellen gegen die Küstenlinie geschmettert wurde. Erst dann gönnte sie sich…   … ein zufriedenes Lächeln. Ishara ertappte sich dabei, wie sie hinter sich spähte. Zu ihrem Köcher, der zwischen einem Stuhl und der Tür an der Wand lehnte. Zu den Pfeilen darin. Das war alles, was sie wissen musste. Alles, was sie bemerken musste. Sie entschuldigte sich eilig, mit rasendem Puls und trat hinaus auf den Gang jenseits des Konferenzraumes. Einmal die Tür ins Schloss gezogen, atmete sie tief durch. Lehnte gegen die Wand, schloss die Augen, den Kopf in den Nacken gelegt und atmete bewusst ein und aus. „So schlimm, hm?“ erklang eine honigsüße Stimme, die jedem noch so kritischen Gehörgang schmeichelte. Unwillkürlich zogen ihre Mundwinkel empor. Nicht als einstudiertes Schauspiel wie die Schritte eines Standardtanzes, sondern als aufrichtige Geste, als Zeichen ihrer Freude, jemanden mit klarem Verstand als Gesellschaft zu haben. Nun… zumindest jemanden, dessen Gesellschaft sie zu schätzen wusste – vom Zustand des Verstandes abgesehen. Sie antwortete nicht, hörte aber die sanften, fast lautlosen Schritte auf dem Teppich. Irgendwo in der Ferne war die dumpfe Hintergrundkulisse des alltäglichen Lebens in der Feste zu vernehmen. Geschäftiges Treiben, Klappern von Tellern und Kochtöpfen, Waffentraining, gerufene Befehle, leichtherzige Gespräche, alles vermischte sich zu einem Brei, der sich leicht ignorieren ließ, wenn man ein paar Tage hier zugebracht hatte. Sie spürte die Wärme, die von jenem nahe an der Wand neben ihr lehnenden Körper ausging. „Soll ich übernehmen?“ erkundigte sich Ninafer. Das Lächeln Isharas wuchs zu einem beinahe hämischen Grinsen aus. „Wäre das wirklich fair?“ erwiderte sie, ohne sich zu rühren, ohne die Augen zu öffnen oder den Kopf zu drehen. Sie überdachte, was geschehen war. Wie sie jeden in diesem Raum bis auf einen hatte umbringen wollen. Wie sie es sich ausgemalt hatte, die Umsetzung, wie sie Genugtuung dabei empfunden hatte, wie sie sich bei dem Gedanken erwischt hatte, es vielleicht einfach darauf ankommen zu lassen, es umzusetzen. Fakt war – sie brauchten diese Idioten. Sie brauchten sie und ihre Zustimmung, ihre Gelder, ihre Truppen, ihre Informationen. Sanft schüttelte sie den Kopf. Sie brauchten all das für ihre Sache. Ihre Sache. Wann hatte sie eigentlich angefangen, sich diesen ganzen Wahnsinn so zu Herzen zu nehmen? Schlechter Einfluss. Da gab es mindestens zwei, drei Leute, die eindeutig einen schlechten Einfluss auf sie ausübten. Nicht, das sie das wirklich hätte ändern wollen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug sie die Augen auf, starrte zunächst an die Decke, ehe sie das Haupt zur Seite rollte. Ihr Blick glitt über Ninafers Figur und einen Moment konnte sie sich nicht erwehren, mehr zu sehen, als ihr möglicherweise zustand. Ein wirklich hübsches, grasgrünes Kleid mit goldenen Ranken als Verzierung. Eine adrette Schnürung, die so viel Einblick auf ihren Busen gab, wie sich gerade noch gesellschaftlich vertreten ließ. Sie wusste, was unter diesem Stoff lag. Sie wusste, wie ihre Haut sich anfühlte. Wie sie schmeckte. Ein kurzer Schauer rann ihr Rückgrat herab. Sie wusste, wie sie roch, wie sie- Die aufkeimende Röte auf ihrem Gesicht verriet sie zweifellos. Sie intensivierte sich nur noch, als ihr Blick den Ninafers traf. Die frühere Ereshkigal-Adeptin schenkte ihr ein wissendes, ein geradezu verspieltes Grinsen. Sie störte sich nicht an musternden Blicken. Sie störte sich nicht einmal an lüsternen Blicken – es war fraglich, ob sie sich überhaupt an irgendetwas störte. Doch sie wartete offenkundig noch immer auf Lileths Antwort. Sie hätte es wirklich wissen müssen. Natürlich interessierte Ninafer nicht wirklich, ob Fairness eine Rolle spielen sollte. Das hier war Isharas Land, Isharas Festung und Isharas verdammte Konferenz. Mehr oder minder. Es würde so fair zugehen, wie immer sie das wollte. Und der Gedanke trieb ihr ein Lächeln auf die Lippen, so kalt, berechnend und räuberisch wie es sich dort lange nicht hatte blicken lassen. „Mortimer ist noch drin und reißt sie vermutlich gerade in Stücke, mit freundlichen Worten und höflichem Lächeln“, setzte Ishara an, ehe sie Ninafer nochmals in Augenschein nahm. Langes, wallendes, dichtes braunes Haar. Rehbraune Augen. Volle Lippen. Sie verstand, was Thorin – und jeder andere Mann, sogar so manches andere Weib – in ihr sah. Was sie nicht verstand, nicht vollständig zumindest, war Ninafers Gabe, all das in eine Waffe zu verwandeln, die sie mit weit mehr Präzision führen konnte als sogar ein Mortimer Wittgenstein fähig war. „Könntest du-“, hob sie an, zögerte. Wäre das wirklich fair? „Könntest du vielleicht sicherstellen, dass die Stücke nicht zu groß sind?“ Ninafers warmes, herzliches Lächeln wuchs noch ein Stück weiter in die Breite. Sie nickte, wortlos Isharas Wunsch entsprechend und stieß sich von der Wand ab. Mit einem kleinen Sprung im Schritt, so als wäre sie das vergnügteste, bestgelaunte kleine Mädchen dieser großen weiten Welt, umrundete sie Lileth, klopfte an der Tür des Saals und trat kurz darauf ein. Das Klicken des Schlosses war ihr Zeichen genug, die Augen wieder zu schließen und den Kopf wieder in den Nacken zu legen. Was hatte sie den Gesandten und Botschaftern da nur angetan? Nicht, das sie plötzlich Mitleid empfinden würde. Aber es hatte selten Gelegenheiten gegeben, zu denen sie fähig gewesen war, zu verfolgen, wie Mortimer und Ninafer zusammenarbeiteten. Mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, wie sie vorgingen – und was hinterher noch übrig war. Ein Rudel ausgehungerter Wölfe ließ in der Regel von ihren Opfern mehr zurück als diese beiden. Irgendwie… beschwingte sie dieser Gedanke. Eine kleine Melodie wurmte sich ihre Kehle herauf. Sie stieß sich von der Wand ab und wandelte gedankenverloren durch die Korridore der Feste, während sie leise zu summen begann. Eine Abzweigung links, eine Kurve nach rechts, ein paar Treppen hier, ein paar Treppen da. Irgendwann unterwegs wurde ihr klar, dass sie Ninafer hätte  fragen können, wo Thorin gerade war. Wenn es jemand wusste, dann am ehesten noch sie. Der Gedanke an die beiden brachte ihre Erinnerungen jedoch prompt zu neuem Leben. Sie erinnerte sich an das ekstatische Geschrei von letzter Nacht und ihr Verstand machte sich einen hämischen Spaß daraus, Ninafers Keuchen und Stöhnen einzubringen, das aus ihren… anderen, gemeinsamen Erfahrungen resultiert war. Sie konnte nicht leugnen, dass – beides vermischt – einen recht eindeutigen Effekt auf sie hatte. Die Tatsache ignorierend, drückte sie eine schwere, beschlagene Tür auf und fand sich plötzlich unter freiem Himmel wieder. Sie schloss die Pforte ordentlich hinter sich, ehe sie die letzten Stufen auf die Turmkrone hinaufstieg. Der höchste Punkt der Kreuzwegfeste. Sie trat an die Westseite, die Hände auf der rauen Oberfläche der Steinzinnen. Ihr Blick schweifte umher, während der Wind, ganz wie in ihren Vorstellungen, durch ihre Haare fuhr. Ein angenehmes, vertrautes Gefühl. Obwohl so weit südlich, kühlte er ihren Verstand, ihr Haupt, und machte sie damit überhaupt erstmals darauf aufmerksam, wie sehr sie in diesem Konferenzraum überhitzt war. Wache, aufmerksame Augen erfassten zahllose Details. Der Burghof, der Tempelplatz, der Markt. Viele bunte Stände, geschäftiges Treiben. Jenseits der schweren Mauern waren Häuser zu sehen. Äcker. Zäune und Weiden und Vieh. Das Dorf erstreckte sich ein Stück jenseits der Schwarzen Mauer, sowohl nach Norden als auch nach Süden. Es war im Grunde die perfekte Verteidigung für die Siedler. Kamen des Königs Truppen, konnte man alle Bewohner in den Südteil evakuieren. Kamen Dämonen oder Zentauren aus dem Süden, schaffte man das Volk in den Nordteil. Nicht allzu weit entfernt konnte sie das gewaltige Tor sehen. Noch immer schauderte sie, wann immer ihr Blick den schwarzen Stein streifte, den schweren Obsidian der Tore selbst oder die schwach leuchtenden Runen, die darauf prangerten. Sie waren keine Schöpfung der Zwerge, kein Ergebnis der Mühen des Zirkels. Wussten die Götter, woher das kam. Rasch zog sie ihren Blick zurück, konzentrierte sich auf etwas Näheres, Angenehmeres. Unweigerlich streifte sie abermals die Ringmauern der Feste. Der äußere Wall war voller Leben. Wortwörtlich. Nicht nur die Patrouillen, die auf dem Wallkamm entlang spazierten, sondern auch Medeas… Freunde. In unterschiedlichen Größen fanden sie sich auch auf den inneren zwei Wällen, hatten Position bezogen. Sie hatte von diesen Kreaturen gehört. Arbor Genius, Waldgeister, Baumhirten, es gab so viele Namen für sie, wie es Legenden und Theorien über ihre Art und ihre Ursprünge gab. Medea selbst hätte  vielleicht Licht ins Dunkel bringen können, aber mit einer Hüterin zu sprechen entpuppte sich als erstaunlich… kompliziert und anstrengend. Geradezu nervenaufreibend. Man musste ihr so vieles erklären, ehe sie bereit war, eine vernünftige, verständliche Antwort zu geben. Und dann musste man ihr, in aller Regel, jedes weitere, erklärende, zwingend notwendige Wort regelrecht aus der Flechtennase ziehen. Dennoch war der Anblick der Geschöpfe immer wieder beeindruckend. Gewaltige, grüne Giganten voller Äste, Rinde, Blätter, die sich bewegen als wären sie… nun, sie waren lebendig, keine Frage. Sie hatte sie noch nie kämpfen sehen. Aber der Gedanke eines wild um sich schlagenden Baumes war gleichwohl beeindruckend wie irritierend. Wenn man von Teufeln spricht, kommen sie angekrochen, merkte ein Stimmchen in Isharas Hinterkopf an, als sie eine erstaunliche grüne Gestalt sah, die sich dem Hauptgebäude näherte. Sie verfolgte ohne sonderliche Vorfreude, wie dutzende Ranken hervorschnellten, sich zu einer Art überdimensioniertem Pflanzententakel verflochten und, zusammen mit einer zweiten, gleichartigen Gliedmaße, die Figur der Hüterin vom Boden hoben. Zunächst kletterte sie auf diese recht unkonventionelle Weise lediglich auf das Dach der Wache, dann auf das Dach des Hauptgebäudes und begann schließlich, sich den Turm an der Außenmauer heraufzuarbeiten. Im Stillen fragte sich Lileth, wie sie das wohl anstellte. Vielleicht funktionierten die Ranken wie Saugknöpfe eines Tintenfisches? Medea hatte mit ihren Ranken zumindest noch nie die Mauern beschädigt. Der Gedanke, nachzufragen, lag ihr jedoch fern. Entsprechend suchte sie noch einen Moment weiter nach der Gestalt Thorins dort unten im geschäftigen Treiben, ehe Medea ihre Aufmerksamkeit forderte, indem sie schlicht… still und schweigsam neben ihr stand, sie anstarrte und wartete. Ishara seufzte leise. Gar nicht gruselig. Medea blinzelte ja nicht einmal. Sie verstand das Konzept von Höflichkeit nicht, räusperte sich nicht, sprach nicht. Sie stand einfach da, starrte und wartete. „Was willst du?“ erkundigte sich die Burgherrin. Die Dryade sah das als Zeichen ihrer Aufmerksamkeit und hob in einer Stimme an, die Lileth noch immer an das Rascheln von Blättern im Herbstwind erinnerte. „Der Zwerg hat gedroht, unsere Gefährten zu verbrennen.“ Ihre Schultern sackten herab. Das schon wieder. Sie hatte mit Garwinn, Luzula, Caedhal und Daeri keine Probleme. Also… nicht grundsätzlich. Es war nur leider so, das, egal wie oft sie den Betreibern der Schmiede und der Werkstatt die gleiche Predigt hielt oder halten ließ, diese es einfach nicht zu begreifen schienen. Entweder das, oder sie wollten ihr Medea regelrecht auf den Hals hetzen. Sie konnte sich nicht einmal entscheiden, welche Variante ihr weniger lieb war. „Humor. Das nennt sich Humor. Sie haben einen Witz gemacht“, erklärte sie und wagte tatsächlich für die Dauer einer Sekunde zu hoffen – ehe sie hinter sich blickte und sah, wie die Hüterin den Kopf schief legte. Soviel dazu. „Ich versichere dir, sie werden deine Gefährten nicht anrühren. Ich… ich rede mit ihnen.“ Schon wieder. Immerhin, die Ankündigung schien Medea zufrieden zu stellen. Sie wollte sich gerade auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war, wieder zu ihren Freunden zurück begeben, als Ishara eine Idee hatte. „Hey, warte mal! Kannst du mir sagen, wo Thorin ist?“ Die Dryade hielt inne, schloss ihre grünen Lider. Eine Minute lang wirkte es, als wäre sie eingeschlafen, von zwei gewaltigen Rankenbündeln mitten in der Luft an der Seite der Turmspitze festgehalten – dann verzog sie das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Er ist an der Grube. Seine Arbeiten haben eine Wurzel des Alten Triebes verletzt.“ Ohne eine weitere Erklärung verschwand die Hüterin abwärts. Das war auch etwas, worüber sie sie im Grunde gerne gefragt hätte. Dieser ‚Alte Trieb‘. Medea erwähnte ihn häufiger. Es schien sich um irgendeine Art von Pflanze zu handeln, die im Untergrund der Kreuzwegfeste existierte und offenbar ihre Wurzeln schon seit einigen hundert Jahren durch massiven Fels trieb. Ishara konnte seine Präsenz spüren, aber sie konnte nicht ermitteln, was es war – oder auch nur, wo es genau war. Ein weiteres Rätsel, das vorläufig ungelöst bleiben würde, so schien es. Zumindest wusste sie nun, wo sich Thorin herumtrieb. Und mit dem hatte sie ein Hühnchen zu rupfen, wie man so schön sagte. Sie stieß sich von den Zinnen fort, genoss noch einen Moment mit geschlossenen Augen den Wind auf ihrem Gesicht, ehe sie den Ausgang suchte. Treppen, Treppen, Treppen, lange Korridore, große Hallen, kleine Wachstuben und, wer hätte es gedacht, noch mehr Treppen. Das Haupthaus war im Grunde ideal errichtet worden – das hieß nur leider nicht, dass es dadurch nicht dennoch zu einem Irrgarten geworden war. Selbst vier Jahre nach ihrem Einzug musste sie immer noch dann und wann eine Wache fragen, wo sie war und wo es weiter ging. Heute hingegen hatte sie Glück und fand ihren Weg auch ohne Schilder. Schilder! Gute Idee! Sie vermerkte den Gedanken für später, ehe sie hinaus ins Freie trat. Ein flach abfallender Weg schlängelte sich vom Eingang der Anlage hinab in die Miniaturstadt, die innerhalb der Wälle der Kreuzwegfeste lag. Die Straße war vor zwei Jahren frisch gepflastert worden, sehr zu Medeas Verdruss, die ausgetrocknete Erde, Staubschichten und eventuell ein paar dörre Grasbüschel bevorzugt hätte. Ihr klar zu machen, das bei Regen sonst kein einziger Karren mehr vorankäme, hatte sich als Aufgabe für mehrere Stunden erwiesen. Thorin zu finden erwies sich als nicht sonderlich schwer. Im Moment gab es innerhalb der Festung nur eine Baustelle und dort wurde erst das Fundament ausgehoben. Schon von weitem konnte sie die abgesperrte Stelle sehen – ebenso wie die Spitzhacke, die mit ungebrochenem Eifer zweifellos schon seit Stunden geschwungen wurde. „Du warst heute früh nicht bei deinem Treffen“, erklärte sie mit heiterer Stimme und setzte sich an den Grubenrand, die Beine in die Tiefe baumeln lassend. Der Hüne blickte nur kurz von seiner Arbeit auf. Sein Oberkörper glänzte von den Anstrengungen, Muskeln spannten sich wie kleine Pakete unter der Haut, als ein weiterer, kraftvoller Schwung das Werkzeug niedertrieb und ein Stück Stein schlicht spaltete. „Tut mir leid“, schob er schwer atmend zwischen die Schläge, „Ich dachte mir, du wirst damit fertig“, erklärte er sein wundersames Verschwinden aus den Räumlichkeiten, die für ihn vorbereitet worden waren, „Hätte ich heute auch nur einen Diplomaten sehen müssen, ich hätte das ganze Pack erschlagen!“ Isharas Lächeln wuchs zu einem Grinsen aus. Ja, das konnte sie sich tatsächlich gut vorstellen. Obendrein erinnerte es sie an ihre eigenen Fantasien. Als Thorin entsprechend etwas skeptisch danach fragte, ob das Treffen denn schon vorbei sei, konnte sie nicht anders. Kurz auflachend drängte sie die Bilder zurück. Mortimer und Ninafer, die gefährlichsten Wölfe auf Lumiéls sozialem Parkett – und sie hatte die paar Holzköpfe, die sich selbst für Wölfe gehalten hatten, wie Schafe zur Schlachtbank geführt. „Ich hab sie Mortimer überlassen“, setzte sie an. Sie beobachtete die Reaktion des Hünen genau. Wie er kurz das Gesicht verzog, als hätte ihn ein plötzlicher schmerz überkommen. „… und deiner Liebsten“, schob sie nach. Als er hörbar Luft zwischen den Zähnen hindurchsog, hallte abermals ihr Lachen durch die Grube. Ja, in der Haut dieser Gesandten wollte sie im Moment nicht stecken. Sie bekamen zweifellos die Lektion ihres Lebens. Eine Weile begnügte sie sich damit, dem Krieger bei der Arbeit zuzusehen. Die Grube hatte ein erstaunliches Format erreicht, Erdhaufen schichteten sich hier und dort auf, Karren und Eimer standen ungenutzt herum, ein paar weitere Grabgeräte warteten, verwaist, an eine Mauer gelehnt. Die etwas knorrig wirkende Leiter war Thorins einziger Weg, aus der Grube zu kommen. Wie tief war das wohl? Drei Meter? Dreieinhalb? „Du weißt, dass für diese Aufgabe fünf Leute eingeteilt waren?“ hakte sie nach einer kleinen Ewigkeit nach, als der Krieger gerade vier weitere Eimer mit Erde aus den Tiefen über die Leiter nach oben schleppte und auf den Schuttberg entleerte, ehe er wieder hinab kletterte. „Bin fast fertig“, warf er ihr lediglich zur Antwort zurück. Ishara schüttelte lächelnd den Kopf. „Du weißt, dass diese fünf Arbeiter in drei Tagen erst hätten fertig sein sollen…?“ Es war für den früheren Söldner nichts Neues, sich schwere, körperliche Arbeit zu suchen, wann immer er glaubte, ihm würde die Decke auf den Kopf fallen. Oder er müsse irgendwem etwas beweisen. Oder er müsse sich selbst etwas beweisen. Oder etwas ginge nicht schnell genug voran. Oder er hatte einfach Langeweile. Im Grunde war Arbeit immer sein Mittel erster Wahl. Und wie immer leistete er mehr als man von einem durchschnittlichen Mann erwarten konnte – und mehr, als gut war. Er brachte schon wieder sämtliche Pläne für dieses Bauprojekt durcheinander. Schon wieder. „Sag mal, hast du hier irgendwo eine Wurzel zerhackt? Medea hat sich schon wieder beschwert.“ Ohne groß Worte zu verschwenden, deutete Thorin lediglich mit der Spitzhacke auf die Wand, über der sie saß. Sie zog die Beine aus der Grube, ging auf alle Vier und beugte sich, die Hände vorsichtig am Rand positioniert, nach vorne. Ihr Blick suchte den braunen Untergrund ab, bis sie es fand. Ein Weißes etwas, von dichter Rinde umgeben, wie es schien, das nun Pflanzensäfte in die Grube zu bluten schien. Sauber abgehackt. Sie hätte den Kahlkopf dafür rügen wollen, doch in jenem Moment ertönte ein recht eindeutiger Pfiff, begleitet von einem „Hübscher Hintern!“ Ishara lief einen Moment rot an, ehe sie sich… anderer Umstände bewusst wurde. Rasch setzte sie sich wieder auf, bemerkte nur am Rande, wie Thorins Blick sich schlagartig verfinsterte, wie sein Haupt herumgeschnappt war und fixierte, was er noch nicht sehen konnte. Lileth selbst dagegen suchte die Quelle des Ausrufes und… fand sie auch. „Danke“, erwiderte sie grinsend, ehe sie ein Stück Mut zusammenkratzen konnte, „Ebenso.“ Die Röte in ihren Wangen wurde noch ein Stück intensiver, ehe sie in das Loch vor sich zurück blickte. Oh je. Thorin schien regelrecht zu kochen. „Flirtest du?“ hakte er nach, zunächst ungläubig. „N-Nein. Natürlich nicht“, erwiderte sie. Doch sie hatte es versaut. Das war ihr in dem Moment klar geworden, als sie das erste Wort nicht sauber hatte herausbringen können. Als sie es nicht mit genug Überzeugung hatte aussprechen können. Oh je. „Du flirtest“, nannte er diesmal lediglich das Offensichtliche, ehe er sich in Bewegung setzte. „Thorin, nein! Nein!“ Böser Thorin, aus! Sie stieß kurzentschlossen die Leiter um, doch der Hüne hatte ihren Zug kommen sehen, fing das im Kippen befindliche Instrument ab und lehnte sie an eine andere Seite der Grube. Ishara… verfiel in Hektik. Er durfte auf keinen Fall den Kopf über den Rand bekommen. Wenn er sah, wer ihr das Kompliment gemacht hatte… nun, dem letzten hatte er die Nase gebrochen. Zumindest, bis der sich einen flapsigen Kommentar erlaubt hatte. Danach hatten noch ein paar Rippen, ein Brustbein sowie Elle und Speiche des linken Armes daran glauben müssen. Hastig sprang sie von ihrer Position auf, eilte mit wenigen Schritten um die Grube und bekam die Leiter zu fassen. Sie zog mit einem Ruck, mit all ihrer Kraft, als Thorin gerade den Fuß auf die erste Sprosse setzte. Er rutschte ab, diesen Zug eben nicht erwartend. Ishara aber zögerte keine Sekunde. Sie kannte ihn zu gut, kannte seinen Zorn und die Entschlossenheit, die in aller Regel daraus resultierte. Immer höher zog sie die Leiter, verausgabte sich in Sekunden, als sie das verdammte Ding so schnell wie möglich komplett aus dem Loch zog und mit einem erschöpften Schnaufen neben sich fallen ließ. Sie beging den nächsten Fehler, als sie kurz über die Schulter zu schauen wagte. Irrationalerweise hatte sie sich nur versichern wollen, dass er noch gesund und munter war. Noch in einem Stück war. Vielleicht hatte das bereits genügt. Falls nicht: Das Lächeln, welches sich auf ihre Lippen schlich, genügte allemal. Als sie in die Grube zurück blickte, sah sie die Weißglut in Thorins Augen brennen. „Thorin… nein. Nein!“ Wann hatte dieser sture Holzkopf je auf sie gehört?! Was er diesmal tat, war jedoch sogar für seine Verhältnisse… sensationell dumm. Er hätte die Spitzhacke in die Wand schlagen und mit etwas Anlauf als Sprosse nutzen können. Er hätte es mit einem gut gezielten Sprung versuchen können. Er hätte… wussten die Götter was tun können. Etwas anderes als das. Seine bloßen Hände gruben sich in den Boden, gruben sich in das harte, ausgetrocknete Erdreich der Wand. Ein, zwei wuchtige Tritte und er hatte mit dem Fuß genug Halt, um sich ein Stück empor zu schieben – ehe er den Prozess wiederholte. Als der Hüne oben angelangte, war, sehr zu Isharas Erleichterung, weit und breit niemand mehr zu sehen. Thorin ragte wie ein Gebirge über ihr auf. Alt, gewaltig und ehrfurchteinflößend für all jene, die um seine Tücken wussten. Lileth hätte sich vor ein paar Jahren noch bei jenen einsortiert, die sich davon einschüchtern ließen. Dieser Tage hingegen sah das Ganze etwas anders aus. Sie liebte diesen Dummkopf als den Vater, den sie nie hatte. Leider schien das zu bedeuten, dass er auch die Fehler beging, die für Väter üblich waren. „Wer war es?“ verlangte er zu wissen, während Blut von seinen Fingerspitzen tropfte. Dem schroffen Erdreich hatten selbst seine gewaltigen, arbeitsgewohnten Pranken mit all ihrer Hornhaut nichts entgegensetzen können. Feine Steine und Splitter hatten sich in die Wunden eingegraben. „Komm her und setz dich da hin, du Idiot!“ zeterte sie wütend. Es war nicht lange her, da hatte sie in diesem Zustand niemand ernst genommen. Niemand hatte sie ernst nehmen wollen und vermutlich war es auch ganz grundsätzlich schwer gewesen, das zu tun. Nur, weil man einen Bogen trug und damit umzugehen wusste, wurde man nicht respektabel. Doch diese letzten Jahre hatten für sie mehr getan als nur, ihre Perspektive zu verschieben. Sie war inzwischen fähig, eine gewisse Autorität auszustrahlen und selbige auch in eine erstaunlich kommandierende Stimme zu fokussieren. Aus welchen Gründen auch immer, aber auf Thorin schien dieser Effekt stets etwas stärker zu wirken als auf andere. Sie hatte sich mehrfach mit Ninafer darüber unterhalten. Die Giftmischerin hatte eingestehen müssen, dass es auf den ersten, zweiten und sogar dritten Blick leicht zu sein schien, Thorin zu durchschauen und herauszufinden, welche Knöpfe man für welche Ergebnisse drücken musste. Auch, wenn man auf jeden weiteren Blick stets eine neue, andersartige Facette des Kraftprotzes kennenlernte. Doch das war eben nur der Anschein. Selbst Ninafer wusste bis zum heutigen Tag nicht alles. Selbst sie, der sein Herz gehörte, konnte ihn noch immer nicht durchschauen, seine Launen nicht absehen. Es schien in seinem Leben nur eine Konstante zu geben, die nie schwankte, nie relativiert wurde: Er tat alles, was in seiner Macht stand, zum Schutze derer, die ihm wichtig waren. Natürlich war vieles davon eine reine Definitionsfrage. Mitunter war es wirklich merkwürdig, was Thorin so alles als ‚Schutz‘ auslegte. Beispielsweise hielt er bis heute krampfhaft jeden von ihr fern, der ihr auch nur ein Lächeln zuwarf. Zweifellos steckte dahinter irgendeine verdrehte Logik, das Liebe stets mit Schmerz und Enttäuschung einherging – oder irgendetwas ähnlich romantisch-Poetisches, von dem er nie eingestehen würde, es zu denken. Dann wiederum hatte er jeden um sich herum immer wieder aufs Neue damit überrascht, was alles in seiner Macht stand… Seufzend kniete sie sich vor den nun endlich sitzenden Hünen und besah sich seine Hände. „Idiot“, nuschelte sie zum gefühlt hundertsten Male, ehe sie sich konzentrierte und ihre Magie wirkte, um die Schäden zu heilen. „Weißt du, ich bin kein kleines Mädchen mehr“, rügte sie ihn missmutig, während der Zauber seine Arbeit tat, „Ich kann auf mich selbst aufpassen und muss früher oder später sowieso meine eigenen Erfahrungen sammeln.“ Sie schüttelte sachte den Kopf. Wieso musste er nur ständig so stur sein?! „Du wirst immer mein kleines Mädchen sein.“ Der Zauber brach. Mitten im Heilungsprozess versiegte die Magie, als ihre Konzentration gebrochen wurde. Überrascht sah sie auf und begegnete einem nicht weniger überraschten Blick Thorins. Etwas wie… nun, das, zu sagen, laut auszusprechen, das war nicht seine Art. Er bevorzugte es, seine Zuneigung und Entschlossenheit zu zeigen. Nach und nach erholten sie sich beide von ihrem Schrecken. Ishara löste sich zuerst aus ihrer Starre und, wortlos wie sie beide es gewohnt waren, hob sich ein Stück empor, um die Arme um seinen Nacken schlingen zu können. „Du großer, dummer Holzkopf…!“ rügte sie ihn, ihm leise ins Ohr flüsternd, ehe sie das Gesicht an seinem Hals vergrub. Der Krieger schloss seinerseits die Arme um sie und einen Moment harrten sie schlicht aus, ehe sich ihre Nähe einvernehmlich und ohne jede Absprache wieder löste. „Außerdem“, begann der Kahlkopf zögerlich, ehe er sich wieder gefestigt hatte, „Klang das viel zu sehr nach jemand anderem, den ich kenne. Du hattest nicht zufällig in letzter Zeit mal wieder Tee und Gebäck mit Ninafer, hm?“ Ishara fühlte sich ein klein wenig… ertappt. Sie spürte Wärme in ihr Gesicht und ihre Ohren steigen. „Mortimer“, gab sie kleinlaut zurück. „Knapp daneben“, erwiderte Thorin lediglich mit den Schultern zuckend. Das war, einmal mehr, eine Diskussion, die sie nicht beenden würden. Vermutlich würden sie sie nie beenden. Es war schon eine ganze Weile her, das Lileth die Vermutung aufgestellt hatte, das Thorin, entgegen allem, was er behauptete, schlicht Angst hatte, dieses Gespräch zu beenden. Jemals. Denn es hieße, er würde eine Entscheidung treffen müssen. Die, sie entweder ihrer Entscheidungsfreiheit zu berauben, zumindest ein Stück weit. Etwas, das er offenkundig nicht mit sich vereinbaren konnte. Oder jene, sie ihrem eigenen Urteil zu überlassen und damit auch ihren eigenen Fehlern, die ihr unweigerlich über kurz oder lang Schmerz bereiten würden. Etwas, das er ebenfalls nicht recht zuzulassen gewillt war. Vermutlich würde er das Ende dieser Debatte so lange wie nur irgend möglich hinauszögern – und der aktuelle Moment war nur ein weiterer Mauerstein, der ihre Theorie bekräftigte. „Wär’s in Ordnung, wenn ich mit Ninafer zum Tanz gehe?“ stichelte Lileth nach einem Moment, als sie begann, ihren Heilzauber wieder aufzunehmen. „Meins“, erwiderte der Krieger lediglich, eine Braue hebend. „Mortimer?“ „Hey, keine Irren. Wieso kommst du mit den ganzen Durchgeknallten an?“ echauffierte er sich regelrecht, das Gesicht verziehend. Sie aber grinste ihm lediglich zu. Diese Grube hatte er sich selbst gegraben. „Schlechtes Vorbild, schätze ich.“ Und zack, die Falle schnappt zu. Abermals verzog der Hüne das Gesicht, wagte jedoch zunächst keine Widerworte. Sie hätte alles und jeden aufzählen können. Fakt war, in seinen Augen wäre niemals irgendjemand gut genug für sie. Es würde ein gehöriges Maß an Arbeit und Geduld erfordern, um ihm irgendwann, eines Tages, klar zu machen, dass das nicht in seiner Entscheidung lag. Ihn dazu zu bringen, das zu akzeptieren, ihren Liebhaber oder… möglicherweise auch ihre Partnerin zu akzeptieren, das wäre eine Aufgabe für sich. Das wird ein interessanter Tag werden. „Lady Acedia! Herr Eichenschild!“ Beide Angesprochenen verzogen angesäuert das Gesicht. Sie beide konnten es nicht ausstehen, so betitelt zu werden, aber angesichts der Größe ihrer Rebellion war dergleichen wohl inzwischen unumgänglich geworden. Nachdem sie sich gefangen und etwas Neutralität in ihre Mienen gezwungen hatten, sahen beide zu dem Burschen auf. Er schwitzte aus allen Poren, stemmte sich vorgebeugt auf die Oberschenkel, keuchte schwer, rang nach Luft. Er war offensichtlich ein gehöriges Stück Weg gerannt. Sie erkannten ihn nach ein paar Momenten als einen der Späher, die regelmäßig auf Patrouille geschickt wurden. Die Späher arbeiteten in Schichten entlang der Grenze des Landes, das Ishara gehörte. Schichtwechsel war am Morgen und am Abend. Es war Nachmittag. Das dieser Späher in diesem Zustand hier war, verhieß nichts Gutes. Lileth sah kurz zu Thorin, ihre Blicke trafen sich, tauschten sich aus – sie waren beide zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen. Als wäre es noch nötig gewesen, es auszusprechen, erklang die Stimme des Boten abermals. „Sie kommen.“ Was folgte, verschwamm in Isharas Gedächtnis zu einer einheitlichen, grauen Masse. Thorin erhob sich. Die Heilung war noch nicht ganz abgeschlossen, aber nun gab es dringlichere Anliegen. Alle Boten und Späher, alle Reiter, deren Tiere schnell genug waren, wurden in alle Himmelsrichtungen ausgesendet. Alle Bewohner der Nordhälfte des Dorfes wurden bereits vorsorglich im Südteil einquartiert. Vorräte wurden gehortet und in sichere Höhlen und Keller verschafft. Das Training der Truppen wurde intensiviert und mit jedem Tag kam neue Verstärkung hinzu. Eine Woche lang musste man immer mehr Platz in den Schlafsälen finden, um diese Kameraden und Verbündeten irgendwie noch hineinstopfen zu können. Die Schmiede lief rund um die Uhr. Der Lederer hatte schwer zu schuften. Die Werkstatt surrte, qualmte und klickte tagein, tagaus. Medeas Sprösslinge schossen in Windeseile empor, verstärkten auf der Rückseite die gewaltigen Mauerwerke mit Flechten und einem Netz aus Ranken, während sie an der Vorderseite die garstigsten Dornengewächse hervorbrachten, die Ishara je gesehen hatte. Ninafer überarbeitete sich in ihrem Labor, tränkte tausende Pfeile der Schützen, Klingen der Streiter, Dolche, Äxte, Hämmer. Lileth ging ihr dabei zur Hand, so gut sie konnte. Sie durften sich mit diesen Gemischen keine Fehler erlauben. Drei Kompanien der Zwerge aus Nothrend würden erst nach den Kämpfen eintreffen und konnten bestenfalls als Verstärkung der Linien dienen, sobald sie gewonnen hatten. Vier kleinere Heere der Elben würden es ebenfalls nicht rechtzeitig schaffen, ganz zu schweigen von den Goblins und Gnomen aus Jiggary. Aber das Drachenweibchen vom Höllenschlund hatte es rechtzeitig geschafft, ihre Verbündeten aus dem Süden, Osten und Westen waren eingetroffen. Sie arbeiteten nicht mit voller Schlagkraft… aber waren nah dran. Es würde reichen. Würde es doch, nicht wahr? Es wird reichen müssen. Sie hätte es ungern zugegeben, doch sie war nervös. Unruhig. Die Schlacht, auf die sie alle zusteuerten, war von gewaltigen Dimensionen. Sie hatte noch nie an Kämpfen in dieser Größenordnung teilgenommen. Thorin blieb ruhig, natürlich blieb er ruhig. Wussten die Götter, wie viele Schlachtfelder er schon gesehen hatte. Zu viele. „Komm her, lass mich helfen.“ Die Stimme des Kahlkopfes klang rau. Angespannt. Wie gebeten, trat sie vor ihn, die Arme in die Horizontale gehoben. Er zog die Gurte ihrer Rüstung fest, prüfte den Halt des Köchers. Als alles an Ort und Stelle war, legte er seine Hände auf ihre Schultern. Sie ließ die Arme sinken, blickte zu ihm auf. Zweifelnd. Unruhig. Er schien, wie so oft, der Fels in der Brandung zu sein. Tausende würden heute sterben können. Sie eingeschlossen. Vielleicht sogar er – immerhin war auch seine Zeit begrenzt. Wie um alles in der Welt konnte er so ruhig bleiben?! „W-Wo-“ hob sie an und brach sofort ab. Ihre Stimme zitterte. Sie würgte einen imaginären Klumpen in ihrer Kehle herab. Seine Hand verschob ihre Position, legte sich zwischen ihre Brüste. „Ein“, wies er an. Ihr Brustkorb hob sich. Wartend. „Und aus.“ Sie ließ die Luft aus ihren Lungen fahren, die bereits vor Anspannung zu brennen begonnen hatten. Einen Moment schloss sie die Augen, versuchte sich zu sortieren, ihre Gedanken aufzuklaren. Der Erfolg war… mäßig. „Wo wirst du sein?“ konnte sie endlich aussprechen. Er lächelte ihr zu. Wann immer sie in einen Kampf gingen, der absehbar war. Wann immer sie die Chance hatten, sich auf das Gefecht vorzubereiten. Dies war seit über drei Jahren ihr Ritual. Sie hatte ihn sterben sehen, mehr als einmal – und nachdem sie um seine Natur wusste, hatte sie bei jedem Mal panische Angst, dass seine Zeit um sein könnte, das die letzten Körner in seiner Uhr nicht mehr ausreichen würden, um ihn auch dieses Mal zurück zu bringen. „Mit meinem Rücken an deinem“, gab er zurück, wie es seine Aufgabe war. Es stimmte: Erschreckend oft hatten sie nicht etwa Seite an Seite gekämpft, das gleiche Unheil vor sich. Nein, viel häufiger kämpften sie Rücken an Rücken, jeder auf seine Seite des Desasters konzentriert, mit blindem Vertrauen in den Anderen, das er einem den Rücken freihalten würde. Seine Worte gaben ihr Kraft. Trost. Er würde da sein. Immer in Sichtweite. So gut wie nie mehr als eine Armeslänge entfernt. Er wird da sein. Immer. Sie spürte ihren Atem zittern, als sie ihre Augen schloss und die Stirn gegen die lederne Brustplatte Thorins lehnte. Die Kühle schien in ihren Verstand einzuziehen. Würde sie auch so ruhig sein, wenn sie nur oft genug in Kämpfe zog? Könnte sie Thorins Gelassenheit erlernen, in zehn Jahren? Hundert Jahren? „Wo wirst du sein?“ brach plötzlich die Stimme des Kahlkopfes die Stille. Ihre Mundwinkel hoben sich in einem Lächeln. Sie öffnete die Augen nicht, blickte nicht auf. So oft hatte sie diese Frage gestellt. Es war ihr Weg gewesen, ihm zu sagen, dass sie um ihn besorgt war. Dass sie ihn brauchte. Dass er nahe sein musste, damit sie stark und standhaft blieb, diesen ganzen Kriegswahnsinn überstand. Es war ihre Art, auszudrücken, dass sie Angst vor dem Kommenden hatte, ohne wirklich irgendwelche Ängste eingestehen und beim Namen nennen zu müssen. Das er jene Worte verwendete, war neu. Hatte er auch Angst? War er am Ende doch nervös? Ebenso unsicher wie sie? Vorsichtig trat sie einen halben Schritt zurück, lockerte seine Umarmung und sah schließlich doch noch zu ihm auf. Seine Miene war steinern, ausdruckslos. Wie immer. Doch sie kannte ihn inzwischen gut genug, etwas in seinen Augen lesen zu können, ein Hauch von all dem, was in seinem Schädel vor sich ging. Wo werde ich sein? Sie kannte Thorin. Sie wusste, was ihn motivieren würde, sein Bestes zu leisten – und mehr. Was ihn motivieren würde, alles zu geben und alles zu wagen und dennoch am Leben zu bleiben. Wo werde ich sein? „Da, wo du mich am wenigsten haben willst“, erklärte sie kurz auflachend. Ein helles, warmes Geräusch, das rasch verklang und von einem Lächeln ersetzt wurde. Sie würde an der Front sein. Mitten im Kampf. Direkt im Chaos von Blutvergießen, Geschrei, Schlagen und Stechen und Dreschen. Einen Moment verloren sie sich in den Augen des anderen. Thorins Pranken umschlossen schließlich ihr Gesicht, neigten es ein Stück herab. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Lass uns Geschichte schreiben“, flüsterte er leise und trat mit ihr zusammen ab. Sie verließen die Waffenkammer, ihr Weg führte sie aus der Feste hinaus. Sie waren keine Feiglinge. Strategisch wäre es vielleicht klüger gewesen, in der Burg zu bleiben und abzuwarten, bis die königlichen Truppen zumindest einen Teil ihrer Kräfte an den Wällen aufgerieben hatten. Aber dem Feind trotz der Sicherheit der eigenen Burganlage direkt im Rücken auf offenem Feld zu begegnen… das war ein Symbol. Für den Widerstand, für die Truppen, für das Volk. Für ganz Lumiél. Es sandte eine klare Botschaft aus: Wir haben es nicht nötig, uns zu verstecken! Wir siegen so oder so! Nicht lange war es her, da hätte sie sich eingeengt gefühlt von all den Blicken. Das stehende Heer formte eine Gasse für die beiden, die in der ersten Reihe stehen und kämpfen würden. Zwei Symbole der Rebellion, mit Namen und Gesichtern, die hier so gut wie jeder kannte. Und so mancher verehrte. Irgendwo hinter ihnen ratterte es gewaltig in einem der Burgtürme, als Caedhals gewaltiges Katapult empor fuhr und die Turmspitze einnahm. Eine ganze Reihe an Gnomen begann, das Geschütz mit allerhand chemischer Geschosse zu beladen. Luzula gab ihnen präzise Anweisungen zur Ausrichtung des Geschützes. Medeas Baumgeister hatten seit Wochen seltsame Früchte getragen, die sie nun von den eigenen Ästen pflückten. Vermutlich wussten nur die Hüterin selbst und ihre göttliche Herrin, was diese Dinger anrichten würden. Und auf dem höchsten Turm der Burg röhrte tief und kehlig die Mahnung, fern zu bleiben, aus dem Rachen des Drachenweibchens, die den Turm mit ihrem Leib und Schwanz umschlungen hielt, als wäre sie den Zeichnungen zahlloser Märchenbücher entsprungen. Silberne Elbenrüstungen, Mithril-Zwergenhämmer, Feinste Bögen, zahllose Piken. Ishara wusste, was sie hinter sich stehen hatte. „Weißt du“, brach plötzlich Thorins Stimme in schier unbegreiflicher Beiläufigkeit die angespannte Stimmung des erwachsenden Schlachtfeldes, „vielleicht wäre es gar nicht so dumm, heute zu sterben. Ich hab‘ gehört, jemand hat Garwinn für morgen zum Küchendienst eingeteilt. Offenbar hat er schon wieder versucht, Medeas Bäume in Brand zu stecken.“ Sie konnte einfach nicht anders. Es war… es war schier unmöglich, sich dagegen zu wehren. Die einzelnen Schritte des Lächelns und Grinsens prompt übersprungen, begann Lileth zu kichern. Garwinn, der den Kochlöffel schwang? Die gesamte Anspannung, die zum Bersten geladenen Nerven, ihre Unsicherheit im Angesicht der sich mit Feinden füllenden Ebene… alles begann sich plötzlich in einem Kichern zu entladen. Das rasch und kräftig zu einem Lachen auswuchs. Wie sie schon bald darauf hörte, war sie nicht die Einzige. Andere hatten Thorins Scherz vernommen. Und konnten sich, ganz offensichtlich, ebenso wenig beherrschen. Das Lachen brach für viele die angespannte Stimmung und gab ihnen einen Moment der Ruhe. Einen Weg, die nervöse Energie durch ein unerwartetes Ventil abzulassen. Sich wieder zu konzentrieren. Als Lileths Gelächter verebbte, musste sie sich tatsächlich ein paar Tränen aus den Augen wischen. So breit grinsend, das ihre Wangen schmerzten, nuschelte sie nur ein einziges Wort zurück. „Idiot.“ Kapitel 37: 386 --------------- Weißt du, was eine Willenserklärung ist? Nein. Glaub mir, du weißt es nicht. Du magst vielleicht ein grobes Verständnis davon haben. Eine Ahnung. Vielleicht sogar eine ganz persönliche Definition. Aber ich, ich trage die Krone. Ich kann es mir nicht leisten, persönliche Definitionen zu haben – wurde mir zumindest gesagt. Nein, was ich sage ist Gesetz und damit es ein allgemeingültiges und allseits verständliches Gesetz ist, müssen meine Willenserklärungen offenbar nachlesbar sein. Nicht dass ich mich allzu heftig beschweren will, ein Großteil der Arbeit diesbezüglich blieb schließlich nicht an mir hängen. Ein kleines Stück des Luxus, den ich mir gelegentlich leisten darf: Man hat Leute für Dinge. In diesem Fall hatte ich Miss Vindur und Misses Lamerak, die einander anleitend und vermutlich die halbe Zeit an der jeweiligen Kehle hängend die neuen Texte entwarfen. Und wir reden hier nicht nur von einem kleinen Zettel, auf dem steht, was eine Willenserklärung ist oder zu sein hat. Wir reden von Wörterbüchern, Definitionen und kompletten Gesetzestexten. Vermutlich werden sie noch eine kleine Ewigkeit daran weiterschreiben. Nicht, das sie die Zeit nicht hätten. Und ich würde ihnen eine stattliche Armee auf den Hals hetzen können, sollten die zwei auf die Idee kommen, mich mit diesem Irrsinn allein zu lassen und einfach zu verschwinden. Ein guter König tat so etwas natürlich nicht. Dann wiederum… musste sich erst noch zeigen, ob ich wieder ein guter König wäre, nicht wahr?   Wer in seinem Leben einmal an einer Schlacht teilgenommen hatte, der kannte diese Geräusche. Es waren die unverkennbaren Laute einer Schlacht, die tobte. Das metallische und das dumpfe Klirren, Schläge von Schwertern, Äxten und Flegeln auf Schilde aus Holz und Rüstungen aus Stahl. Das Fauchen von Flammen, als die Katapulte ihre brennenden Geschosse unter dem Ächzen der Mechanik in die Luft beförderten. Das zornige Aufschreien derer, die sich trotz all ihrer Wunden wieder auf die Beine hoben und den Kampf fortführten. Das verzweifelte Aufschreien derer, die von ihren Wunden in die Knie gezwungen wurden. Das Elend aus den Kehlen der Sterbenden und Verstümmelten. Doch bei der Geräuschkulisse, überwältigend wie sie war, hörte es nicht auf. Eine jede Nase wurde überwältigt vom Geruch nach Blut, nach verbrannten Haaren und verkohltem Fleisch. Die Haut spürte, vom Feuer des Kampfes aufgepeitscht, jede Regung der zarten Luftzüge auf den Haaren an den Armen. Jede Bewegung des Blutes, das in die Stiefel schwappte, wann immer man sich durch die knöchelhohe Suppe bewegte, die die Täler des Feldes bedeckte. Kleine, rote Gräben. Mit darin treibenden Zeugnissen ihrer Herkunft. Fahnen waren wie trotzige Landmarkierungen aufgepflockt werden – teilweise in die Leiber der Feinde, damit sie auch ja stehen blieben. Würde man den Kampf verlieren, wäre es dem Feind ein leicht verdientes Vergnügen, herumzuziehen und diese Fahnenlanzen zu brechen, die Banner selbst dahin zu schicken, wo sie hingehörten – in den Dreck, auf den Boden zu all den Besiegten. Es war grausam. Es war grässlich. Es war fast… Zuhause. Ich tobte, wütete, jagte meine Beute. Das Schlachtfeld war nicht mein Heim, natürlich nicht – aber ich konnte nicht leugnen, dass ein jedes davon, stets und allzeit, sich vertraut anfühlte. Ich bemerkte Stolperfallen, bevor ich sie sehen konnte, ich wusste um die Schachzüge derer, die auf mich zustürmten, bevor sie sich mir überhaupt zugewandt hatten. Es war mehr als Intuition. Ich mochte es gerne darauf schieben, dass ich alt war. Sehr alt. Und ein tiefes Verständnis für die Mechaniken entwickelt hatte, die hinter der Kriegsführung im Allgemeinen und dem Schlachtverlauf einer jeden Konfrontation im Speziellen bestand. Aber die Wahrheit war, es ging auch darüber hinaus. Ein weiterer Leib stürzte auf die Knie, das Leuchten in seinen Augen, Zeugnis seines Lebens, seines freien Willens, wich. Ich riss meine Axt aus seiner Schulter, doch sie löste sich nicht. Den schweren Stiefel gegen seine Brust gestemmt, riss ich erneut – sie löste sich gerade rechtzeitig, um mit einem weiten Schwung nach hinten dem Dummkopf, der mich als leichte Beute glaubte, den Schädel vom Stumpf zu schmettern. Die grausame, gnadenlose, hässliche Fratze des Krieges. Ich kannte sie gut. Ich wusste sie zu schätzen. Dann plötzlich ein Stich. Ich konnte nicht einmal wirklich begreifen, was mich erwischt hatte. Oder wo. Ein Stich also – es musste sich um ein Schwert handeln, ein Degen, vielleicht ein Speer? Aber da war kein Brennen, kein Gefühl von Kälte, von Verwundung. Mein Blick glitt an mir herab. Das ich meine Beine nicht sehen konnte, irritierte mich nicht im Geringsten. Ich war zu beschäftigt damit, meinen Leib zu kontrollieren. Arme, dicht in Schoner gepackt, die Beine in Schienen, selbst wenn ich sie nicht sah, die alte Lederrüstung meines Vaters, zerkratzt und zerfurcht. Keine Wunden von irgendwelchen Stichen. Ganz grundsätzlich keine Wunden. Als hätte ich nie auch nur einen Schlag abbekommen. Ich war gut, sehr gut. Aber so gut, das konnte nun wirklich nicht sein, oder? Die Zweifel an meiner Unversehrtheit ließen mich realisieren, was alles nicht stimmte. Soldaten, die seit Stunden vor sich hin starben. Schreie aus Kehlen, die längst durchtrennt worden waren. Gesichtslose Schemen, die aufeinander einschlugen, ohne Wunden zu verursachen. Und Beine, die nicht sichtbar waren. Ach verdammt…   „Ich hasse mein Leben“, krächzte ich heiser hervor, als ich die Lider hob und mir schlagartig darüber bewusst wurde, wo ich mich befand. „Die Erlaubnis dazu hast du erst, wenn du das Bett verlässt“, erklang eine grässlich wohlgelaunte Stimme neben mir. Ich blickte zu den leicht gewölbt hängenden Stoffbahnen der Überdachung des gewaltigen Bettes hinauf. Tick, tick, tick, tick, tick. Ich hätte etwas werfen wollen. Daeri nannte es ein ‚Chronometer‘. Hatte man früher geglaubt, dass es völlig ausreichend wäre, am Sonnenstand den Tagesverlauf zu beurteilen, hatten wir nun… das da. Die merkwürdig anmutende Mechanik hing direkt über der Schlafzimmertür, zwei Zeiger bewegten sich dann und wann weiter und ständig gab sie dieses leise Ticken von sich. Durchdringend und nervtötend, wenn der Raum tatsächlich einmal still wurde. Erst als warme, zarte Finger sich an meine Wange legten und mir mit sanftem Druck eine Richtung vorgaben, lenkte ich meinen Blick wie gewünscht zu ihr. Diese rehbraunen Augen waren einfach unwiderstehlich… vom Rest ganz zu Schweigen. Ich wusste ganz genau, was folgen würde. Ich stützte mich mit dem Ellbogen vom Bett ab, ließ meine Hand wandern, streifte die Decke zurück, weiter und weiter. Sie lag einfach da, ruhig, sah zu mir auf, mit diesem leichten Schmunzeln, das ich von ihr kannte. Mein Blick verweilte nicht mehr allzu lange auf ihren sanften Gesichtszügen – nicht, wenn es so viel mehr gab, an dem ich mich gleichermaßen sattsehen konnte, wie ich mir davon Hunger holte. Ich spürte meine Lebensgeister erwachen, beugte mich vor und küsste sie. Was harmlos genug begann, entwickelte sich rasch weiter, wurde leidenschaftlicher. Das mochte damit zu tun haben, dass meine Hand sich nicht länger damit beschäftigte, sie bloßzulegen und meinen ungenierten Blicken auszuliefern, sondern sich allmählich zwischen ihren ansehnlichen Schenkeln vergraben hatte. Die Art, wie sie sich unter meinen Berührungen wandte, räkelte, trieb mich rasch voran, ließ mich begieriger werden. Sie wusste das natürlich. Vermutlich tat sie es deswegen überhaupt. Es war eine Art von Manipulation, über deren Existenz ich ausnahmsweise einmal nicht klagen wollte. Zumindest nicht, bis mir klar wurde, dass ich sie sehen konnte. Sie viel zu gut sehen konnte. Sie lag unter mir, ihre Schenkel weit offen, um meine Hüfte geschlungen – noch wenige Herzschläge mehr und wir hätten hier ein paar Stunden zugebracht. Es war viel zu hell, wurde mir jedoch klar… und das hieß… Mein Kopf schnellte zur Seite. Ganz wie befürchtet erklang ein Klopfen an der Tür. Ich knurrte einen Moment unwillig. Unter mir lag der Preis aller Mühen, bereit und willig und sie… begann zu kichern, während ihr Atem sich beruhigte. Ab diesem Moment wusste ich, dass ich einmal mehr ausgetrickst worden war. Unter einem elendigen Seufzen ließ ich den Kopf sinken, bettete meine Stirn zwischen ihrem üppigen Busen. Ich spürte ihre Fingerspitzen leicht kratzend über meinen Schädel fahren. Das Gefühl allein hätte mich einschläfern können, wäre es unter den gegebenen Umständen nicht so… elektrisierend gewesen. Ein Begriff, den ich einigen Fachsimpeleien Daeris entnommen hatte. Vermutlich wäre mir das Hirn geschmolzen und fluchtartig zu den Ohren herausgesickert, hätte ich mir auch ihren siebten Erklärungsversuch so gewissenhaft anzuhören versucht wie die sechs Vorherigen – meine Rettung hatte darin gelegen, zu nicken, mit ernstem Gesicht, während ich mir allerhand andere Anzüglichkeiten vorstellte. Nur ein kleiner Teil davon involvierte sie selbst. „Ich hasse dich“, nuschelte ich leise gegen ihre Brust. Ihre Schenkel gaben mich frei, ich erhob mich und rutschte quälend langsam von ihrer Seite des Bettes, um mich aufzurichten und zu strecken. „Das ist völlig in Ordnung“, gab sie mir grinsend zurück, „solange ich es weiterhin schaffe, dich jeden Morgen hinauszuwerfen, mit einem Lächeln auf deinem Gesicht.“ Ich wollte antworten. Ich war mir sicher, ich hatte irgendeine ungemein kluge, schnippische, schlagfertige Antwort gehabt… zumindest bevor sie sich abrupt vorbeugte und ihre Lippen sich um das Werk ihrer morgendlichen Neckereien legten. Ich wusste nicht zu sagen, ob es ein Vorgeschmack auf das war, was kommen könnte – oder ein Nachhall dessen, was hätte sein können. Die wenigen Sekunden, die sie mir schenkte, würden genug sein müssen. Hatte ich zuvor schon gelächelt, grinste ich nun wie der dämlichste Dorftrottel, den man im Hinterland finden konnte. Das Klopfen erklang erneut an der Tür und obgleich ich mich bemühte, finster und verärgert zu klingen, wirkte mein geblafftes „Gleich!“ vermutlich nicht annähernd so einschüchternd, wie ich mir gewünscht hätte. Ninafer ließ sich wieder in unser Bett sinken, gewährte mir einen letzten Blick auf ihren Leib, ehe sie die Decke über sich zog und, noch immer lächelnd, die Augen schloss. Mein Schicksal dagegen war besiegelt. Ich vollzog in aller Hast und Eile die Morgenwäsche, ich war ohnehin schon viel zu spät dran – wie eigentlich jeden Morgen – und streifte mir die Gewänder über. Es fühlte sich nach wie vor einfach nur lächerlich an. Und wurde nicht besser, ganz gewiss nicht, als ich einen Blick in den Spiegel warf. Das samtrote… was war das überhaupt? Als Hemd ging das gewiss nicht durch. Dieses Etwas, das an meinem Oberkörper klebte, spannte bei jeder Bewegung meiner Arme und Schultern. Die Rüschen waren so überflüssig wie die Stickereien und diese Hose erst! Das ich noch Blut und Gefühl in den Beinen hatte, war ein Wunder. Und dennoch hatte man mir versichert, dass der Schneider einer der Besten gewesen sei. Dass das alles so seine Richtigkeit habe. Dass ich so lächerlich aussehen müsse. Natürlich hatten sie es nicht ‚lächerlich‘ genannt. Sondern ‚edel‘ und ‚respektabel‘ und eine ganze Reihe anderer Dinge, die ich im Zusammenhang mit mir selbst nie hatte hören wollen. Oder eher – nie wieder. Die Krone war das letzte Stück Prunk und Protz, das seinen Weg an mich fand. Ich besah meine Reflektion einen Moment und entschied, dass ich immerhin der gottverdammte König war – ich entschied, was sich gehörte. Also ließ ich den verdammten Kopfschmuck, wo er war. Draußen erwartete mich jemand, wie jeden Morgen. Sie war klug genug, mir zu dieser Stunde nicht mit Ungeduld anzukommen, damit, dass ich zu spät sei. „Haben wir Zeit für Frühstück?“, hakte ich in einem winzigen Anflug von aufrichtiger Hoffnung nach. Fragen, so hatte mein Alter immer gesagt, schadete ja nie. „Nur, falls eure Exzellenz-“ „Stopp“, wies ich sie harsch an. Wie befohlen brach sie sofort ab und fror in ihrer Bewegung ein. Ich wandte mich dem Mädchen zu und nahm mir erstmals die Zeit, sie tatsächlich anzusehen. Ein hübsches Gesicht, ein klein wenig rundlich für meinen Geschmack. Also das Gesicht – der Rest war angenehm proportioniert. Ein ansehnliches Ding, auch wenn es natürlich nicht darum ging, nein. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einer Steckfrisur verarbeitet, in ihren blauen Augen schimmerte so viel Leben, so viel Energie, Tatendrang und… Intelligenz. Sie war neu, wie mir klar wurde. Und obendrein noch nicht sonderlich alt. „Du bist, wenn ich das richtig verstehe, meine neue, persönliche Assistenz, richtig?“ Assistenz. Wie das klang! Als könnte ich meine eigenen Butterbrote nicht mehr schmieren oder plötzlich nicht mehr kontrollieren, wann ich meine Blase leerte. Sie nickte knapp. Ein wenig eifrig war sie also, hm? „Gut, dann merk dir das von Anfang an: Wir sind per du. Kein ‚eure Exzellenz‘. Auch kein ‚Majestät‘, kein ‚mein Herr‘, kein ‚Euer Gnaden‘, nichts davon, kapiert?“ „Wie du willst.“ Ich spürte, wie mein linker Mundwinkel sich emporzog. Sie lernte schnell – ich war fest überzeugt, dass ich sie gut leiden würde. „Fein. Da das geklärt ist – was wolltest du sagen?“ „Frühstück wäre möglich, falls du bereit wärst, ein paar Dinge von der heutigen Planung auf morgen zu verschie-“ „Stopp.“ Wenn das so weiter ging, kämen wir nie an. Was natürlich eine wirkliche, echte, richtig ausgewachsene Tragödie wäre. Vor allem nach meinen Maßstäben. Denn es war so viel schöner, in einem stickigen Raum mit einer Bande überalterter Körnerzähler über die Formulierung von Teilsätzen zu streiten, als mit einem hübschen und klugen jungen Ding zu plaudern… „Noch eine Sache – es gibt kein Morgen. Gibt es nie. Niemals.“ Ich erklärte ihr nichts. Ich sah mich nicht in der Notwendigkeit dazu. Ich war König und sie hatte meinen Wunsch zu respektieren. Hinterfragen konnte sie ihn meinetwegen beim Küchenpersonal, die waren laut Mortimer am gesprächigsten. Die würden ihr, so vermutete ich, auch nur sagen, was jeder andere ebenso erzählen konnte. Das ich diese Einstellung überall verbreitete. Oder zumindest jeden wissen ließ, das ich sie hatte. Es gab kein morgen. Jeder einzelne meiner Tage war vollgestopft mit Dingen, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Es war eine Art von Kampf, die ich nie hatte bestreiten wollen. Die Art, vor der ich normalerweise Reißaus nahm. Aber mit dieser verdammten Krone auf dem Schädel und diesem lächerlichen Kostüm an mir klebend war das nicht mehr so einfach. Nicht mehr möglich, genauer gesagt. Das bedeutete aber nicht, dass ich mir selbst das Leben unnötig schwer machen musste. Was immer ich verschob, würde sich aufstauen und mir später das Leben zur Hölle machen. Nein, ich bevorzugte meine Hölle mit gleichbleibender Qual und Temperatur. Ich bevorzugte das Bekannte. Sie nickte abermals. Scheinbar verstand sie. Oder hatte vorab bereits Erkundigungen eingeholt, was sie zu erwarten hatte. Die Tatsache, dass sie scheinbar aus dem Nichts plötzlich ein Brötchen hervorzog, ließ mich Letzteres vermuten. Sie hielt es mir entgegen und ich zögerte nicht lange. Zwischen den aufgeschnittenen Hälften hing ein Schnitzel. Kalt, vom Vorabend, wie sie mich wissen ließ. Es scherte mich nicht. Im Gegenteil – hätte ich ein angemessenes Frühstück im Bankettsaal eingenommen, hätte man vermutlich versucht, mich mit irgendwelchen feinen Süppchen und ein paar kleinen Häppchen zu verköstigen, irgendetwas leicht Bekömmliches, das nicht allzu schwer im Magen lag. Idioten. Ich biss herzhaft hinein und genoss es aus vollen Zügen. Die Kleine wurde mir immer sympathischer. Offenbar bemerkte sie meinen Blick und grinste mir zu. „Annabella. Aber bleiben wir bei Anna, so nennen mich alle. Geht leichter von der Zunge und ist schneller geschrien.“ Ich zog eine Braue empor. Schneller geschrien, hm? In welchem Zusammenhang denn? Doch bevor ich ihre Gepflogenheiten hinter verschlossenen Schlafzimmertüren oder ihre möglicherweise wenig angenehmen Jugendjahre hinterfragen konnte, wanderte dieses halbseitige Grinsen auf meine Miene zurück und wir beließen es vorläufig dabei, unseren Weg fortzusetzen. Korridore zogen an uns vorbei. Viele der Gemälde waren abgehängt worden. Keiner war sonderlich erpicht darauf, noch mehr Portraits des früheren Bewohners zu sehen, wie die armen Schweine von Künstlern versucht hatten, ihn in möglichst heroischen oder nobel wirkenden Gesten und Akten einzufangen. Oder wie man schlicht versuchte, ihn über kleine Tricks größer wirken zu lassen, als er war. Neue Bilder waren noch nicht vorhanden, nicht überall zumindest. Die meisten, die gestiftet, gespendet, geschenkt oder schlicht aus den verstaubten Kammern des leerstehenden Teils des Schlosses geborgen worden waren, hatte man in den Gängen aufgehängt, die zum Thronsaal führten. Damit das Schloss keinen völlig verarmten Eindruck auf die Bittsteller machen würde. Die Rüstungs- und Waffenständer dagegen hatte man belassen, wo sie waren. Auch wenn ich mir beim Anblick der meisten Dinge, die daran hingen, ziemlich sicher war, dass es sich lediglich um ein Stück handelte, das im künstlerischen Interesse und ausschließlich unter ästhetischen Aspekten geschaffen worden war. Eine geschliffene, zweiseitige Klinge, spitz zulaufend. Dazu ein in Leder geschlagenes Heft. Für ein Schwert brauchte es nicht viel und es musste ganz gewiss nicht hübsch aussehen, um den Lauf der Geschichte verändern zu können. Das Schwert hatte unsere Welt geformt. Auch ganz ohne Dornen und Runen und Verzierungen in Blümchenform. Natürlich wäre es zu viel verlangt gewesen, hätte man uns einfach in Ruhe und Frieden von A nach B laufen lassen. Ich war immerhin der König, der höchste Würdenträger – das schien eine willkommene Einladung für alles und jeden im Staat, gefühlt zumindest, um mich mit allerhand Unsinn zu belästigen. Den Anfang machte Raven. Ich wusste nicht mal, dass sie im Schloss war. Oder in La Coeur. Oder irgendwo außerhalb ihres Klosters. Sie begann mit überschwänglichen Begrüßungen. Ich warf nur einen Blick zu Anna – ich wollte sehen, wie sie die Situation einschätzte und vor allem, was sie machen würde. „Ich bitte um Verzeihung, Lady Gildenstern, doch seine Majestät ist ein vielbeschäftigter Mann – hättet ihr die Güte, euer Anliegen auf den Punkt zu bringen?“ Ha! Hätte ich nicht besser machen können. Außer, ich hätte ihren blinden Arsch zur Tür rausgeworfen. Aber sowas hinterließ beim Volk einen schlechten Eindruck, hatte ich mir sagen lassen müssen. Was die auch immer jeden Spaß gleich so ernst nahmen… Raven war von der Unterbrechung mehr als unerfreut, realisierte aber rasch ihre Position, als sie bemerkte, dass ich ganz gewiss nicht zu ihren Gunsten das Wort heben würde. Also räusperte sie sich, stimmte Anna zu und begann neu. Sie wollte Geld. Natürlich wollte sie Geld. Es ging immer um Geld. Das oder um mein Bett. Aber das war bereits belegt und ich hatte kein Interesse an irgendwelchen Mätressen. „Vielleicht solltest du darüber lieber mit dem Schatzmeister und seinem Gremium reden?“, schlug ich Raven vor, doch mein Versuch, sie loszuwerden, scheiterte kläglich. Offenbar kam sie vom Schatzmeister – und der verdammte Halunke hatte ihr gesagt, dass ich das entscheiden würde. Wohl oder übel hörte ich mir also an, worum es überhaupt ging. Sie brauchte weit mehr Worte als ich benutzt hätte. Typisch Adelsweiber. Im Grunde ging es um die Erschließung einer Straße nach Ilmwacht. Einer Straße. Nicht ein ausgetretener Pfad im dichten Gras, sondern etwas Gepflastertes mit festem Boden. Nun gut – warum nicht? Ilmwacht war nicht unbedingt das Zentrum der Welt, sicherlich. Aber seit zumindest ein paar der Esgaroth-Elben den Stock aus ihrem Arsch gezogen hatten, wäre es vielleicht gar nicht verkehrt, einen ersten Schritt zu unternehmen, um eine bessere Anbindung der verdammten Spitzohren an den Rest des Reiches anzudeuten. Ich sicherte Raven ihre Straße zu, auch wenn das nicht unbedingt zu Ilmwachts Vorteil angedacht war. Das war lediglich ein netter Nebeneffekt – und ich liebte solche Lösungen. Solche, bei denen alle bekamen, was sie wollten. Leider kamen die viel zu selten vor. Wolfflin suchte mich als Nächstes auf. Vermutlich hatte er nur darauf gelauert, dass ich Ravens Klauen entkam. Nun: Das war ein Mann, den ich respektieren und schätzen konnte. Einer nach meinem Schlag und Geschmack. „Wir brauchen mehr Schwerter für die neuen Rekruten.“ Warum konnten nicht alle so sein? Keine Verbeugungen, keine Respektsbezeugungen, keine ausladenden Gesten oder weitläufiges Herumgerede, bevor sie ihr Anliegen vorbrachten. Nein, Schwerter. Mehr davon. Perfekt. „Schatzmeister“, gab ich knapp zur Antwort und hätte kurz aufschreien wollen, als ich sah, wie Wolfflin irritiert das Gesicht verzog. Der verflixte Bastard hatte also auch den Hauptmann unserer Bellatoren zu mir geschickt? Damit ich darüber entschied, ob Rekruten wirklich Waffen brauchten? Ernsthaft?! „Urgh… ich muss mit diesem Holzkopf ein paar Worte wechseln. Geh zu ihm und sag ihm, das du die verdammten Schwerter bekommen sollst!“ Ich hatte natürlich gewusst, dass ich die Rechnung irgendwann bekommen würde. Ich warf es Ishara nicht vor, nicht so sehr, nicht einmal ansatzweise so sehr wie ich es Alistair vorwarf. Sie, sie wäre allein niemals auf diese dämlichen Ideen gekommen. Leim auf dem Stuhl. Eine Taube auf dem Dachbalken, die sich auf seinen Kopf erleichterte. Irgendeine widerlich stinkende Mischung in seinem Teevorrat. Das war nur ein weiterer der vielen, vielen Kleinkriege, die in meinem Schloss und damit direkt unter meiner Nase tobten. Ich wusste nicht, wie Ishara in diese Sache hineingeraten war. Vermutlich hatte dieses schmale Bleichgesicht sie hineingezogen, nachdem der Schatzmeister ihn erfolgreich mehrfach von der Schatzkammer hatte fernhalten und ohne Beute daraus vertreiben können. Wäre dieses blasse Nordlicht Lileth nicht so lieb und teuer, hätte ich ihn vermutlich längst hängen lassen. Nicht, weil er wirklich eine Gefahr darstellte. Für irgendwen außer sich selbst. Sondern vielmehr, weil diese grässlich gut gelaunte Grinsekatze genau das tat – einem den letzten Nerv rauben. Wie ich da hineingeraten war, war weit weniger mysteriös. Das mochte vielleicht ein Kleinkrieg zwischen Alistair und unserem Herrn Staatsdiener sein. Aber in dem Augenblick, als er glaubte, die Hand gegen Ishara erheben zu können, war der Spaß vorbei. Für Alistair ebenso wie für mich, der ich eher zufällig Zeuge wurde. Hätte ich es nicht gesehen, hätte ich es vielleicht auch nie erfahren – sie war nicht der Typ Mensch… oder Halbelbe… der bei erstbester Gelegenheit jemanden verpetzte. Oder sich überhaupt an irgendjemandes Schulter ausheulte. Indem ich sie in Schutz nahm, schien das Opfer ihrer ganzen Streiche zu glauben, dass ich ihre Taten billigte. Egal wie sehr ich mich zu erklären versuchte. Das hier? Das war offenbar die Rache dafür. Vielleicht konnte ich diesen Irrsinn beenden, sofern ich Lileth und Alistair irgendwie dazu bekam, sich bei ihm zu entschuldigen. Sie waren mir immerhin etwas schuldig, wie ich in diesem Moment beschloss. „Eure Exzellenz!“, tönte es vor mir. Oh wie ich diese Anrede liebte… Der Hofkoch kam herbei. Ein dicklicher Kerl, der schnaufte, ächzte und dem die Brühe am ganzen Leib herablief, als er vor uns zum Stillstand kam. „Eure Exzellenz“, wiederholte er unnötigerweise, als wolle er meine Geduld austesten, „Ein Desaster! Es ist eine Katastrophe, wirklich ganz schrecklich!“ Es wäre eine Untertreibung gewesen, zu behaupten, dass meine Neugier geweckt worden war. Ich spürte ein altvertrautes Kribbeln in meinen Muskeln, das Bedürfnis, einen Panzer zu tragen, mich nicht mehr ganz so… nackt zu fühlen. Die Axt zu umschließen und auf den Schädel von irgendetwas einzuschlagen. „Was ist geschehen?“, erkundigte ich mich eventuell etwas übereifrig. Eben dieser Eifer schien dem Koch gut zu gefallen. Er fing sich ein klein wenig. „Die Küchenjungen, die ich zum Einkauf aussandte, haben die falschen Blumen mitgebracht!“ … und all mein Eifer und Enthusiasmus zerschellten schmerzhaft an der Realität. „Sie sind blau! Sie sind alle blau!“ Noch immer trug er diesen blanken, undefinierbaren Horror in der Stimme und mir wurde einmal mehr schmerzlich bewusst, dass nicht jeder meine Definition von ‚Katastrophe‘ teilte. Hier und jetzt war ich mir sogar ziemlich sicher, dass nur ein oder zwei Leute das überhaupt taten. Als ich nicht sofort auf sein Wehklagen reagierte, sah er sich genötigt, mir auf die Sprünge zu helfen, was genau daran den Weltuntergang bedeuten würde. „Das Bankett morgen Abend! Die Delegation wird heute eintreffen, die Tafel muss vorbereitet werden und die Blumen sollten auch teilweise die Gästequartiere schmücken! Aber sie müssen weiß sein, sie müssen allesamt weiß sein!“ Delegation? Das… war vermutlich das Problem mit der Einstellung, dass es kein Morgen gab. Es gab es eben doch und irgendwer schmiedete Pläne dafür. Wir bekamen also Besuch. Der Aufregung nach zu urteilen hohen Besuch. Irgendwelche ausländischen Botschafter vermutlich. Ceryddwin? Nein. Nein, daran hätte mich Ninafer erinnert. Bervenia? Nein. Ordewey mal wieder, beladen mit einer Reihe neuer Drohungen? Nein, die waren letzte Woche erst da gewesen. Und sie neigten nicht dazu, ihr Kommen groß anzukündigen. „Die Delegation aus Siddarmark“, flüsterte mir Anna leise von der Seite her zu, „Farben spielen eine große Rolle in ihrer Kultur. Die meisten Interpretationen sind ziemlich deprimierend. Blau steht beispielsweise für finanziellen Verlust und Ruin. Weiß ist eine der wenigen Farben, die mit einer guten Bedeutung belegt sind: Glück bei der Zucht.“ Die Pferdeherren kamen also zu Besuch. Ich hätte Anna in diesem Moment nicht genug danken können für ihren Versuch, mir möglichst subtil und unbemerkt zu helfen. Tatsächlich schien der Koch viel zu aufgeregt, um vom Geflüster Notiz zu nehmen. Es ging also um die Frage, ob wir unsere Gäste durch die falsche Wahl der Blumenfarbe beleidigen wollten oder nicht. Ich konnte bereits spüren, wie sich Kopfschmerzen androhten. Bereits so früh am Morgen. „Warum kauft ihr nicht einfach ein paar Neue?“ „Aber Eure Exzellenz, keiner kann diese von uns benötigte Menge so kurzfristig noch aufbieten!“ In diesem Moment wurde mir ein weiteres kleines Detail dieser leidigen Angelegenheit klar. Er hatte damit begonnen, dass die Küchenjungen die falschen Blumen mitgebracht hätten. Das war, genau betrachtet, natürlich korrekt. Keine Lüge. Es stellte dennoch die paar Bediensteten als die Schuldigen hin. Präventiv die Schuld von sich abwälzen wollen – das klang, als hätte da jemand etwas zu verstecken. „Dann schickt die Burschen nochmal aus. Sie sollen sämtliche weißen Blumen in allen Läden der Stadt kaufen, falls nötig. Es müssen nicht die gleichen Blumen sein, nicht wahr? Sie müssen einfach nur weiß sein. Also stellt euch nicht so an, denkt ein bisschen mit und schickt die Burschen nochmal los.“ Der Koch nickte eifrig. „Aber was sollen wir mit all denen anfangen, die wir schon haben?“ Ich überlegte einen Moment, ehe ich mir ein privates kleines Lächeln erlaubte. „Bindet einen hübsch großen Strauß und schickt ihn an mein Schlafzimmer. Den Rest verschenkt. Wer immer welche haben will, soll sie sich mitnehmen.“ Ich hätte sie zurückgeben können. Hätte das Geld zurückverlangen können. Ich hätte versuchen können, sie zu verkaufen. Alles legitime Optionen… die mir dreimal mehr Arbeit beschert hätten und obendrein das Risiko bargen, das die verdammten Dinger bis morgen, also bis zur Ankunft der Botschafter, nicht aus dem Schloss verschwunden waren. Und ich hatte einfach keine Nerven übrig, um mich mit ein paar trotzigen Diplomaten herumzuschlagen, denen die gottverdammte Farbe der Blumen Magenschmerzen bereitete. Als der Koch endlich abgezogen war, winkte ich Anna näher heran. „Da ist was faul. Lass mal die Bestellung der Blumen kontrollieren. Ich wette, unser Herr Koch hat blaue Blumen in Auftrag gegeben.“ Sie nickte, notierte sich etwas auf ihrem kleinen Schreibbrett und folgte mir dann weiter die Gänge herab. Wir kamen vor der unscheinbaren Doppeltür an, die ich so zu verabscheuen gelernt hatte, doch gerade als ich die Hand nach der Klinke ausstreckte, rief erneut jemand nach mir. Beim ersten Mal verstand ich es nicht sofort und erwiderte präventiv schlicht „Wenn es nicht den Untergang der Welt bedeutet, will ich es nicht hören!“ Doch ich wurde abermals gerufen. „Thorin!“ Nun, immerhin war es kein ‚Eure Exzellenz‘… Ich wandte mich der Quelle zu. Natürlich hatte ich ihre Stimme diesmal bereits erkannt. Als sie näher kam, trat Anna einen Schritt zurück, um uns etwas Privatsphäre zu lassen. Zumindest so weit, wie ihre Funktion und ihr Posten es erlaubten. Ich schloss Ishara ungeniert in die Arme, als sie mir lediglich unsicher eine Hand entgegen streckte. Ich hatte sie ein paar Tage nicht gesehen – oder waren es inzwischen Wochen? Es gab kein morgen. Das machte es schwierig, das Datum nicht aus den Augen zu verlieren. Ich seufzte tief, als ich ihren zierlichen Leib an mich gedrückt hielt. Es war gut, sie in der Nähe zu haben. Das war es immer. Das Fräulein Herzogin, Botschafterin oder welchen ihrer Titel sie auch immer bevorzugte, hatte sich zum Dienst gemeldet. Vermutlich, weil es leichter war, weiterhin unter meinem Kommando Befehle auszuführen, als auf Anlässen, Bällen und Banketts die vornehme Adlige spielen zu müssen. Und ich konnte nicht leugnen, dass ihre Spähtruppe eine der Besten war. Als ich sie wieder von mir drückte und ihr in die Augen blickte, sah ich sofort, dass irgendetwas vorgefallen sein musste. Sie wirkte… besorgt. Zugegeben, das tat sie meist. Aber diesmal mehr als üblich. „Was ist los?“ „Ich habe Nachricht aus Sundergrad. Ein Bote ist hierher unterwegs.“ Es war bemerkenswert, wie schnell sie sich ein eigenes, kleines Informationsnetzwerk hatte aufbauen können. Ich war mir nicht absolut sicher, vermutete aber, dass auch dabei Alistair seine Finger im Spiel gehabt haben könnte. Oder Fräulein Tanveer. Oder Ninafer selbst. Oder Mortimer. Gute Güte, ich umgab sie mit nur den besten Einflüssen, nicht wahr? Ich schüttelte die Gedanken ab. Die Existenz eines auf dem Weg nach La Coeur befindlichen Boten allein würde sie nicht so beunruhigen. Das nur eine Möglichkeit offen ließ: Sie wusste bereits, was in der zweifellos nach wie vor perfekt versiegelten Botschaft stand. Was also könnte es sein? Bevor ich wirklich darüber rätseln konnte, nahm sie mir diese Mühen ab. „Wir haben Nachricht aus Anadyr. Sie haben ihn aufgegriffen. Und bieten seine Auslieferung gegen Geld. Viel Geld.“ Das waren zugegeben Nachrichten, die nicht mit dem Weltuntergang einher gingen und die ich dennoch hören wollte. Oder eigentlich eher nicht hören wollte. Viele im Volk waren mehr als unzufrieden darüber gewesen, das uns Phillipe in den letzten Stunden der Revolution tatsächlich durch die Netze geschlüpft war. Doch nach allem, was ich gesehen, erlebt und über ihn gehört hatte… es wäre deutlich zu hoch gegriffen gewesen, zu behaupten, dass ich Mitleid mit ihm gehabt hätte. Dieser kleine Hurensohn hatte sich freiwillig entschieden, diesen Weg zu beschreiten. Er hatte jede Entscheidung selbst getroffen, jedes Urteil selbst gefällt, jede Anweisung selbst unterzeichnet. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass er kaum mehr war als ein verzogenes Kind. Ein verzogenes Kind, das nie die Chance hatte, ein normales Leben zu führen. Weil er von klein an bereits das Spielzeug und Werkzeug anderer Mächte war, die ihn als Figur auf ihrem Brett herumschoben, wie es ihnen passte. Wie sagte man bei schlechten Nachrichten? Töte nicht den Boten. Phillipe war das Gesicht, das jeder kannte. Das Böse in Person, wie alle meinten. Er war die Wurzel allen Übels, der große Strippenzieher. Die Wahrheit kannte nur eine Handvoll derer, die mir lange und dicht genug gefolgt waren. Und die wenigen, die mit mir das Schloss erstürmt hatten und es lebend wieder verließen. Ich hätte ihn niemals von irgendeinem der Vorwürfe freisprechen wollen, von irgendeinem der zahllosen Verbrechen, die man ihm zur Last legte. Aber nun ein kleines Vermögen dafür auszugeben – eines, das wir besser für den Aufbau von Schulen, Krankenhäusern und Aquädukten gebrauchen konnten -, nur um die kalte Blutgier eines Volkes zu stillen, das nicht wusste, wohin es mit seinem Zorn sonst sollte? Nur, weil die Wunden noch frisch waren, der Schmerz noch präsent, die Spuren noch nicht vernarbt, hieß das nicht, das es irgendeine Form von Rechtfertigung bieten würde. Oder auch nur, das Phillipes öffentlichkeitswirksame Hinrichtung irgendetwas ändern würde. Ich stand eine Weile dort, bemerkte nicht, wie erst Ishara, dann auch Anna mich mit besorgter Stimme ansprachen. Erst als sich eine Hand auf meinen Arm legte, blickte ich langsam auf, kehrte in das Hier und Jetzt zurück. Ganz ehrlich? Irgendwo war ich froh, dass dieser kleine Bastard entkommen war. Ich war alt genug geworden, um das Wesen der Menschen zu kennen. Viele von ihnen handelten vorschnell, unbedacht, kurzsichtig. Wir lebten in der Regel nicht sonderlich lange, mussten nur selten die Konsequenzen unserer Taten ertragen, mit ansehen, wie der kleinste Stein im Teich Wellen bis ans Ufer schlug. Ich war froh, dass dieses meine Volk nicht die Gelegenheit bekommen hatte, zu rachsüchtigen, blutlüsternen Bestien zu werden. Zu einer Perversion ihrer selbst. Zu dem, was zu vernichten sie so inbrünstig beabsichtigten. „Haben sie gesagt, was sie mit ihm zu tun beabsichtigen, sollten wir kein Interesse haben?“, erkundigte ich mich möglichst behutsam. Dennoch sah ich, wie überrascht sich die Augen beider weiteten. Sie begriffen sofort, was ich in Erwägung zog. Aber zumindest schien keine von beiden gewillt, hier und jetzt einen Aufstand deshalb zu veranstalten. Vielleicht käme das später. Oder sie vertrauten mir genug, es ganz zu lassen. Ishara brauchte einen Moment, ehe sie nickte. „Sie würden ihm gerne selbst den Prozess machen, aber in ihrem Land hat er keine Verbrechen begangen und da er theoretisch noch immer König ist, nur eben im Exil… sie würden ihn freilassen.“ Ich lächelte. Ich spürte, wie die Muskeln sich verzogen, aber… ich fühlte es nicht. Fühlte mich nicht, als sollte ich lächeln oder als hätte ich irgendetwas, worüber ich lächeln könnte. „Das heißt nicht, dass er den Weg auf das nächste Schiff überlebt“, erklärte ich leise. In den ersten Jahren seiner Regentschaft waren viele vertrieben worden oder in weiser Voraussicht des Landes geflohen. Wer wusste schon, wohin es diese verscheuchten Seelen verschlagen hatte? Nur einer davon musste, mit genug Wut im Bauch, den Pfad unseres früheren Königs kreuzen und er wäre so gut wie tot. Es stand nun ihm allein zu, für sein Überleben zu sorgen. Ich konnte nicht sagen, warum der Gedanke solche Bitterkeit in mir hevorrief. Vielleicht, weil ich mich damit unweigerlich bei all jenen einreihte, die Phillipe seit jeher nur herumgeschoben hatten. Auf sich gestellt? Auf sich gestellt hatte er keine Chance. Wie hätte er die haben sollen, nachdem sein ganzes Leben behütet und gelenkt abgelaufen war. Aber ich war nicht sein Vater, nicht sein Retter, nicht sein Freund. Ich war sein Feind. Und dennoch fühlte ich mich grässlich bei dem Gedanken, wie er eines Morgens abgestochen, aber im Vollbesitz seiner Habe, in irgendeiner schäbigen dunklen Seitengasse gefunden werden würde, das Gesicht noch immer von Schmerz und Panik verzerrt. Er kannte diese Welt dort draußen nicht. Er hatte ja nicht einmal die tatsächliche Welt hier drinnen gekannt. „Ich… danke dir für die Nachricht. Ich überlege mir, was wir tun werden.“ Der Bote war noch nicht eingetroffen. Offiziell wusste ich noch von gar nichts. Und das war auch besser so – es gab mir mehr Zeit, diese Sache gründlich zu überdenken. Rat einzuholen. Ich würde viel Rat brauchen. Vor allem von Leuten, die keinen persönlichen Hass auf ihn hegten. Ninafer war von ihm gefoltert und vergewaltigt worden – und dennoch traute ich ihr diesbezüglich genug Abstand zu. Ihr Geist war… eigenwillig genug für dergleichen. Mortimer vielleicht ebenfalls. Reva. Eine Hand voll anderer Namen kam mir in den Sinn, ehe ich mich schwer seufzend von der Überlegung löste. Nach dieser Nachricht wirkte das vor mir Liegende nicht mehr ganz so dramatisch und verachtenswert. „Wir sehen uns hoffentlich beim Abendessen?“, hakte ich noch kurz nach, ehe ich mich von Ishara Anna zuwandte, „Hol mich da raus, sobald es eins ist.“ Beide nickten mir zu, ich presste die Klinke herab und schloss die Tür nach zwei Schritten hinter mir. Kaum wandte ich mich um, begegnete ich einer Front aus einheitlich missbilligenden Blicken. Nicht etwa, weil ich in Erwägung zog, Phillipe nicht hinzurichten. Nein, von dem Gespräch hatten sie kein Wort gehört. Es ging allein darum, dass ich ein paar Minuten zu spät war. Und mit einem Schlag war all das Gewicht der Langeweile und des Grauens wieder da. Diese überalterten Gesichter waren die Mitglieder eines Gremiums. Ich hatte das Wort fürchten gelernt, weil ich jeden einzelnen Morgen wieder und wieder hier auftauchen musste. Reva und Daeri gaben sich mit den neuen Gesetzesentwürfen redliche Mühe, aber sie konnten und durften die Bücher nicht im Alleingang überarbeiten. Das hätte ich auch gar nicht gewollt. Es war nicht mein Ansinnen, das Schicksal der zukünftigen Juristerei ausgerechnet in die Hände dieser beiden zu legen. In die Hände eines vermutlich irgendwie gestörten Tieflings und einer ehemaligen Zirkelmagierin, deren Einnahmequellen so zwielichtig waren wie die Absichten des nächstbesten Halunken in einer Seitengasse im Westen Samaras. Aber die beiden kannten die Materie, kannten die Kniffe und Tricks, kannten die Grundlage. Und was vielleicht noch wichtiger war – sie waren als Einzige bereit gewesen, diese Aufgabe anzunehmen. Dieses Gremium hier diente der Überarbeitung der Vorschläge und Entwürfe. Der Nachbesserung. Tatsächlich hingegen versuchten sie nur auf Gedeih und Verderb Lücken, Schwachstellen und Mehrdeutigkeiten zu finden und zu benörgeln, nachdem ich ihnen mehrfach in unseren ersten Sitzungen versichert hatte, das man an Daeris Werken üblicherweise keine Fehler fand, sofern man die korrekten… Spezifikationen geliefert hatte. Es war wirklich erstaunlich, um was für absurde Worte mein Sprachschatz gewachsen war, seit ich diese Irre kannte. Die Tagung des Gremiums begann mit einem Hammerschlag – als wären wir bei Gericht und ich der Angeklagte, der sich nun verteidigen müsse.   Es klopfte, just als ich glaubte, aus dem Sitzen heraus aus meinem Stuhl über den Tisch auf den Zausel zuspringen zu müssen, um ihn mit seinem eigenen Bart zu erwürgen, den er so selbstgefällig drein blickend immer wieder streichelte als wäre es eine Katze auf seinem Schoß. Anna trat ein, ohne dass man sie hereingebeten hätte. Sehr zur Verstimmung der Gremiumsmitglieder. „Eure Exzellenz wird im Thronsaal erwartet.“ Kurz und präzise. Ich begann wirklich, sie zu mögen. „Wir sind hier noch nicht fertig, Kindchen, hat dir denn keiner Anstand und Man-“ begann die alte Hexe zu meiner Linken, doch Anna schnitt ihr selbstsicher und mit stolz gerecktem Kinn das Wort ab. „Doch, seid ihr, mit Verlaub.“ Stille senkte sich über den Raum. Ich hätte aus vollster Kehle lachen wollen, schon allein der verdutzten Gesichter wegen – doch ich wusste es besser. Langsam erhob ich mich, verabschiedete mich, wünschte noch einen angenehmen Tag. Kein ‚bis morgen‘. Es gab kein morgen. Dann folgte ich Anna hinaus, schloss die Tür und atmete tief und erleichtert aus. „Noch ein paar Minuten und ich hätte sie alle umgebracht.“ „Und in ihrem Blut gebadet? Ich dachte, das wirkt nur bei Jungfrauen.“ Zugegeben – bei diesem Kommentar musste ich dann doch lachen. Sie setzte sich in Bewegung, Richtung Thronsaal. Es war ungewohnt. Jemandem zu folgen, statt andere zu haben, die mir wie treudoofe Hunde hinterher trotteten. Ungewohnt… und angenehm. „Glaubst du wirklich, so wie die sind, dass sie in ihrer Jugend anders waren? Und falls sie das nicht waren, wer würde die schon haben wollen!“, erlaubte ich mir mit ihr zu scherzen. Tatsächlich wusste ich, dass diese Leute lange und erfüllte Leben gehabt hatten. Viele waren bereits Großeltern und hatten einen Großteil ihres Lebens in Staatsdiensten verbracht – meist in ähnlich ermüdenden Positionen, die bis zum Rand mit Langeweile gefüllt waren. Es war wirklich kurios, nicht? In all den Heldenmythen und all den glorreichen Märchen unseres Zeitalters ist es so oft der Fall, dass der Protagonist, der Held der Geschichte, seine Nemesis selbst erschafft. Aber ich, ich hatte nie irgendetwas getan, um diese frisch hinter mir zurückgelassene Monstrosität zu erschaffen, die ich jeden Tag aufs Neue bekämpfen musste. Dieses Ungetüm aus Papier, das ich so zu fürchten gelernt hatte. Eine Bestie ohne Blut, ohne Krallen, ohne Zähne. Dafür mir scharfen Rändern, mit verschmierbarer Tinte, die für diplomatische Zwischenfälle mit Pferdeherren sorgen konnte, weil die kein Blau mochten. Dieses Monster, diese sogenannte Bürokratie, war mein ganz persönlicher Alptraum. Eine Hölle nur für mich. Und Daeri und Reva, obwohl ich die Notwendigkeit und Wichtigkeit ihrer Aufgabe niemals in Frage stellen würde, schaufelten konstant Kohle in den Ofen, um diese groteske Absurdität am Laufen zu halten. Wie ich es vermisste, die Axt zu packen und die Monster, die mich bedrohten, einfach erschlagen zu können… Wir kamen am Thronsaal an. Hier nun startete die nächste Etappe meines Tages. Für ein gutes Mittagsessen war, wie schon für das Frühstück, einfach keine Zeit. Durch die schlichte und unscheinbare Tür betrat ich den gewaltigen Saal. Die Wachen zogen stramm und salutierten, als ich sie passierte. Wir näherten uns dem Thron von der deutlich schlechter beleuchteten Rückseite der Halle, ich nahm meinen Platz ein und starrte auf die großen Tore am anderen Ende. „Erinnere mich nochmal, Anna – wie genau hat mein Weib sich hierum drücken können?“, hakte ich mit einem Seufzen nach. „Sie lässt ausrichten, dass das Land sein Königspaar über alles liebt, schätzt und respektiert, doch seinem König folgte es in die Schlacht und seinen König braucht es nun mehr als die ausländische Schönheit, die er heiratete. Außerdem lässt sie ausrichten, dass sie stolz auf dich ist“, erwiderte Anna sehr zu meinem Verdruss. Das hieß, sie war instruiert worden und gab das tatsächlich alles nur wieder. Was wiederum hieß, das Ninafer genau wusste, dass ich im Verlaufe dieses Tages diese Frage stellen würde. „Warum genau habe ich dieses Weib nochmal zu meiner Königin gemacht…?“, seufzte ich eher zu mir selbst, doch wider Erwarten gab Anna auch hier eine Antwort. „Wegen ihrer tiefbraunen Augen, dem üppigen Busen, der weiten Hüfte...“ Ich konnte nicht einmal realisieren, was sie da sagte, geschweige denn, wie ich darauf reagieren sollte, als mein Kopf bereits ruckartig zu ihr herumfuhr und ich sie, die Brauen leicht zusammengezogen, eine hinterfragend gehoben, anstarrte. Anna räusperte sich kurz, noch immer mit völlig ernster Miene. „Ihr ihr die Krone so gut stand?“ Ich spürte, wie meine zweite Braue ebenfalls in die Höhe wanderte. Ein Lächeln zwang meine Mundwinkel langsam herauf, ich spürte das Zittern in meinen Lippen, als ich mich auf Gedeih und Verderb zu beherrschen versuchte. „Ich meine, natürlich nur und ausschließlich weil du sie so über alle Maßen liebt. Auf einer intellektuellen, ja fast schon platonischen Ebene. Du gaffst ihrem Hintern auch nur auf einer platonischen Ebene hinterher.“ Ein paar Sekunden dauerte es, ehe ihre Selbstbeherrschung versagte. Als ich das Grinsen aufziehen und mit jedem Herzschlag immer breiter werden sah, konnte ich mich selbst nicht mehr zurückhalten. Unser schallendes Gelächter tönte und hallte durch den Saal, ein paar Augenblicke noch, nachdem wir uns endlich wieder beruhigt hatten. Ja, ich konnte sie gut leiden. „Na dann, lass uns loslegen“, wies ich sie schließlich an. Wie zuvor, nahm sie mit ihrem Schreibbrett und dem darauf festgeklemmten Tintenfass ein Stück abseits ihren Platz ein. Sie nickte der Wache am Tor zu, die daraufhin begann, die Bittsteller einzulassen, die sich bereits in einer stattlichen Schlange auf dem Gang versammelt hatten. Wer eine Audienz beim König wünschte, kam in der Regel entweder aus La Coeur oder nahm die weite Anreise nur auf sich, weil bereits die Gewährung eben dieser Audienz zugesichert worden war. Eine solche Zusicherung war Aufgabe der Wache vor den Toren des Thronsaals. Jeder, dem etwas zugesagt worden war, wurde am Anfang der Schlange platziert, damit gewährleistet werden konnte, dass sie auch bekamen, was man ihnen versprochen hatte. Der Rest kam und ging, wie es die Zeit des Königs erlaubte. Meine Zeit. Und die erlaubte in der Regel ziemlich wenig. Die Anliegen, die mir vorgetragen wurden, waren in der Regel trivial. Beim Abhalten des Hofes ging es nicht so sehr darum, die großen Entscheidungen zu fällen. Die wurden in Gremien hinter verschlossenen Türen besiegelt. Hier ging es um öffentlichkeitswirksame Präsenz. Um das Wiederherstellen von Normalität und Vertrauen in die Krone. Darum, dem Volk nahe zu sein. Und ich nahm diese Aufgabe durchaus ernst. Wenn ein Bauer über die schlechte Ernte klagte, sicherte ich ihm zu, dass jemand sich seine Felder ansehen und sie vielleicht düngen oder mit einem kleinen Zauber nachhelfen würde. Ich musste weder einen Namen nennen, noch weitere Anweisungen erteilen, damit Anna begriff und meine Entscheidungen niederschrieb. Sie arbeitete rasch und gewissenhaft – noch ein Pluspunkt. Wann immer ich mit einem Anliegen fertig war, nickte ich den Besucher ab. Er ging und sobald er den Saal verlassen hatte, wurde der nächste Bittsteller hereingerufen. Handwerker ohne Atelier, Fischer, die ihre Arbeit aufgrund der Verseuchung der Zwillingsströme mit dem Abwasser verloren hatten, ein Töpfer, dessen Alter ihm das Arbeiten unmöglich machte, doch ohne seine Arbeit wäre er nicht länger im Stande, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten – der Bürgerkrieg und die Revolution hatten ihn seiner zwei Söhne beraubt. Während in diesen ach so wichtigen Gremien schwerlich das große Bild zu übersehen war, all die gewaltigen Probleme, die das Land hatte und die gravierenden Wunden, die die Revolution in seinem Antlitz hinterlassen hatte, zeigte der tägliche Hof auf, wie es für den einfachen Mann aussah. Ich empfand diese Probleme seit jeher als interessanter. Spannender zu lösen. Vielleicht fälschlicherweise sogar als wichtiger. Ich hatte einen Umsturz gewollt, einen Umsturz von unten. Einen zu Gunsten der Mehrheit – und ich hatte bekommen, was ich wollte. Das hieß aber nicht, dass jene, die ich begünstigen wollte, nicht dennoch unter den Veränderungen litten. Es war eine Kleinigkeit, eine Ladung Tiermist auf ein Feld ausbringen zu lassen oder irgendwen mit einem Gespür für Naturmagie auf das Feld zu stellen, damit er wirsch mit seinen Händen herumfuchteln konnte. Es war eine Kleinigkeit, jemandem eine neue Anstellung zu verschaffen oder für eine bessere Absicherung der Handelswege zu sorgen, eine Kleinigkeit, eine Straße von umgestürzten Bäumen des letzten Sturmes zu befreien. Doch so winzig diese Änderungen wirken mochten, sie besserten das Leben, selbst sei es nur das eines Einzelnen und sie taten es schnell und nahezu unmittelbar. Es kostete wenig, wenig Aufwand, wenig Geld. Während all die großen Beschlüsse und Umbauten am Staatssystem kleine Ewigkeiten fraßen, nur weil die bürokratischen Mühlen alles in fünffacher Ausführung haben wollten – und wehe die Unterschrift saß nicht perfekt auf der vorgezeichneten Linie! Es mochte gegen vier am Nachmittag gewesen sein, als der Hof schloss. Einige wenige waren enttäuscht, weil sie nicht an die Reihe gekommen waren. Doch während jene sich wunderten, was um der Götter Willen ich nur den ganzen Tag trieb, das ich gerade einmal drei Stunden für den Hof erübrigen konnte, hätte ich liebend gerne mehr Zeit hier investiert. Es ging nur einfach nicht, es gab noch zu viel andere Arbeit, die erledigt werden wollte. Anna begleitete mich zu einem Arbeitszimmer. Ja – neuerdings hatte ich Arbeitszimmer. Mehrere. Liebend gern hätte ich jedes leerräumen und in eine Rüstkammer oder eine Trainingsanlage umbauen lassen. Vermutlich hätte ich es gekonnt. Wo aber sollte ich dann all den Papierkrieg ausfechten, der unweigerlich tagtäglich auf mich wartete? Wie schon im Thronsaal nahm Anna auf einem deutlich schlichteren Stuhl an der Seite des Tisches Platz, während ich mich dahinter versteckte. Verstecken passte ganz gut, wie ich befand – denn vor mir türmten sich Berge an Papier auf. Ich wurde dieses Monster einfach nicht los. Ich hatte gehört, es hätte eine Schwachstelle für Feuer und einen Moment lang, beim Anblick seiner schieren Ausmaße, war ich gewillt, dieses Gerücht auf die Probe zu stellen. Aber mir war klar, was dann geschehen würde. Wie ein Phönix aus der Asche, würde sich das Ungetüm neu erheben. In fünffacher Ausführung. Mit den Unterschriften perfekt auf der Linie. Die Routine, so verhasst sie mir war, war immer die Gleiche. Es begann mit Formularen, die einfach nur einen Stempel brauchten. Anfangs hatte ich mir die Mühe gemacht, zu lesen, worum es ging. Oder hatte es versucht. Doch in diesen Formularen waren so viele Fremdworte und Abkürzungen enthalten, das ich mit einer Hand voll Blätter tagelang quer durch mein eigenes Schloss gejagt war, nur um herauszufinden, was was bedeutete – und am Ende ging es darum, den verdammten Zaun im Innenhof neu zu streichen. Aber von rechts Wegen durfte ich und nur ich allein diesen Stempel auf drücken. Oder überhaupt in die Hand nehmen. Irrsinn. Es war der pure, unverfälschte, blanke Wahnsinn. Dieser Tage war ich klüger geworden. Die Formulare hatten einen Aufbau, der erst erkennbar wurde, wenn man darum wusste. Mit einer Liste der gängigsten Abkürzungen bewaffnet, las ich lediglich quer und bekam meist eine Ahnung davon, worum es ging. Segnete ich es ab – Stempel drauf, neuer Stapel. War ich dagegen – anderer Stempel drauf, anderer Stapel. Nachdem die verdammten Formulare endlich beseitigt waren, kamen die Briefe. Viele enthielten Anliegen ähnlich derer, die ich bei Hofe zu hören bekam. Nicht jeder konnte oder wollte extra hierher reisen, nur um mir sein Elend zu klagen. Etwas, wofür ich dankbar war. Aber neben den Anliegen, die tatsächlich bedacht werden konnten oder teils sogar mussten, gab es natürlich noch… andere Post. Einige Schreiben stammten aus der Feder heißblütiger Verehrerinnen, so schien es. Und ein paar Verehrer, was zugegeben ungewöhnlich war. Ein paar andere Schreiben stammten aus der Feder solcher Damen – und eines einzigen, absurd hartnäckigen Herren -, die fest behaupteten, mit mir in der Vergangenheit verkehrt zu haben und glaubten, daraus nun gewisse Ansprüche ableiten zu können. Selbst falls mir die Namen irgendetwas gesagt hatten – und sie hatten mich in den vergangenen Jahren selten interessiert -, garantierte die bloße Frechheit, etwas von mir fordern zu wollen, dass ihre Schreiben meinen Kamin beheizten. Mit Ausnahme derer zumindest, die amüsant genug waren. Ich hatte inzwischen eine kleine Sammlung an selbstgedichteten Werken. An Briefen mit besonders kreativen Ideen zur Betitelung der Geschlechtsteile. Und natürlich meine persönlichen Favoriten: Briefe, in denen mir angekündigt wurde, was alles mit mir getan oder mir zu tun erlaubt werden würde, wäre ich nur so freundlich, zurückzuschreiben. Manchmal glaubte ich, Ninafer und Mortimer hatten bei ihren Teerunden mehr Gefallen an diesen Briefen als ich selbst. Aber wo es Liebe und Leidenschaft gab, gab es auch Leidenschaft und Hass – ganz unweigerlich. Mein kleiner Staatsstreich hatte viele vor den Kopf gestoßen. Adlige hauptsächlich. Reiche Händler und Handwerker. Die hohen Ränge im alten Militär. Natürlich sammelte ich deren Ergüsse ebenso, wenn sie nur kreativ genug waren. Ich hatte geglaubt, bereits viele denkwürdige Beleidigungen und Flüche zu kennen, aber das war nichts verglichen mit der Fülle und Absurdität dessen, was mir in dieser Position und Rolle entgegen schlug. Ganz zu schweigen davon, dass mancher Brief mir nur bestätigte, was ich über den Geisteszustand der meiste Adligen ohnehin schon immer vermutet, insgeheim gewusst hatte. Da war unter anderem dieser junge Bursche aus dem Niederadel Herothings gewesen, der in seinem Schreiben – anonym, wie er offenbar gehofft hatte – Vermutungen darüber anstellte, wie ich das gewaltsame Zeugnis einer der absurden Spezialitäten aus Madame Gustines ehemaligem Edelbordell gewesen sei, zweifellos in diese Welt gebracht von einem im Suff befindlichen Seemann mit mehr Filzläusen als Haaren im Bart. Besonders spannend fand ich den Teil, der meiner Ansicht nach bereits als halbe Rassenstudie der Filzläuse hätte durchgehen können. Woher dieses detaillierte Wissen stammte, konnte ich mir gut denken, immerhin schien der Bursche intime Kenntnisse von Madame Gustines Haus besessen zu haben. Vielleicht war er auch einfach nur ein wenig aufgebracht darüber, dass ich sein Lieblingsetablissement dicht gemacht hatte und er nun, unter ganz gewöhnlichen Umständen, bei seiner Herzdame keine Chance mehr besaß, egal wie dick und prall und schwer sein Geldbeutel sein mochte. Ich fand auch diesmal ein paar, die sich meinen Sammlungen anschließen durften. Jedes einzelne Mal genügte es, das ich trotz aller Selbstbeherrschung kurz auflachen oder zumindest zutiefst vergnügt ein wenig vor mich hin glucksen musste – und jedes einzelne Mal gab ich die Briefe Anna zu lesen, die manchmal rot anlief und manchmal selbst ins Lachen geriet. Sie legte die Meisterwerke wie angewiesen fein säuberlich bei Seite und mit den fortschreitenden Stunden schrumpften die Stapel zusehen vor sich hin. Einmal mehr war das Papiermonster besiegt. Zumindest vorläufig – denn einen endgültigen Sieg über diese Monstrosität gab es nicht. Ich neigte den Kopf zur Seite und ließ ihn einmal im Nacken rollen bis auf die andere Seite und nach vorne. Das Knacken fühlte sich ebenso scheußlich an, wie es sich wohl anhörte. Anna erhob sich und erklärte, sie sei bald zurück und ihren Worten treu kehrte sie mit einer dampfenden kleinen Tasse wieder. Ein Tee, wie sie mir erklärte, der meiner Entspannung dienen sollte. Ich stellte das noch zu heiße Gebräu ab und widmete mich den verbliebenen, kläglichen Resten der Schreiben, ehe der weniger schöne Teil kam. Selbst die Feder geführt hatte ich seit Jahren nicht mehr. Vermutlich war das der Grund, warum ich Anna auf meinen Stuhl setzte und ihr diktierte, während ich wie ein eingesperrter Tiger im Raum auf und ab wanderte. In ihrer feinen, säuberlichen, hübschen Handschrift trug sie auf das Papier nieder, was ich vorgab und Umschlag um Umschlag füllte sich mit Antwortschreiben. Es mochte nach acht sein, als wir endlich fertig waren. Das ließ mir noch vier Stunden, höchstens, falls ich noch die Energie hätte, überhaupt irgendetwas tun zu wollen. „Ich denke, wir sind hier fertig. Du kannst heim, versuch das wenige Bisschen zu genießen, das vom Tag noch übrig ist.“ Ein Blick zum Fenster. „Oder von der Nacht.“ Sie schüttelte unter einem Lächeln den Kopf. „Da ist niemand, der warten würde, also keine Sorge. Trink deinen Tee und komm mit in den Salon, ich habe eine Idee.“ Wer war ich schon, ihr zu widersprechen? Ah ja. Der König. Dennoch trank ich wie angewiesen. Es war angenehm, mal nicht ständig die Zügel in der Hand halten zu müssen und ich war zugegeben neugierig, was sie im Schilde führte. Dort angelangt, sah ich mich kurz um. Ich kannte die bewohnbar eingerichteten Räume des Schlosses natürlich in- und auswendig. Die bis zur Decke reichenden Bücherregale, der anheimelnde, bereits entzündete Kamin, die dichten, großen Felle, die davor lagen, darum verteilte eine kleine Sitzgruppe hübsch geschnitzter Stühle und ein paar kleine Beistelltische. Ein Leseraum, den Lileth und Ninafer häufig frequentierten, wenn sie denn da waren. Heute schienen wir ihn ganz für uns zu haben. Anna zog einen Stuhl ein Stück von den Fellen und vom Kamin fort und deutete mir an, mich zu setzen. Noch immer trieb mich meine Neugier vorwärts und ich ließ mich darauf nieder. Ich hatte bereits bequemer gesessen. Dann wiederum war Bequemlichkeit für mich nicht unbedingt das Maß aller Dinge und ich empfand es schon als bedenklich genug, das jeder so bemüht schien, alles in meiner Welt bequem zu machen. Weiche Betten, weiche Sitzkissen, alles weich, weich, weich. Fürchterlich. Würde ich nicht ab und an zur Jagd ausreiten oder einfach ein paar Reisen quer durch das Land machen, ich wüsste vermutlich nicht einmal mehr, wie es sich anfühlt, auf Stein und nacktem Boden zu schlafen. Selbst das durfte ich natürlich erst, wenn ich es geschafft hatte, meine Eskorte abzuhängen und meine vorgesehene Reiseroute zu verlassen. Ich liebte die Nervenzusammenbrüche der Berater und Bürokraten. Ich erlebte sie natürlich nicht selbst, aber sogar Lileths, Mortimers und Ninafers Erzählungen davon waren stets mehr als nur unterhaltsam. Anna positionierte sich hinter mir und kurz darauf spürte ich ihre Fingerspitzen auf meinen Schultern. „Hey, das hier hat nichts mit deinen Lenden zu tun, klar?“, hörte ich sie erklären. Ich glaubte das Grinsen regelrecht heraushören zu können, „Also entspann dich. Darum geht es dabei nämlich.“ Einmal mehr begab ich mich in fähige Hände. Ich schloss die Augen und spürte dem Gefühl nach. Sie knetete und drückte, presste und stichelte. Die Verspannungen, von denen ich zweifellos so Einige hatte, lösten sich langsam auf. Wie lange ich da gesessen haben mochte, wusste ich nicht zu bestimmen. Meine Gedanken drifteten ab, zurück zu Ninafer. Natürlich ging es bei Massagen um Entspannung, doch mit dem Moment der Ruhe kam auch das Gefühl des Morgens zurück, das Gefühl, ausgetrickst worden zu sein. Um etwas betrogen worden zu sein. Mir war entfernt bewusst, dass mein Leib auf die Erinnerungen reagierte, aber es scherte mich nicht sonderlich. Sollte Anna sich daran stören, gute Götter, dann würde sie schon etwas sagen. Tat sie auch, kaum wenige Augenblicke, nachdem ich das gedacht hatte. Obwohl das, was sie sagte, aus einer inkohärenten Folge gurgelnder Laute bestand, ehe ich hinter mir einen Aufschlag auf dem Boden hörte. Ich seufzte tief, öffnete langsam die Augen und wandte meinen Blick zur Seite. Da lag sie, Annabella. Und sie war kreidebleich. Eine kleine Nadel steckte in ihrem Nacken. Man hätte sie kaum sehen können, hätte das Flackern des Feuers im Kamin kein Lichtspiel durch den Raum geworfen, das sich am Metall fing. Und da, knapp neben ihr, war auch die Quelle des metallischen Aufschlages. Ein Dolch. Ein neues Paar Hände legte sich auf meine Schultern und führte die Arbeit ungeniert fort. „Attentäterin?“, seufzte ich leise und ließ mich wieder in die Massage sinken. „Keine von der Gilde“, erwiderte Ninafer leise, ihre flüsternde Stimme dicht neben meinem Ohr. Sie jagte mir einen Schauer den Rücken herab. „Mortimer und Ishara waren so freundlich und hatten für mich ein Auge auf sie, seit sie die Stadt betrat.“ „Schade. Wirklich schade. Ich konnte sie gut leiden.“ Ich bemerkte, wie sie näher an den Stuhl heran trat, ihre Fingerspitzen wanderten über meine Brust, meinen Bauch, tiefer. „Ein wenig zu gut vielleicht, hm?“ Ich lachte auf. Die Vorstellung, Ninafer könne jemals eifersüchtig werden, war schlicht zu absurd. Ihr Griff schloss sich fester, ihre Hand bewegte sich langsam auf und nieder, quälend langsam – und mir blieb das Lachen quer in der Kehle stecken. Nicht etwa wegen dem, was sie tat. Zumindest… nicht nur. Annas Tod bedeutete auch, dass ich eine neue Assistenz brauchte. Der ich all die Regeln wieder erklären musste. Vielleicht sollte ich ein Handbuch schreiben. So verfahren sie mit Ihrem König! – aber damit würde ich lediglich zum Wachstum meines neuen Erzfeindes beitragen. War es mir das wirklich wert…? Ich versuchte zwar dem Gedanken zu folgen, wurde jedoch abgelenkt vom Geräusch raschelnden Stoffes. Ich hatte so viel Konzentration auf diese Überlegung verwenden müssen, dass mir schlicht entgangen war, wie Ninafer mich umrundet hatte. Oder wie sie den Saum ihres Kleides emporgerafft hatte. Erst als sie auf meinen Schoß sank, kehrte meine volle Aufmerksamkeit schlagartig ins Hier und Jetzt zurück. Überrascht von so viel, nun, Direktheit angesichts der Umstände, konnte ich das Aufkeuchen nicht zurückhalten. Sie ließ ihre Hüfte kreisen, einmal mehr qualvoll langsam, in eingespielter Präzision. Ich spürte mühelos, dass sie wusste, was sie tat. Genau wusste, genau kalkulierte. Sie hatte das hier schon tausendfach getan, sie kannte jede nötige Bewegung in-und auswendig. Die Vorstellung allein hatte zugegeben etwas Betörendes für sich – denn nun war sie mein und mein allein. Mit beiden Händen packte ich ihren Hintern. Es brauchte einen Anlauf und sah gewiss nicht sonderlich grazil aus, doch ich vermochte mich vom Stuhl zu erheben. Er bot zu wenig Spielraum für Bewegung, zu wenig Möglichkeiten für mich, Kontrolle zu erlangen und so sehr der Gedanke reizen mochte, ihr ausgeliefert zu sein – nicht heute. Mein Blick schweifte kurz zu Anna, während Ninafer sich fest an mich klammerte. „Sie wollte mich einfach erstechen?“, hakte ich mit einem Kopfschütteln nach. Da hatten sich andere aber wirklich mehr Mühe gegeben. Obwohl ihr Schauspiel vorzüglich gewesen war. „Vergiften“, korrigierte sie mich, „Sie hat es den ganzen Tag schon versucht. Frühstück, Tee, eine Massage mit einem gelegentlichen, kleinen Kratzer hier und da.“ Und in diesem Moment, einfach so, vielen alle Teile des Puzzles zusammen. Ninafer hatte sie beobachten lassen. Vermutlich hatte sie von der erstbesten Gelegenheit an gewusst, was sich in ihrem Gepäck befand – möglicherweise dank Alistair, der kleinen Ratte. Sie hatte jeden Schritt verfolgen lassen und daher zweifellos auch gewusst, was sie tat. Was sie kaufte. Womit sie ihre Zeit zubrachte. Was bedeutete, das Ninafer ganz genau gewusst hatte, womit Annabella – sofern das überhaupt je ihr richtiger Name gewesen war – mich zu vergiften beabsichtigte. Und das erinnerte mich an den Stich, der heute früh meinen Traum durchbrochen und mich aufgeweckt hatte. Vermutlich hatte sie mir da das Gegengift verabreicht. Als ich meinen Blick von Anna löste und auf Ninafer richtete, lächelte sie – obwohl den Umständen entsprechend eine gewisse Röte in ihren Wangen lag. „Du hinterhältige kleine Schlange…!“, raunte ich ihr grinsend zu. „Zumindest ist es deine Schlange…! Ssssss!“ Mit wenigen Schritten stand ich auf den Fellen vor dem Kamin. Die Bediensteten würden einen Schock bekommen. Die einen, weil sie das Schlafzimmer morgen früh leer vorfinden würden – Schreck, war das Königspaar geflohen? Entführt worden? Die anderen, weil sie diesen Raum zu entstauben kamen und erst eine Leiche fanden – oh wie grässlich! -, und dann… uns. Nicht, das mich das aufgehalten hätte. Im Gegenteil, die Vorstellung erheiterte mich jetzt bereits. Ich bettete sie auf ihren Rücken. Jede Bewegung war ein kleiner Stich, eine kleine Erinnerung an unsere Verbundenheit, sandte einen kleinen Puls aus Gier nach mehr durch meinen Leib und meinen Verstand. „Hast du denn überhaupt noch genug Kraft, um-“, hob sie neckend an. Ich hatte für die Dauer eines Wimpernschlages mit dem Gedanken gespielt, ihre Lippen mit den Meinen zu versiegeln – stattdessen stieß ich einmal mit Kraft in sie. Sie bäumte sich unter mir auf, atmete heiß aus, keuchte auf. Es war ein betörender Anblick. Kein nerviges Tick, tick, tick, tick, tick. Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit, die doch nicht lang genug hätte sein können, wieder zur Ruhe kamen, verschwitzt, nunmehr nackt, völlig erschöpft und ausgebrannt, da ließ uns kein Chronometer wissen, wie spät es war. Keine Bittsteller wollten, dass wir uns wieder Kleider anlegten und kein Gremium beriet über unsere Leistung. Ihre Fingerspitzen fuhren verträumt und in gedankenlosen Bahnen über meine Schulter, meine eigene Hand strich behutsam über ihre Seite, ihre Hüfte, ihren Schenkel herab. Als könne sie zerbrechen. Das war natürlich Unsinn, ich wusste es besser – vor allem nach all dem, was wir schon getan hatten, miteinander insbesondere. Dennoch bekam ich dann und wann das Gefühl, das sie zerbrechlicher war, als sie den Anschein hatte. Und sei es nur in bestimmten Momenten. „Der Tag ist geschafft“, ließ sie mich leise wissen, „Schlaf nun.“ Es war angenehm, nicht selbst immer die Anweisungen geben zu müssen. Das Gefühl ihrer wandernden, zärtlichen Berührungen folgte mir bis in den Schlaf hinein.   Wer in seinem Leben einmal an einer Schlacht teilgenommen hatte, der kannte diese Geräusche. Es waren die unverkennbaren Laute einer Schlacht, die tobte. Das metallische und das dumpfe Klirren, als Waffen ihre Ziele trafen. Das Gekreisch der Getroffenen und Attackierenden. „Lange halten wir nicht mehr durch!“, mahnte mich Ishara, ehe sie drei Pfeile aus ihrem Köcher zückte, auf die Sehne spannte und präzise in drei verschiedene Gegner einschlagen ließ. „Haltet stand! Wir können siegen!“, brüllte ich aus voller Kraft über das Schlachtfeld hinweg. Mortimer tünchte einen armlangen Pinsel in einen bereitstehenden, roten Farbeimer und strich großzügig über das ihn angreifende, zweieinhalb Meter hohe Formular hinweg. Von der Entstellung entsetzt, kreischte es in Agonie auf und rannte davon. In einiger Ferne sah ich Daeri einen Hebel ziehen. Nach dem Beben und Röhren des Bodens hob sich eine Maschine empor, der schwarz klaffende Eingang beschriftet mit den Worten Hier Eintritt zur Buchbindung. Reihenweise stürzten sich die feindlichen Formulare auf ihre Finte, doch am anderen Ende der elend langen Maschine spie sie nur Schnipsel und Geschreddertes aus. Reva und Alandor sah ich ein kleines Stück von Daeri entfernt stehen, wie sie mit spitzen, gespaltenen Zungen Beleidigungen verteilten und die Feinde so in blinde Raserei versetzten, das sie sogar geistlos aufeinander losgingen. Wir hatten das Schlachtfeld unter Kontrolle – es war knapp, aber wir würden siegen können! Dann donnerte der Boden. Zitterte und bebte, wieder und wieder. Ich hatte diesen Moment befürchtet und ersehnt gleichermaßen. Dies war die Schlacht meines Lebens. Mein Schicksal. Es war gekommen. Gewaltig thronte es über allem anderen. Sein Schatten schien die Hälfte aller Truppen zu verschlingen, Freund wie Feind. „Macht euch bereit!“, brüllte ich aus vollster Kehle. Wenige Meter entfernt sah ich Ishara und Alistair Rücken an Rücken stehen. Er stahl die Tinte von den Formularen und sie benetzte ihre Schwertklingen damit. Die Formulare kreischten in Panik, Raserei und Agonie, während sie zerschlitzt und entstellt wurden. Doch sie waren nur Kanonenfutter, nur die Stoßtruppen. Dort, gewaltig thronend, erhob sich der Feind. Mein Feind. 7.308 Seiten purer Bosheit. Grässlich und kehlig lachend verhöhnte es unsere Versuche, seine Legionen in Schach zu halten. „Silas, jetzt!“, befahl ich. Der Grünschnabel steckte mich in Brand. Die Flammen verletzten mich nicht, doch wie eine Fackel preschte ich, die Axt erhoben, einen furchtbaren Kriegsschrei ausstoßend, auf den Feind zu. Ich würde ihn bezwingen, mit Feuer und Klinge und allem Hass dieser Welt! Und wenn es erst einmal sterbend vor mir lag, würde ich jeden Buchstaben eines Namens aus der Geschichte reißen. Nie wieder sollte jemand von diesem Monster verfolgt werden, nie wieder sollte jemand ängstlich im Schatten kauern müssen, weil es noch immer existent, noch immer ein Teil dieser Welt war. Ich würde uns alle von ihm befreien! „Nieder mit dem Steuerrecht!“, donnerte mein Schrei, als ich mich zum Angriff vom Boden abstieß, brennend, die Axt hoch erhoben.   Es gibt kein morgen. Weißt du, warum? Weil morgen genauso voll und beschissen ist wie heute. Wie gestern. Wie die einhundertsiebenundzwanzig Tage davor. Weißt du, was heute war? Heute war ein Rekordtag. Heute habe ich mehr Staatsgeschäfte erledigt als an allen Tagen zuvor. Gestern war auch ein Rekordtag. Und der Tag davor. Es gibt kein morgen, weil das hieße, zu akzeptieren, dass morgen schlimmer wird als heute. Wer würde das schon wollen? Weißt du, was eine Willenserklärung ist? In meinem Fall ist es ein Staatsgeschäft. Mein Wille wird Gesetz. Wortwörtlich, wenn es darauf ankommt. Alles muss niedergeschrieben, dokumentiert werden. Alles. Jeder Fall bedarf einer Entscheidung. Jeder Brief einer Antwort. Jedes Anliegen einer Wertung. Jede getroffene Entscheidung ist meine Wille, jede Äußerung meines Willens eine Erklärung, und als König, nun… 386. So viele ‚Willenserklärungen‘ habe ich heute abgegeben. Gestern waren es noch 355. Am Tag davor 321.   „Ich hasse mein Leben“, krächzte ich heiser hervor, als ich die Lider hob und mir schlagartig darüber bewusst wurde, wo ich mich befand. „Die Erlaubnis dazu hast du erst, wenn du das Bett verlässt“, erklang eine grässlich wohlgelaunte Stimme neben mir. „Wir sind nicht mal in einem Bett…“, erwiderte ich mit einem stetig breiter werdenden Grinsen, „Was glaubst du, wie lange sie brauchen, ehe sie uns finden…?“ Kapitel 38: Der Anfang vom Ende ------------------------------- Die wenigsten Abenteuergeschichten, die je zu großem Ruhm gelangen und in Liedern und Epen wiedergegeben werden, beginnen auch mit den gewaltigen, welterschütternden Ausmaßen, in denen sie enden. Weniger aber noch begannen so wie dieses – mit zwei zwielichtigen Gestalten, wie sie zwielichtiger nicht hätten sein können,… in einer Besenkammer. Für die Dauer weniger Herzschläge öffnete sich die Tür, völlig lautlos, ließ einen kleinen Spalt breit Licht hinein. Das warme Licht von Öllampen flackerte kurz auf, beleuchtete staubige Regale bepackt mit allerhand Utensilien. Ein Teil derer war bereits verwittert, morsch, von Holzwürmern zerfressen – und selbst die mochten schon vor Jahrzehnten an Langeweile verendet sein. Reinigungsbedarf, so tief vergraben, dass man diesen Raum vermutlich vergessen hatte und trotz der Existenz seiner Eingangstür nicht einmal mehr wahrnahm. Es war perfekt für ihr Treffen. Eine Gestalt schlüpfte in den Raum, die Tür schloss sich rasch, lautlos, sperrte das Licht wieder aus. Selbst in völliger Finsternis zogen beide Figuren die Kapuzen ihrer Umhänge noch etwas tiefer ins Gesicht, um sich noch weiter zu verstecken, oder einander zu grüßen. „Hast du den Schlüssel?“, erklang eine weibliche Stimme ungeduldig. Ein leises Rascheln wie von Kleidung, dann ein metallisches Klimpern. „Und… den Rest?“ „Alles da. Sollen wir dann?“, erwiderte eine männliche Stimme aufgeregt. „Beruhig dich. Gib mir den Schlüssel.“ Etwas ungeschickt tastete eine Hand nach der anderen, bis der kalte, metallene Bund hineingelegt wurde. Stille breitete sich aus. „Was?“ Ihre Überraschung überraschte ihn. Schlimmer noch – ihm entging nicht der leicht zornige Unterton, der sich in nur diesem einen, kurzen Wort aufzubauen schien. Hatte er einen Fehler gemacht? Etwas nicht bedacht? Den… den falschen Schlüssel mitgenommen? Inbrünstig flehte er, dass es nicht der falsche Schlüssel war. Er konnte sich solche Fehltritte nicht leisten, nicht bei ihr. Sie würde ihm… sie würde… „Licht“, blaffte sie gepresst, um möglichst niedrige Lautstärke bemüht, „Ich brauch Licht, lass mich durch!“ Noch bevor er reagieren konnte, wurde sein dürrer Leib schlicht zur Seite geschoben, er hörte Rascheln, Schritte, Ledersohlen auf Stein und dann das Nirschen einer schon lange nicht mehr geölten Türklinke im Holz. Wie er sie hatte lautlos öffnen und schließen können, war ihm so sehr ein Rätsel wie ihr. Vielleicht, weil er es nicht mit Gewalt versuchte. Seine Augen hatten sich gerade genug an die Dunkelheit angepasst, um ihre Umrisse zu erkennen, da strömte abermals der flackernde Schein der in regelmäßigen Abständen an den Decken hängenden Öllampen aus dem Gang herein. Geblendet zischte er leise wie eine Schlange es als Drohgebärde von sich geben mochte, kletterte ihr aber zwischen staubigen Säcken voller Werkzeuge und Asche – was immer das früher gewesen sein mochte – hinterher. Wie er diese Hindernisse zuvor in völliger Dunkelheit hatte umgehen können, war ihm nicht klar. Selbst jetzt bemerkte er sie kaum, zu sehr war er auf den Rücken der Gestalt vor sich fixiert. Sie stand in der nur leicht geöffneten Tür, betrachtete, was sie in Händen hielt. Irgendetwas verfing sich auf seinen letzten Schritt an seinem Fuß. Er stolperte vorwärts, verlor fast den Griff des Bündels auf seinem Rücken. Bevor es ihm entgleiten konnte, packte er umso fester zu, krampfhaft regelrecht – und lebte stattdessen lieber damit, gegen sie zu rempeln, sie nahezu umzuwerfen. Er selbst stolperte ein paar Schritte vorwärts, hinaus aus der Besenkammer. Hinter sich hörte er die Tür zufallen. Hastig wandte er sich um, packte die Klinke, riss daran, als hinge sein Leben vom Öffnen dieser Pforte ab. Seltsam. Sie gab keinen Millimeter nach, obgleich er sie zuvor noch so leicht und lautlos obendrein hatte öffnen können. Wissend, dass das Ende seines leidigen Lebens nah war, wandte er sich um. Tausende Entschuldigungen und Ausflüchte jagten durch seinen Schädel, kämpften darum, welche wohl am wahrscheinlichsten zum Erfolg führte – dazu, ihm die Haut zu retten. „Das-“, hob sie an, unterbrach sich jedoch selbst, als ein fremdes Geräusch ihrer beider Ohren belästigte. Da waren Schritte. Leise Schritte, aber sie kamen näher. Wer um des Himmels Willen kam zu dieser Uhrzeit hier runter…?! „Da kommt jemand!“, zischte sie das Offensichtliche, als wäre es seine Schuld. Sie deutete zur Tür – er schüttelte den Kopf. Sie deutete noch ein gutes Stück wütender zur Tür. Was sollte er tun? Das verdammte Ding rührte sich keinen Millimeter! Was blieb ihm schon zu tun? Sie konnten nur eins machen. Den Plan umsetzen. Hoffentlich war das nicht der falsche Schlüssel…! Er packte sie beim Handgelenk und zog. Sie war viel zu perplex, um sich dagegen zu wehren. Er zog sie mit sich, blindlings in den Treppengang hinein, der wenige Meter von der Tür der Besenkammer entfernt in die Tiefe führte. Also, noch weiter in die Tiefe – im Keller waren sie immerhin schon. Die Schritte wurden wieder leiser, je tiefer sie kamen und wenig später fanden sie sich in einem kleinen Rundraum wieder. Hier gab es nur eine einzige Tür. Ein verstärkter Metallrahmen, Metrallstreben entlang der massiv wirkenden Eichenplanken. Ein kleines, feines Schlüsselloch. „Und jetzt, du Genie?!“, blaffte sie ihn zornig an und riss sich von ihm los, „Wir haben das tagelang geplant und du, du… du Holzkopf, du schleppst den falschen Schlüssel an!“ „Woher hätte ich das denn wissen sollen?!“, schoss er plötzlich zurück. Er hatte selbst nicht recht bemerkt, wie ihre Vorwürfe ihn wütend gemacht hatten, immer mehr, je länger er ihr keine Antwort gab. Nun starrten sie einander an, funkelnd, lauernd, abschätzend. „Nate“, begann sie erstaunlich ruhig und gefasst, ehe sie den Schlüsselbund direkt vor seiner Nase hochriss, „Der Schlüssel ist aus Stein. Stein, Nate! Und das da“, sie deutete mit einer schwungvollen Geste zur einzigen Tür im Raum, „ist die falsche Tür für den hier! Er würde nicht mal ins Schlüsselloch passen!“ Eigentlich, so flüsterte ihm ein Stimmchen in seinem Hinterkopf zu, ja eigentlich sollte er eher kauern. Und sich Sorgen machen. Sie war kräftig. Selbst wenn sie es nicht wollte, bestand die Chance, dass sie ihn verletzte. Ihre gelegentlichen Schläge auf seinen Hinterkopf – „um dein mit Zucker verklebtes Hirn wieder zum Laufen zu bringen!“ -, waren in der Regel schon schmerzhaft genug. Und da hatte sie noch dieses neckische Grinsen im Gesicht, das ihre Grübchen zur Schau stellte. Hier und jetzt dagegen… „Woher hätte ich das denn wissen sollen?!“, wiederholte er trotzig und wild mit den Armen gestikulierend, „Du hast gesagt: Die Krone ist im Keller. Und zum Keller gibt es nur einen Weg, mit nur einer Tür. Es gibt auch nur einen Schlüssel an nur einem Schlüsselbund und der hängt an der immer selben Stelle. Ich hab diese verflixte Tür noch nie gesehen – aber ich habe genau diesen einen Schlüssel geholt, der an genau dieser einen Stelle hing!“ Seine Widerworte fachten ihr Feuer nur weiter an. Sie warf in Frustration die Arme in die Höhe und stieß einen kleinen, kaum gedämpften Aufschrei aus. Inzwischen war ihr egal, wer sie alles hören könnte. Ihm ebenso. Sie waren gescheitert. Waren sie doch – oder? Sie waren gescheitert, nicht? „Und was glaubst du, was wir jetzt machen sollen, hm?“, fuhr sie ihn an. Oder… zumindest hätte es wohl wie ein Vorwurf klingen sollen. Aber ein Teil von ihr wusste es vermutlich besser. Hilfe kam mitunter aus den ungewöhnlichsten Quellen. Und er, er war als Quelle für tatsächliche nützliche Hilfe höchst ungewöhnlich. Einen Moment gaffte er sie an, dann den Schlüssel, die Tür, wieder sie. Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Da hing ein Schlüssel, also… schauen wir zumindest, ob hier eine Tür ist, nicht?“ „Nate, ich kenne diesen Raum, ich war hier unzählige Male, hier gibt es keine weitere Tür!“ Er hatte sich jedoch längst an die Arbeit gemacht. Mit scharfem Auge und wachem Verstand ging er die Wände des Raumes ab, Schritt für Schritt, blieb jedes Mal kurz stehen, prüfte den Boden, besah sich die Decke, suchte nach Mustern im Stein, klopfte nach Löchern, nach Hohlstellen in der Wand. „Willst du nur weiter maulend da herumstehen oder dich nützlich machen?!“ Wie sie geradezu empört nach Luft schnappte, es war einfach wundervoll! Er hätte lachen wollen, der Drang war da, selbst hätte das Echo im ganzen Schloss erklingen können – doch er wusste es besser. Sie zu necken war eine Sache. Sie damit auch noch aufzuziehen, das wurde schnell schmerzhaft. Seine Freundschaft zu ihr hatte ihm ohnehin schon mehr blaue Flecke eingebracht, als er zu zählen vermochte. Und er war gut im Zählen. Es dauerte eine Weile. Minuten verstrichen, in denen sie einfach nur die Wände abschritten, wieder und wieder, schweigend, aufmerksam, fokussiert, bis plötzlich… „Aha!“ „Was? Was hast du?“ Eilig kam sie zu ihm herüber, doch statt ihr zu antworten forderte er lediglich den Schlüsselbund ein. Er blies an einer Stelle, die für sie völlig unauffällig wirkte, gegen den Mörtel zwischen den Steinen. Erst als er den Kopf etwas zur Seite bewegte, um ihr bessere Sicht zu ermöglichen, sah sie, dass er nicht nur gepustet hatte. Ein Schluck Wasser, frisch ausgespuckt, rann am Stein herab. Sie wollte sich schon darüber beschweren, wie eklig das war, als ihr jeder Gedanke quer stecken blieb beim Anblick dessen, worauf er hinaus wollte: Der Mörtel färbte sich dunkel ein, wie er es bei Kontakt mit Wasser tun sollte. Doch da, zwischen vier Steinen, war eine Stelle, die trotz des Wassers hell blieb. Jetzt erst wandte er sich dem prächtig gefüllten Jutesack zu, den er hierher geschleppt und bei Betreten des Raumes erstmals abgelegt hatte. Er kramte darin herum und förderte einen Gürtel zutage, den er sich rasch umlegte. Zwei absurd geformte Dolche wanderten in die Laschen an den Seiten, eine der Klingen glänzte so schwarz wie die Nacht und schien das Licht zu verschlingen, die andere wirkte weich und starrte man sie lange genug an, glaubte man, sie sei flüssig und würde wider aller Naturgesetze dennoch die Form halten. Unsicher trat sie zu ihm, packte zu. Ein zerfledderter und unzähliger Male geflickter Lederpanzer schloss sich um ihren Torso. Er spannte unangenehm, als er ihre Brust abdrückte. Er war eben nicht für Frauen gedacht. Dennoch trug sie ihn mit Stolz und zog die Gurte fest, bevor sie sich beugte und erneut in den Beutel griff. Sie förderte einen Kleinschild zutage. Die eigenwillige Form sprach bereits von Geschichte, mehr noch die vielen kleinen Schrammen auf der Vorderseite. In hübschem Schwarz lag die Drachenschuppe auf ihrem Unterarm, von Ledergurten gehalten. Das Licht brach sich daran und ließ die wie Obsidian wirkende Schuppe leicht schillern. Mit einem andächtigen Lächeln fuhren ihre Fingerspitzen über das Stück, ehe sie sich abermals zum Beutel herabbeugte. Alle Freude und Nostalgie waren nahezu augenblicklich verschwunden, als sie eine Streitaxt hervorzog und den nunmehr leeren Beutel fallen ließ. „Nate… was soll das?“ Der Angesprochene stand längst am vermeintlichen Schlüsselloch und hatte die Aussicht genossen. Jedes Mal, wenn sie sich vorbeugte, dann-… und ihre langen, blonden Haare ließen sich kaum von dem Zopf bändigen, in den sie sie zu zwängen versuchte. Als er seinen eigenen Namen hörte, kehrte er widerwillig aus seinen Tagträumen zurück und schüttelte das Haupt. „Hm?“ Er bemerkte ihren Blick, ungnädig, verstimmt – schon wieder. Was er jedoch ebenso bemerkte, war die Axt in ihrer Hand. Oh er wusste, was er falsch gemacht hatte, es war nur… nun ja… „Mit der Axt siehst du so viel eindrucksvoller aus…!“, gab er kleinlaut von sich, ein mageres, vorsichtiges Lächeln auf den Lippen. Doch sie hatte keinerlei Achtung für den zaghaften Versuch eines Komplimentes. „Mir ist egal, wie ich damit aussehe. Ich kann mit dem Ding nicht umgehen!“ „Es ist nicht so, als würden wir tatsächlich kämpfen, Lia!“, versuchte er sich diesmal zu verteidigen. Vielleicht hatte sie nachträglich realisiert, was er ihr gesagt hatte. Die Hoffnung zumindest blieb, als sich eine leichte Röte in ihre Wangen legte und sie es dabei auf sich bewenden ließ. Oder es lag daran, dass er ihren Kosenamen verwendet hatte. Statt weiter darüber zu rätseln, wandte er sich hastig um. Ihre Launen konnten rasch wechseln, besser man nutzte die guten Phasen klug. Also presste er den Steinschlüssel gegen die noch immer helle Stelle im Mörtel. Er hörte, wie sie näher kam, an seine Seite trat und ihm über die Schulter lugte. Ihr Kinn lag auf seiner Schulter auf. Er spürte ihre Nähe. Die Wärme, die ihr Körper abstrahlte. Ihren Atem. Wie ihre Haare, jene dem Zopf Entflohenen, seinen Nacken kitzelten. Für einen Moment schlug ihm sein Herz bis zum Hals, er fürchtete schon, sie würde es klopfen hören – ganz zu schweigen davon, das seine Knie weich wurden. Doch seine Hände blieben konzentriert, blieben ruhig. Ein weiteres seiner Talente. Er zitterte nicht. Nie. Der Steinschlüssel fuhr in den Mörtel hinein. Er machte sich keine Gedanken über das Wie oder Wohin, stattdessen drehte er ihn einfach nach rechts. Denn das tat man so mit Schlössern. Man drehte nach rechts. Immer. Nicht? Widerstand ließ ihn realisieren, dass die Drehung nicht einmal ein Viertel betrug – und sich nichts tat. Also drehte er nach links. Halbe Drehung, Widerstand. Eine Braue gehoben, drehte er wieder nach rechts. Dreiviertel Drehung, Widerstand. Mit in Falten gelegter Stirn und einem breiten Grinsen auf den Lippen drehte er wieder nach links. Volle Drehung. Ein Klicken. „Heh… clever…!“, lobte er das Machwerk. Lia hätte nach der ersten erfolglosen Drehung nach rechts aufgegeben, da war er sich ziemlich sicher. Oder sie hätte versucht, die Wand einzuschlagen. Was nicht weniger möglich und wahrscheinlich war. Die Tür öffnete sich. Sofern man das eine Tür nennen wollte. Sein Blick glitt durch den dünnen Spalt hinab in die Tiefe, eine gähnend leere, schwarze, alles Licht verschlingende Tiefe. Eine schmale Treppe führte herab. An seiner Seite dagegen spürte er Lia sich anspannen, wie sie einen Schritt zurücktrat. Er vermisste ihre Nähe fast augenblicklich, sagte jedoch nichts – zu spannend war, was vor seinen Augen geschah. Auch wenn das nicht viel mehr war als… noch mehr Schwärze. Seine Begleiterin dagegen fühlte sich zunehmend unwohl. Während Nate die Tiefe angaffte, bemerkte sie die Tür selbst. Es war nicht so, als würde ein vordefiniertes Steinsegment ein Stück zurückgesetzt und dann in seinem seitlich befindlichen Hohlraum einsinken. Nein. Die Wand schmolz einfach in die restliche Wand hinein. Das war nicht natürlich, es stank regelrecht nach Magie und das wiederum war ihr einfach nicht geheuer. „Nate, ich… ich glaube nicht, das wir da unten die Krone finden“, merkte sie zögerlich an. Er wandte sich ihr zu, grinsend, zuckte mit den Schultern. „Wohl nicht“, stimmte er zu, „Aber lustig dürfte es trotzdem werden, hm?“ Sie griff nach ihm, wollte ihn zurückhalten, doch ihre Reaktion kam einfach zu spät. Er hatte schon die ersten Schritte in die Tiefe gesetzt. „Nate…? Nate! Nathenial, warte auf mich!“   „Ugh…“ Unter einem leidlichen, erschöpften Stöhnen ließ sich Thorin in seinen Sessel fallen. Das Polster gab kurz ein Ächzen von sich – oder war es das Holz des Rahmens? Ninafer dagegen besaß mehr Anstand und Manieren, sie ließ sich in einem Sessel an seiner Seite nieder, elegant wie eh und je. „Melina, das Übliche bitte“, orderte sie ein am Eingang des Salons bereitstehendes Dienstmädchen. Die Magd nickte, knickste leicht und verschwand aus dem Raum, die Türen hinter sich schließend. Ishara atmete tief durch, als sie sich an Thorins anderer Seite in einen dritten Sessel sinken ließ, ein kleines Stück weiter entfernt stehend als der Ninafers. Alistair dagegen entzündete zunächst das Feuer im Kamin, ehe er an der Seite seiner Gemahlin einen kleinen, eigentlich als Fußablage angedachten Hocker als seine Sitzmöglichkeit auserkor. „Schlechter Morgen, hm?“, erkundigte sich Lileth mit einem Grinsen. Thorin wischte sich mit der Pranke über das Gesicht und den kahlen Schädel. „Du machst dir keine Vorstellungen. Anadyr fordert die Aufhebung des Embargos. Aber Eumenes aufgeben wollen sie auch nicht. Ordewey braucht noch mehr Weizenlieferungen – ich weiß nicht, was die damit machen. Entweder verfüttern sie’s zusätzlich an ihre Schweine oder jeder einzelne Mann, jedes Weib und jedes Kind dort muss wohlgenährt genug sein, selbst als Schweine durchgehen zu können.“ „Und Lady La Marre hat schon wieder versucht, seinen Berater zu becircen“, stimmte Ninafer mit ein. Obwohl sie höflich und freundlich lächelte, dieses allzeit professionelle, distanzierte Lächeln, sah man ihr an, dass es sie heute mehr Nerven und Kraft kostete, die Fassade aufrecht zu erhalten, als es das an anderen Tagen tat. „Oh und erinnerst du dich noch an diese kleine Gruppe Kaderalith-Elben, die förmliche Beschwerde gegen euch eingereicht haben, weil ihr euer Leben verlängert?“, setzte Thorin seine Tirade fort und blickte zu Ishara und Alistair, die ihrerseits kurz einen Blick tauschten und dann, für beide erstaunlich grimmigen Gesichtes, nickten. „Rate mal. Sie sind wieder da. Diesmal mit Drohungen, die auf Gesetzesentwürfen aufbauen. Entwürfen. Ihre eigenen Entwürfe, übrigens. Für die sie nicht mal genug Stimmen haben. Das hindert sie aber nicht daran, mir jetzt schon mal vorsorglich drohen zu wollen, was mit euch geschehen sollte, falls sie sie durchdrücken können.“ Ishara schnaubte verächtlich. „Das ist mein verdammtes Blut. Ich kann damit machen, was ich will!“ „Das versuchen wir ihnen ja klar zu machen, Liebes, es ist nur-“, setzte Ninafer mit einem beschwichtigenden Lächeln an, doch Thorin schnitt ihr schlicht das Wort ab. „Ich habe ihnen klipp und klar gesagt: Drohen sie mir oder meiner Familie noch ein einziges Mal, entziehe ich ihnen den Botschafterstatus und sie können die Sache mit dir persönlich ausdiskutieren.“ Unter anderen Umständen hätte die hitzige Anspannung im Raum vielleicht dafür gesorgt, das spontan mehrere Dörfler aus dem Nichts in die Existenz traten, bereits fertig bewaffnet mit Fackeln, Heugabeln und Spitzhacken, um einen guten, klassischen alten Mob zu formen. Bevor das jedoch in irgendeiner Form geschehen oder sich die Spannung anders entladen konnte, verpuffte ihre gesamte Wirkung einfach beim Aufklang eines heiteren, fast schon hysterischen Lachens. Alistairs Lachen. Mit den Jahren – gedehnt wie sie an ihm auch vorbeistreichen mochten -, hatte seine Stimme sich ein klein wenig verschoben, sodass er nun immerhin nicht mehr ganz so hoch klang. Dennoch war sein haltloses, hemmungsloses Gelächter nach wie vor ansteckend. Thorin schüttelte den Kopf, obgleich leicht grinsend, Ninafer schmunzelte deutlich besser beherrscht ein wenig in sich hinein und Ishara selbst begann leicht zu kichern, als sie sich ihrem Liebsten zuwandte. „Du stellst dir gerade vor, wie ich mit ihnen diskutiere. Tatsächlich diskutiere, nicht?“ Noch immer in haltlosem Gelächter gefangen, brachte Alistair lediglich ein Nicken zustande, ehe die Vorstellung, die ihn so erheiterte, auch ihren Verstand infizierte und ihre Dämme brach. Es dauerte ein paar wenige Minuten, ehe sie sich wieder beruhigt hatten. „Ich glaube, Worte bringen da nicht mehr viel. Aber Elben sind gute Bogenschützen, ich bin mir sicher, sie werden Pfeile verstehen“, resümierte Ishara noch immer breit lächelnd. Alistair schüttelte noch grinsend und leicht außer Atem den Kopf, ehe er die Hand hob „Ah, da fällt mir was ein.“ Er zog aus der Hosentasche einen Schlüsselbund hervor und legte ihn auf den kleinen Tisch vor Thorin. Der musterte den einzigen, bronzefarbenen Schlüssel daran kurz und sah irritiert zu Alistair auf. „Der Kellerschlüssel“, erklärte der frühere Gildendieb, nachdem er das Gefühl bekam, das die Stimmung allmählich umschlug. Irgendwie wurden alle immer ernster, die Furchen auf der Stirn immer tiefer und die Blicke, die sich nach und nach auf ihn legten, immer bohrender. „Du solltest ihn doch dort hängen lassen, wo sie ihn leicht finden können…!“ brachte Ishara leise hervor. Ein ungutes Gefühl wühlte ihre gesamte Magengrube auf und dieses Unbehagen legte sich in jede Silbe ihrer Worte. „Wenn sie diesen Schlüssel nicht haben…“, setzte Thorin an und wandte sich an Ninafer, die selbst etwas blasser geworden war. „Sie sind heute früh in den Keller gegangen und seither nicht wieder zurückgekommen“, erklärte die einstige Giftmischerin. Ein eisiger Schauer kroch drei Rücken herab, während Alistair unsicher lächelnd auf seinem Platz hin und her rückte. Er verstand nicht, was vor sich ging. „Als du heute früh aufgestanden bist, was hast du da gemacht?“ erkundigte sich Ishara mit einer dunklen Vorahnung. Alistair zuckte mit den Schultern, doch seine Erklärung, dass es nur das Übliche gewesen sei, veranlasste drei ungeduldige Nachfragen, das er jeden Schritt genau beschreiben sollte. „Ich bin aufgestanden, habe unser Bett ordentlich hergerichtet, ins Bad, habe meine Morgenwäsche erledigt – muss ich das auch im Detail ausführen?“ Doch niemand teilte seine kleine humoristische Einlage. Etwas lag im Argen, ganz gewaltig. Nicht einmal Ishara lächelte, nicht einmal ihre Mundwinkel zuckten. „Danach bin ich zurück ins Schlafzimmer, hab mich angezogen und kurz gebetet. Dann kam ich zu dir.“ Es wurde still im Raum. Selbst das Feuer, so schien es, wagte nicht mehr zu knistern. „Bist du direkt nach mir aufgestanden?“, erkundigte sich Ishara. „So wie immer, ja“, gab Alistair zur Antwort und runzelte nun selbst die Stirn. Warum verhielten sich plötzlich alle so merkwürdig? „Hase, du warst heute früh fast zwei Stunden im Schlafzimmer allein. Was… was war das für ein Gebet?“, brachte Ishara so leise und mit zittriger Stimme hervor, das Alistair nun seinerseits einen eisigen Schauer verspürte. Er begann die düstere Vorahnung der anderen zu teilen, als ihm allmählich klar wurde, worauf sie hinaus wollten. Aber das war nicht möglich. Es durfte einfach nicht möglich sein. „Ich bat Lenikki, das er ein wachsames Auge auf sie haben möge. Dass sie ein schönes Abenteuer erleben mögen. Nichts Besonderes, nur ein wenig Schutz.“ Kaum hatte er seine Erklärung beendet, sprang Thorin regelrecht auf. Ninafer erhob sich ebenfalls, sogar Ishara. Seine Liebste trat hinter ihn, ihre Hände kamen auf seinen Schultern zur Ruhe. Wollte sie ihn bestärken – oder festhalten? Vielleicht beides. Thorin kramte aus einem kleinen Schränkchen neben dem Kamin eine Phiole mit gelblichem Pulver hervor und reichte sie Ninafer. „Du weißt, wie das funktioniert.“ „Ich weiß auch, dass man danach fürchterliches Nasenbluten hat“, versuchte Alistair abermals, die Stimmung etwas aufzuhellen. Abermals erfolglos. Er hatte schon vorher gewusst, dass es nichts bringen würde. Aber er konnte einfach nicht anders. Diese Ernsthaftigkeit, dieses drohende Unheil, die allseitigen, finsteren Blicke, das war nicht seine Art. Schweren Herzens seufzte er, versuchte seinen überhastigen Herzschlag zu besänftigen, ehe er eine Prise des Pulvers auf die Hand nahm. Er hob es zu seinem Gesicht, zögerte, bis Ishara den Druck ihrer Hände auf ihn ein wenig verstärkte. Abermals kam ihm die Frage in den Sinn: Um ihn zu bestärken, oder um ihn festzuhalten? Ein tiefer Atemzug beförderte die Substanz in seine Lungen und von dort aus in sein gesamtes System. Wie alle anderen im Raum, wusste er genau, dass das Eintreten der Wirkung einen Moment dauern konnte. Also saß er so lange so ruhig da, wie er es konnte – was sich in seiner Gesamtheit auf wenige Sekunden beschränkte, ehe er anfing, unruhig zu werden und unter Isharas Griff auf dem Hocker hin und her zu rutschen. „Passiert schon was? Ist da was?“, hakte er ungeduldig nach. Niemand antwortete ihm. Weitere kostbare Sekunden verstrichen, Ishara beugte sich zu ihm herab, ihre Lippen dicht an seinem Ohr, das er ihren Atem spüren konnte. „Ssscht, ganz ruhig. Entspann dich.“ Alistair schloss die Augen und sog die Luft tief in seine Lungen. Er hielt sie dort einen Moment gefangen und entließ sie langsam und gleichmäßig. Die Übung wiederholte er drei Mal – eine Technik, die Meister Lamerak ihn gelehrt hatte. Als er die Augen öffnete, sah er Thorins steinerne Miene. Nur wenn man ihn näher kannte war der Funke unterschwelligen Zornes in seinen Augen erkennbar. Ninafer wirkte gefasst, doch auch in ihren Augen lag der Glanz von Sorge. Etwas umständlich drehte er sich um und sah den gleichen Ausdruck im Gesicht seiner Liebsten, offen zur Schau getragen. Er leuchtete. Schwach nur, kaum wahrnehmbar an einem Finger oder einem Stück Haut, aber in seiner Summe, am gesamten Leib, leuchtete er. „Er ist manipuliert worden“, knurrte Thorin bedrohlich, „Ich habe dir immer gesagt, du sollst diese Scheiße lassen!“, fuhr er den früheren Dieb herrisch an. „Das ist nicht seine Schuld!“, sprang Lileth ihm rasch zur Hilfe, „Du kannst den Leuten nicht einfach ihren Glauben verbieten!“ „Ich habe nicht zwanzig Jahre dafür gekämpft, die Götterdämmerung aufzuhalten, nur damit er nun die Tore aufstößt!“, blaffte der Kahlkopf schäumend vor Zorn zurück. Erst als er realisierte, nachträglich, das Ishara unter seinem plötzlichen Ausbruch zusammengezuckt war, trat er einen Schritt zurück. Schloss die Augen. Atmete tief durch. „Ninafer, dein Rohr und die Ampullen. Mein Panzer, die Axt. Wir treffen uns im Keller – spute dich!“, orderte er in rascher Abfolge. Die Giftmischerin nickte und begab sich sofort auf den Weg, das Verlangte zu holen. An der Tür zum Salon hielt Thorin inne, als Lileth seinen Namen nannte – eine bittere Entschlossenheit in der Stimme. „Wir kommen mit. Falls wir etwas tun können, um zu helfen… sie… sie sind dort unten und-“ Während Ishara ins Stocken geriet, schnaubte Thorin lediglich, sein ungnädiger Blick richtete sich auf den früheren Langfinger. „Wenn ihnen etwas zustößt…!“ Der Rest blieb unausgesprochen. Alle drei wussten sie, dass es keine Drohung war. Nein, viel schlimmer – es war ein Versprechen.   „Was steht da?“, hakte Nathenial leise nach und richtete damit den Blick seiner Begleiterin nach oben. Am Absatz der Treppe hatte sie lediglich ein weiterer kleiner Rundraum erwartet. Endlos viele Treppen – nur um vor einem weiteren Tor zu stehen. Es war groß, eindrucksvoll, zugegeben. horizontale Metallstreben gaben der Pforte die eindrucksvolle Wirkung einer Bastion, eines zwergischen Bollwerks. „Die, die ihr tretet vor diese Pforte“, begann sie unter zugekniffenen Augen zu entziffern, „Empfangt das Schicksal, welches euch gebührt. Mit Mut und Klugheit sollt ihr die Hürden brechen, mit Geschick und List die Pfade neigen.“ Mehr stand dort nicht geschrieben, doch selbst jenes wenige Bisschen schien Nathenial in Aufregung zu versetzen. „Ein Rätsel! Und Prüfungen! Und vermutlich ein Schatz am Ende!“ Er packte seine Begleiterin bei den Schultern, „Emilia, das ist so viel mehr als wir haben wollten! Vergiss die blöde Krone! Wenn du deinem Vater das hier erzählst, werden ihm die Augen rausfallen!“ Kurz verzog sie von der Vorstellung angewidert das Gesicht, doch sie konnte nicht leugnen, dass die Inschrift in feinen, elbischen Buchstaben ihre Neugier geweckt hatte. „Dann los, worauf warten wir!“ Trotz ihres Enthusiasmus vergingen mehrere Minuten erfolglos mit der Suche nach einem Schloss oder einem Mechanismus zum Öffnen. Nathenial widmete sich schließlich den vier Handabdrücken, die direkt auf dem Holz des großen Tores eingebrannt schienen. „Heh, schau dir das mal an…!“, meinte er grinsend und legte eine Handfläche mit gespreizten Fingern auf das vermeintliche Symbol, „Ist genau meine Größe.“ Kaum aber lag seine Hand tatsächlich auf, ertönte in der völligen Stille des Raumes ein fast unhörbar leises Klicken. Hastig zog er die Hand zurück, eine Falle witternd – und es klickte abermals. „Das war knapp…“, nuschelte er zu sich selbst und wischte sich ein wenig Schweiß von der Stirn. „Sei nicht so ein Angsthase! Wie kann jemand mit solchen Eltern wie du nur so feige sein!“, rügte sie ihn mit den Augen rollend. „Hey, ich bin nicht feige! Ich bin… vorsichtig! Ich hab noch nie von Kavernen so tief unter dem Schloss gehört und hier könnten alle möglichen Arten von Fallen sein. Wie kann jemand mit solchen Eltern wie du nur so brachial sein!“, erwiderte er defensiv, ehe er dazu überging, sie gezielt schlecht zu imitieren und zu sticheln. Sie war gerade dabei, sich einen Konter zu überlegen, als ihr Blick an den anderen Handabdrücken hängen blieb. „Das ist… völlig unmöglich und vollkommen…“ Sie erhob sich langsam, trat direkt vor die linke Seite des Tores und legte ihre Hände in die Abdrücke. Jedes Mal ertönte ein leises Klicken. „… gruselig“, hauchte sie. „… wunderbar“, erschallte Nathenials Einschätzung zeitgleich. Er legte seine Hände in die Abdrücke. So wie die Ihren perfekt zu ihren Handflächen passten, so war es auch mit seinen. Zwei weitere Male ertönte das leise Klicken, dann ein Rattern wie von einem schweren Riegel, der entfernt wurde – sie spürten das Vibrieren in der Tür. Unsicher blickten sie zueinander, abschätzend, wortlos kommunizierend, ehe er mit einem Grinsen die Schultern zuckte und drückte. Sie tat es ihm gleich, schob mit aller Kraft – und das gewaltige Tor öffnete sich vor ihnen. Direkt im Zentrum der großen, kreisrunden Kammer erhob sich ein kleiner, aufgeschichteter Erdhügel vom massiven Fels. Allem Anschein nach wuchs darin ein schimmerndes, pilzartig wirkendes Gewächs – doch aus den vielen Erzählungen und teils absurden Geschichten ihrer Eltern wussten sie beide es besser. Diese Kreatur war gefährlich, ein rasch wirkendes Nervengift bedeckte die schleimigen Tentakel, die im Inneren darauf lauerten, katapultartig hervorzuschnellen und alles zu töten, was in Reichweite kam – um es dann langsam in den im Verborgenen liegenden Schlund zu ziehen. Emilia packte den Schild fester und hob die Axt. „Keine Kämpfe, hm?“, knurrte sie unzufrieden, schritt aber dennoch auf den Feind zu. Nathenial packte sie hastig an der Schulter und zog die Streitlustige zurück. „Was soll das?! Machen wir das hier jetzt oder nicht?!“, fuhr sie ihn zornig an. Er aber deutete auf den Boden – auf die kleine Rinne darin, die zu gleichmäßig verlief, um natürlichen Ursprunges zu sein. Es schien eine Markierung. Ein Halbkreis um das Tor. Mühselig schabte er mit Hilfe seines Dolches einen Holzsplitter aus dem Tor und warf ihn zur Seite in den Raum. Wie vermutet, schnellte ein Tentakel aus dem Zentrum der Kreatur hervor und peitschte in die Richtung des winzigen Stückes, kaum dass es die Markierung überquert hatte. „Dagegen hast du keine Chance“, erklärte er und sah sich stattdessen weiter um. „Und was jetzt? Gehen wir einfach zurück und rufen unsere Eltern zu Hilfe? Ich glaube kaum!“ „Nicht…“, begann Nate und neigte sich weit zur Seite fort, gerade weit genug, noch in der Markierung zu bleiben, „… wenn ich es verhindern kann!“ erklärte er schließlich mit einem triumphierenden Grinsen, als er sich wieder aufrichtete, „Da drüben auf der anderen Seite, bei der Tür? Davor ist auch so eine Markierung. Und eine Druckplatte, glaube ich. Das hier sind Rätsel, nicht? Also rätseln wir.“ Nathenial deutete nach oben. Erstmals richtete Emilia ihren Blick empor und bemerkte eine Art von Spalier oder dergleichen, dicht bewachsen mit dornigem Gestrüpp. Da die mitgenommene Öllampe und der leuchtende Pilz die einzigen Lichtquellen im Raum waren, gaben sie dem erstaunlich grünen Gewächs einen beinahe schwarzen Schimmer. Emilias Blick folgte dem Spalier – es führte auf der anderen Raumseite herab. Nathenials Plan erahnend, wirbelte sie herum und sah ihn gerade mit seinen Dolchen als Kletterhilfe die Tür erklimmen, über der das Spalier seinen Anfang nahm. „Bist du irre? Wenn du fällst, brichst du dir das Genick! Nate! Denk doch mal nach, das ist es einfach nicht wert! Wir wissen nicht mal, was da ist, was das hier überhaupt sein soll! Nate! Verflucht noch eins, ich kann so nicht klettern, ich kann die Axt nicht halten! Wie soll ich denn rüber kommen?!“ Doch er antwortete nicht. Irgendwo, im Hinterkopf, rührte ihn ihre Sorge um sein Wohl. Es wärmte ihm regelrecht das Herz. Doch er war zu fokussiert auf die vor ihm liegende Aufgabe. Das Gewächs hatte das gesamte Spalier in Beschlag genommen. Das Setzen jedes Fußes musste gut überlegt sein – die Dornen waren lang und hart genug, durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe zu kommen. Entsprechend doppelt und dreifach vorsichtig musste er damit sein, wohin er griff. An dieser Seite des Raumes heraufzuklettern war ein Kinderspiel, trotz der Umstände, doch als er einmal zur Decke gewechselt hatte, wurde alles um ein Vielfaches härter. Sein eigenes Körpergewicht arbeitete gegen ihn. Er hatte ein Drittel des Raumes hinter sich gebracht, da spürte er allmählich, wie seine Arme und Beine ermüdeten. Unter ihm regte sich die Kreatur, als er die Hälfte passierte und peitschte nach ihm – einen Versuch schien es ihr wert zu sein. Er straffte seine Haltung, zog sich näher an die Decke heran – egal wie anstrengend es war. Würde ihn das Gift erwischen, wäre er tot. Jeder Griff wurde mühseliger, jeder Tritt schwieriger. Schweiß drohte ihn abrutschen zu lassen, sein Körpergewicht ließ ihn ein wenig durchhängen. Emilia war still geworden. Erstaunlich still. Er wünschte sich sehnlichst, sie würde irgendetwas sagen. Ihn anfeuern. Ihm Mut machen. Ihm sagen, dass sie an ihn glaubte. Doch sie schwieg. Sie schwieg, weil sie genau das eben nicht tat, weil sie- „Du hast es fast geschafft!“ Er hätte vor Schreck fast losgelassen. Ihre Worte rissen ihn aus seinen Gedanken, brachten den Automatismus zum Erliegen, der ihn vorangetrieben hatte. Aber was noch viel wichtiger war als das: Sie glaubte an ihn. Sie war nur still gewesen, weil sie wusste, dass er sich konzentrieren musste. Als er fast die gesamte Strecke hinter sich gebracht hatte, trat er falsch. Ein Dorn zwängte sich durch den Stoff, durch Haut und ins Fleisch. Unter einem leisen Aufschrei zuckte er zusammen, verlor den Halt. Mit aller Kraft klammerte er sich in das Spalier, als sein Körper herunter schwenkte. Er hörte das Knacken von Holz, als das Gerüst brach, die Trägheit einen Teil davon mit ihm riss. Er sah das Spalier an der Wand näher kommen, hob die Füße, um sich davon fern zu halten, spürte den Teil über sich nachgeben, hörte ein Bersten, einen Aufschrei, Rascheln von Blättern und Aufschläge auf steinernem Boden – dann wurde es schwarz. Das Glück, das Nathenial seit seiner Geburt zu begleiten schien, war häufig als unnatürlich bezeichnet worden. Seine Mutter hatte die Geburt trotz ihrer schweren Erkrankung knapp überlebt, so wie er selbst unzählige Male Ereshkigal um Haaresbreite entkommen zu sein schien. Als er von der Decke stürzte, fürchtete Emilia das Schlimmste. „Nathenial!“ Er schlug auf dem Boden auf – offenbar direkt auf der von ihm benannten Druckplatte. Denn kaum war er in einem Berg aus Dornengewächs und Holzsplittern gelandet, ertönte ein Klicken und Rattern, der Boden schien kurz zu vibrieren – und mit einem letzten Ruck öffnete sich eine Falltür. Direkt unter der Kreatur in der Raummitte. Ihre Tentakel wirbelten wild in der Luft, als sie mitsamt der Erde, in der sie sich versteckt hatte, in die Tiefe stürzte. Emilia zögerte keinen Herzschlag länger und stürmte voran, direkt an der Falltür vorbei zu jenem Haufen aus Trümmern und Gliedmaßen herüber. Ohne jede Rücksicht auf ihre eigenen Hände wühlte sie Nathenial aus all dem Gestrüpp und den Splittern heraus. „Und ich sag noch, das du vorsichtig sein sollst, du Holzkopf!“, blaffte sie ihn zornig an, als sie ihn endlich geborgen hatte. Er regte sich nicht. Kaum wurde ihr das bewusst, drapierte sie ihn vorsichtig auf dem Boden, prüfte Puls und Atmung. Alles war da. Ein wenig blass war er. Zerschrammt. Ohnmächtig? „Keine Zeit für Nickerchen!“, fuhr sie ihn an und verpasste ihm eine gehörige Ohrfeige. Er schreckte nicht auf, wie sie beinahe schon erwartet hatte. Vielmehr drehte er unter einem Keuchen und Stöhnen den Kopf zur Seite. Das war nicht viel. Aber es war genug. Unter einem erleichterten Aufatmen packte sie sein Gesicht in ihren Händen und neigte sich herab. Dass sie ihre Lippen auf die seinen gepresst hatte, dass sie ihm gerade ihren ersten Kuss ebenso schenkte, wie sie ihm den Seinen stahl, wurde ihr erst wenige Augenblicke später bewusst. Hastig ließ sie ihn los – sein Kopf schlug dumpf auf den Steinboden auf. Ein Gröhnen drang aus seiner Kehle, als er langsam die Lider öffnete. „Ugh… nie wieder Klettern…“, jammerte er und setzte sich langsam auf. Er zischte und seufzte mit jedem Dorn, den er bemerkte, blickte dann aber über seine Schulter zurück. Emilias furiose Röte entging ihm völlig, sein Blick haftete an der offenen Falltür, begleitet von einem geistlosen Grinsen. „Heh… hab ich ja gesagt.“ „Ach halt den Mund und komm her, du Dummkopf!“, fuhr sie ihn an, „Du hättest dich umbringen können!“ Sie ging wenig rücksichtsvoll vor, als sie einen Dorn nach dem anderen aus ihm herauszog. Aus seinen Handflächen, seinen Armen, seinem Gesicht – sie hatten sich schier überall hineingefressen. Er trug ja auch kaum mehr als ein schlichtes Leinenhemd über der jugendlichen Brust. Und die, die hatte kaum Muskeln vorzuweisen. Egal wie hübsch das Hemd war, es ersetzte eben keine Panzerung. „Mach sowas nochmal, und ich schmeiß dich in die Grube dort!“   Eilige Schritte trugen einen massigen Körper durch die Korridore, eine Treppe hinab und die nächsten Hallen entlang. Thorins Figur umrundete eine Biegung und verlangsamte kaum, als sein Blick die versammelten drei Gestalten erspähte und zuordnete. „Sie haben die Axt und die Rüstung“, knurrte er übellaunig, während er zwischen ihnen hindurchschritt, ohne auf Reaktion zu warten, „Was steht ihr noch so herum, bewegt euch!“ Da war er wieder. Der Kommandant. Der Befehlshaber. Der Mann, der mehr Schlachtfelder gesehen hatte, als ein Mensch sehen sollte. Nur waren sie nicht seine Soldaten. Sie waren nicht seine Untergebenen. „Thorin, was ist, wenn wir uns umsonst irre machen?“, hakte Ishara sorgenvollen Blickes nach, gleichermaßen hoffend, ihre Worte könnten zu ihm durchdringen… und sie selbst gleich mit davon überzeugen, dass diese Eventualität existieren würde. Der Hüne aber blieb nur kurz stehen, bevor er im nächsten Treppengang nach unten verschwinden konnte, wandte sich den drei Gestalten zu, die noch immer zögerlich waren, keinen Schritt in seine Richtung gesetzt hatten. Seine Brauen zogen sich zusammen. Selten ein gutes Zeichen. „Wenn-… Falls ich mich irre, dann finden wir sie lachend und kichernd über die Genialität ihres eigenen Streiches vor und Alistair bekommt einen Keks! Aber falls nicht, dann solltet ihr verdammt nochmal endlich euren Arsch bewegen!“ Ohne einen weiteren Atemzug zu verschwenden, kehrte er wieder um und trat weiterhin eilig die Stufen herab. Es war an Ninafer, neben Ishara und Alistair zu treten, ihnen jeweils eine Hand auf die Schulter zu legen und milde zu lächeln. „Er macht sich große Sorgen, das wisst ihr. Er ist nur… Thorin. Nehmt es euch nicht zu sehr zu Herzen. Aber ich denke, für den Moment sind wir gut beraten, ihm rasch zu folgen!“ Lileth nickte und tat, was man ihr gesagt hatte. Alistair zögerte einen Moment länger. Er wusste, dass Thorin sich selten irrte. Nicht, wenn es darum ging, Ärger zu wittern. Und falls wirklich etwas geschehen sein sollte… die Konsequenzen waren für den Nordländer unvorstellbar. Den Hals in einer Schlinge zu finden, die in Thorins Händen lag… war noch das geringste Übel daran. Sie folgten dem Krieger, Stufe um Stufe, Gang um Gang, bis ihr Pfad sie an der Tür einer unscheinbaren Besenkammer vorbei die letzten Stufen hinabtrug. Dort, am tiefsten Punkt des Schlosses, war nur eine Tür. Eine Einzige. Zumindest hätte es so sein sollen. Tatsächlich jedoch ließ sich in jenem kleinen Rundraum kaum etwas erspähen – die Öllampe, die an der Decke in ihrer Verankerung hätte hängen sollen, fehlte. Dafür lag ein Lumpen am Boden, der sich bei näherer Inspektion als großer Jutesack entpuppte. Im Schein der von Thorin mitgenommenen Fackel begutachteten sie einander, wägten ab. Sie waren hier gewesen, so viel war klar – nur wohin waren sie verschwunden? Der Kahlkopf leuchtete zur Seite fort und bemerkte ein Loch in der Wand, perfekt ausgeschnitten wie eine Tür. „Was zum-?“ „Wo kommt das denn her?“, stimmte Ninafer in seine Verwunderung ein. „Warum… warum steht es noch offen?“, stellte Alistair schließlich die Frage, die deutlich größere Relevanz hatte. Dort war keine Tür, kein Durchgang, keine Passage. Sie befanden sich bereits am tiefsten Punkt des Kellers im Schloss. Was sie sahen, hätte nicht existieren dürfen. Wenn hier also irgendwelche mächtige Magie am Werk war, gleich welcher Art – warum ließ man die Passage offen? Ein kehliges Brummen drang aus Thorins Richtung, als seine ohnehin miserable Stimmung nochmals um ein gutes Stück in ihr eisiges Grab sank. „Weil sie fest überzeugt sind, das wir nichts mehr ausrichten können. Das wir sowieso zu spät sind.“ Der Krieger schwenkte den Kopf zu seinen drei Begleitern, ein zorniges Funkeln im Blick. „Sehen wir, ob wir sie falsch prüfen können!“ Und mit jenen Worten verschwand er rasch in der Passage, nur wenige Herzschläge später von einem Getrippel mehrerer Verfolger begleitet.   „Abenteuer ist ja schön und gut“, begann Nathenial unsicher, „Aber das hier? Ich werde einfach das Gefühl nicht los, das wir vielleicht besser nicht hier sein sollten.“ Ein schweres Seufzen erklang hinter ihm, während er weiter auf die Tür zugeschoben wurde. „Stell dich nicht so an, Nate! Du hast gesagt, wir gehen trotzdem rein, also gehen wir trotzdem rein. Außerdem sind wir schon drin! Wir haben bereits das erste Rätsel geknackt. Du willst doch jetzt nicht aufhören, oder? Das wäre ja peinlich! Und was, wenn das hier ein Test ist, hm? Was, wenn sie uns reingelegt haben und uns mit Absicht den falschen Schlüssel zugespielt haben, damit wir ihnen nicht auf die Nerven gehen oder ihnen wieder ihre Lieblingspantoffel klauen und gegen Schalen mit Kartoffelbrei ersetzen?“ Als die Erinnerung lebhafter wurde, begann ihr Begleiter herzlich zu kichern. Sie stimmte mit einem Grinsen in seine Frohnatur ein und schüttelte, von ihm ungesehen, leicht den Kopf. Er war so leicht von seinen nicht weniger rasch aufkommenden Sorgen abzulenken, es war jedes Mal faszinierend. „Manchmal denke ich-“, hob Emilia gerade an, als Nathenial offenbar einen Mut wiederfand und vorschnellte. Er packte den schweren Eisenring am nächsten Tor und zog es auf. Ein neuer Raum, ein neues Rätsel, wie es schien. Die Decke war hoch, so hoch sogar, dass man nur eine gähnende Schwärze sehen konnte. Die Fackeln, die den Raum beleuchteten, saßen jedoch auch sehr tief. „Wer die wohl angezündet hat…?“, murmelte Emilia unbehaglich, doch Nathenial lachte nur leise auf. „Also bitte! Anzünden! Es gibt Zauber für sowas. Vielleicht brennen sie ewig. Vielleicht sind sie nicht mal da und das Feuer ist nur eine Illusion. Wen interessiert’s!“ Viel interessanter war tatsächlich der Inhalt des Raumes. Abgesehen von einem schmalen, kaum einen halben Meter breiten Laufweg um das Zentrum des quadratischen Raumes herum war der gesamte Rest des Bodens in ein weiß-schwarz-gekacheltes Schachbrett aufgeteilt. Sogar inklusive der Nummerierungen am Rand – und mannshoher Figuren auf dem Brett. „Vielleicht sind wir in einem Trollbau und hier haben sie ihr Spielchen versteckt?“, witzelte Nathenial, während er sich vorsichtig vorbeugte und eine der Figuren berührte. Sie war schwer, die Oberfläche kalt und glatt. Obsidian. Die weißen Figuren auf der anderen Seite wirkten anders, greifbarer. Elfenbein vielleicht? Doch welche Kreatur war gewaltig genug, um Hörner oder Stoßzähne zu haben, das man Figuren dieser Größe aus einem Stück davon schlagen konnte? „Mach dich nicht lächerlich“, erwiderte Emilia scharf, während ihr Verstand bereits Feuer und Flamme war, „Trolle sind zu dumm zum Schachspielen. Da braucht man mehr Verstand als die ganze Rasse zusammen aufbringen könnte.“ Während Nathenial sich eher mit der Art und Beschaffenheit der Figuren und Kacheln auseinandersetzte, studierte Emilia das Brett und die Positionen. Das Spiel war schon weit vorangeschritten. Schwarz war dabei, zu verlieren. Zeitgleich mit ihrem Begleiter bemerkte sie, dass vier Positionen auf dem Spielfeld besonders markiert waren. Vier Kacheln, die anders aussahen. Auf ihnen war, in schwarzer Farbe, jeweils ein Symbol abgebildet. Ein Bauer, ein Springer, ein Turm, ein Läufer. Wie sich diese schwarze Farbe sogar auf den schwarzen Kacheln abheben konnte, war ihr völlig unklar. „Druckplatten“, erklärte er plötzlich und richtete sich aus der Hocke wieder auf, „Die markierten Kacheln sind Druckplatten.“ Ein neues Rätsel also. Wieder eines, welches sie das Leben kosten könnte? Doch selbst die Aussicht auf eine solche Bedrohung vermochte sie lediglich zögerlich zu machen, nicht aber zur Umkehr zu bewegen. Zu groß war der Reiz des Spieles, zu groß die Idee, die sich in ihrem Verstand formte. Vier Druckplatten für Schwarz, Schwarz war am Verlieren. Vier Positionen. Sie konnten zwei davon besetzen. Ließe sich damit das Spiel wenden? Tief in Gedanken ging sie Pläne durch, Strategien, Positionen, Züge. Sie plante, plante immer weiter voraus. Weiß hatte seine Dame noch. Ein weißer Turm war noch übrig, stand frei. Ein paar Bauern waren im Weg. Wenn sie- Klick. Dem leisen Klicken folgte ein Rattern. Dem Rattern ein Quietschen. Hastig sahen sich beide um. Was für ein Mechanismus? Wo war er? Was tat er? Warum war er überhaupt ausgelöst worden?! Letztere Frage wurde rasch beantwortet, als Nathenials Blick auf den Boden fiel. Eine Sicherheitsmarkierung, ein Halbkreis, wie im letzten Raum – nur gab es diesmal an der gegenüberliegenden Tür keine. Keine Sicherheit am Ausgang. Und mit dem Starten des Mechanismus begann sich die Rinne um ihren Eingang zu heben, zu verblassen, zu verschwinden – auch keine Sicherheit am Eingang mehr, wie es schien. Während um sie herum alles ratterte und klickte und quietschte und Metall über Metall scharrte, schwang hinter ihnen unbemerkt die Tür zu und verriegelte dann hörbar. Sie waren eingesperrt. Eingesperrt in einem quadratischen Raum mit Schachfiguren. „Oh nein…“, keuchte Emilia leise hervor, als ihr klar wurde, das sie diesen Aufbau aus einem wirklich fürchterlich schlechten Abenteuerroman kannte, den sie sich einst von ihrer Mutter ausgeliehen hatte. Ihr Blick wanderte nach oben. Weit in der Höhe glaubte sie etwas zu sehen. Ihre Pupillen schrumpften, als ihr der Horror der Situation bewusst wurde: Die Decke kam herunter. Sie wurde ganz langsam herabgesenkt. Und dem Anschein nach… war sie besetzt mit zahllosen Dornen. Natürlich war sie das. Keine Falle war vollständig ohne eine riesige Sauerei am Ende. „Auf das Brett, schnell!“, wies sie Nathenial an und eilte zwischen den großen Figuren hindurch. Vor einer der Druckplatten blieb sie stehen, zögerlich. Sie brauchte einen Plan. Ein Plan. Plan, Plan, Plan! „Turm! Nein, Läufer! Nein, Turm!“ „Lia!“ „Turm!“ Als sie selbst auf die Position des Springers trat, und er die Position des Turms besetzte, verblasste die Farbe auf allen vier markierten Kacheln. Ihre Kacheln sanken auf die gleiche Höhe herab, auf der sich der Rest des Schachbrettes befand – kaum ein paar Millimeter hatten sie hervorgestanden. „Und jetzt?!“ Panisch sah sie sich um. Was musste geschehen? „Wir müssen irgendwie die Figuren bewegen!“ „Was? Welche? Wohin?!“ Immer wieder sah sie, wie Nathenial seinen Blick nach oben richtete. Sie wagte es inzwischen nicht mehr, hinauf zu schauen. Sie brauchte ihren Verstand einsatzfähig und die schiere, nackte Panik, die sie bei jenem Anblick erfassen würde, war zu viel, zu lähmend – sie wusste es einfach. Also konzentrierte sie sich, atmete tief durch, versuchte ihre Atmung bewusst zu regulieren. „Wir müssen den… den…“ „Lia, welche Figur?!“, fuhr er sie abermals hektisch an. „Lass mich nachdenken, verdammt!“, giftete sie laut genug zurück, mühelos das Dröhnen der Mechanik zu übertönen. Sie tat es abermals. Spielzüge zogen an ihrem geistigen Auge vorbei, Figuren bewegten sich von allein. Schach. Schach matt. Schach matt. Schach matt. Schach. Aber immer auf der falschen Seite. „Der Bauer muss von B3 auf B5!“, erklärte sie schließlich laut, als sie die Augen wieder aufschlug. Nathenial wollte sich gerade in Bewegung setzen, die Figur zu verschieben, als plötzlich sehr zur Überraschung beider Leben in die Obsidianstatue kam. Sie rutschte aus freien Stücken zwei Felder vor. Emilia spürte abermals die Gänsehaut ihren Rücken herabjagen. Das war einfach nicht natürlich, nicht richtig – aber, so wurde ihr bewusst, sie hätten das Spiel vermutlich auch schnell verlieren können. Hätte Nathenial den Bauern bewegen wollen, hätte er sich zu ihm begeben müssen. Und Türmen war es nicht erlaubt, quer zu ziehen. Das Rattern und Scharren des Metalls der Konstruktion über ihren Köpfen wurde lauter und lauter. Immer wieder sah Nathenial herauf, während sie überlegte, Pläne schmiedete, Züge durchspielte und aus dutzenden von Ideen eine auswählte. Der Feind spielte gut – für jeden ihrer Züge setzte Weiß einen der Seinen. Sie wusste nicht, gegen wen sie hier spielte und entschied auch, vorläufig keine Zeit zu haben, um darüber nachzudenken. Stattdessen opferte sie einen ersten ihrer Bauern. Als die Figur geschlagen wurde, barst der Obsidian. Splitter, deren Größe zwischen Fingernägeln und Köpfen rangierte, stürzten über das Feld. Schwer schluckend blickte Nathenial zu Emilia auf. „Was passiert, wenn wir… also…“ Er wagte nicht einmal die Frage auszusprechen. Auch ihr wurde schlecht beim Anblick der zerstörten Figur. Das… hatte sie nicht einkalkuliert. Sie konnte das Spiel gewinnen, aber ihr bisheriger Plan lief darauf hinaus, dass sie den Turm opfern musste. Den Turm zu opfern war kein Problem – Nate zu opfern dagegen schon. „Mach dir keine Sorgen, ich krieg das hin. Versprochen!“, versuchte sie ihm Mut zu geben, ihm zu versichern. Sie zwang sich ein Lächeln auf die schmalen Lippen, unsicher und wackelig, aber getragen von gutem Willen und besten Absichten. Das Spiel schritt weiter voran, Zug um Zug, Figur um Figur. Sie geriet stärker in die Defensive, wie es schien, und die Decke kam unaufhaltsam näher. Irgendwann konnte sie keinen Blick mehr über die Figuren schweifen lassen, ohne die gewaltigen Dornen am Rande ihres Sichtfeldes zu bemerken, die sich gemächlich immer tiefer schoben. „Lia…?“, hakte Nathenial sorgenvoll nach, als sie eine Weile geschwiegen hatte. Sie reagierte noch immer nicht – bis ihr Gesicht plötzlich aufhellte. „Hab dich, du Hurensohn!“, keifte sie in einer Mischung aus gerechtem Zorn und Triumph. Sie blaffte ein Kommando, die Figur verrutschte, der Trümmer des Bauern ungeachtet. Der nächste Zu von Weiß, ganz wie vorhergesehen – sie wies Nathenial an, drei Felder zur Linken zu rutschen. Ein Bauer kam und bedrohte ihn. Ihr eigener Zug setzte den König Schach – er hatte keine Gelegenheit, Nathenial zu schlagen, ohne Matt zu riskieren. Also verrutschte der König. „Emilia!“, rief ihr Mitspieler und deutete empor. Sie musste sich sputen. Die Dornen waren tief genug, das sie jeden Moment die größeren Figuren aufspießen würden. Und ihre Dame musste noch mindestens einen Zug tätigen. In kürzester Abfolge blaffte sie Anweisungen. Zug um Zug, Schwarz, Weiß, Schwarz, Weiß, Schwarz. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, ihr war schwindlig, ihre Augen rasten herum, sondierten, analysierten, planten. Ihre Hände zitterten, ihre Knie drohten nachzugeben. Hinter sich hörte sie das widerwärtige Geräusch, als die Metalldornen sich in den Obsidian der Dame und den Elfenbein des weißen Königs bohrten. „Nate, eins nach links!“, wies sie an. Weiß versetzte den König, sie tat ihren Zug, zwei Felder vor, ein Feld nach rechts. „Schach matt!“, brüllte sie aus tiefster Kehle. Sie stand geduckt, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, genau wie Nathenial – um sie herum waren die Türme aufgespießt worden, die Läufer, die Springer. Die Bauern waren klein genug, noch ein paar Sekunden mehr gehabt zu haben, doch kaum brüllte sie aus tiefster Kehle ihren Sieg hinaus, stoppte die Mechanik plötzlich. „Wa-… war’s das…?“, wagte Nathenial nur leise zu flüstern, aus Furcht, die Decke könne jeden Moment herabkommen und sie aufspießen. Mehrere Augenblicke rührte sich nichts, bis plötzlich… Klick. Ein Rattern, wie von einem Riegel, der entfernt wurde – an der Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Die Tür hinter Weiß. Emilia vermisste einen Moment lang das gleiche Geräusch in ihrem Rücken. Sie hatte ernsthaft erwogen, den Ausgang zu nutzen. Einfach zurück zu gehen. Zu verschwinden. Doch so sehr ihr das Herz auch in die Hose gerutscht war, sie konnte eines nicht leugnen: Weiß war ein guter Gegenspieler und das hier, das war das mit Abstand spannendste Spiel gewesen, das sie jemals bestritten hatte! Ihre Eltern waren schon lange keine brauchbaren Gegner mehr für sie. Überhaupt fand sie nur noch schwer Herausforderungen. Hier aber hatte sie sich beweisen können. Wenn auch mit deutlich mehr Einsatz und Risiko, als ihr lieb war. „Können… können wir jetzt vielleicht gehen? Lia? Bitte? Ich… mir ist egal, ob ich feige wirke. Ich will einfach nur noch hier raus.“ Sie konnte ihn verstehen. Wirklich, das konnte sie. Er hatte diese ganze Sache überhaupt erst eingefädelt, um sie zu beeindrucken, aber egal wie sehr er sich auch bemühte, die Fakten waren eindeutig: Sie war die Mutige. Sie war die Kräftige. Und sie war die Kampftaugliche. Er, er war der Kletteraffe. Er war der Glückliche. Er versuchte ständig, ihr das Wasser in den Dingen zu reichen, in denen sie ihm schlicht überlegen war. Es gab da nur ein Problem. „Es hat sich nur eine Tür geöffnet“, merkte sie seufzend an und deutete voraus, „Die, die weiter rein führt.“ Weiterhin geduckt schritten sie in etwas eigenwillig anmutendem Gang zu ihrer vermeintlichen Fluchtroute voran. Der nächste Raum, so hofften sie beide inständig, würde zumindest weniger laut sein und sie nicht mit herabstürzenden Dornen bedrohen. Am Ausgang angekommen, stieß Nathenial die Tür auf und starrte auf den Raum vor ihnen. „… wie beruhigend…“, ächzte er und ließ sich knapp hinter der Tür auf seinen Hosenboden fallen.   Die Fackel stürzte, tief und tiefer. Erst in einigen Dutzend Metern kam sie auf dem Boden auf. Dort unten konnte er im schwachen Schein des flackernden Feuers die Überreste einer Kreatur erkennen, der er schon lange nicht mehr begegnet war. „Wunderbar, einfach prächtig“, giftete Thorin und wandte sich von der Grube in der Raummitte ab, „Kommt schon, weiter!“ Er versuchte vergeblich, die Tür zum nächsten Areal zu öffnen. Sie war versiegelt worden. Die Mechanik dafür saß in der Wand oder auf der anderen Seite oder war magischer Natur, er wusste es nicht genau zu sagen. Nur eines war ihm klar: Von ein paar Holzbrettern würde er sich ganz sicher nicht aufhalten lassen! All seine Wut, all der brennende Hass und all die Sorge und Angst, sie wurden zu Kraft, zu Treibstoff in seinen Muskeln, als er mit beinahe unmenschlicher Kraft die Axt schwang und das scharfe Blatt wieder und wieder auf das Türholz niederfahren ließ. Der erste Schlag riss eine Scharte ins Holz, der Zweite ließ kleine Splitter durch die Luft sausen. Ninafer, Alistair und Ishara standen ein Stück abseits und tauschten besorgte Blicke. Nicht nur besorgt der Zwei wegen, die hier herabgekommen waren und denen sie folgten. Besorgt auch um Thorins Willen, den sie schon seit langer Zeit nicht mehr in solcher Raserei erlebt hatten. Keiner von ihnen hatte Wert darauf gelegt, das wieder einmal sehen zu müssen. Als der Kahlkopf ein kleines Loch in die Tür gedroschen hatte, mit nicht mehr als brennendem Willen und roher Kraft, hielt er kurz inne und wischte sich den in Bahnen seine Stirn und seinen Hals herabrinnenden Schweiß fort. „Was zum-“, hob der Krieger leise an und spähte in das Loch. Ungeduldig streckte er die Hand nach hinten aus, wedelte herum, bis ihm endlich jemand die Fackel hinein drückte. Er leuchtete das Loch aus – auf der anderen Seite war ein Raum. Ein erstaunlich flacher Raum, wie es schien. Er sah seltsame Figuren und massive Stahldornen, die von der sehr niedrigen Decke herabragten. Eine Falle vielleicht? Achtlos warf er die Fackel bei Seite und schlug immer vehementer und nachdringlicher auf das Holz der Pforte ein. Wenn die Beiden hier unten herumrannten und mit Kreaturen wie dem beim Aufprall zerplatzten Ding in der Grube konfrontiert wurden oder Fallen wie jener im nächsten Raum, dann wollte er gar nicht wissen, was noch auf sie wartete…!   „Will ich wissen, was noch auf uns wartet…?“, hakte Emilia seufzend nach. Sie saß neben Nathenial am Boden und atmete tief durch. Ihre Hände zitterten noch immer ein klein wenig. Ihr Begleiter deutete auf den kleinen, schmalen Sicherheitskreis um die Eingangspforte herum. Der Raum vor ihnen war groß. Eine rechteckige Halle, länglich. In den Wänden waren zwei Alkoven eingelassen, auf jeder Seite. Und in jeder dieser vier Kammern stand eine gewaltige Statue. Sie mochte drei Meter hoch sein, vielleicht sogar vier. Die Darstellung eines Tieflings, mit eindrucksvollen Hörnern, einem langen Schwanz, Klauen an Händen und Füßen und einer Hellebarde in den Händen. Ein Aasimar mit einem Langschwert, die zwei gewaltigen Federschwingen wie ein Kokon um ihn geformt und fast vollständig geschlossen. Ein Zentaure, wuchtig und bullig, mit einem massigen Speer in den muskulösen Armen. Und ein Mensch – der massiven Plattenrüstung und dem gewaltigen Turmschild nach zu urteilen ein Bellator, der ein kurzes, aber fies gezacktes Breitschwert führte. Alle vier Figuren schienen aus massivem Stein gefertigt. Nur ihre Waffen nicht. Die Hellebarde und der Zentaurenspeer hatten wuchtige Holzstangen mit eindrucksvollen Metallklingen am Ende. Das Langschwert war aus Stahl geschmiedet, so wie auch das Breitschwert – obwohl Schild und Plattenrüstung aus Stein zu bestehen schienen. „Jede Wette, dass die zum Leben erwachen, sobald wir den Kreis verlassen“, nuschelte Nathenial niedergeschlagen. Er tat ihr leid. Mitleid war gewiss nicht, was er gerade wollte und doch konnte sie sich dessen nicht erwehren. Emilia legte den Arm um ihn und zog seine schmächtige Gestalt ein wenig an sich – soweit der alte Lederpanzer das zumindest zuließ. „Hey, Kopf hoch. Was ist denn los? Du wolltest doch immer ein Abenteuer, hm? Wenn wir das hier überstanden haben, dann haben wir kräftig was zu erzählen. Und bekommen vermutlich Hausarrest für den Rest unseres Lebens.“ Sie grinste. Und sie hatte erwartet, dass er es ihr gleichtun würde. Doch diesmal schien sie ihn nicht so leicht ablenken zu können. „Falls“, korrigierte er kleinlaut und setzte beinahe unhörbar leise nuschelnd fort, „Falls wir das hier überstehen. Das ist… ich wollte immer nur…“ Unter einem frustrierten Seufzen ließ er den Kopf hängen, schüttelte ihn. „Das ist nicht, wie ich mir das alles vorgestellt habe.“ Sie schloss die Augen, gönnte sich selbst einen Moment, ein Seufzen, ehe sie die Lider wieder öffnete. Ihm entgegen blickte. In seinen Augen lag in diesem Moment so viel Wärme, so viel Kummer, so viel Sehnsucht. Zögerlich legte sie ihm die Hand an die Wange. „Die Dinge sind eben selten so, wie man sie sich vorstellt. Oder wie man erwartet, dass sie wären. Ich sitze hier unten und lasse mich in Leib und Leben bedrohen, dabei wollte ich eigentlich immer nur, das du Dummkopf mich zu einem Tanz aufforderst.“ Versonnen lächelte sie vor sich hin, erinnerte sich an all die grässlichen Bälle, an all die verstockten Anlässe und Feiern, an die hochnäsigen Adligen, an die Zurechtweisungen, wenn sie unaufgefordert das Wort ergriff – natürlich wiesen andere sie zurecht. Ihre Eltern hätten das nie getan. Und auch nie erlaubt, hätten sie es bemerkt! Sie erinnerte sich aber auch an all den Unsinn, den sie mit Nathenial angestellt hatte, um sich die Zeit zu vertreiben. Scharfe Gewürze in den Punch mischen. Den Teig für die Torte mit fürchterlich starkem Schnaps aus den Privatvorräten Thorins tränken. Oder den Zimt in den Streuern in der Küche mit Alistairs Schlafpulver austauschen – und zuschauen, wie die Adligen von kleinen Häppchen umkippten, die die Bediensteten auf Silbertabletts herumreichten. In ihren Erinnerungen versunken, bemerkte sie die glühende, brennende Röte in seinen Wangen nicht, als er sie fassungslos und aus großen Augen anstarrte. „Na gut, schauen wir mal, was wir hier haben, hm? Vielleicht schaffen wir’s zum Abendessen zurück“, erklärte sie, ohne nochmals zu ihm zu blicken. Stattdessen klopfte sie ihm blind auf die Schulter und riss ihn damit aus seinen Gedankengängen hervor. Sie griff die bei Seite gelegte Axt, stand auf und klopfte sich den Staub vom Hosenboden. Nathenial dagegen kämpfte noch immer gegen seine Schamesröte, doch zumindest erlaubte die Art und Weise, wie sie aktuell mit ihm umging ihm, sich auf das Rätsel vor ihnen zu konzentrieren. Obwohl er die Befürchtung hatte, dass es sich nicht wirklich um ein Rätsel handeln würde. „Also gut, wollen wir mal“, pflichtete er ihr schließlich mit deutlicher Verzögerung bei und klopfte sich die Hände ab. Sein Blick schwenkte abermals musternd durch den Raum. Die gegenüberliegende Tür war versperrt – mit vier Riegeln auf der Innenseite. Vier Riegel, vier Statuen. Wie passend. „Die Dinger sind aus Stein. Aber Mutter hat mir erzählt, das Konstrukte aus so ziemlich allem sein können. Stein, Metall, Sand, spielt keine Rolle. Aber die Axt wird gegen die Dinger nicht viel ausrichten können, schätze ich. Kannst du sie vielleicht beschäftigt halten, sollten sie plötzlich anfangen und herumlaufen?“ Emilia nickte lediglich, also tat Nathenial den einen Schritt über den Sicherheitskreis hinweg. Kaum berührte seine Schuhsohle den Boden, ertönte ein Klicken – und ganz wie erwartet, setzte sich die erste Statue in Bewegung. Der Tiefling mit der Hellebarde trat aus seiner Nische heraus. Es war ein beeindruckendes Schauspiel. Die Gelenke funktionierten perfekt und makellos. Der Gang wirkte ein klein wenig abgehackt, aber der Stein – und er war sich recht sicher, dass die gesamte Figur aus massivem Stein bestand - schien in jeder Bewegung zu fließen. Nathenial wartete, bis die Figur, die Emilia zunächst zu ignorieren schien, näher an ihn herangetreten war. Weiter aus der Nische heraus. Wie befürchtet, schwang die Gestalt die Hellebarde, sobald die Angriffsreichweite hergestellt war – und schlimmer noch, kaum hatte er den Schlag erfolgreich mit einer tiefen Rolle ins Leere laufen lassen, musste er hastig weiterrollen, um dem herabpeitschenden Steinschwanz zu entgehen. Er umkreiste die Gestalt und gab Emilia das Kommando, die Figur zu beschäftigen, während er sich die Nische näher ansah. Die Figuren standen auf einem kleinen Sockel, doch egal wie sehr er ihn abtastete, daran herumspielte – keine Druckplatten. Keine Schalter, Hebel, Mechanismen. Nichts, einfach gar nichts. Ein Seitenblick versicherte ihm, dass Emilia weiterhin erfolgreich den Attacken auswich. Die Riesen waren aufgrund ihrer Beschaffenheit kreuzgefährlich, nicht kleinzukriegen und mit dieser Größe und ihrer Bewaffnung obendrein deutlich im Vorteil, was die Reichweite ihrer Angriffe anbelangte – aber ihre Natur machte sie auch schwerfällig, träge. Langsam. Wenn also keine Mechanik an den Sockeln oder in den Alkoven war, musste sich eine an der Tür finden. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass man wirklich von ihnen erwartete, dass sie vier gewaltige Steinkonstrukte bezwangen. Wie sollte das gehen?! Sie waren keine Magier! Also musste es einfach eine Lösung an den Riegeln geben. Er rannte los und bemerkte die feine Linie am Boden erst, als er sie bereits überschritten hatte. Eine winzige Rinne – gleichartig zu dem Schutzkreis an der Eingangstür. Kaum setzte er einen Fuß darüber hinweg auf den Boden, fuhr ein Druck durch die Figur des Aasimars. Ganz schlecht. Nathenials Blick wanderte unsicher zur verriegelten Tür. Das konnte unmöglich der Plan sein. Was war das denn für ein Irrwitz! Eine Tür öffnen, die mit schweren Riegeln verschlossen war, während vier gewaltige Statuen auf einen einzuhacken versuchten? Er glaubte sich mit seinem Wissen am Ende. Er brauchte Input, frische Ideen, eine andere Perspektive. Er hätte sich gern mit Emilia zusammen hingesetzt und nochmal die Situation überdacht, doch dafür… war es schlicht zu spät. Er wandte sich zu ihr um, wenigstens um sie vorzuwarnen und sich zu versichern, dass sie auch mit zwei Statuen immer noch irgendwie zurechtkäme. Das Erste, was er sah, als er sich umwandte, war ein direkter Stoß des Aasimars. Die Schwertklinge fuhr herab – und stach ins Leere. Die Hellebarde sauste daraufhin horizontal knapp über den Boden, doch Emilia sprang erstaunlich grazil darüber hinweg – und die Klinge fuhr dem Aasimar in die Beine. Die gewaltige Statue stürzte, fing sich jedoch mit den Armen ab. Das Schwert klirrte dabei knapp zwei Meter weiter über den Boden. Kurz nur, für die Dauer eines Herzschlages, hatte er wirklich gehofft, die Figur würde einfach vom Aufprall zersplittern. Oder das man sie tatsächlich so simpel gegeneinander ausspielen könnte. Doch der Aasimar richtete sich wieder auf, die Beine fast unbeschädigt die Arme komplett unversehrt – und wischte Emilia mit einem seiner Flügel von den Füßen. Sie rappelte sich ein paar Meter weiter hastig wieder auf und entging dadurch knapp dem nächsten Schwanzschlag des Tieflings. So konnte das einfach nicht dauerhaft weitergehen – schon gar nicht, wenn noch zwei von denen dazu kämen. Dann jedoch bemerkte Nathenial etwas anderes. Etwas, das vorher übersehen worden war und auch nicht hatte gesehen werden können: Da waren Schlitze. Auf dem Rücken, direkt zwischen den Schulterblättern der gewaltigen Statuen, waren Schlitze. Der Aasimar hatte einen vertikalen, geraden Schlitz. Der Tiefling eine runde Passform, aus der sich an der Oberseite ein kürzerer, vertikaler Schlitz heraushob. Während er nachsann, von den Figuren unbehelligt, verfolgte er den Kampf weiter. Es wurde rasch auffällig, wie aggressiv der Aasimar plötzlich vorging. Dass er sich schneller bewegte. Zumindest bis zu dem Moment, als er sich bückte und sein Schwert wieder aufhob. Sein Schwert! „Bring den Aasimar auf die Knie!“, rief Nathenial lauthals, während er auf die gewaltigen Figuren zusteuerte. Emilia nickte. Schweiß glitzerte auf ihrer Stirn, als sie auf einen direkt auf sie zukommenden Hellebardenangriff zurannte, nur um Sekunden vor dem Treffer sich rücklings fallen zu lassen und auf ihrem Hosenboden und der Rückenschale des Lederpanzers unter der Klinge hindurch zu schlittern. Sie kam auf der anderen Seite rasch wieder auf die Beine, umtänzelte den Schwertschlag des Aasimars, wich dem Flügelschlag aus und vollbrachte das Manöver ein zweites Mal – die Hellebarde jagte in die Beine des Aasimars, der daraufhin in die Knie stürzte. Just in dem Moment jagte Nathenial zwischen den kämpfenden Gestalten vorbei. Er packte das Schwert des Aasimars. „Halt ihn unten!“, lautete die nächste Anweisung. Emilia positionierte sich vor dem Aasimar – geradezu perfekt, sodass sie sich seitlich davonrollen konnte, während die Hellebarde direkt auf den Rücken der Gestalt donnerte. „Lenk den Tiefling ab!“ Nathenial griff der weil das Langschwert und schleppte es mit aller Kraft Schritt um Schritt weiter. Die Gestalt unter ihm versuchte sich aufzurichten und es bedurfte all seiner Balancekünste, um nicht den Halt zu verlieren, während er das Schwert auf dem Rücken der Kreatur aufrichtete. Es war groß, hoch, schwer – und er musste, als die Spitze einmal im Schlitz steckte, emporspringen und sich mit all seinem Körpergewicht an das Heft hängen, damit die Klinge hineinfuhr. Wie bei Schwert und Scheide sank das Metall tiefer und tiefer ein, ohne jedoch auf der Brustseite des Kolosses hervorzubrechen. Stattdessen ertönte ein weiteres, lautes Klick und ein Rattern, als das Heft den Rücken des Aasimars erreichte. Die Gestalt zuckte, zitterte, vibrierte, während irgendwo auf der anderen Hallenseite der erste der vier schweren Riegel zurückgezogen wurde. Nathenial sah die Risse, die sich durch die Gestalt formten und sprang von dem Koloss ab. „Deckung!“, rief er noch, ehe er selbst hinter dem Podest im nahegelegenen Alkoven des Tieflings Schutz suchte. Emilia dagegen war auf offener Fläche – relativ betrachtet. Also nahm sie die einzige Deckung, die sie hatte: Ihren Gegner. Die Figur des Aasimars explodierte regelrecht. Ein Regen aus unterschiedlich großen Steinbrocken ging durch den ganzen Raum, feinste Splitter wie Scherben und Schrapnelle, während größere Brocken das Format von Tischen erreichten. Der Tiefling wurde von so vielen dieser Splitter getroffen, das die Gestalt vornüberkippte. Nathenial sah darin die perfekte Gelegenheit. „Die Hellebarde, wir müssen sie auf seinen Rücken bringen!“ Während die Gestalt sich langsam aufzurichten versuchte, entrissen sie ihren Händen die Waffe. Mehrfach musste Emilia auf den Stein einhacken, sogar einen Finger herausbrechen, ehe sie das Stück bergen konnten. Nur zu zweit vermochten sie das gewaltige Stück zu tragen und diesmal musste er obendrein Emilias eher mäßigen Gleichgewichtssinn mit ausbessern. Dennoch gelang es ihnen mit viel Mühe bereits im zweiten Anlauf, die Hellebarde richtig herum in den Spalt zu senken. Die Waffe verschwand wie zuvor auch das Langschwert vollständig darin, ohne Spuren zu hinterlassen. Ein Klicken, der zweite Riegel wurde zurückgezogen und die zweite Statue detonierte kurz darauf. Erst, als der Raum wieder still wurde, wagten beide den Kopf hinter dem Podest hervorzuheben, das ihnen diesmal als Schutz gedient hatte. „Zwei erledigt, zwei bleiben. Der Trick ist also, ihre Waffen gegen sie zu richten. Man muss nur die richtige Stelle dafür finden“, resümierte er und grinste – das Rätsel war schließlich so gut wie gelöst. Emilia dagegen wischte sich Schweiß von der Stirn und versuchte, ihre heftige Atmung zu beruhigen. „Du hast leicht reden, du musst sie ja nicht ablenken. Also gut – der Paladin als Nächstes, oder? Schwert in den Rücken und fertig.“ Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht, als Nathenial sie rügte, das es wohl kaum so einfach sein würde. Darauf hoffen, das könnte sie natürlich jederzeit – aber nur ein Narr würde damit rechnen, dass es so angenehm simpel bleiben würde. „Simpel…?!“, entfuhr ihr dabei nahezu empört. Als sie die dritte Linie überschritten, erwachten sehr zu beider Verdruss die letzten zwei Statuen zeitgleich. Schlimmer noch als das – erst als sie sich zu bewegen begannen, wurde ersichtlich, wohin ihre Waffen mussten: Die Passöffnung für den Zentauren war vorne, am Übergang vom Pferdeleib in den menschlichen Oberkörper. Der Paladin dagegen hatte die Öffnung an der Unterseite seines steinernen Panzerschuhs. Nathenial überdachte die Lage kurz, ehe er Emilia angrinste. „Wir spielen sie gegeneinander aus! Vertraust du mir?“ Er musste nicht lange warten, bis sie entschlossen nickte. Es begann damit, dass er etwas austesten musste. Die Figuren lösten sich aus dem hinteren Teil der Halle und sie befanden sich nach ihrem kleinen Rückzug im Vorderen – also positionierte er sich direkt vor der Eingangstür und wartete. Der Paladin klopfte drohend mit seinem Schwert gegen den Turmschild und bewegte sich zäher und langsamer noch als Tiefling und Aasimar – vermutlich aufgrund der Rüstung, wie eine Stimme ihm erklären wollte… obwohl das einfach keinen Sinn zu machen schien. Der Zentaure dagegen erwies sich, wie gleichermaßen erhofft und befürchtet, als unangenehm agil. Allem voran aber: Als kreuzgefährlich, für sich und alles und jeden. Er preschte voran, stürmte mit Hufschlägen, die die Halle erbeben ließen, auf sein Ziel zu. Der Speerstoß ging ins Leere, als Nathenial mit einem Sprung nach vorne rasch unter den Beinen der Kreatur hindurchjagte, das Beste hoffend und offenkundig einmal mehr von seinem Glück damit gesegnet, von den Hufschlägen verschont zu werden. Der Zentaure wandte sich um, den Speer wieder erhoben, bereit zum nächsten Sturmangriff. Auf der anderen Hallenseite duckte sich ein sehr schwer atmender Nathenial gerade unter dem Schwertschlag des Paladins hindurch und wurde gerade rechtzeitig von einer seitlich herbeispringenden Emilia fortgerissen, als der Schildschlag folgte. Es vergingen nur Sekunden, bevor sie sich hinter dem Paladin befanden. „Kannst du noch?“, hakte Emilia besorgt nach. Nathenial keuchte schwer. „Wird gehen müssen. Wir müssen noch viel mehr rennen, gleich… puh… viel mehr.“ Wie erwartet, preschte der Zentaure wieder voran – und wie schon zuvor Tiefling und Aasimar, nahm er keinerlei Rücksicht auf den zweiten Koloss. Er rannte den Paladin schlicht um. Hinter der kippenden Figur waren sie vor dem suchenden Blick der Kreatur sicher, was Nathenial die Chance gab, gänzlich seiner Aufmerksamkeit zu entkommen, während Emilia diesmal rannte und den Zentauren ablenkte, damit er wieder an das andere Ende der Halle stürmte. Dort wich sie einmal mehr aus, wenn auch deutlich knapper als Nathenial und sputete in aller Eile. wieder zur anderen Seite. Der Paladin versuchte sich gerade aufzurichten, saß bereits aufrecht, mit einem Arm abgestützt. Nathenial hatte das Schwert unter Aufbietung aller Körperkräfte ans Fußende der Gestalt gezerrt. Die Spitze auf seinem Rücken gelagert, die Klinge über seinen gesenkten Kopf hinweg auf den Schuh ausgerichtet, hatte er sich bereits unter die Waffe gestemmt. Emilia kehrte so zügig zurück, wie ihre Beine es ihr erlaubten. Sie warf die Axt und den Schild bei Seite, packte den Schwertgriff und drückte ihn hastig empor. „Schieb!“, wies sie an und gemeinsam vollbrachten sie es, die Klinge in der Schuhsohle des Paladins zu versenken. „Der Schild, wir brauchen deinen Schild!“, plärrte Nathenial hastig, während der dritte Riegel entfernt wurde, „Falls es klappt, gibt der Splitterregen uns ein Fenster für den Zentauren, aber wir müssen uns beeilen!“ Die Kehrseite des Plans war ihnen natürlich bewusst – Emilia führte die Drachenschuppe als Schild. Drachen waren gewaltige Bestien, doch eine einzelne Schuppe aus ihrem Panzer… war dennoch nicht groß genug, um ihnen beiden ausreichenden Schutz vor der Detonation des Konstruktes zu bieten. Doch er hatte gefragt, ob sie ihm vertraute… und das tat sie. Sie nahm in Kauf, was geschehen würde. Hinter dem Schild verkrochen, warteten sie ab. Der Zentaure stürmte herbei, der Speerstoß ging nieder und just, bevor er einen vernichtenden Treffer landen konnte, zerfetzte es den Paladin. Steinsplitter surrten herum, die Schrapnelle verletzten beide an den Beinen, während sie noch bemühter die Köpfe und Arme hinter die Schuppe zu schrumpfen versuchten. Die Detonation hatte jedoch auch ihrem letzten Gegner den Speer aus den Händen entrissen. Scheppernd stürzte das wuchtige Kriegsinstrument zu Boden. „Jetzt!“, wies Nathenial an. Zusammen packten sie den Speer, stemmten ihn mit einem Ende gegen die noch verriegelte Tür und richteten ihn auf die Höhe aus, die sie brauchten. „Höher. Weiter links! Nein, rechts. So, so halten!“ Der Zentaure senkte sich nach dem Aufscheuen durch den Splitterregen wieder herab – und wie schon zuvor der Aasimar, war er schneller, agiler, aggressiver, als es darum ging, wieder in den Besitz seiner Waffe zu gelangen. Der Plan stand und fiel mit der einen Frage: Wie klug waren diese Konstrukte wirklich? Nur weil sie auf jeden Feind stürmten und jeden Freund ignorierten hieß das nicht, das sie nicht zumindest über rudimentäre Intelligenz verfügten und- „Heh, soviel dazu…“, nuschelte Nathenial leise, als der Zentaure in dem Versuch, rasch wieder in den Besitz seines Speeres zu gelangen, voranstürmte… direkt in die aufgerichtete Waffe hinein. Beide ließen den Speer los, sobald sie spürten, wie er in den Spalt hineingezogen wurde und suchten einmal mehr Deckung hinter dem nächstgelegenen Podest – obgleich jenes zu erreichen einfach aufgrund der schieren Summe an unterschiedlich großen Steinbrocken überall zu einer wahren Hürde geworden war. Sie duckten ihre Köpfe gerade als der Zentaure barst und hoben sie in dem Moment, als der vierte Riegel zur Seite gezogen einrastete und sich das Tor langsam öffnete. Beide atmeten schwer. Emilia zitterte leicht von den Anstrengungen. Nathenial fühlte sich am Ende seiner Kräfte. „Ich hoffe, da kommt nicht mehr allzu viel, ich kann langsam nicht mehr“, brachte er keuchend hervor. „Heh… ich hab da’n ganz mieses Gefühl…“, erwiderte Emilia und erhob sich, nur um die Splitter von sich abzuklopfen und sich auf das Podest zu setzen. „Hm? Wieso das?“ „Das Rätsel am Eingang. Es war die Rede von vier Prüfungen, nicht? Hast du ja auch so verstanden. Überleg doch mal. Der erste Raum – an der Decke herumklettern, eine Druckplatte bedienen und dieses… Etwas in die Grube fallen lassen. List, oder nicht? Und der letzte Raum, das Schachspiel? Klugheit. Das hier? Gegner gegeneinander ausspielen? Geschick, wenn du mich fragst. Obwohl man’s auch einfach „rennt viel herum!“ hätte nennen können.“ Kurz lachte Nathenial auf, während er sich neben ihr niederließ. „Ja, und?“ Emilia verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. „Das lässt Mut übrig.“ „Oh…“   Unzählige Flüche und Verwünschungen hatte er schon ausgespien, alle leise genug, das niemand sie wirklich vernehmen konnte, während er sich tief gebückt durch den Schachraum bewegt hatte. Dann und wann hatte er sich unbewusst etwas aufgerichtet und war sofort mit einem Dorn im Rücken dafür bestraft worden, was ihn nur veranlasste, etwas mehr und heftiger zu fluchen und zu wettern. Als Thorin die andere Seite erreichte, starrte er ungläubig in den Saal. Große Ölschalen hingen in gut sieben oder acht Metern von der Decke, aus durchsichtigem Material gefertigt stellten sie die Beleuchtung eines wahren Schlachtfeldes dar. Brocken und Stückchen von vermutlich ehemals gewaltigen Statuen lagen überall im Raum verteilt, hatten sich teilweise sogar geschossartig in die Wände gebohrt. Der gesamte Boden des Raumes war mit den Überresten bedeckt, was – der Anzahl an Alkoven nach bemessen – wohl einstmals vier große Kolosse gewesen sein mussten. „Und was um Himmels Willen ist hier wieder passiert…?!“, brummte er grimmig eher zu sich selbst, als Ninafer an ihn herantrat, die Hand langsam und vorsichtig auf seine Schulter gelegt. „Thorin, was, wenn wir zu spät kommen?“ Es waren genau die Worte, die er nicht hören wollte. Er würde nicht zu spät kommen, nie wieder – das hatte er sich geschworen, damals, vor so vielen Dekaden und Generationen. Nie wieder. Sein Kopf wirbelte herum, seine Mundwinkel zuckten herab, doch er hielt die steinerne Fassade aufrecht. Nur in seinen Augen loderten die Flammen von Krieg, Gewalt und Hass. Hätte irgendwer anders als Ninafer diese Frage gestellt, er hätte für nichts garantieren wollen. „Werden wir nicht“, gab er knapp zur Antwort, gepresst, um Kontrolle bemüht. „Aber was, wenn doch?“ Sie ließ einfach nicht locker. Sie erlaubte ihm nicht, dass er sich der Konfrontation mit dieser Eventualität entzog, dass er die Existenz dieser Möglichkeit verleugnete. Sie erlaubte es einfach nicht. Unter einem frustrierten Seufzen wischte sich Thorin über das Gesicht, den Schädel herab. Eine altbekannte Geste, eine Gewohnheit, die er nicht mehr loswurde. Was, wenn doch? Was dann? Nur einen kurzen Moment lang nahm er sich die Zeit, wirklich darüber nachzudenken. Was dann? Als er sich wieder Ninafer zuwandte, seine Antwort parat, lag ein derartig entschlossener, kalt lodernder Glanz darin, dass selbst der Giftmischerin eine leichte Gänsehaut über die Unterarme kroch. „Ich reiße die Himmel ein. Ich zerfetze das Gewebe. Ich marschiere in die Weißen Hallen ein. Ich reiße Kaleran sein Herz aus der Brust und stopfe es ihm die Kehle herab, falls nötig. Ich werde sie finden, sie alle, und ich werde ihre elenden Existenzen beenden, falls sie mich dazu zwingen!“   „Mut, Nate. Denk dran: Mut.“ Egal, wie oft er sich das zuflüsterte und obgleich er wusste, dass sein Balancegefühl deutlich besser ausgeprägt war als Ihres, fand er sich angesichts der Situation dennoch mit schwachen Nerven geschlagen. Vielleicht lag das auch daran, dass nach all der Rennerei, den Kämpfen, der Anstrengung seine Knie weich waren und er einfach ein Zittern in den Muskeln spürte, das nicht mehr verschwinden wollte. Ganz gewiss jedoch hatte es etwas mit der gähnenden, klaffenden, bodenlosen Schwärze zu tun, die beiderseits des geländerlosen, dünnen Steinstegs lag, auf dem sie beide gerade entlang balancierten. Mehr enthielt die vierte Prüfung nicht. Einen Graben von sicherlich um die zehn oder fünfzehn Meter Breite, überspannt von nur dieser einen, schmalen Steinbrücke – und sonst nichts. Auf der anderen Seite führte die Brücke in eine kleine, an der zugewandten Seite offene Kammer. Ein Podest stand dort, von den Ausmaßen her hätte es auch ein Sarkophag oder ein Altar sein können. Darauf lag etwas, das im schwachen Lichtschein einer einzelnen Fackel schimmerte. Und angesichts des Umstandes, dass es keine weiteren Türen gab, lag die Vermutung nahe, dass dies ihr Preis war. Was immer das sein sollte. „Wir haben’s fast geschafft“, hörte er Emilia kaum einen Meter vor sich. Entgegen ihrer guten Ratschläge hatte er es nicht lassen können, in die Tiefe zu starren und jedes Mal beschlich ihn das Gefühl, das sie ihn anziehen würde, er taumelte, er gleich hinabstürzen müsste und, schlimmer noch als all das – das etwas aus der Tiefe zurückstarrte. Doch entgegen aller Befürchtungen kamen sie unversehrt am anderen Ende an. „Huh“, gab er lediglich von sich, „Hab ich mehr erwartet.“ „Ja, genau, beschrei’s doch noch, du Holzkopf!“, rügte Emilia ihn leise zischend und stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. Als sich ein paar Sekunden lang nichts rührte und nichts tat, kein Klicken, Kreischen, Fauchen, nahmen sie sich die Zeit und besahen sich ihren Preis. Auf einem erstaunlich sauberen und staubfreien weißen Seidentuch aufgebettet lagen drei Waffen. Eine Streitaxt, in ihrer Form der nicht unähnlich, die sie sich von Thorin ausgeliehen hatte, doch ihr Klingenblatt schimmerte im sanften, orangen Licht der Fackel blutrot. Es war… hübsch. Dennoch konnte sie nicht wirklich viel mit dem Anblick anfangen. Ganz anders als Nathenial, der völlig verstört vor der anderen Seite des Altares stand und die zwei Dolche angaffte, die dort lagen. Ihre gewundenen Klingen, die mit simplem Leder umwickelten Hefte, das eingravierte Symbol. „Unmöglich…“, würgte er leise hervor. Ihm wurde wieder schwindlig. Nathenial krallte sich an den Altar, um nicht den Halt zu verlieren, seine Knie wurden weicher. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Diese seine Hand, die niemals zitterte. Woher kam das Zittern jetzt plötzlich? Er fuhr die Klinge damit entlang, berührte sie geradezu ehrfürchtig, als wolle er sich versichern, dass sie real war, keine einfache Illusion. „Das“, erklärte er leise, ohne den Blick von den Dolchen zu lösen, „Das sind Stich und Fang… ich… ich habe Geschichten darüber gehört…“ Emilia zog die Brauen zusammen. Diese Namen kamen ihr vage vertraut vor. Die Falten auf ihrer Stirn wurden etwas tiefer, ehe sie sich zu erinnern glaubte. „Diese Geschichten, die hat dir nicht zufällig mein Vater erzählt, oder? Der neigt nämlich gehörig zu Übertreibungen…“ Nathenial grinste geistesabwesend. „Meiner doch auch…“, erwiderte er, noch immer ohne den Blick von den Waffen zu lösen. „Soll ich euch Dreien vielleicht ein wenig Raum lassen? Wollt ihr euch ein Zimmer nehmen? Oder- ah!“ Emilias Worte wurden abrupt abgerissen, ihr überraschter Aufschrei erklang laut und unangenehm in seinem Ohr, als etwas sich um ihr Fußgelenk wickelte und sie vom Boden fortriss. Nathenial wirbelte herum, nur um je ein Dutzend mit Saugnäpfen gespickter Tentakel auf jeder Seite der Steinbrücke aus dem Abgrund emporragen zu sehen. Natürlich war es zu simpel gewesen. Natürlich hatte er das Schicksal herausfordern müssen. Natürlich hatte etwas aus der Tiefe zurückgestarrt! „Lia!“, rief er überfordert, „Halt dich fest!“ „Machst du Scherze?!“, schrie sie zurück, während sie in der Luft herumgeschleudert wurde. Die erste Kollision mit der Wand sorgte dafür, dass die Axt ihrem Griff entglitt und in die Finsternis stürzte. Sie beide wussten – irgendwie fände das Ding schon seinen Weg zurück in Thorins Besitz. Nur… für den Moment bedeutete es, dass sie nicht sonderlich wehrhaft war. Sie bemühte sich, kopfüber hängend und herumgeschwenkt den Schild von ihrem Unterarm zu lösen und mit dessen Kante auf den Tentakel einzuschlagen, in der verzweifelten Hoffnung, dass er sie in genau dem Moment loslassen würde, wenn sie fähig wäre, eine Kante zu greifen – denn ihr stand wenig der Sinn danach, in die Schwärze zu stürzen und herauszufinden, was dort unten tatsächlich war. Nathenial zückte seine zwei Dolche, eilte einige Schritte vor und schnitt wild fuchtelnd die erstbesten Tentakel, die dafür nah genug herankamen. Mit einem Schlag waren all seine Bedenken vergessen, das Gleichgewicht nicht halten zu können, in die Tiefe zu stürzen – Emilia war in Gefahr und er, er musste irgendetwas tun, ihr irgendwie helfen, sie- „Ugh…!“ Alle Luft wurde aus seinen Lungen gequetscht, als ein wuchtiger Schlag ihn zurückbeförderte. Seine Finger lösten sich und die Dolche… stürzten in die Tiefe herab. Für die Dauer eines Herzschlages betete und bettelte er, sie mögen Klinge voran ins Auge dieses Monstrums stürzen – bis ihm klar wurde, das etwas, das so tief im Dunkel zu hausen schien vermutlich weder Augen hatte, noch sich von ein paar Zahnstochern beeindrucken lassen würde. Aber dass es sich gegen ihn verteidigt hatte, bedeutete zumindest, dass es Schmerz kannte. Und wenn es Schmerz spüren konnte… nun, besiegen würden sie’s sicherlich nicht – aber vielleicht konnten sie aufzeigen, wie unglaublich nervig und unappetitlich sie waren? Hatte das Ding überhaupt vor, sie zu fressen? „Nate!“, brüllte Emilia und brachte ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück, „Waffe, sofort!“ Eifrig nickend kam er wieder auf die Füße, wich einem Tentakelschlag aus, der die Frage aufwarf, wie dieses Ding überhaupt wahrnehmen konnte, wo er war und was er tat. Hastig stürzte er zum Altar vor – es waren die einzigen Waffen, die es hier noch gab. „Bitte, bitte, bitte, bitte – nehmt uns das nicht übel, aber wir brauchen sie gerade dringend!“ Er packte die Axt und wirbelte herum. „Fang!“ So gut er eben mit seinen erschöpften Armen zielen und werfen konnte, schleuderte er die Axtklinge in Emilias Richtung. Abermals herumfahrend, spürte er gerade noch, wie sich etwas um sein Fußgelenk wickelte. Er hatte noch genug Zeit, die zwei Dolche zu packen, da wurde er bereits in die Höhe gerissen. Sie fing die Axt auf. Es war… es war absurd, wirklich. Die Axt war schwer. Nicht gerade sonderlich windschnittig geformt. Und Nathenial war schwach. In der Theorie. Doch hier und jetzt, da schien er ungeahnte Kräfte zu mobilisieren. Und die Axt, sie stürzte nicht einfach herab, sie schien regelrecht auf sie zuzufliegen… oder bildete sie sich das alles nur ein? Als Emilias Hände sich um den Griff der Waffe schlossen, schoss ein solch enorm starker Impuls durch ihren ganzen Leib, das sie glaubte, sie würde jede Sekunde das Bewusstsein verlieren. Doch da war mehr, so endlos viel mehr als zuvor. So viel Kraft, so viel rohe, ungebändigte Kraft, ziellos, lauernd, nur auf ihren Befehl zum Einsatz wartend. Mit nur einem Streich durchtrennte sie den Tentakel. Ein anderer fing sie prompt auf, während das abgetrennte Stück in die Tiefe stürzte. Auf der anderen Seite der Steinbrücke sah sie Nathenial. Er stach zu, so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte. Kletteraffe. Er wurde nicht länger von den Tentakeln gehalten. Die Tentakel waren nicht länger sein Ärgernis. Er war das Ihre. Auf und ab, die Beine als Halt um die wabbernden Extremitäten geschlossen, kletterte er an ihnen entlang, die Dolche als Hilfen in das Fleisch gerammt. Sprang von einem Tentakel zum Nächsten, stieß die Dolche in genau die empfindlichen Bereiche und Stellen. Geschickt. Grazil. Elegant. Sie dagegen, sie empfand es als überflüssig. Wozu sich die Mühe machen, wenn sie so… unendlich… viel… Kraft hatte…!   Mit dem dritten Tritt des wuchtigen Stiefels gegen die Tür sprang jene endlich auf. Der jenseitige Raum war kaum der Bezeichnung wert. Thorin trat auf einen gut zwei Meter breiten Streifen, bevor eine stattliche Schlucht vor ihnen lag. Nur eine schmale Steinbrücke führte auf die andere Seite, zu einem kaum beleuchteten Altar… an den zwei Gestalten lehnten, die sich nicht rührten. „Nein…“, drang es atemlos aus der Kehle des Kriegers. Ohne Rücksicht auf die anderen preschte er voran, jagte über die Brücke hinweg. Die zwei Gestalten waren blass, geradezu bleich. Er tastete nach dem Puls des Burschen. Ein starker, stetiger Herzschlag. Ein flacher, aber vorhandener Atem. „Nathenial… Nathenial…?!“, sprach er den Bewusstlosen an, doch der regte sich nicht. Die Miene Thorins wanderte in kürzester Zeit durch eine Unzahl an Impulsen und Empfindungen, ehe sich der Schleier der Undurchdringlichkeit senkte, ehe die steinerne Fassade des abgehalfterten Kriegers einkehrte. Einen Arm unter die Kniekehlen geschoben, mit dem anderen den Rücken abgestützt, erhob sich der Kahlkopf auf die Füße. Er presste die Gestalt seines gerade einmal vierzehnjährigen Sohnes dicht an sich, als er wortlos durch den Korridor lief, den seine drei Begleiter für ihn formten. Was die taten, es scherte ihn nicht. Wie es Isharas Tochter ging? Es scherte ihn nicht. Vorsichtig und umständlich strich er seinem Sohn eine Locke des wirren, zerzausten schwarzen Haares von der Stirn, während er die Brücke sicheren Schrittes und dennoch ohne jedes Empfinden für seine Umwelt zum zweiten Mal überquerte. „Es wird alles wieder gut werden“, flüsterte er seinem Jungen zu, „Ich muss dich nur hier raus bringen… nur hier raus… dann wird alles wieder gut…“   … natürlich wusste er es besser... Kapitel 39: Familienangelegenheiten ----------------------------------- Ein schwerfälliges Seufzen drang über seine Lippen, als er sich umständlich neben ihr auf den weichen, feuchten Boden ihres Nachtlagers sinken ließ. Es passte nicht zu ihm. Es war träge und wirkte behäbig und grüblerisch und ernst. Das Gesicht einen Moment säuerlich verziehend, schweifte sein Blick über die Umgebung. Das angenehm warme, knisternde Feuer hatte schwer zu kämpfen, die dicke Dunkelheit zu vertreiben. Geäst und Windstöße fabrizierten makabre Schattenspiele an den Wänden ihres Zeltes. Und jenseits des beleuchteten Kreises, da war die Quelle. Die Quelle für all die Dunkelheit, die Quelle der Feuchte und ganz generell seines Unwohlseins. „Ich hasse Sümpfe“, entschied Alistair, als er einen Moment auf seine Finger herabstarrte, wie sie auf der Sache nach Beschäftigung begonnen hatten, in seinen eigenen Taschen zu wühlen. Seine kleine, geflüsterte Verwünschung blieb indes unbeachtet. Was ungewöhnlich war – sie sprang sonst rasch darauf an, wann immer die ewig lächelnde, ewig heitere Fassade einmal Risse bekam. Spielerisch hob er die linke, ließ die Fingerspitzen in sanften, kaum wahrnehmbaren Berührungen ihr Rückgrat herauftippeln. Ihre Augen gewannen einen verträumten Glanz, ein klein wenig der bitteren Ernsthaftigkeit wich aus ihren Zügen, als ihre Mundwinkel sich unwillkürlich ein kleines Stück hoben und die zarteste Andeutung eines Lächelns auf ihr Gesicht zauberten. Als seine Fingerspitzen ihren Nacken erreichten, drang ein leises, halb verschlucktes Kichern aus ihrer Kehle. Sie war kitzlig – nicht an sonderlich vielen Stellen, aber diese gehörte dazu, wenn man es richtig anstellte. Sie wandte sich einen Moment unter der Berührung, ehe ihr weiterhin auf das Lagerfeuer fixierter Blick sich endlich losriss und ihre wundervollen blauen Augen sich zu ihm ausrichteten. Ein breites Lächeln zierte sein zufriedenes Gesicht. „Was ist los, hm?“, erkundigte er sich leise. Das Lächeln auf ihren Lippen verblasste ein klein wenig. „Ich denke nach“, erwiderte Ishara. Alistair schnaubte durch die Nase aus, lachte einen kurzen Moment leise auf. „Ach, wirklich? Und ich dachte schon, Reva hätte dich nachträglich in Stein verwandelt!“ Statt jedoch über die absurde Vorstellung mit ihm zu lachen, warf sie ihm einen dieser ‚Wie kommst du immer auf solch einen absurden Unsinn?!‘-Blicke zu. Also zuckte er, noch immer breit grinsend, mit den Schultern. „Was? Sie hat dir bei unserer Abreise zuletzt die Hand zum Abschied gereicht. Sie hat sogar andere vorgelassen, damit sie die Letzte ist. Bei Magiern weiß man nie.“ Jetzt lachte Ishara auf. Kurz nur, aber dafür durchaus heiter. „Bist du beleidigt, wenn ich dir sage, dass du dich manchmal doch sehr nach Thorin anhörst?“ Alistair gluckste zufrieden. „Nein, aber ich wette, das er beleidigt wäre, würdest du ihm sagen, dass er manchmal wie ich klingt.“ „Ist er“, kam es prompt zurück. Als Alistairs Brauen ein kleines Stück höher wanderten, korrigierte sie sich rasch. „Ich meine, wäre er.“ Das… war interessant. Irgendwann, so nahm er sich fest vor, würde er sie danach fragen müssen. Es gab sie also tatsächlich, hm? Diese Momente, in denen Thorin etwas sagte, das nach ihm klang? Umso gewichtiger fühlten sich plötzlich die kleinen Hilfsmittel an, die in der rechten Tasche seines Mantels mit jedem verstreichenden Tag schwerer zu wiegen schienen, da sie ostwärts zogen. „Na dann… schieß los – worüber grübelst du?“, hakte er nach einem Moment des Besinnens nach. Ihr Lächeln verblasste noch eine Spur mehr, doch so bedauerlich das auch wahr – und wie er es bedauerte, dieses viel zu seltene und ihm ungemein kostbare Lächeln so langsam, Stück für Stück, sterben zu sehen -, wusste er doch, das ihr etwas auf dem Gemüt lag. Und Dinge, die Ishara auf dem Gemüt lagen, waren so zahlreich, wie sie dazu neigten, ihr Probleme zu bereiten. Er aber, er hatte sich fest vorgenommen, ihr zu helfen. Bei ihren Problemen. Und auch bei allem anderen, wenn er konnte. Oder, was viel häufiger die Hürde war: Falls sie ihn ließ. Eine ganze Weile schwieg sie. Er rätselte bereits, ob sie ihn zu ignorieren gedachte oder einfach nur überlegte, wie sie anfangen sollte. Solche Probleme hatte er natürlich nie. Er plapperte einfach darauf los und falls irgendwo etwas fehlte oder unklar war, würden die Leute schon fragen. Das funktionierte meist sogar irgendwie – was vielleicht damit zu tun haben mochte, dass die Mehrheit dazu neigte, ihm ohnehin nicht recht zuzuhören. Nicht sie. Sie hörte immer zu. Nur ein weiteres Detail, das er an ihr liebte. „Wie viel anders die Dinge wohl hätten laufen können“, setzte Ishara nach einer kleinen Ewigkeit an. Als Alistair lediglich die Stirn runzelte und sich den besten Anschein von Ernsthaftigkeit gab, den man ihm zugestehen konnte, sobald man ihn einmal näher kannte… sah sie sich wortlos aufgefordert, mehr zu erzählen. Sie seufzte, atmete einen Moment durch und hob dann neu an. „Ich habe meine Tante nie kennengelernt.“ „Caerwen?“, fragte Alistair dazwischen. „Ja, genau“, bestätigte sie mit einem Nicken, „Die Seuche hat sie erwischt, kurz bevor ich das erste Mal nach Esgaroth kam. Ich habe mir sagen lassen, dass sie eine wunderbare Frau war. Jemand, den ich gemocht hätte.“ Ishara schwieg einen Moment, ehe sie etwas trübsinniger und leiser nachsetzte: „Jemand, der mich gemocht hätte.“ Natürlich wusste Alistair, das sie sich hiermit nun auf dünnem, sehr dünnem Eis befanden. Garien Morgenwandler, Vorstand des Hauses Morgenwandler, war nicht unbedingt für seine Gastfreundschaft bekannt. Oder seine Manieren. Oder Freundlichkeit. Höflichkeit. Rücksicht. Nein, eigentlich war er nicht einmal als jemand bekannt, der irgendwie irgendwem sonderlich sympathisch sein konnte. Außer vielleicht anderen Elben? Oder Bäumen. Vermutlich mochten Bäume Elben. Immerhin mochten Elben Bäume. Sehr. Hieß das allerdings, das- „Wäre sie noch da, hätten wir diese Probleme nicht“, unterbrachen Isharas Worte Alistairs zunehmend abdriftenden Verstand. Sie klang fest überzeugt. Er selbst hatte sich mit der Familie Morgenwandler nie weiter im Detail beschäftigt. Sie waren eben… da. Irgendwo. Selbst als er Ishara kennengelernt, sie gut und nah kennengelernt hatte, war der mächtige Name aus dem Osten für ihn stets ein weit entferntes, gewichtsloses Etwas gewesen. Ishara strebte nach nichts mehr als Anschluss. Eine Heimat. Die Geborgenheit und Sicherheit, die eine Familie bieten konnte. Doch es hatte sich rasch gezeigt, dass sie dergleichen nicht haben und nicht bekommen würde – außer, sie erschuf sich dergleichen selbst. Was ja irgendwie der Plan ist, setzte Alistair in Gedanken nach. Doch selbst dabei gab es Hürden, mehr als genug. Ganz abgesehen davon, das Thorin ihm regelmäßig mit Blicken das Genick brach oder ähnlich unschöne Dinge und allzeit eine fiese Spitze gegen ihn bereitzuhalten schien… nun es musste ja seine Gründe haben, das sie jetzt in einem stinkigen Sumpf lagerten, in dem es nachts noch lauter war als am Tag, nur weil das gesamte Krabbelzeug der Gegend glaubte, dass es klug ist, den ganzen Radau genau dann zu veranstalten, wenn andere schlafen wollen. Oder eben wollen würden. „Was soll schon groß passieren, hm?“, hob der Nordländer an und bemühte sich nach Kräften, ihre Perspektive ein wenig in schönere, wärmere Gefilde zu verschieben, „Wir gehen da hin, wir bitten ihn nett und dann gehen wir zurück. Ist ja nicht so, als hätten wir vor, wochenlang in seinem Haus herumzulungern.“ „Er könnte ‚nein‘ sagen“, versetzte Ishara seinen Mühen einen herben Schlag. „Dann bekommen wir eben nicht seinen Segen, bu-hu!“, erwiderte Alistair etwas spitzzüngiger und schärfer, als er es erwartet hatte. Es war schwer, ihn zornig zu machen, schwer, ihn so weit zu treiben, das seine Wut sich an der Oberfläche blicken ließ. Doch das funktionierte deutlich rascher und zuverlässiger, sobald jemand Isharas Gemüt mit noch mehr Sorgen beschwerte, als sie sich ohnehin schon ständig freiwillig auflud oder selbst konstruierte. Und sehr zu seinem Verdruss gehörte Garien zu denen, die darin ganz vorzügliche Arbeit zu leisten schienen. „Es ist nicht so, als bräuchten wir ihn“, nuschelte Alistair ein wenig leiser hinterher und starrte nun seinerseits ins Feuer. Als einen Moment lang keine Reaktion erfolgte, hob er den Blick zur Seite und sah in Isharas Gesicht. Sie wirkte… bemüht, ihr Lächeln nicht fallen zu lassen. Bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Durch und durch bemüht. „… richtig?“, hakte der Dieb nun deutlich unsicherer nach. Das war offenbar die falsche Frage gewesen, wie ihm rasch klar wurde. Die Dämme brachen, Tränen perlten über ihre blassen Wangen, eingefärbt in ein zartes Orange vom im Wind flackernden Feuer. Er rutschte noch ein Stück näher an sie heran, wandte sich ihr zu und zog den schmalen Leib seiner Gefährtin an sich. Das Gesicht an seiner Halsbeuge vergraben, gaben sie einander einen Moment Zeit. Er strich gedankenverloren mit den Fingerspitzen ihren Rücken herauf und herab, während er wartete, bis das Zittern in ihrem Leib enden würde. Falsch, fuhr es ihm durch den Schädel, das hier ist alles falsch. Eine Vermählung war ein Grund, zu feiern. Sich zu betrinken und peinliche Dinge anzustellen und am nächsten Morgen damit aufgezogen zu werden, vielleicht noch Jahre später auf Feiern daran erinnert zu werden, nur damit man nicht tumb genug war, diesen Unsinn zu wiederholen. Es war ein Grund, zusammenzukommen und etwas zu preisen, das diese Welt am Laufen hielt: Junge Liebe. … bei Lenikki, klingt das kitschig… „Komm. Wir sollten schlafen gehen. Bei dem Krach wird es schwer genug sein, einzuschlafen und wir haben immer noch ein gutes Stück Weg vor uns.“ Mit jenen Worten erhob sich der schmächtige Nordländer nach einer gefühlten Ewigkeit. Er bot Ishara die Hand dar und zog sie, kaum dass sie sie ergriff, auf die Füße, direkt in seine Arme hinein. Einen Arm um ihre schmale Taille gelegt, die Hand des anderen durch ihr Haar streichend, versank er einen Moment im fast violetten Schein ihrer Augen. Er konnte die Wärme ihres Atems auf seinem Gesicht spüren. Es kitzelte seine Nasenspitze. Als er sie, um dem drohenden Niesen zu entgehen, leicht kräuselte, kicherte Ishara. Ein Laut, an dem er sich nie satthören konnte. Seine Lippen legten sich auf die Ihren. Wärme. Von mangelnder Pflege und ihrem Abenteurerleben waren sie leicht aufgeraut, spröde, doch sie schmeckten nach ihrer konkurrenzlos guten Küche. Das hatte er wohl Ninafer zu verdanken. Wie und warum sie die kleine, alchemistische Reiseausrüstung gegen eine mobile Gewürzküche getauscht hatte, war ihm nicht klar – aber er beschwerte sich nicht, gewiss nicht. Als er sich von ihr löste, fühlte er sich benebelt. Als hätte jemand seinen Kopf mit Daunen vollgestopft. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich das Feuer, doch es konnte nicht all die Rottöne erklären. Oder diesen Ausdruck in ihren Augen. Pure Glückseligkeit ging so viel tiefer als einfache Freude über einen schönen Moment. Beide zogen sich in ihr Nachtlager zurück. Wie erwartet, brauchte es einen Moment, ehe der Radau sie nicht länger vom Einschlafen abhalten konnte. Oder zumindest: Ehe er Ishara nicht länger davon abhalten konnte. Alistair dagegen lag wach, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Seine Verlobte regte sich an seiner Seite, immer mal wieder. Eingeschlafen war sie mit dem Kopf auf seiner Brust, das Ohr über seinem Herzen und den Arm um ihn gelegt, ein Bein angewinkelt und zwischen die Seinen geschoben. Jetzt lag sie eingerollt wie eine Katze mit dem Rücken gegen seine Seite gepresst dicht bei ihm. Besonders kurios wurde es erst, als er irgendwann aus seinen Gedanken aufschreckte und feststellte, dass sie es irgendwie völlig lautlos oder sonstwie von ihm unbemerkt geschafft hatte, sich – im Schlaf obendrein! – quer über ihn zu legen. Das zählte tatsächlich als Leistung, zumindest in seinen Augen. Doch selbst das Lächeln, das daraufhin über seine Lippen zog, war nur ein Geist. Ein Abdruck des wahren Größeren. Er konnte sich nicht recht überwinden, zu lächeln, nicht aufrichtig, nicht ehrlich. Und ein Lächeln, das nicht ehrlich war, war es nicht wert, gelächelt zu werden. Es wäre eine Geste der Höflichkeit, eine Geste von Adligen und Diplomaten und Händlern. Er war nichts davon. Stattdessen machte er sich Sorgen. Jetzt, da niemand hier war, um ihn zu sehen und kaum etwas ihn ablenken konnte… dachte auch er über Esgaroth nach. Die gewaltige Elbenstadt tief in den östlichen Sümpfen, auf die sie zusteuerten. Er dachte über Morgenwandler nach, das dort regierende Haus. Und über Garien, das Oberhaupt eben jenen Hauses, Vater seiner Verlobten und – Thorins einfühlsamen und vorsichtig gewählten Worten nach – „der größte Bastard unter der miefigen Sumpfsonne“. Sie brauchten Gariens Segen. Warum und wozu auch immer. Vermutlich war das es gewesen, was Ishara in den letzten Tagen und Wochen solche Bauchschmerzen bereitet hatte. Er war Dieb, mit Leib und Seele – da herumzuschleichen, wo er nichts zu suchen hatte, gehörte quasi in sein Blut wie die Luft in seine Lungen. Und dabei hörte man Dinge. Schnappte sie im Vorbeischleichen auf. Er kannte die Gerüchte und Geschichten um Isharas ersten Besuch in Esgaroth, darum, wie am Boden zerstört sie danach war. Darum, das Thorin dem hochnäsigen Elb so viele Knochen im Leib gebrochen hatte, das die Heiler ihn über mehrere Tage in säuberlich eingeteilten Schichten mit Heilmagie vollpumpen mussten, damit auch ja nicht eine einzige Narbe auf der makellosen Haut übrig bliebe. Das Gruselige war… das diese Geschichten üblicherweise übertrieben wurden, um für das geneigte Publikum ansprechender zu sein. Üblicherweise. Thorin aber traute er dergleichen tatsächlich zu. Das und noch viel mehr. Der bärbeißige Kahlkopf sprach es nie aus, so wenig wie Ishara ihn je als ihren Vater bezeichnete. Im Gegenteil, harsch ergriff sie gegen jeden das Wort, der diese Zusammenhänge auch nur andeutete. Und dennoch verhielten sie sich genau so zueinander, wie Vater und Tochter es wohl täten. Er hatte nie erfahren, was bei ihrem ersten Besuch in Esgaroth wirklich geschehen war. Auch wenn sie sich tapfer gab, stark und gut gewappnet, wusste Alistair es besser. Er, als Dieb, hatte ein Auge für Schwachstellen. Und Garien war nach wie vor eine frische Wunde, egal wie geschickt sie sich bemühte, das zu übertünchen. Sie brauchten seine Zustimmung. Brauchten sie. Warum? Warum konnte es nicht ein einziges Mal einfach sein? Immer wieder glitt sein Blick zu seinen Kleidern. Dort, in der rechten untersten Tasche. Da war ein Gewicht. Mehr als das Material selbst, wog die Verantwortung. Er hasste Verantwortung. Aber er hatte nicht mehr als den Zettel mit Instruktionen, der dabei lag. Einfach so am Morgen auf seinem Nachttisch gelegen hatte. Das hätte sonstwoher kommen können. Es könnte eine Falle sein. Ein Irrtum. Den Instruktionen zu folgen oder nicht zu folgen, das war seine Entscheidung. Seine… Verantwortung. Er wusste ja nicht einmal, was geschehen würde, wenn er das tat! Die Last drohte ihm die Kehle zuzuschnüren, also tat er, was er immer tat, wenn seine eigenen Sorgen drohten, sein mühsam aufgebautes, heiteres Gemüt zu überwältigen. Er sah Ishara an. Und sie, sie lächelte. In ihren Träumen. Ein sanftes, mildes Lächeln. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, sie rührte sich leicht. Dieses Lächeln ließ ihn für einen Moment vergessen, was jenseits des Zeltes wartete. Oder in der untersten rechten Tasche.   Als er wieder zu sich kam, noch bevor irgendein Sinn ihm irgendetwas über seine Umgebung verraten hatte, runzelte er irritiert die Stirn. Wann und wie war er überhaupt eingeschlafen? Doch geweckt, so realisierte er rasch, wurde er von einem Geräusch. Einem leisen Keuchen. Und dem Gefühl von warmem Atem auf seinem Gesicht. Und dem Gefühl von feuchter Hitze an seinem Oberschenkel. Es dauerte einen Moment, ehe er sich darüber klar wurde, wo er sich befand und, wichtiger noch, in welcher Position. Die Augen aufzuschlagen half dabei deutlich weiter. Er lag halb seitlich, halb auf dem Bauch, das obere Bein angewinkelt – und zwischen Isharas Schenkel gedrückt, die seitlich liegend fast Nase an Nase vor ihm ruhte. Sie atmete leicht beschleunigt. Er spürte jedes Ausatmen leicht prickeln. War sie wach? Träumte sie? Er hatte eine grobe Vorstellung darüber, wovon sie träumen musste – bemessen an dem leichten, fast unhörbar leisen Keuchen, das gelegentlich aus ihrer Kehle drang, und den schwachen Regungen ihres Beckens. Als sie zu allem Überfluss auch noch seinen Namen nuschelte, wurde der Dieb binnen Sekunden feuerrot. Zeitgleich konnte er jedoch auch nicht verhindern, ein absolut unverschämtes Übermaß an Stolz zu verspüren. Was immer er getan hatte, er tat es offenbar gut genug, als Inspiration für ihre Träume zu zählen! Stören wollte er sie indes nicht. Zumindest nicht, solange er nicht wusste, ob sie nun wach war oder nicht. „Ishara…?“, flüsterte er leise, „Lil?“ Sie schreckte regelrecht empor. Offenbar… hatte sie geträumt. Sie atmete schwer, ihre Augen schossen herum, als sie die Umgebung absuchte, nach Gefahr vielleicht. Oder Garien. Oder Thorin. Wobei die wohl beide unter ‚Gefahr‘ gefallen wären. Erst als sie sich unter einem schweren Seufzen auf den Rücken fallen ließ und im Zuge dessen sein Bein freigab, erlaubte sich Alistair wieder, sich zu rühren. „Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich. Sie nickte, noch immer die Röte der Erregung in ihren Wangen. Mit einem beinahe schon hämischen Lächeln ließ er unter der gemeinsam geteilten Decke die Fingerspitzen über ihren Bauch wandern. Sie zuckte anfangs zusammen, ließ ihn dann jedoch gewähren und schauderte wohlig, als er ihre Brust erreichte und die kleine Erhebung darauf auf neckische Weise umspielte. Sie hielt die Lider ein paar Minuten geschlossen und ließ ihn in seinem Spieltrieb gewähren, ehe sie sie öffnete. Auf Knien und Händen ragte er über ihr auf, ein breites Grinsen hellten die Züge auf, doch in seinem Blick stand unverhohlen Gier – und eben jenes Verlangen schlug ihm auch aus ihrem Blick entgegen. Beinahe zärtlich legte sie die Hand in seinen Nacken und zog ihn zu einem innigen Kuss herab. Erst gut eine Stunde später verließen sie das Zelt und begaben sich daran, den Rastplatz abzubauen. Die Verzögerung würde bedeuten, dass sie Zeit verloren hatten und addiert mit all den anderen Verzögerungen, die ihnen auf dem Weg hierher Zerstreuung geboten hatten, wäre die Reise nun wohl um mindestens einen Tag länger als bei ihrem Aufbruch in Samara geplant. Keiner von beiden verschwendete auch nur einen Gedanken daran. Stattdessen strich sich Alistair dann und wann über die roten Striemen an seinen Unterarmen. Kratzspuren, wie sie sich auch auf seinen Schulterblättern fanden. Ein versonnenes Lächeln begleitete seine Fingerspitzen, während sie Seite an Seite so viel Weg zurücklegten, wie sie eben konnten. Ishara fand sich in den Sümpfen natürlich weit besser zurecht als er, der durch und durch ein Stadtkind war.   „Herzogin Lileth Acedia“, kündigte ein Kammerdiener mit leicht näselnder Stimme an. Ishara sandte ihm einen Blick, der – hätte sie nicht gänzlich andere Magie beherrscht – ihn vermutlich in Flammen hätte aufgehen lassen. Und Sekunden darauf wäre er zu Asche zerfallen. Erst als Alistair sie konstanten Schrittes weiter in den ausladenden Raum hinein trug, riss sie sich vom Ziel ihres Unmutes los. Das Arbeitszimmer Garien Morgenwandlers war beinahe schon einschüchternd. Es glich vielmehr einer großen Halle, die mit dem Ziel im Hinterkopf gebaut worden war, jeden Besucher wissen zu lassen, wie klein und unbedeutend er war. Gariens gesamtes Anwesen war, wie alle Häuser Esgaroths, in einen Baum hineingebaut. Oder vielmehr, hineingewachsen. Die Meisterarchitekten Esgaroths bedienten sich natürlich nicht des Steines, benötigten weder Mörtel noch Kelle. Sie sangen, sie flüsterten und sie dichteten, um die Bäume darum zu ersuchen, die Strukturen wachsen zu lassen, die den elbischen Anforderungen an Bequemlichkeit und Wohnlichkeit entgegen kamen. Wer immer Gariens Anwesen herbeigeträllert hatte, musste dafür viel Zeit investiert haben. Alles war, wie elbische Art, natürlich aus Holz. Hölzerne Wände, Decke, Boden, Tische, Stühle, sogar die Lampenposten, in denen vermutlich Glühwürmchen flattern und für Licht sorgen würden, waren aus Holz. Und nichts davon war behauen oder gehobelt worden. Alles hatte Rinde und schien natürlich gewachsen. Die Stühle hatten Rinde, rundherum abgeschlossen, so wie der Tisch, so wie schier alles – doch da, wo es nötig war, auf Sitzflächen beispielsweise, war sie erstaunlich weich und glatt. Egal, wie oft Alistair die Städte der Elben besuchte, egal wie unfreundlich das spitzohrige Pack auch sein konnte, egal wie arrogant und egal wie wenig Wertsachen man bei ihnen finden konnte, wenn man es nicht unbedingt auf unzerstörbare Ohrringe anlegte oder auf Perlkämme, die beim ersten Strich für seidig-glattes Haar sorgten: Die hier gewirkte Magie war stets und allzeit ein Augenöffner für ihn, etwas zum Bewundern und Bestaunen. Zu zweit traten sie an den großen Arbeitstisch heran, hinter dem der hoch gewachsene, schwarzhaarige Elb saß und auf seinen Pergamentrollen herumkritzelte. Er hatte bei ihrer Ankündigung nicht einmal aufgesehen, also nahmen sie sich im Umkehrschluss die Freiheit heraus, sich unaufgefordert zu setzen. „Hast du also endlich diese Unsitte aufgegeben, hm?“, begann Garien, noch immer ohne aufzusehen, „Weißt du endlich besser, das es dir nicht zusteht, diesen edlen Namen ohne meine Zustimmung zu führen? Für dich ist es ohnehin klüger, dich auf das schwächliche Blut deiner Mutter zu besinnen.“ Alistair zuckte leicht zusammen, so als habe man ihn geschlagen. Ishara dagegen… nun er sah, wie sie sich leicht in den hölzernen Armlehnen verkrallte, aber sie blieb erstaunlich ruhig und gefasst. Er hatte erwartet, sie würde über den Tisch springen und ihm seine Feder in die Kehle rammen – niemand, absolut niemand beleidigte ihre Mutter. Das hatte er oft genug erlebt und sich erzählen lassen. Doch was ihn so getroffen hatte, war nicht etwa die Reaktion, die er seitens Ishara erwartete. Sondern vielmehr Gariens Wortwahl… und die äußerst präzise Vorhersage, die damit erfüllt worden war. Unbewusst wanderte seine Hand in die rechte unterste Tasche seiner Jacke und umklammerte die kleine Notiz mit den Instruktionen. Anbringung an der Vorderseite: Er beleidigt ihre Mutter als schwach. „Und was soll das kurzlebige Unkraut hier?“, hakte der Elb weiter nach. Obwohl er selbst gerade beleidigt worden war, genügte die rasche Anknüpfung ohne eine Chance auf Eskalation doch, Alistair ein wenig zu beruhigen. An ihm selbst prallten Gariens Worte völlig wirkungslos ab. „Garien“, hob Ishara leise an. Es klang… absurd, völlig absurd. Doch Alistair mischte sich nicht ein. Sie mochte diesen Mann nicht. Mehr als das. Vielleicht, selbst wenn sie es sich selbst nicht eingestehen wollte, hasste sie ihn sogar. Sie würde ihn nie und nimmer ‚Vater‘ nennen. Doch alledem zum Trotz, war er Familie. Und Familie, so hatte sie bitterlich lernen müssten, konnte man sich nicht immer aussuchen. ‚Herr Morgenwandler‘ war daher wiederum schlicht zu förmlich. Dass sie ihren Nicht-Vater beim Vornamen ansprach, klang dennoch… schlicht absurd. „… ich möchte dir Alistair Kil-Faas vorstellen, aus Lairuinen. Meinen Verlobten.“ Er war schlichtweg stolz auf sie. Ishara zitterte leicht, er konnte es sehen. Und würde sie sich nicht mit aller Macht in der Armlehne des Stuhles verkrallen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, sie hätte vermutlich selbst für nichts mehr garantieren wollen. Aber ihre Stimme blieb ruhig, sie blieb ruhig, gefasst. Höflich und distanziert und sachlich. Sie bemühte sich mit all ihrer Willenskraft – und davon, so wusste Alistair, hatte sie nicht wenig. Nach einem Moment sah Garien schließlich auf. Er musterte Ishara eindringlich und deutlich abwertend, würdigte ihn jedoch keines Blickes. „Einen ungebildeten, nutzlosen Dorftrottel schleppst du mir an, hierher, in mein Haus, um jede Form von Vernunft und jeden Tropfen an dich verschwendeten elbischen Blutes mit der Entscheidung deiner Vermählung zu verhöhnen – wozu genau nochmal?“ Anbringung an der Rückseite: Er beleidigt dich als Dörfler. Der Schwarzhaarige harrte einen Moment aus, schien auf Isharas Antwort zu warten. Die jedoch hatte sich noch ein wenig stärker in die Armlehnen gekrallt und schien all ihre Willenskraft zu benötigen, um nicht auf ihren Vater loszugehen. Blut trat an der einen oder anderen Fingerkuppe hervor, leicht nur und für den Moment unbemerkt von allen außer Alistair, der seinen sorgenvollen Blick auf Garien richtete. Würde der Dummkopf sie weiter so provozieren, bräuchte er sich nicht darüber wundern, wenn sich die Ereignisse ihres ersten Besuches wiederholten und er schon wieder eine gewaltige Tracht Prügel bekam. Ishara hatte viel gelernt, das wusste der Dieb – viel von Thorin, insbesondere. „Ha!“, lachte der Elb plötzlich auf. Alistair zuckte erschrocken zusammen und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. „Du kommst angekrochen, um dir meinen Segen zu erbetteln?!“, platzte es regelrecht aus ihm heraus. Was folgte, war das gekünsteltste und dennoch zugleich grausamste Lachen, das Alistair seit vielen Jahren gehört hatte. „Glaubst du, ich würde mit dem fortschreitenden Alter einfältig und vergesslich werden wie dieses zerbrechliche Gewürm, das du mir da angeschleppt hast? Da kommt der vermutlich größte Fehler in meinem Leben zu meiner Tür hereinspaziert, besudelt mein Haus mit seiner Präsenz, schleppt dieses Ungeziefer ein, stinkt nach ihm, das die ganze Stadt es schon wissen muss… und bittet um meinen Segen?!“ Anbringung an der Ostseite: Er bezeichnet Ishara als Fehler. Als sie nicht länger an sich halten konnte, sprang Lileth auf. Die Fäuste geballt, war sie kurz davor, ihm das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. „Wenn du mir auch nur ein Haar krümmst“, hob er jedoch rechtzeitig an, noch immer unangenehm selbstsicher lächelnd und lehnte sich in seinem Stuhl ein wenig zurück, „dann werden die Elben ganz Lumiéls erfahren, wie dieses selbstgerechte Rebellenpack seine Verbündeten behandelt!“ „Das hat hiermit überhaupt nichts zu tun!“, schrie sie ihn aus vollster Kehle an, die Stimme zitternd vor Zorn. Garien aber lehnte sich nur noch ein Stück tiefer in seinen Stuhl, ließ das Lächeln noch ein wenig breiter werden. „Du bekommst Igloria und Galanthyr“, warf Lileth verzweifelt ein. Es gab nicht allzu viele Dinge, mit denen sie Garien Morgenwandler in die Gefügigkeit zwingen konnte. Immer wieder und wieder war sie mit ihm ihre Argumente durchgegangen. Jetzt aber, die Fäuste geballt, zitternd vor Wut und Verzweiflung und Hilflosigkeit, da schien sie all ihre Reden vergessen zu haben. Der Schwarzhaarige hingegen erhob sich langsam, ruhig, noch immer dieses falsche Lächeln zur Schau tragend. „Die Westelben waren verweichlicht genug, ihr Spielzeug in schwache Hände fallen zu lassen, also sollen sie die Konsequenzen ihres Versagens ruhig selbst ausbaden. Ich habe genug Zeit an dich verschwendet, mehr als dir je zugestanden werden sollte. Kammerdiener – dieses Pack wünscht zu gehen.“ Anbringung an der Westseite: Er lehnt ab.   Er war besorgt. Weit mehr als das. Und kein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, kein Leuchten in seinen Augen. Nur Kummer und Sorge. Was Garien über ihn gesagt hatte, ließ Alistair völlig kalt – nicht so jedoch der Effekt, den es auf Ishara hatte. Wie betäubt lief sie neben ihm her, blass war sie geworden und gab kein Wort von sich. Sie wurden die aus der äußeren Rinde herausgewachsenen Treppenstufen herabgeführt, die wie eine Spirale am Baum entlangführten. Man hatte sie des Hauses verwiesen. Rausgeworfen, gewissermaßen. „Was machen wir jetzt?“, erkundigte sich Alistair ratlos. Sie zuckte mit den Schultern. Wenn sie nicht einmal mehr ein ‚Ich weiß es nicht‘ herausbrachte, dann war es ernst, sehr ernst. Er konnte nicht einmal erahnen, wie gewaltig der Schaden sein musste, den Garien mit so wenigen Worten angerichtet hatte. Schon wieder. Einen Moment standen sie einfach nur dort, am Waldboden, karg und mit nur wenig Unterholz, während hoch droben über ihren Köpfen eine ganze Stadt in den Baumwipfeln stand. Der Sumpf war hier nicht ganz so präsent wie überall um die Stadt herum und dennoch hörte er. Oder hörte eben nicht. Das glitschige Geräusch sich aus dem Schlamm hebender Stiefel bei jedem Schritt. Sie standen einfach dort, schweigend. Und hinter ihren Augen sah er das Zerbrechen von Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, Hoffnungen. Manche davon brachen schon zum zweiten Mal, nachdem sie nur mager nach der ersten Katastrophe hatten gekittet werden können. Es war ein Anblick, den er einfach nicht ertragen konnte. „… warte hier“, entschied er schließlich und eilte mit raschen Schritten zurück. Sie wandte sich nach ihm um, rief ihn beim Namen, so viel bekam er mit. Doch Alistair war zu konzentriert auf die vor ihm liegende Aufgabe. Die unmarkierte Seite gegen die Rinde drücken. Arbeite schnell, es gibt in der Stadt viele Wachen. Aus der Tasche zog er einen handtellergroßen Gegenstand hervor. Der Erste von vier. Eine Seite war mit einer merkwürdigen zwergischen Rune verziert, die andere Seite glatt und kühl. Es fühlte sich nicht wie Metall an. Eher wie… Ton vielleicht? Er presste das Stück gegen die Rinde des Baumes und sehr zu seiner Überraschung leuchtete die nun nach außen zeigende Runde schwach auf, während die an der Rinde anliegende tönerne Seite regelrecht mit dem Holz zu verschmelzen, darin einzusinken schien. Jede Runde presste er in der korrekten Abfolge an der korrekt ausgerichteten Stelle an ihren Platz. Und mit jeder weiteren Rune begannen die bereits installierten heller zu leuchten. „Alistair? Was machst du da? Was ist das?!“, erklang ihre magere, noch immer zittrige Stimme, als er den gewaltigen Baum einmal umrundet hatte und wieder am Anfang ankam. „Ich weiß nicht genau“, gab er zu, „Als ich am Tag unserer Abreise aufgewacht bin, lagen diese vier Runen auf meinem Nachttisch, zusammen mit der Anweisung, wie und wann ich sie verwenden soll.“ Er drückte ihr beiläufig die Instruktionen in die Hand. Es sollte als Ablenkung genügen, während er den letzten Schritt ausführte. Nenne ihren Namen. „Ishara Lileth Acedia“, sprach er selbstsicher. Und nichts geschah. Er wartete einen Moment, doch als sich tatsächlich nichts veränderte, runzelte er leicht die Stirn. „Ishara Morgenwandler?“ Nichts. „Lileth Acedia?“ Nichts. Inzwischen hatte sie die Anweisungen bis zum Ende gelesen. „Ich verstehe das nicht“, hob er irritiert an und blickte zu ihr, „Mache ich was falsch, Lil?“ Es wäre ja nun wirklich nicht das erste Mal gewesen, das ihm Magie in die Hände gelegt wurde und nicht alles völlig nach Plan lief, nur- Ein gleißendes Licht ging von den Runen aus. Wie ein Band wob es sich horizontal um den Baumstamm, von einer Rune zur Nächsten. Dann zog sich das Band unter den erstaunten Blicken beider zusammen, enger und enger… und völlig absurd wurde alles spätestens in dem Moment, als der Baum begann, zu schrumpfen. Das gewaltige Ungetüm, der größte Baum ganz Esgaroths… schrumpfte. Nicht binnen Minuten, nein – es dauerte kaum zwanzig Sekunden, da war aus dem unnatürlich gewaltigen Trieb plötzlich ein kleines grünes Etwas geworden, das man als Miniatur bequem auf die Handfläche stellen konnte. Garien und ein halbes Dutzend Bediensteter, die sich zum Zeitpunkt des Geschehens im Haus aufgehalten hatten, hatten nun entweder nicht das Glück – oder nicht das Pech – mit dem Haus geschrumpft zu werden. Stattdessen fanden sie sich in sich stetig verkleinernden Räumen wieder und flüchteten zuletzt auf die ehemals stattlichen Äste, von denen einige bald schon zu schwach waren, um das gleichbleibende Gewicht der Elben zu tragen. Es regnete also einige Elben um den Baum herum, einer davon schwarzhaarig, ebenso überrascht wie alle anderen, aber einen umso ungnädigeren Blick auf Ishara werfend, kaum dass er sich aufrichtete. Völlig außer sich vor Zorn stürmte der Hausherr auf seine Tochter zu. „Du wirst das sofort rückgängig machen“, keifte er sie rasend an, „Hast du auch nur die geringste Ahnung, was dieses Anwesen wert war? Was es bedeutete? Welche Geschichte es hatte? Denkst du überhaupt über irgendetwas nach? Konsequenzen, beispielsweise?“ Während Gariens beinahe tollwütig gekeifte Tirade sich in die Länge zog, entsann sich Alistair der letzten Zeile auf der Notiz. „Das Siegel deaktiviert die Runen“, nuschelte er leise und in Gedanken, schreckte aber aus Selbigen auf, als Gariens scharfes „Was?!“ sich an ihn richtete und sein brennender Blick sich auf den Nordländer legte. Der Dieb wiederholte den Satz: „Da stand noch, ganz unten: Das Siegel deaktiviert die Runen. Nein… nein warte…“ Bevor er nach der Notiz kramen konnte, hob Ishara Selbige empor, die sie noch immer in ihrer Hand umklammert hatte – und las diese letzte Zeile laut vor. „Jede Rune gibt eine Minute. Das Siegel deaktiviert die Runen. Ist die Zeit verstrichen, bleiben sie aktiv.“ Noch immer klang ihre Stimme unangenehm verfremdet, mechanisiert. Doch in ihren Augen tanzte ein Funke, den Alistair nicht recht einzusortieren vermochte. Genugtuung vielleicht? Hoffnung? Oder Kummer? Fühlte sie sich verraten, weil er ihr davon nichts gesagt hatte? „Wie viele Runden? Wie viele?!“, keifte Garien, packte Alistair bei den Schultern und schüttelte ihn. Es bedurfte Isharas und Alistairs vereinte Mühen, um beide voneinander zu trennen. „Vier!“, gab der Nordländer dennoch zurück. „Vier? Vier?!“, schrie der Elb regelrecht. Sein rasender Zorn begann sichtlich in Panik umzuschwenken, als er zu rechnen versuchte, wie viel Zeit er wohl durch seine Tirade an Beleidigungen verschwendet haben mochte. Hastig zog er den Siegelring von seinem rechten Ringfinger. „Wohin mit dem verdammten Ding?!“, fauchte er. In einer etwas überforderten Geste hob Alistair Isharas Hand mit der Notiz und drehte Selbige auf die Rückseite. Erst nach dem ersten Aufdruck wurde Garien bewusst, dass der Ring trocken war. Mit einem rasch gezückten Kräutermesser verletzte er eine der Pflanzen zu ihren Füßen, tränkte den Ring in ihrem grünlich schimmernd hervortretenden Saft und presste den Siegelring erneut auf das Papier. Die Reaktion erfolgte unmittelbar und unter drei überraschten Augenpaaren. Die dunkel durchschimmernde Schrift der Vorderseite verblasste, verschwand schließlich völlig, während auf der soeben mit dem Siegel versehenen Rückseite neue Schrift auftauchte, in der gleichen, feinen Handschrift wie die Instruktionen. Ich, Garien Morgenwandler von Esgaroth, achter Fürst des Hauses Morgenwandler von Esgaroth und fünftes Mitglied im Großen Rat, gebe hiermit meinen Segen für die Vermählung meiner Tochter, Herzogin Ishara Lileth Acedia, mit Alistair Kil-Faas. Ich spreche diesen Segen freiwillig und unter Zeugen aus sowie im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Mögen die Götter ihnen kräftige Nachkommen und ein von Glück gesegnetes Haus bescheren. Darunter fand sich nun Gariens Siegel. Darunter fand sich nun Gariens Siegel. Alistair begann herzhaft zu lachen. Er schnappte hastig die Notiz, als er auch nur ein Zucken in Gariens Arm sah und verstaute sie eilig in einer seiner zahllos vielen Taschen. Der Elb versuchte zwar, seinen Handbewegungen zu folgen, doch ein Knacken und Knirschen hinter ihm erregte seine Aufmerksamkeit und lenkte ihn ab. Wie angekündigt, hatten die Runen zu leuchten aufgehört und das Band aus Licht war verschwunden – ein Umstand, der erst auffiel, als der Baum sich neu verwurzelte und allmählich wieder größer und größer wurde. Alistair und Ishara tauschten kurze Blicke aus. Ihnen beiden war klar, was nun folgen würde. „Ich soll dir noch etwas von Thorin und Ninafer ausrichten“, hob Ishara erstaunlich gefasster Stimme an. „Was will dieser Hurenbock denn no-“, doch weiter kam Garien nicht. Er wandte sich just zu seiner Tochter um, als deren Faust äußerst schmerzhaft mit dessen Nase kollidierte. Ein trockenes Knacken war unangenehm laut zu vernehmen, bevor es den Schwarzhaarigen zu Boden warf. Lileth aber nahm keine Rücksicht darauf. Sie kramte einen kleinen Lederbeutel hervor, über dessen Sinn und Nutzen Alistair sich schon eine Weile gewundert hatte, hob eine Prise eines gräulichen, aber sanft schimmernden Pulvers auf ihre Handfläche und blies es dem Elb entgegen. Ein fürchterliches Gekreisch drang daraufhin aus der kleinen, glitzernden Wolke hervor, in der irgendwo Gariens Kopf steckte, während dessen restlicher Körper sich wie in Krämpfen oder Agonie wandte. „Wir sollten gehen, schnell!“ erklärte Alistair eifrig. Ishara warf noch einen letzten Blick auf ihren ‚Vater‘ – diesmal war die Genugtuung in ihren Augen mehr als eindeutig -, ehe sie sich von ihrem Verlobten fortziehen ließ. Lachend jagten sie zwischen den Bäumen hindurch, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. Es dauerte kaum zehn Minuten, da waren die erfahrenen und kriegserprobten Jäger Esgaroths ihnen auf den Fersen, doch Isharas Sinne, ihre Magie und nicht zuletzt Alistairs Glück und Gespür für Schlupfwinkel und Fluchtrouten schien nur eine überdeutliche Botschaft zu senden: Es gab keinen Ort auf dieser Welt, vermutlich auch nicht in irgendeiner anderen, den sie gemeinsam nicht nach Belieben betreten oder verlassen konnten.   „Weißt du, es ist seltsam…“, merkte Ishara leise an, als sie den Raum betrat und sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen lehnte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und besah sich, mit einer Braue gehoben, Thorin, wie er gerade an seinem Tisch saß und über einem Stapel Gesetzesentwürfe zu brüten schien. Als ihre Stimme erklang, sah er auf, den schwachen Abglanz eines Lächelns tragend, ehe er sich erhob und den Tisch umrundete. Er schloss sie in die Arme, kurz, aber herzlich, ehe er sich von ihr löste. Die Hände auf ihren Schultern, besah er sie genauer. „Du siehst gut aus. Also, den Umständen entsprechend gut. Nicht zu sehr abgemagert, keine tiefen Furchen unter den Augen, keine Rötungen darin.“ Lileth rollte mit den Augen. „Ja, stell dir vor, du kannst mich ihm mitgeben und er passt auf mich auf. Denn er und nur er allein ist fähig, darauf zu achten, dass ich etwas esse. Ich selbst kann nämlich nicht auf mich achtgeben. Wenn man mich mal drei Herzschläge aus den Augen lässt, renne ich sofort in Fallen, in Wachtruppen oder höre auf, zu essen, zu trinken, zu schlafen und zu atmen.“ Der Krieger gab sich redlich Mühe, doch nach ein paar wenigen Augenblicken begann er zu grinsen. Da er damit technisch betrachtet verloren hatte, ließ auch Ishara zu, das ihr Grinsen durchbrach. Der Hüne jedoch wandte sich wieder ab und kehrte zu seinem Arbeitstisch zurück. „Als du hereinkamst, meintest du, etwas sei seltsam?“ Sie nickte und griff den Faden wieder auf. „Alistair fand vor unserer Abreise ein kleines Präsent auf seinem Nachttisch. Da muss jemand verdammt gut gewesen sein, um es von ihm unbemerkt dorthin zu bringen.“ „Er ist nicht der einzige Dieb in Lumiél, weißt du?“, erwiderte Thorin, ohne von den Dokumenten aufzuschauen. „Mag sein – aber er ist der Beste“, erwiderte Ishara lächelnd, „Und es waren Runen, obendrein. Du hast nicht zufällig Garwinn in letzter Zeit etwas Neues entwickeln lassen?“ „Garwinn ist ein vielbeschäftigter Zwerg und auch nicht der einzige Runenschmied in Lumiél“, erwiderte Thorin einmal mehr, ohne aufzuschauen. Lileth nickte. „Da hast du natürlich Recht. Aber dann war da noch das Papier, dessen Schrift sich umgeformt hat, als das Siegel darauf gedrückt wurde. Das ist ziemlich komplizierte Magie. Meister Lamerak und Meisterin Tanveer haben nicht zufällig etwas damit zu schaffen gehabt?“, setzte sie ihr kleines Verhör fort. „Die beiden sind sehr beschäftigt in Sundergrad. Sie an sowas arbeiten zu lassen hätte einen immensen organisatorischen Aufwand bedeutet, ganz zu schweigen davon, dass sie nun wirklich Besseres zu tun gehabt hätten“, gab Thorin weiterhin stur zurück. „… hätten…?“, echote Ishara lediglich mit einem triumphierenden Grinsen. Als Thorin aufsah, erklärte sich völlig von selbst, warum er zuvor nicht einmal den Blick gehoben hatte – selbst er hatte nicht das breite Grinsen verbergen können, nicht vor ihr, das nun seine sonst so stoische, steinerne Miene aufweichte. „Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst“, erklärte er noch ein Stück breiter grinsend. „Natürlich nicht“, erwiderte Lileth und musste sich arg beherrschen, um nicht zu lachen. Thorin senkte seinen Blick wieder auf die Dokumente und eine kleine Weile lang blieb es ruhig. Erst nach einigen Minuten stieß sich Lileth mit einem leichten Kopfschütteln, noch immer schmunzelnd, vom Türrahmen ab und trat an den Arbeitstisch herüber. „Danke“, flüsterte sie leise, ehe sie Thorin einen Kuss auf den kahlen Schädel drückte, „für alles.“ Sie ließ ihn mit seiner wenig erfreulichen Arbeit zurück und schloss die Tür beim Gehen. Wie erwartet, lehnte Alistair mit dem Rücken an der Wand direkt neben dem Ausgang. Ein breites Grinsen umspielte seine jugendlich wirkende Miene. „Ich kam vorhin an der Küche vorbei“, begann er in verschwörerischem Flüsterton. „Und?“, erwiderte sie ebenso flüsternd und ließ sich damit auf das gemeinsame Spiel ein. „Sie haben erst in zwei Tagen mit unserer Rückkehr gerechnet und wissen noch nicht, dass wir früher zurückkehrten.“ Er ließ eine bedeutungsschwere Pause verstreichen, ehe Alistair sich noch ein Stück näher zu Ishara herüber beugte, bis kaum noch ein paar Millimeter sie voneinander trennten. Seine Lippen an ihr Ohr gebracht, schauderte sie leicht, als sein warmer Atem darüber streichelte. „Es sind gerade mehrere Bleche mit Törtchen im Ofen…“ Seine Zungenspitze fuhr geschickt unter ihr Ohrläppchen, er hob es zwischen seine Lippen und übte mit den Zähnen vorsichtig ein klein wenig Druck aus, knabberte an ihr herum und entließ sie erst nach einem Augenblick. Sie stand vor ihm, die Augen genießerisch geschlossen, der Atem leicht beschleunigt. Als sie die Lider wieder aufschlug, lag ein unbeugsamer Spieltrieb in ihren Augen. „Dann nichts wie los!“, flüsterte sie zurück, packte ihn beim Handgelenk und zog ihn mit sich davon. Nur das die Küche in der anderen Richtung lag. Aber die Törtchen würden sowieso erst noch abkühlen müssen…   Thorin hingegen legte die Gesetzesentwürfe bei Seite, kaum das Ishara das Zimmer verlassen und die Tür geschlossen hatte. Von Daeris Entwürfen schwirrte ihm der Kopf, er verstand sowieso schon nur die Hälfte. Dessen ungeachtet, hatte sich das Lächeln hartnäckig auf seinen Lippen eingegraben. Er starrte auf die Tür, durch die Ishara gerade erst verschwunden war. „Jederzeit“, murmelte er leise. Kapitel 40: Ich will brennen ---------------------------- Als die ersten zarten Strahlen der frisch geborenen Morgensonne durch das Fenster des oberen Stockwerkes fielen, da tänzelte ihr Licht über die Züge eines Gesichtes, dessen Furchen und Kerben das Zeugnis von Erfahrung und schwierigen Lernprozessen waren. Längst nicht alle jener Unregelmäßigkeiten waren nur dem Altern geschuldete Falten, es fanden sich auch genug Narben darunter, die Rückschluss gaben, nicht nur auf die gewalttätige Natur der Welt, in der wir leben, sondern vielmehr noch auf die ereignis- und konfliktreiche Wesenheit eben jenes Lebens, das sich mit sanften Atemzügen in jenem Brustkorb unter der dünnen Decke hob und senkte. Es dauerte nur wenige Minuten, ehe das hereinbrechende Licht sein Werk vollbracht hatte und sich die träge wirkenden Lider langsam öffneten, probehalber, als müssten sie zunächst prüfen, ob ihre Funktionalität noch immer gegeben war. Erst nach mehrfachem Blinzeln schien eben dieser Test abgeschlossen. Die Gestalt unter der dünnen Decke rollte sich träge auf die Seite, bot dem aufsteigenden Tag nur den Rücken dar, die sprichwörtliche und wortwörtliche kalte Schulter, während ein Gröhnen der Kehle entwich. „Ugh…“ Es verklang, leise und ungehört, in einem spartanisch eingerichteten Raum. Das Anwesen war groß genug, um zwei Familien stattlichen Umfanges unterzubringen, doch längst hatten Protz und Prunk ihren Charme verloren. Nicht, das es jemals um das äußere Erscheinungsbild gegangen war. All die Teppiche, all die Büsten, all die Gemälde hatten ihren Zweck gehabt. Sie waren von tatsächlichem Nutzen gewesen. Und die mangelnde Pflege, die Nutzung ohne Schaffung neuer Reserven, hatte nach und nach zu ihrem Verbrauch geführt. Dieser Tage war das Haus fast leer. Nur Wände aus kahlem Stein, Decken, Böden, Türen aus schlichtem Holz und Fenster aus schlichtem Glas. Was keinen gesteigerten Nutzen besaß, war irgendwann verkauft worden, um die tägliche Routine zu unterstützen. Eine Routine, die im Begriff war, zu starten, als zwei Füße sich unter der Decke hervor ins Freie schoben und umständlich auf dem Boden aufgesetzt wurden. Ein kurzes Schaudern angesichts der kalten Berührung des Steines. Auf dem Nachttisch stand ein Becher mit Wasser, direkt neben der am Vorabend aufgefüllten Wasserkaraffe. Ein kleines, tönernes Schälchen mit einer grünlichen Paste darin wartete. „Wollen wir mal“, tönte eine belegte Stimme. Ein Zeigefinger wanderte in die Paste, hob etwas davon auf die hervorgestreckte Zunge, ehe er den bitteren Geschmack mit Wasser herab zu spülen versuchte. Er schüttelte sich vor Ekel, beherrschte jedoch die Übelkeit und hievte sich schließlich umständlich auf die Beine empor. Sein Rücken schmerzte leicht, seine Glieder fühlten sich bleiern an, ihm war kalt, am gesamten Leib. Alles vertraut. Nicht so seine Hände. Ein unsicherer Blick aus jenen grünen Augen legte sich auf die Fingerglieder beider Hände, abwechselnd die Bewegungen verfolgend, die die Hände probehalber ausführten. Krümmen, strecken, krümmen, strecken, Faust ballen, flache Hand, krümmen, flache Hand, Strecken, Faust ballen. Ein leichtes Prickeln fuhr jedes Mal durch seine Finger, seine Hand, seine Unterarme herauf. Nicht die Art, die ein wohliges Schaudern hervorriefe, sondern die tausenden von feinen Nadelstichen, die etwas Unangenehmes markierten. Das war neu. Die ohnehin leicht gefurchte Stirn legte sich in tiefere Falten, doch er entschied, es vorläufig zu ignorieren. Sein weiterer Weg führte ihn zunächst in die Küche. Die meisten Schränke waren leer, er gab sich inzwischen nicht einmal mehr die Mühe, sie auf Inhalte zu kontrollieren. Ein paar Feuerkäfer hatten sich hier und da eingenistet. Ratten und Schaben dagegen suchte man, trotz vieler Möglichkeiten, in diesem Haushalt vergebens. Sie mieden das gesamte Gelände. Überlebenskünstler wussten, wo sie keine Chance hatten. Nach einem überaus kargen Frühstück, lediglich ein wenig Getreide mit Milch und Saft aufgegossen, stieg er die Stufen herab, vom Erdgeschoss in den sehr kleinen, überschaubaren Kellerraum. Hier fand sich die einzige andersartige Tür im gesamten Anwesen. Eine schwere, massive Stahltür mit vielerlei Runen daran, die im Licht der kleinen Öllampe schwach schimmerten. Er hängte die Lampe an den Haken an der Decke, direkt vor dem Eingang, ehe er die Tür aufzog, in den pechschwarzen Raum trat und die Pforte hinter sich schloss. Ein schwerer Metallriegel fiel hinter ihm zu und die Runen leuchteten ein klein wenig stärker, nun da der Kreislauf geschlossen war und die Magie korrekt wirken konnte. Der Schimmer der Zwergenrunen war gerade stark genug, dass er die Umrisse erkennen konnte. Ein kleiner, mit weißen Steinen markierter Pfad führte von der Tür direkt zur Raummitte, wo ein mit aufwendigen Stickereien verziertes Samtkissen auf ihn wartete. Rund um das Kissen herum war der Boden mit aufwendigen Zeichnungen versehen. Schnörkel und Linien formten ein Geflecht, scheinbar aus Ranken, doch darin verborgen lagen Schriftzeichen einer Sprache, so alt, das niemand sie mehr recht zu übersetzen wusste. Er nahm mit wenigen Schritten auf dem Kissen Platz, positionierte sich im Schneidersitz, den Rücken gerade durchgestreckt, die Hände auf den Knien aufliegend. Langsam glitten die Augenlider herab, während der Raum heller zu werden schien. Er spürte die Wärme aufsteigen, spürte, wie etwas sein Innerstes heizte, wie es von seiner Haut abstrahlte, die Kälte aus seinen Knochen und seiner Umgebung vertrieb. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Heute mehr denn je, aus Gründen, die er sich nicht erklären konnte. Immer wieder drifteten seine Gedanken ab. Zu seinem Kummer darüber, wie er ein Stück aus der Eingangshalle verkauft hatte. Zu jenem Kummer, der sich unzählige Male in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen wiederholt hatte, ein jedes Mal wieder, wenn er ein weiteres Stück verkaufte. Oder leerte. Oder verbrauchte. Seine Gedanken drifteten zu dem Verlust, der all dies bedingt hatte. Und zu seinem morgendlichen Ritual, zu seiner tagtäglichen Routine, von der er mit verbissener, eiserner Sturheit nicht abwich, und das seit siebzehn Jahren, zwei Monaten, einer Woche und sechs Tagen. Ein schweres Seufzen drang aus seiner Kehle, als er sich diese horrend hohe Zahl verdeutlichte. Sollte er aufgeben? Es einfach sein lassen? Er fragte sich das nicht zum ersten Mal. Doch wie jedes Mal zuvor, stieß er schließlich auf eine Mauer aus Unwille, aus Trotz und Sturheit und dem brennenden Verlangen, Dinge zu korrigieren, die sich der Grenzen seiner Macht und Einflussnahme entzogen. Für Thorin hatte das doch auch immer funktioniert, oder etwa nicht? Der war auch nur ein Mann gewesen, der sich irgendwann einfach zu viel vorgenommen hatte. Aber nun kannte ihn die ganze Welt und viele einfältige Knaben und tumbe Abenteurer nahmen sich ein Vorbild an ihm, glaubend, das jeder Bursche diese Leistungen wiederholen könnte. Nicht jeder konnte das. Nicht jeder hatte das Zeug dazu. Die Kraft. Den Willen. Aber er, er war nicht bereit, zu glauben, dass er zu dieser unfähigen Mehrheit gehörte. Noch immer, nach über siebzehn Jahren, war er nicht willens, aufzugeben. Mit neuer Entschlossenheit bestärkt, öffnete er die spröden Lippen leicht. „Kaleran“, sprach er aus. Ein Impuls schoss durch seinen Leib. Er sammelte, fokussierte, entlud und lenkte. Kleine, magische Stöße, die durch seinen Körper jagten und sich in den Raum um ihn herum verteilten. „Kaleran“, wiederholte er ein paar Augenblicke später. Der Gedanke war ebenso bahnbrechend, wie er dämlich war. Und in seiner Idiotie schon wieder genial. Es gab nur wenige Kräfte in dieser Welt, die ihm geben konnten, wonach er verlangte. Die einfachste dieser Kräfte war der Chronist, der seine Finger seit jeher im Spiel zu haben schien, der heimlich Strippen zog – manchmal auch nicht so heimlich -, und sich der merkwürdigsten Mittel und Methoden bediente, um seine Ziele zu erreichen. Was immer das im Detail sein mochte. Es mutete geradezu lächerlich an, wenn man sich die Geschichten durchlas. Einen Bauern sechshundert Jahre in die Vergangenheit schicken, damit er ein Schwein blau anmalte? Eine ganze Abenteurergruppe dreihundert Jahre in die Vergangenheit schicken, damit sie verhinderten, dass ein Bote noch am selben Abend die Stadt verließ? Aber am nächsten Morgen durfte er aufbrechen. Ein Kind fünfzig Jahre in die Vergangenheit schicken, damit es der eigenen Mutter, noch während die im Kindsalter war, ein Bein stellte? Manche dieser Aufträge waren absurd. Andere… waren beängstigend. Den Prinzen töten, der vor zwölfhundert Jahren an Friedensgesprächen teilnahm – und damit den Krieg neu entfesseln. Den Magier umbringen, der vor zweitausenddreihundert Jahren seinen Turm über einem magischen Fixpunkt errichtete, um die geologische Aktivität zu kontrollieren – und damit bewirken, dass der gesamte Kontinent auseinander bricht. Es ließ einen mit dem Gedanken zurück, das der Schlag eines Schmetterlingsflügels vielleicht tatsächlich am anderen Ende der Welt den Sturm des Jahrtausends auslösen könnte – sofern es nur der richtige Schmetterling zur richtigen Zeit am richtigen Ort wäre. Wer den Verstand dafür besaß und sich genug in diese Gedankenspiele hineingrub, der konnte entweder selbigen leicht verlieren, oder musste irgendwann schaudernd erkennen, welch ungeheure Macht jemandem zueigen sein musste, der die Welt nicht aus sterblichen Augen sah, sondern mit einem Blick für die Wahrscheinlichkeiten. „Kaleran“, wiederholte er in regelmäßigen Intervallen. Die Idee hierzu hatte natürlich von einem Goblin kommen müssen. Alles andere wäre noch lächerlicher gewesen, als diese ganze Sache es ohnehin schon war. Der Chronist hörte, wann immer sein Name ausgesprochen wurde – so zumindest die Legende. Und konnte man den Berichten glauben, die in Zusammenhang mit seinem Erscheinen standen, war da etwas dran. Warum also nicht versuchen, auf sich aufmerksam zu machen? Nicht einfach nur, indem man mal höflich klopfte, ein zartes, schüchternes Tippen an der Tür. Nein. Ein nervtötendes, ewig wiederkehrendes, unablässiges Pochen und Hämmern. Nichts anderes tat er hier. Er hoffte darauf, dem möglicherweise mächtigsten Geschöpf dieser Existenzebene, mächtiger vielleicht noch als die Götter selbst, auf die Nerven zu gehen. So lange, bis diese Entität vor ihm auftauchte und ihn anhören würde. Als sich nach drei Stunden noch immer nichts getan hatte – und obwohl er diesen Pfad noch weitere sieben Stunden unbeirrt verfolgen würde – rechnete er in Gedanken bereits um. Siebzehn Jahre, zwei Monate, zwei Wochen. „Kaleran“, wiederholte er mechanisch. Diesmal aber tat sich etwas. Er konnte spüren, wie die Veränderung eintrat. Seine Lider flatterten hektisch herauf, sein Blick glitt suchend durch den mehrfarbig erleuchteten Raum. Die Runen strahlten in Gelb, Orange, Grün und Blau, sie waren mit fortschreiten der magischen Ausstöße mehr und mehr aufgeladen worden. Je stärker die Ladung in ihnen, umso besser würden sie standhalten können – denn nicht selten endeten seine routinierten Tage in einer beinahe ebenso routinierten Entladung all seiner Frustration. Der Raum lag verwaist, doch er spürte das Prickeln, das Knistern von Magie und Anspannung und Elektrizität. Ein Moment noch verstrich, wenige Herzschläge nur, als plötzlich ein gleißendes Licht durch die Decke des Kellers brach. Ein Blitz, der sich am Vorhandensein von Mauerwerk und Gebäude wenig störte. Als das Licht verlosch und nur das mehrfarbige Schimmern der Runen zurückließ, war er nicht länger allein im Raum. Vor ihm ragte die Gestalt eines Fremden auf. Die Figur des Sturmreiters, wie man ihn in manchen Gegenden auch nannte. In eine an unzähligen Stellen zerfetzte Robe gehüllt, die alt wie die Gebeine der Welt selbst wirkte, ragte die menschliche Erscheinung auf sicherlich knapp zwei Meter empor. Gerötet wirkende Augen blickten ihm starr und ausdruckslos entgegen und eine Weile sprach keiner von beiden. „Du weißt, wer ich bin?“, erkundigte er sich hoffnungsvoll. „Ansgar Funkenquell“, erwiderte Kaleran ausdruckslos, aber nahezu augenblicklich und ohne jedes Zögern, „Obwohl du dich weithin hast Silas Moosweiler nennen lassen.“ Er nickte, obgleich das natürlich völlig unnötig war. „Weißt du auch, weshalb ich dich rief?“ Ein Schaudern lief durch seinen Leib, eisig den Rücken herab und stellte die Haare an seinen Unterarmen und in seinem Nacken auf, als sich das zuvor unsichtbare dritte Lid auf Kalerans Stirn auftat und ein gleißend helles, weißes Auge entblößte. Einen Moment schien das Licht darin herumzuirren, ehe sich das Lid wieder schloss. „Du hast 7.431.960 mal meinen Namen genannt, um Ignis Invictus, auch genannt die Tänzerin, wiederzubeleben. Ist das korrekt?“ Er schnaubte einen Moment, irgendwo zwischen schwachem Zorn und Frustration. „Mitgezählt habe ich nicht. Aber ja, das ist mein Ziel. Du hast dir ziemlich viel Zeit gelassen“, warf er der mächtigen Kreatur schließlich vor. Kaleran jedoch ignorierte den scharfen Unterton völlig. „Zeit ist bedeutungslos“, erwiderte er ohne jede Regung, „Deine Dienste sind zuvor nicht benötigt worden.“ „Ach, aber jetzt plötzlich werden sie es?“, schoss er rasch zurück und spürte, wie der Zorn begann, sich zu formen, wie er wilder wurde, in seinem Innersten wirbelte, wie ein Raubtier Kreise hinter seinen Gittern zog, auf eine Schwachstelle lauernd. „Ein Eingriff in die Vergangenheit ist erfolgt. Du spürst die Auswirkungen dessen in den Phantomschmerzen in deinen Händen. Es wurde dafür gesorgt, dass du dein Heimatland nicht unbehelligt verlassen wirst. Ein Adliger wird dich gefangen nehmen, foltern und im Zuge dessen verstümmeln. Die dadurch verschobenen Wahrscheinlichkeiten müssen korrigiert werden.“ Völlig entgeistert starrte Silas seinen Gast an, dann senkte sich sein Blick andächtig auf die gehobenen Hände. Er hatte es geliebt, zu spielen. Sein ganzes Leben lang hatte er ein Instrument nach dem anderen gemeistert und sie alle waren ihm wie treue Weggefährten vorgekommen. Er hatte sich in vielen Ländern, auf vielen Festen und in vielen Wettbewerben wieder und wieder den Titel des Meisterbarden verdient. Und sie? Sie hatte sein Spiel geliebt. Mehr als alles auf der Welt. Die Vorstellung, ihm könne dieses Talent genommen werden, war nicht einfach nur beängstigend. Sie war grausam. Und seine lebhafte Fantasie zögerte keine Sekunde, ihn mit all den vielfältigen Horrorszenarien zu foltern. „Wie kannst du es wagen…?!“, zischte er boshaft wie die zum Sprung bereite Schlange. Kaleran jedoch zeigte sich von den Drohgebärden weiterhin völlig unbeeindruckt. „Der Eingriff erfolgte nicht durch mich“, gab er lediglich zurück. „Duncan ist tot“, spie Silas regelrecht das Erste, was ihm in den Sinn kam, während er nun aufgesprungen war und seine Meditationspose keinen Moment länger halten konnte. „Die Existenzform eines Chronisten entzieht sich sterblichen Verständnismöglichkeiten.“ Es war die Ruhe und Gleichgültigkeit, die Silas mehr und mehr um den Verstand brachte. Doch bevor er den Raum mit so viel Feuer fluten konnte, dass er die Luft in Plasma verwandeln würde, schloss er die Lider, atmete unter sich rasch aufblähenden Nasenflügeln mehrfach tief durch und versuchte, das innere Feuer herabzukühlen. Das hier war nicht der Moment seiner Rache. Rache interessierte ihn seit Jahren nicht mehr, seit Jahrzehnten. Das hier, das war nicht mehr als eine Prüfung seiner Willenskraft. Eine Prüfung, wie viel ihm ihr Leben tatsächlich wert war. „Was muss ich tun?“, erwiderte er mit mäßig gezügeltem Zorn in der Stimme und unter sichtlichen Anstrengungen, seine Wut weiterhin im Zaum zu halten. „Ich sende dich nach Amon Selona“, begann Kaleran, wurde jedoch jäh von Silas unterbrochen. „Zurück nach Lumiél? Warum muss es ausgerechnet-“, doch bevor er sich weiter ereifern konnte, maßregelte er sich selbst und schwieg… denn Kaleran setzte seine Erklärung ohne jede Rücksicht einfach fort. „Dort wirst du dein jüngeres Ich ersetzen müssen. Der Elb Avondil Valâvaé wird aus Kaderalith nach Amon Selona kommen und die Siedlung bedrohen. Es ist an dir, ihn herauszufordern und davon abzubringen, dass er die Stadt zerstört – ohne ihn umzubringen.“ So gut er es vermochte, prägte Silas sich all die Namen ein. Von der trotzigen Feste mitten in der südlichen Wüste des Landes hatte er natürlich gehört, auch wenn er sie selbst nie persönlich bereist hatte. Sein verändertes, jüngeres Ich hatte offenbar irgendwie seinen Weg dorthin gefunden. Es handelte sich um eine Garnison, die zum Schutz der Hauptroute von Sundergrad nach Samara gegründet worden war, um als Zwischenstation zu fungieren und regelmäßige Patrouillen auszusenden, die die Straße klären und instand halten sollten. Man fand dort fast ausschließlich die Soldaten, allesamt menschlich, und deren Familien. Gelegentlich noch ein paar Reisende, doch zu denen zählten nur höchst selten exotische Völker. „Ich muss noch etwas von oben holen, danach kann ich aufbrechen“, kündigte Silas ohne weitere Umschweife an. Kaleran nickte und rührte sich nicht vom Fleck. Überhaupt hatte er bisher kaum einen Muskel benutzt. Also ließ der Hausherr seinen Gast dort unten im Keller stehen. Er schoss einen kurzen Flammenstoß auf die Runen an der Tür, sie leuchteten auf und eine magische Barriere wehrte die Glut ab. Erst nach dem Erstkontakt mit Feuer war es überhaupt möglich, die Tür wieder zu öffnen – eine reine Sicherheitsvorkehrung, die aus Erfahrung und mehreren bis auf die Grundmauern niedergebrannten, früheren Häusern resultiert war. Im Obergeschoss verschwand Silas in seinem Schlafzimmer, riss die Türen des Kleiderschrankes auf und warf achtlos in Richtung Bett, was immer ihm zwischen die Finger kam. Als der Schrank fast leer war, sah er sich den chaotischen Kleiderberg auf der Schlafstätte an. Er wühlte darin herum, bis er etwas Praktikables gefunden hatte. Seine Beine schlüpften in eine schlichte, braun gefärbte Leinenhose, die mit einem ebenso simplen Kordelgürtel zusammengehalten wurde. Dafür entschied er sich jedoch für schweres Schuhwerk, das sich wenig für Sand interessieren würde. Ein einfaches weißes Leinenhemd wanderte über seinen Kopf. Den Abschluss bildete die Kapuze, die sich mit kleinen Haken am Kragen des Hemdes einbringen ließ. Und jedes einzelne Stück seiner nunmehr angelegten Bekleidung wirkte um Längen edler und feiner, als es eigentlich war. Grund dafür waren die sonderbaren Schriftzeichen und Verzierungen, die wie ein gestickter Rand an den Ärmelöffnungen verliefen, am Kragen, am Bund, am Hosenbund und den Enden der Beine, an den Einlässen der Stiefel, am gesamten Verlauf der Kapuze. Die filigranen Linien und Figuren wirkten beinahe schon elbisch in ihrer Eleganz – doch Silas wusste nur zu genau, das die Elben diese Magie ebenso wenig verstanden wie die Zwerge, Orks, Tieflinge oder Aasimare. Als er nunmehr bekleidet in den Keller zurückkehrte, wartete Kaleran an der gleichen Position auf ihn, an der er bei Silas‘ Verschwinden gestanden hatte. „Du bringst sie zurück zu mir, lebendig und unversehrt, und dafür helfe ich dir bei deinem kleinen Missgeschick?“, hakte Silas ein letztes Mal zur Absicherung nach, als Kaleran ihm die Hand entgegen streckte. In diese Hand einzuschlagen, das wusste er genau, bedeutete nicht selten Desaster und Unglück. Aber all die Risiken war er bereit, in Kauf zu nehmen, sollte es ihm auch nur die kleinste Chance bieten, sie wieder zu sich holen zu können. Als Kaleran einmal mehr nur nickte, statt irgendetwas zu sagen, atmete Silas ein letztes Mal tief durch. Siebzehn Jahre hatte er Geduld bewiesen, hatte seine Willenskraft und Entschlossenheit demonstriert, wieder und wieder und wieder. Hier und jetzt, da endlich wieder etwas ins Rollen kam… war nicht der Moment, aus Kleinlichkeit und Bedenken heraus zu zögern! Mit entschlossenem Ausdruck in der Miene trat er vor und packte die dargebotene Hand. Ein gewaltiger Energiestrom schoss durch seinen gesamten Leib. Er glaubte zu spüren, wie die Macht ihn in Stücke riss, während grell aufblendendes Licht ihm die Sicht auf alles nahm, selbst das Gespür für Geräusche, seinen Tastsinn, sein Gleichgewicht aus seinem Verstand zu brennen schien.   Wie lange er sich in diesem Zustand befand, war ihm nicht klar. Als das Blendwerk allmählich nachließ, war da keine Hand mehr. Kein Stein unter seinen Füßen, keine Kellerwände. Es war noch immer hell, gleißend hell – und dennoch wirkte es dunkel, wie Zwielicht, verglichen mit dem, was er gerade hinter sich gebracht hatte. Taumelnd vor Schwindel brach er auf die Knie, stützte sich mit den Armen vom Boden ab, während sein mageres Frühstück sich vermischt mit Säure und Galle auf den heißen Wüstensand unter ihm ergoss. Ein paar würgende Laute ohne rechten Inhalt folgten noch, ehe er sich zur Seite fallen ließ. Die Erschöpfung war allumfassend. Das Gefühl, so vermutete er, würde abklingen und weichen. Doch für den Moment konnte er sich nicht vorstellen, aufzustehen oder auch nur, sich aufrecht hinzusetzen. Nicht, ohne sich nicht erneut übergeben zu müssen. Erst nach ein paar Minuten wurde ihm der Sand in seinem Rücken, aufgeheizt von einem bereits weit fortgeschrittenen Tag, zu heiß. Er richtete sich auf und lehnte sich gegen die Hauswand, die kaum einen halben Meter entfernt war. Seine Vermutung war bestätigt worden – das Gefühl der Erschöpfung ließ rasch nach. Doch die gewaltigen Ausmaße derer bedeuteten, das ‚rasch‘ sich noch immer in den Dimensionen mehrerer Stunden bewegen würde. Also saß er dort, die Beine weit von sich, die Arme schlaff an seiner Seite hängend, die Pfütze seines Frühstücks rasch getrocknet in knapper Entfernung und sah sich einfach nur um. Häuser aus Sandstein und Lehm, niedrig gebaut, fenster- und türlos. Dafür Vorhänge aus schweren, hellen Stoffen, häufig mit kleinen Perlenketten oder Metallbändern verziert, die gleichermaßen als Alarm dienen würden, wie sie hübsch anzuschauen waren. Wie groß Amon Selona sein mochte, wagte er nicht zu sagen. Es schien eine gewisse Geschäftigkeit vorzuherrschen, selbst in den Stunden, die er dort in der kleinen Gasse saß und sich nicht rührte. Manche, so erinnerte er sich an einige Passagen in verschiedenen Berichten über Kaleran und die Reisen in seinem Namen, vertrugen die Zeitverschiebung deutlich schlechter als andere. Ob Kaleran den dadurch bedingten Zeitverlust einberechnet hatte? Erst als die Dämmerung einbrach, hievte sich Silas mühsam auf die Beine und putzte sich zunächst den unangenehm feinen Sand aus so vielen Ritzen und Falten, wie er konnte. Ein hoffnungsloser Kampf, wie ihm rasch klar wurde. Die Wüste war einfach ein scheußlicher Ort. Dieser Eindruck bekräftigte sich nur noch, als ihm demonstriert wurde, das die Dämmerung hier kaum einige Minuten dauerte, ehe es plötzlich Nacht war. Und mit der Dunkelheit begann das Auskühlen. Draußen in den Dünen, davon hatte er irgendwann einmal gelesen, wurde es so bitterlich kalt, das man tatsächlich in der Wüste bestens erfrieren konnte. Hier aber, zwischen Lehm- und Sandsteinhäusern, gab es ein wenig Schutz vor dem Wind, dem darin getragenen Staub. Und wichtiger noch, regelmäßige, großzügig gebaute und offen brennende Feuerschalen gaben ebenso Wärme ab wie die Häuser, die sich den Tag über damit aufgeladen hatten. In der Dunkelheit oder dem ständigen Flackern der Feuerschalen war es schwierig, Gesichter auszumachen, Haarfarben oder auch nur eine Körpergröße zu schätzen. Obendrein verschwanden viele rasch von den Straßen, was ihm die Suche zunehmend erschwerte. Also lief er letztlich an der äußeren Mauer entlang, bis er an ein Tor kam. „Ich suche meinen nichtsnutzigen Sohn“, keifte er in schauspielerisch akzeptabler Leistung, aber mit aufrichtig wenig Geduld, als er an die zwei Wachmänner herantrat, die dort beinahe an ihren Piken einzuschlafen schienen, „Er sieht mir recht ähnlich. Wisst ihr, wo er ist?“ Die Männer lehnten sich beide einen Moment vor, ehe sie Blicke austauschten. Ein Schulterzucken hier, ein Kopfschütteln da – die Frustration war bereits vollständig. Silas schnaufte, da hob der Eine plötzlich an. „Wenn’er’n Reisender ist, dann muss’er ja irgendwo schlafen, nech? ‘S gibt nur ein Gasthaus bei uns.“ Das wiederum gab Anlass zur Hoffnung! „Und wo finde ich das, hm?“ Die Wegbeschreibung war… wenig hilfreich, aber wohl ausreichend. Immerhin fand er sein Ziel, wenngleich auch nur, nachdem er sich zweimal verlaufen und einmal eine zufällige Passantin befragt hatte. Das lag nicht etwa am Unvermögen oder der mangelnden Orientierung der Wachen, sondern vielmehr daran, das seine Ohren inzwischen an einen Dialekt angepasst waren, der in ganz Lumiél nirgendwo gesprochen wurde, während die Bewohner Amon Selonas eine ganz eigene Abwandlung der Allgemeinsprache verwendeten, die er wiederum noch nie zuvor gehört hatte. Das machte es mitunter schwierig, bestimmte Passagen eines Satzes zu verstehen oder, schlimmer noch, korrekt zu deuten. Als er im Gasthof ankam, erwies sich das Gebäude als wenig außergewöhnlich. Es war ein bisschen größer als der Rest, weil es mit nur einem Stockwerk all seine Vorratsräume, die Schlafräume der Hauseigentümer und der Gäste gleichermaßen auf nur einer Ebene unterbringen musste. In den weichen, sandigen Untergrund konnte man nicht wirklich hineinbauen – und baute man nach oben, riskierte man nicht nur, das Winde und Stürme ständig die Mauerwerke abtrugen und man alle paar Tage nachbessern musste, ganz zu schweigen von all dem Staub, der durch die fensterlosen Öffnungen hereingetragen wurde, nein, wurde das Gebäude zu massiv gebaut, wurde es zu schwer, würde es bei den äußerst seltenen, aber dann und wann eben doch mal auftauchenden Regengüssen einfach im Grund versinken können. Keine allzu wünschenswerte Aussicht. Indes war er überrascht, nicht einfach nur ein, zwei größere Schlafsäle mit mehreren Betten vorzufinden, sondern stattdessen den Versuch, Privatsphäre einzuräumen. Ob man bei türlosen Bauten nun wirklich von separaten Zimmern sprechen wollte, war eine müßige Debatte, die er nicht zu führen gedachte, doch er fand Silas, den anderen Silas, nach einigem Herumdrucksen und schamlosem Lügen gegenüber dem Wirt in einem der Zimmer. Nicht etwa, das er nochmals die Geschichte vom enttäuscht nach dem Balg suchenden Vater verwendet hätte, nein. Die Zimmer waren schlicht alle belegt. Und es gab damit für ihn eigentlich keinen Grund, hier zu sein. Geschweige denn, sich in den hinteren, den Gästen vorbehaltenen Räumlichkeiten herumzutreiben. Das erweckte Misstrauen, immerhin gab es auch hier zweifellos Diebe und Räuber und Halsabschneider. Eine Besenkammer war es, die er sich gesichert hatte, als notdürftige Unterkunft. Dafür, so hatte er zugesichert, würde er sich als Küchenhilfe verdingen. Morgen natürlich. Nicht, das er da noch anwesend zu sein gedachte. Ohnehin war er recht froh darüber, dass die Kapuze offenbar erfolgreich verhindert hatte, das der Hausherr einen genaueren Blick auf ihn werfen konnte – zumindest, falls man daran urteilte, wie sehr er sich dann und wann möglichst unauffällig darum bemüht hatte, einen Blick unter die Haube zu werfen. Das garantierte ihm, dass noch immer keine Fragen oder Missverständnisse aufkommen konnten. Was er indes mit seinem jüngeren Alter Ego machen sollte, darüber brauchte er nicht lange nachzudenken. Vorsichtig kniete er sich neben das flache Bett und begutachtete sich selbst. So viel weniger Falten und Narben. Doch seine Hände waren fürchterlich zerschlissen. Kaleran hatte also nicht gelogen. Dann wiederum – warum sollte er auch? Warum aber hatte er nicht eingegriffen, und das ursprünglich störende Ereignis rückgängig gemacht? Vielleicht hatte sein Leiden, obwohl ungeplant und mit der Notwendigkeit von Korrekturen einhergehend, ihm irgendwie dennoch ein paar Chancen eröffnet? Sich über die Motive von Chronisten den Kopf zu zerbrechen, so entschied Silas, war müßig und des Aufwandes auch einfach nicht wert. Solange er bekam, was er wollte, war alles in Ordnung. Die Welt käme schon irgendwie klar. Dann aber fiel sein Blick auf die Haare. Silas hatte lange Haare, die wild in alle Richtungen zu fallen schienen. Er dagegen hatte seine schon vor längerer Zeit abgeschnitten. „Hm“, quittierte er die Unstimmigkeit mit einem Stirnrunzeln. Schließlich zuckte er mit den Schultern – dafür gab es Lösungen. Er kramte in den zwei Taschen seiner Hose und wühlte schließlich drei kleine Ampullen hervor, eine gefüllt mit einer roten, dicken Flüssigkeit, eine mit einer dünnen, blassgrünen Flüssigkeit und die Dritte war klar wie Wasser. Aus der anderen Tasche dagegen kramte er ein kleines, dünnes Band hervor. Sie hatte es ihm geschenkt. Für seine damals noch unbändige Mähne. Im Laufe der Jahre hatte es viele Orte gesehen und viele Funktionen erfüllt. Heute, so schien es, war es nicht nur an der Zeit, sich davon zu trennen – es war an der Zeit, dass es seine ursprünglich angedachte Aufgabe wiederaufnahm. Er öffnete zunächst die klare Phiole, träufelte den Inhalt auf ein Stück Stoff, das im Kleiderberg des jungen Silas lag und presste es ihm nach guter, gründlicher Positionierung und Vorbereitung auf den Mund. Die Augen des jungen Feuerhexers schnellten auf, sein Blick jagte flirrend herum, versuchte, sich zu orientieren, ihm Informationen zukommen zu lassen, sich zu wehren. Das Bettzeug begann zu brennen, seine Haut glühte immer heller. „Schhhht… schhhhh…“, flüsterte er auf sein jüngeres Ich ein, bis das Zappeln der Beine versiegte und die um seinen Unterarm verkrampften Hände sich entspannten, um dann auf das Bettzeug zurückzuklatschen. Er schüttelte den Kopf, als Silas‘ Widerstand erstorben war. Vorsichtig rollte er den drahtigen Körper vom Bett auf den Boden herab und begann, zu flechten und zu knoten. Die unbändige Mähne seines jüngeren Alter Egos fand sich nach kaum zwei Stunden in einer sehr sorgsam geformten Frisur wieder, die die enorme Länge des Haares erfolgreich völlig verbarg. Würde er natürlich am Band ziehen, würde alles auseinanderfallen, doch solange er ohnmächtig war, würde das hitzeimmune Band die Frisur beisammen halten. Vorsichtig öffnete er die rote Ampulle und kippte sie nach und nach auf die Kuppe seines Zeigefingers. Jedes Mal fuhr er über Silas‘ Stirn, zeichnete einen weiteren Strich eines Symbols, das bei seiner Fertigstellung kurz aufleuchtete und dann abrupt einzutrocknen schien. Schließlich flößte er seinem jüngeren Selbst den Inhalt der grünen Ampulle ein, ehe er den reglosen Körper in den äußerst schmalen Spalt unter dem Bett zu schieben begann. „Träum was Hübsches“, nuschelte er leise, als er Silas weit genug unter die Bettstätte schob, das selbst ein genauerer Blick ins Zimmer ihn nicht mehr ausfindig machen würde. Dann erst legte er seine eigenen Sachen ab, packte sie sorgfältig zusammengelegt unter den Stapel an Kleidern, der chaotischer war als er seinem jungen Ich zugetraut hätte und begab sich in das soeben frei gewordene Bett. Er schlief bis zum Erwachen der Morgensonne, zog sich die fremden Kleider an und verließ das Gasthaus als einer der regulären Zimmermieter. Er hatte leuchtend rote Haare, auffällig grüne Augen, war blass und von gleicher Höhe – niemand hinterfragte, das er über Nacht vielleicht ein paar Falten oder Narben mehr bekommen zu haben schien. Immerhin hatte auch niemand einen allzu genauen Blick auf ihn geworfen, als er ankam. Er war schließlich missmutig und übellaunig und irgendwie seltsam gewesen, unheimlich. Das zumindest war die Quintessenz dessen, was Silas nach einem Tag des Herumlungerns an verschiedenen Stellen der Stadt über seinen eigenen, bisherigen Aufenthalt in Amon Selona hatte herausfinden können. Man begegnete ihm mit Misstrauen und Skepsis. Und er, er schien sich alle Mühe zu geben, alles und jeden von sich fern zu halten. Nach allem, was Kaleran ihm über die Veränderungen in dieser Zeitlinie verraten hatte, vermutlich keine allzu unwahrscheinliche Entwicklung. Dennoch klang es nach einem schrecklich einsamen Leben. War das Deine doch auch, bis du sie getroffen hast, erinnerte er sich mahnend. Ein Lächeln zog die Mundwinkel empor, als er an sie dachte. Und daran, sie möglicherweise bald schon wieder als einen Teil seines Lebens willkommen heißen zu können. Es war nicht mehr viel zu tun. Nur noch diesen arrogant zu Felde ziehenden Elb in die Schranken weißen und heimkehren. Der Abend brach bereits ein, als er sich langsam ins Gasthaus zurückziehen wollte. Vermutlich würde der Wirt gehörig meckern, das sich irgendwer eingeschlichen habe, ihm erst eine tragische Geschichte auftischte, um einen kostenlosen Schlafplatz für die Nacht zu bekommen und dann am nächsten Morgen einfach wortlos verschwand, ohne die versprochene Hilfsarbeit zu leisten. Dann wiederum, so schätzte Silas, würde die Magd – des Wirtes Frau oder Tochter wohl -, ihn daran erinnern, dass der Fremde sich höflich verhalten und zumindest nichts gestohlen habe. War man so herumtriebig gewesen wie er, man lernte die Leute gut kennen. Ein Blick, ein Wort, eine Geste – und schon wusste er, wen er auf seiner Seite hätte und wen gegen sich. Versonnen lächelnd schritt er durch die Straßen und Gassen der Feste und bemerkte nicht einmal, wie immer mehr Leute einfach stehenblieben und fassungslos hinauf blickten. Silas blieb erst stehen, als er die Stimme hörte. „Hört her, all jene, die unrechtmäßig der Wüste zu trotzen begehren“, erklang das hochtrabende Geschwafel in unnatürlicher Lautstärke und dennoch erkennbar von weit her. Silas blieb stehen, wandte sich langsam um und folgte den Blicken der anderen, als er erst einmal bemerkte, wie sie alle hinauf starrten. Hoch droben schwebte ein Felsbrocken, der aussah, als hätte ein Riese einfach ins Land gepackt und ihn herausgerissen. Wurzeln ragten an der Unterseite hervor, ein paar Bäume standen noch oben und gelegentlich rieselten kleinere oder größere Brocken Erdreich herab. „Lange genug hat mein Volk die Frevel der Euren erduldet, lange genug haben wir mit angesehen, wie euresgleichen vor den Toren unserer Heimat herumstolpert und mit eurem Unwissen die Reinheit unseres Landes befleckt. Die Gnadenfrist ist abgelaufen. Einen Tag lasse ich euch Zeit, eure Habe zu verladen – danach werde ich der Wüste zurückgeben, was ihr ihr abzutrotzen gewagt habt.“ „Elben“, schnaubte Silas abfällig. Er setzte sich ohne Umschweife in Bewegung, immer in Richtung des Felsbrockens, auf dem der Sprecher stehen musste. Dabei schnappte er kleinere und größere Gesprächsfetzen der Leute um ihn herum auf. Viele gerieten zunehmend in Panik. Manch andere hingegen glaubten sich einem schlechten Scherz unterworfen. Doch was ihn tatsächlich schmunzeln ließ war dieser eine Hufschmied, der meinte, das so ein kleines Stück Fels am Himmel wohl kaum der Sorge wert sei, immerhin könne das nicht größer als ein Pferd sein. Armer, ungebildeter Tropf. Würde der Elb dieses Stück Land fallen lassen, es würde sehr schnell sehr viel größer werden – und vermutlich ein knappes Viertel der Siedlung unter sich begraben. Er hatte die Mauer und das Tor fast erreicht, als er die ersten Zeichen von Gegenwehr sah. „Feuer!“, hörte er noch. Ein Befehl, der ihn jedes Mal lächeln ließ. Natürlich gab niemand tatsächlich Feuer, vielmehr schnellten zahlreiche Armbrustbolzen und Pfeile empor. Ein starker Windstoß beförderte die Bolzen aus der Bahn und die Pfeile teilweise mit gefährlicher Präzision vor die Füße ihrer Schützen zurück. Erde und Wind also. Für Elben ein Klassiker. „He da!“, brüllte Silas aus tiefster Kehle, während er unbeeindruckt von den Warnhinweisen der Soldaten zwischen ihren Linien hindurch ins Freie schritt, „Warum kommst du nicht herab und demonstrierst uns deine ach so furchteinflößende Macht, damit die Leute einen Grund haben, zu fliehen, ehe du sie alle einfach abschlachtest? Oder hast du zu viel Angst davor, das dir jemand gehörig den Arsch versohlt, wie deine Mutter es schon vor langer Zeit hätte tun sollen?“ Er hatte so lange nicht mehr in diesem Umfang gesprochen, ganz zu schweigen von Schreien. Seine Kehle kratzte unangenehm. Doch immerhin, der langsam davonschwebende Steinbrocken verharrte nunmehr an Ort und Stelle und die nur mäßig erkennbaren Umrisse des Elben wandten sich langsam um. Er antwortete nicht. Vielmehr spürte Silas, wie der Blick sich auf ihn richtete, ihn durchbohrte. Er jedoch zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Dann muss ich wohl hochkommen, was?“, donnerte er ein weiteres Mal mit aller Kraft aus seiner Kehle heraus. Die Fäuste geballt, richtete er sie gen Boden. Es war lange her, dass er gekämpft hatte. Sehr lange. Aber manche Dinge verlernte man nur schwer, selbst wenn man sich darum bemühte. Ein stetiger Flammenstrom stieß aus seinen Fäusten auf den Boden nieder. Der Druck erhöhte sich mehr und mehr, bis der Sand unter seinen Schuhen zu Glas schmolz. Seine Haut war heiß genug, das man darauf Eier hätte braten können und von alledem zeigte sich seine Kleidung völlig unbeeindruckt. Lediglich die gestickten Linien und Zeichen schienen im Licht der Abendsonne leicht zu schimmern. Als der Strom stark genug war, das er abhob, war es nur noch eine Frage der Balance. Es war anstrengend, auf diese Weise zu fliegen – aber fliegen konnte er. Einen stetigen Flammenstrom hinter sich herziehend, stieg er höher und höher und näherte sich der kleinen Insel, die der Elb scheinbar mühelos in der Luft hielt. „Glaubst du, deine kleine Darbietung beeindruckt mich?“, krächzte ihm sein Gegner zu. Unbeeindruckt und unbeirrt hielt Silas weiter auf ihn zu, als der Elb begann, die Hände heraufzureißen und Gesten auszuführen. Los geht’s – dann zeig mal, was du drauf hast! Der Strom erwischte ihn völlig unvorbereitet. Ein gewaltiger Druck presste sich schmerzhaft und eisig von unten gegen ihn und schleuderte ihn hoch und höher, löschte alle Flammen und ließ ihn vor Kälte zittern – der Elb hatte Grundwasser durch die Dünen gezogen und als gewaltigen, kraftvollen Strahl in die Höhe schießen lassen. Und kaum, das er völlig aus der Bahn geworfen worden war, kappte eine Windschneise den Wasserstrahl und presste ihn fort. Er spürte, dass er stürzte. Egal wie weich der Sand wäre – aus dieser Höhe würde der Aufprall seinen Tod bedeuten. Wind, Erde, Wasser… heftig, aber gut – immer noch sehr elbisch. Zugegeben – er hatte noch nie davon gehört, dass eine natürliche, volksmagische Magie sich in drei Richtungen niederschlug. Aber alle drei Arten waren für Elben möglich, nicht wahr? Vielleicht war dieser einfach nur wahnsinnig talentiert. Eine Vorstellung, die ihm nicht unbedingt Hoffnung machte. Das hieß jedoch auch ebenso nicht, dass er sich davon wiederum entmutigen ließ. Ich rufe euch… Die kleinen Stickereien an seinen Ärmeln begannen gleißend zu leuchten, schlugen wilde Flammen und schienen sich plötzlich vom Stoff zu lösen. Zwei kleine Feuerelementare formten sich rasant aus dem Material. Rasch packten sie Silas unter den Armen und hoben ihn wieder höher. Ihre eigentlich körperlosen Leiber trugen ihn empor und griffen direkt an den Stoff seiner Kleider an, ohne sie auch nur zu versengen. Ihre Nähe ließ das Wasser in seinen Kleidern und Haaren verdunsten, trocknete ihn, heizte ihn auf. „Eindrucksvoll…“, tönte der Elb in Vorbereitung einer bereits abzusehenden Stichelei, „… für ein paar billige Taschenspielertricks. Aber glaube nicht, dass du dich allein gegen mich wirst behaupten können, nur weil du zwei einfältige Narren auf deine Seite hast ziehen können. Meine Verbündeten sind weitaus loyaler und hilfreicher, schon allein durch ihre deutlich enormere Macht.“ Bei jenen Worten zog sich wie aus dem Nichts heraus ein Gewittersturm zusammen. Rasch aufquellende, weiße Wolken, die immer größer wurden, breiter… dunkler. Bis ein stattliches Gebiet von schwarzen Wolken überschattet wurde. Kein einziger Tropfen Regen fiel, doch Silas konnte spüren, wie sich die Spannung aufbaute. Elektrizität lag in der Luft. Wind, Wasser, Erde, Wetter… langsam wird es absurd. Er hatte von Opfern eines Blitzschlages gelesen. Von Verbrennungen schlimmster Sorte. Und er wollte nicht herausfinden, ob es einen Unterschied machte, sich während eines Blitzgewitters in der Luft zu befinden. Ausweichen konnte er nicht, schon allein, weil er diesem hämischen Bastard keinen Millimeter Boden gönnte – also blieb ihm nur der Weg nach vorne. „Höher!“, orderte er die zwei Elementare eisernen Willens. Als die ersten Blitze niederfuhren, begannen die zwei feurigen Gestalten zu drehen, immer schneller und schneller wirbelten sie Silas um die eigene Achse, bis er sich als eine Gestalt, die von zwei leuchtenden Schweifen umgeben war, in die Wolken hinein schraubte. Er spürte die Feuchtigkeit. Sie war allgegenwärtig. Er spürte die Elektrizität, sie ließ all seine Haare zu Berge stehen und er spürte, wie die Elementare von ihrem natürlichen Konterelement umgeben zunehmend schwächer wurden. „Durchhalten“, wies er sie an. Ich rufe euch… Die feinen Linien und Symbole leuchten einmal mehr auf. Sie lösten sich an seinen Hosenbeinen, an den Stiefeln, am Hemdsaum und –kragen. Von acht Elementaren umgeben, begann die Glut ihrer Nähe zueinander die Feuchtigkeit zu vertreiben. „Zeigen wir ihm mal einen richtig guten Trick!“, knurrte Silas eher zu sich selbst, während ein wildes, gefährliches Funkeln in seine Augen trat. Mit nicht mehr als einem Gedanken wies er die Elementare an, um ihn zu rotieren. Wie geballten Fäuste wieder nach unten gereckt und einen stetigen, kräftezehrenden Flammenstrom hervorpressend, harrte er im Zentrum aus, während die Elementare in immer größerer Geschwindigkeit um ihn herum jagten. Ein regelrechter Flammendiskus begann sich mitten im Sturm zu formen, sog das Wolkenmaterial an und stieß es wieder ab, manipulierte es, veränderte die Magie darin. Als Silas kaum ein paar Minuten später aus der Sturmfront hervorstieß, hatte Avondil jede Kontrolle über seine Schöpfung verloren. „Du willst einen Sturm? Ich zeige dir einen Sturm!“, rief Silas, hob den Arm in Wartehaltung und brüllte beim Senken seines Zeigefingers in Avondils Richtung das eine Wort, das ihm jedes Mal einen wohligen Schauer bescherte: „Feuer!“ Die Elementare konzentrierten ihre Kräfte und jeder einzelne von ihnen ließ ein massives, verdichtetes Flammengeschoss aus den nunmehr von Ruß und Asche getragenen Wolken schnellen. Mit Windschneisen wehrte Avondil die Geschosse ab, doch Silas gab den Feuerbefehl immer rascher, die Elementare, inmitten flammender Wolken sitzend, hatten keine Mühe, den Anweisungen nachzukommen und die Zahl auf ihn zurasender Geschosse wuchs rascher, als der Elb sie noch mittels seiner Windmagie abwehren konnte. Längst war die Sonne tief gesunken, nur noch wenige Minuten waren ihnen bis zur Dämmerung vergönnt und für einen kurzen Augenblick, da Silas sich dem Sieg nahe glaubte, erwog er den Gedanken, was für ein atemberaubendes Spektakel das wohl für die Bewohner von Amon Selona sein musste. Ob man applaudieren würde, so wie in alten Zeiten, als er noch auftrat? Vielleicht sollte er bei seiner Rückkehr eine kleine Spendenbox einrichten. Nicht, das er das Geld jetzt noch brauchen würde… nur um des Gefühles der Nostalgie wegen. Silas verpasste den Moment des Umschwunges. „Genug!“, donnerte die Stimme des Elb verärgert. Ein regelrechter Sturmwall von Ausmaßen, wie er sie selbst von Daeri nie gesehen hatte, fegte die schützende Ruß- und Ascheschicht von den blanken Flammenwolken fort und kaum, das sie bloßgelegt waren und zu zerfasern begannen, schossen unzählige Wasserfontänen aus dem sandigen Boden empor und zerstörten nicht nur, was noch übrig blieb, sondern erfassten zielgenau die von ihm gerufenen Elementare. Avondil, so wurde Silas schmerzlich bewusst, war nicht einmal ins Schwitzen geraten. Er hatte unzählige Windschneisen gerufen, einen gewaltigen, kraftvollen Sturmwall aufgebaut, in der Wüste ein Gewitter aus klarem Himmel entstehen lassen, hielt diesen gewaltigen Erdbrocken nach wie vor unbeirrt in der Luft und hatte nicht nur einmal, sondern gleich ein dutzend Mal Grundwasser mit gewaltigem Druck auf dutzende Meter Höhe schießen lassen, obwohl es dazu erst einmal aus beachtlichen Tiefen durch Sand und Gestein emporgefördert werden musste. Und er schwitzte nicht mal. Silas dagegen atmete schwer. Und das, obwohl die Elementare die meiste Arbeit verrichtet hatten und er sich lediglich mittels des konstanten Flammenstroms in der Luft hielt. Sein Blick fiel auf seine Kleider. Die Schuhe, die Hose, das Hemd… er hatte nur noch zwei Elementare übrig. Große Elementare, zugegeben. Aber was sollten sie gegen eine Macht wie diese dort ausrichten können? Sie waren kraftvoll, sie waren gewaltig… aber sie waren nicht sie. Sie hätte diesen Elb belächelt. Und eingeäschert. Mit nicht mehr als einem Wimpernschlag. Was aber konnte er noch tun? „Ich lasse dich nicht gewinnen“, knurrte Silas entschieden, ohne zu wissen, wie er weiter vorgehen sollte. „Du hast überhaupt keine Wahl“, gab Avondil lediglich selbstsicher zurück, „Und jetzt ist es an der Zeit, dir genau das endlich begreiflich zu machen. Wir haben genug gespielt.“ Als der Elb diesmal die Hände bewegte, spürte Silas die pure, ungefilterte Macht, die durch dieses Fleisch floss. Kräfte jenseits seiner Vorstellungskraft, Kräfte, die er in etwas Sterblichem niemals erwartet hätte. Gut… vielleicht hätte selbst sie ihn nicht mit einem Wimpernschlag eingeäschert. Gewaltige Steinplatten hoben sich aus dem sandigen Boden. Sie mussten unzählige Meter tief vergraben gewesen sein, schon allein bemessen an der Menge an Sand, sie herabstürzte, als sie gehoben wurden. Immer höher schwebten sie, bis Silas klar wurde: Sie formten etwas. Eine Platte schwebte ein Stück über ihm, zwei zu jeder Seite, eine in seinem Rücken. Mit einem Ruck setzten die Platten ihre Ränder aneinander, sodass die Box nur noch nach unten und vorne offen war. Was sollte das werden? Silas hatte nicht vor, es herauszufinden. Hastig manövrierte er sich aus dem noch-nicht-Käfig heraus… oder versuchte es zumindest. Als er nach vorne steuerte, warf ihn ein gut gezielter Windstoß zurück. Schmerzhaft prallte er mit dem Rücken drei Mal bei drei Versuchen gegen die Wand, ehe er entschied, den gefährlicheren Weg nach unten zu nehmen. Er drosselte den Flammenstrom… und ließ sich einfach fallen. Das war der Moment, als ein gewaltiger Wasserstrom empor schoss. Stärker und härter als alle zuvor, presste er Silas wie eine gewichtslose Puppe gegen das Dach der Steinbox. Alle Flammen verloschen, er ruderte mit den Armen und Beinen, kämpfte gegen den Strom an – erfolglos. Mühselig versuchte er sich an der Decke der Steinbox kratzend entlang zu bewegen, nach vorne – und kaum, dass es ihm gelungen schien, stieß ein gut gezielter Windschlag ihn wieder zurück hinein in den Strom. Ihm wurde klar, was das hier werden sollte. Er wurde gerade exekutiert. Öffentlichkeitswirksam. Denn dort unten standen hunderte Leute, die zusahen, wie er ertrank. Mitten in der Luft, in der Wüste, eingekesselt in schwebenden Steinwänden, zurückgedrängt von mächtigen Windstößen und ersäuft von einem gewaltigen Wasserstrom, der einfach zielgerichtet aus den Dünen brach. Immer mehr Wasser drang in seine Lungen ein. Er schloss die Augen, gab das Rudern gegen die ohnehin unmöglich zu brechenden Kräfte auf.   „Du weißt nicht, was du da sagst“, erklärte sie leise. Ihre Hand hob sich, strich zögerlich über seine Wange, zärtlich… sehnsüchtig. „Ich weiß es sehr wohl. Ich habe mir das gut überlegt.“ Seine Erwiderung ließ sie nicht unberührt. Ein kleiner Funke Hoffnung schlich sich ein, die Sehnsucht wurde um ein Vielfaches größer und stärker. Sie presste ihren Leib an ihn, hüllenlos, bar aller Lügen. Sein Arm legte sich um ihre Taille, seine Lippen wanderten ihren Hals herab. „Es wird alles verändern. Alles, was du bist, was du kannst, was du…“ Er nickte lediglich, ließ sie nicht einmal ihre Bedenken aussprechen. Zu schwer wurde es für sie, sich ihren eigenen Wünschen und ihrem eigenen Verlangen zu widersetzen. „Sag es“, hauchte sie ihm fast schon flehend zu. Seine Lippen wanderten wieder ihren Hals herauf, zärtliche Küsse setzend, bis an ihr Ohr. „Ich will brennen.“   Wie viele Siegel gab es? Was damals in ihm geschaffen worden war, hatte Eindämmung benötigt. Er bereute keine Sekunde, doch er hatte vieles lernen müssen, sich vieles aneignen müssen. Eine beinahe schon unmenschliche Willenskraft. Viel Geduld. Ausgeglichenheit und Ruhe. Vieles davon beherrschte er heute noch nicht sonderlich gut, wie gelegentlich abgebrannte Häuser und Wutausbrüche verdeutlichten. Aber er hatte dank ihr viele Techniken gelernt, um Kontrolle auszuüben… oder im Notfall wiederherzustellen. Dies… war der erste Moment in über vierzig Jahren, das er die Siegel von sich aus durchbrach und freiließ, was er nie wieder das Licht der Welt hatte erblicken lassen wollen. Doch er war hier und tat all dies, um sie zurückzuholen. Das rechtfertigte sein Vorgehen… nicht wahr? Als seine Lider sich öffneten, loderte darin pures Feuer. Sein Mund tat sich auf und ein Strom aus sengender Hitze ergoss sich daraus. Die Steinplatte in seinem Rücken begann von der sich rasant ausbreitenden Hitze zu springen, das Wasser kochte, gewaltige Dampfströme quollen dick und dicht zu allen Seiten der Steinbox hervor. Als die Steinplatten zerbarsten, versiegte der Wasserstrom und die Reste des Käfigs stürzten nieder. Mitten in der Luft rotierte eine Kugel, undurchdringlich und leuchtend in Tönen von Rot, Orange und Gelb. Flammenzungen, dutzende derer, schlugen immer wieder von ihrer Oberfläche in alle Richtungen aus. Nur schemenhaft war die humanoide Gestalt im Inneren zu erkennen. Avondil aber, Mächtigster unter den Seinen, verspürte einen allzu sterblichen Schauer einen Rücken herabrinnen, als die gleißend hervorstechenden Augen jener Gestalt sich auf ihn richteten. „Das ist unmöglich“, keuchte der Elb nahezu unhörbar leise. „Nein“, erwiderte Silas dennoch mit einer seltsam verzerrten Stimme, die fast wie ein Choral anmutete, „nur sehr… unwahrscheinlich“, gab er zurück. Ein plötzlicher Ruck fuhr durch den Leib, als dieser sich in Bewegung setzte. Er schoss hervor, in gerader Linie. Alle Windschneisen mühelos durchbrechend, alle Wasserströme noch lange vor dem Aufprall verdampfend, alle Steinplatten durchstoßend. Avondil flüchtete von seiner schwebenden Steininsel, sprang einfach in die Tiefe und ließ sich von mehreren Windebenen herabtragen, seinen Fall bremsen. Den Blick nach oben gerichtet, sah er den Einschlag Silas‘ in die Steininsel – und wie sie in tausende Splitter barst, die als brennender, sengender Trümmerregen auf die Sanddünen vor Amon Selonas Toren niedergingen. Die Feuerkugel schwenkte um, folgte ihm und stoppte zehn Meter von ihm entfernt. Selbst auf diese Distanz konnte der Elb die brennende Hitze und das gleißende Licht kaum ertragen. Mit einem Arm sich vom Sand abstützend, nutzte er den anderen, um sein Gesicht abzuschirmen. Die Kugel verschwand, zerfaserte, doch die gleißende, brennende Gestalt in ihrem Inneren trat ungerührt vor. Unter ihren Schritten schmolz der Sand zu spitzem, scharfkantigem Glas. Eine feurige Hand packte das Handgelenk des Elb, er schrie vor Schmerzen auf, die zweite Hand aber ergriff seine Kehle und riss die Gestalt des Mächtigen scheinbar mühelos in die Höhe. „Nie wieder wirst du diese Leute belästigen. Erfahre ich von anderem, werde ich dich das bereuen lassen.“ Er stieß Avondil Gesicht voran in den Sand. Der Elb hielt mit dem unverletzten Arm sein verbranntes Handgelenk, krächzte aus der angesengten Kehle einige Würgelaute hervor, ehe er sich aufrappelte und so eilig ihn seine schockschweren Glieder trugen in die Wüste zurück stolperte. Als Silas zwischen den Soldaten hindurch trat, wichen diese in großem Bogen vor der lodernden Gestalt zurück. Doch immerhin, man erkannte seine Haut als die eines Weißen, man erkannte seine roten Haare, seine grünen Augen, die Farben seiner Kleidung – obgleich noch immer Feuerzungen daran entlang leckten. „Der sollte euch keine Probleme mehr bereiten, Kommandant“, erklärte Silas im Vorbeigehen und verschwand unter den schockstarren Blicken der Wachen und Bewohner im Gasthaus. Einmal aus dem Aufmerksamkeitsbereich der Leute herausgekommen, hastete er eiligst in sein Zimmer und zog den jüngeren Silas unter dem Bett hervor. Er schlief noch immer tief und fest. Eilig prüfte er den Halt der Frisur, packte ihn dann zurück in das Bett und besah sich sein Werk mit einer gewissen Zufriedenheit. Man würde ihn für ihn halten. Oder umgekehrt. Ein letztes Mal fiel sein Blick auf das Haarband, das die unbändige Mähne seines jüngeren Selbst zusammenhielt. Ob er dessen Geheimnis je erfahren würde? Mehr als ein wenig Feuer brauchte es im Grunde nicht, ehe der Name seiner Liebsten in hübschen, goldenen Lettern darauf auftauchen würde. Und Feuer war etwas, auf dessen Gegenwart man sich in seinem Falle eigentlich immer verlassen konnte. Dann wiederum, wie mochte das wohl alles für ihn sein? Er würde aufwachen und sich nicht einmal daran erinnern können, dass er des Nachts überfallen worden war. Stattdessen fehlte ihm einfach ein Tag, in dem er Heldentaten vollbracht hätte. Oder wie immer man die Geschehnisse dieses Tages auch irgendwann auslegen würde. „Kann mir egal sein“, entschied er schließlich den Kopf schüttelnd – und tatsächlich erfasste ihn keine Sekunde später ein gleißend greller Lichtblitz.   Einmal mehr fand sich Silas auf allen Vieren wieder, während er seinen Mageninhalt ins Freie gab. Diesmal jedoch nur Säure und Galle, was ein raues, kratziges Gefühl in seiner Kehle hinterließ, und ein unangenehm bitteres Brennen in seinem Mund. „Hast du mich vermisst?“, ertönte eine Stimme unweit seiner Position. Obwohl er sich erschöpft fühlte und so elend wie nur einmal zuvor… zog das breiteste Lächeln auf seine Lippen, dessen er sich erinnern konnte. „Du machst dir keine Vorstellungen“, erwiderte er, ohne aufzusehen. Sie war wieder da. Und das war alles, was zählte. Der Rest der Welt… käme schon irgendwie klar. Kapitel 41: Absurditäten ------------------------ „Das ist zum Haare raufen!“, jammerte die schmächtige Gestalt, während sie sich mühselig weiter voran schob. Nur ungern schien der fast kniehohe Schnee vor den schweren Wanderstiefeln und den in dick gefütterte Leinen gehüllten Schienbeinen zu weichen. Die Spuren indes waren mehr als gut zu erkennen und noch besser zu lesen. Kurz blieb der Schwarzhaarige stehen, strich sich mit der verschwitzt-feuchten Hand durch das chaotische, kurze Gestrüpp auf seinem Kopf und drehte sich halb herum. Die Spur, die er im Schnee zog, konnte er über Meilen und Meilen verfolgen. Wohl nur, weil das Wetter aufgeklart hatte – etwas, worüber er durchaus Dankbarkeit empfand. Das letzte Mal, als er im Nebel gewandert war, hatte er sich verlaufen. Glaubte er zumindest. Da war immerhin überall Nebel gewesen und er hatte keinen Schimmer mehr gehabt, wohin er eigentlich stapfte – da war es auch angemessen schwierig, zu sagen, ob man sich nun verlaufen hatte oder nicht. Das… war vor zwei Tagen gewesen. Heute, heute war gutes Wetter. Hier oben im Norden konnte sich das natürlich jederzeit ändern, in dieser hübschen, frostigen Herbstzeit schneller noch als irgendwann sonst im Jahr. Doch Alistair hatte einfach ein Gespür dafür, dass es noch eine Weile hübsch bleiben würde. Hell und klar und jenseits der schneebedeckten Nadelbaumwipfel, die sich dann und wann der kaum noch wärmenden Sonne entgegen reckten, würde ein strahlend blauer Himmel warten. Sein Blick hob sich, von seiner scheinbar endlos langen Spur im Schnee zu eben jenem hübschen Blau über ihm. Ja, vermutlich könnte alles noch deutlich schlimmer sein. Irgendwie. Aber wen interessierte das schon? Es war ein schöner Tag. „Völlig absurd“, nuschelte er leise vor sich hin, selbst unsicher, ob das nun seinem Gejammer galt oder der Tatsache, dass er nun schon seit fast vier Wochen nach Süden marschierte und irgendwie einfach nicht aus dem Schnee und Eis und Frost herauszukommen schien. So gewaltig konnte die Strecke zwischen Lairuinen – seinem fürchterlichen kleinen Heimatdorf – und dem Punkt, an dem der Schnee endlich einmal aufhörte, ja nun wirklich nicht sein… nicht wahr? Also schloss sich seine Hand wieder fester um den Wanderstab, den er bei seiner leicht überstürzten Flucht aus dem elterlichen Haushalt ausgeliehen hatte. Natürlich war das nicht das einzige Stück, das sich nicht ganz rechtmäßig in seinem Besitz befand. Vielleicht hätte er fragen sollen. Um Erlaubnis. Oder so. Irgendwen. Irgendwann. Der Form halber – nicht, das er sich wirklich dran gehalten hätte, hätte es ihm jemand zu verbieten versucht. Dann wiederum hätte man ihn möglicherweise einfach mit einer Kette an seinen Bettpfosten gebunden, hoffend, dass ihn ein solides Stahlschloss aufhalten würde. Nicht, das es das getan hätte… Doch nun, da er so darüber nachdachte, wie die Dinge gelaufen waren… verzog er säuerlich das Gesicht. Nicht nur, das er die wirklich harte Maulschelle noch immer spürte, als hätte sein Vater ihn gerade eben erst zu Boden geschickt, er war sich auch ziemlich sicher, dass sein halber Kiefer noch immer hübsch bunt war. Der Rucksack auf seinem Rücken wog dafür ein gutes Stück schwerer. Vom Gewicht der Schuld, wie er in Gedanken witzelte. Darin befand sich eigentlich nicht einmal etwas von größerem Wert, nichts, das seinen Eltern als Verlust wirklich schwer zu schaffen machen würde. Hauptsächlich Kleider, eine kleine Feldausrüstung an Werkzeugen und Besteck, ein alter Kochtopf für unterwegs, Zundersteine, eine Wolldecke – eben der übliche Krempel, den man sich flink einpackte, wenn man völlig überhastet entschied, für immer von zu Hause wegzulaufen, sich einen Namen in der Welt zu machen und irgendwann als gestandener Mann von Ruhm, Reichtum und Ehre heimzukehren und dem eigenen Vater gehörig eine zu verpassen. Mit einem Handschuh, einem Fehdehandschuh! Aus Gold! Oder… nein, nein, das war unpraktisch. Aus Seide. Aber mit Diamanten bestückt! Damit es auch richtig schön wehtat. Andererseits, wie oft nahm man sich dergleichen überhaupt vor? Gab es dafür Richtlinien, was man einzupacken hatte? Gedankenverloren strichen die Fingerspitzen des Fünfzehnjährigen über den Flachmann in einer der zahllosen kleinen Taschen seines fast knielangen Umhanges. Er war bodenlos stolz auf das Werk. Sein Vater hatte gelacht, hatte ihn beschädigt, zerrissen, wieder und wieder. Weiberarbeit, hatte er gebrüllt. Eine Tochter hätten die Götter ihm geschenkt, aber sie aus Versehen in den falschen Leib gepackt, falsch ausgestattet. Stolz war er dennoch. Es hatte ein wenig Mühe gekostet und viel mehr Geduld, als er für möglich gehalten hatte, seine Mutter davon zu überzeugen, dass sie ihm zeigte, wie man ein klein wenig Leder verarbeitete, nähte, Knoten band, die auch hielten. Aber er hatte die Schäden immer ausbessern können. Manchmal mit ihrer Hilfe. Und er hatte immer mehr Taschen daran genäht. Denn Taschen, das war ja wohl unumstößlich wahr, waren ungemein praktisch. Man konnte so viel Kleinkram darin verstauen. Und wer hatte nicht das Problem, zu viel Kleinkram zu besitzen? Außerdem war es so unauffällig. Und es machte einfach ungeheuren Spaß, in eine Tasche zu fassen und nicht recht zu wissen, was man am Ende eigentlich herausziehen würde. Problematisch wurde es nur, wenn man es eilig hatte und etwas suchte. Aber er konnte sich keine rechte Situation vorstellen, in der das wirklich nötig wäre. Der Flachmann war natürlich ein Problem, irgendwie. Den kleinen Ring, der über dem Verschluss saß, den hatte er mitgenommen, ja. Bewusst. Er hatte sich am Schmuckkästchen seiner Mutter vergriffen, ärmlich und leer wie es war, und hatte den einen Ring mitgenommen, der ihr so viel bedeutete. Er war viel schlichter als all die anderen. Keine schönen Steine. Nicht golden. Einfach nur ein dummes kleines Stahlband mit einer zugegeben sehr filigran gearbeiteten Blüte aus Silber. Es war der Ehering seiner Mutter. Genauer gesagt war es der Ring, den seine Mutter seinem Vater am Hochzeitstag an den Finger steckte, aber weil der den Schmuck bei der in Lairuinen üblichen, bitteren Kälte und seiner Arbeit nicht gebrauchen konnte, trug er ihn so gut wie nie. Im Dorf wussten ja immerhin sowieso alle, das die beiden verheiratet waren, es bestand also gar keine Notwendigkeit, das durch das Tragen des Ringes zu symbolisieren. „Notwendigkeit“, spuckte Alistair nuschelnd von sich. Seine Mutter hatte ihren Ring immer getragen. Sie hätte ihn auch getragen, wenn es Erfrierungen bedeutet hätte, da war er sich sicher! Dieser Ring aber, der war durch so viele Generationen seiner Familie gewandert… und seine Mutter liebte diesen Ring. All ihre Liebe lag darin, so schien ihm. Wann immer er ihn hervorholte und sich die fein gearbeitete, silbrige Blüte ansah, wärmte ihm der Anblick das Herz. Warum der Flachmann mit dabei war, wusste er selbst nicht recht. Das war ein dummes, schmuckloses Stück, das sich sein Vater irgendwann vom Dorfschmied hatte fertigen lassen. Obwohl er es unzählige Male mit geschmolzenem Schnee aufgefüllt und mit dem Schmelzwasser auszuwaschen versucht hatte, stank es noch immer nach dem widerlich starken Zeug, das sich die ‚gestandenen Männer‘ gelegentlich in die Kehlen kippten als sei es nur Wasser. Einmal hatte er gesehen, wie der Steuereintreiber kam und davon probiert hatte. Hätte sich fast die Lunge herausgehustet, so kam es ihm vor. Der gesunde Menschenverstand – also das, was er besaß, die Mehrheit der Bewohner Lairuinens jedoch offenkundig nicht – sagte doch eigentlich, das man solches Zeug nur zum Reinigen von Silberware nutzte… und es nicht etwa trank. Das war ja beinahe schon lebensmüde. Aber als er mit diebischeren Händen denn je in aller Eile und voller Trotz durch das dunkle Haus geschlichen war, da hatte er den Gedanken gehabt, dass er sich an seinen Vater erinnern wollte. Nicht als den liebevollen, gewaltigen Bären, der sich schützend vor ihn stellte, ihn ermutigte, ihm vertraute. Denn das war er ja schließlich nie gewesen. Sondern als die gewalttätige Enttäuschung. So wie er ihn enttäuscht hatte, beruhte das auch auf Gegenseitigkeit. Dieses kleine Monster hatte in seiner Rolle als Vater gehörig versagt. Es ging eben nicht immer nur darum, größer zu sein als alle anderen, oder stärker. Sie im Armdrücken zu besiegen oder den Stamm schneller zu fällen. Es ging nicht darum, einen Bären mit bloßen Händen niederringen zu können. Oder mehr zu saufen als der Rest. „Geht es nicht“, knurrte Alistair seine eigenen Gedanken bestärkend. Nicht zum ersten Mal erwog er, den hübschen Trauring vom Flaschenhals zu ziehen, ihn sicher und sorgsam in einer der vielen, vielen Taschen zu verwahren und den verdammten Flachmann einfach in den Schnee zu werfen. Sollen Wind und Wetter sich doch drum kümmern! Doch er hielt jedes Mal wieder inne. Mitunter, wenn er ihn schon wurfbereit in der Hand hielt. Der Grund war simpel: Er brauchte etwas, um sich zu erinnern. Er war schusselig, da hatten seine Eltern schon Recht, alle beide. Nicht, das er aus lauter Böswilligkeit alles zu vergessen behauptete, so wie sein nichtsnutziger Vater ihm gern unterstellte. Es tat ihm ja selber leid, dass so vieles ständig seiner Aufmerksamkeit zu entgleiten schien. Aber es war wichtig, dass er sich erinnerte. Dass er nicht vergaß, warum er dieses engstirnige Nest hinter sich ließ und in die weite, schöne Welt hinausflatterte. Wie es wohl am Meer aussah? Oder darin? Darunter? Wie sich Wüsten unter den Füßen anfühlten? Er hatte so merkwürdige Dinge gehört, von so seltsamen Orten gelesen. Das Lesen, das war seinem Vater natürlich auch ein Dorn im Auge gewesen. Besseres hätte er ja zu tun gehabt. Holz fällen. Tiere jagen. Sich männlich gebärden, damit auch irgendwann mal was aus ihm wurde. Denn mit der Nase in Büchern erreichte man ja nichts. Außer, das die Augen schlecht wurden und herausfielen. Muskeln, die bekam man davon jedenfalls nicht. Eine Weile hatte er ja wirklich versucht, Muskeln aufzubauen. Es funktionierte nur irgendwie einfach nicht. Er blieb klein, schmächtig und drahtig. Er hatte es zu überspielen versucht. Und sogar seine Mutter hatte sich mit Lachtränen in den Augen aufrichtig zu entschuldigen bemüht, als sie ihn sah, wie er seine Kleider mit Socken und Unterwäsche und Hosen und Hemden auszustopfen versuchte. Immerhin hatten die als Polster ganz gut gehalten, als die anderen ihn zusammenschlugen. Als seine Mutter an jenem Abend seine Lippe und seine Braue nähte, da lachte sie nicht mehr. Sie lächelte nur. Weil er immer so seltsame Ideen hatte. Mit den Jahren hatte er sich natürlich anzupassen gewusst. Nicht, das er wie die anderen wurde. Oder so, wie man ihn gerne gehabt hätte. Aber er lernte zumindest, so zu sein, wie er nunmal war. Er war klein. Er war drahtig. Und das hieß allem voran: Er war schnell. Oh verdammt, wie schnell er doch war! Und agil! Er konnte die Schwünge austänzeln. Mochten sie doch über sein Herumgezappel lachen, wie sie wollten – ihr eigener Schwung war es, der sie Gesicht voran in die Schneewehen brachte. Und ihre bulligen, muskelbepackten Körper waren es, die schnaufend und hievend keinen Schritt mehr setzen konnten, weil sie sich völlig ausgebrannt hatten, während er nur eines machen musste: Sich um Lenikkis Willen nicht treffen lassen! Ein geradezu hämisches Lächeln zog gemächlich über seine Miene, als er in Erinnerungen schwelgte. Keine Guten, nicht im klassischen Sinne. Denn wann immer er einen Kampf gewann, sorgte man dafür, dass er ihn irgendwie doch verlor. Oder den Sieg zumindest bereute. Ihn nicht auskosten konnte. Und sein Vater, der Nichtsnutz, der half kräftig mit. „Mieser kleiner-“, setzte er bereits zur nächsten Schimpftirade an, als ihm etwas auffiel. Abrupt hielt Alistair inne und sah sich um. Die Sonne war beachtlich weiter gewandert. Oder hatte er sich gedreht? Ein Blick zurück wies ihn auf eine höhere Bodenwelle hin, die er irgendwann überschritten haben musste – er hatte keinen Schimmer, wie oder wann. Aber seine Spur lag dahinter verborgen. Natürlich könnte er jetzt zurücklaufen, den kleinen Hügelkamm nochmals erklimmen und dann einen Blick riskieren, ob seine Wanderspur irgendwann einen bemerkbaren Haken in irgendeine Richtung eingeschlagen hatte, aber… das klang so aufwendig und anstrengend. Mit den Schultern zuckend wandte er sich wieder um und stakste einfach weiter voran. Zu hoffen blieb ihm nur, dass er ein halbwegs taugliches Nachtlager fand. Ab und an hatten ihm Höhlen, kleine Felsspalten und Baumlöcher als Unterschlupf gedient, doch längst nicht an allen Abenden erwischte er auch solche. Manchmal entschied er dann, einfach die Nacht hindurch zu laufen – immer noch besser als sich in die Kälte zu legen und zu erfrieren, weil er auskühlte. An anderen Abenden riskierte er genau das. Denn die Lagerfeuer, die er entzündete, wärmten zwar – und Holz gab es trotz der eher karg gesäten Bäume schließlich reichlich -, aber der Wind hatte die unangenehme Neigung, sie einfach auszupusten, wenn er mal nicht hinsah. Was im Grunde der Fall war, sobald er einschlief. „Natürlich wäre alles viel einfacher, wenn ich nicht ständig vergessen würde, zu-“, begann er leise vor sich hin murrend, als plötzlich ein gellender, heller Schrei die scheinbar friedliche Stille zerriss. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern tat er, was seinen Vater vielleicht ausnahmsweise mal stolz gemacht hätte, etwas, worüber jeder andere mit klarem, vernünftigem Menschenverstand erst einmal gehörig den Kopf geschüttelt hätte – er hetzte auf die Quelle des Schreies zu, so rasch seine Füße ihn durch den Schnee zu tragen vermochten. Dabei wippte der Rucksack gehörig hin und her, während er mit dem Wanderstock versuchte, so viel Schnee vorab bei Seite zu schieben, wie sich machen ließ. In einiger Entfernung sah er, was jeder Nordländer von Kindesbeinen an eines Tages zu sehen fürchtete. Wendigos. Oder zumindest für den Moment: Ein Wendigo. Die Gestalt ließ sich schwer als etwas anderes interpretieren. Sie war groß gewachsen, über und über mit Fell bedeckt. Die viel zu langen Arme liefen in Klauen aus und die Kreatur, die leicht gebeugt ging, holte zu einem Schlag aus. Zwischen den Beinen hindurch sah Alistair nur dünne kleine Beinchen in einer dünnen, aber vermutlich gefütterten Hose. Zusammen mit dem Schrei gab ihm das jedoch alles Wissen, das er benötigte, um nochmals ein gutes Stück schneller voran zu preschen: Da stand ein kleines Mädchen vor der Bestie. Er hatte keine Ahnung, in was er hier hineingeraten war. Und so recht herausfinden wollte er es eigentlich auch nicht, obwohl er direkt auf das Duo zuhielt. Das würde sich bestimmt auch irgendwie vermeiden lassen, immerhin musste er sie ja nur retten und dann zügig verschwinden. Dieser Gedanke wiederum hätte deinen Vater vermutlich nicht mehr so sonderlich stolz gemacht, dachte er gallebitter. „Hey, Bettvorleger!“, brüllte er aus vollster Kehle. In den Nachwehen seines nur wenige Jahre zurückliegenden Stimmbruches kratzte sein Hals rasch und seine Stimme schwankte ein wenig, doch die Laustärke allein genügte, die Kreatur aufmerksam werden zu lassen. Statt einen tödlichen Streich auszuführen, riss sie sich halb herum und musterte die Quelle der Störung. Schwarze Augen sandten einen bohrenden, gierigen Blick aus, ein beinahe schon belustigt wirkendes Lächeln hob die viel zu weit seitlich gelegenen Mundwinkel und entblößte im Zuge dessen unangenehm viele unangenehm spitze Zähne in einem unangenehm großen und breiten Maul. Noch immer aber steuerte er mit größtmöglicher Geschwindigkeit auf die Wesenheit zu, den Wanderstock als Waffe fest umklammert. „Such dir gefälligst einen in deiner Größe!“, fuhr er die Kreatur an und jagte weiter vor. Der Wendigo wandte sich nun gänzlich zu ihm um und holte, zu einem Sprung gebeugt, mit einer Kralle aus. Als er nah genug war, wich Alistair geschickt dem Schlag aus und setzte mit dem Stab nach vorne. Die knollige Verdickung am oberen Ende rammte er mit so viel Wucht wie er angesichts der Umstände aufbringen konnte zwischen die Beine des Wesens, hoffend, das etwas, das männlich aussah, darunter schrecklich leiden würde – oder, falls die Geschichten über die Entstehung der Wendigos der Wahrheit entsprachen, er sich wenigstens an die grässlichen Schmerzen erinnern würde, die das normalerweise zu bedeuten hatte. Als das Monster jedoch nur knackend und krächzend zu kichern begann, hebelte er dem Ungetüm stattdessen das Bein weg und brachte es damit rücklings zu Fall. „Hab nicht gesagt, dass ich in deiner Größe wäre!“, kicherte er schmächtige Heimflüchtling und hastete an der fauchenden Kreatur vorbei, die auf unheimliche Weise beinahe so klang, als würde sie Fluchworte ausstoßen wollen. Etwas drang aus dieser Kehle und es klang vage nach Worten – so genau jedoch, das entschied der Schwarzhaarige rasch, wollte er das auch eigentlich gar nicht wissen. „Die Höhle, schnell!“, wies er stattdessen dem Mädchen an, das noch immer wie schockstarr ein kleines Stück entfernt ausharrte und ihr Stofftier festhielt. Der Anweisung folgend setzte sie sich rasch in Bewegung, doch Alistair konnte sehen, dass sie humpelte und versuchte, ein Bein nicht zu belasten. „Spring auf!“, warf er ihr hastig zu, als er gerade auf ihre Höhe aufschloss. Mit viel Mühe sprang sie zu ihm herüber, hängte sich mit all ihrem Körpergewicht an den Rucksack. Dabei verlor sie ihr seltsames kleines Tier, nach dem sie fast sofort die Hand ausstrecken wollte. Alistair aber strauchelte gehörig und wurde von dem unerwartet großen Zusatzgewicht zur Seite weggerissen – gerade rechtzeitig, damit der anspringende Wendigo sein Gesicht an der Rinde des Baumstammes platzierte, an dem Alistair eigentlich hatte knapp vorbeiziehen wollen… und rechtzeitig, damit der Dieb selbst das Stofftier schnappen konnte. Ein Wolf, wie er glaubte, unterzog es jedoch keiner näheren Untersuchung. Die Bestie stieß ein furchterregendes Geheul aus – und noch viel schlimmer waren die anderen Rufe, die aus verschiedenen Richtungen antworteten. „Wir versuchen das nochmal: Zur Höhle, schnell!“, wies er das Mädchen an. Sie ließ den Rucksack los und hastete vorwärts, so gut sie nur konnte. Rasch verschwand sie im dunklen Inneren. Alistair folgte ihr dichtauf. Als er etwas im Inneren funkeln und glänzen sah, breitete sich ein spielerisches Grinsen auf seinen Lippen aus. Das war eine Einladung, der er einfach nicht widerstehen konnte. Er löste die Schnur, schleuderte mit reichlich Mühe und vor Anstrengung schnaufend den Rucksack voraus und warf sich mit dem Hintern voran in den Höhleneingang. Die spiegelglatte Eisbahn musste entstanden sein, als es die letzten Tage geregnet hatte. Sie trug ihn schlitternd und rutschend tief und tiefer in die Höhle, vorbei an dem jungen Mädchen, bis er mit einem „Uff!“ ächzend gegen die rückseitige Wand donnerte. Mit seinem Rucksack in den Händen kam sie nach. „Sind wir sicher?“, piepste eine junge, ängstliche Stimme. „Den Eingang kann ich eine Weile  verteidigen. Es ist ein Dorf in der Nähe, oder? Eine Stadt? Irgendwas?“ Kaum, das sie nickte, lächelte er, tätschelte ihr den Kopf und erhob sich. Er wollte zum Eingang zurück, als er das Geräusch hörte. Ein Knirschen, ein Rauschen – und Sekunden später begann Schnee vor dem Eingang herabzurieseln. Zumindest war es ein Rieseln, bevor die kleine Lawine kam und den Eingang völlig zuschüttete. „Ooooder… wir sichern den Eingang, indem wir ihn versperren. Das ist sogar noch besser. War natürlich von Anfang an mein Plan.“ Er starrte sie an. Wirklich überzeugt wirkte sie nicht. Erst, als seine Augen ihre Dienstleistung ob der völligen Finsternis einstellten und sein Gehör sich genug schärfte, ihren Atem an völlig anderer Stelle zu vernehmen, wurde er sich darüber klar, warum sie so wenig überzeugt wirkte. Sie stand ja auch völlig wo anders. „Gut, also… komm mal her. Folge einfach meiner Stimme und gib mir den Rucksack. Das haben wir gleich, hörst du? Nur mit der Ruhe, hier drinnen sind wir völlig sicher.“ Zumindest, bis uns die Luft ausgeht. Wie viel davon wohl hier drinnen sein mag? Als er seinen Rucksack etwas umständlich im Dunkel herumgreifend zu fassen bekam, waren es nur noch wenige sichere Handgriffe und er hatte die Zundersteine gefunden. „Gut, Schritt zwei: Wir merken uns, wo wir sind. Erledigt. Schritt drei: Feuerholz. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich welches gesehen habe, als ich hier reingeschlittert bin. Da war sogar eine Feuerstelle und alles. Muss schon häufiger benutzt worden sein.“ „Ja“, hörte er die dünne Stimme des Mädchens wieder in der Finsternis, „Von denen“, schob sie eine Weile später nach. „Oh.“ Er ließ die neue Information sinken. Doch die Tatsache, dass er bisher nicht gefressen worden war, beruhigte ihn weit genug, das er entscheiden konnte, das ihm eigentlich egal war, wessen Höhle sie hier gerade besetzt hielten. Dann mussten die Wendigos eben draußen im Kalten schlafen. Tat ihnen vielleicht ganz gut. „Wenn wir ihren Unterschlupf haben, dann suchen sie sich vielleicht einen Neuen. Oder jagen etwas anderes. Oder verschwinden einfach so“, erklärte er halb, um sich selbst aufzumuntern und halb, um die Kleine zu beruhigen. „Das passt aber nicht zu den Geschichten, die meine Mammi erzählt“, gab das Mädchen zurück. Schwer seufzend nickte er und murmelte leise „Ja, zu denen meiner Mutter auch nicht“ und unterschätzte dabei deutlich, dass es in der Höhle still genug war, damit sie jedes Wort hören konnte. Er brauchte noch einige weitere Minuten, ehe er die Feuerstelle gefunden hatte. Trockenes Holz lag in ausreichender Menge bereit, nicht nur darin, sondern auch ein kleiner Stapel daneben. Und kaum hatte er die Lagerstelle mit ein wenig Licht und Wärme versorgt, fiel sein Blick auf noch mehr Ausrüstung. Offenbar hatten die Wendigos hier eine kleine Reisegruppe erwischt. Oder überrascht. Oder sie waren die Reisegruppe – schließlich gab es keine Kampfspuren, kein Blut, keine Leichen. Nur Vorräte. Zusammengelegte Zelte. Brennholz. Ein Kanister mit Wasser. Trockenbrot. Eigentlich eine hübsche Ausstattung und er zögerte nach den langen Tagen seiner Wanderschaft nicht, diese Vorräte einfach mit den reichlich erschöpften Eigenen zu kombinieren. Als sich das kleine Mädchen schüchtern zu ihm begab, konnte er erstmals einen halbwegs brauchbaren Blick auf sie werfen. Sie mochte vielleicht sieben oder acht Jahre alt sein. Dann aber bemerkte er ihre leicht spitz zulaufenden Ohren und korrigierte seine Schätzung. Elben, so erinnerte er sich vage an eines der Bücher, wuchsen schneller und höher. Vielleicht war sie fünf? Sechs? Das Stofftier indes schien tatsächlich ein Hund oder Wolf. Aus vielen kleinen Fellen zusammengebastelt, meinte er zu erkennen, als sie es fester an sich drückte. Er klopfte auf den leeren Platz neben sich. „Einer hat dich verletzt, nicht? Lass mal sehen.“ Sie setzte sich nur zögerlich, doch als er ihr weiterhin warm und freundlich zulächelte, verlor sie langsam ihre Scheu. Die Wunde… sah nicht gut aus. „Kennst du dich mit sowas aus?“, hakte er überfordert nach. Es war nicht so, dass er ein Problem damit hatte, Blut zu sehen. Aber er wusste nichts darüber. Das man Wunden ausspülen musste, gut – das schon. Damit wusste er schon mal genau eine Sache über Wundversorgung. Aber er konnte nicht nähen. Musste das genäht werden? Als sie leicht nickte, fiel ihm regelrecht ein Stein vom Herzen. „Gut, wunderbar – ich nämlich nicht. Kannst du mir sagen, was ich tun muss?“ Die nächsten ein oder zwei Stunden, so schätzte er, verbrachten sie damit, ihre Wunde zu reinigen und mit einem möglichst sauberen Verband aus frisch in Fetzen geschnittenen Kleidungsstücken zu verbinden. Die ganze Zeit war ihr knopfäugiger Begleiter fest in ihrem Griff, treu an ihrer Seite. Dennoch würde sie rasch zu jemandem gebracht werden müssen, der sich das genauer ansah und versorgte. Sie hatten hier nicht, was nötig war, um das richtig zu machen – so viel hatte sie ihn wissen lassen. Aber das war alles kein Problem, davon war Alistair fest überzeugt. Ganz in der Nähe musste eine Siedlung sein. Sie hätte sich wohl kaum eigenständig so weit hinausgewagt. Und wenn ein junges Kind verloren ging, gerade so ein hübsches junges Ding, so wohlerzogen und freundlich, dann dauerte es meist nicht lange, bis das gesamte Dorf bewaffnet auf den Beinen stand und Suchtrupps in alle Richtungen aussandte. Und das war etwas, wovor selbst Wendigos sich zu fürchten hatten, da war er sich absolut sicher. „Also dann“, meinte er nach einer gefühlten Ewigkeit. Hier unten verlor man aber auch erstaunlich schnell jegliches Zeitgefühl! „Was treibt dich denn in den Wald, hm?“ Sie hatte sich bestmöglich klein gemacht, seitlich liegend eingerollt und starrte ins Feuer, während sie immer mal wieder ein wenig zu zittern schien. Er zögerte nicht lange, erhob sich und breitete eine der Decken über ihr aus. Kurz schaute sie ihn an, als wolle sie ihn darauf hinweisen, dass das ja gar nicht ihr gehöre – aber er lächelte und das schien sie irgendwie aus der Bahn zu werfen. „Ich… ich habe Nüsse gesammelt.“ Nüsse, hm? Vielleicht doch ein Stück weiter vom Dorf. „Und du?“ Er grinste breit. „Ich“, begann er stolz die Brust herausreckend, „Bin frisch gebackener Abenteurer!“ Kaum hatte er das ausgesprochen, begannen ihre Augen größer zu werden und ein neugieriges Funkeln glomm darin auf. „Bin vor ein paar Wochen erst von daheim losgezogen. Seither geht’s immer weiter südwärts, bis ich durch das Grünland und die Wüste bin und am großen Meer stehe! Und naja, meine ersten Monster hab ich ja auch schon besiegt, was?“, witzelte er und tätschelte dabei seinen Wanderstab. Sie kicherte leise. Dabei fielen ihr ein paar helle Haare ins Gesicht. Draußen hatte er geglaubt, sie würden leicht silbrig aussehen, aber hier, im orangefarbenen Schein des Feuers, wirkten sie wie flüssiges Gold. Sie würde irgendwann einmal zu einer atemberaubenden Schönheit heranwachsen, da war er sich sicher. Vermutlich nichts, was dein Vater als ausreichend angesehen hätte. Der kurze, bittere Gedanke veranlasste ihn jedoch lediglich zu einem Schulterzucken. Was scherte ihn das schon noch? Zumal er das Mädchen ja sowieso nie wiedersehen würde. „Und wie bist du beim Nüssesammeln ausgerechnet an einen Wendigo geraten?“, hakte er nach. Eine leichte Röte schien sich in ihre Wangen zu schleichen. „Da hatte jemand um Hilfe gerufen“, erklärte sie mit schwacher Stimme. Ja – das wiederum passte ganz wunderbar zu den Geschichten, die sie beide über diese Monster zu kennen schienen. Einen Moment schwiegen sie, ehe die Kleine wieder anhob. „Du bist kein sehr guter Abenteurer, oder?“ Jetzt war es an ihm, die Stirn zu runzeln. „Wie kommst du darauf?“ „Du läufst nach Westen.“ Der Satz hing eine ganze Weile bedeutungsschwer im Raum, doch Alistair tat sich schwer damit, ihn zu begreifen. Westen… huh… das erklärt natürlich Einiges... aber sagt man nicht immer ‚der Sonne hinterher‘? „Das ist alles Teil meines Plans“, gab er breit lächelnd zurück, „Ich sah mir so die Gegend an und dachte mir, dass der Morgennebel irgendwie nach Gefahr schmeckte. Eine kleine Prise ‚viel zu kluges junges Hübschlein in Not‘ – da konnte ich ja schlecht untätig einfach weiter südwärts marschieren!“ Wieder dieses glockenhelle Kichern. Es war ein angenehmes Geräusch. Der Norden, so sehr er ihm auch entkommen wollte, hatte auch ein paar wenige schöne Dinge zu bieten. Irgendwie fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, dass das Kichern und Lachen der jungen Mädchen im Süden genauso schön und hell klingen würde. Das lag am Schnee in ihrem Blut, wie seine Mutter mal in einem ähnlichen Zusammenhang gesagt hatte. „Erzähl mir eines deiner Abenteuer!“, bat die kleine Elbe ihn nach einer Weile der Stille. Dass sie überhaupt noch wach war, überraschte Alistair. Er zerzauste sich das ohnehin wirsche Haar und betrachtete sie kurz, ehe sich ein Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete. „Einmal“, setzte er an wie ein professioneller Skalde, „Da habe ich einen gefährlichen Bären mit bloßen Händen niedergerungen, um die schönste Frau der Stadt zu retten!“ Natürlich war das ein wenig… übertrieben. Besagter Bär war lediglich sein Vater gewesen, sturzbetrunken nach einem Gelage mit den anderen in der Taverne. Die schönste Frau der Stadt war dabei nicht erfunden, zumindest nicht in seinen Augen. Obwohl er sich seit gut zwei, drei Jahren in der Phase befand, da die Reize von jungen Mädchen immer präsenter in seinem Kopf wurden und er ihnen immer öfter hinterher starrte, war die schönste Frau Lairuinens nach wie vor seine Mutter und keine, absolut keine, konnte ihr das Wasser reichen. Zumindest nicht in seinen Augen. Während er seine Geschichte des tapferen Bärenringers wiedergab und jede Begebenheit im Verlaufe der eigentlich traurigen Konfrontation auf etwas Passendes ummünzte, achtete er sehr genau auf das kleine Mädchen, das sich nun indirekt in seiner Obhut befand. Selbst unter der Decke zitterte sie dann und wann ein klein wenig, wie es schien, und der farbige Schimmer des Feuers konnte nicht verbergen, das sie noch immer recht blass war. „Hey, sag mal, wie heißt du überhaupt?“, erkundigte er sich eine Weile, nachdem er seine Geschichte beendet hatte. Oder eher, die Geschichte nach der Geschichte nach der Geschichte. Die Ausdauer des Kindes, sobald es um das Zuhören bei Abenteuererzählungen ging, war schier erstaunlich. Und clever war sie obendrein. Im Kampf mit dem Vaterbären hatte er sein Bratpfannenschwert verloren – ein notwendiger Nachtrag, nachdem sie anmerkte, dass er ja gar kein Schwert mit sich führte. Also erzählte er aus einer Laune heraus eine zweite Geschichte, nämlich die, wie er sein Schwert verlor. Doch die kleine Ungereimtheit darin entging ihr wiederum ebenfalls nicht, was zur dritten Geschichte führte. Obwohl er durchaus gern eine Antwort gehört hätte, war er zugleich doch irgendwie erleichtert und froh, als sie keine gab. Das hieß immerhin, dass sie endlich eingeschlafen war. Alistair hob daraufhin so behutsam wie ihm möglich war – und er galt immerhin als einer der Geschicktesten im ganzen Dorf -, die Decke an und spähte nach der Wunde. Sie hatte sich kränklich verfärbt, die Bandage war mit Blut gefärbt worden. „Verdammt…“, flüsterte er leise gepresst hervor. Er holte eine zweite Decke und legte sie über das gelegentlich zitternde Bündel, griff sich dann wagemutig einen der brennenden Scheite aus der Feuerstelle und begann die Höhle sorgsam zu erkunden. Dass sie noch nicht erstickt waren, musste etwas bedeuten. Er hatte keine Ahnung, wie schnell man die Luft in solch einer Höhle aufbrauchen würde, aber er fühlte sich… gut. Und das kam sogar ihm seltsam vor. Es dauerte eine Weile, doch er fand eine ganze Reihe kleinerer Tunnel, wie Miniaturausgaben dessen, der hier herabgeführt hatte. An den gerade einmal faustgroßen Öffnungen schien ein stetiger Luftaustausch stattzufinden. Immerhin stand ihnen also kein Erstickungstod bevor. Sein Blick jedoch schwenkte sorgenvoll zu der Kleinen zurück. So wirklich freuen konnte er sich über die guten Nachrichten nicht. Brot, Trockenobst, Wasser, Decken, Feuerholz – gerne hätte er sich der Hoffnung hingegeben, dem Gedanken, dass sie hier einige Tage würden aushalten können, falls nötig. Fakt war: Sie würden das nicht können. Er konnte. Die Kleine nicht. Als er sich zu ihr zurückbegab, legte er noch eine dritte Decke über sie – die Letzte aus dem fremden Lager. Zumindest ihr Zittern schien damit beendet zu sein. Er selbst machte sich auf der einen, deutlich kleineren Decke ein Lager, die er aus seinem Rucksack hervorwühlte und nutzte selbigen als Kopfkissen. Das Frühstück am nächsten Morgen bestand aus den Vorräten, die er eigentlich für seine Weiterreise hatte nutzen wollen. Dennoch bot er ihr alles an, reichlich davon. Sehr zu seinem Verdruss aß sie wenig und erklärte frühzeitig, sie habe keinen Hunger mehr. Er konnte sie überreden, noch ein klein wenig mehr zu essen, doch ein schwerer Hustenanfall schüttelte den ohnehin zerbrechlich wirkenden kleinen Leib durch. Fast ein ganzer Schlauch Wasser verschwand in ihrer Kehle. Als er ihn wegpackte – in sein Reisegepäck – prüfte er ganz zufällig ihre Stirn. Sie begann zu fiebern. Ginge es in diesem Tempo weiter mit ihr bergab, würde sie vielleicht noch einen oder zwei Tage durchhalten. Er hatte soetwas noch nie selbst gesehen, geschweige denn behandelt. Aber er hatte davon gehört. Wenn am Tisch beim Abendmahl geschwiegen wurde, dann war immer irgendetwas geschehen. Manchmal erzählte man ihm davon. Von Äxten, die schlecht geschwunden worden waren. Bäume, die Beine beim Kippen zerquetscht hatten. Oder unachtsamen Säufern, die sich grässliche Erfrierungen geholt hatten, wenn sie draußen in einer Schneewehe einschliefen. Sie ist noch viel zu jung, um so elend zu verrecken, beriet sich der schmächtige Nordländer mit sich selbst. Aber du bist auch nicht Damaste, mein Freund. Du kannst sie nicht retten! Du weißt ja nicht mal, was du tun musst. Er schnaubte verächtlich. Nein, vielleicht nicht. Aber andere wissen’s. Ich könnte das Dorf suchen. Er rollte mit den Augen. Ja, natürlich, geh und such das Dorf. Ich sage nur eins, mein Freund: Westen. Langsam sackten seine Schultern geschlagen herab. „I-Ist… alles in Ordnung?“, presste die Kleine mühselig hervor, ehe ein weiterer Husten sie schüttelte. Alistair atmete tief durch, seufzte. „Ich musste an zuhause denken“, gab er die halbe Wahrheit preis und zog den Flachmann mit dem Ring hervor, „Ich bin kein Abenteurer, weißt du? Tatsächlich bin ich erst vor ein paar Wochen weggelaufen.“ Die Vorstellung, jemand könne freiwillig davonlaufen, schien ihr nicht einzuleuchten. Sie runzelte ihre junge kleine Stirn und sah ihn aus großen, überraschten Augen an. Vermutlich war sie nicht einmal gewohnt, dass man sie belog. „Der Bär, den ich niedergerungen habe? Ich verpasste meinem Vater eine mit der Bratpfanne. Weil er meine Mutter geschlagen hatte. Er hatte getrunken, viel zu viel. Passiert ab und zu. Und dann gibt er ihr immer die Schuld, dass ich so missraten bin. Und der Rest des Dorfes ist kein Deut besser. Ich hielt es da einfach nicht mehr aus. Ich bin sowieso rastlos. Ständig sehe ich in die Ferne und wünschte mir, ich könnte es sehen. All das, wovon ich gelesen habe. Die weiten Äcker im Grünland. Die endlose Wüste. Das tiefe Meer. Das hier, das ist alles, was ich von ihnen habe.“ Er reichte den Flachmann an die Kleine weiter, die mit zittrigen Händen das Gefäß entgegen nahm. Zunächst bestaunte sie nur den Ring, der um den Verschluss saß, ehe sie ihn öffnete. Sie machte den Fehler, die Nase über die Öffnung zu halten, als sie daran roch. Das Gesicht grässlich verzogen, drückte sie den Flachmann rasch von sich und schraubte ihn soweit fort wie möglich wieder zu. Alistair lächelte leicht und nahm ihn wieder an sich. „Ja, stinkt bestialisch, nicht? Das Zeug hat ihm den Kopf verdreht. Tut es immer wieder. Tut’s bei allen, die’s trinken.“ Wieder ließ er die Schultern hängen. Was machte er sich hier eigentlich vor? Er war kein Held, kein Ausreißer, kein Abenteurer. Er war Alistair. Er war ein Niemand. Und er würde immer ein Niemand bleiben. Sein Vater hatte letztendlich auch einfach Recht, nicht wahr? „Du bist ein Abenteurer“, erklärte die Kleine plötzlich. Ihre Stimme riss ihn aus seinen immer düstereren Gedanken hervor. Ruckartig hob er das Haupt und starrte sie irritiert an. Irritiert, und leicht zornig. Was wusste sie schon davon? Sie war viel zu jung. Viel zu jung, um überhaupt irgendwas zu wissen! Und wäre er nicht in ihre verdammte Misere hineingeraten, dann würde er jetzt nicht hier sitzen müssen, bis ihm die Decke auf den Kopf fiel. Er würde sich nicht darüber den Schädel zerbrechen müssen. Er würde weiterziehen können, einfach immer weiter, und sich glauben machen können, das der Himmel blau und der Tag schön war! Immer mehr redete er sich gedanklich in Rage, doch einmal mehr zerrte ihre piepsige, schwache Stimme ihn aus seiner Bahn fort. „Du hast ein Monster besiegt. Und du erkundest Höhlen. Findest Schätze.“ Sie klopfte demonstrativ auf die Decken, die über ihr lagen, deutete auf seinen Wanderstab und ihre Umgebung. Vielleicht wusste sie doch irgendwas. Er grinste, zunehmend breiter. „Und rette die holde Maid in Nöten, hm?“, ergänzte er und lachte herzlich, als sie den Blick niederschlug. Für sie musste das alles noch furchtbar peinlich sein. Jungs waren irgendwie komisch und was die Frauen mit den Männern taten, war seltsam und eklig und genauer wollte man es auch irgendwie gar nicht wissen – er erinnerte sich noch gut genug an diese Zeit. Zeiten änderten sich, das wusste er ebenso. Und irgendwann, so vermerkte er stolz in Gedanken, würde sich eine bildhübsche junge Frau mit einer zarten Röte in den Wangen daran erinnern, dass in einer hässlichen Situation ein frecher kleiner Rotzlöffel ihr ihr erstes Kompliment gemacht hatte. Natürlich ohne jede Bedeutung. Außerdem konnte er nicht sicher sein, ob er wirklich der Erste war, der ihr etwas in der Richtung gesagt hatte. Dennoch ließ ihn das Bild einen Moment lächeln, ehe er sich wieder der Kleinen zuwandte. „Kennst du Lieder?“ Es dauerte nur ein paar Minuten – gefühlt -, ehe sie eines gefunden hatten, das beide kannten. Er stimmte es an, in einem völlig übertriebenen Tenor, den er auch gar nicht halten konnte. Schauspielerisch völlig überdramatisiert und theatralisch, schmetterte er seinen Gesang gegen die Höhlenwände und brachte sie mehrfach zum Kichern, ehe sie noch einen Schluck aus einem weiteren Trinkschlauch nahm und einstimmte. Ihr Gesang ließ ihn einen Moment still werden. Er war bezaubernd, so wie ihr Kichern. Hell und klar wie Eis. Etwas, dem man gerne lauschte. Natürlich würde sich ein Abenteurer seines Kalibers davon nicht einschüchtern lassen! Also hob er mit neuer Euphorie an, stimmte nun seinerseits ein und ergänzte ihre zerbrechliche, aber schöne Gesangsstimme durch sein schiefes und krummes Gejaule. Mit sich selbst war er dennoch zufrieden. Zumindest, bis es für sie zu anstrengend wurde. Neue Hustenanfälle schüttelten ihren zarten Leib, er rutschte zu ihr herüber, hielt sie fest, wiegte sie leicht hin und her. Wie lange er das tat, wusste er nicht. Er erinnerte sich nur an die Panik, die er dabei hatte. Was sollte er tun? Was wäre jetzt richtig? Konnte er überhaupt etwas tun? Was, wenn gleich kleine Bröckchen von irgendwas aus ihrem Mund geflogen kämen, die eigentlich besser drin geblieben wären? Was, wenn sie hier starb? Während er einfach tatenlos daneben saß? Als sie in seinen Armen eingeschlafen war, prüfte er alle paar Minuten, ob sie noch atmete. Es mochte später Abend sein… oder Morgen? Nacht? Mittag? Er wusste nicht mehr, wann es war. Was es war. Aber er erwachte von einem Geräusch. Seine Unterschenkel waren völlig gefühllos und taub, weil er kniend eingeschlafen war, die Kleine irgendwie noch immer in ihre drei Decken geschlungen im Arm haltend. Da war es wieder. Er legte ein wenig Holz im fast erloschenen Feuer nach, wartete, bis der Lichtkegel sich mit den neuen Flammen wieder etwas vergrößerte und suchte nach der Quelle des Lautes. Erst, als er sich absolut sicher war, bemühte er sich, die Kleine zu wecken. Sie fieberte, glühte förmlich. „Sie sind da!“, flüsterte er ihr freudig zu, „Die Leute aus deinem Dorf, sie sind da!“ Dass sie den Kopf schüttelte, realisierte er erst, als selbiger sich wieder und wieder von einer Seite zur anderen warf. Sie tat nicht einmal die Augen richtig auf, stattdessen nuschelte sie etwas aus offenstehenden, spröden Lippen hervor, dass er sich tief herabbeugen und sein Ohr fast dagegen pressen musste. „Die mögen uns nicht“, flüsterte sie, „Werfen Steine… schimpfen…“ Wieder und wieder das Gleiche. Steine. Sie werfen Steine. Solche Leute suchten nicht. Solche Leute interessierte nicht, was mit denen geschah, die sie nicht leiden konnten. Doch das warf eine noch viel, viel unangenehmere Frage auf. Wer grub sich da durch den Schnee? Alistair bettete das Mädchen so gut er konnte auf den Boden und hastete zur Front, zum Eingang der Höhle. Was er hörte, war nicht das Stoßen von Spaten und das Schippen von Schaufeln. Was er hörte, war ein rasches, fast unablässiges Scharren, kaum dass er das Ohr gegen das dicht zugeschüttete Eis presste. Mochten es Bären, Wölfe oder Wendigos sein, das spielte keine Rolle – was immer da kam, war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ihr Freund. Ein Plan musste her – und das rasch! Der Stock! Sein Blick blieb an dem Wanderstab hängen. Er konnte ihn schwingen. Von links nach rechts und zurück, von oben nach unten und zurück, er konnte ihn sogar vorwerfen und damit stoßen. Aber das war kein Waffenumgang, wirklich nicht. Und war der Feind schnell, klein, wenig, agil – oder schlimmer noch, bewaffnet, intelligent… dann wäre er verloren. Und was wird aus der Kleinen? Sein Blick glitt weiter, hektisch. Sie würde niemals lebend diese Höhle verlassen, sollte er sich entscheiden, hier zu kämpfen. Kämpfen, er! Er hatte noch nie gekämpft! Seine Gegner ausmanövriert, umtänzelt, gegen sich selbst ausgespielt, das hatte er. Aber nie wirklich und tatsächlich gekämpft. „Du hast immer so verrückte Ideen“, erscholl plötzlich die Stimme seiner Mutter wie aus dem Nichts in seinem Kopf und brachte ihn dazu, innezuhalten. Er glaubte ihre Lippen auf seiner Stirn zu spüren, ihre Finger, die durch sein Haar fuhren. Er schloss die Augen, genoss, spürte dem Gefühl nach. Er liebte es, liebte es so sehr, wenn sie ihre Hand durch seinen chaotischen Schopf gleiten ließ. Einmal, da hatte er seinem Vater die Brauen abgefackelt. Mit einer Flasche Schnaps und einer Kerze! Das ist es! Hastig jagte Alistair zurück zu ihrem Lager. „Hey, aufwachen! Komm schon, aufwachen, wir verschwinden von hier!“, erklärte er hastig und ohne jede Rücksicht auf Lautstärke. Er rüttelte die Kleine und es kam auch durchaus Bewegung in den zierlichen Leib, aber so recht ließ sie sich nicht von seiner Energie anstecken. „Behalt die Decken um dich, wir werden ein gehöriges Stück rennen müssen und ich habe wirklich keine Ahnung, wie weit oder wie kalt es draußen ist.“ Sie nickte, wenn auch nur schwach. Schließlich schulterte er den Rucksack, schob den Wanderstock irgendwo dazwischen und füllte die Inhalte seiner vielen Taschen so um, dass er den Flachmann bequem in eine davon würde stecken können. „Also gut, hör zu. Hey, konzentrier dich bitte! Bitte, bitte, bitte, hör mir zu. Das ist wichtig und ich will dich hier rausbringen, ja?“ Sie nickte vage, leicht abwesend wirkend. „Wenn ich fertig bin, gebe ich dir den hier“, erklärte er und zeigte ihr den Flachmann, „Steck den in die Tasche“, setzte er fort und deutete auf die frisch freigeräumte Tasche an seiner Weste, „Danach musst du nur die Fackel und deinen kleinen Wolf halten, ja? Die Decken und dich halte ich!“ „Silberauge“, gab sie kaum hörbar von sich. Alistair nickte verstehend. „Silberauge, sorg dafür, dass sie die Fackel festhält, fest und schön hoch, ja?“ Die Kleine drückte ein wenig fester in den Bauch ihres Tieres, das es den Eindruck erweckte, es würde nicken. Er lächelte, strich dem Mädchen über den Kopf, wie seine Mutter es sonst immer bei ihm getan hatte. „Wir kommen hier raus, vertrau mir!“ Als alles bereit war, positionierte er sich am Eingang. Er konnte bereits die großen Schemen jenseits sehen. Keine Bären, keine Wölfe. Nur geduldig auf die Schwächung ihrer Beute lauernde Wendigos. Na wenn’s weiter nichts ist. Mit einem tiefen Zug leerte er den gesamten Inhalt des Flachmannes in seine Backen, ohne auch nur einen Tropfen des widerlich stinkenden, brennenden Zeugs herabzuschlucken. Wäre das geschehen, so mahnte er sich selbst fortwährend, er hätte sich verschluckt, mehr davon herabgewürgt oder schlimmer noch, eingeatmet. Stattdessen jedoch hob er als Nächstes die Kleine empor. Sie stopfte den Flachmann in eine Tasche. Eine. Nicht die Tasche. Er sah, wie das Ding samt Ring in ihrem Stofftier verschwand – aber gut, vorläufig wäre es da wohl so sicher wie überall sonst. Sie nahm das brennende Holzscheit, das er ihr in die Hand drückte und hielt es fest umklammert. Er richtete es aus, ein wenig höher, ein wenig weiter links. Als sie soweit vorbereitet waren, wie sie sich eben vorbereiten konnten, holte er tief Luft – was sich angesichts seines brennenden, gefüllten Mundraumes als umständlich erwies – und stürmte vorwärts. Die Krallen brachen durch und rissen nun komplette zu Eisplatten erstarrte Schneeformationen heraus, als er auf einen Meter an den Ausgang herankam. Als sich die ersten Köpfe und Beine ins Innere wagten, presste er die Lippen mit aller Kraft zusammen und drückte die Wangen heran. So fein wie er es nur konnte, blies er einen enorm hochprozentigen Alkoholnebel auf die völlig überrumpelten Monster. Auf die völlig überrumpelten, über und über befellten Monster. Ein paar davon, vielleicht drei, vielleicht vier, gingen fast augenblicklich lichterloh in Flammen auf und schreckten zurück. Sie gaben dabei den Eingang frei, zu dem Alistair nun mit dem Rucksack am Rücken und dem Mädchen fest in seinen Armen an der Brust herausschoss. „Welche Richtung?!“, plärrte er hektisch über das zornige Geheule der Wendigos hinweg, während er sich bemühte, das panisch schreiende Mädchen zu beruhigen und die kleinen Flammen in ihren Haaren zu löschen. Immerhin war sie geistesgegenwärtig, einen Arm zu heben – hoffentlich, um ihm die Richtung zu weisen. Er steuerte wie angewiesen, entging durch den abrupten Wechsel einmal mehr einem Ansprung einer Kreatur, die, schon wieder, direkt gegen einen Baum sprang. Drei andere versuchten ihm den Weg abzuschneiden und brachen dabei in eine Gletscherspalte ein. Ein weiterer Wendigo, der ihnen rasant nahe gekommen war, stolperte schlicht über einen unter der Schneedecke fast unsichtbar gewesenen Stein und rollte einem zweiten, der fast aufgeschlossen hatte, direkt in die Beine hinein. Als die Siedlung in Sicht kam, holte Alistair alles aus sich heraus, was er noch finden konnte. Schließlich warf er sich einmal mehr mit dem Hosenboden voran auf einen Hang, drückte das Mädchen dicht an sich und schlitterte teilweise reichlich schmerzhaft über Stein und Eis und gefrorene Erde auf einer stetig dünner werdenden Schutzschicht aus Schnee herab. Die letzten Meter zur Dorfgrenze passierte er noch immer in jenem Tempo, als wären die Monster weiterhin auf seinen Fersen, bis er mit Schwung und einem wuchtigen Tritt das schloss einer Tür brach und hereinplatzte. Das Haus wirkte groß genug, um ein Rathaus zu sein, eine Versammlungshalle, ein Vorratsspeicher, irgendetwas von Wert. Es erwies sich als Taverne. Einer der letzten Orte, an denen er hätte landen wollen – doch er brauchte dringend Hilfe und war nicht zimperlich. „Hey da, die Tür reparierst du mir!“, fauchte der Betreiber erbost, als er aus der Küche um die Ecke geschossen kam und den leidigen Zustand seiner Eingangstür sah, „Oder zahlst zumindest dafür“, korrigierte er beim Anblick des schmächtigen Nordländers. „Hilfe, bitte! Schnell, sie braucht Hilfe!“, tönte Alistair den Einwurf ignorierend. Sofort sprang mehr als ein Dutzend der anwesenden Männer auf, fast alle, die da waren. Ein junger Bursche trat ernsten, sorgenvollen Blickes heran und zog dem Bündel Decken selbige vom Gesicht weg. Kaum erkannte er, um wen es sich handelte, verzog er das Gesicht und trat zurück. „‘S ist nur das Balg der Schlampe“, ließ er die anderen mit einem Schulterzucken wissen und setzte sich wieder. Unter Alistairs völlig entsetztem Blick hob er seinen Krug und trank einen Schluck, ehe er wieder zu ihm aufblickte. „Mach die Tür zu, ‘s zieht. Und das da solltest du wegwerfen, bevor’s dich mit irgendwas ansteckt.“ „Soll Lenikki euch ins Bier pissen, ihr miesen Ratten!“, schimpfte der Schwarzhaarige. „Ich denke, du wolltest grad gehen, Kurzer“, tönte es da vom Wirt, der sich demonstrativ auf einen an der Wand aufgehängten, mit Nägeln bestückten Knüppel lehnte – offenbar überschätzte er jedoch die eigene, nicht mehr ganz so jugendliche Figur und das damit einhergehende, zusätzliche Gewicht war kein Teil der Kalkulation. Unter einem Bersten gab die Halterung des Nagelknüppels nach und beides ging zu Boden. Der Wirt gab ein fürchterliches Aufjaulen des Schmerzes von sich, als er mit dem Unterarm in die Nagelkeule fiel. Wieder waren rasch einige auf den Beinen, um dem armen Kerl zu helfen, während andere sich eher darüber amüsierten und vor sich hin glucksten. Sie alle aber ignorierten das erbärmlich zitternde, bleiche und von kaltem Schweiß betroffene Bündel in Alistairs Armen. Das überhaupt jemand da gewesen war, das kam den meisten erst wieder in den Sinn, als sie einen neuen Schluck von ihrem Krug nahmen – und das Gebräu darin gar fürchterlich schmeckte. Auf die Tische und den Boden spuckten sie es aus und viele erinnerten sich der Worte des vorlauten fremden Halbstarken – und beschlossen, dem Knaben eine Lehre zu erteilen. Alistair dagegen war längst wieder aus dem Dorf verschwunden. „Norden“, hatte die Kleine ihm leise von zitternden Lippen zugeflüstert. Also eilte er schnellstmöglich nach Norden, aus dem Dorf heraus. Er fand eine einsame Hütte, nicht weit entfernt, und nahm sich abermals keine Zeit, anzuklopfen. Als er die Tür auftrat und das Mädchen hereinschleppte, kam ihm hastig eine Frau entgegengestürzt. „Oh Götter, nein!“, entfuhr es ihr, kaum dass er sie einen Blick auf das Gesicht des Mädchens werfen ließ. Eilig ließ er sich von ihr in ein kleines Zimmer führen, kaum größer als eine etwas opulentere Abstellkammer. Die junge Elbe wurde auf ihr Bett gelegt. Selbst jetzt noch hielt sie Silberauge fest umklammert. „Im Nebenraum steht ein Schrank, linke Tür, zweites Fach von unten, darin sind Umschläge! Rasch!“, wies ihn die Herrin des Hauses an. In aller Hast und Eile stürmte Alistair ins Nebenzimmer, verschwendete keinen Blick an das ohnehin karge und schmucklose Interieur, sondern kehrte so zügig wie möglich mit dem Erbetenen zurück. Er beobachtete, wie sie sich die nächsten Minuten rührend um die Kleine kümmerte und fand darin die Sorgsamkeit und Liebe einer Mutter wieder. Es ließ ihn für einen Moment vergessen, dass er flüchtig war, dass er fortgelaufen war. Es ließ ihn sich an daheim erinnern. An seine eigene Mutter. Und deren Fürsorge, wann immer er sich auch nur das Knie aufgeschrammt hatte. Immer wieder schickte sie ihn los, mit direkten, schmucklosen Beschreibungen, um dies und jenes zu holen. Die Wunde sah furchtbar aus und verursachte Übelkeit in ihm, doch er riss sich zusammen. „Kommt sie durch?“, wollte er wissen, als sie eine ganze Weile schon nichts mehr verlangt und nichts mehr getan hatte, außer an ihrem Bett zu sitzen und der Kleinen immer wieder über das Haar zu streicheln, während ihr schwacher Atem die schwere Bettdecke kaum hob. Dicke Tränen rannen ihr heiß brennend die Wangen herab. „Ich… ich weiß es nicht“, erwiderte sie heiser und mit belegter Stimme. „Mammi…?“, ächzte das Mädchen fast unhörbar und wälzte sich einen Moment herum, „Erzähl… mir eine…“ Sie verlor sich in unzusammenhängendem Gebrabbel und Fiebererzählungen. Alistair wollte bereits sein Beileid aussprechen – er wusste, was es bedeutete, wenn die Mütter nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu tun wussten, als ihren Kindern so viel Ruhe und Liebe mit auf den Weg zu geben wie ihnen möglich war. Doch just als er den Mund öffnete, ertönte ein seltsamer Laut. Ein leiser, gedämpfter Knall, so schien ihm. „Oh nicht jetzt, nicht schon wieder…“, flüsterte die Hausherrin und senkte den Blick. Alistair dagegen neigte sich leicht in den Rücken und spähte in den Nebenraum. … da stand jemand. Ein alter Zausel, so schien ihm. Ein hübscher, weißer Bart, sehr gepflegt, eine lange, edel wirkende Robe. Er hatte einen dick ausgebeulten Rucksack auf dem Rücken und einen Stab in der Hand, an dessen Ende ein kleiner Kristall in einer Metallfassung schimmerte. „Das kann doch einfach nicht wahr sein, nicht schon wieder“, nuschelte der Alte und zog sich den Spitzhut vom Kopf, „Das ergibt doch einfach keinen Sinn!“ Während die leisen Verwünschungen und das Geschimpfe aus dem Nebenraum nicht mehr wirklich abzureißen schienen, begradigte Alistair seine Position wieder und blickte die um ihr Kind bangende Mutter an. „Wer… wer ist das?“, hakte er vorsichtig nach, unsicher, ob ihm das zu fragen überhaupt zustand. Es war seines Wissens nach nicht unbedingt sonderlich… gewöhnlich… das fremde Männer in den Wohnstuben offenbar alleinwohnender Weiber auftauchten. „Ich weiß es nicht“, erklärte sie leise, ohne den Blick von ihrer Tochter zu heben, „Seit fast einer Woche taucht er einmal am Tag auf. Anfangs war es noch außerhalb der Hütte, aber mit jedem Tag kam er näher heran. Das ist das erste Mal, dass er im Haus ist.“ „Ihr… habt ihn nie gefragt?“, hakte Alistair irritiert nach. Sie schüttelte den Kopf. „Sieh dir doch die Robe an, Junge. Das ist ein Magier des Zirkels. Mächtige und gefährliche Leute. Mit denen lässt man sich nicht ein, wenn man nicht muss. Sowas endet selten gut.“ Nur zu gerne hätte Alistair behauptet, dass er das natürlich wusste. Tatsächlich jedoch hörte er zum ersten Mal etwas von Magiern. Natürlich wusste er, was Magie war. Falsch und unnatürlich, soweit zumindest die in Lairuinen verbreitete Meinung. Was er sich aus den Erzählungen immer mitgenommen hatte, ging eher in Richtung: Man konnte damit alles machen, was man sich nur vorstellen kann. Das klang in seinem Kopf nicht nur fantastisch, es klang einfach wundervoll! Doch an ihrer Erklärung blieb noch etwas anderes dran, das in seinem Kopf haftete und leuchtete und Glocken läutete: Magier des Zirkels waren mächtige Leute. Mächtig. Man ließ sich nur mit ihnen ein, wenn man musste. Sein Blick fiel wieder auf das Mädchen. Sie zitterte. Trotz allem, was ihre Mutter geleistet hatte, wurde sie blasser, schwächer. Man konnte ihr regelrecht beim Sterben zusehen. Und der Anblick drehte ihm fast den Magen um. Entschlossen und von der Hausherrin ignoriert trat er in die Wohnstube herüber. „Guten Tag, der Herr!“, begrüßte er den Eindringling. Der schreckte zunächst aus seiner kleinen Litanei auf und musterte den Halbstarken von Kopf bis Fuß und zurück. „Ein Bursche mit Manieren, hm? Einen guten Tag auch, junger Mann!“, erwiderte der Alte und positionierte sich offenbar sehr genau im Raum. „Gibt es ein Problem, das ihr tagtäglich hierher zurückkehrt? Mögt ihr meiner Mutter vielleicht eure Aufwartung machen?“ Der Alte lachte kurz. Heiter, freundlich und allem voran, ehrlich. Es gab an ihm nichts, absolut gar nichts, das Alistair als bedrohlich empfand. „Nein, nein, mein Junge, das wirst du auf einen besseren Galan warten müssen. Einen Jüngeren allem voran, mag ich meinen. Es ist nur so, dass ich nun schon seit einer Woche versuche, mittels meiner Teleportrunen zum Symposium in Ordewey zu kommen, um meine neuste alchemistische Kreation mit ihren regenerativen kombinatorischen Effekten zu präsentieren, aber wann immer ich den Zauber wirke, lande ich in dieser verflixten Hütte!“ Wow. Ich habe so gut wie nichts begriffen. Angesichts der durchschnittlichen Intelligenz und Belesenheit in Lairuinen… fühlte sich Alistair wirklich selten ungebildet oder dumm. Aber hier, im Gespräch mit einem echten, einem waschechten Magier? Kann man Magier eigentlich waschen? Macht das einen Unterschied? Er schüttelte kurz den Kopf. Immerhin etwas hatte er herausgehört: Regenerativ. Das hieß so viel wie Heilung, nicht? „Ihr habt einen Heiltrank dabei?“, platzte er hoffnungsvoll heraus. Sofort hielt der Magier inne und musterte ihn abermals, doch weitaus intensiver, misstrauischer, kritischer. „Bist du für die Störung meiner Zauber verantwortlich, mein Junge?“, erkundigte sich der alte Zausel argwöhnisch, „Ist das hier ein Raub?“ Hastig hob Alistair die Hände, als immer mehr und immer horrendere Vermutungen die Lippen des Alten verließen. „Nicht doch, nein! Bitte, hört mir zu, im Zimmer nebenan liegt ein kleines Mädchen und sie stirbt!“ Er sah zurück zum Bett der Kleinen, sah, wie ihre Mutter den Kopf hob, wie ihr Blick, wütend und ungnädig und so voller bodenlosem Kummer ihn für eine Sekunde traf, ehe sie sich wieder ihrer Tochter widmete. Der Magier dagegen runzelte die Stirn und zog überlegend die Brauen zusammen. „Ein sterbendes Mädchen, sagst du?“ Vorsichtig und Alistair keine Sekunde aus den Augen lassend, beugte er sich vor und spähte in das Zimmer hinein. „Ach du gute Güte, Jebis hilf!“, platzte es da aus dem Alten heraus und hastig schob er Alistair aus dem Weg, um überraschend eilig in das Zimmer zu schreiten. „Zur Seite, gute Frau, ich bin Heiler! Und nichts für ungut, aber bei dem armen Ding kann eure magere Kräuterkunde auch nichts mehr richten.“ Er ließ den Rucksack behutsam von seinem Rücken gleiten und zog einen gewaltigen Glaskolben daraus hervor. „Ich muss euch warnen, Teuerste – das ist eine experimentelle Rezeptur, ich habe sie noch nicht erprobt und kann euch über die Nebeneffekte noch nichts sagen.“ „Wird sie es überleben?“, war das Einzige, was die Hausherrin wissen wollte. „Das ganz gewiss, so wahr ich hier stehe!“, erklärte er mit tiefer Ernsthaftigkeit, ehe ihm seine Position bewusst wurde und er leicht verlegen nachsetzte „Äh, sitze.“ Alistair dagegen hatte tausende Fragen. Sicherlich, sie hatte die einzig Wichtige gestellt. Aber es gab so viel anderes zu erfahren. Würde die Kleine grün werden? Wuchs ihr ein drittes Auge auf der Stirn? Könnte sie plötzlich fliegen? Oder mit Tieren sprechen? „He da!“, brüllte plötzlich eine kräftige Stimme von draußen, „Wir wissen, dass der Halbstarke da drin ist! Bring‘ ihn raus, dann müssen wir nicht rein kommen!“ Alistair erkannte die Stimme. Unangenehmerweise schien ihm der junge Mann aus der Taverne gefolgt zu sein – und dem zustimmenden Gemurmel nach zu urteilen war er auch nicht allein gekommen. Der alte Magier hatte dem Mädchen gerade einen guten Schluck aus seinem überdimensionierten Kolben eingeflößt, als er zu Alistair herüber blickte und eine der buschigen weißen Brauen hob. „Freunde von dir, hm?“ Unsicher tippelte Alistair von einem Fuß auf den anderen und sah sich nach möglichen Fluchtrouten um. „Würde ich so nicht sagen“, gab er gedankenverloren von sich. „In der Küche ist eine Hintertür“, erklärte die Hausherrin hastig und wies ihm die Richtung. „Ich befasse mich mal mit den Herrschaften da draußen“, gab der Magier zu verstehen und hievte sich unter einem Ächzen wieder auf die Beine. „Danke. Danke, danke, danke!“, platzte Alistair heraus, fiel zuerst dem deutlich überraschten Magier um den Hals, der ihn nach einem Moment der Verzögerung jedoch tatsächlich in die Arme schloss und ihm auf die Schultern klopfte, ehe er Richtung Vordertür davon schlurfte, danach… trat er an das Bett heran. Das junge Ding sah jetzt schon so viel besser aus als vorher. Dieser Anblick entlockte ihm ein zufriedenes Lächeln. „Ich wüsste so gerne, was dort draußen geschehen ist, ich war krank vor Sorge“, erklärte die Mutter ihm, als sie sich erhob und ihr Kleid glatt strich. Dann jedoch nahm sie ihn bei den Schultern und sah ihm tief in die Augen. „Ganz gleich, was war. Du hast mir mein Kind zurückgebracht und sein Leben gerettet. Ich… ich kann dir dafür nicht genug danken.“ Sie zog ihn an sich und Alistair hätte sich so gerne geborgen gefühlt, er hätte sich so gerne sicher gefühlt, so gerne an Zuhause erinnert gefühlt. Tatsache war jedoch: Er war tatsächlich ein Halbstarker. Er war in einer schwierigen Phase. Und er spürte, wie ihm das Blut in gegenwärtig völlig unerwünschte Regionen abhandenkam, als sein Hirn erst einmal realisiert, wie weich und angenehm üppig ihre Brust war, die von nicht mehr als einem für die Witterungsverhältnisse erstaunlich dünnem Kleid im Zaum gehalten wurde. Mit den Gedanken in alle Himmelsrichtungen verstreut, riss er sich von ihr frei. „I-Ich, uh, m-muss los!“, presste er nervös stammelnd hervor. Erst eilte er in die Wohnstube und hätte sich fast zu Boden geworfen, als er einige Leute mit dem Magier sprechend direkt vor der Vordertür sah. Dann hastete er zurück, nahm den von der lächelnden Hausherrin gewiesenen zweiten Ausgang des Zimmers und wäre bereits um Haaresbreite zur Hintertür herausgestolpert, als er nochmals in das Zimmer des kleinen Mädchens zurückschoss. „T’schuldigung!“, nuschelte er hastig, packte Silberauge und fischte in der Öffnung herum, die die Kleine verwendet hatte, um den Flachmann und den Ring sicher zu verstauen. Als er die Flasche ertastete, zog er daran und rupfte ein wenig, als sich etwas Widerstand auftat. Hastig und ohne einen zweiten Blick stopfte er das Ding unter dem nunmehr verwirrten Blick der Mutter in seine Tasche. „Lange Geschichte, kann sie dir später erzählen! Danke und, uh, schönen Tag noch!“ Eilig stürmte er zur Hintertür heraus und sah zu, das er so schnell so weit wie möglich fort kam. Wendigos? Pff! Lieber legte er sich doch nochmal mit einem Dutzend von denen an, als der angefressenen Meute aus der Taverne zu begegnen. Wie die drauf sein konnten, das wusste er nur zu gut. Und wie er schon früher festgestellt hatte: Wendigos sollten zornige Dörfler in Rotten fürchten. Und wenn die Wendigos das schon fürchten sollten, dann galt das für ihn doppelt und dreifach! Er rannte. Rannte so weit und so lange, bis ihm die Puste ausging und seine Muskeln allesamt kreischend und brennend nach Pause verlangten. Mit den Händen auf die Oberschenkel gestürzt, blickte er sich um und lächelte zufrieden, sehr zufrieden. Keine Hütte und kein Dorf weit und breit. „So. Dann tun wir jetzt so, als wäre das alles nie passiert und laufen weiter nach Sü-… hm. Wo wohl Süden ist?“   Vierzehn Jahre später. „Ishara, das ist Alistair. Alistair, Ishara. Ihr werdet euren nächsten Einsatz miteinander bestreiten und versuchen, euch in-“ Jaja. Blah, blah, blah. Hmmm. Irgendwie kommt mir ihr Gesicht bekannt vor. Habe… habe ich sie nicht schon einma- Jeder, der Alistair auch nur ein klein wenig kannte, fürchtete dieses manische Funkeln, wann immer es in seine Augen trat. Ishara dagegen konnte das noch nicht von sich behaupten. Diese Ohrringe vermisst sie nie im Leben! Uh schau nur wie sie glänzen!   Viele Jahre war es her, das Alistair den Flachmann für ein paar Kupfer verkauft hatte. Er brauchte kein Relikt alter Tage, um sich daran zu erinnern, warum er Lairuinen verlassen hatte. Sein Lebensstil erinnerte ihn tagtäglich daran. Und der Schnee in seinem Blut. Den Ring seiner Mutter aber, den vermisste er gelegentlich. Er wusste nicht recht, wie, wann oder wo er ihn verloren hatte. Aber verloren hatte er ihn – und bei einem so bedeutenden Stück wie diesem zählte dieser Verlust zu den wenigen Dingen, die er weder vergessen, noch sich verzeihen konnte… Kapitel 42: Memorial -------------------- Ruhig einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen… Schuss. Der Pfeil schnellte von der Sehne ihres Bogens, jagte mit großer Geschwindigkeit davon und bohrte sich in den Hals des Kaninchens. Sie schulterte ihren Bogen und schwang sich in einem Anflug von Leichtsinn unter Aufbietung all ihrer Akrobatik und Agilität von Ast zu Ast herab, bis sie in einer formvollendeten Pose, kerzengerade und mit ausgestreckten Armen, ihre Schuhe auf dem Boden aufsetzte. Isharas Brust hob und senkte sich unter raschen Atemzügen, als ihr Körper mit der plötzlichen und starken Belastung aufzuholen versuchte. Niemand war hier, um sie zu sehen – das wusste sie. Dennoch schweifte ihr Blick herum, wanderte über die dunkle Sumpflandschaft, die knorrigen, uralten Bäume, die hoch aus dem weichen, feuchten Boden schossen und die zahllosen Kronen, die sich dicht an dicht zu einem fast geschlossenen Blätterdach verbanden, um die größten Teile des sternenklaren Himmels zu verdecken, der sich nur langsam heller zu färben begann. Die Dämmerung nahte. „Verdammt!“, entfuhr es der jungen Halbelbe, ehe sie sich sputete. Hastig eilte sie voran, fand ihre Beute auf dem Boden liegend und kniete sich zu dem toten Tier. Sie schloss die Augen, atmete bemüht durch, um etwas Ruhe einkehren zu lassen. „Ich bitte um Vergebung für diesen Akt der Gewalt und… u-und… danke für das Mahl, welches du bescheren wirst.“ Sie schüttelte den Kopf. Wütend war sie nicht, nur… enttäuscht. Viele der Lektionen ihres Vaters waren ihr fremd und seltsam vorgekommen. Viel zu oft hatte sie sie zu hinterfragen versucht, nur um enttäuscht und ängstlich den Blick zu senken, als er sie wissen ließ, das ihr das richtige Blut fehle, um begreifen zu können, wieso diese Traditionen waren, wie sie eben waren. Sie war ein Mischblut. Nicht vollwertig. Mit dem Makel ihrer menschlichen Hälfte gingen allerhand Schwächen einher. Sie würde niemals die Unsterblichkeit ihrer vollblütigen elbischen Verwandtschaft erlangen – und damit, so hatte er sie wissen lassen, fehlte ihr schlicht die Zeit, um das Warum so mancher Regel zu begreifen. Nein, als einziges Mischblut in ganz Esgaroth hatte sie ohnehin andere Sorgen. Sie, mehr als alle anderen, musste sich beweisen. Musste sich selbst beweisen, was sie konnte. Musste ihrem Vater beweisen, dass sie seiner Zeit würdig war, die er in ihre Lehre und Ausbildung investierte. Musste allen anderen beweisen, das ihr Vater sich nicht darin irrte, sie trotz ihrer Unvollkommenheit aufgenommen zu haben. An manchen Tagen war das schwieriger als an anderen. Die Tatsache, dass sie das kleine Gebet beim Schlagen von Wild erstmals seit Monaten wieder vergessen hatte, war ein schlechtes Zeichen für den Heutigen. Nicht etwa, das sie abergläubisch war. Aberglaube ist der Ausdruck der Unvernunft, rezitierte sie in Gedanken. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, das heute ein mieser Tag war. Und sie im Bett hätte bleiben sollen. Wäre das nur so einfach gewesen. Unter einem Seufzen zog sie den Pfeil aus der Wunde und hob das Tier hoch. Nicht viel dran – aber das musste es ja auch nicht. Ihr Vater hatte sie anfangs dafür gerügt, doch obgleich seine Abneigung bestehen blieb, hatte er irgendwann eine gewisse… Toleranz dafür entwickelt, das sie deutlich mehr Fleisch zu verspeisen neigte als jeder andere Elb in ganz Esgaroth. Eine weitere Schwäche ihrer menschlichen Seite, so vermutete sie. Es hatte ihr eine ganze Reihe unschöner Spitznamen seitens der Gleichaltrigen eingebracht. Oder der Jüngeren. Und teilweise auch der Älteren. Ein schweres Seufzen drang aus ihrer Kehle. Sie hätte sich einen Freund gewünscht. Wenigstens einen, der sie verstand. Oder zumindest nicht auf ihr herumhackte für das, was sie nunmal war. Sie bemühte sich nach Kräften, aber selbst die Erfolge, die sie verbuchen konnte, schienen einfach nie genug. Vielleicht würden sie das nie sein. Ihre Miene verlor jeglichen Ausdruck, als sie sich wieder zur Raison rief. Hier im Sumpf zu stehen und zu lamentieren verschwendete lediglich kostbare Zeit. Entsprechend setzte sie ihren Rückweg eilig fort. Sie kannte diese Bäume. Sie kannte die Gesamtheit der Sümpfe nahezu in- und auswendig. Sie wusste, wo die Schnitterdämonen ihre Nester hatten, in welchen Teilen man Menschen über den Weg laufen konnte und in welchen Tümpeln Blutegel so groß wie Spatzen hausten. Sie hatte kaum laufen können, da erkundete sie Esgaroth – die Stadt natürlich, nicht den Boden darunter. Das folgte erst zwei Jahre später. Und mit jedem weiteren Jahr, so schien es, wagte sie sich weiter hinaus. Dieser Tage unternahm sie für den Rat Spähaufträge bis an den Rand der Sümpfe, eine Reise von immerhin sechs Tagen, wenn man die Wege kannte. Diese Ehre hatte sie sich sehr zu ihrem Leidwesen nicht verdient, wie ihr Vater sie aufgeklärt hatte. An jenem Tag strahlte sie breit über das ganze Gesicht, als sie die Rolle in fein säuberlich geschriebenem Elbisch hochhielt. Sie hatte ihre Bitte ohne sein Wissen an den Rat gerichtet. Eine weitere Chance, sich als würdig und fähig zu beweisen. Er aber brach ihre unangemessene Euphorie mit knappen Worten herab. Garien hätte sie ein paar Jahre später von sich aus für Spähaufträge angemeldet – dann, wenn er glaubte, dass sie bereit war. Er war wenig erfreut gewesen, das sie solcherlei Pläne hinter seinem Rücken angestrebt hatte und letztlich war seine Stimme es gewesen, die den Rat davon überzeugt hatte, zuzustimmen. Denn was, so fuhr er sie etwas aufgebrachter an, hätte er auch sonst tun sollen? Die eigene Tochter abzulehnen oder auch nur nicht alles in seiner Macht Stehende für ihren Erfolg zu tun würde ein mehr als schlechtes Bild auf das Haus Morgenwandler im Allgemeinen… und Garien als Haupt des Hauses und Vater der Bewerberin im Speziellen werfen. Sie hatte die Schelte mit Demut und Gefügigkeit ertragen, so wie sie stets alle Zurechtweisungen aus seinem Munde aufnahm. Er bemühte sich um sie, versuchte sein Bestes, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Doch während seine strengen Lehren ihr üblicherweise dennoch irgendwie die Laune verhagelten, vermochten seine harschen Worte dies an jenem Tag nicht. Vielleicht hätte sie besser zuhören sollen. Isharas Fingerspitzen strichen über ihre Flanke. Dort war natürlich nichts. Nur dicke Leinenkleidung unter einer ebenso biegsamen wie leichten elbischen Lederrüstung. Doch vor einigen Jahren noch war dort eine große Narbe gewesen. Ihre erste Spähmission hätte sie fast das Leben gekostet. Sie erinnerte sich noch gut an sein wütendes Gesicht an jenem Tag. Mancher, sogar in Esgaroth, behauptete, das Garien nicht allzu viel Mimik hatte, doch sie wusste es besser. Man musste nur auf die kleinen Fältchen um Mund und Augen achten – und diese um der Götter Willen niemals erwähnen! -, und noch viel ausdrucksvoller waren seine Augen. Dieser ungnädig bohrende Blick jenes Tages bescherte ihr heute noch kleine Schauer. Die besten Heiler hatte er kommen lassen müssen, damit man sie wieder zusammenflickte und die Spuren ihres Versagens entfernte. Die nicht unerheblichen Kosten hatte sie abarbeiten müssen, da er sich zwar nicht weigerte, nicht öffentlich, für ihre Behandlung zu bezahlen, sie doch familienintern Schulden bei ihm damit angehäuft hatte, die es rasch zu tilgen galt. Immerhin hatte sie so einiges über die wild wachsenden Kräuter gelernt, über Salben und Pasten und deren Herstellung, das Mischen von Tränken und Tinkturen und natürlich die Heilmagie – und im Zuge Letzterer eine ganze Menge über Anatomie. Dieses Wissen wiederum hatte ihr bei ihren späteren Spähmissionen gehörig weitergeholfen. Sie hatte ihre Vergiftungen selbst kurieren, ihre Fieber selbst senken und ihre Infektionen selbst behandeln können. Ab und an musste sie ein stattliches Sümmchen ihres mühselig zusammengesparten Geldes dafür ausgeben, einen Heiler zu beauftragen, damit er die Narben entfernte, die sichtbar geworden waren. Und noch etwas extra, damit er vergaß, sie je in seinem Haus gesehen zu haben.   Als sie kurz nach Morgendämmerung ins Haus ihres Vaters einkehrte, saß der bereits am Frühstückstisch. Wie befürchtet legte sich ein ungnädiger Blick auf sie, kaum dass sie den Speisesaal betreten hatte. Doch Garien sagte nichts. Erst als sie gedankenverloren und um Eile bemüht das Kaninchen auf den Tisch legen wollte, räusperte er sich hörbar. „O-Oh, Entschuldigung“, nuschelte sie leise, doch sein Blick wurde nochmals etwas härter. Rasch entsann sie sich, dass sie gerade Fehler auf Fehler häufte. Sie wandte sich ihm zu und verneigte sich kurz. „Ich bitte um Verzeihung“, hob sie an und wagte den Kopf zu heben, um sich seiner Reaktion zu versichern. Sein Blick wurde weicher, zufriedener, ehe er schließlich nickte. Die Blutstropfen, die das Kaninchen derweil verloren hatte, hatte sie mühsam mit ihrem Schuh abfangen müssen. Es würde Stunden dauern, das Blut aus dem Leder zu waschen, aber Tage, es wieder aus der Rindenstruktur des Bodens herauszubekommen. Und sie wusste aus Erfahrung, wie ungehalten Garien darüber war, wenn man sein Haus verschandelte oder sie mit heruntergekommenen, liederlichen Kleidern herumrannte. Als Tochter des Hausherrn, des Herrn des Hauses Morgenwandler obendrein, hatte sie präsentabel auszusehen. Stets und allzeit. Andernfalls hätte sie nicht die paar für ihre Verspätung dringend benötigten Minuten investiert, um die Blätter, kleinen Äste und Spinnweben aus ihren Haaren zu fischen, die sie auf ihrer Jagd aufgelesen hatte. Wie die anderen Jäger und Späher es schafften, das zu verhindern, war ihr schleierhaft. Sie hatte einmal versucht, sie zu fragen – und bekam nur zur Antwort, dass sie jemandes anderen Zeit verschwenden solle. Dann wiederum war sie ohnehin ein Sonderfall. Die Sümpfe um Esgaroth waren gefährlich – jeder wusste das. Deshalb verließen Jäger die halbwegs sicheren Gefilde der Stadt auch immer nur in Dreiergruppen. Sie dagegen hatte niemanden, der sie begleitete. Weil die Zusammenstellung dieser Gruppen auf freiwilliger Basis erfolgte. „Konzentration“, mahnte Gariens Stimme und durchbrach ihre Gedankengänge. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie einen der Stühle anrempeln konnte, der etwas aus der Reihe gezogen an der Speisetafel stand. Sie schüttelte kurz den Kopf, bat abermals um Entschuldigung und nahm dann auf dem Stuhl Platz, um ihr eigenes Frühstück zu beginnen. Eine Weile schwiegen sie beide, aßen in Eintracht. Doch da gab es etwas, das ihr einfach keine Ruhe lassen wollte. Es waren gute Neuigkeiten, und angesichts des Umstandes, dass es solche in ihrem Leben selten zu geben schien, wünschte sie sich umso mehr, sie mit ihrem Vater zu teilen. Als sie ihr mageres Frühstück aus Grünzeug heruntergeschlungen und sich erfolgreich eingeredet hatte, das sie davon tatsächlich satt geworden war, harrte sie noch einen Moment ungeduldig aus, ehe sie anheben wollte, kaum dass sie das letzte Stück Salat in seinem Mund verschwinden sah. Jedoch stoppte Garien kurz bevor das grüne Blatt die Barriere seiner Lippen passierte. Eine Braue hob sich leicht und sein Blick begann über den Tisch hinweg in ihre Richtung zu wandern. Oh oh… Einen Moment musterte er sie, wie sie da saß, unbehaglich auf ihrem Platz herumrutschte in dem nutzlosen Versuch, sich seinem Urteil zu entwinden. Schließlich, unter einem gedehnten Seufzen, senkte er das Besteck wieder zum Teller. „Gibt es einen Grund für die Aufdringlichkeit, mit der du die Ruhe meines Frühstücks störst?“ Sie kannte den leicht enervierten Ton ihres Vaters schon zu gut – gerade im Umgang mit ihr selbst -, um sich daran noch wirklich zu stören, weshalb ein begeisterter Funke in ihre Augen trat, sie tief Luft holte und zu erklären begann. „Du kennst bestimmt Meister Lamasillin, der die besten Bögen in ganz Esgaroth herstellt! Ich habe vor zwei Jahren schon bei ihm gefragt, ob ich einen seiner Bögen haben könnte.“ Garien hob gebietend die Hand und ihr Mund schnappte beinahe reflexartig zu. „Ich erinnere mich“, erklärte er, „Ich erinnere mich auch, dass er dir absagte.“ Erst als er die Hand wieder senkte, nickte sie… schüttelte dann jedoch den Kopf, als würde sie sich selbst korrigieren. „Genau genommen sagte er, dass ich später nochmal fragen solle, wenn ich fähig sei, seine Bögen auch zu führen und sie wertschätzen könnte. Also habe ich geübt und geübt und geübt und ihn alle halbe Jahre wieder gefragt.“ Immer hektischer und euphorischer erzählte sie, die Anspannung in ihr schien zuzunehmen, fast unerträglich zu werden, als könne sie vor lauter Glück und Freude jeden Augenblick platzen. Gariens Braue wanderte noch ein klein wenig höher. „Er hat ja gesagt“, löste er das wenig fordernde Rätsel und sah sich von Isharas übereifrigem Nicken bestätigt, während er selbst keine Miene verzog. „Ich musste ihm zeigen, was ich kann und er meinte, dass er mir einen seiner Bögen sogar zur Hälfte des Üblichen geben würde!“ Es war dieser Moment, in dem Garien kurz zu erbeben schien, ehe ein Lachen aus seiner Kehle drang. Isharas Freude verflüchtigte sich rasant. Wo war der Fehler? Was hatte sie falsch gemacht? Sein Lachen, dünn, leise und allzeit irgendwie hart klingend, erscholl üblicherweise nur, wenn jemand sich dumm anstellte. Sie mochte diesen Laut nicht. Natürlich hätte sie dergleichen nie geäußert, aber es war eins von drei Dingen, die sie an ihrem Vater nicht leiden konnte. Sein Lachen. Es klang so gar nicht wie das fröhliche Gelächter, das sie dann und wann an anderen Stellen Esgaroths hörte. Als der Hausherr sich wieder beruhigt hatte, senkte er einen hintergründigen Blick auf Ishara. „Die meisten Elben führen Bögen aus seinem Handwerk. Weißt du auch, wann sie sie führen?“ Wie von ihm zweifellos erwartet, schüttelte sie den Kopf. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, das ihr die Antwort nicht gefallen würde. „Zwei oder drei Jahrhunderte, nachdem er ihnen die Erlaubnis erteilte. Dir gibt er ihn zur Hälfte, weil ich dein Vater bin – und vielleicht aus Mitleid, weil du sonst nicht viel davon haben wirst.“ Für Ishara brach eine Welt zusammen, als jene Worte erklangen. Zwei oder drei Jahrhunderte, wiederholte sie in Gedanken. Nie hatte sie sich der Hilfe ihres Vaters verwehrt. Familie gab aufeinander Acht, Familie war füreinander da. Auch wenn er, sehr zu ihrem Unbehagen, sehr viel häufiger für sie da war als umgekehrt. Das war ja eben einer der Gründe, warum sie ständig versuchte, sich nützlich zu machen und seinen Wünschen allzeit Folge zu leisten. Es war das Mindeste, was sie tun konnte. Aber Mitleid? Sie wollte kein Mitleid. Sie brauchte kein Mitleid. Sie würde sich diesen Bogen verdienen! Nun, eigentlich hatte sie geglaubt, sie hätte ihn sich bereits verdient. Aber dem war offenbar nicht so. Während Trotz sich in ihrem Geist einzunisten begann und sie fieberhaft überlegte, wie sie in den Besitz dieses Bogens kommen konnte – und zwar nicht erst in zwei oder drei Jahrhunderten, sondern in zwei oder drei Jahren, höchstens -, entging ihr völlig, wie Gariens Miene sich veränderte. Erst, als er sie ansprach, hob sie aus ihren Gedanken gerissen das Haupt – und schluckte schwer. Sie kannte diesen Blick. Diesen ungnädigen, richtenden, urteilenden Blick. Sie hatte etwas falsch gemacht. Nicht irgendeine kleine Lappalie wie das tote Kaninchen auf dem Essenstisch oder vorgestern der Grasfleck auf der Hose an ihrem Hintern. Etwas Größeres. Etwas Wichtiges. „Da wir aber gerade von Bögen sprechen“, begann der Herr des Hauses und Ishara wusste augenblicklich, worum es ging. „Das war nicht meine Schuld!“, warf sie hastig ein, „Iorohm hat-“ Garien hob die Hand und sie schwieg augenblicklich. Einen Moment kämpfte Trotz mit aller Macht dagegen an, versuchte sie dazu zu überreden, notfalls dazu zu zwingen, ihre Erklärung fortzuführen. Doch am Ende schloss sie ihre Lippen und fügte sich dem Unausweichlichen. „Der junge Mann heißt Iorôhm, merke dir das endlich“, mahnte Garien zunächst. In einem letzten Aufbegehren versuchte ihr Trotz von ihr zu verlangen, dass sie ihren Vater endlich wissen ließe, was dieser gemeine Schuft alles mit ihrem Namen anstellte – doch auf diese Impulsivität zu hören brachte nur Ärger und Unmut. Das hatte sie früh und sehr nachhaltig lernen müssen, entsprechend senkte sie den Kopf für einen Augenblick. Ehe ihr einfiel, das Garien das nicht gutheißen würde – also sah sie wieder zu ihm auf und versuchte das Kommende mit Würde zu tragen, so wie von ihr verlangt wurde. „Du hast versagt“, begann er nun das eigentliche Thema anzureißen und schon jene ersten Worte schmerzten sie fürchterlich, „Ganz gleich, wie du es vor dir selbst zu rechtfertigen versuchst. Mir kam zu Ohren, was geschehen ist. Mir kam auch zu Ohren, dass niemand ihm nachweisen konnte, die Windstöße produziert zu haben, die deine Pfeile an den Rand der Zielscheibe lenkten.“ Natürlich konnte das niemand – weil’s einfach niemand wollte!, zürnte sie innerlich, blieb jedoch völlig ruhig und gefasst. „Selbst hätte Meister Lamasillin dir einen seiner Bögen schenken wollen, ich bezweifle, dass du dafür bereit gewesen wärst. Dein Versagen in diesem Wettbewerb stellt das bestens zur Schau. Du wirst am nächsten Bogenschießen nicht teilnehmen und-“ „Aber dann stehe ich da wie ein Feigling!“, fuhr sie ihrem Vater mit einem Schlag aufgewühlt dazwischen – Garien hob die Hand, doch diesmal schlossen sich ihre Lippen nicht, „Und dieser Hund glaubt, er hätte gewonnen!“ „Ishara!“, donnerte die plötzlich deutlich an Kraft und Lautstärke angeschwollene Stimme ihres Vaters durch den Speisesaal. Mit einem Schlag wurde es totenstill. Die Halbelbe war erschrocken zuammengefahren, die Lippen fest aufeinander gepresst, das sie einer weißen Linie glichen, kauerte sie nun regelrecht in ihrem Stuhl und blickte zu ihm auf. Er war vom Stuhl regelrecht aufgesprungen, die Hände auf den Tisch gestemmt, beugte er sich ein Stück vor und funkelte ihr zornig entgegen. Ihr Blick trübte sich ein, als ihr die Tränen empor stiegen, doch mit aller Willenskraft, die sie aufbieten konnte, hielt sie sie zurück, hielt sie wenigstens davon ab, sich in heißen Strömen über ihre Wangen zu ergießen. Garien bedachte sie eine Weile mit einem beinahe schon rasenden Blick, ehe er die Augen schloss, bemüht tief durchatmete, ein schweres Seufzen folgen und sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich einen Moment die Nasenwurzel, ehe er die Lider wieder öffnete. „Du wirst tun, was ich dir sage – verstanden?!“ Noch immer schwang sein Ärger in seiner Stimme mit, doch immerhin war er wieder auf die gewohnten Pegel zurückgekehrt und saß. Sie nickte beklommenen Blickes. „Gut. Das gilt insbesondere für das Nächste. Ich will von dir kein einziges Widerwort dabei hören. Iorôhm hat Interesse an dir bekundet.“ Jene Worte hatten kaum Gariens Mund verlassen, da weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Die Lippen noch immer fest aufeinander gepresst, um auch ja kein Risiko einzugehen – allmählich hatte sogar der Schmerz nachgelassen und sie spürte einfach gar nichts mehr -, drang nicht ein einziger Laut aus ihrer Kehle. Ihr Vater sprach weiter. Erklärte. Er wisse nicht, welche Art von Interesse der Elb an ihr hätte und wie ernst ihm das Ganze sei, doch für den Moment gedachte Garien alles mit der gebührenden Professionalität zu behandeln – ein Vorgehen, welches er ebenso von ihr erwartete. Das inkludierte insbesondere, dass sie nicht länger in Konkurrenz zu ihm trat oder ihm absurde Streiche zu spielen versuchte – eben nichts tat, das ihn verärgern könnte. Wie benommen nickte sie, einige Minuten später, so schätzte ihr Zeitgefühl. Oder ein paar Stunden – was machte das schon für einen Unterschied? Sie erhob sich mechanisch und tat alles richtig, wirklich alles. Sie platzierte das benutzte Besteck korrekt auf dem Teller, rückte den Stuhl millimetergenau an die richtige Stelle am Tisch heran, wünschte ihm noch einen angenehmen Vormittag und wollte den Raum verlassen. Vielleicht war ihr Schritt dabei etwas eiliger als sonst, aber abseits dessen… tat sie alles so, wie man es stets und allzeit von ihr gewünscht hatte. Sie war diesem Alptraum – denn etwas anderes konnte das hier ja nun wirklich kaum sein – fast entkommen, als Garien sie nochmals zurückhielt. „Ishara?“ Sie zuckte zusammen. Ein Teil des watteweichen Tuches ihres Schocks zerfaserte. Noch immer benommen, aber mit einem leichten Zittern wandte sie sich zu ihrem Vater um. „Caerwen Morgenwandler kommt heute Nachmittag nach Esgaroth. Sie ist für drei Tage hier zu Gast. Ich will, dass du sie im Auge behältst und mir Bericht erstattest. Versuch dabei unauffällig zu sein.“ Sie nickte ebenso stumpf und mechanisch, wie sie fast den Raum verlassen hatte, doch ehe sie die Tür endlich zuziehen konnte, erklang abermals Gariens Stimme. „Und Ishara?“ Notgedrungen schob sie die Pforte nochmals ein Stück weiter auf und blickte zu ihm. „Wechsle kein Wort mehr mit ihr als nötig.“ Als er seinen Blick von ihr löste und das Besteck wieder aufnahm, auf dem noch immer das letzte Blatt Grün wartete, war das Gespräch offenbar beendet. Sie zog sich in ihr eigenes kleines Zimmer zurück. Die Einrichtung war mehr als karg. Sie hatte ein paar Dinge mitgenommen, die sie auf ihren Späherreisen fand. Seltsam geformte Steine und dergleichen. Das meiste Getier, obgleich es ihr am Herzen lag, ließ sie lieber dort, wo es hingehörte. Ein Hund war ihr einmal nachgelaufen, als sie gut zwei Tagesreisen vom Menschendorf Ilmwacht entfernt war. Eine ihrer weitesten Reisen bis zum heutigen Tage. Das Tier hatte sich als anhänglich erwiesen, weit anhänglicher, als gut sein konnte – und das, obwohl es ausgewachsen schien. Für Ishara bewies das nur einmal mehr, wie sehr ihr Vater im Recht war, wenn er über die mangelnde Vernunft und Vorsicht der Kurzlebigen zürnte. Ein Wolf war ein stolzes und edles Tier, ein gerissener Jäger, ein Überlebenskünstler. Diese verzüchtete Version davon, die sich durch nicht mehr als treue Augen und ein unnatürlich sanftes Wesen auszeichneten, waren eigenständig nicht mehr überlebensfähig! Ishara hatte jedoch, das musste sie zumindest sich selbst eingestehen, eine Weile mit dem Gedanken gespielt, ihn mitzunehmen. Es wäre zweifellos schön gewesen, einen Gefährten zu haben. Einen Freund vielleicht. Auch, wenn der Hund sich nie über sie lustig machen könnte. Aber vielleicht war ja gerade das der Vorteil daran. Dann jedoch hatte sie sich gefragt, was wohl geschehen würde, was ihr Vater wohl denken, sagen, tun würde, wenn er davon je erführe. Also hatte sie den Hund gelassen, wo er war. Sie hatte bemerkt, dass er noch ein paar Tage versucht hatte, mit ihr mitzuhalten, während sie sich auf den Rückweg begeben hatte. Dabei steuerte er immer tiefer in die Sümpfe hinein. Diese, so war sie sich völlig sicher, würden ihn zweifellos auf die eine oder andere Weise getötet und verschlungen haben. Ein Gedanke, der – obgleich es ein völlig natürlicher Prozess war -, ihr dennoch Unbehagen bereitete. Kummer gar. Was sie an ihrem Zimmer dagegen nicht leiden konnte, war der verdammte Kleiderschrank. Vollgestopft mit hübschen Trachten und Gewändern, die sie zu Bällen und Begrüßungen irgendwelcher Diplomaten und Gäste tragen musste. Sich fein herauszuputzen war grundsätzlich nichts, was ihr zuwider war. Sie empfand sich selbst durchaus als… nun, vielleicht nicht schön, aber zumindest, ja, ein klein wenig hübsch, wenn sie in einem der Stücke vor dem Spiegel stand. Doch auf dem sozialen Parkett war es so viel schwieriger, die Spielregeln zu kennen und zu befolgen. Je nach Situation und Anlass, ja teilweise sogar je nach Person, variierten diese Regeln ein klein wenig – was fatal war, da man es leicht übersah – oder ein gewaltiges Stück – was fatal war, da man nur sehr wenig Zeit hatte, sich in die neuen Regeln einzufinden. Und es war selten möglich, einfach mal eben jemanden zu fragen. Das Miteinander machte es so viel unangenehmer und kniffliger, sich zu beweisen, Form und Haltung zu wahren, zu demonstrieren, was sie allzeit zu zeigen versuchte: Das sie es wert war. Unter einem Ächzen ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Nach so vielen Nächten in der freien Wildnis, in der sie sich inzwischen so viel heimischer fühlte als in der Stadt selbst, so viel willkommener auch zwischen all denen, die sich nicht für ihre Gegenwart scherten, als unter jenen, die sie ablehnten, wirkte es ungewohnt weich, beinahe schon unangenehm. Sie rollte sich auf den Rücken und starrte die hölzerne Decke an, folgte mit ihrem Blick dem Verlauf einer tieferen Furche in der Rinde. Ihre Gedanken aber drifteten zu Caerwen. Ihre Tante war höchst selten in Esgaroth anzutreffen. Der Rat schien ihr Urteil hoch zu schätzen, immerhin gab man ihr ständig wieder und wieder neue Aufträge und Missionen, die sie stets weit über die Grenzen des Sumpfes hinaus trugen, zu Elben in anderen Städten, zu Elben in fernen Ländern, sogar zu den Menschen. Wie es dort wohl sein mochte? Sie kannte sie daher jedoch kaum. Immer nur ein paar flüchtige Tage war sie da, zuletzt vor ein paar Jahren. Vage Erinnerungen quollen bei dem Versuch empor, dem Namen ein Gesicht zuzuordnen. Gekicher und Gelächter, das haltlose Husten einer tiefen Männerstimme, als dessen Kiefer die in seinen Salat geschmuggelten Senfkörner zerbissen hatten. Und Gariens Blick. Dieser fürchterliche, ungnädige Blick, der sie tausendfach abstrafte und ihr noch mehr Rüge ankündigte, sollte sie auch nur ein einziges Widerwort einlegen, ehe er sich wortlos ihrer Tante zuwandte, die sie zu diesem Unsinn… nun ja, nicht einmal angestiftet hatte. Es war ja nicht so, als hätte sie irgendetwas getan. Sie war einfach nur dabei gewesen. Aber das hatte völlig ausgereicht. Diesmal, so nahm sie sich vor, würde sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Sie würde ihren Vater stolz machen, sie würde sich als fähig beweisen und sie würde seinen Auftrag perfekt ausführen, ohne in irgendwelchen Unsinn verwickelt zu werden. Und vielleicht, mit etwas Glück, würde er sich dann das… das Andere nochmal überlegen. Unter einem Frösteln und Schaudern setzte sie sich auf und begann ihre Sachen zusammen zu suchen. Innerstädtische Spähmissionen – im Grunde spionierte sie ihrer Tante nach, nicht wahr? – waren immer eine etwas anders gelagerte Herausforderung als jene in der freien Wildnis. Mehr Augen, neugierigere Ohren und unliebsame Nachfragen. Sie musste schickter sein als sie alle zusammen. Es war eine Herausforderung – und sie gedachte sie zu bestehen. Du hast versagt, klang es wie ein Echo schmerzlich in ihren Ohren nach. Oh nein, sie würde bestehen!   Caerwen Morgenwandler war leicht zu finden. Das mochte zum einen daran liegen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in Esgaroth schwarzhaarig war, während sie seltsamerweise – niemand hatte sich das je recht erklären können – komplett weißes Haar hatte, welches ihr obendrein bis zu den Kniekehlen herabreichte. Außerdem waren Teile ihrer Rüstung geschmiedet, während elbische Rüstungen üblicherweise vollständig aus Leder bestanden und nur minimale Metallteile für beispielsweise Gurte oder Schnallen hatten. Reichte das noch nicht, kam all der merkwürdige Schnickschnack dazu, den sie von ihren Reisen mittrug. Einige schwarze Ringe mit goldenen Verzierungen trug sie um den Hals, beispielsweise. Ishara erinnerte sich, dass ihre Tante ihr bei ihrem letzten Besuch erklärt hatte, dass sie das Geschenk eines Stammes waren, aus einem weit entfernten Land. Dort trugen ausschließlich die Frauen solche Ringe und deren Anzahl symbolisierte ihre Schönheit – je mehr Ringe, desto besser. Sie trug drei davon – ob das nun gut oder schlecht war, konnte Caerwen selbst nicht beantworten. Doch sie hatte herzlich gelacht, als Ishara auf ihre Frage hin, ob sie sie denn hübsch fände, errötet war. Damals, vor vier Jahren, noch zarte dreizehn Winter alt, hatte sie wenig für den Reiz eines Körpers erübrigen können. Doch nach ihren noch immer reichlich kindlichen Ansichten war Caerwen eine der schönsten Frauen, die sie je gesehen hatte. Ihr Gesicht lief spitz und scharfkantig zu, ihre langen spitzen Ohren waren mit allerhand Ringen verziert, ihre Mähne hatte sie stets mit bunten Bändern hochgebunden oder geflochten und sie schien immer dieses von Schalk und Trickserei geprägte Lächeln zu tragen, das nur von jenem vielschichtigen, lebendigen Leuchten in ihren hellgrauen Augen überstrahlt wurde. Was ihre Tante jedoch noch auffälliger machte als die Tatsache ihres Erscheinungsbildes war der schlichte Umstand: Sie war laut. Caerwen hielt nicht viel von den Traditionen des elbischen Volkes von Esgaroth. Oder des elbischen Volkes im Allgemeinen, wie Ishara im Stillen vermutete. Sie war laut, sie gab sich burschikos, wenn ihr der Sinn danach stand, sie lachte herzlich, tief und ausgelassen. Sie beschränkte sich nicht. Hielt sich nicht zurück. Nahm nur Rücksicht, wenn es um potenzielle Schäden und Verletzungen ging, nicht aber, wenn Etikette und Höflichkeit bedroht waren. Als sie an diesem Tag Esgaroth betrat, wusste das in kürzester Zeit nahezu jeder, denn der Frieden und die idyllische Ruhe der Stadt wurden nachhaltig gestört. Und für die nächsten drei Tage würde das so bleiben? Doch sie kam nicht allein. Irgendwer musste sie schließlich zum Lachen gebracht haben. Ishara hatte Position in den höchsten Wipfeln der Kronen bezogen. Hier oben war das Geäst nicht stark genug, um auch nur eine Besenkammer wachsen zu lassen. Selbst die Posten der Wachen und Patrouillenrouten waren tiefer gelegen. Das bedeutete zwar, das ihr eine Menge Holz und Blätterwerk im Weg war, aber sie konnte sich dennoch leise und rasch voran bewegen und mit einigen Sichtlücken hier und da genau das tun, was ihr aufgetragen worden war. Nach einem kleinen Positionswechsel konnte sie auch endlich Caerwens Begleitung besser betrachten. Zwei Männer… Menschen, offenbar. Einer von ihnen schien dünn und fein gekleidet. In einem seltsam gefärbten Blondton liegende, schulterlange Haare. Als er sich umsah, fing sich zudem kurz das Licht an seinem Gesicht. Sie glaubte erst, er würde ein Monokel tragen – sie hatte zumindest von diesen Dingern gehört -, und wagte sich näher heran, um das Stück begutachten zu können. Doch zu ihrer Überraschung handelte es sich nicht um geschliffene Gläser, sondern um einen Kristall oder Edelstein… den der Kerl in der Augenhöhle trug. Ein kaltes Schaudern zog ihr durch Mark und Bein. Mit dem, so entschied sie, wollte sie lieber nichts zu tun haben. Viel zu unheimlich. Ihr Blick wanderte zu dem anderen und sie seufzte gedehnt. Mit dem, so setzte sie nach, würde sie auch wenig zu tun haben wollen. Nichts, bevorzugt. Er war so groß und breit gebaut, das sie glaubte, er könne einen der Elben einfach in der Mitte durchbrechen. Eine große Pranke fuhr über den kahlrasierten Schädel, während die Muskeln unter seinem Gelächter erzitterten. Er trug nicht mehr als einen ledernen Torsopanzer, doch auf seinem Rücken fand sich ein merkwürdig geformter Schild und eine Streitaxt. Ein Leibwächter Caerwens, vielleicht? Die Theorie wurde verworfen, als die zwei Männer die Hand zum Abschied hoben und in eine andere Richtung davon schritten als ihre Tante. Wobei davontrampeln sich bezeichnender anfühlte – die Art, wie diese Menschen sich bewegten, war einfach lächerlich. Ein Wunder, das solch ein Volk sich überhaupt jemals irgendwie an irgendwas anschleichen konnte. Wie von Garien angewiesen, folgte sie Caerwen den verbleibenden Tag lang. Sie quartierte sich in einer der vielen Anwesen des Hauses Morgenwandler ein, richtete ihr Zimmer ein, nahm ein Bad, speiste ausgiebig – mit mehr Fleisch auf dem Teller, als sie je bei einer Mahlzeit Gariens erlebt hatte. Ein Umstand, der sie durchaus zu einem Grinsen brachte. Vielleicht, so erwog sie einen Moment, wollte ihr Vater sie auch voneinander fern halten, weil sie Ähnlichkeiten hatten…? Doch wenn dem so war, dann bewies Caerwens hoch angesehene Stellung als Abgesandte des Rates eindeutig, dass sie viel erreichen, es weit bringen konnte! Selbst als Halbblut, setzte sie in einer Mischung aus Hoffnung und Bitterkeit nach.   Die Stunden krochen dahin. Es war ein unglaublich anstrengender Prozess, einfach nur eine bequeme Position auf dem Ast zu finden und so lange auszuharren, bis sie begann, unbequem zu werden, nur um dann erneut herumzurutschen. Alles, was Caerwen tat, waren Verrichtungen des Alltags. Das, was eine Reisende vermutlich eben so tat, wenn sie ihren Zielort erreicht hatte. Selbst der kleine Ausflug in die Stadt, bei dem sie sich kurz mit Freunden zu treffen schien oder die Märkte besuchte und ein paar Stände mit einigen Münzen weniger verließ, konnte Isharas unbändige Langeweile nicht mehr im Zaum halten. Als ihre Tante sich endlich, endlich, zu Bett begab, eilte die junge Halbelbe rasch heim. „Ishara?“, hörte sie die Stimme ihres Vaters aus dem Salon, gerade als sie sich in ihr Zimmer schleichen wollte. Sie war gut, wirklich gut… aber einfach nicht gut genug. Nicht, wenn ihr Vater mit lauernden Ohren in einem nahezu stillen Zimmer saß und nicht mehr tat als gelegentlich die Seiten seiner Lektüre umzublättern. Insgeheim hatte sie gehofft, sie könne sich zu Bett begeben und ihm den Bericht morgen beim Frühstück liefern. Nun jedoch gab sie sich unter einem lautlosen Seufzen geschlagen und trat in den Salon ein. Er wies ihr einen kleinen Schemel als Sitzgelegenheit und kaum, das sie Platz genommen hatte, sah er sie erwartungsvoll an. Zu diesem Moment wurde ihr erstmals klar, dass sie eigentlich gar nicht wirklich wusste, wonach sie hätte Ausschau halten sollen. Sie hatte Caerwens gesamten Tagesablauf gesehen und da war nichts, nichts, das der Erwähnung wert gewesen wäre. Oder? „Nun?“, hakte Garien mit etwas weniger Wärme in der Stimme nach, als die Ungeduld begann, ihn zu treiben. Also begann sie zu erzählen. Der Anfang schien ihn auch durchaus sehr zu interessieren, insbesondere die zwei Herrschaften, die mit ihr zusammen die Stadt betreten hatten und mehr noch, wie die drei untereinander Umgang pflegten. Kaum aber, das sie zu den Dingen kam, die sich danach zugetragen hatten, wurde er unaufmerksamer, bis er sie schließlich unterbrach – obwohl sie noch nicht einmal die Hälfte ihres Tagesablaufes wiedergegeben hatte. „Hat sie die beiden nochmal wiedergetroffen?“ Sie schüttelte ergeben den Kopf. „Nun gut“, setzte er nach einer Weile nach und verfiel abermals kurz in Schweigen, „Du kannst gehen und deine Aufgabe fortsetzen.“ Die Aufgabe… fortsetzen? Etwas irritiert starrte sie Garien an, der ihren Blick lediglich ausdruckslos erwiderte. Schließlich dämmerte ihr, worauf das hinauslief. Caerwen würde drei Tage hier sein. Das hieß, dass sie – da sie ja dem Wunsch ihres Vaters entsprechen wollte – zwei Nächte ohne Schlaf würde auskommen müssen. Offenbar. „Ist sonst noch etwas?“, erkundigte sich ihr Vater nach einem Moment. Hastig schüttelte sie den Kopf und sah zu, dass sie ihm seine Ruhe ließ. Er mochte es nicht, wenn man ihn beim Lesen unterbrach.   Wieder im Baum angelangt, starrte sie kurz in Richtung des Fensters. Caerwen schlief. Wie überraschend. Unter einem Seufzen suchte sie eine Position, die halbwegs sicher und bequem war und tat, was sie in der Wildnis auch zu tun pflegte – in Alarmbereitschaft versuchen, jede kostbare Minute Ruhe und Frieden für ein klein wenig oberflächlichen Kurzschlaf zu nutzen. Wie sehr ihr jedoch die zuvor erst abgeschlossene Jagd noch in den Knochen steckte, bemerkte sie erst, als sie Stunden später wieder aufwachte - als die Sonne hoch genug gestiegen war, damit ihre Strahlen eine Lücke im Blätterdach gerade im rechten Winkel trafen, damit ihr das Licht ins Gesicht fiel. Sie nieste – und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Hastig rappelte sie sich auf und krallte sich einen Moment lang regelrecht in den Ast unter ihr, ehe sie zu sich kam und leise aufstöhnte. Sie streckte sich ausgiebig, warf einen Blick um sich, ehe sie ihn zu jenem Fenster zu Caerwens Zimmer gleiten ließ. Sie war weg. „Verdammt!“, fluchte Ishara hastig, rappelte sich kreidebleich auf und jagte davon. Eine weißhaarige Elbe in Esgaroth mit einer partiell metallischen Rüstung, das konnte so schwer nicht zu finden sein, sie würde einfach nur schnell sein müssen, sehr, sehr schnell, ehe irgendwas passierte oder- Oh weh… Caerwen saß, wie sie nach einigen sehr abgehetzten Minuten feststellte, unweit ihrer Unterkunft auf einer kleinen Terrasse und ließ sich von den Bediensteten des Ladens einen zu ihrem süßen  Gebäck passenden Tee aufgießen. Mit am Tisch saßen die zwei Männer vom Vortag. Sie wirkten ernster als am gestrigen Nachmittag, unterhielten sich leise. Was, wenn das wichtig war? Was, wenn sie hören musste, was da vor sich ging? Was, wenn sie hier und jetzt, in diesem Moment, versagte?! Ishara schlich sich näher heran, bemüht, fast über sie zu kommen. Mit etwas Glück könnte sie dann hören, worüber gesprochen wurde und- Ein kurzer Aufschrei entglitt ihrer Kehle, als ihr Fuß ins Leere trat. Der Ast, der da hätte sein müssen und auch gerade noch gewesen war, befand sich ein paar Zentimeter weiter links. Sie spürte, dass Magie am Werk war. Jemand hatte das Geäst manipuliert. Doch ehe sie sich darüber Sorgen machen konnte, stürzte sie bereits. Hier oben… waren die Äste dünn. Schwach. Immer wieder spürte sie, wie sie gegen sie prallte, wie die Äste brachen, splitterten, sich in ihre Flanke bohrten, doch nichts schien ihren Fall aufzuhalten oder auch nur nennenswert zu bremsen – und mit dem Herumrudern ihrer Arme bekam sie auch auf Gedeih und Verderb nichts zu fassen. „Thorin!“ hörte sie eine Stimme unter sich. Als ihr klar wurde, dass nichts ihren Aufschlag bremsen oder dämpfen würde, kniff sie die Augen zusammen und versuchte sich gegen das Schlimmste zu wappnen. Sie spürte zwar, dass sich Magie sammelte, aber was sollte da schon noch geschehen? Dann jedoch drückte etwas mit ungeheurer Kraft gegen ihren Rücken, ihre Beine, Arme, ihren Kopf. Ein wildes Fauchen toste in ihren Ohren, als mächtige Winde ihre Haare wild herumflattern ließen. Geistesgegenwärtig klammerte sie sich an ihren Köcher, ehe der enorme Windstoß die Geschosse nach oben befördern konnte. Unter sich hörte sie, welches Chaos der Windzauber verursachen musste. Tische wurden umgeworfen, Stühle zerschlagen und alles, was kleiner als ein Kopf und leichter als ein Stein dieser Größe war, wurde herumgewirbelt oder hob sogar völlig ab. „In Position“, blaffte eine tiefe, raue Männerstimme. Der Wind verebbte schlagartig, das Scheppern und Klirren unter ihr wurde einen Moment lauter, sie spürte, wie sie wieder stürzte… und dann, wie sie gefangen wurde. Als sie die Augen wieder zu öffnen wagte, standen eben jene drei, von denen sie sich eigentlich hatte fernhalten sollen, um sie herum. Der kahlköpfige Hüne ließ sie von seinen Armen herab. „Hübsche Flugeinlage“, merkte er grinsend an. Caerwen lachte kurz auf und trat an sie heran. „Hey Liebes! Alles in Ordnung? Uh, das sieht fies aus“, meinte sie mit einem Nicken auf die zahlreichen Splitter, die sich an unzähligen Stellen in ihre Haut gebohrt hatten, „Aber nichts allzu Übles. Dann wohl erstmal zum Förmlichen, hm? Mortimer, Thorin, darf ich vorstellen, meine Nichte Is-“ „Ich muss weg!“, platzte Ishara abrupt heraus, als sie realisierte, was für ein Chaos um sie herum herrschte, wie übel der Baum von ihrem Sturz zugerichtet worden war – und das es nicht lange dauern konnte, bis die ersten Wachen und Schaulustigen vor Ort wären. Panisch stürzte sie davon und verschwand so schnell sie konnte von dieser Ebene der Stadt. Sie sprang aus vollem Lauf einfach herab, fing sich an einer Kletterranke und schwang damit bis zur nächsten Plattform, auf der sie um die erste Häuserecke verschwand, die sie finden konnte.   Erstaunt blickte Thorin dem jungen Mädchen hinterher. „Eindrucksvoll“, meinte er und wandte sich mit einem breiten Grinsen Caerwen zu, „Wäre praktisch gewesen, wenn sie das ein paar Sekunden vorher gekonnt hätte, hm?“ Mortimer grinste und auch die Botschafterin des Hauses Morgenwandler lächelte verschmitzt, ehe sich alle drei wieder an dem frisch aufgerichteten Tisch niederließen. „Was hat sie da oben überhaupt gemacht?“, hakte der Hüne nach und hob den Kopf in den Nacken. Caerwen zuckte mit den Schultern. „Wenn du mich so fragst? Keine Ahnung. Aber ich vermute, ihr Vater hat was damit zu schaffen. Würde zu ihm passen.“ Als der Krieger das Haupt wieder senkte, wirkte er ernster. Die beinahe schon steinerne Miene schien ausdruckslos, doch in seinen Augen lag ein schwer zu deutender Funke. „Nettes Mädchen“, lautete sein abschließendes Urteil, „Wird sie ein Problem sein?“ Die Elbe schüttelte den Kopf, noch immer milde Lächelnd. „Sie ist ein gutes Kind, soweit ich sie kenne zumindest. Steht unter einer fiesen Fuchtel, aber hat das Herz am rechten Fleck. Sie ist harmlos, mach dir keine Sorgen.“ Als dieser Punkt zur allseitigen Zufriedenheit geklärt schien, mischte sich Mortimer ein. „Also dann – wann wollen wir loslegen?“ Caerwen brachte eine kleine Schriftrolle zum Vorschein. Sie hatte sie zwischen Rüstung und Kleidern verwahrt, weshalb das Stück ziemlich mitgenommen und zerknittert aussah – doch ihr ging es nicht um die Form, sondern um das, was darauf geschrieben stand. Kurz sah sie sich um, ehe sie das Stück Pergament in Mortimers Hände legte. „Seid vorsichtig“, mahnte die Elbe, „Und denkt an unsere Abmachung. Ich schätze, es wäre das Beste, wenn wir das so schnell wie möglich hinter uns bringen. Heute Abend sollte ein guter Zeitpunkt dafür sein. Trefft mich nach Sonnenuntergang hier.“   Worüber sie wohl reden mochten? Ishara zog sich unter zusammengepressten Zähnen den nächsten, etwas widerspenstigeren Splitter aus dem Unterarm. Eine ganze Reihe derer hatte sie sich nun schon entfernt. Ihr Herz schlug noch immer wild flatternd im Käfig ihres Brustkorbs herum, doch es war schwierig gewesen, von dort unten zwei Ebenen nach oben zu kommen, in eine schwer einzusehende Position, die ihr dennoch erlaubte, ihr Ziel weiter zu beobachten. Nochmals beging sie nicht den Fehler, sich zu nah an die Dreiergruppe heranzuwagen. Ganz gleich, was dort unten gesprochen wurde – es war nicht wert, dass sie ihr Leben dafür riskierte. Vielleicht hatte Caerwen sie bemerkt und selbst den Ast bewegt. Oder Iorohm, dieses Spatzenhirn, hatte sich irgendwo versteckt gehalten oder sie vielleicht auch nur schlicht zufällig erspäht. Es spielte keine Rolle. Sie war hier, um eine Aufgabe zu erfüllen und genau das würde sie auch tun! Neugierig verfolgte sie, wie eine Schriftrolle den Besitzer wechselte. Der Kerl mit dem Stein im Kopf las sie, dann noch einmal, ehe er sie dem grobschlächtigeren Kerl weiterreichte. Thorin, wie sie sich ermahnte. Sie kannte einen der zwei Namen. Das war wichtig für ihren Bericht heute Abend. Auch dieser Thorin las die Rolle zweimal, ehe er sie an einer frisch auf den Tisch gebrachten und neu entzündeten Kerze verbrannte. Verdammt! Damit war wohl die Chance dahin, als kleinen Ausgleich für ihr Missgeschick die Rolle selbst abliefern zu können. Ohnehin fanden sich allmählich ganz wie erwartet Schaulustige und Wächter ein. Sie verstand kein Wort von dem, was gesagt wurde, dafür war sie viel zu weit weg… doch sie erkannte die Gestik der Wachen, sie begriff, was dort vor sich ging… und ein warmes, aufrichtiges Lächeln zog über ihre Lippen. Caerwen lud die Schuld auf sich. Sie war in zwei Tagen wieder fort und ganz gleich, wie sehr man ihr dieses Chaos übelnahm – sie ließ die grummelnden und murrenden Leute einfach hier zurück, bis Gras über die Sache gewachsen war. Besser noch: Aufgrund ihrer Position würde man sicher nicht einmal wagen, das Wort gegen sie zu erheben! Als sie auf Thorin und den anderen deutete, wurde ihr zudem klar, dass die offenbar als Teil ihrer Lüge eingespannt wurden… und einfach so mitspielten. Um die Schuld von jemandem zu heben, der in ihren Augen zwar schuldig sein musste – auch, wenn sie es tatsächlich besser wusste -, den sie jedoch schlicht nicht kannten. Warum taten sie das? Es wollte ihr einfach nicht recht einleuchten. Versprachen sie sich etwas davon? Falls ja… was? Darüber zu sinnieren war natürlich müßig. Also verfolgte sie stattdessen, wie man Caerwen, Thorin und Rubinauge – so taufte sie den Dritten nun, da sie sich der Farbe seines Steins im Auge erinnerte – des Platzes verwies. Das Trio verabschiedete sich einmal mehr und damit begann für Ishara schon wieder der langwierige und kräftezehrende Teil, Caerwen auf der Spur zu bleiben, zugleich aber dafür zu sorgen, dass sie sich nicht aus Versehen die Splitter noch weiter ins Fleisch trieb. Als ihre Tante sich an diesem Abend kurz vor Sonnenuntergang zur Ruhe legte, atmete Ishara erleichtert auf. Sie hatte alle Splitter entfernen können, doch das hatte Spuren hinterlassen. Um die würde sie sich kümmern können, sobald Zeit dafür war – wichtiger war jetzt erst einmal, dass sie das ganze Blut loswurde. Da es jedoch teilweise bereits ihre Kleidung durchtränkt hatte und nicht jeder Fetzen zu retten war, abgesehen davon, dass es Stunden, vielleicht sogar Tage dauern würde… stand wohl nur die Chance, ein neues Set zu verwenden und die Alten möglichst unbemerkt zu vernichten. Sie würde mit einem Paar weniger Wechselkleidung auskommen müssen – doch das war durchaus im Bereich des Möglichen. Dann würde sie eben ein wenig sparen und sich neues zulegen müssen. Als sie diesmal heimkam, gelang es ihr, sich über den Hintereingang direkt ins Badezimmer zu schleichen. Sie wusch sich grob, zog ein langärmeliges Oberteil an und wappnete sich gedanklich. Sie verließ das Haus über denselben Schleichweg, umrundete es in großzügigem Bogen und trat dann wieder durch die Vordertür ein. Wie erwartet, lauerte ihr Vater auch diesmal wieder auf sie. Also setzte sie sich auf den Schemel und berichtete ihm alles, was sie gesehen hatte. Abzüglich des gesamten Debakels mit ihrem Sturz. Er fragte tatsächlich auch nicht danach, obwohl er zweifellos von der Begebenheit längst gehört hatte und die Ärmel ihres Oberteiles einen Moment musterte. Sie folgte seinem Blick, vermutete bereits Blutflecken irgendwo, doch alles war sauber. Vielleicht reimte er sich auch einfach gerade eine eigene Theorie zusammen. Die möglicherweise… schlicht der Wahrheit entsprach. Sie wusste es nicht und wollte es auch nicht herausfinden – sie war schlicht froh, dass dieses Thema nicht zur Sprache kam. Wieder interessierte er sich insbesondere sehr dafür, wie die Drei miteinander umgingen – und besonders hellhörig wurde er, als sie die Rolle erwähnte. Er wirkte ein wenig… enttäuscht, als sie deren Verbleib erläuterte und einräumte, das sie nicht nah genug herangekommen war, um selbst einen Blick auf den Text geworfen zu haben. Zumindest schien er jedoch einmal mehr im Groben und Ganzen mit ihrer Leistung zufrieden, weshalb sie sich sparte, den langweiligen und alltäglichen Restverlauf von Caerwens Tag zu erläutern und sich mit seinem Segen zurückzog. Um die Aufgabe fortzuführen, erscholl die Anweisung in ihren Gedanken und entlockte ihr ein leises Seufzen, als sie die Tür zum Salon geschlossen hatte und ich im kalten, dunklen Flur der Ausgangstür zuwandte.   „Denkt daran“, flüsterte Caerwen leise, „Unterschätzt ihn nicht. Er ist gerissen, sonst wäre er niemals so weit gekommen und würde noch immer die Positionen innehalten, die ihm gehören.“ Thorin und Mortimer kauerten dicht neben ihr in nahezu perfekter Dunkelheit und nickten. Das schwache Restlicht der Nacht genügte, damit die Elbe ihre Umrisse sehen und die Reaktion wahrnehmen konnte. Sie war nervös. Sie war fürchterlich nervös. Nervöser als damals, vor ihrem ersten Zauber, der ein Blatt hätte bewegen sollen. Zugegeben, stattdessen hatte sie ein Instrument spielen lassen, ihr überdurchschnittliches Talent offenbart und alles war damit besser ausgegangen als befürchtet – aber hier, heute Nacht, garantierte nichts ihnen, das es nochmal so glimpflich ausgehen würde. Zu dritt schlichen sie sich in das große, üppige und ausladende Anwesen des Hausherrn Morgenwandler. Es gab Wachen. Die lagen inzwischen sorgfältig verschnürt und geknebelt in einem dichten Geäst voller tarnender Blätter ein paar Stockwerke tiefer. Als Caerwen also an der Tür zum Salon klopfte, war sie sich recht sicher, das Garien niemand anderen als eine Bedienstete vermuten musste. „Herein“, erklang es ungehalten aus dem Inneren. „Wollen wir mal“, flüsterte die Elbe leise, atmete ein letztes Mal tief durch und drückte die Tür auf. In Begleitung Mortimers und Thorins trat sie ein und blieb erst stehen, als sie ein Drittel des Raumes bereits durchschritten hatte. Garien hatte sich aus seinem Sessel erhoben, das Buch bei Seite gelegt und funkelte ihr boshaft entgegen. „Gerne würde ich behaupten, wie überrascht ich über deinen Besuch bin, Schwester“, zischte er zornig, „Oder über den nach wie vor fragwürdigen Geschmack bei der Auswahl deiner Begleiter und Gespielen“, schob er mit einem verachtenden Blick auf die zwei Menschen nach, „Also – hier stehe ich. Fang an.“ Die Elbe schluckte schwer. Sie war nicht unbedingt ein großer Bewunderer ihres Bruders. Vermutlich war das niemand. Außer seiner Tochter, vielleicht. Doch was jetzt folgte, was einfach folgen musste, das wünschte sie niemandem. „Wir wissen beide, dass der Rat Esgaroths eine Farce ist. Nicht der Rat ist es, der die Geschicke dieser Stadt führt und ihr Schicksal bestimmt. Seit jeher hatte das Haus Morgenwandler einen immensen Einfluss auf alle getroffenen Entscheidungen, seien sie sozialer, politischer oder militärischer Natur. Du hast uns geführt, uns alle. Ich konnte damit leben, dass du mich von Ishara fernhalten wolltest und mich dazu ständig durch die Weltgeschichte geschickt hast. Ich konnte damit leben, dass du die Hilferufe und angetragenen Handelsabkommen aus Ilmwacht ignoriert hast. Viel zu lange konnte ich mit viel zu vielem dessen leben, was dir in den Sinn kam. Ich bitte dich, Bruder – hier und jetzt ein letztes Mal -, hab Einsicht. Versteh doch endlich, dass du-“ „Ich?“, zischte Garien ihr gebieterisch dazwischen, „Ich soll verstehen? Und was ist es, liebste Schwester, das ich verstehen soll? Das du deine von menschlicher Gier befleckten Hände nach Macht ausstreckst, wie es die Seuche ihres Volkes ist?“ „Bei den Göttern, komm zur Vernunft!“, ereiferte sich nun auch Caerwen, „Mir geht es nicht um die Macht, ging es nie! Wenn ich nicht müsste, würde ich das hier niemals tun, aber du zwingst mich mit deiner Verblendung und Engstirnigkeit zum Handeln! Du lässt zu, dass kleinliche Zwistigkeiten dein Urteil trüben! Dein Zorn allein ist kurz davor, unser gesamtes Volk zugrunde zu richten, erkennst du das denn nicht?!“ Die in ihrer Stimme so offensichtliche Hektik und Verzweiflung schienen eher zu Gariens Belustigung beizutragen. Verächtlich schnaubte der schwarzhaarige Elb und schüttelte mit einem hämischen Lächeln den Kopf. „Oh ich erkenne mehr als dir lieb ist. Ungeziefer wie den da“, begann er und nickte in Thorins Richtung, „schleppst du mir in mein Haus. Feinde Esgaroths, des ganzen Elbenvolkes allerorten, die bereits mein Leben bedrohten – und du schleppst sie in mein Haus! Du wagst es, mich in meinem Haus zu bedrohen! Und was jetzt? Deine Bitte ist hiermit abgelehnt. Zeig, wozu du fähig bist, Schwesterchen. Zeig es mir und ganz Esgaroth! Wirst du deinen Bruder erschlagen?“ „Ich vielleicht schon“, maulte Thorin und ballte die Fäuste. „Mund halten, nicht hilfreich!“, zischte Caerwen den Kahlkopf an. Sie seufzte schwer. Mortimer hatte, ganz wie abgesprochen, sich ein klein wenig von der Gruppe abgesetzt, Garien ein Stück weit umrundet und war näher an ihn herangetreten. Natürlich wusste die Elbe, dass der Hausherr sich der Position jedes einzelnen im Raum nur zu deutlich bewusst war. Auf einen Überraschungseffekt zu hoffen hieß nicht, dass man dumm genug war, ihn einzurechnen. Mortimer würde die Fluchtwege durch die Fenster blockieren und Garien etwas zu tun geben, bis der deutlich bedrohlichere Thorin heran wäre – mit dem Garien auch weit mehr Zwist in der Vergangenheit erlebt hatte. „Niemand hat vor, dich zu töten“, versicherte sie zunächst schweren Herzens, „Aber du kannst nicht bleiben, wer und wo du bist. Thorin wird dich mitnehmen. Du bleibst als Gast des Untergrundes in Samara, als Botschafter, Diplomat, Vermittler – wenn du es so sehen willst. Ich verbleibe hier in Esgaroth und werde deine Abreise eben damit erklären. Und deine Geschäfte hier übernehmen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass das Elbenvolk in diesem kommenden Konflikt auf der richtigen Seite steht und das unser Volk vor allem einsieht, das wir uns aus diesem Konflikt weder heraushalten können, noch es überhaupt sollten. Sobald die Rebellion Erfolg hatte, steht es dir selbstverständlich frei, heimzukehren. Und ich werde Esgaroth verlassen und nicht zurückkehren.“ Stille breitete sich im Raum aus. „Das kann nicht dein Ernst sein“, zischte Garien gepresst, bemüht, die Beherrschung nicht sofort vollständig zu verlieren. Wieder Stille. Und es war eben jener Moment, als Caerwen hörte, was sie befürchtet hatte. Nein… bitte, bitte nicht. Geh einfach weiter. Sie blickte über ihre Schulter zur Tür des Salons. Schnell hatte alles gehen sollen. Niemand hatte daran gedacht, das verdammte Ding zu schließen. Und jetzt, jetzt stand sie in der Tür. Gariens Tochter hielt ihren Bogen fest in den Händen, der Pfeil auf der Sehne angelegt.   Was hier geschah, war einfach nur Wahnsinn. Ishara begriff nicht, was Caerwen hier tat. Dazu hätte sie sie vielleicht früher wiederfinden, mehr von diesem Gespräch hören müssen. Doch was sie sah, war eindeutig… oder nicht? Da standen die zwei Fremden, mitten im Salon ihres Vaters, zusammen mit ihrer Tante. Vielleicht zwangen die zwei Männer sie hierzu? Spielte es eine Rolle? „Liebes, bitte-“ hob ihre Tante an und wandte sich halb zu ihr um. „Stopp!“, befahl Ishara und spannte den Pfeil noch etwas straffer. Dabei zielte sie nicht einmal auf ihre Tante. Bei allem, was ihr heilig war, das wagte sie einfach nicht. Sie hätte unter anderen Umständen vielleicht auf den großen, bulligen Kahlkopf gezielt, doch der stand völlig entspannt im Raum herum, ein gutes Stück von ihrem Vater weg. Er hatte noch nicht einmal Schild oder Axt gezogen und verfolgte einfach nur, wie sich die Dinge entwickelten. So schien es zumindest. Nein, sie zielte auf Rubinauge. Er stand ihrem Vater recht nahe und hatte sich obendrein von hinten anzuschleichen versucht. Sich an einen Elb anschleichen, an ihren Vater obendrein – lächerlich! „Überleg dir gut, was du tust, Kleine“, raunte der Kahlkopf und hob die Hände, wie um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. „Du hast keinen Schimmer, was hier vor sich geht.“ Was sollte sie nun tun? Verzweiflung packte sie. Das hier, das war falsch, alles so furchtbar falsch! Warum konnten die Dinge nicht nur ein einziges Mal einfach sein? Und auch bleiben? Sie starrte ihre Tante an, noch immer entsetzt. Sie hatte nicht bemerkt, wie Tränen ihre Sicht zu verschleiern begonnen hatten, bis sie sie fortzublinzeln versuchte und spürte, wie sie über ihre Wangen rannen. „Schieß“, erklang plötzlich die Anweisung. Ihr Blick wandte sich ihrem Vater zu. Weiß lodernder Zorn stand ihm in den Augen, ein uralter, bodenloser Hass, während eine Hand langsam hinter seinem Rücken verschwand. „Bist du bescheuert?!“, fuhr ihn der Kahlkopf an. „Was?“, fauchte auch Caerwen fast zeitgleich. Ich will niemanden verletzen!, flehte sie ihren Vater an. Tu, was ich dir sage!, kam von dessen gnadenlosen, kalten Augen zurück. Die Anspannung im Raum stieg mit jedem weiteren Herzschlag. Der gespannte Pfeil wurde immer mehr zur Belastung für ihre Arme. Sie spürte, wie sie vor Anspannung und Verzweiflung zu zittern begann. „Jetzt!“, donnerte Gariens Stimme. Es war dieser Moment, in dem alles aus den Fugen geriet. Hätte er sie abermals aufgefordert, zu schießen, sie hätte es wohl nicht getan. Es nicht gekonnt. Doch die pure Lautstärke, die schiere Gewalt seiner Stimme überraschte sie. Erschreckte sie. Zu sehr, als das sie den Pfeil hätte halten können. Rubinauge sprang auf ihren Vater zu, Thorin kam auf sie zugerannt wie ein wütender Bär. Jede Sekunde, da war sie sich sicher, würde sie den Aufprall spüren. Er würde sie einfach umrennen. Vielleicht niedertrampeln. Ihr alle Rippen brechen, wenn er sie gegen die Wand schleuderte. „Thorin!“, drang dumpf Caerwens Warnruf an ihre Ohren. Alles wurde langsam und stetig langsamer. Sie sah, wie ihr Pfeil Rubinauge erwischte. Einschlagswinkel, Geschwindigkeit… wenn die Anatomie von Menschen denen der Elben auch nur annähernd ähnlich war, dann würde er daran sterben. Er würde verbluten, bevor ein Heiler hier wäre, um zu helfen. Sie wollte seufzen, tief und schwer seufzen. Doch die Zeit verstrich zu langsam und ihr Körper gehorchte nicht. All das hier hatte sie nie gewollt. Nichts von alledem. Schon gar nicht, irgendwem den Tod zu bringen. Diese beiden hatten für sie gelogen, oder etwa nicht? Vielleicht waren sie ja eigentlich ganz nette Männer gewesen. Sie sah das schimmernde Wurfmesser in der Hand ihres Vaters. Sie sah, wie die Wurfbahn beeinflusst wurde, als der tödlich getroffene Rubinauge gegen ihren Vater rempelte und ihn mit bloßem Körpergewicht zu Boden warf. Sie sah, wie Thorin sich halb umwandte. Wie er die Hand hob. Wie er versuchte, das Wurfmesser, welches für ihn oder Caerwen gedacht gewesen war – vermutlich für ihn, immerhin hatte Garien ihn die ganze Zeit hasserfüllt niederstarren wollen – abzufangen versuchte. Warum? Warum tat er das? Er griff danach, war aber zu langsam. Caerwen vollführte ihre Gesten, um einen Windzauber zu wirken. Zu langsam. Sie waren alle zu langsam, begriffen sie das denn nicht? Obwohl sie die Klinge direkt auf sich zufliegen sah, verspürte sie keine Angst. Nur ein Gefühl von… Leere. Und Erschöpfung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie versucht, die an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Und zu übertreffen. Sie hatte sich um Anschluss bemüht. Sie hatte dazugehören wollen. Sie hatte einfach nur irgendwo dazugehören wollen. Als die Klinge Kontakt mit ihrer Haut herstellte, sprang die Zeit vorwärts. Mit einem Ruck lief alles wieder normal – und die volle Wucht der Waffe riss sie herum. Sie stürzte, fiel auf den Boden, trieb beim Sturz die Klinge noch tiefer hinein. Tödlich. Alles hier schien plötzlich tödlich. Ihr Pfeil hatte getötet. Dieses Messer würde sie töten. Sie spürte, wie die Kälte kam. Es kostete sie alle Kraft, den Kopf zu drehen. In den Salon zu blicken, aus dem ihr Sturz sie herausbefördert hatte. Der Kahlkopf war rasch bei ihr. „Kannst du ihr helfen?“, fuhr er Caerwen an, „Kannst du?!“ schnauzte er laut, als sie nicht reagierte. Ihre Tante zuckte zusammen, reagierte steif, mechanisch, benommen. Sie hatten so viele Ähnlichkeiten. In diesem Moment hatte sie mehr Mitleid mit ihrer Tante als irgendwem sonst in diesem Raum. Sie glaubte erahnen zu können, was für fürchterliche Tage auf sie zukämen. „Es ist zu spät“, hörte sie ihre Stimme gedämpft. Sie vernahm das Zittern darin. Diesen Ton der ihr so vertrauten Verzweiflung und des bodenlos tiefen Kummers. „Es ist zu spät“, wiederholte sie fast tonlos. Die Kälte kam. Betäubte ihre Finger, Unterarme, Schultern. Von den Beinen her kroch sie ebenso herauf. Packte ihren Kopf in Watte. Sie spürte, dass dort etwas war. Etwas, das wartete. Bis auch der letzte Funke aus ihren Augen gewichen war. Noch immer, so wunderte sich Ishara, verspürte sie keinen Schmerz. Keine Angst. Nur Kummer und Bedauern. Da gab es noch so vieles, was sie hatte tun wollen. So vieles, das sie hatte sehen wollen. „Wie war ihr Name?“, tönte eine tiefe Stimme. Sie klang belegt. Schwerfällig. Es war absonderlich, nicht? Vom ersten Moment an, da sie diese beiden Männer gesehen hatte, glaubte sie sich ihnen irgendwie verbunden. Als hätte sie sie schon einmal getroffen. Und nun, da sich die Dinge entwickelt hatten, wie es unumstößlich der Fall war… da verspürte sie den meisten Kummer über etwas, für das sie keinen Namen hatte. Als wäre da etwas gewesen. Oder vielmehr, als hätte da etwas sein können. Eine Chance. Eine verpasste Gelegenheit. Irgendetwas. „Ishara“, hörte sie kaum noch durch den dumpfen Schleier der Schwärze, der sich über sie legte, „Ihr Name war Ishara.“ Kapitel 43: Wahre Helden ------------------------ Dumpf und schwer landete ein bis zum Bersten gefüllter Lederbeutel auf der abgewetzten Tischplatte. Das Klimpern und Klirren darin ließ jenen Mann mittleren Alters, der daran bereits saß, den Kopf heben. Eine schulterlange blonde Mähne hing ihm ins Gesicht und wurde mit einem gezielten Luftstoß zur Seite befördert. Kaum, das seine Lippen sich wieder entspannten, formte sich ein Lächeln darauf. Das hübsche, markante Gesicht verlor einen Moment jede Arroganz, die sonst so beharrlich darin zu liegen schien. „Na bei so einer Begrüßung, wie sollte ich da nein sagen“, erklärte er noch immer lächelnd und bot dem Werfer des Beutels den freien Stuhl am Tisch an. Ein eindrucksvoller Hüne, der sich zu ihm setzte. Die Lederrüstung am Oberkörper schien schon weitaus bessere Zeiten gesehen zu haben, schartig, abgewetzt, schon unzählige Male ausgebessert. Wie alt mochte das Ding wohl sein? Jahrzehnte? Saeven von Askir war kein Dummkopf. Ein wenig eingebildet vielleicht, aber selbst das konnte man gut vernachlässigen – als Mitglied des Niederadels von Anadyr war er noch sehr viel gemäßigter als all die anderen. Doch diesem muskelbepackten Kahlkopf, dem hätte er ungern in dunklen Gassen begegnen wollen. Zumindest nicht als Feind – alles andere war in Ordnung. Und, so wusste er aus Erfahrung, überaus vergnüglich. Auch wenn er danach meist ein paar Tage nicht mehr völlig schmerzfrei laufen oder sitzen konnte. „Dann erzähl mal“, hob der eindeutig wohlhabendere der Beiden an und zog das prall gefüllte Säckchen zu sich herüber. Derweil wurde seinem Begleiter ein überaus reichhaltiges Abendmahl aufgetischt. Man konnte über anadyrer Küche sagen, was man wollte. Beispielsweise, das sie einfallslos war – ständig und überall gab es Fisch. Tonnen von Fisch. Aber dafür trieben sie das Wenige, von dem sie etwas verstanden, zur Spitze und Meisterschaft. Kein Schiff war so schnell, wendig oder gefährlich wie jedes Einzelne der Piratenflotte Anadyrs. Kein Fischer würde jemals so geachtet sein, wie er es in diesen Landen war. Und der Fisch, der letztlich auf dem Tisch und im Magen der Gäste landete, würde nirgendwo anders so schmecken wie hier. Die Köche behaupteten gerne, es läge an der deutlich salzhaltigeren Luft. Anadyr war ein Inselstaat und diese Inseln waren recht klein. Dicht bevölkert, aber klein. Man hatte es, egal an welcher Stelle auf welcher Insel, nie sonderlich weit bis zur nächsten Küste. Ein paar Tagesreisen, höchstens. Mit einem Schmunzeln verfolgte er, wie der Kahlkopf ihm gegenüber die Kartoffeln in sich hinein schlang, das Gemüse, die in einer fettigen, schweren und öligen Soße ertränkten Teile des Fisches. Ausgehungert war er also. Dann hatte er sich beeilt? Er hatte ein paar Tage hier warten müssen, was nicht unbedingt zu seiner guten Laune beigetragen hatte. Vielleicht lernte dieser Dickschädel ja endlich einmal etwas daraus. Er hätte helfen können. Egal, worum es gegangen war. Den Gedanken verwarf er jedoch auch zügig wieder. Thorin Eichenschild war niemand, der lernte. Nun gut, vielleicht tat er das doch – aber um so viel langsamer und widerwilliger als alle anderen Menschen, denen Saeven je begegnet war. Unter einem kurzen Seufzen, welches nicht einmal die Aufmerksamkeit seines Tischgefährten fand, ließ er das Thema gedanklich fallen und löste stattdessen die Schnürung am Beutel. In rekordverdächtiger Zeit hatte der Kahlkopf sein Essen herabgeschlungen – und jetzt, da Saeven einen Blick in den Beutel riskierte, glaubte er auch zu wissen, warum. „Aufs Zimmer, sofort!“, verlangte der Adlige und schnürte den Lederbeutel rasch wieder zu. Er blickte sich um, als hätte er gerade den Kopf eines Königs darin gefunden, säuberlich abgetrennt und noch frisch genug, dass man den Täter durch die ganze Weltgeschichte verfolgen würde. Natürlich war das nicht der Fall, dafür war der Beutel allein zu klein. Aber so viel besser als jenes Horrorszenario war die tatsächliche Begebenheit auch nicht. Und ganz wie erwartet, nickte Thorin nur, während er die letzten Brocken in seinen Mund stopfte, das Tuch neben den nunmehr leeren Teller legte und sich erhob. Kauen und Schlucken konnte er genauso gut noch, wenn er auf dem Weg nach oben war. Eine Ansicht, die beide teilten. Die Stufen hinauf sah sich Saeven immer wieder um. Ihm war einfach nicht wohl dabei. Und dieses Säckchen zu tragen… es wog plötzlich so viel mehr, schien ihm. Sie hatten die Tür ihres gemeinsamen Zimmers gerade hinter sich geschlossen, als Sierra die Illusion fallen ließ. Zum Vorschein kam eben jener kleine, zierliche Tiefling mit durchaus ansehnlichen Rundungen, mit dem Thorin schon seit Monaten reiste. Unter dem kinnlangen, braunblonden Haar lugten spitze Ohren hervor, ihrer Stirn entsprangen eindrucksvolle Hörner und die gelblichen Katzenaugen bargen, im Moment, einen ungnädig-zornigen Funken. „Was soll die Scheiße!?“, fuhr sie Thorin an und warf ihm den Ledersack entgegen. Obwohl dieser ihn schwer vor der Brust traf, fing der Hüne den Beutel doch auf, als habe er genau das von ihr erwartet. „Du sagst, wir brauchen Geld. Also hole ich mehr Geld“, erwiderte der Krieger mit einem Schulterzucken. Sierra fuhr sich unter einem gepressten, still gehaltenen Aufschrei mit den Fingern durch die Haare und zog einen Moment daran, ehe sie sich etwas beruhigte. „Wie viel ist das?“, verlangte sie zu erfahren. Der ganze Sack war voll mit- „Fünfzig Gulden.“ Fünfzig. Das war schlecht. Das war ganz fürchterlich schlecht. „Und wo kommen die bitte her? Hast du irgendwen überfallen? Müssen wir schon wieder wegrennen? Thorin, ich will hier noch nicht weg. Ich mag Anadyr. Es ist nett hier. In manchen Städten kann ich sogar ohne die ständigen Illusionen herumlaufen und niemand würdigt mich auch nur eines Blickes.“ Sie hatte selbst nicht bemerkt, wie ihre Stimme sich verändert hatte. Wie sie ihre Wut verlor und beinahe flehentlich klang. Es war so selten, dass sie sie selbst sein konnte. Aber Thorin… nun. Gab man dem Sturkopf genug Zeit, so schienen entweder Schicksal und Welt als Ganzes sich zu verschwören, um ihn in undenkbare Situationen zu bringen, oder der Dickschädel fand selbst Wege, sich in Ärger zu suhlen. Fünfzig Gulden bekam man nicht, weil man jemandem half, die Türscharniere zu ölen. Oder einen Stuhl zu reparieren. Oder ein Schwert zu schleifen. Gehofft hatte sie auf eine Gulde und einige Silber. Das hätte sie wieder ein paar Tage über die Runden gebracht. Aber nein, dieser verflixte Holzkopf musste ja ständig übertreiben! Sie hatte genau gewusst, dass es ein Fehler war, ihn allein gehen zu lassen. Sie hatte es gewusst und trotzdem zugelassen. Warum um alles in der Welt hatte sie ihn allein gehen lassen…? Schon wieder. Die Antwort war natürlich so simpel wie unerwünscht. So sehr sie den Ärger zu vermeiden versuchte, den sie unweigerlich ständig bekam, wenn sie mit ihm reiste, so wenig konnte sie sich dessen Charme entziehen. Nicht einmal unbedingt Thorins Charme, obwohl der raue Klotz solchen unzweifelhaft besaß – auch, wenn man dafür wohl einen spezielleren Geschmack brauchte… und mitunter viel Geduld, ihn unter all den Schichten aus Abwehrhaltungen, Vortäuschung und schlechten, dreckigen Witzen erst einmal zu entdecken und freizugraben. Nein, sie schätzte den Charme, den ein Leben wie das Seine ausübte. Vollkommene Freiheit. Völlig ungebunden sein. Und vielleicht wichtiger noch – sie lernte von ihm. Ein jedes Mal, wenn irgendetwas schief ging… also quasi ständig… lernte sie von ihm etwas über Kampfmanöver, über Taktiken und Strategien, über gute Planung und über die Grenzen dieser Planung, über Improvisation. Die Wahrheit war schrecklich simpel und ebenso unangenehm. All der Ärger war spannend. Mit Thorin reisen war der pure Nervenkitzel – sah man von den Tagen ab, an denen man von ihm in irgendeinem Gasthaus sitzen gelassen wurde, damit er losziehen und alleine Unheil stiften konnte. Sie hatte sich als fähig erwiesen, sich als lernwillig bewiesen. Und das hatte dafür gesorgt, dass er sie unterrichtete, ihr Dinge erklärte und sie häufig mitnahm. Das war aber eben auch das Problem. Häufig. Das hieß nicht ‚immer‘. Der Kahlkopf indes nahm seelenruhig auf seinem Bett Platz und schüttelte lächelnd den Kopf. „Kein Grund zur Sorge“, erklärte er und klopfte auf die freie Fläche neben sich. Als wäre es nur so einfach! Dennoch trat sie heran und ließ sich neben ihn sinken, wissend, dass sie sonst nie ihre Antwort bekommen würde. „Ich habe etwas verkauft“, erklärte er unter einem belustigten Schnauben, „Als Glücksbringer. Das ist das Schöne an streng eumenesgläubigem Seevolk. Wenn man ihnen etwas mit den Worten anbietet, es würde ihnen die Gunst ihrer Göttin sichern, sind sie gerne bereit, eine gute Stange Geld zu löhnen… und noch etwas oben drauf.“ Sierra grinste. Man traute es Thorin auf den ersten Blick nicht zu. Er war roh und rau und schien keinerlei Manieren zu besitzen, eben der klassische Muskelberg ohne Hirn, der allzeit überall gern als Grundstückspatrouille oder Leibwache angeheuert wurde. Doch dieser Mann steckte voller Überraschungen. Er war sehr viel klüger als alle Welt ihm zugestand, gerissener, als einem lieb sein konnte und besaß ein nützliches, wenn auch überschaubares schauspielerisches Können. Nur das falsche Lächeln, an dem würde er wirklich noch arbeiten müssen… Einfach nur gruselig. Ihren Gedanken nachhängend, vermochte sie seine ihren Rücken herabstreichenden Fingerspitzen eine Weile zu ignorieren, zumindest bis zu dem Punkt, als selbige ihren Steiß erreichten und über die Basis ihres Greifschwanzes strichen. Ein geradezu elektrisierendes Schaudern zog durch ihren Leib, ihre Nackenhaare stellten sich leicht auf, eine Gänsehaut formte sich auf ihren Unterarmen. Sie neigte den Kopf, sah zu ihm herüber. Ein spielerisches Lächeln lag auf den sonst so stoisch-ausdruckslosen Lippen. „Du bist furchtbar“, ließ sie ihn wissen, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Allerdings“, gab er nur zurück. Er beugte sich vor, setzte einen leichten, kaum spürbaren Kuss in ihre Halsbeuge. Das genüssliche Seufzen konnte sie noch unterdrücken – das sie die Augen schloss, nicht. „Ich sollte eigentlich einfach gehen. Als Strafe, weil du mich hast sitzen lassen. Schon wieder.“ „Solltest du“, stimmte er ihr auch noch dreist zu! Sie war kurz davor, ihm gegen die Schulter zu boxen, vielleicht sogar tatsächlich provokativ aufzustehen und ein oder zwei Schritte in Richtung Tür zu setzen, als seine andere Hand über ihre Wange heraufstrich… zu ihren Hörnern. Erneut zuckte Elektrizität durch ihren Leib und zündete ein Feuer in ihrem Unterleib. Dieser verdammte Bastard, das war einfach nicht fair! „… einfach nicht fair…“, murmelte sie völlig unbewusst, während Thorin sie langsam zurück auf die Bettdecke drückte. Gute Güte, morgen würde sie wieder dann und wann ein wenig Grund zum Jammern haben. Nicht, das es das nicht wert wäre. Doch immerhin, mit verflixten fünfzig Gulden würden sie noch einige Tage ausharren können, ehe sich die Notwendigkeit zur Weiterreise ergab oder sie sich schlicht zu langweilen begannen.   Den Sex mit Thorin hatte sie in vollen Zügen genießen können. Spät in der Nacht waren sie beide erst eingeschlafen, ein Bett ungenutzt, fein säuberlich vorbereitet für die schlafwillige Kundschaft des Hauses, das andere völlig zerwühlt. Es barg zwei verschwitzte Leiber, die sich weniger aneinander drängten, als sie vielmehr einander genossen. Obwohl der Hüne sich völlig verausgabt hatte – etwas, das Sierras Erfahrung nach überaus schwierig zu bewerkstelligen war, hielt ihre eigene Kondition doch nur selten dem stand -, strichen seine Fingerspitzen noch immer über ihre Seite. Ihr Schulterblatt herab, über ihre Flanke, ihre Hüfte, ihren Oberschenkel und in einer fast nicht zu spürenden Regung wieder die Fährte herauf. Irgendwie war sie sehr viel schläfriger als er und es dauerte nur ein paar Minuten unter dieser Behandlung, bis sie auch tatsächlich völlig zur Ruhe kam und ihr Geist in andere Gefilde entglitt. Ihre Träume dagegen waren weniger gnädig mit ihr. Sie sah Thorin einen Adligen in dessen Kutsche überfallen, wie er ihn um Geld erpresste. Sie flohen Seite an Seite, lachend – bis ein Bolzenhagel eines Hinterhaltes sie beide in Stücke riss. Sie sah Thorin einen Zwerg mit irgendeiner absurden Familiengeschichte erpressen. Alles schien gut, bis plötzlich eine belagerungsbereite zwergische Armee vor den Toren des kleinen Städtchens stand, in dem sie sich verkrochen hatten. Geschrei, Blut und Tod folgten in der Nacht darauf, sie verloren einander aus den Augen und ihre Chancen, den nächsten Morgen zu erleben, schwanden mit jeder Sekunde. Sie sah Thorin ein stattliches Sümmchen dafür annehmen, dass er einer Adligen demonstrierte, wie viel Ausdauer er besaß – auf die gleiche Weise, wie es ihr erst wenige Minuten zuvor demonstriert worden war. Alles lief gut, bis ihr Vater Zeuge dessen wurde und ihnen die geballte Macht der Armee auf den Hals hetzte. Mit allen Häfen dicht und dem Hass eines jeden Einwohners auf ihren Schultern, was blieb ihnen groß, als zu kämpfen? Selbst wenn es aussichtslos war…   Etwas unwohl rutschte Saeven von Askir auf seinem Stuhl herum. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an und auch so ziemlich jede andere Körperöffnung, ob sichtbar oder nicht, schmerzte auf irgendeine Art und Weise, so schien ihm. Doch das war nicht, was sein Unbehagen wirklich ausgelöst hatte. Das war nicht, weshalb er gedankenverloren in seinem Frühstück herumstocherte, es von einer Seite zur anderen schob, ohne wirklich etwas davon in den Mund zu nehmen… obwohl sein Magen durchaus hörbar danach verlangte. Das war nicht, weshalb der überaus schmackhafte Saft noch immer unangetastet in seinem Becher ruhte. „Gut, ich beiß an“, klang es von der anderen Tischseite. Thorin setzte die Ellbogen auf die Tischplatte, verschränkte die Hände ineinander und bettete das Kinn darauf. „Was ist los?“ „Thorin, wie hast du das Geld bekommen?“, hakte sie nach kurzem Zögern nach und hob erstmals den Blick von ihrem inzwischen fein säuberlich nach Form und Farbe sortiertem Essen. Sein Seufzen verriet ihr einiges. Dass er darüber nicht unbedingt reden wollte, aber ebenso erwartet hatte, dass das Thema auftauchen würde. Was ihr Sorgen bereitete war der Umstand, dass er sein Besteck bei Seite legte. Das tat er immer nur dann, wenn es wichtig wurde. Ernst wurde. Andernfalls würde er sich niemals in einer Mahlzeit stören lassen, er würde notfalls mit der Zunge den übergroßen Klumpen Fleisch in eine Backe schieben, was völlig lächerlich aussähe, und drumherum erzählen oder zumindest Laute von sich geben, die man mit viel Erfahrung und Übung als Satzfetzen deuten konnte. Vielleicht war es gar nicht so verkehrt gewesen, sich Sorgen zu machen. „Ich sagte doch: Ich habe etwas verkauft“, erklärte er abermals. Sie nickte verstehend… schüttelte dann aber den Kopf. „Das weiß ich. Und ich bezweifle es ja auch nicht. Aber es lässt mir einfach keine Ruhe, verstehst du? Das sind fünfzig Gulden, Thorin. Sowas fällt nicht vom Himmel. Was hast du verkauft, das so viel Geld wert war?“ Das war die eine Frage, um die es ihr tatsächlich ging. Sie sah ihm direkt in die Augen und ließ ihn wortlos genau das wissen. Sie wollte eine Antwort darauf. Sie brauchte eine Antwort darauf. Er schien einen Moment mit sich zu hadern, ehe er die Stimme hob. „Es war ein Ei, in Ordnung?“ Natürlich war es das nicht, entsprechend seufzte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Als er die Hände über dem Bauch faltete, entspannte sich Sierra ein wenig. Diese Haltung hieß in der Regel, dass er gleich irgendetwas Längeres erzählen würde. Keine seiner übertriebenen Geschichten, hoffte sie inständig – aber etwas Längeres. Vielleicht bekam sie jetzt endlich die Erklärungen, die sie so dringend suchte, dass sie Alpträume von den Möglichkeiten bekam. „Vor einigen Tagen kamen wir an diesem Küstenstreifen vorbei, weißt du noch? Mit der Bucht?“ Sie lächelte. Ja, sie erinnerte sich gut daran. Ein reichlich steiler und schwierig zu erkletternder Pfad führte von der sonst unüberwindbaren Steilküste zu einer kleinen Bucht hinunter. Abgeschirmt vom Rest der Welt, so schien es. Sie hatten die Aussicht genossen, das Meer… und die Gesellschaft. „Mir ist dort eine der kleinen Inseln aufgefallen, die nördlicher lag. Viele umgeknickte Bäume. Als wir weiter die Küste entlang nach Norden zogen, behielt ich sie ein wenig im Auge. Es gab Spuren am Strand, die man aus der großen Entfernung sehen konnte, Wühlmuster und einen Bewegungskanal von etwas Großem.“ Das Lächeln gefror rasch und starb ebenso zügig ab. Das wiederum klang weit weniger angenehm. Nein, die Richtung, in die das ging, wollte ihr so gar nicht behagen. „Ich habe ein Boot geliehen, bin rüber gefahren und habe mich umgesehen. Ich fand ein ziemlich großes Nest mit einem halben Dutzend Eier. Selbst wenn das, was immer das Nest schuf und die Eier legte, sich für selbige noch interessieren sollte – und viele eierlegende Tiere lassen ihren Nachwuchs schlicht in Ruhe selbst ihren Weg finden -, hat es keine Möglichkeit, es zu uns zu verfolgen. Also kannst du die tiefbesorgte Miene jetzt ablegen.“ Saeven dachte nach. Er dachte lange und gründlich über das nach, was sein – offizieller – Leibwächter ihm da gerade gesagt hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich fühle mich damit nicht wohl, Thorin“, erklärte er ruhig und ernst, „Ich weiß, wie du das siehst. Es sind nur Tiere. Es gibt Räuber. Schwund ist immer. Ein Tier mehr oder weniger, das spielt keine Rolle. Wem hast du das Ei verkauft?“ Er hob natürlich fast augenblicklich an, um ihr weitere Fragen ausreden zu wollen. Er musste nicht einmal ein Wort sagen, sie sah diese Absicht in seinen Augen aufblitzen. Das Thema war ihm nicht recht und er wollte es unterbinden. An manchen Tagen ließ sie das zu. Ließ ihn gewähren. Um den Frieden zwischen ihnen und Thorins Laune zu schützen. Aber nicht heute, nicht hierbei. Das erschien ihr zu wichtig. „Wem?“, presste sie daher nach, als er seine Widerrede gerade beginnen wollte. Eine Braue leicht gehoben, musterte er sie und entschied sich, dass es weniger Aufwand wäre, zu antworten. „Einem Wanderhändler“, gab er zurück. Abermals überdachte Saeven die Situation. „Und was, wenn das Ding schlüpft? Wir sind hier in Anadyr, Thorin, wir wissen beide, was für ein Nest das war. Was, wenn die Mutter doch irgendwie das Ei findet? Was, wenn dieser Händler unseretwegen stirbt? Damit wir einen vollen Bauch und ein warmes Bett haben können? Was, wenn er es verkauft? An ein paar Fischer? Farmer? Leute, die sich nicht wehren können? Oder schlimmer noch, an ein paar Reiche, die das Geld haben, nachforschen zu lassen, woher das Ei kam, sobald es Ärger macht? Es gibt so viele Risiken, Thorin! Zu viele!“ „Du klingst wie ein Held“, spuckte er verächtlich aus. Es war nicht das erste Mal, das Thorin derartig abfällig von Helden sprach. Jedes Land hatte ihre Helden, jedes Dorf, jede Stadt, jedes einzelne, denkende, fühlende Wesen hatte vermutlich irgendwann persönliche Helden im Leben gehabt. Ihn aber hatte sie nie ein gutes Wort darüber verlieren hören. Bisher hatte sie das Thema daher stets gemieden, doch ihre Sorge um die Möglichkeiten ließ ihr einfach keine Ruhe. Was, wenn andere zu Schaden kamen? Sie konnte mit diesem Gedanken nicht leben. „Dann klinge ich eben so, und?“, warf sie trotzig zurück. „Wenn du unbedingt ein Held sein willst“, begann Thorin sich zu ereifern. Oh je – jetzt ging es also los. Saeven bemühte sich, sich gegen das Schlimmste zu wappnen, „dann schau dir vorher gut an, was mit Helden geschieht. Und ich meine nicht die niedliche Version aus deinen Geschichten und Märchenbüchern, in denen sie am Ende glücklich und zufrieden mit dem Bösen besiegt und dem Mädchen gerettet weiterleben. Ich meine die Variante, die uns begegnet, tagtäglich, und die Variante, von der wir nie hören und nie etwas sehen. Denn Helden, meine Liebe, sind Narren, allesamt! Sie verantworten den Tod anderer mit ihrem ach so großen Mut, sie riskieren leichtfertig Leben. Sie mischen sich in Dinge ein, die sie nichts angehen und die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur ohne ihre Einmischung glimpflicher ausgegangen wären, sondern obendrein vermutlich auch ihren eigenen Tod mit sich bringen. Denn wir leben nicht in einer Welt, in der der Böse so nett ist, dir seinen Plan zu verraten, nur weil er glaubt, dass seine unnötig komplizierte Falle dich irgendwann vielleicht umbringen wird. Eine Armbrust, ein Bolzen, du bist tot. Und weißt du, was das Beste ist? Sagen wir, es gelingt tatsächlich mal, irgendwen zu retten, irgendwen zu besiegen. Glaubst du, das ändert irgendwas? Dann kommt der Nächstbeste und nimmt den Platz ein, der gerade frei wurde. Vielleicht wird es besser – aber meine Erfahrung sagt, dass es in aller Regel nur schlimmer wird. Stürzt du einen Tyrannen, ohne für das Danach zu planen, kommt der nächste und setzt alles daran, zu verhindern, das ihm das Gleiche widerfährt – und in diesem Streben wird er brutaler und grausamer als sein Vorgänger werden. Und vergiss nie, dass Helden nicht aus dem Boden wachsen. Sie haben Freunde und Familien und es ist höchst selten, dass das bei tatsächlichem Erfolg lange ein Geheimnis bleibt. Was glaubst du, wer am meisten leiden wird, wenn erstmal die Runde macht, dass große Belohnungen übergeben worden sind? Oder das jemand eines bestimmten Kraftaktes fähig ist? Kann einer etwas, was ein anderer nicht kann, wird der Unfähige versuchen, den Fähigen irgendwie dazu zu bringen, dass er das für ihn macht. Ob durch Zwang oder Manipulation. Das ist die Welt, in der wir leben. Helden töten andere und sterben früh.“ Die bodenlos tiefe Verbitterung in seinen aufgewühlten, zornigen Worten war schwer zu überhören und nur ein Narr hätte glauben können, dass es angesichts dieser stetig weiter gesteigerten Rede keinerlei persönliche Hintergründe gegeben haben musste. Saeven entließ nach dem abrupten Ende einen Atemzug aus seinen Lungen, von dem er nicht einmal realisiert hatte, ihn krampfhaft gehalten zu haben. Er versteckte sein Mitgefühl nicht. Was immer Thorin getroffen hatte, musste vor langer Zeit geschehen sein – und der Kahlkopf hatte es offenkundig noch immer nicht überstanden. Würde er vielleicht auch nie. Er bedachte das, was gesagt worden war, doch die Entscheidung war eindeutig. Die Vorbehalte und Ansichten des Kriegers waren sein gutes Recht, durften einer Entscheidung jedoch nicht im Wege stehen. Schließlich schüttelte der Blonde leicht den Kopf. „Es tut mir Leid, Thorin. Das ist mein Ernst. Ich habe nicht vor, irgendwen durch mein Ansinnen zu gefährden. Ich werde das jedoch ebenso wenig immer verhindern können, schätze ich. Und wie sagtest du immer so schön? Sterben müssen wir alle irgendwann einmal. Ich konnte letzte Nacht nicht ruhig schlafen, aller Erschöpfung zum Trotz, weil diese Sache mein Gewissen belastet. Das wird sie auch weiterhin, das weiß ich nun. Ich… ich will mich zumindest versichern, dass tatsächlich kein Ärger daraus erwachsen ist. Ich breche in einer Stunde auf, du… du kannst hier solange auf mich warten. Ich würde mich freuen, falls du noch da bist, wenn ich zurückkomme.“ Sie hasste Abschiede. Aber es war besser, einen zu haben, als einfach so aufzustehen und aus seinem Leben zu treten. Oder ihn aus ihrem Leben gleiten zu lassen. Inständig hoffte Sierra, dass er noch da wäre, wenn sie zurückkam, während sie ihre Rüstung anlegte. Saeven von Askir verließ das Gasthaus tatsächlich wenige Minuten mehr als eine Stunde nachdem er sich von Thorins Tisch erhoben hatte. Sein Weg führte ihn zunächst westwärts. Irgendwo in dieser Richtung, so hoffte er inständig, würde er diesen Wanderhändler finden. Er wusste nicht, wie der aussah, gewiss. Aber er konnte sich bei den Reisenden erkundigen, ob sie einem Wanderhändler begegnet waren, wann und wo und hatte er diesen erst einmal aufgespürt, konnte er Thorin beschreiben, um Informationen zu erlangen… über den Verbleib des Eies, beispielsweise.   „Du weißt ja nicht mal, wie er aussieht“, erklang aus dem Dunkel eine vertraute Stimme. Saeven lächelte. Ein so warmes und dankbares Lächeln wie schon seit Monaten nicht mehr. Langsam wandte sich der Adlige um und erspähte den kahlen Hünen, wie er die Straße entlang schritt und auf die kleine, fürs Kampieren vorgesehene Einbuchtung zuhielt. Der Krieger ließ sich kommentarlos und ohne auf eine Bitte wartend auf sein eigenes Nachtlager sinken, das er sofort nach Ankunft ausbreitete. „Ich hätte mich durchgefragt“, erwiderte Saeven, dem das Lächeln nicht von den Lippen weichen wollte. „Dann hätte ich da ja Monate warten müssen“, kam es aus Richtung des Kahlkopfes, obwohl der mit dem Rücken zu ihm lag. Versonnen lächelnd blickte der Adlige wieder zum Lagerfeuer. Mit einem Stock stocherte er etwas in der Glut herum, legte ein paar Holzscheite nach und begab sich dann selbst zur Ruhe. Sein Blick ruhte noch immer auf Thorins breitem Kreuz, als er die Augen schloss. „Danke“, du Dickkopf.   Es dauerte fast eine Woche, ehe sie den Händler wiederfanden. Während Saeven von Askir, angesehenes Mitglied des anadyrer Niederadels, Antworten von den Passanten schlicht verlangen konnte, begnügte Thorin sich damit, Fährten zu lesen und seinen Orientierungssinn zu schulen. Einen markttauglichen Handelskarren fand man leichter wieder als die Zugkarren, die Bauern und Farmer verwendeten. Ihre Räder waren breiter und da in aller Regel deutlich mehr Gewicht auf ihnen lastete, waren ihre Fahrrinnen tiefer. Der Händler wiederrum erinnerte sich noch gut an Thorin. Sie begegneten ihm kaum, da begrüßte er den Krieger herzlich und überschwänglich. Sehr zu Saevens Verwirrung, dem daraufhin erklärt wurde, wie genau dieses Geschäft zustande gekommen war. Wie hätte es auch anders sein sollen – im Suff. Der Kahlkopf war angeblich völlig betrunken gewesen, etwas, das der Adlige doch sehr bezweifelte, auch wenn er gewiss entsprechendes vorgespielt haben mochte. Ebenso betrunken – vermutlich tatsächlich betrunken – war wohl der Reisende gewesen. Sie hatten einander prächtige Geschichten erzählt, einander weitere Krüge spendiert, bis hin zu dem Punkt, dass Thorin einen Handel vorschlug. Der klang für den Händler selbst betrunken reichlich mies. Fünfzig Gulden waren ein kleines Vermögen! Doch der Kahlkopf erzählte ihm nach und nach von seiner Idee… der Idee, das Ding als einen Glücksbringer weiterzuverkaufen. Oder als Drachenei anzupreisen. Oder einfach, wenn er nicht lügen wolle, als ein Ei unbekannter Herkunft. Bei der Größe würde wohl jeder irgendetwas Absurdes darin vermuten. Und Eumenes würde ihren Segen über das Haus senken, das dieses Ei sorgfältig aufbewahrte, ganz gewiss! Es war einfach perfekt und je länger er sich das anhörte, umso besser klang die Idee. Also hatte er das Ei gekauft. Und nur fünf Tage später erfolgreich für das Doppelte weiterverkaufen können. Haslinin war ein kleines Fischerdorf an der Westküste, nahezu unbedeutend, nahm man zwei Dinge aus der Gleichung: Sie waren eines von nur vier Dörfern in ganz Anadyr, das wusste, wie man die berühmt-berüchtigte Morrag-Forelle fing. Ein Fisch, dessen Fleisch als sündhaft teure Delikatesse verkauft und fast ausschließlich in Adelskreisen verzehrt wurde und dessen Gallenblase ein Gift enthielt, das auf Pfeile aufgetragen jeden getroffenen, gestreiften oder auch nur kurz angeritzten Gegner binnen weniger Sekunden zuckend und zitternd auf die Knie gehen ließ. Die andere Sache war der leidliche Umstand, dass Haslinin ständig Probleme mit den Naga hatte. Nun, vielleicht nicht ständig, aber doch zumindest mit einer gewissen Frequenz wiederkehrend. Der Blick, den Saeven Thorin dabei zuwarf, ignorierte der Kahlkopf geflissentlich völlig. Das Dorf hatte all seine Ersparnisse und Reserven zusammengelegt und das Ei erworben, in der Hoffnung, Eumenes‘ Segen würde ihnen endlich Ruhe vor den schlangenartigen Meeresbewohnern verschaffen. Immerhin waren sie, als eine von Eumenes‘ Schöpfungen, direkt ihrem Willen unterworfen, nicht wahr? Über die Dörfler kichernd und lachend, zog der Händler weiter. Entweder hatte er die zwischen den beiden Reisenden angestaute Anspannung nicht bemerkt, oder er interessierte sich nicht dafür und hatte entschieden, sie im Interesse der eigenen guten Laune und mangelnden Beteiligung an fremden Konflikten einfach zu ignorieren. So oder so fiel kein Wort, bis der Händler außer Hörreichweite war. „Ein Fischerdorf, Thorin“, presste Saeven hervor, „Ein ganzes, gottverdammtes Dorf! Am Meer! War an den Geschichten, die du über Naga und Seeschlangen immer wieder so gern zum Besten gibst, irgendetwas Wahres dran?“ Der aufgewühlte, beinahe schon vorwurfsvolle Ton ließ den Kahlkopf schwer seufzen. Er ahnte, worauf das hier hinauslaufen würde. „Abgesehen davon, dass sie von den Naga tatsächlich als heilig angesehen werden, sie sie hüten, pflegen, füttern, ihretwegen in den Krieg ziehen würden… nein. Oh, warte – ich habe tatsächlich mal einer den Unterkiefer ausgerissen, aber die war nicht größer als ich.“ In einem Anflug hilfloser Frustration warf Saeven die Arme in die Höhe. „Aaaaah! Wie kannst du-… ahh! Thorin!“ Es dauerte einen Moment, bis der Adlige sich beruhigt hatte und sich in einer Geste, die eigentlich zum Repertoire des Kriegers gehörte, mit der Hand über das Gesicht wischte. „Wir gehen jetzt nach Haslinin und stellen das richtig, verstanden?!“ Der Kahlkopf wurde ernster und schüttelte den Kopf. „Was interessiert mich das Schicksal der Idioten? Wenn sie auf solch einen Unsinn hereinfallen, sind sie selbst schuld und haben es vielleicht auch nicht besser verdient. Wird Zeit, dass ihnen sowas passiert. Dann lernen sie wenigstens daraus.“ Saeven trat näher an den Hünen heran und hob die Hände zu seinem Hals, als wolle er ihn erwürgen, doch die krampfenden, zuckenden Finger hielten sich wenige Millimeter von der tatsächlichen Haut entfernt, während das Gesicht des Adligen noch mehr Frustration wiederspiegelte. „Wenn wir ihnen die fünfzig Gulden geben, haben sie immer noch fünfzig Gulden verloren, für nichts und wieder nichts. Das sollte Lehre genug sein, meinst du nicht? Wichtiger aber ist, dass sie daraus lernen können. Wenn sie des Eies wegen allesamt draufgehen, dann wäre das nicht sonderlich hilfreich! Du kannst ja hier bleiben, herumsitzen und so tun als ginge dich das alles nichts an. Ich gehe jetzt nach Haslinin, um dafür zu sorgen, dass dein Wunsch nach Met und einem weichen Bett nicht unzählige Leute tötet!“ Als sie abermals drauf und dran war, sich schlicht von ihm abzuwenden und loszumarschieren, warf der Krieger seinerseits machtlos die Arme in die Luft. „Fein!“, brüllte er aufgebracht, „Wunderbar, gehen wir ein paar Idioten retten“, knurrte er hinterher.   Haslinin lag drei Tage westlich. Als sie das Dorf erreichten, sahen sie rasch, dass sich alle scheinbar bereits in Alarmbereitschaft befanden. Seit ein paar Tagen kamen die Naga jede Nacht ins Dorf. Sie schlichen um die Hütten herum, zischelten vor sich hin. Wirkliche Schäden gab es bisher keine – doch die wenigen Narren, die sich ihnen in den Weg stellten, verschwanden in der Regel. Die Blutspuren, die man fand, wiesen zwar auf Kämpfe hin, waren jedoch zu klein, um bereits alle Hoffnung aufzugeben. Thorin hingegen wechselte bei dieser Stelle der Erzählungen bedeutungsschwere Blicke mit Saeven. Er wusste es besser, kannte die Naga besser. Vermutlich wussten auch die Fischer es, immerhin lebten sie schon lange an der Küste und damit schon lange in ständigem Zwist mit den Naga. Gefangene wurden verschleppt. Und da sich die Lungen von Menschen und anderen Landgängern nur selten mit Salzwasser vertrugen, war so gut wie nie Grund zur Hoffnung gegeben. Viel interessanter war der Umstand, dass tatsächlich alle, ein jeder, den sie fragten, sich über das Verhalten der Naga zwar wunderte – sonst kamen sie in großen Gruppen ins Dorf, überfielen es in einer Nacht, verschwanden und kehrten daraufhin Wochen, Monate, teilweise Jahre nicht zurück -, doch niemand schien das absonderliche Verhalten der Meeresbewohner mit dem neulich erworbenen Ei in Zusammenhang zu bringen. Und um die ganze Angelegenheit ein wenig schwieriger zu machen, behaupteten zahllose Fischer, das ihre Fänge tatsächlich besser geworden seien, seit sie das verdammte Ding gekauft hatten. Das Dorf glaubte also an seinen Glücksbringer. Das senkte die Chance, dass man es herausrücken wollen würde. Und bisher waren auch nur wenige Bewohner entführt worden – was hieß, das es noch nicht genug Hinterbliebene und Hoffende gab, die für eine Herausgabe des verflixten Eies plädieren würden. „Siehst du, was du angerichtet hast?!“, fauchte Sierra ihn am Abend in der Schenke zu. Sie hatten sich in einem der wenigen Gästezimmer einquartiert und überlegten, wie sie nun weiter vorgehen sollten. Die Naga wussten offensichtlich bereits, das etwas hier im Dorf war. Ob sie schon wussten, dass es ein Seeschlangenei war oder ob sie wussten, dass es dieses Seeschlangenei war, konnte sich nicht mit Gewissheit sagen lassen. Die Tatsache, dass sie zumindest im Moment noch vorsichtig vorgingen, ohne größere Verwüstungen anzuzetteln, ließ darauf schließen, dass sie auch noch nicht hatten herausfinden können, wo es sich befand. Aber das war wiederum nur eine Frage der Zeit. An Land waren ihre Sinne deutlich eingeschränkt, deshalb schlängelten sie bei Nacht um all die Häuser herum. Sie nahmen Witterung auf. Und hätten sie erst einmal das Gebäude an der hintersten Rückseite des Dorfes erreicht – das Haus des Dorfvorstehers -, dann hätten sie ihr Ziel gefunden. Sie würden einbrechen, jeden töten, das Ei nehmen und verschwinden. Um dann mit einer Streitmacht zurückzukehren und als Sühne für diesen Frevel das ganze Dorf auszuradieren. Thorin konnte nicht leugnen, dass die Dinge hier schlecht standen. Und nun, da Sierra und er hier waren… war es eine ihrer üblichen Routinen. Sie waren vor Ort, Ärger kam auf… sie mischten sich ein. Ob freiwillig oder nicht. Natürlich hätte er Haslinin verlassen können. Doch Sierra wäre nicht mit ihm gekommen, sie hätte diese Leute nicht einfach ihrem Schicksal überlassen können. Und er redete sich erfolgreich ein, dass das der einzige Grund war, warum er blieb. „Also gut, wir machen es so: Wir  gehen zum Dorfvorsteher. Wir versuchen ihn zu überreden, uns das Ei zu geben. Du bietest es den Naga an und sagst ihnen, dass es über Umwege in dieses Dorf gelangte und das Dorf sich dessen Bedeutung nicht bewusst war. Falls du eine Lady erwischst, die vernünftig ist und einen guten Tag hatte, könnte das klappen.“ Thorin wirkte selbst nur bedingt von seinem Plan überzeugt. Dafür gab es gute Gründe, wie Sierra wusste. Naga waren die Zwerge der Meere. Stur und von ihrem unfehlbaren Ehrglauben getrieben. Zumindest glaubten sie ihn unfehlbar, so unfehlbar wie ihre Überzeugungen, dass alle Landbewohner gleich waren – mieser, niedriger Abschaum, der keinen Respekt vor dem Leben oder der Umwelt hatte. Das reduzierte ihre Chancen auf Erfolg gehörig. „Und falls nicht?“, hakte sie daher nach. Thorin tätschelte kommentarlos die Axt. Natürlich. „Hey warte mal – wieso überhaupt ich?! Wäre es nicht sinnvoller, wenn du das regelst? Es ist nicht nur dein Mist, du kennst dich mit denen auch besser aus.“ „Ich habe einen Schwanz“, erklärte er völlig ernst und nüchtern. Irritiert hob der Tiefling ihren Schwanz hoch genug, dass dessen Spitze über ihre Schulter lugen konnte. „Ich auch. Wenn das hier ein Längenvergleich werden soll oder du versuchst, auf das Vorrecht der Männer zu plädieren, dann-“ „Sie hassen alles Männliche“, schnitt Thorin ihr dazwischen, „Ihre ganze Kultur ist matriarchal aufgebaut. Die Männer sind eine dienende Sklavenrasse. Fußsoldaten, Kanonenfutter, gelegentlich zur Paarung nötig. Der Dreck unter deinen Schuhsohlen ist mehr wert als ich, zumindest in ihren Augen.“ „… oh.“ Das wiederum erklärte natürlich diesen Aspekt des Plans.   Als es an der Tür klopfte, öffnete ihnen ein hoch gewachsener Mann mittleren Alters, dessen Statur sich durchaus mit der Thorins messen konnte. Es widersprach so völlig Saevens Vorstellungen eines Dorfvorstehers, die hatten doch eigentlich alte, ergraute Zausel mit weisem, klugem Blick zu sein, oder nicht? Aber dieser hier, der überragte sogar noch Thorin um ein paar wenige Zentimeter. Im Hintergrund sah sie obendrein dessen Weib und seine Tochter, wie sie neugierig aus einem Zimmer herauslugten, das Saeven angesichts der späten Uhrzeit entweder als Wohnstube oder als Speisezimmer vermutete. Die Sonne war bereits nahe des Horizontes, als der Kahlkopf klopfte. Nun, da ihm dieser schwarzhaarige Schrank gegenüber stand, setzte der Kahlkopf sogar so etwas wie ein Lächeln auf. Gruselig. „Wir brauchen das-“ „Guten Abend“, fiel Saeven Thorin abrupt ins Wort. Der Sturkopf sah jemanden, der ihm ähnlich schien und ging natürlich sofort davon aus, dass es klüger wäre, mit der Tür ins Haus zu brechen. Sie sah das anders. Thorins Pläne, obgleich durchaus gut und brauchbar, gingen nicht immer wie geplant auf. Manchmal auch aufgrund falscher Annahmen wie dieser. Und ein klein wenig Höflichkeit und Freundlichkeit hatte nun wirklich noch nie irgendwem geschadet! „Ich hoffe, wir stören nicht zu dieser späten Stunde.“ „Ihr gehört nicht zu meiner Gemeinde. Reisende also. Was wollt ihr?“, hakte der Vorsteher nach. „Das ist völlig korrekt“, erwiderte Saeven und kam Thorin abermals zuvor, „Mein Name ist Saeven von Askir, ihr habt vielleicht von mir gehört? Nicht? Nun einerlei, dies ist Thorin Eichenschild, mein Leibwächter. Uns kam zu Ohren, das ihr in den letzten Tagen einige Unannehmlichkeiten mit den Naga habt und wir wünschen zur Lösung dieses Problems beizutragen.“ Der Riese hob skeptisch eine Braue, musterte ihn abermals von oben bis unten, ehe er seine Haltung etwas entspannte. „Wir haben erst vermutet, dass sie angefressen wegen der Balliste sind. Ist schließlich aufs Meer ausgerichtet, auch wenn man das Ding ein wenig drehen kann. Wir haben dann und wann Besuch von Orcas. Als letztes Jahr ein Junge gefressen wurde, naja… da bestanden alle darauf, dass wir uns das verflixte Ding zulegen. Steht jetzt aufm Dach vom alten Hedeweig und fängt Staub und Rost. Aber gut, die Leute sind beruhigt. Vor zwei Nächten waren diese verdammten Riesenschlangen beim Hedeweig am Haus, haben’s aber in Ruhe gelassen. Die Balliste ist‘s also nicht, was sie suchen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und die Augen verengten sich etwas. „Was soll uns eure Hilfe denn kosten, hm?“ Beschwichtigend hob der Blonde die Hände. „Mitnichten, guter Mann. Wir sind nicht aus so kleinlichen Motiven wie Geldgier hier, ganz im Gegenteil. Wir haben bereits erste Erkundigungen eingeholt und ich glaube genau zu wissen, wo euer Problem liegt. Dieser angebliche Glücksbringer, den ihr erworben habt, dieses Ei – die Naga suchen danach. Ich bin bereit, euch mit fünfzig Gulden aus meiner eigenen Reisekasse für die entstandenen Mühen zu entschädigen. Ihr werdet mir das Ei geben und ich kläre für euch diese leidige Geschichte mit den Naga.“ Es war perfekt. Innerlich ein wenig zittrig vor Nervosität, weil sie Saeven nie zuvor in einer solch umfassenden Situation hatte ausspielen müssen, war ihre Illusion absolut perfekt und gab völlig makellos wieder, wie sich nicht nur ein Adliger niederen Standes oder ein Adliger Anadyrs aufführen würde, nein, es gab Saeven von Askir perfekt wieder! Das Problem war – den mochte man hier offenbar nicht. Die Muskeln an den Armen des Vorstehers spannten sich ein wenig stärker, als er sich ein gutes Stück zu Saeven vorbeugte. „Müssen wir das, hm?“, echote der Riese und seine Brauen zogen sich in langsam aufquellender Wut zusammen. „Ach jetzt reicht es aber!“, erklang es ungeduldig von Thorins Seite. Im nächsten Moment landete dessen geballte Faust mit voller Wucht im Gesicht des Dorfführers. Dessen Schädel ruckte herum, wurde gegen den Türrahmen gedonnert und kurz darauf sank die riesige Gestalt wie ein Sack Mehl in der Türschwelle zusammen. „Thorin!“ Unter Saevens fassungslosem und empörtem Protest stieg der Krieger einfach über den Niedergeschlagenen hinweg. „Der wacht bald wieder auf und wird höchstens Kopfschmerzen haben, keine Sorge“, ließ er die Dame des Hauses und deren Tochter im Vorbeigehen wissen. Er warf einen kurzen Blick in jeden Raum, verschwand schließlich in einem davon und kehrte mit dem Ei zurück. „Ich leih mir das kurz aus und sorge dafür, dass euer Dorf wieder sicher wird, wenn’s Recht ist.“ Seite an Seite ließen sie das Haus des Mannes hinter sich, der nur noch dann und wann ein leises Ächzen von sich gab. Kaum hatten sie einige Meter zurückgelegt, stürzte dessen Weib vor, um sich um ihren Gatten zu kümmern. „Das war absolut unnötig!“, rügte der Blonde seinen Begleiter, „Wenn du das Verhandeln nennst, ist es kein Wunder, das wir ständig in irgendwelche Dörfer und Städte kommen, in denen bereits irgendwer ist, der dich nicht leiden kann!“ „Pff, liegt am Gesicht!“, gab der Kahlkopf lediglich halbernst zurück. Die Tatsache, dass sie das Dorf bis zur Küstenlinie durchqueren konnten, sagte viel darüber aus, wie hart der Krieger zugeschlagen hatte. Die Tatsache, dass sie kurz darauf von gut zwei Dutzend Bewohnern Haslinins umstellt wurden, die mit allen möglichen Arbeits- und Haushaltsgegenständen bewaffnet waren, sagte wiederum aus, das er trotz allem offenbar nicht hart genug zugeschlagen hatte. „Ach verdammte Scheiße, kommt schon Leute, was soll das?! Wir versuchen euch hier zu helfen!“, brüllte der Kahlkopf entnervt in die Runde der wenig amüsiert aussehenden Gesichter. „Indem ihr uns angreift?“, kam es aus einer Richtung. „Uns bestehlt?“, kam es aus einer zweiten. „Oder uns beraubt?“, aus einer dritten. „Das ist das Gleiche!“, meinte ein Vierter. „Heißt es nicht ‚das Selbe‘?“, rätselte ein Fünfter. „Und uns dumm dastehen lasst ihr auch!“, warf ein Sechster vor. „Als wenn ihr dazu noch meine Hilfe gebraucht hättet“, grummelte Thorin glücklicherweise leise genug, das die Dörfler es nicht vernahmen. Man drohte ihnen mit Gefangennahme. Ein Brief sei bereits aufgesetzt worden, an den Grafen in Sturmwind. Eine Abteilung der dortigen Wache würde kommen und sie in die Stadt mitnehmen, wo man ihnen Gerechtigkeit vor Gericht angedeihen lassen würde. Das klang, alles in allem, wenig verlockend – nicht zuletzt, weil Sturmwind sieben Tagesreisen in südlicher Richtung lag. Also eine gute Weile die falsche Richtung. Und Wachen? Vor Gericht stehen? Nein. Nein, ganz sicher nicht. „Mach jetzt nichts Dummes“, bat Saeven an seiner Seite leise und vorsichtig, als er bemerkte, wie die Hände des Kahlkopfes sich zu Fäusten ballten. In all dem Trubel und all dem gereizten Durcheinander entging ihnen ein wundervoller Anblick: Wie die Sonne im Westen versank, wie der Himmel sich purpur färbte und das Meer für einen kurzen Moment wie Blut schien, wie die Grenze zwischen Himmel und Ozean verschwamm und alles ineinander überzugehen schien. Ein wahrlich magischer Augenblick, eine atemberaubend schöne Szenerie… und völlig verschwendet. Stattdessen erklang kurz darauf mit der einbrechenden Dunkelheit ein Schrei aus den hinteren Reihen der Dörfler, die den Kreis deutlich um sie geschlossen und zugezogen hatten, bereits angespannt und bereit, gleich auf sie zu springen und sie unter allen Umständen gefangen zu nehmen. Der Schrei wiederum war ein einzelnes Wort, das auch alle anderen Anwesenden rasch aufschrecken ließ: „Naga!“ Tatsächlich konnte man selbst in der einbrechenden Finsternis der Nacht die dunklen Schemen sehen, die knapp unter der Wasseroberfläche aus einiger Entfernung allmählich heran kamen. Wie von einem Wespenschwarm überrascht, stob die Meute der Dorfbewohner auseinander und jagte in alle Richtungen davon, um sich so rasch wie irgend möglich in ihren Häusern zu verbarrikadieren. „Ich werde ganz in der Nähe sein!“, ermahnte Thorin seinen Kameraden, drückte ihm das Ei in die Hand und flüchtete ebenfalls. Saeven blieb allein am Strand zurück. Er schluckte schwer im Angesicht dessen, was da auf ihn zukam. Noch nie zuvor hatte er mit Naga geredet. Sie waren die Zwerge des Ozeans. Von Ehre getrieben. Von unerschütterlichem Glauben. Sie hassen alles Männliche. Oh verflixt! Rasch ließ Sierra die Illusion zerfallen. Es war ohnehin niemand mehr hier, der sich dafür interessiert hätte. Kurz warf sie einen Blick hinter sich, sah die Hütten, wie die Lichter darin hastig gelöscht wurden. Keine Beobachter, sie konnte nicht einmal Umrisse oder neugierige Augen ausmachen. Auch Thorin schien gänzlich verschwunden. Als ihr Blick sich wieder nach vorne wandte, erhoben sich die Naga gerade aus dem Meer. Sechs Männer, erkennbar an den Muschelpanzern, den wuchtigen Speeren mit Korallenklingen und ihrem allgemein muskulöseren Bau, angeführt von einer einzelnen weiblichen Naga. Die vielen Ketten um Hals, Arme und Handgelenke, die Ringe, der aufwendige Kopfschmuck, alles schien sie als eine Lady auszuweisen – und damit das, was in deren Volk als ranghoch und adlig galt. Die kleine Abteilung von sieben Wesen hielt direkt auf sie zu. Als die Eskorte zum Stillstand kam, hatten sich längst ihre Speere auf sie gerichtet. Sierra hielt still, bis sich die Lady hervorschob. Nur ein Meter trennte sie voneinander. „Mutig“, erklärte sie. Es klang wie eine absonderliche Mischung aus dem Zischeln einer Schlange und dem Rauschen der Wellen in starker Brandung. Eine Stimme, wie sie sie so noch nie gehört hatte und, was sie mehr noch überraschte, gesprochen in der Zunge der Menschen. Naga hatten zweifellos ihre eigene Sprache, aber da sie so häufig die Küsten besuchten – oder heimsuchten -, waren sie wohl vertraut mit den Sprachen anderer Völker. „Ich grüße euch in Demut, ehrwürdige Lady der Naga“, begann Sierra. Sie senkte sich mit einem Bein auf ihr Knie und präsentierte das Ei in beiden Händen emporgereicht. „Ich vermute, ihr wart auf der Suche hiernach. Ich bitte um die Gelegenheit, zu Gunsten dieser Menschen eine Erklärung abgeben zu dürfen.“ Sie hob den Kopf, als man ihr das Ei abnahm. Einer der Männer barg es an sich und trat einen gehörigen Schritt zurück. Oder eher wohl… schlängelte ein gutes Stück abseits. Der Brustkorb der Lady hob sich unter einem tiefen Atemzug, ehe sie ihr anwies, aufzustehen. „Meinetwegen. Sprich frei.“ „Die Bewohner dieses Dorfes sind unschuldig“, wollte sie beginnen, doch das verächtliche Schnauben der Lady wies sie darauf hin, dass sie eine unglückliche Wortwahl getroffen hatte, „Sie wussten nicht, um was für ein Ei es sich handelte“, fuhr sie nichtsdestotrotz fort, „Sie kauften es von einem Reisenden, in dem guten Glauben, es sei ein Ziergegenstand.“ „Dann sind es Narren“, zischelte die Naga. „Dem widerspreche ich nicht. Doch ein Narr zu sein, das allein sollte nicht den Tod verdienen, oder?“ Ein amüsiertes Funkeln trat in die Augen der Lady, als sie sich ein Stück näher an Sierra heranlehnte. „Mich erstaunt, wie viel ein Landbewohner über unsere Kultur weiß.“ Sie entfernte sich wieder ein Stück und schwieg einen Moment, ehe sie sich wieder Sierra zuwandte. „Ich sehe den Eifer in deinen Augen, Kind, und ich begrüße den Respekt, den du mir erwiesen hast – ich wäre geneigt gewesen, deinem Gebettel stattzugeben. Doch leider irrst du dich. Diese Narren sind alles andere als unschuldig. Ob sie nun Diebe sind oder nicht, was spielt es für eine Rolle? Dies ist nur das letzte Ärgernis in einer ganzen Reihe von Verfehlungen. Wir sind nicht länger gewillt, Geduld und Nachsicht walten zu lassen. Das endet heute Nacht.“ „Bitte, ich-“, setzte Sierra hastig an, doch ein lautes, gereiztes Zischeln der Lady ließ sie schweigen. „Bis jetzt mag die Mutter Nachsicht für dein Flehen gehabt haben, ändere ihre Meinung nicht leichtfertig, indem du dich selbst demütigst! Trage dein Schicksal mit dem, was an Ehrgefühl dir verblieben ist!“ Mit jenen Worten wandte sich die Naga ab und wollte bereits mit ihrer Eskorte ins Meer zurückkehren, als Sierra eingriff. Sie wusste, wie das hier enden würde. Diese paar würden zurückkehren, heim. Sie würden das Ei in Sicherheit bringen. Und dann mit einer Armee auftauchen, um das Dorf zu vernichten, ein für alle mal. Sie sah vor ihrem geistigen Auge bereits die Toten, die zerstörten Heime, die verlorenen Jahre an Leben. Das konnte sie einfach nicht zulassen. „Thorin!“, rief Sierra und stürmte vorwärts. Den ersten Naga konnte sie noch recht leicht mit ihrem Schwert niederstrecken, immerhin war die Gruppe unvorbereitet. Der Zweite konnte immerhin die erste Attacke parieren, ehe sie ihn erwischte. Der Dritte… war leider bereits gut vorbereitet. Mit einem wuchtigen und rasanten Schwanzschlag peitschte er sie regelrecht von den Füßen. Unsanft landete sie im Sand des Ufers. Die Tatsache, dass der Vierte ihr nicht sofort den Gnadenstoß gab, war einer simplen Tatsache geschuldet: Licht. Der Himmel strahlte und funkelte von wundervollen und vor allem zahlreichen Sternen… und direkt zwischen ihnen prangerte der Vollmond. Für eine Invasion hatten sich die extrem lichtempfindlichen Naga die schlechteste Zeit überhaupt ausgesucht. Entsprechend blinzelte der Angreifer mehrfach, bevor er mit seinem Speer zustieß. Sie spürte den Schmerz. Wer hätte gedacht, dass Korallen so scharf sein konnten? Die Klinge des Speeres riss ihre Rüstung auf, ihre Haut, ihr Fleisch – an der Hüfte. Ärgerlich, aber nicht lebensbedrohlich, ja nicht einmal eine allzu große Einschränkung im Kampf. Ihr Schwertstich nach oben traf den Dritten, sie ließ die Klinge los. Das plötzliche, zusätzliche Gewicht des Schwertes ließ die Kreatur umkippen. Im Sterben wandte er sich, rang mit der Klinge in seiner Brust, während der Tiefling den Speer des Vierten umfasste. „Thorin!“, brüllte sie abermals aus vollster Kehle, während sie den Angreifer davon abhielt, seine Waffe zurückzuziehen für den nächsten Stoß. Mühsam gelang es ihr, sich auf die Beine empor zu kämpfen. In einer geschickten Drehung wich sie dem zweiten Speerstoß aus, packte ihr Schwert, welches sofort wieder federleicht wurde und zog die Klinge in einer hübschen Diagonale einmal von unten nach oben über den Leib des Schlangenwesens. Aufkreischend zuckte es zurück – sie setzte mit einem Stoß nach. Just als der Leib des Aggressors umkippte, sah sie sich der Lady gegenüber. Magie knisterte um sie herum, irgendein Zauber wurde von ihr geladen. Sie wollte fliehen, wollte in ihre Taschendimension springen, in Sicherheit vor dem, was immer da kommen mochte. Nie zuvor hatte sie Angst wie solche verspürt, als sie feststellen musste, dass sie es nicht konnte. Was immer diese Schlange dort tat, es verhinderte es irgendwie. Sie konnte, sie durfte nicht springen. Fassungslos und erstarrt sah sie, wie sich die Energie manifestierte. Das war das Ende. „Thorin…?“, hauchte sie atemlos und fast unhörbar leise. „Runter!“, donnerte die wohlvertraute Stimme plötzlich hinter ihr. Gerade noch rechtzeitig ließ sie sich fallen – ein Korallenspeer jagte über sie hinweg. Die Waffe bohrte sich präzise in die Brust der weiblichen Naga. Was immer für einen Zauber sie vorbereitet hatte, er zerfaserte, die Energie entlud sich als statische Spannung, als die Kreatur zuckend und unter Ächzen und Stöhnen ins flache Wasser stürzte und selbiges mit ihrem Blut einfärbte. „Unten bleiben!“, brüllte der Kahlkopf erneut. Das nächste, was über ihren Kopf hinweg segelte, war seine Streitaxt. Nicht unbedingt eine Fernwaffe und ganz sicher nicht allzu präzise. Er hatte das Ding einem der zwei flüchtenden Naga ins Kreuz geschleudert. Sie sprang auf, kaum dass die Waffe über sie hinweg gesaust war, griff sich im Voranstürmen ihr Schwert und beendete, was die Axt begonnen hatte, mit einem gut gezielten Stich ins Genick. All die Präzision verhinderte jedoch nicht, dass der Letzte sich mit dem Ei in die Fluten stürzte. „Verdammt!“, fluchte Sierra leise und wandte sich zu Thorin um. Der hob gerade seine Axt aus dem flachen Wasser und sah sie mit einem schiefen Lächeln an, ehe etwas seine Aufmerksamkeit fing – irgendetwas hinter ihr. „Runter!“, befahl er erneut. Sie duckte sich. Nicht etwa aber die Axt war es, die über sie hinwegflog. Irgendetwas katapultierte sich hinter ihr aus dem Wasser. Sie spürte es an ihrem Rücken, es streifte sie, warf sie um. Erst als sie sich Sand, Salz und Wasser aus dem Gesicht gewischt hatte, konnte sie riskieren, aufzusehen. Was sich ihr zeigte, war ein völlig absonderliches Bild. Thorin rang mit einer Seeschlange. Sie war alles andere als ausgewachsen. Große Seeschlangen konnten ganze Schiffe versenken, wenn sie sich Mühe gaben. Die hier hingegen hätte ihn zumindest der Länge nach am Stück verschlingen können. Offenbar etwas, das sie aktuell zu tun versuchte, da der Krieger die Hände zwischen ihre vier Kiefer gepresst versuchte, sie eben davon abzuhalten, während er die Beine um den sich windenden Leib gelegt alle Mühe hatte, das Tier irgendwie annähernd still zu halten. Ein Vorhaben, an dem er auf Dauer ebenso scheiterte wie die Schlange an dem Streben, ihn zu beißen. „Hilfe wäre total praktisch!“, schnauzte der Hüne sie keuchend vor Anstrengung an. Die Schlange musste gewaltige Kräfte haben, um ihn so schnell aus der Puste zu bringen. Des Versuchs halber schlug sie mit ihrem Schwert auf das Tier ein – doch ein massiv dichtes Schuppenkleid verhinderte, dass die Klinge auch nur die obersten Schichten durchdrang. Also versuchte sie, mit der Spitze unter die Schuppen zu hebeln – doch das Tier war noch zu jung, als das die Schuppen bereits dafür stark genug ausgeprägt gewesen wären. Wann immer sie aber versuchte, in den Schlund zu stechen, ruckte der Kopf herum und die Kiefer schlossen sich für einen Moment. Das Vieh konnte das Schwert kommen sehen, gänzlich hirnlos war es also nicht. „Wenn ich es sage“, begann sie einer Idee folgend ihren Mitstreiter zu instruieren, „reißt du dem Ding die Kiefer auf und drückst es ein Stück hoch!“ Mit jenen Worten ließ sie ihr Schwert in den Sand fallen und rannte davon, so schnell ihre Beine sie trugen. Sie klopfte wild an der Tür eines Hauses, doch niemand ließ sie ein – also trat sie dagegen. „Geht weg!“, verlangte jemand im Inneren. „Lasst uns in Ruhe!“, erklang es zum zweiten Tritt. Der Dritte sprengte das Schloss aus dem Rahmen. Sierra verschwand im Inneren und ein paar wenige Minuten verausgabte sich Thorin am Strand liegend völlig, um diesen verflixten Riesenwurm annähernd an Position zu halten, ohne dabei von ihm gefressen zu werden oder ganz zufällig ein paar Finger an die scharfen Zähne an den Innenseiten zu verlieren. Was genau Sierra plante, darüber wagte er nicht zu spekulieren – aber er vertraute ihr genug, sich an ihre Anweisungen zu halten. Als das erhoffte Kommando kam, presste er mit aller verbliebenen Kraft das Mistvieh in die Höhe und drückte seine Kiefer so weit auseinander, wie er bewerkstelligen konnte. Nach ein paar Sekunden glaubte er, etwas habe nicht funktioniert, er wollte bereits nach ihr rufen, als es plötzlich einen gewaltigen Ruck gab und der Leib auf ihm schlaff wurde. Nur langsam realisierte der Kahlkopf, was sich ereignet hatte: Sierra hatte die Balliste auf dem Hausdach beladen. Und einen armdicken Bolzen abgefeuert. Auf ihn. Oder genauer gesagt, auf den Schlund der Kreatur, die er hochgedrückt hielt. Und eben dieser Bolzen hatte das Tier durchbohrt, innerlich zerrissen, durchschlagen und sich dann wenige Zentimeter jenseits seiner Lendengegend zwischen seinen Beinen in den sandigen Boden gefressen. Die Wucht hinter dem Schuss musste groß gewesen sein – statt den Bolzen einfach wegdrücken zu können, musste er umständlich rückwärts unter dem Geschoss und der davon aufgespießten Seeschlange hervorkriechen. „Bist du irre?!“, plärrte er Sierra an, die mit einem zufriedenen und wissenden Grinsen zu ihm zurückkehrte, „Nur ein paar Zentimeter und-“ „Ja, das wäre ein Verlust gewesen“, fiel sie ihm ins Wort und zwinkerte ihm zu, „Deshalb habe ich mir ein wenig mehr Zeit beim Zielen gelassen.“ Der Kahlkopf benötigte einen Moment, um das Geschehen zu verdauen, ehe er tief durchatmete und seine Axt vom Boden hob. Auch Sierra sammelte ihre Waffe ein und sie trafen sich bei der Leiche der Kreatur wieder. „Wir müssen hier weg, schnellstmöglich“, begann der Krieger. „Sowas hier“, setzte er an und stieß mit dem Fuß gegen die tote Seeschlange, „rennt in der Größenordnung niemals allein in der Gegend herum. Außerdem ist einer der Naga entkommen, er wird mit Verstärkung zurückkehren. Ich übernehme die Nordseite, du die Südseite, los!“ „Und was soll ich denen sagen?! Wir haben gerade noch einen Mob am Hals gehabt, weil wir ihren kostbaren Glücksbringer geklaut haben!“, wandte sie durchaus berechtigt ein. Thorin hingegen schüttelte den Kopf und trat nochmals näher. Mit finsterer Miene gab er ihr Antwort. „Frag sie einfach, was sie lieber wollen: Leben oder sterben?“ Jeder von ihnen zog in der nächsten Stunde herum, von Haus zu Haus, von Tür zu Tür. Sie klopften, mahnten, Thorin brüllte, Sierra bat. Als sie sich in der Dorfmitte wieder trafen, wirkten beide auf ihre Weise niedergeschlagen. Der Hüne schnaubte frustriert und Sierra konnte ihre Schultern nicht vom Herabhängen abhalten. „Erfolg?“, hakte der Krieger nach. „Wenig“, gab sie zurück, „Ein paar packen, ein paar sind aufgebrochen. Die Meisten weigern sich. Manche weigern sich sogar, einfach nur zuzuhören.“ „Bei mir das Gleiche“, erwiderte der Kahlkopf, „Vielleicht könnten wir noch-“ Thorin brach ab, als es lauter wurde. Das Rauschen des Meeres, so schien es zunächst. Eines recht aufgewühlten Meeres, wurde rasch klar. Und das ohne Sturmwolken oder hohe Wellen. Sie traten zwischen einigen Häusern hindurch, um einen Blick auf die Küste zu bekommen. „Das ist ein Scherz, oder…?“, murmelte der Krieger vor sich hin, als sich an der Küste ein Ungetüm gewaltigen Ausmaßes aufbäumte. Diese Seeschlange musste sich keine Mühe geben, um ein Schiff zu versenken. Eumenes allein mochte wissen, wie alt dieses Monstrum war. Ein im Mondlicht dunkel funkelndes Schuppenkleid, von dem das Meerwasser tropfte, hausgroße Kiefer, die sich in schwindelerregender Höhe öffneten. Irgendwie erwartete Sierra ein animalisches Röhren, Kreischen, Schreien, irgendeine Form von Laut. Aber natürlich war nichts zu hören. Als das Tiere erstmals auf den Boden niederstieß, erzitterte die Erde unter ihren Füßen. Ein ganzes Haus verschwand unter dem gewaltigen Schlund, das Bersten von Holz wurde laut, Geschrei, das schmerzlich rasch verklang. Erst dieser Akt abrupt beendeten Lebens, einer kompletten Familie, ausgelöscht binnen eines Wimpernschlages, schien den Rest von Haslinin wachzurütteln. Als das zweite Haus vernichtet wurde, das Dritte, da schienen die Leute zu begreifen. Ein paar wenige Narren zündeten Lichter an, bemühten sich, ihre Habe zu packen – und jedes leuchtende Haus war eine Zielscheibe für die rasende Kreatur. „Schnell!“, rief Sierra ihrem Begleiter zu. Abermals stürmten sie zwischen die Häuser, versuchten den Leuten zu helfen. Immer wieder erzitterte die Erde unter den Niederstößen. Viele flohen ohne mehr als die Kleider am Leib, vertrauten darauf, das Mondlicht ihnen genügen würde, um aus der Bucht zu entkommen. Als wäre eine gewaltige, rasende Seeschlange nicht genug gewesen, kamen die Naga hinzu. Ein Viertel oder Drittel des Dorfes mochte bereits in Schutt und Asche liegen, als die ersten Speere mit Korallenklingen flogen. Sierra und Thorin wagten sich weiter zur Küstenlinie vor, um die Angreifer so lange wie möglich zum Narren zu halten, beschäftigt zu halten, abzulenken… doch zwei allein gegen die Hundertschar, die hier aufmarschierte, war einfach zwecklos. Ehe sie überrannt wurden, ließen sie sich zurückfallen und versuchten das Schlachtfest zu ignorieren, das in den Häusern der Unglücklichen vor sich ging, die bisher nicht der Seeschlange zum Opfer gefallen waren, sich jedoch auch nicht zur Flucht aufgemacht hatten. Immer weiter zogen sie sich zurück, halfen Stürzenden auf, deckten die Flucht der Dörfler. Mehrere weibliche Naga mussten unter den Angreifern sein. Das wurde ihnen klar, als der Ozean kam. Tief im Dorfzentrum schwappte Seewasser plötzlich über ihre Schuhe hinweg – und stieg rasch an. „Lauft! Lauft, schneller!“ brüllte Thorin dutzende Meter nördlich. Sierra tat es ihm gleich. Mit dem steigenden Wasser kamen Seeschlangen. Nicht die gewaltigen Monstrositäten, nein. Die Hochgiftigen, die man kaum sehen konnte, so klein und flink waren sie mitunter. Keiner von ihnen wusste, wie viele in jener Nacht den Schlangen, der gewaltigen Seeschlange oder den Speeren der Naga zum Opfer fielen. Sie alle, so hatte Thorin stets aufs Neue betont, hatten ihre Entscheidung getroffen. Sie alle hatten mehr als eine Wahl gehabt. Sierra suchte Zuflucht in diesem Wissen. Sie alle hatten selbst entschieden. Und die Konsequenzen dessen tragen müssen. Als sie mit dem Kahlkopf am Morgen an den Klippen stand, die die Bucht des Dorfes umgaben, war von Haslinin nicht mehr geblieben als eine überschwemmte Ruin voller Giftschlangen, Trümmer und Leichen. All das wurde nach und nach vom abfließenden Wasser ins Meer hinausgezogen. Binnen weniger Tage, vielleicht sogar nur Stunden, würde nichts davon übrig sein und nichts mehr darauf hindeuten, dass es hier je Zivilisation gegeben hatte. Wie viele mochten sie gerettet haben? Zwei Drittel? Die Hälfte? Als sie zu helfen versucht hatten, hatte man sie bedroht, sie gefangen nehmen wollen. Andererseits, ohne sie wäre das alles auch überhaupt nie erst geschehen. Was war also davon zu halten, als die Überlebenden jener Nacht sie beide als Helden bezeichneten? „Helden töten andere und sterben früh.“ Seit ihrer Unterredung im Gasthaus, was nun eine Ewigkeit zurückzuliegen schien, wollte ihr dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf weichen. Es waren Menschen gestorben. Und wenn man das so sehen wollte, dann waren diese ihretwegen gestorben. Doch es war ebenso leicht, es anders zu sehen. Sie hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um zu helfen. Und um Leben zu retten. Außerdem leben wir. Sie blickte zu Thorin herüber, der gerade mit dem ehemaligen Dorfvorsteher Haslinins darüber feilschte, ob diese ganze Unternehmung und ihre Hilfe nicht eigentlich eine Belohnung wert wäre, während besagter Vorsteher die fünfzig Gulden in dem prallen Ledersäckchen in seiner Hand wog und von der Idee, davon etwas abzugeben, wenig begeistert schien. Noch. Kapitel 44: Im Namen der Gerechtigkeit -------------------------------------- Es ging doch nichts über ein gemütliches, wärmendes Feuer. Der sanfte, helle Schein flackernder Flämmchen, der über die Wände tanzte. Kleine Schatten, gezeichnet von unzähligen herumstehenden Figürchen, die animiert wurden und eine niedliche Geschichte erzählten. Und dazu die Heimlichkeit. Es war geschaffen, jemanden einzulullen. Wenn nur sein Ärmel nicht gebrannt hätte. „Was zum-“, hob der kahlköpfige Krieger an und begann, die Flammen ausklopfen zu wollen. Neben ihm kicherte es schadenfroh. „Bist du wieder unter den Lebenden, ja?“, stichelte eine kleine, breit grinsende Zwergin ihn an, „Er hat dich mit der letzten Flasche ja ziemlich am Kopf erwischt. Wird eine schöne Beule geben!“ Flasche? Kopf? Vorsichtig betastete er seine Stirn. Mit dem Aufzucken des Schmerzes kamen auch die vorübergehend verschütteten Erinnerungen der letzten Sekunden zurück. Er hatte über den umgeworfenen Tisch lugen wollen, um auszuspähen, wie ihre Lage war. Welche Taktik sie anschlagen sollten. Und dann hatte ihn das Wurfgeschoss am Kopf getroffen. Kurz war ihm schwarz und weiß vor Augen geworden, war er ein Stück in sich zusammengesunken – weit genug, um den exzellenten Wurfkünsten zu entgehen. Doch mit den Erinnerungen kam auch die Wut wieder zurück. „Dieser kleine Bastard…!“, fluchte Thorin erbost und ballte die Fäuste. Einen Moment schloss er die Augen, biss die Zähne zusammen und versuchte den Drang zu unterdrücken, den Zwerg am anderen Ende dieses Raumes umzubringen. „Tirrek, lass den Scheiß! Wir wollen einfach nur unser Geld!“, brüllte er abermals herüber. Doch natürlich hörte der Besitzer dieser ziemlich schlichten Hütte nicht zu. Dieser eine große Raum? Das war die Hütte. Der Nachttopf stand im selben Raum, nur einige Schritt vom Ofen, dem Kleiderschrank und dem ziemlich miserabel selbst zusammengezimmerten Waffenständer entfernt. Was ihnen nur wenige Optionen ließ. Sie konnten ihn nicht umrunden oder flankieren. Die Hütte lag im Vorgebirge auf einer kleinen Anhöhe, die Fenster, obwohl die Behausung nur ein Stockwerk hatte, lagen zu hoch, um mühelos hineinklettern zu können. Von unauffällig ganz zu schweigen. Also mussten sie diesen kleinen Irren, der sie die ganze Zeit mit dem Inhalt seines Alchemieschrankes bewarf, wohl oder übel direkter angehen. „Hey, erinnerst du dich an die Taverne vor zwei, drei Wochen?“, erkundigte sich Skorina. Als ihm dämmerte, worauf sie hinaus wollte, begann die Zwergin zu grinsen. Ich bin nicht gerade begeistert von der Idee, als Tollpatsch dazustehen. Lieber ein Tollpatsch als eine verkohlte Leiche, hm? Urgh. Sie kannten einander. Sie kannten einander gut genug, um kleinere Gespräche mit nicht viel mehr als Mimik und Blickkontakt zu führen. Thorins letzte Erwiderung war dagegen lediglich ein Augenrollen – er konnte wenig Gehaltvolles einwenden. Damit war ihr glorreicher Plan gefasst. Jeder von ihnen brach ein Bein des Tisches mit einem kräftigen Ruck ab. Es hätte einen exzellenten Knüppel abgeben können, doch sie hatten damit andere Pläne. Ein weiteres Mal spähten sie knapp über den Rand des gekippten Tisches und sahen Tirrek Brandstein, wie er blindlings die nächsten Fläschchen aus dem Schrank hinter sich kramte und direkt wieder unter einem zweiten umgekippten Tisch verschwand. „Jetzt!“, gab Skorina das Kommando, als er wieder hervorlugte, um weitere Geschosse auf sie einhageln zu lassen. Sie schleuderte mit aller Kraft ihr Tischbein von sich. Der Zwerg duckte sich mühelos darunter hinweg – getroffen hätte es ihn vermutlich so oder so nicht. Die kleine Zwergin stürmte zusammen mit ihrem Begleiter vor. Als Tirrek den Kopf wieder über den Tisch hob, erkannte er die Gefahr – als ein guter Zwerg erkannte man immer, wann man frontal angegriffen und erstürmt wurde! Also schleuderte er gleich drei der fünf Fläschchen in seiner Hand auf Skorina, die in die Luft sprang und… plötzlich weg war. Einfach so. Schlicht weg. Ohne groß darüber nachzudenken, was das nun heißen konnte oder nicht heißen konnte, widmete sich der Zwerg dem verbliebenen Koloss, der auf ihn zustürmte und schleuderte die letzten zwei Fläschchen mit einem funkelnd roten Inhalt. Thorin war nicht sonderlich erpicht darauf, herauszufinden, was darin war oder was es bei Kontakt mit Haut und Rüstung anstellte – also sprang er. Ein hübscher Hechtsprung mit Anlauf, er rollte sich beim Aufkommen am Boden ab und… landete direkt an Tirreks Barrikade, der das kleine akrobatische Manöver genutzt hatte, um etwas gezielter eine einzelne Flasche aus seinem Alchemieschrank zu wühlen. „Dumme Idee“, knurrte der Zwerg grimmig lächelnd, als er sich über seinen Barrikadentisch hob und direkt auf Thorin herabzielte. Just, als er schleudern wollte, sprang plötzlich Skorina aus dem Nichts heraus, an genau der Stelle, an der sie auch verschwunden war – allerdings hatte sie Anlauf. Sie kam genau einmal auf dem Boden auf, drückte sich sofort kraftvoll wieder ab und sprang auf eine Weise, die mit ihrem Körperbau gar nicht vereinbar sein sollte durch die Luft. Mühelos entging sie dabei Tarriks Geschoss und landete, Arme und Beine vorgestreckt, direkt auf dem Zwerg. Sie klammerte sich fest, riss ihn mit purem Gewicht und Trägheit zu Boden und noch ehe der Zwerg sich davon erholen konnte, mit dem Hinterkopf auf die harten Dielen geknallt zu sein, hatte sie sich bereits so auf ihm positioniert, das sie Arme und Beine des Kontrahenten nahezu bewegungsunfähig hielt. „Runter von mir du kleine Missgeburt…!“, dröhnte der Zwerg erbost, doch Skorina ließ sich nicht von seinem Gezeter beeindrucken. Thorin dagegen erhob sich in aller Ruhe. „Alles im Griff?“ Ihr Nicken reichte ihm. Er nahm sich die Zeit, sich erst einmal abzuputzen, den Alchemieschrank zu schließen und den Schlüssel in seiner eigenen Tasche verschwinden zu lassen. „Gut, beenden wir diesen Unsinn“, meinte er dann und nickte seiner Partnerin zu. Die entließ Tirrek aus ihrem Griff und half dem maulenden und murrenden Zwerg sogar auf die Beine, während Thorin den Tisch aufrichtete. „Ich wüsste jetzt gerne, was diese Scheiße sollte!?“, begann Thorin und sein Ton allein machte deutlich, dass er wenig Interesse an langen Ausflüchten oder Worträtseln hatte. Tatsächlich zuckte Tirrek einen Moment zusammen und blickte dann ein letztes Mal grimmig zu Skorina, ehe er sich dem Hünen zuwandte. „Was? Was wollt ihr noch?“ „Unser Geld. Und wissen, was dieses Theater sollte!“, blaffte der Kahlkopf wenig geduldig zurück. „Als ihr losgezogen seid, habt ihr es doch selbst gesagt: Warum solltet ihr zurückkommen, wenn ihr sie wirklich findet? Warum sie nicht einfach an den Nächstbesten verkaufen? Oder den Höchstbietenden? Ich hab darüber nachgedacht. Ihr hattet Recht. Warum solltet ihr euch an die Abmachung halten? Es konnte also nur einen Grund geben, warum ihr hier seid: Um mich zu töten. Ich bin der Einzige, der an ihre Existenz glaubt. Der Einzige, der danach sucht, statt die Stiefel der Aristokraten zu lecken. Also was jetzt? Bringt ihr’s zu Ende oder nicht?“ Verdutzt hielten beide einen Moment inne, während Tirrek von einem zum anderen sah. „Du… du dachtest, wir sägen dich ab?“, versicherte sich Thorin, „Dass wir einfach so unseren Vertrag brechen?“ Die aufrichtig erstaunt klingenden Fragen schienen nun wiederum den Zwerg zu verunsichern. „J-Ja…?“, gab er zögerlich zurück. „Du Idiot!“, brüllte Thorin direkt darauf, „Das war ein Witz, verdammte Scheiße! Ein gottverdammter Witz! Spaß. Du weißt, was Spaß ist, oder? Wir sind keine verdammten Orks oder Spitzohren, das wir ständig heruminterpretieren würden, was wir wie gesagt und wann wie gemeint haben oder unser Wort schlicht völlig brechen. Du hast mir eine Flasche an den Kopf geknallt! Und meinen Ärmel in Brand gesteckt!“ Mit jeder Beschwerde wurde der Kahlkopf lauter und ungehaltener. Skorina jedoch stand ungerührt dort, verzog nicht eine Miene. Sie kannte das Schauspiel und wusste, dass Thorin ein erschreckend guter Darsteller war. Innerlich war er völlig ruhig – sie, die ihn gut genug kannte, konnte es ihm an den Augen ansehen. Darin fehlte das Feuer, das sich in seiner Stimme dagegen überstark präsentiert sah. „Es waren doch nur ein paar kleine Flammenreagenzien…!“, wehrte sich Tirrek auf die vermutlich lächerlichste Weise, die ihm zur Verfügung gestanden hätte. Vermutlich ein Nebeneffekt des Umstandes, das ihm gerade dämmerte, was für einen Fehler er begangen hatte. „Nur ein paar kleine-“, hob Thorin an, brach jedoch rasch kopfschüttelnd ab, „Tirrek, sowas tötet Leute!“ Die Hände in die Hüften gestemmt, starrte der Krieger noch einen Moment auf den Zwerg herab, ehe er sich an Skorina wandte. „Vielleicht sollten wir wirklich an den Höchstbietenden verkaufen. Irgendwie habe ich keine Lust mehr, mit diesem kleinen Aas hier zu verhandeln.“ Kaum waren jene Worte gefallen, kam Leben in den Zwerg. „Nein! Nein, nein, wartet! Wartet! Ich… nein… wartet… ich… hier, hier, wartet!“ Hastig jagte er davon, wandte sich plötzlich erstaunlich geschickt aus Skorinas Griff und hechtete zu seinem Bett, unter dem er an der seitlichen Schlaufe ziehend eine große Holztruhe hervorwuchtete. Groß, aber flach und mit einem guten zwergischen Schloss gesichert. „Hier! Hier, nehmt es, nehmt alles! Gute Ahnen, nehmt jede Münze, bitte, nur gebt sie mir!“ Hastig fummelte er am Schloss herum, bis er die richtige Zahlenkombination eingestellt hatte und es sich mit einem Klicken öffnete. Zum Vorschein kamen vier große Ledersäcke. Jeden davon wuchtete er bemüht auf den Tisch. Sie wogen einiges und klimperten gehörig. Thorin sah sich Tirrek einen Moment an. Der Zwerg überraschte ihn. Nur selten traf man angehörige dieses stolzen Volkes, das sich so schnell und bereitwillig von einem enormen Vermögen trennte. Als sie ihren Auftrag bekommen hatten, da hatte Thorin Erkundigungen eingezogen. Tirrek galt noch nicht als Ausgestoßener. Aber er war auch kein wirklich beliebter Teil seiner Familie. Der Clan Brandstein war seit Jahrhunderten bekannt dafür, exzellente Diener für edle Häuser und Clans der Aristokratie abzugeben. Leibwächter, Zofen, Ammen. Nur Tirrek wollte sich nicht in das Bild fügen. Er jagte Gerüchten nach und Geschichten. Alten Legenden darüber, dass Clan Brandstein einst selbst Teil der Edlen und Noblen gewesen sei. Viele berühmte Schmiede sollten wohl aus seinem Haus gekommen sein – nur womit? Womit hatten sie geschmiedet? Was hier vor ihm lag, jene vier wuchtigen Beutel, war Tirreks ganzes Vermögen. Alles, was er hatte. Jede einzelne Münze. Ohne diese vier Beutel wäre er nichts mehr. Bankrott. Er würde als Bettler zu seinen Leuten zurückkehren und um Unterstützung flehen müssen – mit nicht zum Beweis seiner unbeliebten Hirngespinste als den Pergamentrollen, die Thorin soeben aus seinem Rucksack zog. Diese Schriftstücke zu sehen. Das allein genügte, damit Tirrek große Augen bekam und beinahe ehrfürchtig die Hand danach ausstreckte – ohne sie jedoch einfach zu packen zu wagen. Der Krieger legte die vier Rollen zunächst auf den Tisch und betrachtete sie nachdenklich. Vier Lederbeutel voller Münzen. Ein stattliches Vermögen. Damit könnte man eine ganze Weile herumziehen, viele Tavernen besuchen, spendabel sein, in guten Betten schlafen. Doch Haus Brandstein wäre dann ruiniert. Für immer. Sie würden Knechte bleiben. Bekannt für ihre guten Dienste und nicht mehr als das. Und Tirreks Vision vom Aufstieg seines Hauses zu alter Ehre und altem Ruhm wären zunichte. Niemand würde ihm Geld geben, wenn er mit nur ein paar Rollen Pergament fragwürdigen Ursprungs daher käme. Seufzend wandte sich Thorin dem Zwerg zu. Ein mildes Lächeln umspielte die rauen Lippen. Es war aufrichtig. Ehrlich. „Du wirst Männer brauchen. Ich habe einen Blick auf die Schriftrollen geworfen. Vier Mithrilminen an vier verschiedenen Standorten. Du wirst eine ganze Menge Männer brauchen. Die die Minen erkunden, sichern. Die Zugänge und Wege auch weiterhin sicher halten. Du wirst Minenarbeiter brauchen. Gute, erfahrene Vorarbeiter. Das ist schwieriges Gelände, in dem sie arbeiten sollen, sie werden höhere Löhne brauchen. Und du hast keinerlei Erfahrung damit, Verhandlungen zu führen. Also musst du einen Unterhändler bezahlen, damit er für dich die bestmöglichen Verträge herausschlägt.“ Der Kahlkopf seufzte abermals, während er im Kopf grobe Summen überschlug. „Du wirst viel Geld brauchen.“ Schließlich schob er die vier Rollen auf Tarriks Tischseite – zusammen mit drei der Beutel. „Als wir zu unserer Übereinkunft kamen, hast du uns vorgewarnt, dass vielleicht nichts zu finden ist. Und du dann auch nichts zahlen kannst. Wir waren einverstanden damit, die Bezahlung nach Erfolg oder Misserfolg auszuhandeln. Ich denke, das… sollte genügen.“ Er klopfte auf einen der Beutel. Wie benommen starrte der Zwerg die verbliebenen drei Beutel und die vier Pergamentrollen an. Die Standorte dieser Minen waren vor Jahrhunderten verloren gegangen. Krieg hatte das Land überzogen, im Chaos war… einiges verschwunden. Mit der geballten Faust schlug er sich vor die Brust und senkte das stolze Haupt vor Thorin. „Ihr ehrt das Haus Brandstein mit eurer Großzügigkeit. Ich werde sehen, was ich leisten kann, um meinem Clan zu helfen. Selbst wenn sie meine Hilfe nicht wollen, werden wir wieder erstarken und… und… ich… ich kann euch nicht genug danken. Vom heutigen Tage an sollt ihr den Meinen kein Fremder mehr sein. Vom heutigen Tage an seid ihr dem Haus Brandstein ein Freund wie die Meinen es euch sein sollen! Euer Handeln wird nicht vergessen werden, das schwöre ich bei meinen Ahnen!“ Zufrieden packte Thorin den schweren Lederbeutel und zog mit Skorina ab.   Es dauerte drei Tage, ehe sie mit den eigenen Mitteln knapp genug bei Kasse waren, um den Beutel zu öffnen. Sie hatten ihn bewusst zugelassen, um darüber rätseln zu können, was sie wohl finden würden. Golzmünzen? Platinmünzen? Vielleicht Edelsteine zwischendrin? Als sie den schweren Ledersack öffneten, starrten sie einen Moment verwirrt hinein – ehe der Kahlkopf in schallendes Gelächter ausbrach. Sicherlich, er hätte sich auch ebenso gut ärgern können. Er hätte Tarrik übelnehmen können, das der kein Wort verloren hatte. Die minimal unterschiedlichen Färbungen der Beutel ergaben jetzt viel mehr Sinn. Einer von leichtem Silber, einer stahlgrau, ein dritter gelblich und der Vierte bräunlich. Tarrik hatte seine Münzen sortiert. Nach Wert. Ihr gesamter Ledersack, schwer und prall gefüllt, war prall gefüllt mit… Kupfermünzen. Mehrere Minuten lang lachte Thorin, bis ihm alles zu schmerzen schien. Sie gaben an diesem Abend viele Runden aus – und bezahlten in Kupfer. Sehr zur Verzweiflung des Wirtes, der sehr schnell nicht mehr wusste, wo er diese Unmenge an Münzen unterbringen sollte. Sie weihten die ganze Kneipe in ihre Geschichte ein und rissen Witze darüber, wie Tarrik Brandstein nun dem schwersten aller Probleme gegenüber stand: Verhandlungen über die Preise und Löhne von Arbeitern anstellen, ohne dabei auch nur eine einzelne Münze Kleingeld zu haben! Dann müsste der Zwerg ja gerechte Löhne zahlen! Schock schwere Not, wie sollte sich das nur mit dem zwergischen Wesen vereinbaren lassen? Die ganze Nacht durch grölten die Gäste des Hauses. Mancher zog sich früher zurück – denn nun war bekannt, das ein Zwerg demnächst viele, viele fleißige Hände suchen würde und die gab es hier zuhauf. Darum, dass jemand Tarrik überfallen wollen könnte, machte sich Thorin wenig Gedanken. Der Bursche war clever – er würde sich ein paar loyale Leibwachen zulegen. Vermutlich hatte er das längst. Und während dieser Landstrich auch nicht unbedingt für die guten Arbeitsverhältnisse bekannt war – der Krieg hatte viele Werkstätten, Äcker und Farmhäuser zerstört, verbrannt und unbrauchbar zurückgelassen -, hatten doch auch nur wenige Gerüchte die Runde gemacht, das sich Räuberbanden und anderes Gesindel einnisten würden. Viele Leute waren im Nachhall des Konfliktes zu Tagelöhnern degradiert worden, aber kaum jemand schien deshalb gleich verzweifelt genug, sich mit dem Gesetz anlegen zu wollen.   Für Thorin und Sierra ergab sich dagegen ein ganz anderes Problem. Sechs Wochen hatten sie mit der Suche nach den Minen und diesen verflixten Dokumenten zugebracht. Die Besitzurkunden hatten sie schließlich im ehemaligen Arbeitszimmer eines Vorarbeiters gefunden, in der Hauptmine. Das ganze Unterfangen hätte ihnen genug Geld bringen sollen, um sorgenlos über den ganzen Kontinent hinwegzuziehen. Stattdessen würde ihnen das Geld nach nur drei, vier Tagen wieder ausgehen – also brauchten sie neue Arbeit. Nicht, das sie wirklich darauf angewiesen waren. Sie konnten beide jagen und ein paar krude, aber taugliche Fallen zusammenschustern. Übernachtungen unter freiem Himmel waren im späten Frühling auch längst nicht mehr so eine Tortur wie zu Winterszeiten. Doch wenn man sich den Komfort leisten konnte, warum nicht? Obendrein: Wirklich interessante Dinge bekam man nur in den Städten und Dörfern zu hören und wer dort sein und bleiben wollte, brauchte ein paar Münzen für das dortige Gasthaus. Überall sonst hätte man vielleicht den Schlafplatz verdienen können. Indem man den Schankraum ausfegte oder den Stall ausmistete. Aber hier, in Zeiten wie diesen? Wohl kaum. Da brauchte es Gelegenheiten.   Eine eben solche bot sich ihnen erst eine gute Woche später, als sie schon drauf und dran waren, ihre Hoffnungen aufzugeben und stattdessen die Wildnis zu durchstreifen. Das Dorf hieß Nadelklippe – obwohl es völlig ebenerdig stand und die nächste größere Erhebung sich bestenfalls irgendwo am Horizont fand. Woher die Klippe kam, war also fraglich. Die Nadel dagegen war einfach zu erkennen – um den Horizont sehen zu können, müsste man erst einmal sehr, sehr hoch klettern. Das Dorf lag tief in einem großen Nadelwald. Einem schier gewaltigen Nadelwald. Tatsächlich, so hatten sie vernommen, sollten ein halbes Dutzend Dörfer im sogenannten Sommerforst verteilt liegen. Die Legende, so ließen sie sich von ein paar Holzfällern erzählen, berichtete wohl irgendetwas von einer verlorenen Tochter und einem Geschenk der Götter an den trauernden König, einem Setzling, der dann über Nacht zu einem Wäldchen wuchs und mit jedem Jahr seines Kummers größer und größer wurde. So recht konnte keiner der Waldarbeiter es ihnen in korrekter Reihenfolge zusammenpuzzeln. Sie waren kein sonderlich eloquentes Völkchen und es schien dutzende Versionen der Geschichte zu geben. Kein einziger der Arbeiter kümmerte sich jedoch sonderlich um die Ursprungsgeschichte des Sommerforsts. Sie hatten zu arbeiten und waren damit bereits, der knochenschweren täglichen Routine zum Trotz, besser dran als viele andere. Sie standen früh auf, gingen in den Wald und verrichteten ihr Tagewerk. Wenn sie am Abend zurückkehrten, war gerade genug Zeit für ein heißes Mahl, ein wenig Zeit mit dem eigenen Nachwuchs – oder dem Versuch, solchen zu zeugen -, ehe das Bett rief. Und das tagein, tagaus. Es konnte Schlimmeres geben, sicherlich. Dennoch enttäuschte Thorin die Haltung der Bevölkerung, sich so wenig für die eigenen Legenden zu interessieren. Waren die großen Geschichten eines Landes nicht, was den Kern seiner Kultur formte? Was den Geist des Volkes gestaltete? Die Sagen über große Helden, fürchterliche Bestien, grausame Tyrannen und weltbewegende Entdeckungen – es gab einer Nation Persönlichkeit, die über den bloßen Namen und eine Reihe relevanter Verträge und Gesetze hinausging. Offenbar jedoch war das eine Ansicht, die die hiesige Bevölkerung nicht teilte. Als sie Nadelklippe betraten, erkundigte sich Thorin nach Neuigkeiten und Gerüchten. Viel suchten musste er nicht. Offenbar wurde hier nicht einmal sonderlich viel geschwätzt. Keine Gerüchte über die Amme im Nachbardorf, die eine Affaire mit dem Bürgermeister hatte oder Erzählungen über den Wachmann, der bestimmt dunkle Riten und Ceteusanbetung in seinem Keller betrieb, irgendwoher musste ja sein ganzes Geld kommen – während er in Wahrheit einfach nur ein verdammt guter Betrüger beim allabendlichen Kartenspiel mit den Kollegen war. Was der Krieger jedoch herausfinden konnte, waren zwei Dinge: Zum einen verschwanden im Sommerforst Leute. Es gab ein halbes Dutzend Dörfer mit, alles in allem, einigen hundert Seelen in diesem Wald. Und jedes Jahr wurden es zwei oder drei weniger. Holzfäller, Jäger, Förster, Gerber, Kräuterkundige – es spielte keine Rolle. Es gab kein Muster. Manche Dörfer versuchten sich davor zu schützen, indem die Arbeiter nicht mehr tief in die Wälder gingen. Oder erst nach Tagesanbruch loszogen und vor Abenddämmerung zurück zu sein hatten. Aber alle Taktiken waren vergeblich. Es schien einfach keine Rolle zu spielen. Leute verschwanden. Und wurden nicht wieder gesehen. Was sollte man da schon tun? Es war diese Gelassenheit, die Thorin irritierte. Die Leute nahmen das Verschwinden einfach hin. So wie man einen Sturm oder den Frühling einfach hinnahm – es waren Kräfte, denen man nichts entgegensetzen konnte, also arrangierte man sich damit, fügte sie in den Alltag ein. Nur ließ sich hier doch etwas machen, oder nicht? Hatte man die Vermissten nicht gesucht? Keine Fährtenleser losgeschickt? Den Wald auf den Kopf gestellt? Offenbar nicht. Vom Wachmann über den Holzfäller bis zum Bürgermeister selbst – kein einziger Bewohner dieser Sommerforst-Dörfer war wohlhabend genug, eine große Suchaktion zu finanzieren. Kein einziger war wichtig genug, als das der Staat selbst sich einmischen würde. Dann und wann brach jemand auf, um seinen Sohn, die Schwester oder den Vater zu finden. Manche kehrten nicht zurück – wahrscheinlich, weil der Sommerforst, trotz allem, ein gewaltiger Wald war und vielen Raubtieren Platz und Nahrung bot. Oder weil ihre Sturheit sie weit genug trieb, dass sie ohne Vorräte nicht mehr zurückkehren konnten. Andere dagegen kehrten sehr wohl zurück. Verletzt oder nicht, immer waren sie erfolglos. Das andere, was Thorin hatte herausfinden können, war nicht weniger interessant, jedoch in der aktuellen Situation vielleicht sehr viel nützlicher: Offenbar war vor drei Tagen erst ein Reisender in Nadelklippe angekommen. Er versprach Arbeit und gute Bezahlung, doch bisher hatte niemanden interessiert, was er zu bieten hatte. Die Alte, die ihnen davon erzählte, wusste überdies nicht, was der Reisende denn eigentlich erledigt haben wollte – immerhin wäre sie zu alt, um sich noch für die Belange der heißblütigen Jugend zu interessieren. „Das ist eine Gelegenheit, sage ich dir“, entschied Thorin an Skorina gewandt, während sie das hiesige, sehr kleine Gasthaus ansteuerten, „Wir brauchen Geld, er hat Geld. Wir hören uns an, was er eigentlich will und beraten uns dann, hm?“ Zumindest für den Moment schien sie seine Abenteuerlust zu teilen. Die Zwergin nickte ihm zu und gemeinsam betraten sie das Gasthaus. Thorin ließ die Zwergin in einer übertrieben gespielten Geste von Höflichkeit vor und einer Laune folgend, spielte sie mit. „Habt Dank, der edle Herr!“, säuselte sie und grinste breit. Eben dieses Grinsen erstarb rasch, als beide erst einmal eingetreten waren. Abgesehen von einem halben Dutzend Leuten, verteilt an vier Tischen, dem Wirt hinter dem Tresen und der Magd mit ein paar Bechern in der Hand war nur eine einzige Figur im Raum. Und sie gehörte nicht hierher. „Lass uns gehen“, hörte er Skorina flüstern, „Bitte.“ Thorin hingegen… war neugierig geworden. Mitten im Raum, allein an seinem Tisch, saß die Gestalt eines jungen Mannes. Langes blondes Haar war zu einem Zopf zurückgebunden worden. Ein stattlicher Zweihänder lehnte an einem der drei freien Stühle, blitzblank poliert. Die edel wirkende, silberne Kutte hing an den Haken neben der Eingangstür – eine Vorrichtung, die es in so ziemlich jedem Gasthaus gab und die stets und allzeit ignoriert wurde. Man hing seine Jacken und Mäntel über die Stühle. Da hatte man sie bei sich. Da wurden sie nicht gestohlen oder nach brauchbarem Inhalt untersucht. Das dieser Bursche seinen Umhang dort aufgehängt hatte, hätte das ganze Dorf belustigen müssen. Aber keiner würde wagen, über ihn zu lachen. Die gewaltigen, gegenwärtig sorgfältig an seinem Rücken zusammengefalteten Federschwingen gaben genug Auskunft darüber, wer und vor allem, was er war. Viele Legenden erzählten davon, dass die Aasimare die berühmten Erstgeborenen der Alten Zeit sein sollten. Streiter für das Gute und die Gerechtigkeit. Unbeugsame Recken, deren spirituelle Reinheit ihre Position als direkte Kinder der Götter legitimierte. Thorin hielt das alles für ziemlichen Unsinn. Er kannte viele Geschichten über die Erstgeborenen – und die Mehrheit widersprach sich selbst oder einander. Ob es so etwas wie Erstgeborene oder Kinder der Götter überhaupt jemals gegeben hatte, wusste er nicht zu sagen – die Geschichten zumindest…. nun, sie waren Geschichten. Manche gut, manche schlecht, aber allesamt maßlos übertrieben und verzerrt, um in die Moderne zu passen, um Lektionen zu erteilen, um den moralischen Zeigefinger zu heben. Und Aasimare… waren einfach nur Kerle und Weiber mit Flügeln, die sich für was Besseres hielten. So zumindest, was er aus den Geschichten und Erzählungen über sie herausgefunden hatte. Dazu kam, was Sierra ihm erzählt hatte – und das half nicht unbedingt dabei, sie auf ein unerreichbares Podest weit über allen anderen Rassen zu stellen. Das mochte aber vielleicht auch darin begründet liegen, dass er keine Rasse der anderen überlegen sah. „Wie nach Plan“, gab Thorin Skorinas Bitte abschmetternd zurück und begab sich zunächst zum Tresen. Vermutlich war es überflüssig, die Frage zu stellen – doch rein zur Sicherheit bestellte er ein Zimmer, etwas zu Essen und erkundigte sich nach dem Gerücht, dass jemand anheuern würde. Ganz wie erwartet wurde er daraufhin an den Aasimar verwiesen, also nahmen er und Skorina die zwei Teller und Krüge entgegen und spazierten geradewegs zu dessen Tisch. „Kann man sich setzen?“ „Kann man schon“, gab der Fremde mit ruhiger Stimme zurück, ohne von dem kleinen Büchlein aufzuschauen, dass er gegenwärtig zu lesen schien. Thorin stellte seinen Krug und Teller ab, als der Fremde die Hand vom Buch hob und Einhalt gebot. „Die korrekte Frage lautet jedoch: Darf man?“ Thorin sog einen tiefen Atemzug in seine Lungen und entließ ihn gepresst, langsam und stetig – um sich etwas zu beruhigen. Diese kleine Made wirkte, als wäre sie kaum zwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt und er nahm sich heraus, solche dämlichen Wortspiele zu betreiben?! Er konnte diesen Kerl jetzt schon nicht mehr ausstehen – aber er hatte auch früher schon bei Leute angeheuert, die er nicht leiden konnte. Warum auch nicht. Man musste ja nicht das Bett miteinander teilen. „Dürfen wir uns denn setzen?“, presste der Krieger bemüht hervor. Die Hand des Aasimar sank. Er klappte sein Büchlein zu und hob erstmals den Kopf. Seine Pupillen waren dunkelrot, die Augen abseits dessen vollkommen weiß. Ein Lächeln zeichnete sich auf den blassen, schmalen Lippen ab, als er mit einer weiteren Handgeste einlud, Platz zu nehmen. „Aber gerne doch. Ich wünsche einen guten Appetit.“ Thorin hatte bereits die erste Ladung Kartoffeln in den Mund gestopft, als der Wunsch seine Ohren erreichte. Einen Moment erwog er, der Höflichkeit halber ein Danke hervorzupressen, doch sein Blick fiel abermals auf den Umgang neben der Eingangstür. Den würde keiner zu stehlen wagen. Aasimare waren bekannt dafür… nun ja, nicht alle Tassen im Schrank zu haben, wenn es um Recht und Ordnung ging. Sie versuchten Missetäter erst zu bekehren und von ihrem Tun abzubringen, aber wenn das beim ersten Anlauf nicht klappte, waren sie auch recht schnell dabei, Werkzeuge der Gerechtigkeit zu benutzen – wie diesen schicken Zweihänder – um jene, die Übles taten oder wollten zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei war es nahezu unbedeutend, ob das zukünftige Opfer ein Dorf angezündet, eine Hure abgestochen oder auch nur ein vor lauter Hunger einen Laib Brot gestohlen hatte. Doch diese Geschichten waren gruselig und grausig. Man erzählte sie nicht gerne, weil die Lektionen darin einfach… zu weit gingen. Viel beliebter waren die Lehren, die Erfolge mit sich brachten. Ließ man das blutige Ende weg, beispielsweise, dann steckte in vielen Geschichten die Moral: Tue nichts Böses, sonst jagt dich ein Aasimar notfalls bis ans Ende deiner Tage und ans Ende der Welt! Und dann gab es noch die Geschichten, in denen der halb verhungerte Bursche den besagten Brotlaib stahl. Er wurde erwischt, der Aasimar lehrte ihn, was recht und falsch war. Der Junge arbeitete seine Schulden beim Händler ab, sie lernten einander mögen und schätzen und der Aasimar zog weiter, als der Händler den Knaben als eigen Fleisch und Blut aufnahm. Oder der Aasimar zog mit dem Knaben weiter, um ihn zu lehren, bis er sich selbst versorgen konnte, mit aufrechter, ehrlicher Arbeit. Thorin wusste Geschichten zu schätzen. Viele hatten einen langfristigen Wert, man dachte Tage und Wochen über die Geschehnisse nach, über Eventualitäten, wie der Protagonist anders hätte handeln können und was dann vielleicht geschehen wäre. Kurzum: Man erarbeitete sich seine Lektion. Aasimar-Geschichten… mochte er nicht besonders. Sie waren ihm zu geradlinig. Zu direkt. Sei böse und wir finden dich! Sieh dein Fehlverhalten ein und wir belehren dich! Na wenn das keine Aussichten waren… und man musste nicht einmal darüber nachdenken, alles war ziemlich offensichtlich. Vielleicht war es deshalb so schwer, diese Geschichten und damit die Rolle der Aasimare in der Welt anzuzweifeln? Wenn man gar nicht erst darüber nachdachte, wie sollte man dann erst hinterfragen…? „Ich biete euch zweihundert Goldmünzen“, erklärte der blonde Fremdling. Etwas verdutzt stoppte Thorin mitten im Mahl. Skorina dagegen hatte ihren Teller kaum angerührt, sie fühlte sich in der Nähe des Fremden offensichtlich zu unwohl. „‘Tschuldige, wie meinen?“, hakte der Krieger deshalb mit halbvollem Mund nach. „Ich biete euch zwei-“ „Jaja, den Teil hab ich schon verstanden“, fuhr Thorin ihm dazwischen. Offenbar erweckte das einen Moment das Missfallen des Gefiederten, doch er ließ sich nicht zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen. „Nun, ihr tragt keine Kleidung, die für Jäger, Holzfäller, Wachmänner oder Förster üblich ist. Eure Redensart passt nach Bervenia, wenn ich nicht irre. Ihr habt euch beim Wirt erkundigt, wer unter seinen Gästen anheuert und dieser hat euch daraufhin an mich verwiesen. Ihr seid direkt zu mir gekommen. Folglich seid ihr fremdländische Söldner, die auf der Suche nach einer Anstellung sind. Ich dachte, es wäre in eurem Interesse, diese Schritte und Erklärungen mitsamt des sozialen Geplänkels zu überspringen und direkt zu dem Teil zu kommen, der euresgleichen interessiert.“ Euresgleichen. Einen kurzen Moment war der Kahlkopf versucht, über den Tisch zu springen und dieser kleinen Witzfigur ein paar Manieren einzuprügeln. Erneut atmete er tief durch. Das… könnte eine anstrengende Zusammenarbeit werden.  Zumindest jedoch bewies der Geflügelte  Verstand. Leider, indem er damit regelrecht prahlte. „Und wofür genau heuert ihr eigentlich an? Wie ist überhaupt euer Name?“, erkundigte sich der Kahlkopf höflicher, als ihm lieb und recht war, vor allem aber höflicher, als er gewohnt war, sich auszudrücken. „Verzeiht“, erwiderte der Blonde, „Mir war nicht bewusst, dass es unter euresgleichen üblich ist, Namen auszutauschen.“ Euresgleichen… „Ich bin Meirandiar Telurias Windorath Olkrast von Volwanar, Lord des zweiten Schlüssels, Hüter des Lichtes von Lorian und Gesandter der Emeritanis.“ Oh komm schon…! Also… nein. Nein, ernsthaft, das ist einfach nur noch lächerlich…! Seine Höflichkeit fahren lassend, gab Thorin in einem Akt des Aufatmens die Maskerade auf. Er reichte über den Tisch, packte die Hand des Aasimars. „Thorin, Thorin Eichenschild von nichts. Einfach Thorin. Das ist Skorina, meine Partnerin. Einfach Skorina. Schön, dich kennenzulernen, Mei.“ Er schüttelte ein paar Mal kräftig, ließ die Hand des Aasimar los und widmete sich der nächsten Fuhre Kartoffeln. Diesmal jedoch sprach er die Leckerei mit der Zunge im Mund herumschiebend einfach weiter. Es war… befreiend. Und er konnte nicht bestreiten, was für eine Genugtuung es war, zuzusehen, wie Meis Gesichtszüge einen Moment völlig entglitten, während er auf seine mit zwei, drei Tropfen verschmierter Bratensoße besudelte Hand starrte und sie irgendwie an der Tischkante sauber zu wischen versuchte. „Ich verstehe“, presste der Aasimar nun seinerseits knapp beherrscht hervor. Vermutlich, so rätselte Thorin einen Herzschlag lang, hatte er im Kopf dieses Federviehs gerade sämtliche Klischees und Gerüchte über Söldner als Ganzes bestätigt – aber das sollte ihm recht sein, auf die Meinung solch eingebildeten Packs gab er keinen Kupfer! „Also, Mei. Worum geht’s überhaupt? Und sind das zweihundert pro Nase oder zusammen?“ Es war ihm kostbar, ein jedes Mal, wenn er den Aasimar bei seinem ‚Namen‘ nannte und dieser daraufhin zusammenzuckte, als hätte man ihm gerade ein Buttermesser in die Hand gedrückt und erklärt, er müsse damit gegen einen Bellatoren antreten. Der Gefiederte bemühte sich einen Moment um Fassung, dann kehrte seine Ruhe zurück und er gab Antwort. „Insgesamt. Was den Auftrag anbelangt, so sollt ihr mir assistieren. Ich habe die Quelle ausfindig machen können, die für das Verschwinden der Leute im Sommerforst verantwortlich ist. Es handelt sich um einen kleinen Kult in einem geheimen Dorf keine Tagesreise von hier. Die Bewohner scheinen mir nicht zu glauben und keine Anstrengungen unternehmen zu wollen, allein bin ich dieser Anzahl an Feinden jedoch nicht gewachsen.“ Nun, das war doch mal interessant! „Ein Kult? Mit einem eigenen Dörfchen? Hm… ich sag dir was, Mei. Wir haben hier’n Zimmer. Wir schlafen drüber und sagen dir morgen früh Bescheid, eh? Ein Kult mit Dörfchen rennt nicht über Nacht weg, sollte also kein Problem sein, was?“ „Wie ihr wünscht“, gab der Aasimar deutlich beherrscht zurück. Thorin beendete sein Mal. Skorina nahm das Ihre mit nach oben. Sie teilten sich das Zimmer und das Bett, doch heute Nacht, wie es schien, würde es nur angenehme Wärme geben und sonst nicht viel. Zu… aufgewühlt schien ihm seine Partnerin zu sein. „Hey, alles in Ordnung bei dir?“ „Mir gefällt das nicht“, gab Sierra zurück und ließ die Gestalt der Zwergin fallen, kaum dass die Tür geschlossen war, „Wir sollten nicht hier sein. Dieses Ekel dort unten ist-“ Sie begann sich zunehmend aufzuregen. Er konnte es ihr nicht verdenken – da unten saß ein Angehöriger des Volkes, das für den Untergang ihres Volkes verantwortlich war. Und er benahm sich perfekt. Zumindest, falls er es darauf anlegte, all die Abscheu und all den Zorn Sierras zu ernten. „Halt den Mund.“ Die Anweisung war knapp, direkt und mit Autorität ausgesprochen – sie schaffte es, Sierra zum Schweigen zu bringen, wenngleich wohl auch eher aus Überraschung. „Aber-“ „Ah! Mund zu. Gut. Jetzt schließ die Augen.“ Sie wollte gerade zum Protest ansetzen. „Ah! Mund zu. Augen zu. Gut so. Und jetzt… atmest du tief ein, hältst die Luft und lässt sie gleichmäßig und langsam wieder raus. Drei Mal.“ Sie schnaufte einen Moment, begriff jedoch, dass er nicht locker lassen würde, bevor sie nicht mitspielte. Erst, als sie den Anweisungen gefolgt war, machte er weiter. „Gut. Augen auf. Ah! Mund bleibt zu. Denn jetzt hörst du mir erstmal zu.“ Einen Moment funkelte sie ihm widerwillig entgegen, doch die rebellische Ader hatte wenig Überlebenschancen. Inzwischen wusste sie nur zu gut, dass Thorin Eichenschilds Sturheit legendäre Ausmaße erreichen konnte. Also nickte sie ihm zu. „Vergiss mal den Idioten da unten für einen Moment. Was würde Sierra tun, wenn sie in dieses Dorf käme? Wenn sie hört, was wir gehört haben? Hier verschwinden Leute. Es sind nicht viele, aber sie verschwinden. Bärenfallen? Vielleicht. Bären? Wahrscheinlicher. Vielleicht auch Wölfe, wer weiß. Aber sie verschwinden spurlos. Es müsste Spuren geben. Blut. Kampfspuren. Irgendwas. Nicht jeder von denen, der loszog, einen Vermissten zu finden und erfolglos zurückkehrte, kann ein dummer Niemand gewesen sein, der nichts konnte. Manche konnten vielleicht Spuren lesen. Oder haben jemanden dafür angeheuert, weil sie cleverer waren. Und sie kamen dennoch erfolglos zurück. Warum? Irgendwas passiert hier. Jetzt kommen wir hierher. Da unten sitzt ein Mensch. Sagen wir, einer der Holzfäller. Er ist über etwas gestolpert. Da ist ein Dorf, von dem keiner weiß. Vielleicht ein Leute entführender Kult, vielleicht nicht. Dass sich das Dorf versteckt, ist auf jeden Fall auffällig. Also wenn du mich fragst – Sierra würde diesen Leuten helfen wollen. Sie würde herausfinden wollen, was da los ist. Was es mit diesem Dorf auf sich hat. Und ich denke, sie würde sich eher damit arrangieren, von einem gefiederten Arschloch begleitet zu werden, als auf die Gelegenheit zu verzichten, etwas unglaublich Dummes zu tun. ‘Tschuldige, was Heldenhaftes natürlich.“ Der letzte Kommentar genügte, dass sie ihm mit einem kaum ernstzunehmenden bösen Funkeln gegen die Schulter boxte. „Also was sagst du? Das Hühnchen da unten bietet uns Geld, damit wir etwas machen, das wir vermutlich sowieso gemacht hätten. Hältst du das aus, ohne ihn umbringen zu wollen?“ Sierra wandte sich von ihm ab, trat zu dem einen, schmalen Bett herüber und ließ sich auf die Kante sinken. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Schläfen und starrte zu ihm herüber. „Was unglaublich Dummes, hm? Du bist doch der, der mich ständig in solche Geschichten reinzieht.“ „Hey, Geschichten, die mit was unglaublich Dummem anfangen, sind häufig die Besten“, erwiderte der Kahlkopf grinsend. Ein paar weitere Minuten vergingen, ehe Sierra tief seufzte. „Fein. Ich bringe ihn nicht um, ziehe ihn nicht an den Haaren, rupfe ihn nicht und werde ihm nicht die Augen auskratzen.“ „Und kein Juckpulver auf dem Schwertgriff.“ „Ach komm schon…!“ Beide lachten herzlich auf. So unbeschwert miteinander herumzualbern löste glücklicherweise zumindest einen Großteil der Anspannung, den Sierra seit Betreten des Gasthauses mit sich herumgetragen hatte. Dann jedoch wurde Sierra wieder etwas ernster. „Thorin?“ „Hm?“ „Mir gefällt das trotzdem nicht. Ich… ich weiß, du kennst nur die Geschichten. Ich… eigentlich auch, aber ich kenne mehr davon. Andere. Wir haben zu wenige Informationen. Ich will nicht, dass dieser Irre in das Dorf platzt und alles und jeden abschlachtet. Er hält sie bereits für schuldig – was, wenn sie das nicht sind? Aasimare sind nicht bekannt dafür, zweite Chancen zu verteilen. Oder viel mit denen zu reden, die sie bereits für schuldig befunden haben. Ich will mich dort umsehen, bevor wir irgendwas unternehmen.“ „Nichts anderes habe ich erwartet.“   Als sie sich am nächsten Morgen wieder im Schankraum einfangen, schien sich der Aasimar nicht von seinem Stuhl fortbewegt zu haben. Er saß an der vollkommen identischen Position und blätterte in seinem Büchlein herum. „Also, Mei“, begann Thorin und nahm diesmal ungefragt am Tisch Platz, „Wir nehmen an, haben aber ein paar Konditionen.“ Er beobachtete, wie die Augenbraue des Gefiederten ein kleines Stück höher wanderte, linksseitig. „So?“ „Ja. Wir sind nicht blöd – die Informationsgrundlage ist bestenfalls dürftig. Und nichts für ungut, wir haben wenig Grund, dir über den Weg zu trauen. Du könntest uns einfach als Bauernopfer benutzen.“ Der Aasimar wollte sich gerade empört gegen diese Unterstellung äußern, als Thorin ihm schlicht das Wort abschnitt. „Daher will ich, das Skorina hier voraus späht. Sie ist ziemlich gut darin, sehr geschickt. Wir zwei bleiben ein Stück weiter zurück, sie geht voraus und kundschaftet aus. Sucht nach Schwachstellen, möglichen Fluchtrouten, die abgeschnitten werden müssen, solchen Sachen. Einverstanden?“ Der Gefiederte betrachtete Skorina einen Moment sehr eindringlich, musterte sie unverhohlen von oben bis unten. „Geschickt? Nun… wenn ihr meint und darauf besteht. Seid ihr bereit für den Aufbruch? Wenn sie vorher noch spähen will, sollten wir uns sputen.“ Der Aasimar ließ die Option unangesprochen, das Skorina erwischt, gefangen genommen oder getötet werden könnte. Zweifellos, weil ihm der Tod der Zwergin nicht das Geringste bedeutete. Jedoch musste es einen Grund haben, das er darin auch den offensichtlichen strategischen Nachteil für sich selbst nicht erkannte: Würde man die Zwergin erwischen, wäre man vorgewarnt. Wachsamer. Vorsichtiger. Vielleicht war dieses Riesenhühnchen aufgeblasen und selbstgefällig… ein guter Kämpfer, ein Streiter der Gerechtigkeit oder wie immer er sich nennen würde – aber er war weit davon entfernt, ein brillanter Stratege zu sein.   Eine knappe Tagesreise entfernt, da hatte er weder gelogen, noch sich verschätzt, hielt der Gefiederte kurz nach Sonnenaufgang am frühen Morgen inne. „Wartet. Hier ist es.“ An einer scheinbar willkürlich gesteckten Position baute sich der Blonde auf und wühlte in seinem Umhang. Aus einer Tasche förderte er eine Schriftrolle zutage, löste das sorgfältig darum gewickelte Samtbändchen und entfaltete das Pergament. Langsam begann er die magischen Worte vorzutragen, dabei spreizte er die gewaltigen, schneeweisen Schwingen und hob die Stimme zunehmend an. Das Sonnenlicht brach stärker und stärker durch die Baumwipfel, fing sich in den Federn und reflektierte von ihnen. Für jemanden, der empfänglich dafür war, musste dies ein wahrhaft majestätischer Anblick sein. Thorin dagegen hatte schon viel gesehen, sehr viel – und war nicht mehr leicht zu beeindrucken. Entsprechend lehnte er sich leicht zu Skorina herüber. „Er liest eine Zauberschriftrolle vor, oder?“ „Ja“, gab sie seufzend zur Antwort. „Und der ganze Rest ist einfach nur Theater, oder?“ „Ja“, gab sie noch etwas gequälter zurück. „In Ordnung. Und was liest er da vor?“ „Wenn ich es richtig verstehe“, begann Skorina leise flüsternd, „Etwas, das uns erlauben soll, die Barriere ein paar Meter vor uns zu durchbrechen.“ Als der Aasimar seinen Zauber beendet hatte, rollte er das nun leere Pergament zusammen und verstaute es wieder. „Ich bin erstaunt. Es gibt nicht viele Zwerge, die des Elbischen mächtig sind“, merkte er mit einem Blick zu Skorina an. Sie und Thorin teilten kurz einen Blick mit dem Ausdruck der gleichen Meinung. Verdammte Hellhörigkeit. „Eure Interpretation der Formeltexte ist völlig korrekt. Es existiert in diesem Gebiet eine domförmige Kuppel. Wer gegen ihr Feld läuft, unterliegt kurzzeitig der Geistmagie. Sie manipuliert den Verstand, damit der Eindringling glaubt, es sei bereits Zeit, heimzukehren. Außerdem wird irgendjemand im Dorf über den Eindringling alarmiert, wenn ich den hier wirkenden Zauber richtig verstehe. Jemand hat sich sehr viel Mühe gegeben, ihn zu konstruieren und er ist alt, sehr alt. Die Energie bezieht er von den Bewohnern innerhalb der Kuppel. Das bedeutet zumindest, dass ihre Zauberkundigen uns weniger starke Zauber entgegenschleudern werden.“ Abermals wechselten Thorin und Skorina Blicke. Es war recht eindeutig, das Mei ihnen diverse Dinge nicht erzählte. Beispielsweise schien er recht gut zu wissen, wer oder was dieses Dorf bewohnte. Oder hatte zumindest Vermutungen, die er nicht mit ihnen teilte. Aber warum sollte er das auch – sie waren schließlich nur die angeheuerten Idioten. Bezahlte Muskelkraft. Also traten sie durch die Barriere. Nichts schien sich zu ändern. Einmal im Inneren, bekam Skorina von dem Gefiederten sehr detaillierte und klare Instruktionen, wie viel Zeit ihr blieb, welche Ausdehnung die Kuppel hatte, wann sie sich zurückzumelden hätte. Den Angriff auf den Kult setzte der Aasimar für die frühen Abendstunden an – das ließ ihr nur wenige Stunden. Entsprechend sputete sie sich, während Thorin mit dem Geflügel zurück blieb. „Eure Partnerin ist bemerkenswert“, gab der Aasimar nach einigen Minuten zu verstehen, „Eine Zwergin, die viel an der Oberfläche reist. Eine Ausgestoßene ihres Volkes, vermute ich? Obendrein des Elbischen mächtig. Habt ihr sie diese Sprache gelehrt?“ Dem Kahlkopf dagegen war so absolut überhaupt nicht nach Konversation, schon gar nicht mit diesem Ekel. Entsprechend zuckte er mit den Schultern. „Kein Schimmer. Ich reise erst ein paar Monate mit ihr. Wusste nicht mal, das sie elbisch kann.“ „Verstehe“, merkte der Aasimar hintergründig an. Es war offensichtlich, dass er mehr über seine angeheuerten Kräfte herauszufinden versuchte und ihnen nicht recht traute. Skorina insbesondere, wie es schien. Doch er stellte sich dabei derartig plump an, dass das Ausmaß an Ungeschick Thorin beinahe physische Schmerzen bereitete. Er hätte gerne geschnaubt und den Kopf geschüttelt, schluckte derlei Ambitionen jedoch professionell herunter und begab sich stattdessen an einen Baumstamm gelehnt in den Schneidersitz. „Ihr versteht etwas von Meditation?“ Diesmal klang das Riesengeflügel aufrichtig überrascht. Thorin dagegen… wollte nun weder Tipps hören, noch sich darüber austauschen. Entsprechend nickte er lediglich und schloss die Augen. Dass er tatsächlich dabei einschlief, brauchte Mei nicht wissen – und glücklicherweise schnarchte er diesmal nicht, weshalb er sich auch nicht verriet. Erst als ihn ein Schuh gegen das Schienbein stieß, zuckte er kurz zusammen. „Hab meditiert!“, gab er zur Verteidigung und blickte im Abendlicht zu Skorina auf, die ihm entgegen grinste. „Natürlich hast du das. Und, bist du dem inneren Frieden schon näher gekommen?“ „Nicht wirklich“, gab er zurück und erhob sich. Sie lächelte. Sie gab sich jovial. Doch er las etwas anderes in ihren Augen, etwas weitaus Bedenklicheres. Abbruch! Scheiß auf das Geld! Und was machen wir mit dem Geflügel? Ich habe einen Plan. Vertrau mir! Thorin nickte ihr zu, während Mei herantrat. „Was habt ihr herausfinden können?“, verlangte er kurzerhand zu wissen. „Ja, ich freu mich auch, dass du unverletzt zurück bist“, warf Thorin mit einem grimmigen Seitenblick ein, doch der Aasimar schien ihn nicht zu bemerken – oder störte sich lediglich nicht daran. „Es gibt zwei Fluchtrouten für die Bewohner. Eine ist diese hier, der Eingang, gewissermaßen, die Zweite führt nach Westen weg. Es sind knapp zweihundert, die meisten sind nicht bewaffnet, soweit ich das sehen konnte.“ Der Aasimar nickte, seine Miene war überraschend ruhig und ausgeglichen. „Gute Arbeit. Zweifellos verbergen sie ihre Waffen in ihren Häusern und ihre Magie wird man ihnen ohnehin schwerlich nehmen können. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kultisten davonkommen, sonst könnten sie sich an anderer Stelle neu gruppieren. Wir müssen schnell handeln, sie überraschen, ehe sie die Flucht ergreifen können. Am besten-“ „Da ist noch etwas“, unterbrach Skorina seine beginnende, bereits jetzt äußerst schlechte Planung, „Ich konnte herausfinden, wer im Dorf vom Feld benachrichtigt wird. Offenbar eine Art Priester oder sowas, er gibt dem Feld die meiste Energie. Außerdem ist er ein sehr mächtiger Zauberer. Es heißt, er empfängt Visionen und sieht die Zukunft. Aber es gibt eine kleine Höhle an einem See, keine Stunde von hier – in dieser Höhle verbringt er die meiste Zeit und meditiert. Er ist für die Organisation des Dorfes zuständig, wenn wir ihn vorher unbemerkt ausschalten könnten, wäre es für die Bewohner deutlich schwerer, ihre Flucht zu organisieren.“ Mei überdachte den Einwand einen Moment. „Exzellente Arbeit. Dann nehmen wir uns dieses Zauberers zuerst an.“ Skorina führte sie. Wie sie es gesagt hatte, knapp eine Stunde entfernt, lag ein kleiner Weiher. Kaum mehr als eine überdimensionierte Pfütze, aber immerhin hatte er klares Wasser und schien sogar recht tief zu sein – und direkt in der Seite eines Hügels, mit dem Eingang dem Weiher zugewandt, lag die Höhle. „Gegen einen Zauberer habt ihr wenig, das ihr ausrichten könnt. Haltet euch im Hintergrund und schlagt nur zu, wenn ihr eine gute Gelegenheit seht. Aber steht mir dabei nicht im Wege!“, mahnte der Aasimar. Seine beiden angeworbenen Gefolgsleute nickten artig. Der Geflügelte postierte sich vor dem Höhleneingang und zückte den Zweihänder. „Im Namen der Gerechtigkeit, stellt euch, Scheusal!“ Es war ein Schauspiel. Eines, das wert war, gesehen zu werden – bei jenen Worten flammte die Klinge des Zweihänders auf. Selbst mehrere Meter entfernt stehend konnte Thorin die Hitze auf seinem Gesicht spüren. Der Aasimar breitete einmal mehr seine Flügel aus und kleine Ascheflocken und Glutstücke rieselten zwischen den scheinbar aus eigener Kraft leuchtenden Federn hervor. Und dann… schritt er vor. Er stürmte nicht, er rannte nicht. Schritt um Schritt, schön vorsichtig. Kein brillanter Stratege – aber ein fähiger Kämpfer. Ganz wie Thorin es vermutet hatte. Und mit diesem Flammenschwert in der Hand… und vermutlich noch einer ganzen Reihe Feuerzauber im Repertoire… war das gewiss niemand, den man sich zum Feind wünschte. Wie angewiesen hielten sich Thorin und Skorina hinten. Was ist hier unten? Die Zwergin bemerkte seinen Blick nicht, also stieß er sie an der Schulter und wiederholte die Botschaft. Weiß nicht genau. Sie leben damit. Sie füttern es, damit es sie in Ruhe lässt. Sie füttern es? Womit? Just in diesem Moment knirschte etwas unter Thorins Schuh. Als er herabblickte, entpuppte sich das Geräusch als jenes eines geborstenen Knochens. Den Ausmaßen nach… ein großes Tier. Ein Hirsch oder Bär vielleicht. Ruckartig wandte er sich wieder Skorina zu. Ist nicht dein Ernst…?! Hey, ich hatte nur acht Stunden Zeit! Beide erstarrten abrupt, als ein leises Knirschen zu hören war. Diesmal war niemand auf einen Knochen getreten. Fast hätten sie es auch nicht vernommen, doch es war nah, unangenehm nah… und direkt über ihnen. Der Kahlkopf zog mit einem einzelnen, geschickten Ruck die Axt und spähte hinauf, doch er konnte nichts erkennen. Alles Licht fing von Meis Flammenschwert aus – und das Flackern der Flammen an der Höhlendecke zeigte nur genau das… Höhlendecke. Nackten Fels. Erneut knirschte es, ein Stück weiter vorne. „Zeig dich, Scheusal!“, verlangte der Aasimar. Noch ein Knirschen. Während der Geflügelte einige Meter voraus herumfuhr, glaubte Thorin kurz eine Bewegung an der Wand zu erkennen, von der er sich gerade abwandte. „Oh Scheiße…!“, entfuhr es dem Kahlkopf. Er ließ die Axt fallen, packte Skorina beim Handgelenk und riss sie herumwirbelnd mit sich mit. „Lauf, lauf lauf lauf!“ Er scherte sich nicht länger um den Aasimar, um dessen Rufe – was immer er da rufen mochte. Er hörte jedoch die Laute. Das Knistern und Knirschen von Stein, schließlich das Fauchen der geschwungenen Feuerwaffe. Sie verließen die Höhle, doch Thorin stoppte nicht. „Weiter!“, fuhr er Skorina an und riss sie mit sich. Erst als sie fast eine halbe Stunde weit von der Höhle entfernt waren, ließ er sie überhaupt los und hielt an. Keuchend und schnaufend stützte er sich auf seine Oberschenkel und rang um Luft. Skorina erging es nicht viel besser. „Was war das?!“, brachte sie zwischen tiefen Atemzügen vor. „Tiefenlauerer“, erwiderte Thorin und ließ sich auf den Hosenboden fallen. „Snorri hat mir davon erzählt. Fieses kleines Viehzeug. Sind kaum größer als eine Katze. Wiegen so gut wie nichts. Deshalb können sie sich auch an Wänden oder der Decke festklemmen. Sie sind Rudeljäger. Kein Rudel ist je kleiner als ein Dutzend. Haben sie sich einmal festgebissen, vergiften sie das Opfer mit irgendeinem Zeug, das lähmt. Und die Wunden bluten ohne Unterlass. Sie sind magisch, irgendwie. Sie können sich durch Stein bewegen. Deshalb der Name. Sie lassen sich von der Decke fallen oder ‚schweben‘ aus dem Boden hoch, in dem sie sich versteckt haben. Sie reagieren auf Vibrationen im Stein.“ „Ich habe nichts gesehen…?“ „Das ist das Hauptproblem mit den kleinen Bastarden. Man kann sie nicht sehen. Sie sind von Natur aus unsichtbar. Immer. Mich wundert vielmehr, was die hier oben suchen. Die heißen nicht umsonst Tiefenlauerer. Eigentlich trifft man sie nur einige hundert Meter unter der Oberfläche an.“ Ein letztes Mal atmete Thorin tief durch. Er erhob sich wieder von seinem Sitzplatz. Gegen diese Kreaturen hatte selbst ein geschickter Aasimar-Krieger höchstwahrscheinlich wenig Chancen. „Yeraihja meinte, das die Höhle vermutlich Anschluss zu einem sehr tiefen und weit verzweigten System hat“, gab Skorina zu bedenken. Auch sie richtete sich wieder auf und folgte Thorins Blick in Richtung der Höhle. Es war Irrsinn, der Axt wegen zurückzukehren. Vor allem, weil die schon irgendwie ihren eigenen Weg finden würde. Schade war es dabei vielmehr um die verdammten Münzen… „Wer zum Teufel ist Yera-… der Typ?“, hakte der Kahlkopf nach einem Moment nach. Auch er kam zu dem Schluss, dass die Axt für ein paar Tage verloren wäre. „Der Dorfvorsteher“, erwiderte Sierra, die nun ihre Illusion fallen ließ. „Was hat es damit auf sich?“ „Thorin… dieses Dorf voller böser Scheusale und Kultisten und niederträchtiger Menschen-Verschlepper… ist ein ganz normales Dorf. Das sind meine Leute. Das gesamte Dorf. Ein Tieflingsdorf. Ich hatte meine liebe Not, Yeraihja von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen. Vor allem, weil der Zauber, den dieser Idiot gesprochen hat, gegen die Barriere wirkungslos war. Er wollte wissen, wie ich dazu komme, einen Aasimar hierher zu führen. Aber ich konnte mit ihm reden. Denn man kann mit Tieflingen reden! Es stellte sich heraus, dass sie sich hier verstecken. Und das tun sie schon seit so vielen Jahrhunderten, das es deren Dorf gab, bevor es Nadelklippe gab! Als der Aasimar hier eindrang, hatten sie sofort begonnen, die Evakuierung des Dorfes vorzubereiten. Ich… ich habe ihnen gesagt, dass sie das tun sollen. Das sie fliehen sollen. So nah an einem Menschendorf ist es zu gefährlich. Was, wenn Angehörige diesen Aasimar suchen? Oder andere seiner Spur folgen? Sie sind nicht die, die hier Leute entführen. Die haben selbst schon zwei, drei Bewohner verloren. Thorin… das… das ist genau das, wovon ich immer rede. Wir waren zuerst hier – und jetzt sind wir es, die fliehen müssen! Nur weil irgendwer behauptet, das wir an allem schuld seien, was in der Welt schief läuft…“ Sierra seufzte schwer. „Hey, mir brauchst du das nicht erzählen. Ich weiß, das deinesgleichen… naja, ganz in Ordnung sein kann, schätze ich“, gestand der Kahlkopf ihr zu. Sierra jedoch neigte den Kopf und blickte ihn vorwurfsvoll an. „Das ist ernst – und mir wichtig!“ „Schon gut, schon gut – ihr seid nicht viel schlimmer als Elben. Besser?“ „Du… urgh!“ In einer hilflosen Geste warf sie die Hände in die Luft. Als er jedoch wirklich wagte, aufzulachen, boxte sie ihn hart gegen die Schulter. „Ah, hey! Zu Hilfe, ein Kultist greift mich an!“, witzelte der Krieger und jagte ein paar Schritte davon. „Na warte, du kleiner-“, setzte Sierra an und hetzte ihm rasch hinterher. Das kleine Katz- und Mausspiel – mit wechselnden Rollen – dauerte einige Minuten und ganz wie von Thorin beabsichtigt, reichte es für den Moment aus, um die Anspannung von ihnen abfallen zu lassen. Sowohl jene, die in Zusammenhang mit der Todesgefahr in der Höhle gestanden hatte, als auch Sierras üble Laune in Bezug auf die Evakuierung des Dorfes. Erst als sie wieder freier lächeln konnte, wagte er das Thema vorsichtig nochmals anzuschneiden. „Wie sieht’s aus? Sollten wir deinen Leuten beim Packen helfen oder sowas?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, die kommen klar. Sie… sie wissen noch nicht ganz, wo sie hin sollen. Vermutlich werden sie versuchen, einen anderen Unterschlupf hier im Wald zu finden. Ich habe ihnen gesagt, dass es im Vorgebirge gute Verstecke gibt. Schwer zu erreichen. Aber auch schwerer, sich dort etwas aufzubauen. Yeraihja meinte, er denkt darüber nach und redet mit den anderen, wenn sie unterwegs sind. Als wir zur Höhle aufgebrochen sind, haben die Ersten theoretisch bereits das Dorf verlassen.“ Thorin nickte. „Gute Planung“, gestand er ihr zu. Sie hatten die Strecke nach Nadelklippe bereits zur Hälfte zurückgelegt, als der Kahlkopf abrupt mit einem kleinen, gepressten Fluch auf den Lippen inne hielt. „Du weißt, was diese ganze Scheiße zu bedeuten hat, oder?“, hakte er missmutig bei seiner Partnerin nach, die einmal mehr die Gestalt der jungen Zwergin angenommen hatte. „Hm? Was meinst du?“   „… wir haben schon wieder kein Geld mehr.“   Jahre zogen dahin. Im Sommerforst verschwanden weiterhin Wanderer, Reisende, Einheimische. Zwei oder drei im Jahr, manchmal mehr, manchmal weniger. Zwölf Jahre, nachdem das Tieflingsdorf aufgegeben worden war, verschwand Nadelklippe. Das gesamte Dorf stand noch, wo es zu stehen hatte – aber von all seinen Bewohnern fehlte jede Spur. Als weitere zwei Jahre später ein weiteres Dorf vollständig verschwand, ordnete man die Evakuierung aller verbliebenen Dörfer an und verhängte eine Reisesperre über den Sommerforst. Als im Jahr darauf ein halbes Dutzend Bewohner eines kleinen Dörfchens verschwanden, das lediglich an den Wald angrenzte, ging man noch einen Schritt weiter – der Wald wurde an allen Grenzen in Brand gesteckt. Zahlreiche Reiter, stets in Patrouillen zu fünft, brachen die alten, längst verwilderten Wege entlang und schleuderten zahllose Brandbomben aus ihren Satteltaschen in das dichte Unterholz. Der Sommerforst brannte. Über Jahre hinweg brannte er weiter und weiter. Einige Reiter verschwanden, Gruppen zu fünft, man hörte von Mann und Pferd nichts mehr. Was im Sommerforst wirklich vor sich ging, hatte nie aufgedeckt werden können. Doch zehn Jahre, nachdem man dem Wald mit Feuer begegnet war und nahezu jeder einzelne Baum herabgebrannt worden war, nachdem nur noch eine schwarze, verkohlte Landschaft zurückblieb… endete der Spuk. Kapitel 45: Alltag und Abenteuer -------------------------------- „Haltet den Dieb!“   Vhrengals Blick glitt für die Dauer eines Herzschlages zum Himmel. Gerade lang genug, dass er unbewusst ausmachen konnte, dass es ein gutes Stück nach Mittag sein musste. Später Nachmittag, vielleicht sogar schon früher Abend. Dennoch pulsierte um ihn herum das Leben in jenem Adergeflecht, das Samaras Straßen ausmachte. Natürlich nicht direkt an ihm, aber… um ihn herum. Ein Halbork war, trotz aller Geschehnisse, noch immer ein seltener Anblick. Imposant, ehrfurchtgebietend. Oder zumindest furchteinflößend – für ihn machte es letztlich keinen allzu großen Unterschied. Warum die Leute vor ihm wichen, konnte ihm gleich sein. Obwohl er sich ein wenig wünschte, einreden wollte, dass es an seiner neuen Ausstattung lag. Lohn kommt zu den Mutigen, nicht den Unvorsichtigen, pflegte Thorin zu sagen. Zugegeben, er hatte seine gute Weile gebraucht. Nicht nur, sich mit seiner neuen Rolle anzufreunden, sondern auch, auf das Wort dieses Mannes zu vertrauen, an dessen Kurs zu glauben und sich mehr zu erhoffen als nur die nächste Mahlzeit in einer billigen Holzschüssel vor die Füße geworfen zu bekommen, gepaart mit der Aufforderung, er solle sich beeilen. Einen Moment ließ er die Schulter rotieren. Blankes, im Sonnenlicht blitzendes Metall. Er konnte sich darin spiegeln. Hätte es gekonnt, doch die Position des Schulterstücks war dafür nicht unbedingt ideal. Die Armschoner waren aus Leder, gutes, derbes Leder, das wunderbar roch. Das gleiche Material wie die Stiefel, nur das er am Gewicht spüren konnte, wo die Metalleinlagerungen waren. Auf seinem Rücken wog der schwere Zweihänder, an seinem Gürtel zog zu beiden Seiten das Gewicht wunderlich geformter Wurfäxte. Ein paar Dolche hier und da. Und natürlich die Rüstung! Die Rüstung machte wirklich viel her. Er hatte noch nie etwas getragen, das extra für ihn maßgeschneidert worden war. Lohn kommt zu den Mutigen, hielt er sich immer wieder vor, doch so recht glauben konnte er es noch immer nicht. Die Rüstung saß perfekt. Sie drückte nirgendwo. Sie rutschte nicht. Keine Hohlräume, die sich mit Schlamm, kleinen Steinchen oder ähnlichem Unrat füllen könnten. Die Riemen waren einfach zu bedienen, die Rüstung leicht und zügig anzulegen, aber ohne die korrekte Kenntnis ihres Anlegens nahezu unmöglich mal eben zu entfernen. Außer man schnitt die Riemen durch. Allesamt. Damit hätte man aber wiederum auch eine ganze Weile zu tun. An sich… war es ein guter Tag. Er hatte eine prächtige neue Rüstung, er hatte ein eindrucksvolles neues Schwert. Nichts davon würde allzu lange so glänzend bleiben, so… sauber. Da war er sich ziemlich sicher. Er war nicht unbedingt in einem Feld tätigt, das Sauberkeit förderte. Aber hier und heute, in dieser Straße unter freiem Himmel stehend, da fühlte er sich wie damals, als er noch unter Reva als Leibwache und Eskorte gedient hatte… nein, nein, besser sogar. Höhergestellt. Wichtiger. Freier. Seine Laune hatte sich auf einem Höchstpunkt befunden, dem höchsten seit Tagen, Wochen, vielleicht Jahren. Und dann… hatte er diesen Ruf gehört. Mit einem Schlag zogen sich die Brauen des Halborks zusammen. Ein Dieb? Der Ruf war trotz des allseitigen Gemurmels zahlreicher Gespräche, die um ihn herum geführt wurden, laut genug gewesen, um ihn klar und deutlich zu hören. Die Szenerie musste also ganz in der Nähe sein. Doch Diebe gab es in Samara wie Sand am Meer. Wo sich so viele Menschen auf einen Berg auftürmten, da war es unvermeidlich, dass die Ärmeren, Gerisseneren oder Zwielichtigeren Chancen sahen und zu nutzen begannen. Der Trick war wohl, nie den Falschen zu bestehlen. Und woher wusste man, wer der Falsche war? Er war in der Lage, einen dabei zu erwischen. Einen zur Rechenschaft zu ziehen. Man konnte diese Dinge natürlich auch an Moralvorstellungen knüpfen: Es war sicherlich edler, den zu bestehlen, der im Überfluss schwelgte, als den, der selbst nichts hatte. Aber letztlich ging es immer nur darum, nicht erwischt zu werden. Nein, es war nicht die Botschaft des Rufes, die ihn interessierte. Auch nicht die Stimme. Wer immer da rief, schien zu glauben, er könne die ganze Stadt mit all den Ratten, Schaben und Menschen darin – offensichtlich bestand da ja kaum ein Unterschied – jederzeit nach Belieben zur Arbeit abkommandieren. Ein Adliger also vermutlich, wie es sie zuhauf gab. Aber etwas schlug an. Etwas… neckte, reizte, klingelte in den hintersten Tiefen seines Schädels, etwas, das ihm keine Ruhe ließ, ihn drängte und letztlich dazu führte, das er sich in Richtung der Quelle in Bewegung setzte, noch bevor er überhaupt realisiert hatte, wieder zu laufen. Es war etwas an dieser Art, dieser selbstgerechte Tonfall, etwas aus alten Zeiten. Er konnte nur nicht den Finger darauf legen, was. Als er am Ort des Geschehens ankam, hatte man den Dieb offenbar gefangen. Inzwischen hatte sich eine kleine Meute Schaulustiger versammelt und versperrte Weg und Sicht. Vhrengal versuchte zwar, sich durchzuquetschen, aber ausnahmsweise war ihm seine Abstammung wenig Hilfe – die Leute waren vom Schauspiel vor ihnen zu fasziniert, um danach zu schauen, wer sie weg schieben wollte. Kurz konnte er einen Blick auf die Szenerie im inneren Kreis erhaschen. Eine breitschultrige Gestalt eines Mannes, gekleidet in feine Gewänder. Er sah die Qualität sofort – Reva hätte solche Stoffe zu tragen geschätzt. Was er auch sah, war ein junger Bursche, vielleicht um die zehn Jahre. Zerschlissene, völlig verdreckte Kleider, löchrige Schuhe, das Gesicht vor Schmutz kaum erkennbar und die Haare verfilzt. Das Geräusch eines auf dem Pflaster aufschlagenden Geldbeutels war eindeutig genug, als der ehemals Bestohlene den Burschen am Hemdkragen hochhob. „Was fällt dir ein!?“, fuhr der Fremde den Jungen an. Etwas war an ihm. Etwas hatte es mit diesem Adligen auf sich. Vhrengal konnte es beinahe spüren. Als müsse er nur noch einen Meter näher ran, um herauszufinden, was ihn so beschäftigte, was ihn so… reizte. Warum war er so zornig? Warum gerade jetzt, hier? Er kannte diesen Fremden nicht, oder? Vielleicht aber ja doch. Etwas an seiner Stimme wirkte… vertraut. Aus alten Tagen vielleicht. Das Geräusch ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Der klatschende Laut einer Maulschelle war ihm bestens bekannt, er hatte oft genug Schläge aus allen nur erdenklichen Quellen und auf zahlreiche Arten bekommen. Er hörte den viel zu jungen Straßendieb wimmern. Er bettelte nicht um Gnade oder darum, losgelassen zu werden, er bat nicht um Verzeihung. Tatsächlich äußerte sich der Junge auf keinerlei Weise, abseits des Wimmerns nach dem Schlag. Kluges Kind. Er wusste offensichtlich, wann es zwecklos war, irgendetwas zu sagen. Der Drang, diesem Fremden ins Gesicht zu blicken, wurde überwältigend. Er musste es einfach wissen! Er musste irgendwie durch diese letzten Reihen Schaulustiger kommen, die ihm plötzlich wie ein Bollwerk im Weg standen. Und noch ehe er über irgendeine vernünftige Möglichkeit nachgedacht hatte… hörte er sich selbst schon sprechen. „Was für ein tapferer Mann, der einem solch offensichtlich gemeingefährlichen Monster eine Lektion erteilt!“, spuckte er regelrecht daher. Widerworte an jemanden zu richten, der feinste Seiden trug, war nie sonderlich clever. Vhrengal wusste das und dennoch… bedauerte er seine Worte nicht eine Sekunde. Das hing einerseits wohl damit zusammen, dass der Angesprochene überrascht den Knaben zurück auf den Boden setzte und sich zu ihm umwandte. Eine Gelegenheit, die der Junge sofort ergriff und rasend in einer Gasse verschwindend die Flucht ergriff. Irgendwie erfüllte es ihn mit einer grimmigen Zufriedenheit, diesem selbstgerechten Aas in die Parade gefahren zu sein. Ebenso trug vermutlich seinen Teil bei, das die Menge unter entsetzten Lauten und empörtem Luftschnappen auseinander wich, sich ihm zuwandte, ihm Aufmerksamkeit widmete, erkannte, wer und was er war – und ab dem Moment wichen sie auch alle ein gutes Stück zurück. Er war nicht mehr von allen Seiten eingekeilt. Mehr noch, er hatte endlich freie Sicht auf diesen Adelsmann. Der erste Blick verriet ihm wenig. Ein Mensch wie jeder andere. Braune Haare, dunkle Augen, blasse Haut. Für ihn sahen die Adligen alle gleich aus. Unterscheidbar nur anhand der Farben und Muster ihrer Lieblingsgewänder – und wehe, sie entschieden sich doch einmal, die Meere an Stoffen in ihren zahllosen begehbaren Kleiderschränken zu durchsuchen, um etwas anderes zu finden, womit sie sich schmücken konnten. Dennoch zog er das Schwert. Warum? Das war dumm. Einfach nur dumm. Und dieses selbstgerechte Lächeln, schmal und blutlos auf den Lippen des Adligen, verriet nur zu gut, das auch sein Gegenüber erkannte, was für einen grässlichen Fehler er hier gerade beging. „Das wagst du nicht, Missgeburt“, spottete der Adlige. Mit einem Schlag fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Oh und wie er diesen Mann kannte! Jünger nur. Sehr viel jünger. Missgeburt. Dieses Aas hatte ihn schon einmal beleidigt. „Was ist los du Missgeburt? Tut dir dein Kopf weh? Hm? Komm doch her! Dann kann ich dir helfen die Schmerzen los zu werden.“ Die Worte hallten dumpf in seinem Kopf wider. Alt, lange vergraben und hier und jetzt, so plötzlich, exhumiert. Die Stimme war heller gewesen. Das Gesicht weniger kantig. Die Haare kürzer und der Blick zorniger. Damals hatten ihn diese Worte nicht verletzt. Zu oft hatte er sie und ähnliche schon gehört, zu oft Beleidigungen anderer schlucken müssen, ohne etwas dagegen tun zu können… oder zu dürfen. Der Stein, der ihn am Kopf getroffen hatte… der hatte viel mehr Schmerzen bereitet. Was war die Welt für ein seltsamer Ort. Vielleicht war es die Vorstellung der Götter von Gerechtigkeit. Oder Ceteus führte ihn in Versuchung oder Tokhtoras Geister fanden das hier alles wirklich sehr lustig – er konnte die Gründe dafür nicht benennen. Hier und jetzt… war es ihm auch egal. Ganz gehörig egal. Dieses kleine Aas hatte damals ausgenutzt, unantastbar zu sein. Sein Vater war ein wohlhabender Mann gewesen, jemand von Rang und Namen. Hätte er dem Jungen damals ein Haar gekrümmt, es hätte ihn das Leben gekostet. Denn er war ja nur eine Zirkusattraktion gewesen. Sein Leben hatte nicht mehr Wert und Gewicht als das eines Löwen oder dressierten Affen. Er war… ersetzbar. Heute aber war er nicht mehr die Zirkusattraktion. Und mit einem Schlag bereute er sehr viel weniger, das Schwert gezogen zu haben. Der blanke Stahl glitzerte regelrecht in der Sonne. Wartend. Lauernd. Begierig auf das erste Blut, das dieses Metall nach dem Auskühlen von der Schmiede sehen würde, kosten würde. Er könnte diese Missgeburt niederstrecken. Hier und jetzt, mit nur einem Schwung. Aber der Gedanke, ihn leiden zu lassen, war so viel verlockender. Ihn zu demütigen, zu erniedrigen, ihm zurückzuzahlen, doppelt und dreifach, was er hatte durchmachen müssen. Was Thorin, Myron und Ishara davon wohl halten würden? Was Tokhtora dazu wohl sagen würde? Der Versuch, sein Temperament zu zügeln, glückte nicht. Was kümmerte ihn, was diese Leute sagten und dachten? Sie waren nie in seiner Position gewesen, hatten nie das Gleiche erdulden müssen, hatten nie in das selbstgefällige Antlitz dieses kleinen Bastards starren müssen, nur um daran zwei Dinge abzulesen: Du bist nichts wert!, und Ich bin unantastbar für dich! Der Zorn alter Tage, geschürt aus Verzweiflung, Kränkung und Hilflosigkeit, flammte mit einer für Vhrengal unerwarteten und unaufhaltsamen Wucht auf. Beide Hände packten den Griff, mit eisernen Schritten stapfte er auf den Schrecken seiner Jugendjahre zu. Er konnte es sehen. Er sah im Gesicht dieses armseligen Wurms, wie auch er dem Prozess der Erkenntnis unterlag. Wie auch er realisierte, woher er dieses Gesicht kannte – nur jünger, schmutziger. Er konnte sehen, wie ihm das Blut wich, wie er kreidebleich wurde, seine Augen sich weiteten, wie er die Hände hob, zum Schutz, zur Beschwichtigung, wie seine Lippen sich öffneten, um Gebettel vorzuquetschen oder Befehle zu blaffen, doch nicht der kleinste Laut drang über die von Panik festgefrorenen Stimmbänder hinaus. Er hob die Klinge. Ein einziger, weiter Schwung. Vielleicht würde er ihn in zwei Teile schlagen können, die Klinge war schwer und sensationell scharf. War das nicht einen Versuch wert? Die bloße Vorstellung, wie sich die Innereien auf dem Boden verteilen würden, verursachte Übelkeit, Vorfreude, Genugtuung. Er hatte die Klinge gehoben, stoppte in der Bewegung, brachte die Kraft auf, um sie umzukehren. All seinen Zorn legte er in diesen Schwung. All die Schmähungen, all die Verletzungen, all die vielen Tränen und Stunden im Gefühl der Hilflosigkeit, ein ganzes Leben voller Elend, Kummer und Verzweiflung würde auf diesen kleinen Bastard herabschmettern und- „Vhrengal, nicht!“   Die Klinge schmetterte in blankes Kopfsteinpflaster. Kleine Steinsplitter surrten vom Einschlag davon, prickelten unangenehm in seinem Gesicht. Immerhin hatte er rechtzeitig die Augen geschlossen. Die Aufforderung war nicht, was den Schlag aus der Bahn gebracht hatte. Es war, einmal mehr, die Stimme gewesen. Er kannte sie, aus alten Tagen. Nur jünger. Vielleicht nicht viel, aber… jünger, zumindest ein klein wenig. Als der Halbork sich aufrichtete, starrte er ungläubig auf die Gestalt, die sich hektisch durch die Menge quetschte und schließlich aus dem neu geschlossenen Kreis der Schaulustigen hervorbrach. „Gute Götter, bitte, bring ihn nicht um!“ Sie flehte nicht. Noch nicht. Sie bat ihn. Aber es lag ein solcher Nachdruck in ihrer Bitte, dass man es nur zu leicht hätte verwechseln können. „J-… Jenna…?“, krächzte er völlig überrumpelt einen alten, fast vergessenen Namen. Wer hätte sie sonst sein sollen. Vielleicht war er zu verdutzt und nicht nah genug, um die unterschiedlichen Augenfarben sehen zu können. Die hübschen Stiefel verdeckten auch die zwei sechsten Zehen. Aber er sah sehr wohl die sechsten Finger… an allen drei Armen. Sie trug ein dünnes Seitenoberteil mit Goldstickereien, das… auf unangenehme Weise wunderbar zu den edlen Kleidern seines Jugendschreckens passte. Den Kopf schüttelnd, verweigerte er sich der Offensichtlichkeit der Realität. Das war ausgeschlossen. Schlicht unmöglich. Dennoch verfolgte er, wie sie nicht etwa zu ihm lief, sondern zu diesem Ekel. Jetzt erst bemerkte er, dass sich dieser Bastard regelrecht zusammengekauert hatte. Er stand noch auf seinen Beinen, sicherlich – Respekt dafür! Aber er zitterte in gebeugter Haltung, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als würde der Himmel einbrechen und ihn begraben. Jenna trat zu ihm, flüsterte auf ihn ein, strich über seinen Rücken, bis er allmählich zu zittern aufhörte und sich aufrichtete. Etwas zu bemüht, um noch ernstgenommen werden zu können, richtete er seine Kleider, sah sich um und trat einen halben Schritt näher, um seinen Geldbeutel endlich aufzuheben. Keiner in der Masse der Schaulustigen wagte zu lachen oder auch nur zu kichern. Keine einzige Bemerkung erklang. Man würde sich köstlich darüber amüsieren, sich für Tage oder vielleicht sogar Wochen das Maul zerreißen. Später. Daheim. Hinter verschlossenen Türen, mit den Nachbarn, mit Freunden und Familie und jedem beliebigen Fremden, aber nicht hier und jetzt. „Willhelm, sieh mich an“, hörte er Jenna leise seinen vermeintlichen Feind ansprechen. Erst als sie ihre Aufforderung in einem etwas strafferen Ton wiederholte, gehorchte er. „Alles ist gut. In Ordnung?“ Diese… irritierende Wärme kehrte in ihre Stimme zurück. Vhrengal begriff nicht, was hier vor sich ging. Es war schließlich völlig unmöglich, dass sie… sie würde niemals einfach… Als Jenna sich jedoch ihm zuwandte, lag in ihrem Blick eine kühle Härte. Er kannte diesen Ausdruck und trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Damals im Zirkus hatte er gelegentlich Unfug angestellt, rebelliert. Wenn die Prügel durch andere keinen Effekt zeigte – oder nicht zum gewünschten Effekt führte – oder ihnen mit den offensichtlich nutzlosen Belehrungen die Geduld ausging, dann schickte man meist Jenna zu ihm. Sie war immer freundlich gewesen… aber sie hatte auch immer gewusst, wann Freundlichkeit mehr schaden als helfen würde. Sie hatte diesen enttäuschten, rügenden Blick, der einem die Knochen zu Glibber werden lassen konnte. Und sehr zu seinem Verdruss hatte sie weder diesen Blick verloren, noch hatte jener seine Wirkung auf ihn eingebüßt. „Vhrengal Fledderohr!“, fuhr sie ihn leise an. Er hatte den Namen fast vergessen. Ein unschöner Zwischenfall mit einem Hund. Die Mitglieder im Zirkus fanden, er hätte so bleiben sollen. Es gäbe ihm Charakter, meinten sie – er verstand damals nicht, was das sollte und tat es noch heute nicht. Jenna hatte sich dafür eingesetzt, das man etwas Geld zusammenkratzen würde, um einen Heiler zu bezahlen. Sie bekamen die nötigen Münzen gerade rechtzeitig zusammen, bevor die Wunde zu alt wurde, um noch auf diese Weise behandelt zu werden. Sein Ohr heilte ab. Fast spurlos. Die Narbe konnte er nur bei sehr kaltem Wetter gelegentlich spüren und man sah sie nur, wenn man sehr nah heran kam. Aber der Spitzname war geblieben. Erst als er ihr Lächeln sah, bemerkte er, wie er mit Zeige- und Mittelfinger über sein linkes Ohr strich. Wann er das Schwert losgelassen hatte, war ihm nicht klar – aber seine Rechte schmerzte allmählich vom darum verkrampften Griff. Also ließ er sein Ohr los und brachte die Klinge wieder auf seinem Rücken unter. Jenna dagegen… sie trat an ihn heran. Einfach so. Völlig furchtlos. Und näher, als sich Fremde je wagen würden. Kurz unterzog sie ihn einer oberflächlichen Musterung. Es war nicht wirklich unangenehm. Sie schien nicht zu urteilen, nicht zu kritisieren, nichts zu suchen. Schließlich nickte sie. „Groß bist du geworden“, merkte sie lediglich an, ehe ihr Blick wieder etwas härter wurde, „Du kannst doch nicht einfach herumlaufen und Leute niederstrecken!“ „Er ist-“, hob der Halbork an und deutete auf Willhelm, doch was hätte er sagen sollen? Der Bastard, der mich früher mal mit Steinen beworfen hat? Welcher von den vielen, vielen, die es da gab? Jenna wusste zweifellos, worauf das alles hinaus lief. So wie sie sicherlich auch wusste, dass es genug Willhelms in seiner Jugend gegeben hatte. Haben musste. Viele davon hatte sie schließlich selbst miterlebt. Sie hatte Wunden gesäubert, manchmal auch genäht. Unsicher brach er seinen Rechtfertigungsversuch ab. Stattdessen spürte er die Wärme, die ihm in die Wangen und Ohren schoss. Seine Haut war gnädig gefärbt und versteckte Schamesröte bis zu einem gewissen Grad und falls Jenna es mitbekam, reagierte sie zumindest nicht darauf – wofür er durchaus dankbar war. Jenna hingegen seufzte. Sie blickte zu Willhelm zurück, dann wieder zu ihm. „Euch ist also beiden klar geworden, wer der jeweils andere ist, hm?“, hakte sie nach, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Abermals schwer seufzend, rieb sie sich über die Stirn. „Das ist nicht, wie ein Wiedersehen ablaufen sollte. Und auch nicht der richtige Ort dafür. Möchtest du vielleicht mit uns mitkommen? Es gibt Wachtel mit Spinatsuppe als Abendmahl.“ Die Einladung kam… nun – es unerwartet zu nennen, wäre die Untertreibung des Monats gewesen. Andererseits… vielleicht eher des Tages – seit er Alistair kannte, wusste er um ein gehöriges Maß an Untertreibungen. Sein Blick wanderte zwischen Jenna und Willhelm, der – sehr zu seiner Genugtuung – ebenso entsetzt schien, wie er sich fühlte. Die bloße Vorstellung, mit ihm, einer Missgeburt, am selben, zweifellos schicken Tisch sitzen zu müssen, während er von seinen schicken Tellern seine edlen Speisen aß… was musste das nur für ein Horror sein! Schon allein deshalb überlegte er, anzunehmen. Aber da war… mehr. Sie trug diese feinen Kleider. Und kümmerte sich um diesen Hurenbock, als hätte er das verdient! Und als wäre das alles nicht schon seltsam genug, hatte er genau gesehen, wie sich ihr dritter Arm bewegt hatte, als sie die Hände in die Hüften stemmte. Was… eigentlich völlig unmöglich war. Es hatte sich dabei nie um mehr als ein nutzloses Anhängsel gehandelt. Er wurde von niemandem zurückerwartet. Zumindest nicht heute. Und Tokhtora predigte ständig Balance und Ausgeglichenheit, Frieden mit Vergangenheit und Zukunft. Das hier… war vielleicht wirklich eine Einmischung der Geister, von denen sie ständig sprach. Vielleicht gab man ihm hier und jetzt die Chance, Frieden zu machen mit einem Kapitel, von dem er nicht wirklich gewusst hatte, dass es noch unerledigt offen lag. Allerdings war es nicht sein Wunsch nach Frieden, der ihn letztlich nicken ließ, sondern seine Neugier und der etwas gezügelte, nicht länger blutlüsterne Wunsch nach Rache. Und sei es nur, diesem Scheusal eine Mahlzeit zu verderben.   Sie legten den Weg relativ schweigsam zurück. Jenna bemühte sich dann und wann, ein Gespräch mit ihm oder Willhelm zu beginnen, doch sie waren beide viel zu sehr damit beschäftigt, einander grimmige und misstrauische Blicke zuzuwerfen, als das sie sich auf ein wenig Unterhaltung hätten einlassen können. Und irgendwann, schwer seufzend, hatte sie ihre Mühen auch schlicht aufgegeben. Wie befürchtet, führte ihr Weg sie in das südliche Stadtviertel. Hier wohnten die Adligen und Wohlhabenden. Beides musste man, wie er inzwischen wusste, säuberlich trennen. Nicht jeder Adlige war wohlhabend, längst nicht. Es war tatsächlich sogar erstaunlich, wie viel Niederadel völlig verarmte und gezwungen war, alltäglichen Arbeiten nachzugehen oder, die Götter mögen einen bewahren, ein Handwerk zu ergreifen! Ebenso erstaunlich war, wie sich kontinuierlich Händler mit guten Nasen für raffinierte Geschäfte in den Niederadel hineinkauften, ob durch den Erwerb eines Titels, eines Stück Landes oder eine geschickt arrangierte Eheschließung. Er verstand von diesem ganzen politischen und wirtschaftlichen Irrsinn nicht viel und hatte auch keinen Sinn dafür – aber er wusste, das Adlige schnell erbost reagierten, wenn man sie auf ihr Vermögen ansprach und das mancher Händler die Preise verdoppelte, wenn man auf seine soziale Stellung zu sprechen kam. Auf die letzten Meter hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, doch er konnte sich auf Gedeih und Verderb nicht mehr erinnern. Diese kleine Ratte, die nun ausgewachsen neben ihm einher lief, hatte seinen Vater gepriesen und vorgestellt. Herr von irgendwas, Dingsda von Bumsdings… er wusste es einfach nicht mehr. Titel gab sich dieser Tage ja jeder, wie er es lustig fand – aber wirklich kraft- und gewichtvolle Titel gab es nur wenige. Offiziell verliehene Ämter und Ehren. Das, was einen letztlich zum Adligen machte. Ob dieses Scheusal nun von blauem Blut war oder nicht, konnte er letztlich nicht sagen. Er wusste auch nicht einmal mehr so genau, ob es eine Rolle spielte – oder warum er sich überhaupt an diesem Gedanken so festgebissen hatte. Vielleicht einfach nur, um auf die schweigsamen Meter etwas zu haben, das ihn ablenkte. Das Starr-Duell mit Willhelm war ja nun wirklich alles andere als unterhaltsam.   Sie passierten die Grundstücksmauern. Zwei Wachen rückten gerade und grüßten Mylady und Mylord. Vielleicht also doch Adel? Oder nur eine Vorliebe des Eigentümers? Vhrengal wunderte sich einen Moment gehörig über die Anrede für Jenna – doch er sah auch, wenn nur von der Seite, wie sie dabei ganz leicht das Gesicht verzog. Sie war es nicht gewohnt und konnte es offenbar auch nicht leiden. Gut so! Willhelm dagegen stolzierte natürlich mit stolz gerecktem Kinn voran, als wäre es sein Anrecht, als würde alles ihm gehören, worauf sein Blick fiel. Hier… mochte das vielleicht dummerweise sogar stimmen. Das Grundstück hatte einen Streifen grünen Grases um das eigentliche Gebäude. Ein gepflegter Kiesweg führte beidseitig um einen edel wirkenden Springbrunnen, ein halbes Dutzend gut abgerichteter Hunde tollte auf dem Gelände herum, verfolgt von einem Elb in Dienergewand, der vermutlich für die Fürsorge der Tiere angestellt worden war. Die Fassade war komplett weiß – es musste ein Vermögen kosten, sie in diesem Zustand zu halten. Marmorsäulen trugen ein kleines, dreieckiges Vordach, seltsame Pflanzen säumten in Töpfen stehend den Weg. Vhrengal begriff rasch, dass dies eine völlig andere Welt war. Eine, in die er nicht wirklich gehörte und von der er absolut nichts verstand. So wenig, wie Jenna seiner Meinung nach hierhin gehörte. Auch sie wirkte einen Moment verloren, als sie durch die Eingangstür – oder Tor wohl eher – in eine gewaltige Halle traten. Schicke Wandteppiche in Purpur und Läufer und weitere Marmorfliesen und jede Menge Tand und Schmuck, für den er weder Augen noch Verständnis hatte. Stattdessen kamen ihnen drei Diener entgegen. Einer nahm Willhelms Mantel entgegen, einer Jennas Einkäufe. Letzterem folgte sie in Richtung der Küche, wie sie sie noch beim Verschwinden wissen ließ. Sie hatte es sicherlich amüsant gemeint, als sie meinte, sie sollten es sich schon einmal im Esszimmer bequem machen – bevorzugt, ohne einander umzubringen. Wirklich darüber lachen konnte er jedoch nicht. Nicht mal lächeln. Stattdessen folgten Willhelm und er dem dritten Bediensteten durch ein paar Flure und Korridore, geschmückt und gesäumt mit noch mehr Wandteppichen, noch mehr Gemälden und Büsten und Skulpturen und anderem zweifellos wertvollen, aber nutzlosen Tand, bis in das, was Jenna ein Esszimmer genannt hatte. Es glich eher einem Saal. Der Tisch würde für eine Großfamilie genügen. Es gab kleine Ecken im Zimmer, die thematisch sortiert waren. In einer Ecke standen Bücherregale, ein paar sehr bequem – und sehr teuer – aussehende Sessel mit einem der drei Kamine im Raum. Der zweite Kamin befand sich in einer anderen Ecke, zusammen mit weiteren Sesseln und Vitrinen, hinter deren verglasten Metallgittern allerhand Flaschen mit farbigem Inhalt standen. Der dritte Kamin war offenbar die als solche vorgesehene Hauptquelle für Wärme und trug bereits gehörig Scheite und Feuer in sich, als sie eintraten. Ob man den Raum konsequent warm hielt oder vor ihrer Ankunft zu feuern begonnen hatte, war ihm ein Rätsel. Aber Vhrengal entging keineswegs, das hier und da immer mal wieder Bedienstete zu sehen waren, die etwas von A nach B schleppten, etwas gerade rückten, abputzten oder einen Blick in ihre Richtung warfen, als könnte ihr Überleben davon abhängen, jedes noch so banale Anliegen sofort zu erledigen. Das beinahe schon gehässige Lächeln auf Willhelms Lippen mochte wohl bedeuten, dass dieser darauf spekulierte, ihn mit Prunk und Reichtum einzuschüchtern. Falls dem tatsächlich so war… scheiterte er aber gehörig! Diese Genugtuung würde er dem kleinen Aas nicht zugestehen. Stattdessen nahmen sie am Tisch Platz, einander gegenübersitzend, und starrten sich lauernd gegenseitig an, schweigend. Einmal mehr. „So trifft man sich wieder“, begann Willhelm schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. „Hätte drauf verzichten können“, knurrte er zurück. „Hübsches Schwert“, spottete der Hausherr. „Danke“, knurrte Vhrengal zurück. „Vielleicht solltest du die Rüstung nicht unbedingt zum Essen tragen. Ich weiß, da, wo du her kommst, brachte man dir keine Manieren bei, aber-“ „Die Rüstung bleibt, wo sie ist“, schnitt der Halbork ihm den Satz ab. Einen Moment lang maßen sie einander mit Blicken. Als würden sie abschätzen wollen, wie es nun weitergehen müsse. Weitergehen könne. Schließlich ergriff Willhelm einmal mehr die Initiative. „Du solltest im Interesse aller deinen Besuch hier möglichst kurz fassen. Jenna und ich haben noch Pläne für die Nacht.“ War es nun Absicht? Vermutlich war es Absicht. Es musste einfach Absicht sein! Dieses Scheusal wusste zweifellos, wie nahe Jenna ihm gestanden hatte, es vielleicht noch immer tat, wie viel sie ihm bedeutet hatte. Diese Provokation saß genau da, wo sie vermutlich angeplant war – und er drehte die Klinge in der Wunde. Vhrengal verzog angewidert das Gesicht. „Ich bin nicht deiner Einladung wegen hier! Was macht sie überhaupt hier?!“, grollte der Halbork. Er spürte bereits, wie der Zorn neu in ihm aufzukeimen begann, wie die Flammen am Käfig empor leckten. Er wollte über den Tisch springen und ihm dieses zielsichere, selbstgefällige Grinsen aus der Visage prügeln… „Ein Leben führen, dass diese Bezeichnung auch verdient. Deinesgleichen kann sowas natürlich nicht verstehen“, schoss Willhelm die Vorlage direkt nutzend zurück. „Hat dir das auch dein Vater erzählt?“, erwiderte Vhrengal bereits deutlich die Stimme hebend. Nur noch ein paar Provokationen mehr, und bei allen Göttern, er würde diese Missgeburt durch jeden verdammten Raum prügeln, einen Zahn pro Zimmer, ehe er ihn durch das höchstgelegene Fenster schmeißen würde! Bevor Willhelm jedoch seine Erwiderung anbringen konnte – und er hatte schon dazu angesetzt – öffneten sich die Türen. Jenna kehrte zu ihnen zurück, begleitet von einer kleinen Armee Bediensteter. Er hatte völlig das Zeitgefühl verloren und wusste nicht abzuschätzen, wie lange Willhelm und er einander nur angestarrt und belauert hatten. Offenbar genug, dass man ein opulentes Mahl zubereiten konnte. Die Dienerschaft tafelte hübsches Porzellan auf, eine würzige Ingwersuppe als Vorspeise, die Spinatsuppe in einer größeren Schale als Hauptgang zusammen mit der separat angerichteten Wachtel, vorgeschnitten in mundgerechte Stücke und perfekt gebraten, und eine kleine, nicht näher für Vhrengal identifizierbare Nachspeise, die… glibberig aussah. Es roch betörend, sah wunderbar aus und ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Doch alles in allem änderte es auch wenig daran, dass er sich einmal mehr völlig deplatziert fühlte. Denn neben all den Schüsseln und Tellern, die man offenbar in einer speziellen Weise anordnete, kam auch eine kleine Heerschar an Besteck auf den Tisch. Die Dienerschaft entfernte sich eiligen Schrittes und völlig wortlos wieder, lediglich eine der Mägde wünschte einen guten Appetit. Sein Blick fiel auf drei Löffel, zwei Messer und zwei Gabeln. Er brauchte nicht einmal auf die andere Tischseite spähen, um zu wissen, dass Willhelm ihn gehässig beobachtete, wissend, dass er hiermit überfordert wäre. Er konnte seinen Blick regelrecht spüren. „Vhrengal, leg doch bitte wenigstens das Schwert weg. Es muss furchtbar unbequem sein, mit einem so großen, schweren und sperrigen Ding auf dem Rücken zu sitzen!“ Jennas Aufforderung riss ihn aus seinen sich verdüsternden Gedanken. Er hatte sich nicht angelehnt, das war soweit korrekt, und die Position dauerhaft aufrecht zu erhalten, war anstrengend. Aber er kannte es nicht anders. Die Waffe abzulegen war nur in zwei Fällen klug: Wenn man schlafen ging – und dann sollte man sie in Griffreichweite haben – und wenn man unter Freunden war. Beider Gegebenheiten sollte man sich nie zu sicher sein. Wachsamkeit war immer angebracht. Immer. Dennoch… konnte er ihr schwerlich widersprechen. Er hob den schweren Zweihänder von seinem Rücken und legte ihn auf den Stuhl neben sich. „Einer der Knechte soll das Ding-“, hob Willhelm bereits an, der offenbar darauf gelauert hatte, doch Jenna widersprach ihm noch vor dem Ende seiner Erklärung. „Es wird genügen“, ließ sie ihn lediglich wissen und lächelte ihm zu. Dem… gab sich der Hausherr offenbar geschlagen. Er zögerte einen Moment, blickte nochmals flüchtig zu Vhrengal herüber… nickte dann aber. „Vhrengal? Die Rüstung?“ „Bleibt, wo sie ist“, gab der zurück. Allmählich genügte es aber! Es war schon schlimm genug, dass er nicht in seiner Rüstung schlafen konnte. Das war unbequem. Aber er würde sie ganz sicher nicht ablegen. Nicht hier. Die Messer hatten rein zufällig eine perfekte Gewichtsverteilung, um im Notfall als Wurfmesser herhalten zu können. Nein… nein, sowas würde er gar nicht erst riskieren! Was sollte Jenna schon machen, wenn er ihn plötzlich umbrachte? Sie war das Weib im Haus. Das Weib, das aus dem Nichts kam. Ein Niemand. Vielleicht war sie für Willhelm eine Art Trophäe? Oder er hatte noch weit düsterere Pläne mit ihr. Jenna war nicht hübsch, nie gewesen. Ihr Gesicht war ein wenig asymmetrisch. Der dritte Arm störte natürlich viele. Ihre Züge waren etwas markanter, als üblich. Die Hüfte schmal, die Brust flach. Kein Mann, so hatte sie einmal gescherzt, will jemanden in seinem Bett haben, den er mit einem jungen Burschen verwechseln könnte… Je länger er darüber nachdachte, umso sicherer wurde er sich, dass hier etwas faul war. Einfach etwas faul sein musste. Vielleicht war üble Magie am Werk. Wäre nicht das erste Mal, dass sie über sowas stolperten. Diesmal hätte es nur zufällig jemanden getroffen, den er kannte. Er würde gewiss nicht zulassen, dass Willhelm seine finsteren Pläne in die Tat umsetzen würde. Was immer hier vor sich ging, konnte wohl kaum zu Jennas Wohl sein. Und sie schien völlig arglos. Die Täuschung, die der Hausherr angewandt hatte, musste also geschickt gewesen sein. Sicherlich auch langfristig geplant. Dem beizukommen, ohne die, die er retten wollte, auch noch zum Ziel zu machen, würde schwierig werden. Aber er hatte schon ganz andere Herausforderungen gemeistert! Außerdem hatte er von den Besten gelernt, sich ein paar Tricks abgeschaut. „Willst du denn gar nicht wissen, wie es mir ergangen ist?“, hakte Jenna nach. Aus seinen Überlegungen aufschreckend, packte Vhrengal eher reflexartig einen der Löffel und begann die Vorspeise zu leeren, nickte jedoch. Oh und wie ihn das interessierte! Vielleicht würden sich ein paar Hinweise ergeben, was hier wirklich vor sich ging. Und wie er diesem Übel den Garaus machen könnte. Entsprechend aufmerksam bemühte er sich, zuzuhören, während es ihm ein klein wenig Genugtuung verschaffte, Willhelm bei gelegentlichen Seitenblicken dabei zu bemerken, wie er das Gesicht verzog, weil Vhrengal offenbar… das falsche Besteck benutzte. „Nachdem du fort warst, wurde alles ein wenig trister, muss ich zugeben. Wir zogen weiter, hatten weiter unsere Vorstellungen, aber… ich hatte nie wieder einen Freund wie dich, weißt du?“ Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen. In ihren Augen lag der Schimmer von Hoffnung. Sie bat wortlos darum, diese Freundschaft vielleicht, irgendwie, wiederbeleben zu können. „Mein ganzes Leben lang habe ich jede Münze gespart, jede einzelne habe ich zusammengekratzt-“ „Wegen des Arms“, fiel Vhrengal ihr diesmal ins Wort. Er erinnerte sich noch gut daran. Der Arm war, was ihr die Normalität versperrt hatte. Der Grund, warum sie im Zirkus gelandet war. Sechs Finger und Zehen zu haben, konnte unpraktisch sein. Konnte aber auch praktisch sein. Die Glieder waren beweglich, hatten Gefühl in sich. Die unterschiedlichen Augenfarben waren nie ein Problem gewesen. Vielmehr schien es die Besucher des Zirkus zu faszinieren. Aber der Arm… der Arm war immer schwierig gewesen. Sie hatte sich irgendwann damit abgefunden, hatte sie früher immer erzählt. Vermutlich mehr, um sich selbst etwas einzureden. Denn sie hatte auch stets erzählt, wie sie sparte. Jede Münze. Wo und wie immer sie konnte. Denn irgendwann würde sie einen Heiler aufsuchen, sie würde ihn bitten, das nutzlose Ding zu entfernen und dann… dann könnte sie den Zirkus verlassen. Sich Arbeit suchen. Vielleicht eine Familie gründen. Ein normales Leben führen. Mit dem Beigeschmack schaler Bitterkeit sah sich Vhrengal einmal mehr um. Der opulente Raum  war überladen mit Schmuck, Prunk und Dekor. Nun… sie hatte einen Mann. Ein herzloses Monster, das Übles im Schilde führte, aber sie hatte einen Mann. War es das wert gewesen? Er verkniff sich die Frage zu äußern. „Irgendwann war es nicht mehr viel, das fehlte und wir lagerten in der Nähe eines reisenden Heilers. Sie… sie haben gesammelt, Vhrengal. Bibi, Hedewig, Allart, Mausi, alle. Den Erlös eines ganzen Abends haben sie mir geschenkt, damit… damit ich ihn aufsuchen kann. Ich war so voller Hoffnung, als ich zu ihm ging. Das Vermögen meines ganzen Lebens schleppte ich zu diesem Magier. Weißt du, was er gesagt hat?“ Vhrengal blickte Jenna an. Sie lächelte warm. Strahlte diese eigenwillige, fast schon ansteckende Lebendigkeit aus. Diese Energie, diese… Lust am Leben. Dennoch war da der dritte Arm an ihrer Seite. „Hat nicht geklappt“, erklärte er das Offensichtliche. Jennas Lächeln hingegen wurde ein wenig breiter – obwohl sie ihm mit einem Nicken zustimmte. „Er hat mich untersucht. Es dauerte Stunden und immer wieder ermahnte er mich, ich solle doch endlich stillhalten. Aber ich war so aufgeregt…! Am Ende sagte er mir, das Problem sei sehr… kompliziert. Er zählte die Münzen durch und erklärte mir, er bräuchte das Doppelte, um den Arm gefahrlos entfernen zu können. Ich… ich war fassungslos. Das Ersparte meines ganzen Lebens, plus die Sammlung meiner Freunde, des ganzen Zirkus – und er brauchte das Doppelte?! Ich glaubte erst, er wolle mich über den Tisch ziehen. Du weißt, wie ich sein kann, wenn ich glaube, jemand veräppelt mich.“ Grinsend nickte der Halbork. Oh er erinnerte sich da nur zu gut…! „Aber… dem war nicht so. Er rechnete es mir vor. Reisekosten, Materialbeschaffung, Durchführung. Er nahm so gut wie nichts ein. Was er mit dem Geld, das ich hatte, letztlich anstellen konnte, war etwas anderes. Er meinte, der Effekt sei nicht von Dauer. Er könne das Wachstum von Nerven und Gefäßen anregen. Ich… ich verstand damals nicht wirklich, wovon er sprach, gebe ich zu. Ich lächelte ziemlich bedrückt, vermute ich mal, und nickte artig. Über die Jahre, so erklärte er, würden diese aber wieder degerieren.“ „Degenerieren“, warf Willhelm plötzlich ein. Erst da wurde Vhrengal bewusst, wie still der Hausherr plötzlich geworden war, wie aufmerksam er Jennas Geschichte folgte. Suchte vielleicht auch er nach Schwachstellen? Um seine Kontrolle auszuweiten? Oder beobachtete er ihn, um seine Gedanken erahnen, sein geplantes Vorgehen vorhersehen zu können? „Genau. Danke“, richtete Jenna kurz an ihn, ehe sie sich wieder ihrem Gast zuwandte, „Die Nerven würden wieder kaputt gehen. Aber es gäbe mir einige Jahre, um… naja, um mehr Geld zu beschaffen. Ein dritter Arm könne dabei sicherlich praktisch sein, meinte er. Ich… ich wusste nicht ganz, was ich machen sollte. Mir war zum Heulen zumute. Also gab ich ihm das ganze verdammte Geld und… ließ ihn machen. Es wurde, nach und nach. Der Prozess war teilweise schmerzhaft, unangenehm.“ Etwas bemüht verzog Jenna das Gesicht, als sie plötzlich die Hände hob und winkte – mit allen dreien. Rasch jedoch wurde die Anstrengung sichtbar und sie ließ den dritten Arm wieder sinken. „Damit umgehen zu lernen war… schwierig. Es dauerte eine Weile und ich fürchte, diese paar Jahre neigen sich dem Ende. Es wird immer schwerer, ihn zu kontrollieren. Aber… aber eine Zeit lang war es richtig gut! Ich konnte bei den Jongleuren mitmachen! Ich war beim Feuertanz dabei! Die Leute haben gejubelt und die Bezahlung war so viel besser. Natürlich längst nicht genug, als das ich jemals ausreichend Geld zusammenbekommen hätte. Irgendwann waren wir dann wieder in der Nähe Samaras und… Willhelm kam zu Besuch.“ Fast hätte er einschreiten wollen, als sie ihre Hand über die des Hausherrn legte. Es war vermutlich nicht klug, dass sie ihn berührte. Vielleicht agierte seine Magie auf Basis von Kontakt? Falls Magie involviert war – aber Vorsicht schadete ja nicht. „Er war… aufgewühlt. Zornig. Er geriet in Streit mit ein paar Schaustellern, eine Prügelei brach los. Seine sogenannten Freunde flohen rasch. Ich fand ihn zusammengeschlagen im Gras hinter einem unserer Wägen und erkannte ihn zunächst nicht. Ich versorgte seine Wunden… aus Gewohnheit, schätze ich. Als er erwachte, war er schweigsam. Er hatte mich natürlich sofort erkannt. Willhelm hatte sich beim Sturz durch den letzten Faustschlag den Kopf am Wagenrad angeschlagen, und das recht kräftig. Wir kamen nach und nach ins Gespräch und ich erfuhr, dass sein Vater wenige Tage zuvor verstorben war – es gab also niemanden, der ihn abholen würde, niemand, der ihn zurück erwartete. Er blieb ein paar Tage in meiner Obhut, bis wir uns bereit machten, weiterzuziehen. Als der Tag gekommen war…“ Es war befremdlich, Röte in Jennas Wangen ziehen zu sehen. Wie war schlagfertig gewesen, gewitzt. Weil sie es hatte sein müssen. Weil sie hatte lernen müssen, mit dem Hohn und Spott umzugehen. Aber beschämt? Verlegen? Schüchtern? Das hatte sie nie nach außen getragen. „Er erklärte mir, dass er studiere. Sein Vater sei ein Medicus gewesen. Ein… ein Gelehrter der Medizin. In diesen Breiten kein sehr angesehener Fachstand, deshalb habe er viel Zeit mit Reisen verbracht, um Werke und Wissen aus aller Welt zusammenzutragen. Willhelm teilte die Faszination seines Vaters für die Vorgänge in unseren Körpern und für deren Aufbau. Mit seines Vaters Tod hatte er dessen Besitz und Vermögen geerbt, er… er bot mit an, bei ihm zu bleiben. Er bot mir an, nach einem Weg zu suchen, wie er mir helfen könne. Ich vermute, ich muss in den Tagen, die ich mich um ihn kümmerte und mit ihm sprach, dann und wann erwähnt haben, was mit dem Magier geschehen war. Willhelm meinte, dass Magie praktisch sei – für jene, die sie haben. Für alle anderen sei sie hauptsächlich teuer und beängstigend, mitunter völlig zu Recht. Ich… ich willigte ein. Viel Zeit zum Überlegen hatte ich ja nicht. Und der Zirkus zog ohne mich weiter. Ich gebe zu, am Anfang war es schwierig. Die Leute gafften und starrten. Es war wie damals in meinem Heimatdorf. All das, was mir damals einen Grund gab, überhaupt erst zum Zirkus zu gehen, kam hier wieder auf. Aber diesmal… hatte ich ihn. Ich war nicht mehr als ein fremdes Weib, das in einem Haus wohnte – und dennoch stellte er sich vor mich. Er schützte mich. Geld und Ansehen können Gerüchte und Geschnatter nicht verstummen lassen – aber sie können die Lautstärke derer beträchtlich drücken. Mit den Jahren wurde mehr daraus. Er trieb seine Studien voran und ich… ich empfand irgendwann mehr als nur Dankbarkeit für seine Mühen. Und vor zwei Wochen…“ Jenna hob ihre linke Hand und deutete auf ihren Ringfinger. Dem Namen gebührend, saß daran ein fein gearbeitetes Silberband. Vhrengal jedoch wusste damit nichts anzufangen. Einen Moment wankte Jennas Lächeln, ehe sie schmunzelnd den Kopf schüttelte. „Du bist so ein Banause, Fledderohr! Das ist ein Verlobungsring! Am Ringfinger der linken Hand trägt man den Verlobungsring und am Ringfinger der rechten Hand den Ehering. Er hat mir einen Antrag gemacht, er… er hat mir ein Eheversprechen gegeben!“ Die Tragweite dieses funkelnden kleinen Schmuckstücks wurde ihm erst nach und nach bewusst. Wie es schien… stand alles noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Es ging nicht um Magie. Vermutlich. Nur, weil Willhelm offiziell eine anti-magische Haltung vertrat, konnte er nicht dennoch ein Hexer oder Teufelspaktierer oder sowas sein? Oder magische Artefakte benutzen? Für den Moment wahrscheinlicher erschien ihm jedoch tatsächlich, das es alles übler war: Alchemie! Er hatte gehört, was Ninafer alles in ihren Regalen stehen hatte. Was sie zu mischen fähig war. Es war beängstigend. Wenn Willhelm nur einen Bruchteil dessen konnte, was man sich über Ninafer so erzählte… dann könnte er Jenna mühelos manipulieren. Sogar ohne ihr Wissen. Selbst ohne die Macht der Alchemie könnte er sie einfach um den Finger gewickelt haben. Vielleicht nicht unbedingt mit seinem unbestechlichen Charme – denn der existierte nicht -, aber Jenna war… ein gutes Mädchen. Sie hatte ein offenes, großes Herz, voller Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Dolche Dinge waren Schwachstellen, die jemand mit genug Geschick und Intelligenz auszunutzen wusste. Jemand mit genug Durchtriebenheit. Unweigerlich rutschte Vhrengals Blick zu Willhelm herüber. Der hatte inzwischen seine Nachspeise geleert und legte das Besteck bei Seite. „Das war vorzüglich“, wandte er sich an seine Verlobte, „Ich… fürchte, ich werde mich vorzeitig entschuldigen müssen. Ich habe noch… noch etwas zu erledigen. Ich sehe dich dann später?“ Bevor sie wirklich zu einer Widerrede ansetzen konnte, drückte er ihr einen Handkuss auf und erhob sich. Noch bevor er den Raum verlassen hatte, war eine Schar Bediensteter herbei und räumte das Geschirr ab – Vhrengal wusste nicht einmal zu sagen, woher die plötzlich gekommen waren. Jenna hingegen sah Willhelm seufzend nach, widmete sich dann jedoch wieder ihm und ihrem inzwischen nur noch lauwarmen Essen. „Wie ist es dir ergangen?“ Fünf Worte. Das genügte für den Moment völlig. Es brachte ihn ins Stocken. Wollte er Jenna wirklich erzählen, wie viele Dienstherren er als Sklave durchlaufen hatte? Dass er nochmals in einem Zirkus gelandet war, in dem es jedoch sehr viel unangenehmer zuging? Wollte er ihr, die für den Moment glücklich schien, wirklich seine finsteren Verdächtigungen präsentieren? Sie vor einer Gefahr warnen, die sie vermutlich gar nicht wahrhaben wollen würde? Wollte er ihr erzählen, was er im Moment tat? Und für wen er es tat? „Gut“, hörte er sich selbst erwidern, bevor er sich für irgendeine Antwort entschieden hatte. Er sah Jennas Braue dabei zu, wie sie höher und höher kletterte, der Löffel mitten in der Bewegung auf halber Strecke eingefroren, bis sie plötzlich herzhaft zu lachen begann. Gut?, rügte der Halbork sich selbst. Das war lächerlich. Es war dämlich. Er war kein Genie im Lügen, aber das war sogar für ihn eine miserable Leistung gewesen! Was hatte er sich dabei nur gedacht?! Nun… offensichtlich nichts, ja. Statt weiter nachzubohren, begnügte sie sich damit, kleine Anekdoten aus der alten Zeit mit ihm auszutauschen. Eine Weile lief das gut, aber in Vhrengal wuchs die Unruhe. Warum hatte sich Willhelm vorzeitig verabschiedet? Und vor allem: Wohin war er verschwunden? Was tat er, jetzt, in diesem Moment? Was, wenn er seinen Untergang vorbereitete? Oder Jennas Untergang? Oder ihrer aller Untergang? Er musste gestoppt werden. Nicht irgendwann. Nicht heute Nacht, nicht nach dem Essen. Jetzt. „Ich… bin gleich wieder da. Das Klo ist… wo?“, entschuldigte er sich und stand auf. Jenna beschrieb ihm den Weg, rief ihn jedoch beim Namen, als er die ersten Schritte trat. Abrupt hielt er inne und sah zu ihr zurück. „Fledderohr, du bist hier nicht in der Wildnis. Kein Bär wird sich anschleichen und dir ein Stück Bäckchen aus dem Allerwertesten beißen, während du unachtsam bist.“ Über die Rüge irritiert, starrte er sie lediglich an – bis sie seufzend den Blick senkte. Ihrem Beispiel folgend, starrte er schließlich auch auf den Zweihänder, den er mit sich genommen hatte. „Den wirst du auf dem Klo nicht brauchen. Und niemand wird ihn dir stehlen. Versprochen.“ Aber natürlich. Seine Ausrede war lausig gewesen. Schon wieder. Nur was sonst hätte er vorbringen sollen, um sich sofort zu entfernen und seine Waffe behalten zu können? Seine Waffe? Vhrengal wurde sich des nicht unerheblichen Gewichtes bewusst, einmal mehr, das er tagtäglich mit sich trug. Lächelnd und eine Entschuldigung nuschelnd legte er den Zweihänder wieder auf den Stuhl und folgte zunächst der Wegbeschreibung – denn noch immer hatte er diverse Dolche dabei, zwei Wurfäxte am Gürtel hängen und steckte in seiner neuen Rüstung. Auch im waffenlosen Nahkampf war er noch immer recht gut, falls es darauf ankam. Und sollte Willhelm wirklich mit Alchemie arbeiten… dann war ‚Luft anhalten‘ vermutlich sowieso seine beste Taktik. Magie dagegen… Magie war immer problematisch. Magie war billig. Schummeln. Magie machte einen Kampf unfair. Deshalb bedienten sich so viele so gern ihrer. Warum sollte man fair kämpfen und Ehre beweisen, wenn man stattdessen einfach gewinnen könnte? Denn wie sagte der Volksmund so schön: Sieger schrieben die Geschichte.   Es dauerte einen Moment, aber er fand, was er suchte. Irre Magier waren so berechenbar. Genau wie irre Alchemisten oder gewöhnliche Irre. Wenn es nicht der Dachboden war – und das Haus hatte von außen nicht gewirkt, als gäbe es einen angemessen gruseligen Dachboden -, dann waren es die Keller. Es hatte tatsächlich mehrere Türen gegeben, die zu Treppengängen nach unten führten. Aber nur eine dieser Türen war mit drei Schlössern gesichert und abgesperrt. Vhrengal betrachtete die Tür sehr eindringlich. Sie wirkte gut gezimmert. hübsch verziert, wie alles im Haus. Vermutlich bestand sie aus edlem Holz. War mehr wert als er in seinem ganzen Leben je an Geld gesehen hatte. Aber was interessierte ihn das Holz oder die Verzierungen?! Wie kam er hindurch – das war die Frage! Hätte er bei Alistair nur besser aufgepasst. Aber dieses enervierende kleine Plappermaul teilte seine Kenntnisse und Tricks nur ungern. Er quasselte viel. Sehr viel. Ununterbrochen, teilweise. Und die Hälfte davon war nutzloser Blödsinn. Und wann immer es um Demonstrationen ging, stand, hockte, kniete, saß oder lag er meist zufällig so, das ein oder zwei nicht ganz unerhebliche Details verdeckt blieben. Er gab genug Wissen weiter, dass man die Grundlagen erlernen könnte, aber nie genug, dass man ihm tatsächlich Konkurrenz machen könnte. Eigentlich gar nicht blöd… Nun, Alistair hatte er nicht dabei und die Schlösser sahen nicht nur ziemlich solide aus, sondern auch sehr kompliziert. Also versuchte Vhrengal es mit einer Taktik, die ihm sehr viel eher lag. Eine, die Thorin mal empfohlen hatte. Wann immer ihr mal keinen selbsternannten Meisterdieb parat habt und es schnell gehen muss. Er holte kräftig Schwung und ließ den mit Einlagen beschwerten Stiefel wuchtig gegen die Tür hämmern. Die ersten zwei Schlösser sprangen aus der Fassung, Metall verzog sich. Unter dem zweiten Tritt sprang die Tür auf, kleine Holzteile barsten aus Tür und Rahmen, eine Schraube flog einen halben Meter weit und landete fast geräuschlos auf dem Teppich. Das… würde nicht lange unbemerkt bleiben, das war dem Halbork natürlich völlig klar. Eilig trat er die beleuchteten Stufen herab in einen isolierten Kellerraum. Ein Vorraum, so schien ihm. Kisten standen herum und Fässer, Regale voller Schübe. Es roch nach Chemikalien, ganz wie in Ninafers Arbeitsstube. Wie er es befürchtet hatte! Er riss die Tür zum nächsten Raum auf, auf das Schlimmste vorbereitet, die zwei Wurfäxte in den Händen und bereit, jede Monstrosität zu bekämpfen, vor geworfenen Bomben wegzurollen oder in den Kampf mit Willhelm zu springen. Nur gab es davon nichts. Gar nichts. Keine Monster. Auch keine Bomben, Nebel oder kampfbereite Feinde. Stattdessen schrak Willhelm zusammen und ließ fluchend ein dünnes Glasröhrchen fallen. Es zerschellte am Boden – kein Säuredampf stieg auf, kein merkwürdiger Nebel, einfach nur eine Flüssigkeit zwischen Glasscherben. Der Hausbesitzer hingegen wirbelte herum und fixierte ihn erbost, währen Vhrengal sich im Raum umsah. Viele Tische. Viele Regale, Schränke, Schübe. Noch mehr Fässer und Kisten. Der chemische Geruch war durchdringend. Überall Glaskolben. Röhrchen. Seltsame Apparaturen. Ein Tisch mit eingetrockneten Blutresten. Ein Tischmopp im Eimer in einer Raumecke. Er war eindeutig in das Laboratorium eines Wahnsinnigen gestolpert! Was mochte dieses kranke Schwein hier unten wohl treiben? Wollte er wirklich wissen, wessen Blut da am Tisch klebte? Oder von wie vielen Opfern sich hier noch Blutspuren finden lassen würden? „Bist du völlig verrückt geworden?“, fauchte Willhelm ihn an, „Du kannst doch nicht einfach hier einbrechen! Sieh nur, was du getan hast, du nutzlose Missgeburt!“ Zornig fluchend und Verwünschungen speiend… ging der Hausherr nicht etwa auf ihn los, sondern suchte Tücher zusammen, um den gefliesten Boden von Scherben und Flüssigkeitsresten zu befreien. „Deinetwegen muss ich jetzt von vorne anfangen, das wirf mich um zwei Wochen zurück!“ Noch immer kampfbereit in der aufgerissenen Tür stehend, begriff Vhrengal nicht recht, was hier vor sich ging. Sollte… Willhelm ihn jetzt nicht eigentlich angreifen? „Huch…? Was ist denn hier passiert?!“, hörte er obendrein Jennas Stimme von oben und, rasch darauf, ihre Schritte auf der Treppe. Seine Entschlossenheit zusammenkratzend, trat er in den Raum und etwas zur Seite, damit auch sie Einlass in dieses geheime Laboratorium finden würde. „Deine Tage sind gezählt“, zischte er Willhelm zu, „Du wirst ihr nichts antun.“ „Antun? Was… wovon sprichst du über-“ „Nanu?“, erklang da schon Jennas Stimme in der Tür. Verwundert trat sie ein und wandte sich an Vhrengal, „Was machst du in Willhelms Arbeitszimmer?“ „Ich fand sein Versteck und-… Arbeitszimmer?“ Irritiert starrte er Jenna an. Nein. Nein, das… das durfte nicht sein. Wusste sie hiervon? Hatte er sich verschätzt? Alles falsch eingeschätzt? Götter, steht mir bei…! Hatte er sich von seiner Nostalgie blenden lassen, von der alten Freundschaft, an die er sich zu erinnern glaubte? War sie beteiligt an diesem Treiben? Etwas blasser werdend, rückte der Halbork von seiner vermeintlichen Freundin ab, die Waffen wieder ein wenig hebend. Jenna hingegen hob ihrerseits beschwichtigend die Hände. „Vhrengal, leg die Äxte weg, bitte.“ „Nein… nein, das… das darf nicht sein… du… ihr macht das gemeinsam… ihr steckt da beide drin…!“, krächzte der Krieger ungläubig. Seine Stimme schien ihm den Dienst zu versagen, während ihm der Kummer die Kehle zuschnürte. Wie hatte er sich so irren können? Wie hatte er diesem Unsinn aufsitzen können? War es nicht offensichtlich gewesen? Die Kleider, das Benehmen, einfach alles? Was, wenn man ihn hierher gelockt hatte? Was, wenn nichts davon wirklich Zufall gewesen war? „Vhrengal, ich kann dir alles erklären, aber bitte leg die Äxte weg!“ „Nein!“, brüllte er zurück, die Waffen drohend erhoben. Sein Blick verschwamm leicht. Er… er konnte doch nicht einfach Jenna erschlagen. Willhelm, sicherlich. Problemlos und ohne mit der Wimper zu zucken. Aber nicht sie. Gute Götter, doch nicht sie! „Vhrengal Fledderohr, du wirst sofort die Äxte weglegen!“, fuhr Jenna ihn sichtlich erbost an. Der Krieger zuckte zusammen, als sei er einmal mehr geschlagen worden. Und war dem nicht auch so? Er war geschlagen. Sprichwörtlich. Der Feind hatte gewonnen. Er hatte ihm einen Gegner entgegen geschleudert, den er nicht bezwingen konnte – einfach nur, weil er es nicht wollte. Entmutigt ließ er die Äxte sinken. Jenna trat näher an ihn heran und Vhrengal… fügte sich dem Unausweichlichen. Zunächst nahm sie ihm nur die Waffen ab, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Schlimmeres folgen würde. „Du… du hast mein Mitgefühl, Fledderohr“, erklärte sie leise. Er wagte nicht aufzusehen. Hörte nur, wie Willhelm näher kam. Zu Jenna trat. „Sieh mich an, Vhrengal. Bitte.“ Nur langsam hob er den Blick. Es machte ihn fast krank, was er sah. Der Arm dieses Scheusals lag um ihre Schultern. Sie lehnte leicht gegen ihn… und lächelte dabei. Tief seufzend setzte sie neu an. „Das hier ist Willhelms Arbeitszimmer. Ich sagte dir doch: Er interessiert sich für Medizin. Er forscht hier unten. Viele der Mittel, die er benutzt, sind giftig. wir haben eine Schar Hunde, ein paar Katzen und irgendwann sicherlich auch Kinder. Niemand sollte aus Versehen Schaden nehmen. Deshalb ist die Tür immer zu und abgeschlossen.“ Es war dieser Moment, an dem sich auch Willhelm einmischte. „Ich versprach Jenna, das ich ihr einen Antrag mache, sobald ich einen Weg gefunden habe, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. Vor einigen Wochen gelang mir der Durchbruch. Ich habe jetzt eine Formel, mit der ich eine Lösung herstellen kann, die mir ermöglichen wird, ihren dritten Arm gefahrlos zu amputieren. Die Lösung hätte nur noch vier Tage ruhen müssen…“ Zorn mischte sich letztlich wieder in Willhelms Stimme, als er zu seinen Apparaturen zurück blickte, „Sie wäre zu ihrem Geburtstag fertig gewesen. Jetzt muss ich von vorne anfangen!“ Jenna legte ihre Hand auf die Seine. „Schhht. Schon gut. Ein paar Tage Warten bringt mich nach all den Jahren nicht um. Er meinte es gut, da bin ich mir sicher.“ Wieder blickte sie zu ihrem Jugendfreund. „Das ist, wovon ich schon immer geträumt habe, Vhrengal. Die Chance auf ein normales Leben. Du siehst in ihm den Jungen, der Steine nach dir warf. Vielleicht siehst du sogar all jene in ihm, die Steine nach dir warfen. Aber er war damals jung. Er machte Fehler. Und er wurde klüger, als er aufwuchs. So wie wir alle. Was… was ich sagte, meine ich auch so. Du hast mein Mitgefühl, Vhrengal. Weißt du noch, wie es war? Damals im Zirkus? Wir wachten auf und fragten uns, was es wohl zum Abendessen geben würde. Wir fegten die Käfige, räumten den Mist weg. Stickten Kleider, wuschen Tiere, reparierten die Wägen. Erinnerst du dich noch, wie es ist, ein alltägliches Leben zu führen? Wie es ist, dir diese Fragen zu stellen? Was es zum Abendessen wohl geben wird? Und wann man am besten welchen Käfig fegt?“ „Ich habe nicht gescherzt“, mischte sich Willhelm erneut ein, „Es ist ein schönes Schwert. Und eine schöne Rüstung. Ich erkenne Qualität, wenn ich sie sehe. Und ich will nicht, dass du Teil unseres Lebens wirst. Oder wieder Teil von Jennas Leben wirst, wenn ich offen bin. Entweder stehst du in Diensten von jemandem, der dich in bestmöglicher Ausrüstung braucht, oder du bist für Leute unterwegs, die dir ein kleines Vermögen für deine Dienste zahlen. Beides bringt eine Art von Chaos mit sich, die ich nicht in unserem Leben haben will. Du würdest sie nur in Gefahr bringen, über kurz oder lang. Ob du das willst oder nicht. Leute wie du haben Feinde und diese Feinde sind immer auf der Suche nach Schwachstellen, die man ausnutzen kann.“ Als hätte Willhelm sich gar nicht eingemischt, fuhr Jenna direkt darauf fort. „Welche Fragen, muss ich mich wundern, stellst du dir dieser Tage, Fledderohr? Welches Monster du heute erschlagen gehst? Wie viele Räuber und Banditen sich dir diesmal in den Weg stellen werden? Wie viele Wachen du morgen bekämpfen wirst? Erinnerst du dich überhaupt noch daran, wie viele Tote du zurückgelassen hast? Wie viele Leben du beendet hast? An ihre Gesichter? Kanntest du überhaupt ihre Namen? Beschäftigt dich, ob sie Familie hatten? Ob daheim nun Frauen um ihre Männer trauern? Oder dumme, zornige Söhne Rache schwören? Ob du einer alten Mutter das Herz brichst? Erinnerst du dich an den Zirkus, als wir im Gras lagen, zu den Wolken aufsahen und überlegt haben, was wir später einmal werden wollen? Wie wir uns unsere Zukunft ausgemalt haben? Ich… ich wünsche dir von ganzem Herzen, das du findest, was du suchst. Ebenso, wie ich mir selbst von ganzem Herzen wünsche… das es kein Weg voller Tod, Blut und Gewalt ist. Wer sich mit Toten umgibt, hat mein Vater immer gesagt-“ „-wird sich ihnen schneller anschließen als alle anderen“, beendete Vhrengal mit belegter Stimme. Er kannte die Weisheit. Früher, im Zirkus, hatte Jenna nur selten Notwendigkeit gehabt, sie zu zitieren. Meist, wenn einer der Schausteller auf die glorreiche Idee kam, als Abenteurer auszuziehen, immerhin hatte er seine Ersparnisse erfolgreich für ein schartiges Schwert ausgeben können. Es war… schmerzhaft. Mehr als er in Worte zu fassen wusste. War dies, was es hieß, sich mit seiner Vergangenheit zu befassen? War dies der Moment, die ihm dargebotene Chance, um damit Frieden zu schließen? Falls dem so war: Wie, bei allen Göttern und Geistern, konnte Tokhtora mit diesen Schmerzen leben…?   Als Vhrengal wenig später das Anwesen verließ, trugen seine Schritte ihn beinahe mechanisch nordwärts, tiefer in den Stadtkern Samaras hinein. Er fühlte sich seltsam betäubt. Eine nagende Leere schien ihn in rasantem Tempo auszuhöhlen. Mit sich trug er ein neues Schwert. Aber es hatte deutlich an Glanz verloren. Und die neue Rüstung wog seltsam schwer auf seinen Schultern.   Welche Fragen, muss ich mich wundern, stellst du dir dieser Tage, Fledderohr? Welches Monster du heute erschlagen gehst? Wie viele Räuber und Banditen sich dir diesmal in den Weg stellen werden? Wie viele Wachen du morgen bekämpfen wirst? Erinnerst du dich überhaupt noch daran, wie viele Tote du zurückgelassen hast? Wie viele Leben du beendet hast? An ihre Gesichter? Kanntest du überhaupt ihre Namen? Beschäftigt dich, ob sie Familie hatten? Ob daheim nun Frauen um ihre Männer trauern? Oder dumme, zornige Söhne Rache schwören? Ob du einer alten Mutter das Herz brichst? Kapitel 46: Folter ------------------ Das fahle Licht des Halbmondes fiel durch die Fenster, flutete in regelmäßigen Abständen den Korridor. Dank dessen und natürlich des reich bestückten Sternenhimmels war es unnötig, einen Kerzenhalter mit zu tragen. Sein Blick glitt über Gemälde an den Wänden, mehrheitlich Landschaften, die in der neuen Beleuchtung einen teilweise geradezu unheimlichen Glanz entwickelten. Die Gewohnheit selbst war es, aus alten Tagen noch überlebend, die ihn auf halber Länge des Korridors dazu veranlasste, ein paar der eingestaubten Schritttechniken auszuprobieren. Die Ohren gespitzt, lauschte er auf das kaum wahrnehmbare Geräusch der Sohlen seiner Schuhe auf dem dicken Teppich, bei jedem einzelnen Schritt, jedem Aufsetzen – fast nicht hörbar. Doch mit den alten Techniken… wurde es tatsächlich völlig still im Gang. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf die gealterten Lippen. Er hatte es immer noch drauf! So viel Zeit vertrödelte er abgelenkt von seinen Spielchen, dass er die Veränderung nicht sofort mitbekam. Erst als es immer schwerer und schwerer wurde, die Umrisse seiner Schuhe zu sehen, blieb er die Stirn runzelnd stehen und starrte auf den Teppich und sein hübsches, eingeflochtenes Muster herab. Es wurde dunkler, oder? Es war Nacht. Es sollte dunkel sein. Die Nacht sollte nicht dunkler werden können. Sein Blick wanderte zum Fenster, seine Füße trugen ihn rasch dorthin. Eine selbst gegen den Nachthimmel beeindruckend aussehende Wolkenfront war aufgezogen. In der Ferne konnte er gelegentlich etwas hell aufzucken sehen, inmitten des Sturms, der sich dort oben zusammenbraute und nicht nur das Licht der Sterne geschluckt hatte. Nein, seine weitesten Ausläufer erreichten bereits jenen Teil des Himmels, den der Mond für sich beansprucht hatte und ohne seine volle Kraft… nun, selbst ein Vollmond wäre dieser brachialen Gewalt wohl nicht gewachsen gewesen. Gewitter. Blitze. Vermutlich Regen. Jede Menge Regen. Dem Land täte es vermutlich gut, es hatte nun ein paar Wochen nicht geregnet und allmählich fingen selbst die Sonnenscheingemüter an, darüber zu rätseln, ob das der nächsten Ernte so gut bekäme. Er hingegen, gewissermaßen als König der Sonnenscheingemüter… und obendrein als feldwirtschaftstechnischer Einfallspinsel, blieb von dergleichen Bedenken gänzlich verschont. Ein anderer Gedanke hingegen kam ihm und ließ seine Füße einmal mehr dem Kopf folgen, bevor der sich überhaupt entschieden hatte, ob er Gefolge haben wollte. Leise und langsam schlich er fast schon durch das Haus hinüber in den Westflügel. Ein Haus mit Flügeln. Früher hatte er Witze darüber gerissen, was für absurde Bilder seine Vorstellungskraft ihm dazu lieferte. Heute… waren ihm dazu die Witze ausgegangen. Immerhin lebte er in einem und… begriff nun, warum man davon sprach. Es war gewaltig, einfach gigantisch. So viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. So viel Platz, den man mit allem möglichen Krempel vollräumen konnte. Oder den man von Krempel befreien könnte. Man hätte sich hier wunderbar verlieren können, sich auf Tage nicht wiederzufinden vermocht. An manchen Tagen – den wenigen, an denen er zuließ, sich miserabel zu fühlen – kam ihm das Haus zu groß vor, viel zu groß. Und leer. Und einsam. Und andere Dinge, für die er mitunter nicht immer Worte fand. Dann wiederum: Es war ganz wunderbar, um verstecken zu spielen! Mit dem sterbenden Licht des Nachthimmels in völliger Dunkelheit zurückgelassen, hätte jeder vernünftige Geist nun zweifellos ein paar Kerzen entzündet. Oder wenigstens die Magd geweckt. Aber die hatte er nicht grundlos ins Bett geschickt! Olle Spielverderberin. Immer nur am Zetern. Man schwingt nicht am Kronenleuchter herum! Man spielt nicht mit dem Essen - oder baut–damit Gemälde nach… auf den echten Gemälden! Man spielt nicht verstecken, wenn Arbeit ansteht – und jetzt lest bitte die Briefe und antwortet! Vermutlich ging er ihr mindestens ebenso sehr auf die Nerven wie sie ihm. Aber an manchen Tagen, da hatte sie dieses Lächeln. Diesen tief, wirklich absurd tief in ihrem Wesen vergrabenen, hinter Pflichtbewusstsein, der Heuchelei von Erwachsensein und Etikette versteckten Schalk in den Augen. Er wusste es einfach: Sie genoss es! Zugegeben, vermutlich nicht immer. Vermutlich fast nie. Aber doch dann und wann genug, das sie es weiterhin, seit nunmehr vier Jahren, mit ihm unter einem Dach aushielt. Sie hatte sich nie bei der Dame des Hauses über ihn beschwert. Sie hatte sich nie bei sonst irgendwem über ihn beschwert, außer bei ihm selbst. Und sie hatte nie einfach kochend rot angelaufen ihre Koffer gepackt und war verschwunden. Anders als die Mehrheit der siebzehn Mägde zuvor. Einen Kerzenständer wiederum mitzunehmen wirkte so… unnötig. Er kannte das Haus, kannte es gut. Genauer gesagt, er kannte jeden Winkel in- und auswendig! Nichts konnte ihn hier überraschen, nichts konnte ihn hier behindern. Selbst völlig blind würde er einfach- Ein leiser Fluch drang durch den langen Korridor. Und in fast völliger Dunkelheit hüpfte eine Gestalt bemüht auf einem Bein herum, fest auf die Lippen beißend, um ihr nicht die Genugtuung zu geben, ihn fluchen zu hören. Sie hatte den Tisch von der Wand abgerückt. Schon wieder. Sie hatte natürlich unmöglich wissen können, dass er heute Nacht hier entlangkommen würde. Unmöglich. Aber sie hatte darauf spekuliert, nicht wahr? Hatte sie das Gewitter vorhergesehen? Gewusst, das es zu dunkel sein würde, um ihre Hinterhältigkeit zu bemerken? Hatte sie die Wolken überhaupt erst gerufen?! Eine Hexe. Das musste es sein. Eine boshafte, spielverderberische, seinen Zeh mit fiesen Schmerzen malträtierende Hexe, die ihn mit Kleinigkeiten in den Wahnsinn treiben wollte. Oder sich rächen wollte, genau! Rache! Aber halt… Rache war üblicherweise nicht das Motiv für Hexen, die wollten eher Kinder fressen und Prinzessinnen entführen, damit ihre Hausdrachen auf sie aufpassen konnten, in irgendwelchen alten, überwucherten, halb zerfallenen Wochenend-Schlössern. Was so eine Prinzessin wohl davon hielt, wenn sie, frisch entführt, aufwachte, und ihr erstmal der kondensierte Morgennebel durch die Löcher im Dach ins Gesicht tropfte? Fast lautlos kichernd war der Schmerz in seinem gestoßenen Zeh fast vergessen. Er hörte auf, wild herum zu hüpfen und neue Verfluchungen zu ersinnen, die er lautlos hinausbrüllen konnte. Stattdessen sah er sich einen Moment um – natürlich ohne irgendetwas tatsächlich sehen zu können. Weshalb war er nochmal hier…? Gewiss einige Herzschläge lang stand er dort, rätselnd, ehe es ihm einfach zu langweilig wurde. Die Schultern zuckend, setzte er seinen Weg fort. Vielleicht würde ihm unterwegs ja wieder einfallen, was er in diesem Teil des Hauses gewollt hatte. Dem war zwar nicht so, aber er entsann sich immerhin neuer Möglichkeiten! Oder eher… Notwendigkeiten. Aber das klang immer so nach Verpflichtung, nach dem unausweichlichen Ende allen Spaßes. Die Tür war rasch gefunden, lautlos geöffnet und ein Blick ins Innere riskiert. Kein Licht, das in seinem Rücken hinein fiel und sich zwischen seinen Beinen hindurch heimlich ins Zimmer jenseits des schmalen Türspaltes schlich. Und dennoch… wurde er bereits erwartet. Vielleicht hatte er es doch nicht mehr drauf? Oder zumindest nicht so gut, wie er glaubte? Gewiss nicht so gut, wie früher. Oder war das hier einfach nur den Umständen geschuldet? Spürte sie, dass das Gewitter kam? „Guten Abend, Mylady“, grüßte er in maßlos übertriebener Pose, verneigte sich tief genug, das er fast den Teppich in der Nase spürte und, wichtiger noch, beinahe vornüber gekippt wäre, ehe er sich hastig wieder aufrichtete – und mit dem Hinterkopf gegen die verflixte Zimmertür donnerte. Zu viel Schwung… Unter einem leisen Zischen rieb er sich den Hinterkopf, natürlich begleitet von amüsiertem Gekicher. Natürlich. Es ging ja nichts über die Erheiterung und Belustigung, gewonnen aus dem Schmerz anderer. Tze! Immerhin geistesgegenwärtig genug, schloss er die Tür hinter sich und trat durch den Raum. Er kannte das Haus blind, jeden Schrank, jedes Gemälde, jeden Wandteppich, jeden Tisch. Sofern die keiner verrückte. Was war die Steigerung von blind? Gab es sowas? Blinder? Er kannte dieses Zimmer, aus allen im Haus, noch viel blinder? Das klang irgendwie seltsam. „Die Dame sollte längst schlafen, zu solch später Stunde, immerhin… ist es… spät.“ Was für eine geistreiche Begründung! Peinlich berührt räusperte er sich kurz, empfing als Signal, das seine Rüge gehört worden war, jedoch nur eine herausgestreckte Zunge. Das konnte er ja wohl unmöglich einfach so im Raum stehen lassen! Frechheit! Blasphemie! Häresie! … was hieß das Letzte nochmal? Egal! Es war was Böses! „Junges Fräulein, wenn du nicht sofort ein wenig mehr Manieren zeigst, wie man sie dir beizubringen versucht, dann-“, hob er in einem wirklich bemühten Versuch, rügend und lehrend und weise zu klingen an – doch einmal mehr wurde er lediglich sabotiert. Oder viel weniger sabotiert, als ignoriert. Sein Publikum, gegenwärtiges Ziel seiner Predigt, verdrehte lediglich die Augen. Das wurde ja immer schlimmer! Jetzt wurde schon seine Autorität unterwandert! Im eigenen Haus! Eine Braue wanderte in die Höhe, die Mundwinkel leicht herab. Er hatte dieses Gesicht oft genug gesehen, diesen missbilligenden Blick. Üblicherweise war er gegen ihn gerichtet worden, aber was die konnten, konnte ja schwerlich schwierig zu imitieren sein. Dachte er zumindest. Für ein paar Augenblicke. Ehe ein heiteres Lachen erklang. Soviel dazu. Dann eben härtere Maßnahmen! Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen und den Kampf ernst zu nehmen! „Fein. Da du ja offensichtlich keinerlei Interesse an deiner geistigen Gesundheit oder Straffreiheit hegst, bekommst du, was du provozierst. Hmmm…“ Den Ton in die Länge ziehend, sann er nach. Etwas, womit man sie quälen könnte. Etwas, das dafür sorgen würde, dass sie sich in Unwohlsein und Agonie krümmte, wand und wälzte, ohne wirklich entkommen zu können. Etwas, das brutal und grausam war, ohne gleich direkt brutal und grausam zu werden. Etwas, das- Uh. Perfekt. „Ich habe dir nie erzählt, warum du froh sein kannst, das es dich überhaupt gibt, nicht?“, deutete er mit einem immer wölfischer und gehässiger werdenden Grinsen an. Oh er freute sich auf diesen Moment. Da war er! Er konnte es sehen. Die Augen wurden größer. Starrten ihn gebannt an. Das Grauen zog darin herauf. Panik, Hysterie, blanker, nackter, unverfälschter Horror… Hehe… nackt… Kurz schüttelte er den Kopf. Fokus! „Das begann viele, vieeele Jahre zuvor“, begann er und setzte sich etwas bequemer neben das Bett, „Naja um genau zu sein, es begann immer mal wieder und endete zwischendrin auch ein paar Mal. Also, es begann das erste Mal vor vielen Jahren. Ich war sehr viel jünger. Nicht so weise und erwachsen und verantwortungsbewusst, wie ich heute bin. Damals – oh, wir sind übrigens in Samara, gedanklich. Also damals war ich frisch rekrutiert worden. Für Thorins kleinen Rebellenaufstand. Dummerweise hatte mir das nur keiner gesagt. Es hieß immer nur: Ich tue euch einen Gefallen, ihr tut mir einen Gefallen, wir sind quitt. Dann begegnete ich jemandem von früher, also noch weiter früher, unterhielt mich eine ganze Weile mit ihr und die Dinge änderten sich irgendwie. Ich war mir nicht mehr so sicher, wo ich nun eigentlich hingehörte. Viele Jahre meines Lebens war ich ziellos herumgezogen und als ich dann endlich ein Ziel gefunden hatte, bestand es darin, jemandem nachzulaufen. Nicht unbedingt die beste Entscheidung, wie ich inzwischen zugeben muss. Aber gut, so ist das vermutlich, wenn man das erste Mal verliebt ist. Hm. Wirklich das erste Mal verliebt war ich auch nicht, es war nur… das erste Mal, dass es erwidert wurde. Das erste Mal verliebt war ich, als ich-“ Ein Lächeln brachte ihn aus dem Takt. So breit, dass man glauben könnte, die Sonne ginge auf, strahlend wie das Morgenrot. Und so… neckisch. Sie wusste genau, dass er schon wieder dabei war, den Fokus zu verlieren und wirr daher zu schwatzen. Sie wusste es. Sie war so knapp davor, der grässlichen Strafe zu entkommen. Aber ohhh nein, nicht diesmal, nicht so leicht! Er würde sich konzentrieren, mit all seiner nicht sonderlich erheblichen Willenskraft, er würde jedes Quäntchen davon zusammenkratzen. Sie. Würde. Leiden! Einmal mehr räusperte er sich und setzte dann, eine Braue gehoben, fort. „Also ich war in Samara. Frisch angekommen. Man hatte mir nur gesagt, ich solle nach Myron suchen und das tat ich. Irgendwo in den Kanälen unter der Stadt fand ich ihn dann auch. Er war dabei, Rekruten zu trainieren. Im Fernkampf. Ich kam dazu, als er gerade erklärte, warum es Selbstmord wäre, Fernkampfwaffen und –techniken im Nahkampf verwenden zu wollen. Man sollte keinen Pfeil spannen, wenn der Gegner weniger als zwei Meter entfernt stand. Irgendwas von Gelegenheiten, die man dem Gegner zum Angriff bot. War natürlich alles Blödsinn, also habe ich mich eingemischt und erklärt, das ein gut geworfener Dolch jeden möglichen Nahkampf-Gegner ausschalten kann. Wie sich die ganze Lektion entwickelt hat, ist auch nicht so wirklich wichtig. Wichtig ist nur: Sie war da. Oh was haben wir gezankt! Zugegeben, ich konnte erstmal nicht viel hervorbringen. Ich… war ziemlich schüchtern, weißt du? Aber als dieses dürre kleine Langohr versucht hat, mir zu erklären, wie ich meine Kämpfe auszutragen hätte? Heh, da hat sie sich aber direkt ins Wespennest gesetzt! Oh und es hat sooo viel Spaß gemacht, mit ihr zu streiten! Sie hat vernünftige, logische, nachvollziehbare Argumente angebracht. Und am Anfang habe ich ihr den Gefallen getan, das auch zu tun. Aber das war so… so langweilig. Und ich wurde ständig abgelenkt. Von den Grimassen, die ein paar Rekruten hinter Myrons Rücken schnitten. Und von der Tropfsteinformation an der Decke, an der sich ein Wassertropfen direkt über ihrem Kopf sammelte. Ich habe tatsächlich bis zum Ende des Gespräches erwartet, das er fällt, aber nö, natürlich nicht. Spaßbremse. Na jedenfalls – je länger wir da standen und uns zankten, umso röter wurde sie. Wut, glaube ich. Hauptsächlich zumindest. Und sie wurde auch lauter. Und es war sooo… heiß. Heh, das habe ich ihr natürlich nicht gesagt. Also, nicht direkt. Ich schätze, Ashes‘ hat mir schon ganz gut getan, irgendwie. Je länger wir da standen und stritten, umso weniger Spaß hatte ich an Vernunft und Logik und Argumenten. Also begann ich irgendwas zu erwidern, im Brustton der Überzeugung, so als hätte ich ein nahezu unbeugsames Argument vorgebracht, dem sie nichts würde entgegensetzen können. Es hatte immer weniger mit unserem eigentlichen Thema zu tun. Was sie natürlich anmerkte, sie ist ja schließlich ziemlich klug. Was mich allerdings wiederum auch wirklich nicht aufhielt. Und weil mir danach war, begann ich irgendwann mittendrin abrupt einfach Komplimente zu machen. Erst Myron für die wirklich hübsche Farbwahl der Kanäle. Den Blick hättest du sehen müssen! Dann diesem Schrank von einem Kerl – Floran, wie ich später erfuhr – für das hübsche, bestickte Taschentuch, von dem er geglaubt hatte, niemand hätte es gesehen, als er sich die Nase putzte. Und irgendwann eben auch ihr. Vermutlich habe ich einfach was für Elben übrig. Kann’s auch nicht erklären. Es ist jetzt nicht so, als könnte ich sie sonderlich eindeutig von Menschen unterscheiden. Also, sieht man mal von den Ohren ab. Alle sagen immer, wie wundervoll elegant und grazil und makellos schön Elben sind. Blödsinn. Ich habe Ishara nach einem Ausschlag mit mehr Pickeln gesehen als eine Horde Jugendlicher zusammen. Und mich prächtig über sie amüsiert. Ich habe sie gesehen, als sie mit dieser garstigen Lungenentzündung im Bett lag, kaum fähig, den Arm zu heben. Sie sah absolut beschissen aus. Keine Spur von Grazie und Eleganz. Stattdessen hat sie mir in den Schoß gekotzt. Aber… das war halb so schlimm. Damals hatte ich ganz andere Sorgen. Das sie überlebt, hauptsächlich. Und wann die Schatten wieder nur Schatten sein würden. Zu dem Zeitpunkt war mir nicht klar, dass der Kopf einem seltsame Streiche spielt, wenn man zu viele Nächte ohne Schlaf durchzuhalten versucht. War auch eine wirklich blöde Idee, neben ihr einzuschlafen. Sie war zwar auf dem Weg der Besserung, aber wer hätt’s gedacht, eine Woche später hatte ich den Mist an der Backe! Vielleicht sind es wirklich die Ohren. Ich könnte jetzt nicht behaupten, besonders darauf zu achten. Aber man sagt ja ständig, dass das, was man sich denkt, nochmal was anderes ist als das, was der Kopf sich heimlich denkt. Oder so ähnlich. Jedenfalls… hatte ich absurd viel Spaß, sie zu necken. Und sie war so leicht zu necken! Sie hatte selten wirklich etwas zum Kontern parat und selbst, wenn sie etwas fand, fehlte es ihr an Spontanität. Einmal kam sie vier Stunden nach einem Streit an, um mir etwas an den Kopf zu werfen. Mir ließ keine Ruhe, was das sollte und nachdem ich zwei Stunden lang darüber nachgedacht hatte – immerhin war sie ja direkt wieder abmarschiert – fiel mir der Zusammenhang dann auch ein. Sechs Stunden! Für eine Erwiderung! Vermutlich hätte ich damals dankbarer sein sollen. Dieser Tage habe ich meine liebe Müh und Not, sie überhaupt noch in die Ecke drängen zu können. Wie und wann das nun passiert ist, ist mir wirklich ein Rätsel, aber sie ist einfach viel zu schlagfertig geworden. Fast schon gruselig. Manchmal bringt sie ihre Konter, bevor ich ihr die Steilvorlage dafür biete. Aber natürlich dauert es seine Zeit, ehe man vom gegenseitigen Nerven zu mehr kommt. Und ja, gegenseitig. Ich weiß bis heute nicht, warum sie damit anfing, aber irgendwann begann sie, Viecher in meine Kammer zu schmuggeln. Mir ist nicht mal klar, wie. Ich war immer sehr vorsichtig. Erst Recht, nachdem die erste Ratte mich kurz nachdem ich eingeschlafen war, in den Nacken zwickte. Fieses kleines Biest! Und natürlich war sie längst weg, bevor ich sie erwischt hätte. Dann war da der Fledermaussturm. Und die Kakerlaken, die meine Schuhe weggeschleppt hatten. Cyron, der an mir vorbei rannte und meinen Geldbeutel wegschnappte, als ich gerade ihren von ihrem Gürtel schnitt. Oh und- uh… nein. Das nicht. Also, worauf es ankommt: Eine ganze Weile waren wir eher damit beschäftigt, einander Streiche zu spielen. Und zu zanken. Sehr, sehr viel zu zanken. Und einander hinterher zu schauen, wenn wir uns irgendwo trafen. Und uns dann von anderen erzählen lassen, das wir vielleicht einfach miteinander reden sollten. Was meist dazu führte, das wir wieder miteinander zankten. Was dann dazu führte, dass nur noch die Augen gerollt wurden und man uns sagte, wir sollten uns ein Zimmer nehmen. Daraufhin wurde sie meist rot vor Scham und Wut und keifte vor sich hin und ich wurde rot, hauptsächlich vor Scham, und gab irgendwelche kleinlauten schnippischen Erwiderungen und nachdem das dann eine ganze Weile so vor sich hin lief… gute Güte, wir haben wirklich eine ganze Weile gebraucht, was? Zwischendrin hatte Myron uns immer mal auf Missionen geschickt, für den Widerstand und so. War lustig. Wir zeterten und zankten und stritten und arbeiteten ganz wunderbar zusammen. Was wir natürlich niemals zugegeben hätten. Weder einander, noch vor uns selbst. Aber ich glaube, das gegenseitige Provozieren hat damals sogar geholfen. Wir haben einander angespornt. Herausgefordert. Aber nie zu viel, nie zu weit. Wir… hatten irgendwie ein Gespür für die Grenzen, glaube ich. Was, wenn ich so drüber nachdenke, wirklich unfassbar ist. Ein Gespür für Grenzen. Ich. Aber ich hatte es. Manchmal provozierte ich sie und wenn sie dann wirklich Anstalten machte, das umzusetzen, dem nachzukommen und zu beweisen, dass ich falsch lag… dann wurde ich… naja, nicht direkt ernst-ernst. Aber ernster. Und entschuldigte mich. Und sie tat das ebenso. Das waren nicht unbedingt sonderlich angenehme Momente. Aber nachträglich betrachtet, glaube ich, sie waren wichtig. Tja, und irgendwann half uns Ninny. Naja, was man eben so unter Hilfe versteht, sobald Ninafer beteiligt ist. Ich weiß bis heute nicht, was sie gemacht hat. Ich… glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Ich traf Ishara in einem Zimmer, wir redeten sehr kurz und… dann hatten wir das erste Mal unseren Spaß im Bett. Sie hatte wohl das eine oder andere übers Küssen lernen können und ich hatte eben Ashes gehabt, also waren wir darin eigentlich ganz gut. Seltsam wurde es dann erst wieder, als wir einander auszogen.“ Ein breites Lächeln legte sich über seine Lippen, ein tiefes, warmes Strahlen trat in seine Augen und letztlich, als Höhepunkt der nostalgischen Erinnerung, drang ein Seufzen aus seiner Kehle. „Sie war so wunderschön. Und wurde immer röter mit jedem meiner Versuche, ihr das irgendwie glaubhaft zu sagen. Als sie es nicht mehr aushielt, wie ich vor mich hin stammelte, begann sie mich auszuziehen. Und dann tauschten wir die Rollen. Ein bisschen zumindest. Gute Güte, war das… unangenehm. Ich liebte ihren Anblick, vom ersten Moment an. Ihr schlanker Hals, die helle Haut, ihre weiche kleine Brust, der straffe Bauch, ihre Schenkel… hmmm… aber es war, trotz allem, in erster Linie unangenehm. Damals war einfach noch viel zu viel Scham im Spiel, als das wir es zur Gänze hätten auskosten können. Also sahen wir zu, das wir über diesen Moment hinweg kamen, indem wir zu etwas zurückkehrten, von dem wir beide etwas verstanden und das uns beiden Spaß machte und die Sicherheit des Vertrauten bot. Küssen. So wirklich wild wurde es erst danach. Ich erinnere mich auch nicht mehr an alles, nur… dass wir noch ein paar mehr Stolpersteine hatten. Wenn deine einzige, frühere Erfahrung die ist, das deine Gefährtin die Führung übernimmt, genau weiß, was zu tun ist und was wohin gehört und plötzlich hast du jemanden im Bett, der fast völlig unerfahren ist und diese Dinge auch noch nicht so wirklich verinnerlicht hat… ich schätze, ein paar kleinere Missgeschicke sind da zu erwarten. Ändert natürlich nichts daran, dass wir beide fast vor Scham im Boden versunken sind. Selbst währenddessen war sie einfach… einfach wundervoll. Zu sehen, wie sie dort lag, wie sie sich aufbäumte, zu spüren, wie sie sich in meine Schultern und Arme verkrallte, jeder Laut aus ihrer Kehle, die wachsende Gier in ihren Augen, ihr heißer Atem an meinem Ohr, ihr Duft…“ Abermals drang ein tiefes Seufzen aus seiner Kehle, während er mit gleichermaßen wirren wie trägen Bewegungen seines Armes kleine Figuren in die Luft malte, die nur er zu sehen fähig war. „Damals ist mir etwas klar geworden, schätze ich. Nicht sofort natürlich, ich wehrte mich dagegen, so gut und so lange ich konnte. Seltsam, nicht? Wie man sich meist gegen die Dinge wehrt, die einem gut tun könnten. Ich wollte sie. Aber ich wollte sie nicht einfach nur so. Mit ihr zu schlafen war… eine Wonne. Es hat unglaublich viel Spaß gemacht. Fühlte sich toll an. Aber ich wollte mehr. Ich wollte mehr davon und auch ganz grundsätzlich mehr. Ich wollte nicht, dass es bei einem Mal blieb. Ich wollte nicht, dass wir danach wieder anfangen würden, in die alten Muster zu fallen. Und ich hatte wirklich Angst davor, dass sie das, was geschehen war, als Fehler bezeichnen würde. Vielleicht war es ja einer gewesen. Aber es auszusprechen hieß, es als solchen anzuerkennen. Und es fühlte sich zu gut an, als das ich das gekonnt oder gewollt hätte. Mit ihr zanken war spaßig. Sie zu necken immer wieder eine Abwechslung. Und selbst darüber hinaus hatten wir immer etwas gefunden, um uns die Zeit zu vertreiben. Wir trugen kleine Wettbewerbe aus. Ihre Bogenkünste und ich als Messerwerfer. Sie gewann natürlich immer, aber… das störte mich nicht sonderlich. Und wir gingen gemeinsam Streiche spielen. Oder Dinge ausleihen. Süßspeisen, bevorzugt. Obwohl ich glaube, dass man die nicht wirklich… naja… ausleiht. Man gibt sie immerhin auch nicht zurück. Ich bemerkte nicht, wann die Veränderung begann oder wie sie sich entwickelte. Ich weiß nur, dass irgendwann, bevor wir miteinander schliefen, dieser Punkt gekommen war, an dem ich realisierte, dass sich etwas verändert hatte. Sie hatte immer an Thorin gehangen. Tut sie ja heute noch. Wann immer sie Probleme hatte, Rat suchte, Hilfe brauchte… kam sie zuerst zu ihm. Und danach zu Ninafer. Und dann zu Myron. Und Floran. Und vermutlich jedem anderen Rekruten. Vermutlich wäre sie eher zu Garwinn gegangen, als zu mir zu kommen. Aber auch das hatte sich irgendwie, irgendwann geändert. Ich denke, es war dieses erste Mal, als sie meine Meinung hören wollte, das mir klar wurde, das ich mich irgendwo reingeschmuggelt hatte. Ohne es selbst bemerkt zu haben. Sie hatte Thorin gefragt. Dann Ninafer. Und dann mich. Als wir miteinander fertig waren, damals in diesem Zimmer, und die Angst in mir hoch zu kriechen begann, dass sie es gleich einen Fehler nennen würde… mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich kann dir nicht mal sagen, ob sie es spürte. Ich habe mich nie getraut, sie zu fragen. Wir waren verschwitzt, glühten wie Kohlen im Feuer, völlig erschöpft obendrein. Sie… sie schmiegte sich an mich. Und ich zog die Decke über uns. Das machte es nicht unbedingt angenehmer, die Hitze staute sich sehr schnell auf, aber nach ein paar Momenten… ging es. Es lullte uns ein. Schaffte es sogar, mich zu beruhigen. Aber vielleicht war das nicht einmal die aufgestaute Wärme, sondern einfach nur ihre Gegenwart. Um ehrlich zu sein? Ihre nackte Haut zu spüren, ihren gesamten Leib an mir zu spüren – vermutlich hätten wir noch eine ganze Weile in diesem Zimmer zugebracht, alle Erschöpfung ignoriert und noch ein paar Runden gedreht, zumindest, wäre es nach mir gegangen. Aber… sie schlief ein. Recht schnell sogar. Und das gab mir Zeit, nachzudenken. Damals… war mir das nicht unbedingt recht. Aber was hätte ich tun sollen? Ich genoss es zu sehr, sie im Arm zu halten, als das ich hätte riskieren wollen, mich unter ihr hervor zu wühlen. Und ich wollte ihr keinen Anlass geben, zu glauben, dass ich es als Fehler sehen würde – beispielsweise, indem ich mich davon schleiche. Also lag ich da und dachte nach. Viel und lange. Und mit den Stunden fielen all die Teile, die ich früher gesammelt hatte, zusammen. Die Zänkeleien. Die heimlichen Blicke. Das gegenseitige Anspornen. Alles kam zusammen. Auch diese Wärme, die ich spürte. Nicht nur, weil unsere Körper aneinander lagen oder noch immer glühten oder dergleichen, das war… etwas anderes. Diese Wärme war einfach nur das Ergebnis des Gefühls, das dieser Moment richtig war. Oder sein sollte. Natürlich war ich ich, was bedeutete, dass ich zwischenzeitlich ein dutzend Mal von anderen Gedankengängen abgelenkt wurde – war ja sonst wenig im Raum, was mich hätte ablenken können. Also bekam ich auch für ungefähr eine Stunde Panik, dass ich sie vielleicht geschwängert haben könnte. Ashes war da immer sehr umsichtig gewesen, aber mit Ishara hatte ich aus Gewohnheit keinen Gedanken daran verschwendet. In einem Haus leben, immer am gleichen Ort, ein Kind großziehen… blanker Horror!“ Er lachte leise auf, lehnte sich ein Stück zurück. Inzwischen saß er im Schneidersitz, ließ den Kopf in den Nacken fallen und starrte an die Zimmerdecke. Hübsche kleine Muster waren daran gepinselt worden. Der Stuck formte Ranken entlang der Raumkanten. Alles wurde in unregelmäßigen Abständen von Blitzschlägen hell erleuchtet. Draußen tobte das Unwetter in vollem Glanz der Gewalten, die Phylia aufbieten konnte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, wie der Regen dicht und in dicken, schweren Tropfen gegen das Dach und Fenster prasselte. Genauso wenig, wie er mitbekommen hatte, dass zwischenzeitlich die Magd des Hauses in ihrem Nachtkleid den Kopf durch einen frisch geschaffenen Türspalt geschoben hatte. Kurz nur hatte sie seiner Erzählung gelauscht, milde vor sich hin gelächelt, ehe die etwas brisanteren Details zutage tragen. Errötend hatte sie sich zurückgezogen, die Tür lautlos wieder geschlossen und war ins Bett zurückgekehrt. Alles vollkommen von ihm unbemerkt, weil er zu tief in Erinnerungen und die eigene Geschichte versunken war. Vielleicht hatte er es wirklich nicht mehr drauf… Sein Blick glitt durch den Raum. Ein Haus. Sesshaft sein. Eine Familie gründen. „Blanker Horror“, wiederholte er leise kichernd und setzte sich wieder auf, „Es konnte natürlich nicht immer so rosig bleiben, weißt du? Wir haben viel Spaß gehabt, sehr viel. Wir waren eine ganze Weile nahezu unzertrennlich – bis zu dem Punkt, an dem sogar Ninafer in Erwägung zog, uns einfach konstant unter Drogen zu stellen. Ich… weiß nicht recht, ob sie das damals ernst meinte. Zutrauen würde ich es ihr jedenfalls. Ich will nicht sagen, dass die Leidenschaft schwand. Das kam erst sehr viel später. Aber die Dinge nehmen ihren Lauf und aus dem heiß brennenden Verliebtsein wird eben irgendwann entweder etwas Stabileres, oder gar nichts. Vielleicht hätten wir es hinbekommen. Vielleicht hätten wir diesen Übergang gepackt. Er ist ziemlich holprig, das kann ich dir sagen. Ich wusste, dass sie Fehler hatte. Weit davon entfernt war, perfekt zu sein. Das sind wir alle. Aber wenn man verliebt ist… verliert man sowas schnell mal aus den Augen. Man weiß es. Aber es kommt einem alles halb so schlimm vor. Man unterschätzt, wie sehr einen Kleinigkeiten im Alltag nerven können. Was uns das Genick brach, war die ganze verdammte Rebellionsgeschichte. Thorins kleiner Privatkreuzzug gegen Phillipe. Nun ja, zugegeben… wir waren alle Feuer und Flamme, das kleine Aas am Galgen zu sehen. Wir hatten alle unsere Gründe, warum wir mitgemacht haben. Aber keiner von uns konnte ehrlich behaupten, er sei gezwungen worden. Vermutlich spielte das mit hinein: Wir haben uns alle damals entschieden, freiwillig, diesen Kampf mit zu tragen. Ich… überschritt die Grenzen. Je mehr das Verliebtsein abklang, desto klarer wurde mir der Wahnsinn, in den wir da hineingeraten waren. In den Ishara hineingeraten war. Es war… nicht meine Art, ernst zu sein und ernste Gespräche zu führen. Darin war ich einfach nicht gut. Also versuchte ich es mit Humor. Und wurde sarkastisch. Zynisch. Ich tat ihr weh, mit so manchem, was ich damals sagte. Dabei hatte ich wirklich aufrichtige, gute Absichten. Ich machte mir einfach nur Sorgen um sie. Sie zog ständig mit Thorin aus. Ständig. Und der… der ist wie ein Blitzableiter im Gewittersturm. Er zieht den Ärger an. Aber gleichzeitig hält er ihn auch meist ganz gut aus. Selbst wenn die Welt auseinanderbrechen und ihn in einem Wirbel aus Feuer, Finsternis und tosendem Donner schlucken würde, nur um dann wieder zuzuklappen – ich setze all mein Geld darauf, dass er auf der anderen Seite der Welt, und seit es Jahrtausende später, sich wieder herausbuddeln würde. Fast unverletzt. Das Glück hat aber eben auch nur er. Oft genug hat sie mir erzählt, was sie mit Ninafer vollbracht hat. Wirklich erstaunliche Leistungen. Sie haben zu zweit, manchmal zu viert, den medizinischen Kenntnisstand fast vollständig revolutioniert. Zumindest hier in Lumiél. Aber während sie voller Begeisterung erzählt hat, fielen mir dabei ganz andere Dinge auf. Abgeschlagene Gliedmaßen. Durchbohrte innere Organe. Verlorenes Augenlicht. Für den Widerstand zu kämpfen war alles andere als ungefährlich. Und wer mit Thorin auszog… der warf sich freiwillig in den größten, fiesesten Fleischwolf, der zu finden war. Und sie war ständig an seiner Seite. Wie hätte ich da nicht krank vor Sorge werden können? Also redete ich auf sie ein. Immer wieder und wieder und wieder. Jede neue Nacht, geplagt von Alpträumen, war mir ein neuer Grund, es ein weiteres Mal zu versuchen. Erst Recht, wenn sie zurückkehrte und nicht unverletzt war. Selbst ein Kratzer war mir irgendwann Ansporn genug, eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Nur… konnte ich die eben nicht gewinnen. Nicht mit Logik und Argumenten. Also wurde ich schnippisch und… es endete im Streit. Immer wieder und wieder. Umgekehrt war es nicht viel besser. Ich war der beste Dieb, den der Widerstand aufbieten konnte. Sogar Aedan persönlich gestand das zu einer Gelegenheit mal ein. Meine Profession bedingte meine Unversehrtheit. Blut hinterlässt Spuren. Eine angeritzte Hand, selbst oberflächlich, könnte im falschen Moment zucken. Ich war stets ein Schatten, unsichtbar, unbemerkt. Ishara hatte nie Grund, sich um meine Unversehrtheit zu sorgen. Sie wusste, was ich konnte. Hatte mich bei unseren Raubzügen in der Küche oft genug beobachten können. Mir war nur nie klar, dass daraus ein ganz anderer Vorwurf erwachsen würde: Ich nahm nichts ernst. Andere hatten Angehörige verloren. Waren von der Wache malträtiert worden. Waren obdachlos geworden, als die Krone ein weiteres Exempel an ihrem Dorf statuierte. Und ich scherzte. Und lachte. Und riss Witze. Ich meine… natürlich tat sich das. Es gab eine Zeit während der Revolution, als die Gesichter fast täglich düsterer wurden. Ich hatte nur die Wahl, mich entweder dem anzuschließen und zu prophezeien, wie alles den Bach runter gehen würde, oder ich versuchte eben mit meinen bescheidenen Mitteln und Möglichkeiten, dagegen zu halten. Es war nicht einfach, wirklich. Ich… gab mir Mühe, viel Mühe. Teilweise machte ich mich völlig zum Gespött, nur um hier und da ein paar Mundwinkel kurz nach oben zucken zu sehen. Und so winzig diese Erfolge waren, sie waren alles, was ich bekommen konnte – es musste genügen. Ich versuchte mich zu erklären. Mich ihr gegenüber zu rechtfertigen. Aber… die Tage waren finster und wir stritten bereits so oft, dass ich schon zu weit von Vernunft und Ruhe entfernt war. Dinge eskalierten häufig und zunehmend schneller. Ich wisse die Opfer nicht zu schätzen, die andere für eine bessere Zukunft brächten, auch für meine Zukunft, warf sie mir irgendwann entgegen. Nur eine Diskussion unter vielen. Vermutlich war es nicht sehr verwunderlich, dass es keinen Bestand hatte. Einfach nicht haben konnte. Zu sagen, dass wir in bösem Blut auseinander gingen, wäre zu viel. Wie gesagt – ohne die ganze Revolutionsgeschichte hätten wir es sicherlich gepackt. Wir liebten einander. Wir fanden viel aneinander, für das es sich zu kämpfen lohnte. Ohne völlig zu verschmelzen. Sie hatte immer noch ihre Ausflüge mit Thorin und Ninafer, um Dinge zu tun, an denen ich nicht unbedingt beteiligt werden wollte. Genauso, wie ich immer noch die Gilde hatte und sie da nicht mit hinein zog. Aber es gab genug Brücken zwischen unseren Leben. Nur hatten wir einfach nicht die Erfahrung und die Kraft, um zwei Kriege gleichzeitig auszufechten. Wir gaben dem größeren Krieg Vorrang. Ich kämpfte auf meine Weise, sie auf Ihre. Eine ganze Weile vermieden wir es, einander unnötig über den Weg zu laufen. Ein jedes Mal war es wieder da. Dieses Gefühl von Vertrautheit. Diese angenehme Wärme im Magen. Nicht das nervöse Kribbeln, wenn man frisch verliebt ist, sondern diese anheimelnde Wärme eines Ortes, so vertraut, das man ihn mit Sicherheit verbindet. Und ganz davon abgesehen, war natürlich auch der Rest jedes Mal da. Der Gedanke: Ich weiß, wie du schmeckst. Ja, da oben – und da unten. Oder: Ich weiß, wie du nackt aussiehst. Das… hilft nicht unbedingt dabei, konzentriert zu sein. Ich lief ein paar Mal gegen Türen. Laternen. Leute. Türen. Ich weiß, dass sie manchmal darüber gekichert hat. Dieses Kichern hätte ich in einer herumbrüllenden Menge erkennen können! Und es zu hören ließ mich jedes Mal lächeln und den Schmerz zumindest zum Teil vergessen. Aber… das war nicht genug. Denn jedes Mal, wenn wir einander sahen, kam nach einer Weile auch der Moment, an dem wir uns an den ganzen, unschönen Rest erinnerten. An die hässlichen Dinge, die wir einander gesagt hatten. An die Sorgen, die wir uns machten. Also mieden wir einander. Und wir wurden darin besser, je länger es andauerte. Ich weiß noch, wie sehr es mich schmerzte, irgendwann zu hören, dass sie jemand neuen gefunden hätte. Irgendeinen der Rekruten. Ein strammer Bursche, ein fähiger Kämpfer. Keiner dieser Schattenschleicher. Damals unterstellte ich ihm sofort, vermutlich die humorloseste Person im gesamten Widerstand zu sein. Ich fand nie heraus, ob ich Recht hatte. Oder auch nur seinen Namen. Ich wollte davon nichts wissen. Eine Weile trug ich mich mit dem Gedanken, es ihr heimzuzahlen. Indem ich mir ebenfalls jemanden suchte. Aber… selbst nach Ashes und Ishara waren meine Probleme beim Ansprechen von Weibern nie wirklich völlig verschwunden. Und mein Problem blieb bestehen: Für die Rebellen zu arbeiten war gefährlich. Vielleicht hätte ich eine Gildendiebin finden können oder irgendeine Rebellin, die nicht kämpfte. Es ihr heimzahlen. Das war so… dumm. So kindisch und trotzig. Dieser kleine Teil meiner Selbst, der ihr gönnte, ihr sogar wünschte, glücklich zu werden? Ja? Den gab es nicht. Heute kann ich mich so dafür schämen, wie ich es damals verdient hätte, doch damals… fühlte ich mich völlig im Recht, wenn ich ihrem Liebsten Pest und Teufel an den Hals wünschte. Ihm. Niemals ihr. Die Hintergründe habe ich nie erfahren, nie erfragt. Was Thorin von diesem Rekruten hielt. Oder ob Ninafer den beiden gelegentlich geholfen hat. Oder ob sie ihnen eher im Weg zu stehen versuchte. Ob Ishara in dieser Zeit von mir sprach. Oder auch nur einen Gedanken an mich verschwendete. Ich versuchte sie zu vergessen. Mit wenig Erfolg natürlich. Die Revolution wurde stärker. Die Tage sonniger. Die Leute wurden zahlreicher, die Bündnisse stärker und mit jedem Sieg, hart erkämpft, begannen die Rebellen mehr und mehr daran zu glauben, dass es möglich war. Das wir wirklich gewinnen könnten. Und eines Tages stand Ishara plötzlich vor meiner Tür. Einfach so. In Tränen aufgelöst. Thorin war nicht in der Kreuzwegfeste. Ich wusste nicht, wo genau er war – nicht da, jedenfalls. Und Ninafer war ebenfalls nicht anzutreffen gewesen. Myron und Floran, wie ich später erfuhr, hatten sich, genauso wie eine Hand voll anderer, rar gemacht, sobald sie erfuhren, was geschehen war. Dieser ach so tolle Rekrut, den sie sich angelacht hatte? Das kleine Aas hatte sie betrogen. Vermutlich nicht nur einmal. Einer der Vorteile, für den Widerstand zu kämpfen war, das man viel herum kam. Neue Städte sah, neue Leute kennenlernte… und sie ins Bett brachte, offenbar. Mit Ishara auf Mission und seinem Verstand offenbar auf Wochenendausflug hatte er sich eine Abenteurerin auf Durchreise angelacht. Nur… kam sie früher zurück als erwartet. Ich hätte ihm das sagen können. Nein, eigentlich hätte er es sogar wissen müssen. Sie war gut, immer schon gewesen. So verdammt gut in dem, was sie tat. Natürlich war sie früher fertig geworden. All diese Leute hatten mitbekommen oder erzählt bekommen, welches Gebrüll aus dem Zimmer kam. Und worüber gebrüllt wurde. Ich… weiß ehrlich gesagt nicht ganz, warum sie es für eine clevere Idee hielten, Ishara daraufhin auszuweichen. Aber nachdem ihr die Optionen ausgingen, kam sie zu mir. Und welche Macht auch immer sie bewog, das zu tun: Sie stand dort und erzählte es mir. Sie erzählte mir, was geschehen war. Dann fielen wir einander in die Arme, küssten uns innig und alles war wieder gut.“ Ein bitteres Grinsen zog auf seinem Gesicht auf, während er den Kopf schüttelte. Noch immer wurde er aus zwei großen, aufmerksamen Augen angestarrt. Ihr Gesicht wirkte so ernst. Sie wartete. Wartete, während er die Tränen herunterdrückte, die sich ihren Weg in seine Augen hatten bahnen wollen. Das alles war lange her. Kein Grund, alte Wunden aufreißen zu lassen. Kurz nur schniefte er, ehe die Bitterkeit wich und einem zumindest etwas ehrlicheren Lächeln Platz machte. „Nein, natürlich nicht. Wäre zu einfach gewesen. Sie stand dort, klagte mir ihr Leid… und ich warf ihr die Tür vor der Nase zu. Was dann geschah, ist eigentlich sogar noch viel… lächerlicher, wenn ich es mir so bedenke. Es dauerte genau eine Stunde, bis Myron vor meiner Tür stand. Zusammen mit Floran und noch ein paar anderen. Sie wirkten alle sehr… wütend. Die Frage, ob ich völlig den Verstand verloren hätte, hätte ich unter anderen Umständen vielleicht mit einer gewitzten Bemerkung versehen, aber seit sie dort so vor meiner Tür gestanden hatte, war ich zu… aufgewühlt. Also versuchte ich einfach nur die Tür zu schließen. Myrons Fuß stoppte das – und ich war wirklich nicht in der Laune, mich jetzt noch mit einem Mob herumzuschlagen. Also holte ich mit der Tür Schwung. Er fluchte, zog den Fuß weg und ich warf die Tür zu. Danach hörte ich nur noch, wie er Floran eine Anweisung gab – und plötzlich brach die Tür komplett aus den Angeln. Ich wäre fast darunter begraben worden. Die kleine Truppe blieb jedoch draußen stehen. Nur Myron trat ein. Er hinkte ein wenig, setzte den Fuß sehr vorsichtig auf. Und schleifte mich am Ohrläppchen in den Nebenraum. Dort musste ich mir dann die gefühlt längste Predigt seit vielen Jahren anhören. Aber egal, wie viele Pläne ich entwickelte, um zu flüchten – ich setzte keinen davon um. Obwohl ein paar davon wirklich lustig waren. Sie beinhalteten Seife und ein nasses Handtuch, um- Eh, ja. Predigt. Ich konnte einfach nicht anders, als zuzuhören. Was er erzählte, war immerhin ziemlicher Irrsinn. Ich meine… gefühlt die halbe Festung hatte sich versteckt, nur damit Ishara vor meiner Tür landet. Das ergab für mich damals wenig Sinn. Und als er mir sagte, dass sie mich noch immer liebe… das Lachen, das ich damals ausstieß, war der gruseligste Laut, den ich bis zum heutigen Tag jemals gehört habe. Und ich stand vor einem Drachen, als er sehr wütend in mein Gesicht röhrte. Aber er hörte einfach nicht zu reden auf. Er erklärte und erklärte. Er beobachtete mich. Las jede meiner Reaktionen. Ich war nie ein wirklich guter Schauspieler gewesen und… ich hasste es, das er mich wie ein Buch las. Wann immer ich Zweifel zeigte, führte er es weiter aus. Wann immer ich Skepsis zeigte, ließ er nicht locker, bis ich genug selbst darüber nachgedacht hatte, um es zumindest für den Moment zu schlucken. Es waren Stunden, die er auf mich einredete. Bis ich irgendwann einsah, das ich zumindest… mit ihr reden sollte. Wirklich sicher war ich mir dabei nicht. Ich freute mich auch nicht darauf, wirklich nicht. Ich hatte die Ahnung, genau zu wissen, wie das enden würde. Geschrei und Gezeter und Vorwürfe. Wie früher. Ich suchte ihre üblichen Plätze ab und fand sie nicht. Also begann ich mit zunehmender Sorge jeden zu fragen, den ich traf. Es war Abend, als die ganze Festung auf den Beinen war, um mir bei der Suche zu helfen. An sich ja ein rührender Gedanke, nur nutzte es nichts. Ich stolperte schließlich aus Dummheit über sie. Ich dachte mir: Wenn niemand in der Festung ihr helfen will, sucht sie vermutlich nach Thorin. Thorin war immer schon ihre erste Anlaufstelle. Aber der war… irgendwo. Vielleicht ist sie ihm ja hinterher gerannt? Vom höchsten Turm aus würde ich sie vielleicht noch irgendwo in der Ferne davonreiten sehen können. Natürlich ritt sie nicht davon. Sie war einfach nur auf dem Turm, saß zwischen zwei Zinnen auf der Kante und starrte hinab auf die Feste. Der Anblick ließ mich panisch werden. Ich meine… sie war längst keine Jugendliche mehr, die aus Kleinigkeiten heraus Dummheiten beging. Ich weiß nicht, warum ich befürchtete, sie würde jede Sekunde springen. Als ich ihren Namen rief, da wäre sie vermutlich fast vor Schreck gefallen. Aber selbst das bekam ich nicht mit. Ich war zu sehr darauf konzentriert, sie von dort weg zu bekommen. Also redete ich auf sie ein. Und… weil ich nunmal ich bin, wurde das sehr sehr schnell sehr sehr wirr. Ich erzählte von Myron und den anderen, die sich versteckt hatten. Das niemand ihr Übles wollte. Man hatte sie nur zu mir lotsen wollen, weil alle dumm waren. Und davon überzeugt, dass wir zusammengehören würden. Ich verlor mich zwischenzeitlich darin, mich nach Herzenslust über ihren Liebsten auszulassen, obwohl ich bis zum heutigen Tage nicht das Geringste über ihn weiß. Ich versuchte einmal mehr, zu erklären, warum ich mir damals so viele Sorgen um sie machte. Warum ich scheinbar nie etwas ernst nahm. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich zwischendrin auch ein paar wirklich kluge Fragen über die Belagerungstechnik der Zwerge gestellt habe, immerhin hatte Garwinn mit Hilfe dieser irren Goblins ein gewaltiges Katapult auf diesem Turm aufstellen lassen – oh und ich habe auch ein wenig über die Wolken am Himmel gerätselt, die wie Tiere aussahen. Irgendwann stand sie auf. Eigentlich wollte sie nur von dort weg. Zu mir gehen. Aber diese irrationale Angst, die ich verspürte, trieb mich zur Höchstform. Was konnte ich noch sagen, um sie aufzuhalten? Alles. Irgendwas. Hauptsache, es war kurz und würde sie aufhalten! Vielleicht genügte es schon, wenn ich sie lange genug verwirren würde, dass ich zu ihr käme und sie dort wegziehen könnte. Also sagte ich ihr, dass ich sie liebe. Sie zögerte nicht. Stattdessen kam sie völlig ruhig auf mich zu. Sie zog mich in eine Umarmung. Bevor ihr Gesicht aus meinem Blickfeld verschwand, sah ich die Tränen in ihren Augen. Ich spürte sie über ihre Wangen rollen, wo sie den Übergang zu meinem Nacken fanden und die feinen Haare dort kitzelten. Es… störte mich überraschend wenig. Sie war sofort wieder da. Diese Wärme. Die Vertrautheit. Eine ganze Weile stand ich nur wie versteinert da. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Zu atmen war schon zu viel. Nur ganz leise flüsterte sie mir ein „Ich weiß“ zu. Ob sie wusste, dass ich sie immer noch liebte? Oder ob sie gewusst hatte, dass alle anderen ihr aus dem Weg gingen? Ob sie wusste, dass ich damals nur die Laune aller hatte heben wollen? Oder ob sie auch fand, dass diese Wolke wie ein Schwan aussah? Keine Ahnung. Ich hatte meine Zunge verschluckt, gefühlt. Als ich sie wiederfand, hatte ich auch ganz andere Sorgen. Ich fragte sie zunächst nur, ob es in Ordnung wäre, wenn ich die Arme um sie legen würde. Das… kam mir wichtig vor. Sie hatte sich dieses Recht, nach all der Zeit, einfach herausgenommen. Aber sie wusste ja auch. Was auch immer sie da wusste. Ich war mir da nicht so sicher. Als sie nickte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich wusste damals nicht mal, dass dort einer gewesen war. Sie wieder im Arm zu halten war… wundervoll. Als hätte man Monate und Jahre von Brot und Wasser gelebt, die Erinnerung an kleine Küchlein fast vergessen, verblasst, entstellt vom Fluss der Zeit – und plötzlich hatte man einen vor sich. Dieser betörende Geruch nach Zuckerglasur, noch nicht ganz gehärtet, die fröhliche Farbgebung der kleinen- ich bekomme Hunger. Und schweife ab. Schon wieder. Wir unterhielten uns danach. Tage, Wochen, Monate zogen dahin. Diese urtümliche Vertrautheit und das Gefühl von Sicherheit war noch da, ja. Aber wir wagten nicht, darauf aufzubauen. Daran anzuknüpfen. Zu viel hatte sich zugetragen. Zu viel stand zwischen uns. Also entschieden wir, neu zu starten. Das alles, alles, hinter uns zu lassen. Das war wirklich nicht leicht. Immerhin: Ich wusste, wie sie nackt aussah. Ich wusste, wie gut sie küssen konnte. Und wie wundervoll sie roch, wenn wir gerade miteinander geschlafen hatten. Und es gab noch so viel mehr, das ich von ihr wusste. Jemanden neu zu entdecken ist… vermutlich eine der schwierigsten Sachen, die man sich vornehmen kann. Weil man irgendwie all dieses Wissen, das man schon hat, bei Seite schieben muss. Unser erster Kuss nach dieser Sache fühlte sich nicht wie ein erster Kuss an. Ganz ignorieren kann man das Vorwissen wohl nie. Aber er war dennoch wunderbar. Während wir wieder zusammenkamen, gewann Thorin seine kleine Revolte. Lumiél war frei. Zumindest frei von Phillipe, jetzt hatte das arme Land Thorin am Arsch kleben und ob das so viel besser war, das- Na egal. Diesmal schafften wir den Sprung. Man drischt ja gern diese leeren Sprüche, dass Liebe überall und jederzeit blühen kann. Das ist Blödsinn. Sie kann jederzeit und überall auftauchen. Und die meiste Zeit sind die Umstände katastrophal, weshalb sie auch rasch wieder welkt und vergeht. Wirklich erblühen… dafür braucht es gute Umstände. Liebe muss willkommen sein. Sie muss genährt werden, mit Fürsorge und Geduld. Aber wie beim Salz in der Suppe kommt es auf das richtige Maß an. Gibt man sich selbst auf, bedrängt man, verliert man am Ende unweigerlich. Bemüht man sich nicht genug… welkt sie still und leise und verschwindet spurlos.“ Er veränderte seine Sitzposition. Das leichte Grummeln in seinem Magen ignorierend, begab er sich auf die Knie, lehnte sich mit den Armen auf das Geländer und ließ den rechten Unterarm hinein baumeln. Winzige Finger umfassten seinen Zeigefinger. Ein breites Lächeln lag auf dem Gesicht, während die großen Augen sich langsam schlossen. Und eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Bauch aus. Anders als Verliebtsein – und anders noch als das, was er für Ishara empfand. „Gerade jetzt, meine Kleine, ist deine Mutter irgendwo dort draußen. Vermutlich rettet sie Thorin. Oder die Welt. Ist mitunter schwierig, das voneinander zu trennen. Sie wird so stolz auf dich sein! Ein ganzes Gewitter hast du überstanden, ohne auch nur ein einziges Mal zu schreien. Und irgendwann… irgendwann bist du ein groß gewachsener kleiner Wildfang mit deinen hübschen langen Ohren. Da draußen ist eine ganze Welt, die nur auf dich wartet. Die entdeckt werden will. Voller Abenteuer, verbotener Ecken und dunkler Winkel, in denen du herumschleichen kannst. Und vielleicht stolperst du über einen Idioten. Das, was er kann, kann er gut – aber er kann nicht viel. Aber hey, alles halb so schlimm. Er bemüht sich. Und auf seine Weise ist er ja ganz unterhaltsam. Und dann, irgendwann später, kommt der Tag, an dem du feststellst, dass nicht nur du ihm die Welt bedeutest – er ist dir auch wichtig. Und ihr werdet euch necken und zanken und gelegentlich bis auf die Knochen nerven. Und ein paar Jahre später… werdet ihr wirklich hübsche kleine Kinder in die Welt setzen.“ Er beugte sich über das Geländer der Krippe herab und drückte dem schlafenden kleinen Umriss einen Kuss auf die Stirn. Langsam und bemüht leise erhob er sich, schüttelte die Beine, damit der Blutfluss wieder in Schwung kam. „Was machst du denn da?“, vernahm er eine vertraute Stimme von der Tür her. Ein Lächeln zog über seine Lippen. Sie war einfach so verdammt gut in dem, was sie tat. Natürlich kam sie früher zurück. Sie kam immer früher zurück. „Ach“, setzte er leise an, ohne sich umzuwenden, „ich übe meine Foltertechniken. Für später, wenn sie alt genug ist, sich über all die kitschigen und heißen Details zu schämen.“ Er folgte ihr auf den Flur hinaus, schloss lautlos die Tür hinter sich und wandte sich ihr erstmals zu. Er wollte sie küssen, sie in den Arm nehmen, sie willkommen heißen, zurück daheim. Und sie fragen, wie lange sie dort gestanden und wie viel sie mitgehört hatte. Das vor allem. Ganz dringend. Doch kaum das sein Blick ihre Gestalt erfasste, entglitten ihm die Gesichtszüge ein klein wenig. „Ist… ist das Blut?“, ächzte er und hob vorsichtig die Hand in Richtung ihrer Schulter. Sie gab ihm zunächst nur ein entschuldigendes Lächeln, ehe sie sich zu einer Antwort aufraffte. „Eh… ja. Und ich wäre wirklich dankbar, wenn du den Pfeil noch nicht anrührst. Sowas tut weh.“ „O-Oh… natürlich… tut mir leid. Was… was habt ihr gemacht?! Ich dachte, das ist nur ein kurzer, freundschaftlicher Besuch in Rhovanion?“ Je weiter sie sich von jener Zimmertür entfernten, umso lauter wurde er, allmählich die Fürsorge reduzierend und seiner Besorgnis Platz einräumend. „War es ja auch!“, versicherte Ishara zunächst, druckste jedoch genug herum, dass er sie anstarrte, langsam eine Braue hebend. Ihr Lachen hallte den Korridor entlang. „Oh bitte nicht, wie oft denn nur noch, du kannst das einfach nicht! Hör auf! Los! Aus!“ Mit jedem Moment, da das Grinsen auf seinen Lippen breiter wurde und die Braue noch ein Stück höher wanderte, steigerte sich ihr Lachen, bis es durch das halbe Haus schallte. Erst dann empfand er seine Rüge als angemessen und gab nach. „Es lief alles gut, ehrlich. Der Troll war nicht eingeplant.“ „… Troll…“, echote er lediglich und begutachtete sie nochmals. Die Panzerung hatte tatsächlich eine Delle an der Seite. Vielleicht ein, zwei gebrochene Rippen? Der Abdruck war groß genug für einen kleinen Baumstamm. Oder eine wirklich große Faust. „Ich bringe Thorin um“, knurrte er zwischen zusammengepressten Zähnen. „Nein, wirst du nicht. Du hättest keine Chance gegen ihn.“ „Ich sag ja nicht, dass ich es auf die nette, offene und ehrliche Weise machen würde…!“, setzte er augenblicklich entgegen, „Außerdem ist’s Thorin. Ihn umbringen ist halb so wild, der kann damit leben“, fügte er wenig später bei, als Ishara nun ihrerseits einen rügenden, kritischen Blick in seine Richtung warf. „Es ist halb so wild, ehrlich! Da war ein Troll, ein absolut nicht eingeplanter Troll, ein paar Zentauren sind wirklich schlechte Schützen und das war’s. Keine große Sache.“ Der Pfeil passte zur Machart der Zentauren, ja. Es wirkte stimmig. Und immerhin, sie lebte. Sie konnte laufen. Sie hinkte nicht. Nur war Ishara auch absurd willensstark – nur, weil sie nicht hinkte… das hatte wenig zu bedeuten. Er erinnerte sich noch gut genug an Thorins Erzählungen über die Schlacht von Jegurath. Sie hatte den Wiedergänger bezwungen und danach noch Rücken an Rücken mit ihm gekämpft. Mehr als pure, absurde Willenskraft konnte es nicht gewesen sein, die sie zu diesem Zeitpunkt noch auf den Beinen hielt. Ihre Rüstung verbarg viel. Wer konnte schon mit Bestimmtheit sagen, wie viele Wunden darunter noch verborgen liegen mochten? Außerdem… „… und wo kommt dann die Harpyienfeder her?“ „Die… die was?“, hakte sie überrascht nach. Nein. Nicht überrascht. Ertappt. Sie fuhr mit ihren Händen unter sichtbaren Schmerzen über ein paar Stellen. Hatte er es doch vermutet! „Die in deinen Haaren“, erlöste er sie schließlich. Sie fischte die Feder hervor, ärgerte sich sichtlich, sie zuvor übersehen zu haben. Als sie in seine Richtung blickte, färbten sich ihre Wangen langsam ein. „Ups…“ Ungläubig fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Ich kann es nicht fassen, das zu sagen, aber… wann genau habe ich eigentlich angefangen, von uns beiden der vernünftigere Teil zu sein?! Dir ist klar, was passiert, wenn du irgendwann stirbst?“ Einen Moment erwog Ishara, ihm vorzuhalten, das er es völlig übertrieb. Stattdessen jedoch setzte sie ihr unschuldigstes Lächeln auf und strahlte ihm entgegen. „Du wirst ihr ein ganz wunderbarer Vater sein, sie zu einer stolzen jungen Acedia aufziehen und dann-“ Doch das gedachte er sich gar nicht bis zum Ende anzuhören, entsprechend fuhr er ihr kurz darauf schon dazwischen. „Nein. Nein, nein, nein, ganz sicher nicht. Ich werde sie sofort im Stich lassen, einen Handel mit Ceteus abschließen, Ereshkigal so lange in den Arsch treten, bis sie dich wieder herausrückt oder in Mermerus‘ Heiligtum einfallen, ganz persönlich, falls nötig. Dann schleife ich dich an deinen hübschen Ohren wieder zurück in die richtige Welt vor die enttäuschten und wütenden und verletzt drein schauenden Augen deiner bis dahin vermutlich sehr viel älteren Tochter, damit du dich ihr gegenüber rechtfertigen kannst!“ Einen Moment lang erwog sie die Möglichkeit und kam zu der unangenehmen Einsicht, dass das vermutlich nicht nur möglich wäre, sondern schlimmer noch – sie traute ihm zu, das tatsächlich zu tun. Notfalls vermutlich sogar, indem er sich mit seinem ältesten Erzfeind verbrüderte: Thorin höchstselbst. Schließlich nickte sie. „Der vernünftigere Teil von uns beiden, ganz eindeutig…“ „Sag ich ja.“ Eine Weile marschierten beide schweigend und nur gelegentlich verstohlene Blicke aufeinander werfend die Gänge herab, bis sich, zufällig, ihre Blicke trafen und beide fürchterlich zu grinsen begannen. „Emelies Plätzchen?“, hakte er grinsend nach. Mehr als ihr Nicken brauchte er nicht und beide stürmten vorwärts – zumindest ein paar Schritte, ehe Ishara ächzend wieder verlangsamte. „Vielleicht“, so hob sie matter lächelnd, um Atem ringend und etwas blasser an, „sollte ich mich erst um den Pfeil kümmern. Und die Rippen. Und die Kratzspuren.“ Und binnen eines Wimpernschlages war er wieder an ihrer Seite. Er würde immer da sein, wenn sie ihn brauchte. Und er stützte sie, so gut er konnte. Auch darauf würde sie sich verlassen können. Und in ihrem Bauch breitete sich diese angenehme, vertraute Wärme aus. Beide lächelten, als sie Ishara in Richtung des Badezimmers schleppten, um ihre Wunden zu versorgen. Kapitel 47: Ein Blick durchs Schlüsselloch ------------------------------------------ „Also gut, ihr kleinen Kanalratten, ab ins Bett!“ Das allgemeine Chaos im Zimmer war nicht weiter hinderlich – er wusste, wie man dergleichen zu navigieren hatte. Ohne, dass plötzlich diverses Spielzeug im eigenen Fuß steckte. Das allseitige, amüsierte Quieken und Schreien ebbte auch rasch ab, als sich die drei Sprösslinge des Hauses hastig in ihre jeweiligen Betten zurückzogen. Das lag natürlich an seiner autoritären Ausstrahlung. Jedenfalls war er immer noch in der Lage, sich das erfolgreich einzureden, denn es war weitaus weniger schmeichelhaft, einzusehen, dass die Kinder lediglich den Ablauf des Kommenden gut kannten und keine einzige Minute davon verschwendet sehen wollten. Dennoch riss ihn das Räuspern aus Richtung des Türrahmens kurz aus den Gedanken und Planungen heraus. Ein kurzer Blick in jene Richtung offenbarte ihm die Hausherrin. Natürlich, sie musste in genau diesem Moment an der offenstehenden Tür vorbeilaufen und hören, wie ihre Kinder betitelt wurden. Wie konnte sie nur so viel Ungnade und Unzufriedenheit in einen einzigen, sogar verhältnismäßig leisen Laut packen?! Wahrscheinlich auf die gleiche Weise, auf die Ninafer einen derartig leisen und dennoch schneidenden und alldurchdringenden Ton zustande brachte: Mit viel, viel Übung. Der Grund dafür, das Lileth überhaupt so viel Übung bekam, hatte sich allerdings gegenwärtig rar gemacht. Eine Woche sogar, in diplomatischer Mission. Eine hübsche Umschreibung für ‚ich gehe mit meinem Jugendfreund aus der Gilde kräftig was trinken, obwohl ich nichts vertrage, und falls wir in der Woche irgendwann nüchtern genug dafür sein sollten, reden wir sogar über wichtige Dinge!‘ Thorin wollte bereits abfällig schnauben und den Kopf schütteln, als Lileths zweites Räuspern, weicher, wärmer und weniger aggressiv, ihn darauf aufmerksam machte, das er gerade dabei war, abzudriften. Es gab immerhin eine Aufgabe zu erfüllen! „Also… wo versteckt euer Vater das Märchenbuch?“ „Dürfen wir nicht sagen“, erwiderte Elaine leise. Sie schlug sogar den Blick nieder, als täte es ihr aufrichtig leid – etwas, dass Thorin doch irgendwie in Zweifel zog. Alistair hatte mit seiner Art den Haushalt Acedia zu lange verdorben, als das es glaubhaft war, das hier irgendwem irgendwas jemals Leid täte… „Mhm“, erwiderte der Kahlkopf zunächst nur und sah sich um, das breite Grinsen Fredericks, ihres Zwillingsbruders, gekonnt ignorierend. Wer wusste schon, was der wieder ausgefressen hatte…? Während sein Blick das Zimmer streifte, langsam, sorgfältig, nach Ecken und Winkeln suchend und insgeheim darüber fluchend, das er eben nicht ein entsprechend geschultes Auge für solcherlei besaß wie die kleine Pest, die sich vorläufig davongestohlen hatte, hörte er durchaus die Bewegung. Sein Blick kam schließlich zur Ruhe, als Anabelle ihm ein Buch entgegen hielt, offensichtlich unter ihrer Matratze hervorgezogen. Mit sieben Jahren waren die Zwillinge alt genug, bewusste Entscheidungen zu treffen – auch solche, die nicht allzu klug waren. Beispielsweise, sich auf Alistairs Seite zu stellen, statt auf seine. Sowas ging nie gut aus. Anabelle jedoch war drei Jahre jünger und noch sehr, sehr viel unschuldiger. „Danke, Grashüpfer.“ Er tätschelte ihr ein wenig den Kopf, freute sich insgeheim über das vergnügte Kichern und ihre halbherzigen Versuche, dem zu entkommen. Es erinnerte ihn an Lileth und ihre frühen Jahre – jedenfalls die ‚frühen‘ Jahre, die er mitbekommen hatte. Und der Kosename war nicht grundlos an Anabelle vererbt worden. Trotz ihrer Jugend hatte sie bereits magisches Talent gezeigt, etwas, das den Zwillingen noch fehlte. Unsichtbarkeit, beispielsweise, wäre für Frederick sehr praktisch gewesen. Natürlich hätte das nicht geändert, dass Thorin das vorsichtige Zupfen an der Tasche seines Gürtels durchaus bemerkte. Als er sich dem Übeltäter zuwandte, das Gesicht ruhig, starr, eine steinerne Maske, gefror jede Bewegung des Burschen – einschließlich der linken Hand am Reißverschluss und der rechten Hand tief in der Tasche vergraben. Einige Sekunden lang starrten sie einander an, lauernd, abschätzend, herausfordernd, bis Thorin langsam, quälend langsam, eine Braue hob – die einzige Regung seines Gesichtes. Das Maß an Beherrschung und die darin verborgen liegende Drohung waren dem Knaben dann offenbar doch noch genug. Hastig zog er seine Hand hervor, leer natürlich, und bemühte sich, die Tasche wieder zu schließen. Thorin half ihm dabei sogar und amüsierte sich darüber, wie bemerkenswert unintuitiv diese Goblinerfindung war – zumindest für die, die sie noch nicht kannten. „Du, mein Freund, lernst mir in letzter Zeit eindeutig zu viel von deinem Vater!“, murrte Thorin, als die Tasche geschlossen worden war und er sich einen Stuhl in der Raummitte zu Recht zog, um mit dem Buch bewaffnet und von drei Betten umgeben darauf Platz zu nehmen. Statt sich jedoch wenigstens dem Schein nach angemessen reumütig zu geben, kicherte Frederick vergnügt vor sich hin und schien das Ganze eher als Kompliment aufzufassen. Nicht gerade beruhigend. Ein kurzer Blick auf den Einband ließ die Hoffnungen des Kriegers schließlich wieder sinken. Abrupt. Ins Bodenlose. „Langfinger stiehlt:“, las er seufzend vor, inklusive des Untertitels „Ein Herz und ein Schloss.“ Das konnte nicht Alistairs Ernst sein, oder? „Natürlich“, murrte der Krieger verdrossen. Es war bemerkenswert, wie häufig in der ‚Langfinger stiehlt‘-Reihe ein Herz auftauchte. Oder eine Schürze – aber Thorin hoffte inbrünstig, das die kleine Pest wenigstens geistesgegenwärtig genug war, diese Teile des Bandes für sehr viel später aufzuheben. Ganz grundsätzlich rangierte diese selbsternannte Buchreihe sowieso schon in der gleichen Preisklasse wie ‚Die Abenteuer der Molly Oberweite‘ – alle 37 Bände. Diesen Unsinn… würde er ihnen auf gar keinen Fall vorlesen. Dennoch schlug der Hüne kurz das Buch an der markierten Stelle auf, überflog die zwei Seiten. Langfinger kletterte eine gewaltige Bohnenranke herunter, seine frisch gewonnene Liebste hielt sich dabei an ihm fest – wusste der Autor überhaupt, wie verdammt schwer eine ausgewachsene Person war? Langfinger wurde meist als schwächlich, dürr und sehnig beschrieben! Und falls die Person sich aus eigener Kraft festhielt, dann kamen noch die Probleme dazu mit Gewichtsverlagerungen, zusätzlicher Muskelbelastung, ganz zu schweigen von den reißenden, schneidend kalten Winden, die in solcher Höhe toben mussten! Aber gut, der plötzlich sehr starke Langfinger kam unten an, zog ein Schwert aus dem Nirgendwo – hoffentlich war das wenigstens irgendwann irgendwo zuvor erwähnt worden und kam nicht tatsächlich an dieser Stelle einfach aus dem Nichts…! – und kappte die Bohnenstange. Natürlich, einfach so. Denn das Ding wuchs bis in die Wolken hinauf und hatte nicht nur gerade erst das Gewicht zweier Menschen getragen, sondern trug offenbar noch immer das Gewicht eines Riesen – die Bohnenstange also mit einem Schwerthieb eines dürren Ärmchens durchtrennen? Kein Problem! Der Riese stürzte und fluchte und schlug vermutlich auf – wen interessierte das schon. „So ein Blödsinn“, maulte Thorin leise, schlug das Buch wieder zu und legte es auf den Nachttisch. „Ihr wollt eine Geschichte hören, hm?“, wandte er sich den Kindern zu, die bis dato bemerkenswert geduldig und ruhig ausgeharrt hatten. Vielleicht hatte Lileth ein gutes Wort für seine Erzählungen eingelegt? Überhaupt war es draußen inzwischen verdächtig still und er hätte wetten wollen, dass jenes Flackern auf dem Gang von einer Kerze stammte, mit der sie direkt neben der offenen Tür stand. Grinsend schüttelte der Kahlkopf das Haupt und sah davon ab, sie darauf hinzuweisen, dass sie sich einfach irgendwo einen bequemen Platz suchen könnte. Vielleicht würde sie das ja aus eigener Kraft dazulernen. „Erzähl uns von Mutters Abenteuern!“, bat Elaine. Sie wirkte nach wie vor so… ruhig, ausgeglichen, unschuldig… angesichts des Umstandes, dass sie also in diesem Haushalt aufwuchs, musste sie es faustdick hinter den Ohren haben, vermutlich war sie die Schlimmste der ganzen Bande! Dennoch konnte sich Thorin nicht ihres Charmes entziehen. Vielleicht schlug sie ein klein wenig zu sehr nach Ninafer – wie immer das auch möglich war… „Au ja!“, stimmte Frederick unangenehm laut ein, „Mutters Abenteuer, Opa!“ Da… musste er sich bemühen, nicht das Gesicht zu verziehen. Einmal schwer schlucken – einfach alle Widerworte, Belehrungen, Abneigungen herunterschlucken. Einfach weg damit. Es war eine Sache, ‚Großvater‘ genannt zu werden. Ungewohnt, aber nicht unbedingt schlecht. Opa dagegen… klang scheußlich. Während das Eine das Bild eines in Würde gealterten, weisen Mannes beschwor, rief das andere eher die Vision eines senilen, peinlichen Tattergreises hervor. „Fein“, meinte Thorin mit gespielter Frustration, „Da ich euch eine ganze Woche lang nicht loswerden kann und ihr es mit mir aushalten müsst, dann eben so. Jeden Abend eine Station unserer Reise, hm?“ Im ersten Moment von seiner offensichtlichen Abneigung irritiert, blieben die Kinder stumm und starrten ihn verwirrt an – bis er ihnen zuzwinkerte und das Zimmer in Jubel und Freudenrufe explodierte. Binnen Sekunden hatten sie sich in Position begeben, tief in ihre Decken, Kissen und Stofftiere eingekuschelt, aber mit voller, gebannter Aufmerksamkeit ihm zugerichtet. „Unsere Geschichte beginnt, wie so viele Geschichten, in einem Gasthaus“, begann Thorin. Er fand sich rasch in seine alte Rolle als Geschichtenerzähler hinein und imitierte zu seinem besten Vermögen die Stimmen, Gestik und Mimik seiner Figuren, sehr zum Vergnügen seines Publikums. „Herothing war ein merkwürdiges Städtchen, müsst ihr wissen. Da gab es den Wald, der die Stadt umspannte, riesige, starke Bäume, edel und gesund, zwischen denen die ganzen Adligen ihre hübschen Häuschen hatten. Und dann gab es die Stadt selbst, klein und bescheiden, wie sie an der Küste lag und versuchte, von Fischfang zu überleben. Ich war damals nach Herothing gekommen, um Kontakt zu ein paar der Adligen aufzunehmen. Die üblichen langweiligen Gespräche und Verhandlungen.“ Elaine gähnte – demonstrativ, wie das anschließende Lächeln aufzeigte -, während Frederick einmal mehr weit weniger subtil war. „Verhandlungen sind doof.“ Amüsiert schnaubend konnte Thorin ihm nur mit einem Nicken zustimmen. Gäbe es so etwas wie Diplomatie nicht, wäre die Welt eine andere, sicherlich – es hieße aber auch, dass sein Vater jetzt hier wäre und so sehr die Kinder ihren Großvater und seine Geschichten liebten, war sich der Kahlkopf doch darüber im Klaren, dass er hier war, um eine Lücke zu füllen, die jemand anders hinterlassen hatte. „Es war eine düstere und kalte Nacht“, setzte der Krieger wieder an, „Der Regen prasselte laut auf die Dächer. Keine fünf Fuß weit konnte man draußen sehen! Und langsam, ganz langsam, kroch der Nebel von See her in das Dorf. Immer höher und höher!“ Ein Vorteil daran, das Ishara nach wie vor glaubte, unbemerktes, inoffizielles Publikum zu sein, war der schlichte Umstand, dass sie ihn nicht auf Fehler in seinen Geschichten hinweisen konnte. Beispielsweise, dass es höchst merkwürdig wäre, wenn Nebel aufkäme, während es regnete. Dann wiederum verließ er sich in solcherlei Situationen gerne auf sein Lieblingsargument zur raschen Klärung solcher Dispute: ‚Es ist Magie, so!‘ Darauf kam dann meistens ein breites Grinsen, ein wissendes ‚Ah, verstehe‘ und die Geschichte konnte weitergehen. Die offiziellen Zuhörer hingegen waren von der Vorstellung jedoch offenbar zu sehr gefangen, um auf solche Absurditäten aufmerksam zu machen. Vermutlich würde das Anabelle irgendwann tun, wenn sie dergleichen selbst erst einmal begriffen hatte. „Viele Leute waren bereits schlafen gegangen. Eltern hatten ihren Kindern Geschichten vorgelesen, wie diese, ihnen einen Kuss zur guten Nacht gegeben. Andere, wenige, saßen noch beisammen und aßen, spielten, redeten. Ahnungslos waren sie allesamt, was mit dem Nebel kam…!“ Im ersten Moment hatte er befürchtet, seine völlig überzogene Gruselstimme sei zu dick aufgetragen gewesen, doch in der überragend regen, kreativen Vorstellungskraft eines kindlichen Verstandes fand er seinen besten Verbündeten: Alle drei kauerten sich etwas enger zusammen, wartend, bis ausgerechnet der sonst so freche und vorlaute Frederick es nicht länger ertrug. „Was… was war da?“ Schach und Matt. „Ein Schiff, kleine Landratte. Mit Segeln, zerschlissen und alt. Das Holz morsch und vollgesogen mit Meerwasser. Still und leise lief es in den Hafen ein, vor Entdeckung durch Nebel, Nacht und Regen geschützt. Still und leise, lautlos, atemlos, verließ die Mannschaft den Kahn. Sie schlurften durch die Straßen und Gassen, verharrten reglos im Nebel, wann immer ein einsamer Einwohner sich nach draußen verirrte, verteilten sich in ganz Herothing! Ich für meinen Teil saß in einer Taverne, genoss mein Abendmahl und überlegte, wie ich die Gespräche beginnen sollte. Ich schenkte dem Spitzohr ein paar Tische weiter keine sonderliche Beachtung. Doch dann!“ Wie geplant ließ der Ausruf die Kinder zusammenzucken – und sogar das Flämmchen draußen reagierte. Der Schein flackerte deutlich auf, senkte sich nieder. Offenbar war die Kerze zu Boden gefallen, was auch Lileths fast nicht hörbaren Fluch erklärte. Fast nicht hörbar. Mit breitem Grinsen fuhr Thorin fort: „Die Tür sprang auf, wurde regelrecht aus den Angeln gesprengt! Alle Köpfe fuhren herum, starrten schockiert in die Finsternis der Nacht hinaus, hörten nur das Prasseln des Regens. Die Nacht schien so dicht und dick, als würde sie das Licht der Lampen und Kerzen selbst verschlingen wollen und plötzlich kamen sie, scharenweise! Untote Piraten, ihre Leiber halb zerfallen, mit zerfressenen Kleidern, Säbel rasselnd!“ Das Stakkato seiner Worte gab den Kindern wenig Zeit, sich über irgendetwas davon Gedanken zu machen. Stattdessen füllte ihre eigene Fantasie eventuelle Lücken auf und zeichnete in Windeseile eine Szene, wie Thorin sie vorgab. „Ich packte meine Axt und schlug den Ersten nieder, aber das ist so das Problem mit Untoten – sie bleiben einfach nicht liegen! Die Gäste der Taverne schrien durcheinander, Panik begann auszubrechen, alles drängte sich in Windeseile die Treppe zum Keller hinab oder die Treppe zu den Zimmern hinauf, Hauptsache nur schnell fort von diesen Monstern! Und aus der schwarzen Nacht heraus konnten wir das Geschrei hören, die Hilferufe – was bei uns geschah, geschah in ganz Herothing zugleich!“ War die Situation schon schlecht genug? Vielleicht noch ein paar untote Bestien? Andererseits, die könnte er sich auch gut für später aufheben. Ishara hätte ohnehin längst darauf hingewiesen, das auf ein einziges Schiff, selbst eine Galeone, nicht so viele Piraten gepasst hätten. Außer man würde sie stapeln – und diese Vorstellung wiederum hätte zu albern gewirkt, um in die Erzählung zu passen. Thorin bemerkte jedoch die Stille draußen. Er bemerkte auch, dass der Lichtschein weniger flackerte und heller war. Hatte sie etwa eine Sturmlaterne geholt? Mehr Licht gegen die Dunkelheit… Mit einem Grinsen begann er in Zweifel zu ziehen, ob sie tatsächlich seine Geschichten mit kühler Logik unterbrochen hätte, oder ob sie nicht gerade vielmehr selbst mit schlotternden Knien draußen auf dem Flur stand… „Es schien, als seien Herothings Tage gezählt! Ich hackte um mich, schlug und trat und gerade, als die Untoten mich zu überwältigen drohten, rief jemand „Kopf runter!“ Nun, ich konnte ja schlecht der Einzige sein, der eine Waffe besaß, nicht? Also folgte ich der Anweisung gerade rechtzeitig, bevor eine Reihe von Pfeilen in die Schädel der Untoten einschlug. Zwischen mehreren nun reglosen Leibern begraben, hob ich den Kopf ein wenig. Nun müsst ihr euch vorstellen, alles was ich sah, sah ich kopfüber, also war ich natürlich erst einmal ziemlich verwirrt. Aber da stand diese dürre kleine Person, dieses Spitzohr von zuvor, mit einem prächtigen Bogen. Die Runen, die darauf eingraviert waren, leuchteten bei jedem Schuss auf – und wie sie schoss! Zack, zack, zack, zack, zack! Ein Pfeil nach dem anderen! Ich konnte kaum mitzählen, so schnell ging es!“ Die Kinder wirkten aufrichtig erleichtert, was Thorin beinahe – nur beinahe – herzhaft hätte lachen lassen. Ihre Mutter war eine verdammte Heldin, genau so war das! „Als keine Untoten es mehr wagten, die Taverne anzugreifen, wühlte ich mich aus dem Berg an übelriechenden Leibern hervor. Sie war schon ein Stück voraus, aus dem Haus geeilt, als ich nach ihr rief. „Lass mich helfen!“, forderte ich. „Bring die Leute in Sicherheit!“, rief sie zurück und fast hätte der Sturm ihre Worte geschluckt, als sie leise und düster nachsetzte „Die Piraten gehören mir!““ Thorin selbst hatte mit sich zu kämpfen, um weiterhin ernst und bei der Sache zu bleiben, das Tempo angezogen zu halten und das Trommelfeuer seiner Geschichte nicht nachgeben zu lassen – doch Isharas Mischung aus einem Schnauben, Grunzen und halberstickten Auflachen draußen auf dem Flur hätte ihn fast darin versagen lassen. „Nun“, fuhr er nach einem mahnenden Räuspern fort, „ich wusste ja nicht, was sie für eine Rechnung mit Piraten zu begleichen hatte – oder mit Untoten -, aber da wollte ich ihr dann doch lieber nicht im Weg stehen! Also nickte ich artig und ließ sie ziehen, während ich mich kurz darauf hinaus machte, um so viele Leute wie möglich von den Straßen zu holen – oder aus ihren Häusern heraus, falls die Piraten bereits hineingelangt waren. Das war eine wirklich anstrengende Aufgabe, immerhin wehrten sich viele im ersten Moment vor lauter Panik, wenn da ein bewaffneter Kerl mit meiner Statur auftaucht, nachdem zuvor jede Menge bewaffneter Kerle mit etwas zerfledderter Statur da waren. Doch überall, wohin ich auch kam, fand ich die Spuren ihres Treibens. Pfeile über Pfeile in Schädeln, Schultern, Armen, Beinen. Mancher Untote sah mehr wie ein Stachelschwein aus, denn ein Pirat!“ Wie erhofft, amüsiertes Kichern von allen Seiten. „Ich rettete stundenlang so viele Leute, wie ich konnte und sah sie dann und wann durch die Straßen jagen oder über Dächer pirschen, einen, zwei, drei, manchmal fünf Pfeile zeitgleich feuernd. Sie trieb die Wellen der Piraten immer weiter zurück, bis sie sich wieder in den Hafen auf ihr Schiff zurückziehen mussten. Das Geisterschiff legte ab, als der Nebel sich aus Herothing zurückzuziehen begann und wir standen am Kai, sahen der davonsegelnden Bedrohung nach. „Das war’s dann wohl, hm?“, meinte ich zu ihr, unschlüssig, was ich ja denn nun sagen sollte. Aber sie schüttelte nur den Kopf, legte ihren letzten Pfeil an und hob den Bogen. „Die gehen nirgendwohin! Zu viele Küstenstädte haben sie schon überfallen…!“ Da war sie wieder, diese düstere, bedrohliche Stimme, diese Gewissheit, dass kein Monster jemals einfach so davon käme. Ich weiß bis heute nicht, was sie da eigentlich für einen Pfeil geschossen hat – oder vielleicht war es ein ganz normaler Pfeil und sie traf einfach nur irgendetwas Entzündliches? Aber auf eine Entfernung, das wir das Geisterschiff kaum noch sehen konnten, traf sie!“ Mal sehen. Zu viele Untote für ein Schiff. Zu viele Pfeile für einen Köcher. Man kann nicht mehrere Pfeile mit einmal abfeuern. Herothing ist nicht groß genug, um ‚stundenlang‘ Leute zu retten. Die Stadtwache ist zu keinem Zeitpunkt erwähnt worden. Das Schiff ist plötzlich ein Geisterschiff. Geisterschiffe können neuerdings explodieren. Und sie hat einen Runenbogen. … ja, damit kann ich arbeiten. Ist noch innerhalb der Toleranzgrenzen. „Und was geschah dann?“, hakte Frederick atemlos und leise nach. Thorin lehnte sich ein gutes Stück vor, wartete, bis die Kinder seine Bewegung imitierten, ehe er lauthals hervorbrachte: „Boom!“ Die Kinder schraken zusammen, während er, mit ernstem Gesicht, nickte. „Genau das. Das Schiff explodierte. Die Stücke flogen so weit, dass selbst bei uns am Kai noch kleine Teile ankamen. Danach hatte die See – und die Küsten der Welt – eine Bedrohung weniger. Ich stellte mich ihr vor und erklärte, dass ich die Krone stürzen wolle und ihre Hilfe gut gebrauchen könne. Sie willigte ein und nannte mir schließlich ihren Namen: Lileth Acedia.“ Der Jubel war groß. Die Monster waren tot, die Heldin hatte gesiegt, alle zufrieden. Und ganz zufällig kam Lileth gerade in diesem Moment ‚vorbei‘, um das Ende der Geschichte zu bemerken. Als sie eintrat, musterte sie ihn einen Moment lang mit, nun, Verwirrung, Verstörung, vielleicht Fassungslosigkeit? Aber über alledem lag ein Amüsement so tief empfunden, wie er es von ihr aus früheren Tagen kannte. Kopfschüttelnd zog sie an dem Krieger  vorbei, gab ihm einen spielerischen Schlag gegen die Schulter und widmete sich dann ihren Sprösslingen. „So, genug Geschichten für heute, Zeit für’s Bett!“ Thorin half dabei, die Betten zu richten und amüsierte sich köstlich über die Fragen, denen sich Lileth dabei ausgesetzt sah, bis sie das Zimmer hinter sich ließen. „Du bist unmöglich!“, schalt sie ihn, kaum dass beide ein Stück entfernt waren, sicher außer Hörreichweite. „Mhm, ich weiß – ich gebe mir Mühe! Du kannst dir das nächste Mal übrigens auch einfach einen Stuhl nehmen oder dich auf eins der Betten setzen, weißt du?“ Sie hatte bereits angesetzt, er konnte es sehen. Was er alles falsch erzählt hatte, was alles nicht klappte, nicht stimmte, nicht funktionierte – stattdessen wurde sie rot und schlug den Blick nieder. Klappt immer noch jedes einzelne Mal… „Ich bin morgen Abend wieder da.“ Sie nickte lediglich, hatte sich noch nicht genug von der Peinlichkeit erholt, um irgendetwas zu artikulieren. Das genügte ihm völlig.   „Weißt du, es ist wirklich bemerkenswert, wie die Zeit vergeht und einem einfach das Gedächtnis ruiniert. Ich erinnerte mich gar nicht mehr an die Piraten in Herothing“, begrüßte Ishara ihn mit einem Grinsen. „Da siehst du mal! Gut, dass du mich hast. Andernfalls würdest du noch vergessen, Kinder zu haben und wieder mit mir auf Abenteuer ausziehen wollen…!“ „Hast du nicht auch Kinder? Ich meine mich da dunkel zu erinnern…!“, neckte die Halbelbe zurück, doch Thorin winkte lediglich ab. „Die sind aus dem gleichen Holz wie ihr Vater, denen passiert nichts. Außerdem sind sie alt genug, sich selbst aus Seeschlangen rauszuschneiden.“ „Mhm.“ Das klang nicht sehr überzeugt. Dann wiederum war es auch fragwürdig, wovon genau er sie eigentlich überzeugen wollte. So oder so führte ihr beständig fortgesetzter Weg sie ohnehin zum Kinderzimmer, lange bevor sie dieses Thema vertiefen oder gar zu einem Abschluss führen konnten. Wobei Diskussionen mit Lileth Acedia nie wirklich ‚abgeschlossen‘ waren. Etwas, wovon Alistair vermutlich ein Liedchen trällern konnte. Verdient. Thorin betrat den Raum… und lachte. „Deren Idee“, flüsterte Ishara leise hinter ihm, „Sie dachten, du könntest die Stärkung gebrauchen und würdest dann etwas länger bleiben.“ Alle drei lagen sie bereits in ihren Betten, der Stuhl stand in der Raummitte parat, der kleine Nachttisch daneben. Alistairs Buch lag darauf, jedoch abgedeckt von einem Teller, der bergeweise beladen war – mit Keksen. Und ein Glas Milch daneben. „Ich durfte nicht einen einzigen Keks haben…“, murrte es leise hinter ihm. Grinsend trat der Hüne ein und nahm Platz. Er hatte gehofft, sich etwas früher loseisen zu können, doch das war gehörig missglückt und hatte ihm die Laune für fast den gesamten Tag verhagelt – dieser Anblick hingegen, das richtete es wieder. Vielleicht würde er es ja morgen schaffen, ein wenig früher zu kommen und etwas mehr Zeit mit seinen Enkeln zu verbringen. „Also gut, wo waren wir?“, hob er an und sah sich um. Tatsächlich ließ sich Lileth bei Anabelle nieder, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Unterschenkel vom Bett baumelnd. Ihre Jüngste rutschte auch sofort herum, bettete den eigenen Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter und schmiegte sich bestmöglich an. Die Herrin des Hauses kam der stillen Bitte widerstandslos nach und fuhr Anabelle durch die Haare, kraulte ihren Nacken und Rücken herab, was unweigerlich dazu führte, das die Kleinste eingeschlafen war, lange bevor Thorin auch nur die Hälfte seiner Geschichte erreicht hatte. „Nachdem wir erfolgreich Herothing gerettet hatten, zogen wir nordwärts weiter, nach Ammarath. Eigentlich, so hieß es, sei das eine hübsche Stadt. Aber ihr wisst sicherlich alle, das es in Ammarath Geister gab, nicht?“ Er wartete auf Reaktion, blickte sich um. Elaine, die kleine Leseratte, nickte ergeben – Frederick, der ein Buch nicht mal als Zunder verwenden würde, schüttelte den Kopf und Anabelle war… damit beschäftigt, leise und glückselig vor sich hin zu seufzen. „Nun, wir wussten das nicht, als wir dort ankamen. Aber wir konnten’s uns rasch denken, denn die ganze Stadt, ehemals wundervolle Häuser, gewachsen direkt aus dem Holz der Bäume heraus, deren Kronen sie trugen… war eine Ruine. Abgebrannt! Die ganze Stadt, einfach fort. Nur noch umgestürzte Bäume, Asche und Grau, so weit das Auge reichte. Erstmal sehen wir nur das – eine Ruine. Wir waren natürlich besorgt und entsprechend wachsam. Ich meine – mal ehrlich! Elben haben da gelebt, Hunderte, vielleicht Tausende. Die spielen die ganze Zeit mit Wasser- und Luftmagie herum, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, auf Harfen zu klimpern oder Liedchen trällernd bei Vollmond nackt über die Wiesen zu hüpfen.“ Ein paar amüsiert-neugierige Blicke, fragend allesamt, richteten sich auf Ishara. Hatte sie je-…? Doch ehe sie Antworten konnte, holte sich Thorin die Aufmerksamkeit seines Publikums zurück. „Wir bewegen uns also möglichst vorsichtig durch diese verwüstete Landschaft, in der Hoffnung, herauszufinden, was hier eigentlich geschehen war. Ein paar Stunden dauerte das… und alles, was wir hörten, war unser eigenes Atmen.“ Thorin platzierte ein paar demonstrative Pausen, in denen völlige, angespannte Stille herrschte. „Nun gibt es einen Unterschied zwischen Wachsamkeit und Paranoia. Jemand, der paranoid ist, hat unbegründet zu viel Angst vor etwas. Und wir, die wir in dieser Stille marschierten, überschritten diese Grenze. Da!“, rief Thorin plötzlich aus und alle zuckten zusammen – sogar Anabelle, wenngleich auch kaum wahrnehmbar. Er deutete den Arm in weitem Bogen heraufgerissen in eine Richtung, alle Blicke folgten – dort war… nichts. „Hatte da nicht ein Ast geknackt? Wir waren uns sicher, das- da!“ Ein erneuter Ausruf, eine andere Richtung, wieder nichts. Nachdem alle sich ein wenig beruhigt hatten, fuhr der Hüne fort. „Stundenlang. Ein Ast knackte hier, ein Stein rollte da, ein Windhauch dort. Unsere Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt! Was hätte ich nicht dafür gegeben, hätte uns in diesem Moment irgendein Monster angefallen! Das wäre wenigstens offen und ehrlich gewesen. Etwas, wogegen man sich wehren kann.“ Frederick nickte, sichtlich betroffen, mitleidend. Elaine hingegen… war zu klug für ihr eigenes Wohl. Oder zu belesen. Vermutlich beides. Sie wusste nur zu gut, wie viele Kreaturen es dort draußen gab, gegen die man keine Chance hatte. Beispielsweise… „Wir näherten uns dem Stadtkern, als sie auftauchten. Direkt aus dem Boden vor uns stiegen merkwürdige Schemen auf, kaum definierbare Formen, nur erkenntlich an ihrer leicht abweichenden Färbung. Kaum aber, dass sie den Boden passiert hatten, begannen ihre Konturen klarer zu werden, deutlicher, schärfer und uns wurde klar: Das… waren Geister! Nun müsst ihr verstehen, mit Geistern hatten wir nicht gerechnet und mit denen hätten wir auch einige Probleme gehabt, sogar eure Mutter! Es ist nämlich nicht so leicht, einem Geist eine Axt reinzuschlagen oder ihn mit einem Pfeil zu pieksen – weil Geist. Alles geht durch. Also blieb uns nur, inbrünstig zu hoffen, dass wir nicht gerade von Feinden umzingelt wurden, denn umzingelt waren wir – sie kamen überall aus dem Boden, in ganz Ammarath, wie es schien! „Geh – ich halte sie auf!“, meinte das Spitzohr zu mir und glaubte doch allen Ernstes, ich würde sie da einfach so im Stich lassen. „Damit du den ganzen Ruhm für dich allein einsammeln kannst? Auf keinen Fall!“, warf ich also zurück und wir machten uns bereit für was auch immer da kommen mochte. Und wisst ihr, was sie dann taten, die Geister?“ Die Frage verweilte einen Moment unbeantwortet, gewichtig, in der Luft, ehe Frederick und Elaine den Kopf schüttelten. „„Gegrüßt sei die Heldin von Herothingen!“, meinten sie.“ Die Zwillinge wechselten einen verdutzten Blick, ehe sie wieder zu Thorin blickten, der ihnen ernst zunickte. „Ja, schaut mich nicht so an! Ich habe wirklich vieles erwartet, aber das ganz sicher nicht.“ „Wie haben sie eigentlich davon erfahren?“, mischte sich Lileth an jener Stelle grinsend ein. Sie konnte es einfach noch nie lassen… „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir das je herausgefunden hätten, oder?“  „Es sind Geister. Die wissen sowas. Vermutlich haben sie gespürt, wie du in Herothingen die Untoten vernichtet hast – immerhin sind Geister ja auch untot.“ Magie, so! „Ah… verstehe.“ Beide grinsten einander einen Moment lang zu, ehe Thorin sich wieder seinem restlichen Publikum widmete – das von seiner These völlig überzeugt schien. „Wir wollten natürlich keineswegs unhöflich erscheinen. Schon allein, weil wir nicht sicher waren, ob nicht doch unser aller Überleben davon abhing. Also grüßten wir und eure Mutter stellte uns beide vor – immerhin war sie es ja auch, die begrüßt worden war. Was wir dann nach und nach im Gespräch mit den Geistern erfuhren, war jedoch wenig erfreulich. Offenbar bereiteten sie sich auf Krieg vor. Tot, wie sie nunmal waren, hielt sie das nicht davon ab, sich für den Kampf zu rüsten. Was es da bei Geistern noch groß zu rüsten gab, haben wir nie erfahren. Nur, das sie einen Feldzug vorbereiteten gegen jene, die ihren Wald niedergebrannt hatten. Nun müsst ihr wissen, dass wir ziemlich berechtigten Verdacht dazu hatten, anzunehmen, dass das die Krone war. Eigentlich hätte uns das also freuen sollen, nicht?“ Frederick nickte, Elaine zögerte. Kluges Kind. „Ja – eben nicht. Seht ihr, was würden wohl all die Leute denken, wenn sie davon erfahren, dass eine Bande von Elbengeistern in die Hauptstadt eingefallen ist? Und schlimmer noch – woher wollten diese Geister wissen, wer verantwortlich war? War es der König? Nur der König? Oder auch seine Berater? Waren seine Offiziere beteiligt? Die Soldaten? Alle? Was, wenn sie auf Nummer sicher gehen wollten? Was, wenn sie einfach alles und jeden töten würden, nur um sicherzustellen, dass die Verantwortlichen irgendwo darunter wären?“ Elaine nickte, Frederick runzelte die Stirn. Es war bemerkenswert, wie grundverschieden die Zwillinge mitunter waren. „Uns wurde rasch klar, dass wir das nicht zulassen konnten. Die Panik, die Gerüchte, und all die verlorenen Leben – der Preis war einfach zu hoch, um unsere Ziele über diesen Weg zu erreichen. Also horchten wir sie ein wenig aus, lenkten das Gespräch in die von uns gewünschte Richtung. Wir bekamen heraus, dass wir es niemals schaffen würden, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie zu überzeugen war unmöglich geworden, als ihr Wald abbrannte. Aber! Sie plapperten munter und selig heraus, dass sie den Angriff nicht wagen würden, wären nicht ihre Ahnen an ihrer Seite.“ Ahnenkult bei den Elben…? Hmch, warum nicht. „Wir wollten natürlich ganz unschuldig und neugierig wissen, was sie so sehr davon überzeugte, in der Gunst ihrer Vorfahren zu stehen und bereitwillig erzählten sie uns von dieser enorm mächtigen, magischen Klinge, eine von zwei Runenwaffen, die die Zwerge als Bezeugung von Respekt und Ehre zur Geburt eines ihrer gepriesenen Ahnen gefertigt hatten. Diese Klinge sei nicht einfach nur wiederaufgetaucht, nachdem sie als verschollen, vielleicht sogar zerstört gegolten hatte, nein – die Geister, eigentlich nicht fähig, das Materielle zu berühren, konnten die Klinge führen!“ Elaines Augen funkelten. Oh hätte er doch nur den Namen des Schwertes genannt, vermutlich hätte sie ein neues Lieblingsthema gewonnen, auf dessen Fährte sie sich die nächsten Tage, Wochen, vielleicht Monate durch die Hausbibliothek wühlen würde. Die Zwillinge kannten Galanthyr natürlich. Die Klinge hing zusammen mit ihrem Zwilling, Igloria, über dem Kamin und fing Staub. Vielleicht nicht das rühmlichste Ende für ein Artefakt dieser Stärke und Macht, aber definitiv eines der Sichersten für alle Beteiligten. Nur ein unscheinbares Schwert über dem Kamin, warum sollte man sich da Gedanken machen? „Also sprachen wir uns kurz ab. Natürlich nicht mit Worten – die Geister waren ja schier überall und wer wusste schon, ob nicht im Boden direkt unter einem jemand lauschte? Ich blieb zurück mit der fürchterlichen Aufgabe, das Gespräch am Laufen zu halten, während eure Mutter loszog, um das Schwert zu erlangen. Sie fand den Eingang zu den Katakomben Ammaraths und dort musste sie sich den Prüfungen stellen, die zeigen sollten, ob sie würdig wäre, die Waffe auch nur zu erblicken!“ Frederick schien verhältnismäßig unbeeindruckt. Seine Mutter war hier und hatte noch alle Ohren, Arme, Beine, Finger und Augen, so schlimm konnte es also offensichtlich nicht gewesen sein. Außerdem entsprachen ein paar Rätsel nicht unbedingt dem, was er sich unter einer spannenden Geschichte vorstellte. Elaine hingegen drohte jeden Moment vornüber und damit aus dem Bett zu kippen. Sie wusste, was für mächtige Magie dort draußen existierte. Wusste, dass es nicht unmöglich war, die Toten ins Leben zurück zu bringen oder Gliedmaßen nachwachsen zu lassen. Schwer, teuer, gewiss. Aber nicht unmöglich. Die Hürden eines vielfältigen Publikums – immer musste man versuchen, den Mittelweg zwischen allen vorhandenen Interessen zu finden. „Sie betrat die erste Kammer, da ertönte eine knorrige alte Stimme, während sich hinter ihr die Tore schlossen: „Am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig – was bin ich?““ Wissend, dass Frederick schnell aufgeben würde und an Rätseln wenig interessiert war, sondern eher mit Geduld ausharren würde, bis es endlich zu den spannenderen Stellen käme, fixierte Thorin zunächst Elaine. Die Stirn kraus ziehend, lehnte sie sich im Bett zurück und sann nach. Als sie nach einem Moment aufgab, löste der Hüne auf: „Der Mensch. Wird er geboren, bewegt er sich auf allen Vieren. In seiner Blüte läuft er aufrecht… und am Abend?“ „Gehstock!“, warf Frederick amüsiert ein. Nun, vielleicht war er kein Rätselfreund, solange es um das tatsächliche Lösen der Aufgaben ging, aber er schien zumindest eine gewisse Freude an einem guten Rätsel empfinden zu können. Dann war noch nicht alles verloren, wie es schien. Elaine hingegen nickte, sehr viel ernster. Sie absorbierte das Wissen, verdaute es, verarbeitete es. „Die Stimme nahm ihre Antwort hin, ohne darauf zu reagieren. Stattdessen fragte sie: „Alle Armen besitzen es, alle Reichen brauchen es, und wer es isst, stirbt – was bin ich?““ Wieder wartete Thorin auf Elaine. Sehr zu seiner Überraschung war es Frederick, der die Antwort in Windeseile brachte. „Nichts.“ Der Bursche überlegte nochmals einen Moment – in einer echten Notlage wie der, die Thorin gezeichnet hatte, hätte eine vorschnelle Antwort ihn töten können. Es gab merkwürdige Kreaturen da draußen, die das Überleben derer, die ihr begegneten, von der Lösung auf Rätselfragen abhängig machten. Dennoch änderte das nichts daran, dass Frederick die richtige Antwort hatte. Und das binnen Sekunden. Der Bursche schlug also doch nicht zu sehr nach seinem Vater. „Korrekt! Gut gemacht“, lobte der Krieger und bemerkte durchaus den leicht frustrierten Blick Elaines. Sie war es nicht gewohnt, ausgerechnet von ihrem Bruder vorgeführt zu werden. Das hatte er zwar nicht getan, so schien sie sich aber zu fühlen. Vielleicht also als Abschluss eines, das für Frederick schwerer wäre, für sie aber leichter. „Wieder nahm die Stimme ihre Antwort ohne jede Reaktion hin und fragte ein letztes Mal: „Der es macht, der will es nicht. Der es trägt, behält es nicht. Der es kauft, der braucht es nicht. Der es hat, der weiß es nicht. Was bin ich?““ Minuten zogen dahin. Thorin bot ihr Hinweise an – sie lehnte ab. Thorin bot die Auflösung an – sie verweigerte vehement. Selbst als Frederick sie drängelte, dass es doch endlich weitergehen solle, gab sie nicht nach. Diese zielgerichtete Sturheit… konnte er respektieren. Weshalb er ihr die Zeit einräumte, bis ihre Miene schließlich aus der tiefen Kontemplation zurückkehrte, aufhellte und sie selbstsicher meinte: „Ein Sarg!“ Frederick verzog das Gesicht. „Du bist komisch“, meinte er zu seiner Schwester. Thorin bemühte sich, nicht zu auffällig aufzulachen, ehe er Elaine zunickte. „Korrekt. Ziemlich clever!“ Und sie strahlte wie die Morgenröte – prächtig! „Und wie ging’s weiter?“, drängelte Frederick zügig. „Nun, es sind Elben. Es folgte noch eine ganze Reihe anderer Rätsel. Platten, die verschoben werden mussten, Bilder, die man zusammensetzen musste. Eine Melodie musste gespielt werden, ein paar Spiegel mussten ausgerichtet und das Sonnenlicht auf einen bestimmten Punkt geworfen werden.“ Er wartete kurz ab und, ganz wie erwartet, kam Fredericks enttäuschtes Brummen. „Nach mehreren Stunden wusste ich auch allmählich nicht mehr, was ich noch tun sollte. Ich hatte inzwischen begonnen, mit den Geistern über elbische Küche zu sprechen – nur um festzustellen, dass ich damit in eine offene Wunde stochere, weil sie ja nicht mehr fähig waren, etwas zu kochen. Oder zu essen. Oder zu schmecken.“ Amüsiertes Glucksen. „Tja, daran hätte ich früher denken sollen, was? Aber mir gingen tatsächlich allmählich die Gesprächsthemen aus. Glücklicherweise kehrte eure Mutter in dem Moment zurück – das Schwert in Händen. Sie befahl den Geistern, sich zur Ruhe zu begeben und von ihrem Kreuzzug zur Hauptstadt abzulassen. Und glücklicherweise glaubten die Elben genug an den Willen ihrer Vorfahren, dass sie meinten, Lileth sei gesegnet worden – immerhin habe sie ja das Schwert aus seiner Krypta bergen können. Also fügte man sich ihrem Willen und die Geister verschwanden nach und nach. Wir zogen wenig später weiter und wie ihr euch erinnern könnt, anhand des hübschen Staubfängers in der Wohnstube, hat sie das Schwert heute noch. Ich muss jedoch zugeben, es hat mich immer ein wenig verwundert.“ „Was denn…?“, hakte Elaine nach, ein weiteres Rätsel witternd. „Nun, eure Mutter hatte dieses Schwert geborgen. Und später fand sie seinen Zwilling. Beides enorm mächtige Waffen, die dazu bestimmt waren, Großes zu vollbringen. Und kurz darauf wurde sie schwanger – mit euch beiden. Ihr wisst schon. Zwillingen.“ Thorin zuckte mit den Schultern und ließ sämtliche Implikationen, egal wie haarsträubend und unwahrscheinlich, einfach in der Luft hängen. Stattdessen erhob er sich und verabschiedete sich von den Kindern – noch zu sehr in Gedanken vertieft und bedeutungsschwere Blicke wechselnd – ehe er von Ishara vor die Zimmertür begleitet wurde. „Das Rätsel mit dem Sarg war neu“, merkte sie lächelnd an, „Diesmal wirst du mir aber nicht einfach so davon kommen, indem du mich in Verlegenheit bringst! Wir werden jetzt mal ein wenig über deine Geschichten reden und-“ Ishara stoppte abrupt, als sie das Zupfen an ihrem Nachtkleid spürte. Den Blick wendend, sah sie zu Elaine herab, die offenbar aus dem Bett gekrabbelt und ihr nachgelaufen war. Im Zimmer stand auch Frederick, ein wenig unschlüssig, aber ebenfalls außerhalb seines Bettes. Seufzend sah die Hausherrin zu ihrem Vater zurück – der ihr breit zu grinste. „Brauche ich nicht, Grashüpfer. Ich habe vorgesorgt.“ Der Hüne lehnte sich vor und drückte seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin dir immer noch immer einen Schritt voraus“, meinte er zufrieden, „Schlaf nachher gut. Und du auch, Bücherwurm.“ Er tätschelte Elaine den Kopf, ehe er sich abwandte. „Mutter, sind wir zu Großem bestimmt…?“, hörte er Elaine leise flüstern, während Lileth ihre Kinder zurück ins Bett brachte.   „Hier, für dich. Du bist jetzt Thorin Wyrmblut! Aber pass auf, das du deine Schwester nicht zu kräftig haust, sie ist ein zartes Pflänzchen und hält nicht so viel aus, hm?“, instruierte der Krieger Frederick, während er ihm die Übungswaffe gab. Der Kern des Stücks war aus gutem, hochwertigem Holz, weshalb das Stück durchaus schon etwas wog, allerdings war es miniaturisiert angefertigt worden, groß genug für ein Kind eben, und sämtliche Kanten und Ecken waren gepolstert oder zumindest abgeschliffen. Dennoch strahlte der Knabe ihn an, als hätte man ihm soeben ein Königreich zu Füßen gelegt. … wenn der wüsste, wie verdammt viel Arbeit das ist…! Kurz nachdem er Frederick auf die Jagd nach seiner Schwester geschickt hatte, fand er selbige. Frederick suchte zuerst da, wo er sich verstecken würde – ausgehend davon, dass sie bereits alles wisse und daher bereits versteckt wäre. Das sie stattdessen einfach in der Hausbibliothek saß und las, diese Möglichkeit ging völlig an ihm vorbei, während er draußen herumtollte, versucht, möglichst heimlich an seine Beute heranzupirschen. Auch Elaine bekam eine Sonderanfertigung des höfischen Zimmermanns. Wie sich das gehörte, ein miniaturisiertes Replikat Galanthyrs. „Versuch deinen Bruder am Leben zu lassen“, rief er ihr lachend nach, als die ebenfalls mit einem Strahlen in den Augen davon jagte. Bücher waren gut und schön, natürlich, und Elaine hätte vermutlich glücklich sterben können, hätte man sie in eine angemessen gewaltige Bibliothek gebracht und dort eingesperrt. Doch das Mädchen besaß über ihre bodenlose Neugier hinaus den trieb, das Gelernte in die Tat umzusetzen, zu erforschen, wie weit Theorie und Praxis auseinander klafften. Und nach allem, was er von Ishara erfahren hatte, hatte sie gestern sehr viel über Schwerter und Schwerttechniken gelesen, immer auf der Jagd nach dem Namen der Klinge, die über ihrem Kamin hing. Dass er die Kinder einen Abend hatte versetzen müssen, war an sich schon schlimm genug. Das der Hof ihn heute ebenfalls hatte beanspruchen wollen… war schlichtweg inakzeptabel. Aber es war mitunter doch ein kleines Wunder, wie weit ein gutes Fass ausländischen Weins einen bringen konnte. Ninafers Anmerkung, das Wein normalerweise in Flaschen gehörte und nicht in Fässer – das wirke nämlich barbarisch -, stoppte kurzerhand, als er erklärte, das jener Wein aus Kruk käme und mehr Alkohol enthielte als einige ihrer Reinigungsflüssigkeiten. Der zwergische Gesandte war, nach einer sehr kurzen Absprache am Morgen, auch überaus erfreut über die milde Spende und willigte ein, ihn noch binnen der ersten zehn Minuten einen sturen Bock und Klingenohrensympathisanten zu nennen. Die Kombination war dabei durchaus wichtig. Die Elben regten sich postwendend darüber auf, was natürlich an der implizierten Beleidigung lag, das Spitzohren es nicht wert seien, mit ihnen zu sympathisieren. Aber da sie das offiziell nicht anbringen konnten – immerhin war die Krone beleidigt worden, nicht das elbische Volk – diente der ‚sture Bock‘ den Elben als Vorwand. Das wiederum bedeutete aber auch, dass sie für die Krone Partei ergreifen mussten, wenn sie sich berechtigt aufregen wollten. Und nachdem alles zügig eskaliert war, vertagte Thorin den höfischen Rat und schickte Ninafer als Vermittlerin in die Schlangengrube. Es war im Grunde traurig – die armen Gesandten, sie würden nicht den Hauch einer Chance haben… Dem Kahlkopf zumindest gab das den restlichen Tag frei. Gewissermaßen. Deshalb er kurz die Übungswaffen beim Zimmermann abholte und sich auf den Weg zu einen Enkeln machte. Es dauerte auch nicht lange, bis Elaine und Frederick draußen übereinander stolperten und die lustige Jagd begann – warum auch immer ‚Thorin Wyrmblut‘ nun plötzlich ‚Lileth Acedia‘ jagte und zur Strecke bringen wollte. Oder umgekehrt. Lileth aufzutreiben, gestaltete sich ein wenig schwieriger. Sie hatte mit ihrem eigenen Hofstaat zu kämpfen, dem Anschein nach fast wortwörtlich, ehe er auftauchte. „E-Eure Majestät…!“, krächzten ein paar der Bittsteller und gerade noch kühne Forderungen stellenden Adligen daher, als seine Lordschaft persönlich eintrat – nur eben ohne Krone. Oder Mantel. Oder den ganzen anderen Schnickschnack, den er eigentlich, theoretisch, gemäß Tradition und dem Willen des Adels, hätte tragen sollen. „Der Hof wird vertagt.“ Und wer waren diese Würmer schon, ihm zu widersprechen, nicht? Es war immer wieder kurios, zu sehen, wie sie sich fortwährend verneigten, während sie langsam rückwärts die Flucht aus dem Raum antraten. Es war nicht unbedingt ideal, wie Ninafer ihm einmal erklärt hatte, sich in Lileths Politik in ihren Ländereien einzumischen. Es untergrub ihre Autorität. Aber heute hatte er wenig dafür übrig, wie der Adel ihre Führungskompetenzen betrachtete. Sollten die sich erstmal einer Untotenarmee stellen! Und das am besten unter Lileths Führung. Dann gäbe es zweifellos so schnell keine gerümpften Nasen und skeptischen Blicke mehr. Apropos… „Wusstest du, dass die Untoten vor der Tür stehen?“ Die Reaktion war bemerkenswert. Hinter dem kleinen Sitz ihres Regentschaftszentrums brachte sie Bogen und Köcher hervor, den neben dem Sitz lehnenden Brustpanzer hatte er gar nicht erst bemerkt und offensichtlich hatte sie, nur zur Sicherheit, einen Langdolch direkt unter dem Kissen ihres Sitzes. Musste das nicht unbequem werden, mit der Zeit? Oder war das Kissen so unglaublich fluffig…? Dennoch. Angesichts des Umstandes, dass man nie allzu sicher lebte, sobald man irgendwas zu sagen hatte, war es vielleicht nicht ganz so übertrieben, wie es plötzlich wirkte. Immerhin mussten die meisten Leute sich auch Gedanken darum machen, ob ein abgetrennter Kopf oder tödlich vergifteter Wein sie auch tatsächlich umbringen würde. Das hieß, dauerhaft. „Wie viele? Kommen sie von Amon Sûhl oder aus dem Höllenschlund? Wie viel Zeit haben wir?“ Nun gut, vielleicht war er ein klitzekleines Bisschen zu weit gegangen. Vielleicht. Er hob beschwichtigend die Hände. „Beruhige dich, nur ein kleiner Spaß.“ „Spaß?!“, schallte ihm aufgewühlt entgegen. Nun, damit stand es definitiv fest: Er hatte übertrieben. Ein klitzekleines Bisschen. Allerdings, nach allem, was sie beide mit Untoten jedweder Form und Farbe durch hatten… „Hey, ich habe dich gerade vor deinem Hofstaat gerettet – töte nicht den Boten, oder so? Ich habe Elaine und Frederick was mitgebracht. Jetzt tollen sie draußen herum und glauben du und ich zu sein, damals in Jegurath. Ich dachte, ich komme mal etwas früher vorbei und fange die Geschichte ein wenig interaktiver an. Ziehst du mit oder bist du die Spaßbremse?“ „Ich habe schon gehört, dass du dir den Tag freigenommen hast. Ninafer lässt Grüße ausrichten. Ich soll dich übrigens vergiften, falls sich die Gelegenheit bietet“, erwiderte Ishara mit einer gehobenen Braue, während sie zumindest den Dolch wieder sorgfältig unter das Kissen schob und den Panzer abstellte. „Heh, ja, Ninafer…“, setzte er an, doch dem Krieger entglitten doch ein wenig die Züge, als Lileth eine kleine Phiole zutage förderte, kurz demonstrativ hochhielt und dann wieder verschwinden ließ. Einmal schwer schlucken. Das war kein gutes Zeichen. Ninafers Tag lief also hundsmiserabel. Vermutlich war der elbische Botschafter wieder ganz besonders umgänglich. Die Herrin des Hauses dagegen trat zu ihm heran, musterte ihn kurz und warf dann einen Blick zurück in den verwaisten Saal. „Danke. Und der Plan wäre?“ Thorin brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, ehe er ihre Frage realisierte und zum Tagesgeschehen zurückkehrte. „Nun, du bist Thorin Wyrmblut und musst an der Seite von Lileth Acedia gegen die Horden des finsteren König Xaraks bestehen, zur Rettung der Menschheit… oder der Spitzohren – wie immer dein Schlachtspruch lauten soll“, erklärte er mit einem finalen Schulterzucken und Grinsen. „Warum kann ich nicht einfach ich sein?“, wandte sie natürlich fast augenblicklich ein. Als wäre das nicht offensichtlich gewesen! „Weil Elaine schon du ist.“ „Natürlich“, gab sie mit einem beschwichtigten, amüsierten Lächeln zurück, „Und zu wem macht das dann dich und Frederick?“ „Dem selbsternannt-unsterblichen Lich und der scheinbar unbezwingbaren Wiedergänger-Rüstung natürlich!“ „Natürlich.“ Einen Moment lang standen sie schweigend im Raum, maßen einander mit Blicken, das Lachen bestmöglich in der Kehle zurückhaltend. „Nun“, setzte die Halbelbe schließlich an, „dann… sollte ich vermutlich mal Lileth suchen… ich meine, ich bin Thorin, nicht?“, fuhr sie fort und hatte bereits die große Tür des Saals erreicht und aufgezogen, „Den Geschichten nach bekomme ich ohne sie gar nichts auf die Reihe. Und mal ehrlich, dem ist ja auch so, nicht?“ „Hey!“ Auflachend zog das freche Spitzohr die Tür zu, während der Hüne ihr nachjagte. Die Tür aufreißend, spähte er den Gang hinunter und sah sie ein ganzes Stück weiter. Verdammt, wann war sie so schnell geworden?! Oder war er langsamer als früher…? „Bleib stehen, du verzogenes kleines Monster, damit ich dich über’s Knie legen kann…!“, brüllte er donnernd, das vermutlich das ganze Haus mithörte, während er ansetzte, ihr nachzujagen. „Ahhh, die Untoten greifen an! Untote! Lileth, zu Hilfe!“, kreischte das Halbblut und jagte kurz darauf glucksend und lachend nochmals etwas schneller um die Ecke und davon. Mehrere Bedienstete streckten hier und da die Köpfe vorsichtig aus den Türen – ein Untoten-Angriff? Jetzt? Aber das Mittagessen war fast fertig…! Umso irritierter wurden die Blicke, als Ishara offensichtlich sich selbst zu Hilfe rief und der einzige tatsächliche Verfolger- „E-Eure Majestät!“ - war. „Guarglflargh!“, gab Thorin eloquent von sich und wankte in klischeehafter Manier die Arme vorgestreckt seinem viel zu schnellen Opfer hinterher. Kurz darauf  verwandelte sich das gesamte Haus, einschließlich des kompletten, es umgebenden Geländes, in ein einziges, gewaltiges Schlachtfeld. Anweisungen wurden gebrüllt, Küchenpersonal kurzerhand zwangsrekrutiert und ganz allgemein sprang der Wahnsinn aus dem Reich der Erzählungen in die Realität und übernahm den Verstand aller Beteiligten. So zumindest wirkte es auf die wenigen Bediensteten des Hauses, die sich aufgrund mangelnden Humors nicht an der interaktiven Rekapitulation des Gemetzels von Jegurath beteiligen wollten und lieber damit argumentierten, wofür sie bezahlt wurden – und wofür nicht. Das weckte zwar in Thorin kurzzeitig den Impuls, sie hierfür zu bezahlen, doch er verkniff sich dergleichen. Das war einerseits Isharas Angelegenheit, andererseits würden sich die Zwillinge schon merken, wer mit ihnen gespielt hatte und wer nicht. Jede Entscheidung hatte Konsequenzen, immer. Gute Güte, sogar Frieda spielte mit und die war eigentlich die Näherin des Hauses, legendäre zweiundneunzig Jahre alt und konnte ohne die zwergischen Sehgläser die Hand vor Augen nicht mehr ausmachen, sondern nähte stattdessen nach Gedächtnis und Gefühl – und das immer noch bessere Ergebnisse erzielte als viele ihrer Kolleginnen. Es mochte wohl gegen späten Nachmittag sein – die Kämpfe wurden etwas ruhiger, viele der Verbündeten waren für tot erklärt worden und durften daher wieder ihren täglichen Aufgaben nachgehen -, als Elaine Thorin über Kekse und anderes Gebäck hinweg darüber aufklärte, das er sich vielmehr wie ein Zombie verhielt, aber nicht wie ein Lich. Sie wisse das ganz genau, sie habe nämlich kürzlich darüber gelesen. Das führte natürlich unweigerlich zu Lileths Frage, wann und wo sie darüber gelesen habe – denn dergleichen Bücher seien eigentlich nicht für sie gedacht. Das Elaine daraufhin zusammenzuckte, bedeutete zweierlei: Das sie gehofft hatte, Ishara säße weit genug weg, um das nicht zu hören… und das sie bestens gewusst hatte, das diese Werke nicht für ihre Augen bestimmt waren. Thorin verfolgte mit Amüsement und ohne irgendeine Partei zu ergreifen, wie sich das belehrende elterliche Gespräch entwickelte, in dessen Zuge sich die Halbelbe als ziemlich clever erwies. Sie gestand Elaine zu, die Werke lesen zu dürfen – immerhin hatte sie das ja bereits getan, ohne mit Alpträumen im Zimmer ihrer Eltern zu stehen -, doch es würde noch nicht näher definierte und damit viel gruseligere Konsequenzen geben, sollte sie sich irgendwann übernehmen. Vermutlich sahen die Konsequenzen letztlich so aus, das Ishara sich einen gewaltigen Berg Mehrarbeit machte und zu sortieren begann, welche Bücher für Elaine Alptraumpotenzial hatten und welche nicht, während das Mädchen eine Schnute darüber zog, bestimmte Bücher nicht lesen zu dürfen. Was, wiederum, früher oder später dazu führen würde, das sie kreativ wurde und sich überlegte, wie sie eben doch an die Bücher herankam. Kinder waren etwas Wundervolles. Haarsträubend, vorlaut, manchmal schlichtweg dumm, frech, dreckig – je jünger, desto schlimmer -, aber alles in allem… würde er die Erfahrung für nichts in der Welt hergeben wollen. Zu sehen, wie sie aufwuchsen. An der Formung ihrer Persönlichkeit beteiligt zu sein. Mit ihnen auf Abenteuerreise zu gehen, herauszufinden, wer sie waren und wo ihr Platz im Leben war. Als sie den Tisch räumten, wurden die Kämpfe – natürlich – postwendend fortgesetzt. Allerdings mit einem doch deutlich gemächlicheren Tempo. Nicht nur, weil viele der Verbündeten inzwischen tot waren… tragisch, tragisch… sondern auch, weil Thorins Plan, den Zwillingen jegliche Energie aus dem Leib zu ziehen, allmählich aufging. Selbst Frederick, der normalerweise das reinste Energiebündel war, verlagerte seine inzwischen berühmten frontalen Sturmangriffe eher auf ‚schleichen wir uns hinten herum an!‘ Das im Zuge der stetig wiederkehrenden Konfrontationen Lileth und Thorin immer wieder aneinander gerieten, war unvermeidlich. Die Übungskämpfe aus alten Tagen, in denen er sie windelweich geprügelt hatte, bis es an ihrem Körper mehr blaue Flecken als weiße Haut gab, lebten damit kurzzeitig wieder auf – nur das sie, trotz der Ruhe, die in den letzten Jahren in ihr Leben eingekehrt war, flinker und wendiger geworden war und er daher ebenfalls mit mehr Malen aus den Kämpfen kam, als zuvor. Das gipfelte natürlich unweigerlich in Ishara, die frech wurde und den Mund zu weit aufriss, weshalb dann eine kleine Ecke des Grundstücks als Sparring-Grund abgesteckt wurde, echte Waffen und Rüstungen herausgeholt wurden und sie eine echte Übungsstunde einlegten. Sehr zum Vergnügen Elaines und Fredericks, die ihren Konflikt kurzzeitig beilegten, einvernehmlich obendrein, und als Zuschauer am Rand saßen und natürlich ausschließlich ihre Mutter anfeuerten. Was nicht hieß, das Thorin nicht dennoch gewann, ein ums andere Mal. Doch das beirrte den Triumphjubel und die Rufe ihrer Kinder keineswegs, wann immer die Halbelbe einen Treffer landete. Als beide nun ihrerseits verschwitzt und am Ende ihrer Kräfte sich zu den Zwillingen gesellten… mussten sie mit Grauen feststellen, dass die die Pause genutzt hatten, um sich ein wenig zu erholen – und jetzt erwarteten, dass es weitergehen würde. Als sie dahingehend ein klein wenig enttäuscht wurden, entschlossen sie kurzerhand, eins gegen eins loszuziehen und das Haus unsicher zu machen. Etwas, das Lileth zwar offenkundig ein wenig Magenschmerzen bereitete, ihr aber letztendlich immer noch lieber war, als sich aufraffen und weiterhin mitmachen zu müssen. So kam es, das Thorin und Lileth die beiden erst am Abend einsammelten, verdreckt und erschöpft. Sie stopften sie in die Badewanne, gaben die dreckigen Kleider für die Wäsche auf, ließen neue bringen und brachten die Kinder in deren Zimmer. Anabelle wartete bereits dort. Die Jüngste der Familie hatte einen sehr viel weniger unterhaltsamen Tag gehabt. Ein paar merkwürdige Symptome hatten sich die letzten Tage eingestellt, sodass Ishara Meister Halon von Ilmwacht kontaktiert hatte. Der alte Magier war nicht mehr unbedingt der Schnellste – sowohl, was seine Anreise anbelangte, als auch die Untersuchung Anabelles. Doch zumindest hatte er Ishara bescheinigen können, dass es dem Mädchen gut ging und ihre merkwürdigen Ausbrüche lediglich eine Magiespitze in der Entwicklung ihres Talentes waren. Eine derartig schubweise Entwicklung fand zwar selten statt, doch nicht selten genug, das ein erfahrener, gelehrter Weißnekromant wie Halon davon nicht wissen würde. Einmal mehr nahm der Krieger auf seinem Stuhl Platz. Anabelle war von ihrem Tag ebenso erschöpft wie Frederick, Elaine und Lileth von deren. Das sollte also nicht lange dauern… „Also, wo waren wir? Ah ja. Nachdem wir in Ammarath diese prächtige Runenwaffe gewonnen hatten und erfolgreich die Geister davon abhielten, La Coeur zu überrennen, zogen wir weiter nach Norden. Wir kamen nach Jegurath, einer weiteren Elbensiedlung. Glücklicherweise weniger abgebrannt. Aber was soll ich euch sagen? Xarak ist der Fürst aller Untoten, und er ist ein wirklich schlechter Verlierer. Er hat uns übel genommen, dass wir das Piratenschiff in Herothing versenkten, genauso wie er uns übelnahm, dass wir die Geisterarmee in Ammarath beschwichtigten. Also sandte er Xul’Daan aus, einen Lich. Zugleich einer seiner engsten Berater und fähigsten Diener. Der Lich wurde von seiner Leibwache begleitet, einem Wiedergänger. Eine in unheimliches Licht gehüllte, körperlos animierte Rüstung! Der Geist, der sie führt, ist nahezu unzerstörbar! Die Späher Jeguraths bemerkten das Nahen rechtzeitig, um einen Großteil der Stadt evakuieren zu können – doch einige blieben. Blieben, um die Schätze ihres Volkes vor der Entweihung zu retten. Um die Häuser ihrer Familien, über Generationen erbaut und gepflegt, erhalten zu können. Um für ihr Volk einzustehen und den Flüchtlingen kostbare Zeit zu erkaufen. Und was hätten wir schon tun sollen? Diesen wenigen, tapferen Seelen den Rücken kehren? Fliehen, mit all den anderen, nur damit diese Armee uns bis ans Ende der Welt nachzieht? Denn Untote, das müsst ihr wissen, sind sehr geduldig. Wenn sie etwas haben, dann ist es Zeit. Also beschlossen wir, ebenfalls zu bleiben und ganz gleich, wie schlecht die Chancen standen, wir würden kämpfen! Seite an Seite mit den wenigen Verteidigern Jeguraths, bis zum letzten Mann!“ „Oder der letzten Frau“, warf Elaine korrigierend ein und bekam ein Nicken Thorins ab. Natürlich – Lileth Acedia war die Heldin des Abenteuers. Generell schien es, dass diese Erzählung Fredericks Geschmack sehr viel eher entsprach, aber auch Elaine wirkte durchaus interessiert. Vermutlich aufgrund der Neugier darüber, was von den Tagesgeschehnissen wirklich so gewesen war und was nicht. „Bei Einbruch der Nacht kamen sie. Kurz zuvor waren Wolken aufgezogen, hatten den sich färbenden Himmel nach und nach verdeckt. Kein Blitz, kein Donner, kein Regen. Nur Wolken. Und die tiefe Finsternis, die damit einherging, als die Sonne verschwand und der Neumond unsichtbar blieb. Wir glaubten schon kurzzeitig, die Sache sei ausgestanden, die Untoten hätten sich vielleicht zurückgezogen, als der Wald zu leuchten begann. Hoch auf den Dächern der Häuser Jeguraths, mit Bögen und so vielen Pfeilen, wie wir hatten finden und tragen können, standen die letzten Verteidiger bereit und um ganz Jegurath herum leuchteten die Fackeln auf, Tausende, Zehntausende!“ Untote sehen im Dunkeln… aber die Fackeln sind ein nettes Detail. Wirkt dramatischer. „Den Großteil der Schlacht habt ihr heute selbst nachgestellt!“ „Was?“, wandte Elaine ungläubig ein, schüttelte dann zur Untermauerung den Kopf, „Das ist Unsinn!“ „Hat deine Mutter dir nicht gesagt, dass du lieber Feuerpfeile nehmen solltest?“ „Nun, doch, nur-“ „Frederick, hab ich nicht gegen späten Mittag gemeint, wir sollten uns Katapulte besorgen und die Häuser mit Untoten beschießen? Damit die vielleicht an der Wand kleben bleiben und ins Innere klettern können, um die Bewohner auf höheren Ebenen zu überraschen?“ Pflichtergeben nickte der Knabe. Elaine dagegen geriet ins Stocken. „Zugegeben, wir haben vielleicht weniger mit Küchlein geworfen, sondern mehr mit Alchemistenfeuer und es waren keine Kiesel, sondern scharenweise Untote, die die Katapulte verschossen – aber die Grundzüge stimmen. Exakt.“ „Und… und als Frieda mit der Häkelnadel hinter uns her kam…?“ „Auch Cavaliere und ihre edlen Rösser sind vor dem Untod nicht sicher. Mussten wir persönlich herausfinden.“ Thorin nickte ernst zur Bekräftigung seiner Worte, musste jedoch sehr um Fassung ringen. Auch Lileth, die dieses Detail offenbar nicht mitbekommen hatte, musste sehr mit sich kämpfen. „Und Gunnard?“ „Was hat der gemacht?“ „Mit Wasser gespritzt.“ „Ah ja. Säure. Manche Untote verfaulen innerlich, blähen sich dabei auf und sammeln in sehr leicht platzenden Blasen große Mengen Faulsäure.“ Elaine verzog angewidert das Gesicht. Perfekt. Das würde sie vermutlich von weiteren Nachfragen abbringen und sie würde akzeptieren, dass sie die Originalversion der Kämpfe um Jegurath nachgespielt hatten. Alles in Kampfsituationen zu übersetzen, war nun ihre Aufgabe – etwas, dem sie wohl mit Freuden die nächsten Tage nachkommen würde. Sehr zu Isharas Verdruss und zweifellos auch zum Verdruss ihres Bruders, dessen Seite der Kämpfe sie schließlich nur partiell kannte. „Reihe um Reihe fiel, Welle um Welle kam“, setzte Thorin nach einem Moment des Wartens auf weitere, eventuelle Fragen Elaines an, „Es schien eine unendliche Flut derer zu geben, aber eine stetig schrumpfende Zahl von uns. Die Kämpfe schienen ausweglos. Da kam eure Mutter auf die brillante Idee, ihre Heilmagie als Waffe einzusetzen! Heute ist es weithin bekannt, dass Untote Heilmagie nicht gut vertragen, aber damals? Wir waren verzweifelt, was blieb schon anderes übrig? Also warum nicht ausprobieren! Doch wie würden wir damit siegreich sein können? Wir brauchten einen Katalysator, einen Verstärker. Mit allen Kräften, die wir noch zur Verfügung hatten, zogen wir uns auf das Dach des Ratsturmes zurück. Alle Verteidiger, mich eingeschlossen, hatten nur noch die eine Aufgabe: Haltet die Untoten vom Dach fern! Denn früher, früher war der Turm des Ältestenrates von Jegurath benutzt worden, um mächtige Weissagungen auszusprechen und große Prophezeiungen abzugeben. Dazu musste der gesamte Rat vorhanden sein und seine magische Macht und seinen Willen auf die Zukunft und eine einzelne, präzise formulierte Frage konzentrieren. Eure Mutter aber war kein kompletter Rat. Nicht mal überhaupt ein Ratsmitglied. Wir wussten nicht, ob das funktionieren würde, ob es überhaupt auf Heilmagie ansprach. Pfeil um Pfeil – und allmählich gingen sie uns aus. Immer mehr Untote kamen, die ganze Armee ballte sich um den Turm, die verrottenden Leiber benutzten einander als Leitern, kletterten von allen Seiten immer höher und höher. Nach und nach gingen den Schützen die Pfeile aus, Schwerter wurden gezogen, das Unvermeidliche abgewartet. Als die Untoten kamen, das Dach stürmten, kämpften wir. Wir kämpften so besessen und fixiert wie nie zuvor, aber es waren so unendlich viele, einfach zu viele. Der Reihe nach brachten sie uns zu Fall, einen nach dem anderen. Und dann, als ich glaubte, ich sei der nächste, brüllte eure Mutter über all den Kampflärm hinweg, das wir unsere Augen schließen sollten. Ich hatte mit ihr bis dahin oft und gut genug gekämpft, auf ihr Urteil zu vertrauen, also kniff ich die Augen zu, gab den Widerstand auf und hoffte das Beste.“ Wieder war sein Publikum gebannt, starrte ihn erwartungsvoll an und er, er ließ sie hängen, ließ sie zappeln, wartete, bis einer ungeduldig genug wurde. Frederick war es, natürlich, der schließlich fragte: „Und dann?“ „Dann brach ein so gleißendes Licht in den Himmel, das es mich selbst durch die zugekniffenen Augen blendete! Eine Welle aus Wärme überkam mich und ich spürte, wie um mich herum Leiber aufschlugen, hörte sie fallen, vor Agonie kreischen, in ihrer merkwürdigen Sprache fluchen. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte. Sekunden? Minuten? Als ich die Augen aufschlug, konnte ich nichts sehen. Nur weiß. Nach und nach wurden daraus tanzende Sterne, Irrlichter in meiner Iris, bis ich endlich wenigstens wieder Konturen ausmachen konnte. Die Untoten waren besiegt. Sie waren tot. Die gesamte Armee, vernichtet. Eure Mutter aber lag reglos auf dem Dach, ohnmächtig von der Erschöpfung. Ich eilte zu ihr, befürchtete das Schlimmste, doch sie atmete noch.“ Erleichtert atmeten die Zwillinge auf. Annabelle dagegen schlief längst, dicht an ihre Mutter geschmiegt. Ihre Mutter selbst… schlief ebenfalls. Thorin konnte sich ein leises Glucksen nicht verkneifen. „Und so haben wir Jegurath gerettet. Das nächste Mal erzähle ich euch von Norwingen. Ein hübscher Ball, viele Masken, Tanz und Musik.“ Frederick verzog das Gesicht, Elaine stutzte. Das klang gar nicht nach einer Thorin-Geschichte. „Oh und natürlich tödliche Duelle und giftige Intrigen“, setzte er grinsend nach. Erkenntnis stellte sich auf ihren Gesichtern ein und sie kuschelten sich tiefer in ihre Betten. Thorin dagegen erhob sich von seinem Stuhl, wünschte ihnen jeweils eine gute Nacht, zog ihre Decken noch ein kleines Stück höher und drückte ihnen einen Kuss auf die Stirn, wie ihre Mutter es sonst zu tun pflegte. Die gleiche Behandlung erfuhren auch Anabelle und Lileth, wie – wie der Krieger beschlossen hatte – ruhig mal wieder eine Nacht im gleichen Bett verbringen konnten. Es dauerte ohnehin kaum eine Stunde, ehe er sich nach Hause gestohlen hatte, zurückkehrte und Ishara, in alter Manier, mit einer Hermelindecke einpackte. Anabelle schmiegte sich im Zuge dessen noch etwas enger an und Lileth gab ein zufriedenes Seufzen von sich. Sie trug ein Lächeln auf den Lippen, als der Hüne die Tür des Kinderzimmers schloss. Bis zur nächsten Geschichte… Kapitel 48: 10 Minuten ---------------------- 1. Tag Er hasste ihn. Nach all den Tagen gemeinsamen Reisens, vor allem aber nach all den gescheiterten Fluchtversuchen, hasste er ihn mehr als irgendwen sonst. Jedenfalls war er sich da sicher, sehr sicher. Als dieser Bastard an seinen Käfig herantrat – einen Käfig, das musste man sich vorstellen! Wie ein Tier hatten sie ihn hier eingepfercht, als wäre er einer der Hunde vom Gut seine-… Seine Gedanken brachen abrupt ab. Die Erinnerungen taten weh. Nicht, das er sich das eingestehen würde. Oder sonst irgendwem. Aber er rannte noch immer gegen diese Wand, wieder und wieder und brach sich den Schädel, als das er hindurch käme. Dabei machte das überhaupt keinen Sinn! Es war wie lange her? Fünf Monate? Sechs? Ein halbes Jahr, gute Götter, ein halbes Jahr! Das war einfach nur lächerlich. Doch das änderte an den Umständen nichts, an der Situation nichts und an der Wand nichts. Sie war da, trotzig, uneinnehmbar und wies ihn ab. Und es tat weh. Was geschehen war, war geschehen – ihm war klar, dass es sich nicht ändern ließ und alle Wut der Welt würde das nicht gerade rücken. Das Leben hatte, leider, nicht die Angewohnheit, höflich anzuhalten, zu fragen, ob es einem noch immer gut gehe, trotz der wilden Fahrt und der Schläge in den Magen. Es fragte nicht, ob man nicht vielleicht eine Woche pausieren wolle, oder einen Monat. Man bekam nicht angeboten, in einem Jahr oder zweien weiterzumachen. Das war ihm klar, völlig klar… und trotzdem wünschte er sich, das Leben würde ein wenig mehr Rücksicht nehmen. Oder irgendwer, irgendwer sonst. Das Schloss wurde entriegelt. Er versuchte zu entkommen, ohne es zu versuchen. Ein wenig winden, ein wenig herumzappeln, ein kurzer Schlag in seine Richtung, das war inzwischen Routine. Wurde erwartet. Er erwartete es von sich selbst und dieser Bastard erwartete es ebenso von ihm. Es war unheimlich, wie sie sich aufeinander eingespielt hatten, obwohl sie einander nicht leiden konnten. Wieder vergrub sich eine Hand in seinem Schopf. Er schrie nicht auf, als daran gezerrt wurde, presste nur die Lippen fest aufeinander, rau, spröde, nach Salz schmeckend. Er wurde aus einem Käfig gerissen, einige Meter weit geschleift. Seine Beine funktionierten, folgten, reflexartig, automatisch. Der Schmerz war ein guter Lehrmeister. Lauf, oder er wird schlimmer – also lief er. Und blieb vor einem anderen Herrn stehen. Nur ein kurzer Blick und er hätte lächeln wollen. Es würde einfach werden, diesmal. So wie beim Ersten. Ein braunhaariger Fettsack in feinem Tuch. Die beschlagene Lederrüstung, die darüber lag, konnte kaum darüber hinweg täuschen, dass dieser Mann gutes Essen gewohnt war, und das reichlich. Zugegeben, da lag eine unangenehme Kälte in seinem Blick, ein beinahe schon schmerzhaftes Funkeln und der Kerl war generell ziemlich… groß. Und breit. Aber was würde ihm das schon nützen, wenn er nicht ausdauernd rennen konnte? Ein paar Tage mitspielen, alle in Sicherheit wiegen, und dann… das Übliche. Mit der oberflächlichen Inspektion seines neuen Dienstherrn binnen weniger Sekundenbruchteile fertig, wandte er sich dem Rest zu. Er hatte von Nephilim gehört. In seinem Käfig hockend hatte es ihn nicht weiter interessiert. Ein Wald war wie der andere, nicht? Und was interessierten ihn Elben. Waren auch nur Menschen mit spitzen Ohren. Sah bestimmt völlig lächerlich aus. Außerdem, wozu groß Aufmerksamkeit darauf verschwenden, wenn er stattdessen versuchen konnte, weiter zu üben? Er hatte sich ein paar Holzsplitter aus dem Boden des Karrens puhlen können. Und im ständigen, ruckelnden Auf und Ab der Fahrt hatte er das Schloss an seinen Ketten geknackt. Einmal. Dann hatte er es wieder geschlossen – und es nochmal geknackt. Und wieder, und wieder, und wieder. Es ging um die Übung. Um das Verständnis, welche Bewegung wozu führte. Und vor allem… ging es um die Zeit. Zeit war kritisch, das hatte er auf die harte Tour lernen müssen. Sein Rücken schmerzte immer noch von den Peitschenhieben seines letzten Herrn. Das kam eben davon, wenn man zwar begriffen hatte, wie man Schlösser knackte, aber nicht, wie man es schnell genug tat. Zugegeben, er hatte sowieso ein paar… Fehler gemacht. Dumme Fehler, für die er von seiner Mutter einen Klapps bekommen hätte und die Anweisung, nachzudenken, bevor er etwas tat. Hunde waren eigentlich ganz in Ordnung. Er verstand das Eine oder Andere davon. Natürlich nicht ansatzweise so viel wie seine Mutter, aber mehr offenbar als die meisten anderen. Ihre Körpersprache lesen, sich wortlos mit ihnen verständigen, das war alles eigentlich gar nicht so schwer. Und Hunde waren beliebte Gesellschafter für die gelangweilten Kerkerwachen. Sie kläfften bei Ausbruchsversuchen und weckten damit die auf Schicht Eingeschlafenen oder beim Kartenspiel Abgelenkten. Sie knurrten und schüchterten ein. Sie nahmen Fährten auf und jagten. Außer, man behandelte seine Hunde schlecht. Manche waren da ein wenig seltsam und wurden… naja, noch seltsamer – aber andere wurden dann ein wenig anfälliger für jemanden, der sie nicht wie den letzten Dreck behandelte. Zugegeben, da war eine Menge ‚vielleicht‘ involviert. Aber was zählte war doch letztlich, dass es geklappt hatte. Er hatte die Zellentürschlüssel bekommen, oder nicht? Er hätte das nur wirklich machen sollen, nachdem er die verdammte Kette von seinem Fußgelenk gebracht hätte. So war es natürlich kein Wunder, das die Wache, faul und behäbig und nur alle paar Stunden nach dem Rechten schauend, genau dann reinplatzen musste, wenn die Tür sperrangelweit offen stand und er am Schloss herumfummelte. Der Hund tat ihm leid. Die Schmerzen waren eine Sache und die Peitsche hatte wirklich fürchterlich wehgetan, aber der Hund… hatte das nicht verdient. Man hätte ihn ja nur besser erziehen, ihn ordentlich behandeln müssen, dann hätte er sich vermutlich nicht mal dafür interessiert, was der Gefangene machte, solange der ruhig in seiner Zelle blieb… Nephilim war mehr als nur Bäume mit spitzohrigen Menschen. Wobei er von den Elben, die alle Welt so beschwärmte, sowieso noch nichts sah. Aber die Häuser, hoch oben in den Bäumen? Das war… eindrucksvoll. Ein echter Augenöffner. Und selbst die Bauten, die hier unten am Boden errichtet worden waren, konnten sich wirklich sehen lassen. Feine, geschwungene Linien, aber solider Stein und gutes Fachwerk – naja jedenfalls nach allem, was er davon verstand, was, zugegeben, nicht viel war. Jedenfalls sah es hübsch aus. Das zählte, oder? Obendrein hatte man offenbar die gesamte Dienerschaft versammelt. Alle wirkten ein wenig, als gäbe es gleich eine Hinrichtung. Gedrückte Blicke, auf den Boden gerichtet, die Schultern gesenkt. Jeder machte sich möglichst klein und möglichst unauffällig. „Peter, was soll ich damit?“, grollte die Stimme des Fettsacks, „Was ist das überhaupt?“ Der schwarzhaarige dürre Bastard hinter ihm riss ihn noch ein Stück weiter vor. Als wenn der eine Schritt einen Unterschied gemacht hätte. „Ein Geschenk, gewissermaßen. Herrin Lestrastis war seiner überdrüssig geworden. Hat ihn der Wache übergeben, Anklage auf Diebstahl, wollten ihn am nächsten Morgen hinrichten. Ich dachte mir, ihr könntet noch eine helfende Hand im Haus gebrauchen. Vor allem, wenn’s sie kostenlos gibt, nicht?“ Der Fettsack rümpfte die Nase abfällig. Sah ein wenig aus wie ein Schwein, das sich erstmal in Ruhe anschaute, ob der Inhalt des Fresstrogs denn auch wirklich genehm war. Es hatte etwas unfreiwillig Komisches. Etwas unangenehmer wurde es da schon, als er näher trat, sein Kinn packte und seinen Kopf zu beiden Seiten drehte. Fehlte nur noch, dass er seinen Kiefer aufriss und wie bei einem Gaul den Zustand der Zähne prüfte… „Weiter?“, verlangte der Hausherr. „Jannis Bussow. Hautfarbe und Akzent nach kommt er irgendwo aus dem Norden. Ist vierzehn und-“ „Fünfzehn“, warf er trotzig ein. Wenn das hier schon ein Verkaufsgespräch werden sollte, direkt in seiner Gegenwart, und man mit irgendwelchen der Wache abgekauften Informationen über seinen Wert feilschen wollte, dann sollte man auch die richtigen Informationen verwenden. Als hätte es ihm das Genick gebrochen, ihn nach seinem gottverdammten Geburtstag zu fragen! Er bereute den Einwurf nicht. Nicht, als der Fettsack die Braue hob und dem Bastard zunickte. Nicht, als der offenbar Peter genannte Bastard ihm kräftig auf den Fuß trat. Nicht, als er sich vor Schmerz vorkrümmte und im nächsten Moment einen Kinnhaken bekam, der ihn hinterrücks in den Schlamm stürzen ließ wie einen nassen Sack Mehl. Vielleicht ein klein wenig, als der Schmerz langsam nachließ und er sich darüber klar wurde, das er in eiskaltem Schlamm lag und nur die Götter allein wissen mochten, wie lange es dauern würde, ehe man ihm frische, saubere Kleider geben würde, nachdem er dazwischen zu sprechen gewagt hatte. „Ist – offenbar – fünfzehn“, merkte Peter halb amüsiert an. Oh wie gerne er ihm dieses dämliche Grinsen aus dem Gesicht gewischt hätte…! „Hatte vor euch schon vier Dienstherrn. Drei in La Coeur, die Herrin in Samara. Ist jedes Mal abgehauen. Wurde immer wieder eingefangen. Die Herren in La Coeur hatten irgendwann einfach die Nase voll von seinen Spielchen. Sie haben ihn untereinander weiterverkauft. Ist am Ende an die Herrin verschenkt worden und, naja, das lief auch nicht so gut.“ Warum wohl! Das Miststück hatte ihn nicht mal aus dem verdammten Haus gehen lassen wollen! Da draußen gab es eine ganze Stadt und alles, was er tun sollte, war… nun ja, im Grunde? Im Grunde hat er ihr den Hintern abgewischt, wenn sie danach verlangte. Ihr den Tee nachgetragen. Die Büsten entstaubt. Beim Kochen geholfen. Er hatte nicht mal Ahnung vom Kochen, gute Güte! Kein Wunder, das sie unzufrieden war. Er war ein Gefangener, keine ordentlich angestellte, halbwegs brauchbar bezahlte Magd oder Kammerzofe. Diesmal sparte er sich jedoch weitere Kommentare. Er spürte den bohrenden Blick seines möglichen neuen Dienstherrn auf sich und wusste nur zu gut, dass auch Peter im Grunde nur darauf lauerte, dass er nochmals den Mund aufmachen würde. Er wollte ihnen nicht diese Genugtuung geben, keinem von beiden. „Ein vorlauter, widerspenstiger kleiner Hurensohn also, was?“, hakte der Fettsack nach. Das ging jedoch zu weit. Niemand beleidigte seine Mutter! „Wenn ihr euch vorstellen wollt, wäre euer Name einfacher gewesen, Herr.“   15. Tag Die Arbeiten begannen bei Morgengrauen. Damit hatte er noch Glück – für viele der Angestellten im Haus Almar begannen die Arbeiten schon weit vorher. Aber er war nicht damit befasst, die Tiere zu versorgen. Noch nicht, jedenfalls. Vermutlich wollte man nicht, dass die Wunden zu stark belastet wurden. Es war immer noch ein Rätsel für ihn, warum man sich die Zeit genommen hatte. Zwei Wochen. Was waren zwei Wochen an Sklavenarbeit wert? Gab es dafür Zahlen? Und er hatte an ein Bett gefesselt herumgelegen und sich füttern lassen. Vielleicht war das eine weitere Art der Bestrafung? Die Brühe, die man ihm einflößte, war widerwärtig. Er hatte sie ausspucken wollen und offenbar hatte man das auch gesehen. Leise, ganz leise nur, kroch die Stimme der Magd aus ihrer Kehle und in sein Ohr und flehte mit einem unterschwelligen Zittern darum, keine Unordnung zu machen. Nun, er hatte sich die Seele aus dem Leib geschrien vor Schmerzen – gefühlt allemal. Wie hatte der Hausherr so schön gesagt, als seine Hand die Peitsche umschloss? „Herrin Lestrastis ist also Linkshänderin, hm?“ Ja. Ja, war sie. Und jetzt hatte er vermutlich kleine Karos auf dem Rücken. Er hatte lachen wollen, als er erfuhr, in wessen Haus er hier gelandet war. Der Fettsack? Der hieß Grimm. Grimm, um der Götter Willen, Grimm! Als hätte seine Mutter geahnt, was für ein Monster er irgendwann mal werden würde. Aber damit waren die Katastrophen ja noch nicht vollzählig. Wenn es im Leben bergab ging, dann richtig, nicht? Keine halben Sachen. Der Fettsack war der Wachkommandant Nephilims. Der Befehlshaber über die Soldaten in der Stadt. Und sie hatten nicht nur menschliche Soldaten. Nach allem, was er über Elben wusste – was nicht viel war und aus Geschichten stammte -, sahen sie schärfer und weiter als jeder Falke, waren schneller und geschickter als jede Katze und ebenso lautlos. Außerdem waren die Schlösser im Haus, einschließlich dessen, welches ihn ans Bett fesselte, von sehr viel höherer Qualität. Denn Haus Almar konnte sich Qualität leisten. Vielleicht ließ er ihn deshalb nach dem Auspeitschen wieder hochpäppeln. Weil er es sich leisten konnte. Was spielte es für eine Rolle, eine Arbeitskraft für ein paar Wochen ausfallen zu lassen, wenn es noch genug andere gab, die so viel Angst vor dem Hausherrn hatten, das sie ohne Murren und Zagen sofort jede zusätzliche Arbeitslast schultern würden? Jeder hier ging gebeugt, jeder hier hielt stets den Blick gesenkt, jeder hier kauerte und hätte man sie erschreckt, hätte vermutlich jeder hier gewinselt wie ein getretener Hund. Sich zu bewegen fiel ihm schwer, noch immer. Die Wunden hatten sich ein wenig infiziert, man hatte die Infektion bekämpft, Fieber, Alpträume, ein ständiges Hin und Her. Er hatte gewartet. Die Magd hatte ihm irgendwann erzählt, dass er geheult hätte und im Traum Namen gerufen hätte. Es hätte ihm eigentlich peinlich sein müssen, oder nicht? Aber selbst nach zwei Wochen kannte er nicht einen einzigen Namen der anderen Bediensteten hier. Es war schwer, Scham zu empfinden, wenn alle nur gesichtslose, vorbeihuschende Schatten ihrer Selbst waren. Und Peter, dieser Bastard, war die rechte Hand des Kommandanten. Passte irgendwie. Der Fettsack war laut und gefühlt jede zweite Stunde wütend, während Peter klug genug war, ihm in diesen Stunden auszuweichen und zu anderen Zeiten neuen Zunder zu liefern. Oh was hatte er lachen wollen, als er Peters Familiennamen gehört hatte. Ransac. Klang ausländisch. Und er konnte nicht verhindern, zumindest zu grinsen. Natürlich würde er es nicht wagen, ihn ranzig zu nennen, nein… noch nicht. Sowas wollte im richtigen Moment benutzt werden. Mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit gab es auch nur eingeschränkte Aufgaben, denen er nachgehen konnte. Man ließ ihn tatsächlich aus dem Haus. Tatsächlich war Laufen, was man zu seiner Aufgabe machte. Geh zu den Ställen und gib dem Boten seine Tasche. Geh zur Kaserne und sag den Soldaten, dass es Zeit zum Schichtwechsel ist. Geh dorthin und gib das, geh dahin und sag jenes. Es war… keine schöne Nacht gewesen, als ihm klar wurde, dass er unfreiwillig in die Fußspuren seines Vaters getreten war.   34. Tag Bote war er, Bote blieb er. Sein Herr hatte sich reichlich Gedanken darum gemacht, wie er ihn halbwegs im Zaum halten könnte. Wie er Fluchtversuche verhinderte. Und natürlich war es Ranzig zu verdanken gewesen, das ihm was Kluges einfiel. Verdammter Bastard. Als sie ihn das erste Mal wieder einfingen, waren es nicht die sensationell überwältigend guten elbischen Jäger gewesen. Die zu rufen hatte man gar nicht für nötig erachtet. Hunde und Pferde, das hatte gereicht. Selbst die Tiere schienen vor Grimm zu kuschen, irgendwie. Und dann kam die Lektion. Er hatte damit gerechnet, wieder ausgepeitscht zu werden. Sein Rücken müsste früher oder später so viele Narben haben, dass man erstmal die Haut abschälen musste, ehe Schmerz durchkäme – jedenfalls glaubte er das. Aber als Grimm schon die Peitsche in die Hand nahm, wies Peter ihn darauf hin, dass das bei früheren Herren auch schon nicht viel gebracht habe. Zwanzig Schläge hätte es geben sollen. Er bekam schon so ein ungutes Gefühl im Magen, als dieses kalte Lächeln über das Gesicht des Fettsacks zog. Danach fasste der sich wieder, nickte und befahl ihm, das Hemd wieder anzuziehen. Er hatte natürlich gezögert – also hatte man die Strafe auf 22 Schläge gesetzt. Dann 23. Dann 24. Bis er endlich das verdammte Hemd wieder anzog. Er hatte nicht begriffen, warum die Mägde, die man natürlich wieder hatte aufmarschieren lassen, leise zusammenzuckten, wann immer die Zahl erhöht wurde. Es wurde ihm klar, als der Hausherr völlig willkürlich auf vier der Mägde deutete. Sie mussten seine Strafe tragen. Sechs Peitschenhiebe für jede. Sie schrien und… es rief eine ganze Reihe unschöner Erinnerungen hoch. Peter aber stand direkt hinter ihm, packte seinen Kopf, als er wegzusehen versuchte, zwang ihn, hinzusehen. Flüsterte ihm leise zu, dass das seine Schuld war. Und es sein würde – für jede Verfehlung, die er in Zukunft beginge. Sie schrien, sie bluteten, sie sackten nach jedem Schlag ein Stück mehr in sich zusammen und der Fettsack hatte ein selbstzufriedenes… fast schon glückliches Lächeln auf der Visage kleben. Es machte ihn schlicht krank. Aber ja. Ja, es funktionierte. Er wollte es sich nicht recht eingestehen, aber kein Weg führte daran vorbei. Vier Dienstherrn war er entkommen. Immer wieder. Seine Fluchtpläne waren an Dummheiten, Kleinigkeiten, Zufällen gescheitert. Aber er war immer wieder entkommen und wollte entkommen. Er hatte bei einigen die Unterstützung der anderen Diener gehabt. Eine Küchenhilfe, die ihm die Hintertür öffnete. Ein Schuster, der das Fenster offen stehen ließ. Eine Köchin, die dem Herrn ein leichtes Schlafmittel in die Suppe einrührte. Er hatte diese Hilfestellungen selten bekommen. Sympathie war leichter. Tatsächlich etwas zu tun, etwas zu riskieren – vor allem für jemand anderen -, das war schwer. Aber er hatte sie angenommen, wann immer er sie geboten bekam und er hatte das Beste daraus gemacht. Aber das hier? Er konnte das nicht verantworten. Er wusste genau, dass er sich nie wieder in die Augen sehen könnte, würde sich das wiederholen. Die Schreie hallten den gesamten restlichen Tag in seinen Ohren nach und folgten ihm hartnäckig bis in seine Alpträume. Selbst als er schweißgebadet aus diesen aufschreckte, waren sie noch da. Ja, es funktionierte. Er wollte nicht mehr gehen. Konnte, durfte nicht mehr wollen. Also hatte er sich gefügt. Und nahm sein Botendasein an. Die Aufgaben wurden zahlreicher, seine Einbindung im Haushalt größer. Er kümmerte sich mit um die Pferde der Boten, er kümmerte sich mit um den täglichen Hausputz, aber seine Hauptaufgabe blieben die Botengänge in der Stadt. Es gab dutzende Wachstuben. Dutzende. Und sehr zu seinem raschen Verdruss gab es sie nicht nur hier unten, sondern… auch da oben. Als hätte die Bestrafung der Mägde nicht gereicht, gab es noch eine zweite Problematik. Er bekam Versorgung – Essen, Trinken, Kleider. Im Krankheitsfall Medizin. Und er bekam sie in Abhängigkeit davon, wie gut er seine Aufgaben erfüllte. Früh wurde ihm ein Stapel Briefe, Papiere und Unterlagen gegeben. Nachdem man bemerkt hatte, wie gut er sich Dinge einprägen konnte, hatte man ihn die Karte studieren lassen. Tagelang, bis er die Position jeder Wachstube auswendig kannte. Und dann begann der alltägliche Wettlauf gegen die Zeit. Er wollte gut essen? Er wollte bei Kräften bleiben? Dann musste er laufen. Schnell laufen. Die Wachstuben unten waren verteilt auf unwegsamem Gelände, Nephilims Grund und Boden war letztlich immer noch Waldgebiet, es gab Unterwuchs, es gab verschiedene Gefälle und Hügel… und der Weg nach oben bedeutete allem voran Treppen. So unglaublich viele Treppen. Tagein, tagaus. Was interessierten ihn die Wunder Nephilims? Ja, sie ließen ihr Holz über irgendwelche Zupfinstrumente oder Gesänge oder sowas wachsen und ja, sie trugen hübsche Kleider, die manchmal mehr zeigten, als sie seinem Empfinden und seiner Erinnerungen aus dem Norden nach sollten und ja, Elben waren auch recht hübsch, wenn auch ziemlich dürr, aber… gute Güte, er hatte einfach keine Zeit, sich damit zu befassen. Keine Zeit, stehen zu bleiben, sich zu wundern, zu staunen, zu gaffen. Denn er wollte essen, nein, musste essen. Denn tat er das nicht, wurde er schwächer, wurde damit langsamer, fiel zurück. Und dann würden andere die Konsequenzen seiner Verfehlungen tragen müssen. Nur weil er unbedingt hatte gaffen müssen. Also jagte er. Jagte sich, jagte seine eigene Bestzeit, jagte neue, kürzere, schnellere Routen.   51. Tag Ein Tag wie jeder andere, im Grunde. Er war aufgestanden, hatte sich kurz fertig gemacht, gewaschen, die Zähne geputzt, gut gegessen… und war dann zum Fettsack ins Arbeitszimmer kommandiert worden. Wie jeden Tag. Ein Bündel Briefe, gerollte Papiere, eine Botentasche. Die wurde er auf dem Weg zum Ausgang des Anwesens im Stall los, der Bote war schon aufbruchsbereit. Danach begann der tägliche Lauf. Nur diesmal… „Lass mich los, du Schwein!“, zischte eine eindeutig weibliche Stimme in einer Seitengasse. Er hielt an. Das war… gefährlich und dumm und unnötig und er hatte wirklich, wirklich, wirklich keine Zeit für sowas, doch- „Wohoho, schau nur, wir haben ihr eine ganz Aufmüpfige! Ich frag mich, ob sie immer noch so frech ist, wenn man ihr das Maul stopft“, amüsierte sich eine männliche Stimme. „Pass nur auf, dass sie dir nichts abbeißt…!“, schoss eine zweite Männerstimme witzelnd zurück. „Hil-“, setzte die Frau an. „Ah ah ah, das lassen wir mal schön!“, zischte einer der Männer. Du hast keine Zeit für sowas! Nun, das war nicht ganz richtig, nicht wahr? Er hatte Zeit. Er hatte nur nicht viel davon. Und üblicherweise zog er es vor, sie zu nutzen. Als Pause. Um zu entspannen. Durchzuatmen. Aber gute Götter, seine Mutter – Mermerus‘ möge sich ihrer voll der Gnade angenommen haben – hatte einen guten, anständigen Mann erzogen. Auch wenn er noch kein Mann war, aber das war Haarspalterei. Sie hätte ihm nicht mehr in die Augen sehen können, hätte sie gewusst, woran er vorbeigelaufen war. Also… gab es auch keine Wahl, vorbei zu laufen. Seufzend duckte er sich ein wenig, packte einen der losen Pflastersteine der Straße und schlich zur Ecke der Gasse. Wie erwartet: Zwei Männer drückten jemanden gegen die Wand. Er konnte sie nicht gut sehen, einer stand davor… „Wollen wir mal, was?“, feixte der eine. „Hey, Arschloch!“, plärrte er, seine Kauerposition an der Hausecke verlassend. Überrascht fuhren beide Männer herum, „Ihr seid ziemlich missratenes Ungeziefer, schert euch zu Ceteus!“ Er konnte nicht ganz einschätzen, warum ihre Augen so groß wie die kleinen Teller wurden, die Grimm immer benutzte, um seine Teetassen darauf abzustellen. Entweder lag es daran, das er – ziemlich lautstark – den Namen eines Alten Gottes ausgesprochen hatte und sie alle damit potenziell bald am Galgen baumelten… oder es war der Pflasterstein, der da in großem Bogen angesegelt kam. Oder die Sorge, weil er schon den nächsten in der Hand hatte. „Scheiße, was zum-“, begann der Erste wegspringend, als der Pflasterstein knapp vorbei schoss. „Der ist völlig irre!“, meinte der Zweite. „Komm, weg hier!“, fluchte der Erste wieder, als ein Stein seinen Fuß um wenige Zentimeter verfehlte. Er packte seinen Kumpan beim Ärmel und zog ihn mit sich auf der anderen Seite der Gasse hinaus. Er selbst hatte sich wenig Zeit gelassen, aufzuschließen. Vorwärts, beugen, Stein greifen, aufrichten, werfen – und immer weiter vorwärts. Bedrängen, Druck ausüben, Angst machen… und es hatte geklappt! Es hatte geklappt! Er hätte Jubeln wollen. Zugegeben, er hatte wirklich versucht, sie mit den Steinen zu treffen und war froh, oh so heilfroh, nicht aus Versehen sie getroffen zu haben. Aber es hatte gereicht, sie waren in die Flucht geschlagen und er hatte sie gerettet. Als er sich erstmals zu ihr umwandte, stockte er einen Moment. Oder die Zeit blieb stehen. Oder er vergaß, zu atmen. Jedenfalls fing er sich rasch wieder. Sie war sehr viel… jünger als er erwartet hatte. Und hatte spitze Ohren. Sie war ziemlich dürr. Für eine Elbe normal, schätzte er. Oder eher ein wenig pummelig? Also, für eine Elbe? Sie war ja eigentlich recht hübsch. Völlig verdreckt und gaffte ihn ungläubig aus riesigen Augen an, aber eigentlich- Er schüttelte den Kopf. Manieren, junger Mann! Wessen Stimme war das denn gewesen…? Erneut ein Kopfschütteln, ehe er ein freundliches Lächeln aufsetzte, ihr die Hand entgegen streckte und versuchte, abzuschätzen, wie viel von seiner Pause noch übrig wäre. „Jannis, Jannis Bussow“, stellte er sich vor. Sie schien ebenfalls einen kleinen Aussetzer zu haben, schüttelte den Kopf und… lachte. Es klang nicht so, als würde sie über ihn lachen. Vielleicht war das einfach nur ihre Art, mit der Erkenntnis umzugehen, was gerade fast passiert wäre…? Oder… nein, das machte keinen Sinn. „Du bist ein ziemlicher Dummkopf, Jannis Bussow, weißt du das? Die hätten dir übel zusetzen können!“ Irritiert ließ er langsam die Hand sinken. Er hatte sie gerettet, oder nicht? Und sie beleidigte ihn? „Na hör mal, ein ‚danke‘ hätt’s auch getan, aber gut zu wissen! Dann lass ich dich das nächste Mal deine Angelegenheiten selbst regeln, was?!“ Das Lachen hörte abrupt auf und sie wurde ernster. „Nein, warte. Es tut mir leid, hörst du? Es ist nur… sehr unerwartet. Ich dachte, Edelmut und Heldentum existiert unter Menschen nicht mehr.“ Wieder runzelte er die Stirn. War… das nun eine weitere Beleidigung oder nicht? „Ich wurde anständig erzogen und weiß, was sich gehört“, brachte er langsam hervor. Glücklicherweise schien sie begriffen zu haben, worüber er nachdachte. „Gut, fein, ich… das kam falsch raus. Lass uns nochmal anfangen, hm?“ Er nickte langsam. Was… das war irgendwie alles ziemlich lächerlich, oder? Es wurde noch schlimmer, als sie seine Hand nahm. Ihre Finger waren so weich und warm… oder war er so kalt? Sie hob seinen Arm in ihre Richtung, bis er verstand und ihr erneut die Hand entgegen streckte. „J-Jannis Bussow…“, wiederholte er verwirrt. Diesmal schlug sie ein. „Vielen Dank, Jannis. Du bist mein Retter, mein Held. Ein ziemlich dummer Held, aber ein Held.“ Er seufzte. Konnte sie keine Sätze formen, ohne Beleidigungen hinein zu packen? Doch sie lächelte dabei, warm und freundlich. Vielleicht meinte sie es ja wenigstens nicht so, wie sie es sagte. Kurz driftete ihr Blick zur Seite ab. Er war dabei, dem zu folgen, nachzuschauen, was ihre Aufmerksamkeit erweckt hatte, als es plötzlich warm auf seiner Wange wurde. Hatte sie ihn gerade-…? Ruckartig sah er wieder zu ihr. Leichte Röte in den Wangen, ein unsicheres Lächeln… „Danke nochmal. Ich muss los, vielleicht… sieht man sich ja wieder?“ „He, warte mal! Wie heißt du denn nun überhaupt?“, entfuhr es ihm ruckartig. Sie lachte. Es klang hell, warm… angenehm. „Stimmt, habe ich immer noch nicht gesagt, was? Belle!“ Wieder spürte er, wie seine Stirn sich in Falten legte. Wenn das so weiter ginge, würde er alt werden. Wirklich alt. Richtig alt. Mit Falten überall. Und tiefen, schluchtenartigen Furchen auf der Stirn! „Wenn du mir deinen Namen nicht sagen willst, ist das auch in Ordnung“, murrte er zurück, schüttelte den Kopf und wandte sich um. Er hatte viel Zeit versetzt, um mit ihr zu reden und jetzt würde ihm von seiner Pause nichts mehr bleiben. Verflixt! Hastig sammelte er die Unterlagen ein, die er am Eingang zur Gasse hatte fallen lassen. Er erklärte in den Wachstuben, warum sie dreckig waren und in jeder einzelnen fing er sich eine Maulschelle, das ihm die Ohren klingelten. Das war zu erwarten gewesen. Und er hatte kein Problem damit. Er hatte das Richtige getan und wenigstens wurde niemand seinetwegen ausgepeitscht. Sie hatten es vor gehabt. Wollten es seinem Herrn melden. Aber er war pünktlich gewesen und hatte alles vollständig abgeliefert. Es war ja auch nicht unbrauchbar oder unleserlich geworden. Und für die Widerworte und Einwände hatte er gleich noch eine bekommen. Ehe man einsah, das er ja im Grunde Recht hatte und ihn gehen ließ.   57. Tag Irgendwas an ihr war anders gewesen. Er hatte sie einfach nicht mehr aus dem Kopf bekommen können. Es gab so viele Elben in der Stadt, so viele elbische Mädchen. Na und? Die schlugen ihm nicht auf den Magen! Und er hatte zwei Tage gebraucht, herauszufinden, dass sie an seiner Appetitlosigkeit schuld war! Vielleicht hatte sie ihn irgendwie verflucht? Elben waren schließlich zu Magie fähig, nicht? Aber es war ja nicht nur der Hunger. Er erwischte sich dabei, wie er immer wieder die gleiche Route lief. Er experimentierte kaum noch herum und selbst wenn er es tat, dann stets so, dass er an dieser einen Gasse vorbei käme. Als würde sie dort einfach warten oder nochmal in Ärger hinein geraten, um sich nochmal von ihm retten zu lassen. Es war einfach nur unsinnig, völlig unsinnig! Aber aufhören konnte er damit auch nicht. „Hey Dummkopf.“ Die Stimme brachte ihn abrupt zum Anhalten. In den Tagen zuvor war er langsamer geworden, hatte angehalten, sich in der Gasse umgesehen, aber das hatte abgenommen mit jedem Tag, an dem sie nicht dort war. Jetzt hatte er kaum noch darauf geachtet, wäre vermutlich in seinem gewohnten Tempo vorbeigelaufen und… plötzlich war sie da. Wieder da. „Ich bin nicht dumm“, wehrte er sich mit der einfallslosesten Erwiderung, die es wohl hatte geben können. Dummerweise auch die Einzige, die ihm einfallen mochte. Sie grinste einen Moment. „Belle ist mein Name“, erklärte sie und deutete ihm an, ein wenig zu ihr zu kommen. Sie drehte eine leere Frachtkiste des Geschäftes um, setzte sich darauf und bedeutete ihm, den Stapel Papiere erstmal bei Seite zu legen und sich zu ihr zu setzen. Die Kiste war stabil genug für zwei, nur vielleicht ein wenig… klein. Sodass sie näher beieinander saßen, als ihm lieb war. Warum, das konnte er nicht so ganz erklären. Es war ja nicht so, als wäre sie gefährlich. Sie versuchte nicht, ihn zu fressen, sie hatte keine offensichtlichen Waffen… dennoch spürte er, wie seine Hände ein wenig schwitziger wurden, sein Herz ein wenig schneller schlug. Und er glaubte fühlen zu können, wie ihr Körper Wärme ausstrahlte. Aber das, da war er sich sicher, musste von seinem Lauf stammen. Er war überhitzt und jeder Windhauch trug kalte Luft an ihn heran und da spürte man Wärmequellen natürlich sehr viel intensiver… oder so ähnlich. „Meine Mutter lebte hier lange Zeit. Sie starb vor ein paar Jahren an einer seltsamen magischen Krankheit.“ „Das… tut mir leid?“, erwiderte er unsicher. Was hätte er sonst dazu sagen sollen? Sie lachte nur leise auf, schüttelte einen Moment noch immer lächelnd den Kopf. „Schon gut, nicht nötig. Es ist ein paar Jahre her, wie gesagt. Sie kam aus Ordewey.“ Eine Weile wurde es still. Unangenehm still. Bis ihm klar wurde, dass sie auf ihn wartete. „Nie von gehört“, gestand er ein. „Magierland. Viele Türme und Akademien und Büchereien. Soll wohl sehr groß und sehr schön und sehr beeindruckend sein, ich habe mir jedenfalls viele Jahre anhören müssen, wie hinreißend und besser Ordewey ist. Wirklich, es hängt einem irgendwann so sehr zu den Ohren raus, das man es nicht mehr sehen will, nur weil man so viel darüber hörte.“ „Wenn es so hübsch dort ist, warum kam sie hierher?“ Die Frage war berechtigt, oder nicht? „Mein Vater war Zirkelmagier. Sehr ehrgeizig und für eine Weile sehr verliebt. Für eine Weile. Als das aufhörte und der Ehrgeiz wieder wichtiger wurde, hat sie ihre Sachen genommen und ist zurück zu ihrem alten Leben. Hierher. Hochschwanger mit mir. Sie meinte immer: Kind, du warst das Schönste, das mein Blick in meinem ganzen Leben je streifte und ich wollte es dich dein ganzes Leben lang wissen lassen! Deshalb ‚Belle‘. Heißt nichts anderes als ‚schön‘.“ Er nickte durch die kleine Geschichte hindurch, grinste bei ihrer versuchten Personifizierung ihrer Mutter und so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, zu unterdrücken, wie er die Zunge herausstreckte und das Gesicht verzog, als sie ihren Namen erklärte. Glücklicherweise nahm sie ihm das nicht übel, im Gegenteil. Sie lachte wieder. Warm und angenehm. „Ich weiß, schrecklich, nicht?“, brachte sie zwischendrin hervor, „Es ist so grässlich kitschig!“ Ihr Lachen wurde nach und nach schwächer, bis sie sich ein paar Tränen fortwischte und selbst das Grinsen zu einem Lächeln schrumpfte. „Ich habe diese Geschichte gehasst und sie liebte es, sie mir zu erzählen. Ich vermisse sie. Manchmal sogar die Geschichte. Sie klang immer so… so stolz, wenn sie davon erzählte, wie sie ihre einzige Tochter schön nannte.“ Kurz nur gluckste sie, ehe ihr Blick zu ihm wanderte. Er jedoch hatte seine liebe Müh und Not, an sich zu halten. Ein heftiger Knoten in seinem Magen machte die Situation alles andere als angenehm. Ein weiterer Knoten hatte sich frisch in seiner Kehle geformt, geknüpft an das Wissen, welche Frage gleich kommen würde. Er wollte nicht. Er konnte nicht. Nein, er konnte einfach nicht- „Was ist mit deiner Familie?“ Da war sie. Was ausblieb, war der Horror. Der Schrecken. Sie waren da, die Erinnerungen, die Bilder, die Schreie, der Schmerz. Aber sie besaßen keine Macht mehr. Oder besaßen hier und jetzt zumindest keine. Die Wärme in ihrer Stimme, dieses dick aufgetragene und dennoch nicht übertrieben wirkende Mitgefühl… als wisse sie ganz genau, dass es da eine Geschichte gab. Eine, die nicht zum Lachen einlud. Es war entwaffnend. Ihr Tonfall, dieser durchdringende Blick, ihre warme, weiche Hand auf seiner, ihre Nähe… es war entwaffnend und er konnte ihr nicht einmal böse sein, wie er es vorgehabt hatte. Keine bissigen Kommentare, dass sie sich um ihren eigenen Mist kümmern solle. Nur Tränen. Nicht von seinem Kinn tropfend, nicht auf seinen Wangen rollend, aber er bemerkte durchaus, wie sein Blick trüber wurde. Es kostete Selbstbeherrschung, nicht mehr als das zuzulassen. „Sie ist tot. Sind alle tot. Denke ich jedenfalls“, krächzte er nach einer Weile hervor. Sie hatte die Hand nicht wieder weggezogen. „Tut mir leid.“ Für eine Weile war es das Einzige, was zwischen ihnen gesprochen wurde. Sie sagte nicht mal, was ihr Leid tat. Dass sie gefragt hatte? Dass sie tot waren? Dass er keine Gewissheit hatte? „Willst du denn nicht… rausfinden, was mit ihnen ist?“ Ihre Stimme hatte sich wieder verändert. Sie war noch immer mitfühlend, aber auch… vorsichtig. Unsicher. Nur langsam schüttelte er den Kopf. Wozu? „Wenn ich einfach verschwinde, würde mein Herr die anderen Bediensteten auspeitschen lassen. Oder umbringen. Und er würde mich niemals gehen lassen.“ Seufzend richtete er sich auf, blinzelte die Tränen weg, zurück in die Tiefen seines Verstandes und putzte unnötig seine Kleider sauber. „Tut mir leid, aber ich habe nicht viel Zeit, habe ich nie. Ich muss weiter, sonst-… ich muss weiter.“ Während er an seinen Stapel Briefe und Rollen herantrat, erhob sie sich ebenso, nickte. „Hey, Jannis?“ Einen Moment zögerte er, wandte sich zu ihr um. Wieder drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich weiß, das klingt blöd, aber… nimm es nicht so schwer, ja? Wenn du immer in der Vergangenheit festhängst, verpasst du vielleicht, was dir die Zukunft anbietet.“ Sie lächelte und es tat ihm leid, es nicht erwidern zu können. Ihm tat leid, nicht zurücklächeln zu können! Das war einfach nur… es war so… ugh! „Schon gut.“   217. Tag Für die meisten Menschen besteht das Leben aus einer Aneinanderreihung von Routinen und Gewohnheiten. Man steht auf, wäscht sich, putzt sich die Zähne, isst etwas, geht dem alltäglichen Handwerk nach. Wäscht sich, putzt sich die Zähne, geht schlafen – Neustart. Aber Leben, zu leben, bedeutet auch Veränderung. Mitunter sind das große, gewaltige Umbrüche. Wenn ein gewohntes Leben endet, man von seinen Liebsten getrennt wird, wenn Köpfe rollen, Häuser brennen und Menschen wie Vieh verkauft werden. An anderen Tagen sind es Kleinigkeiten. Alle paar Tage tauchte Belle wieder auf. Nicht immer in dieser Gasse. Sie schienen einander zufällig an den unterschiedlichsten Orten in Nephilim über den Weg zu laufen. Mal unten, mal oben. Und immer hatten sie nur ein paar Minuten. Seine Pause. Er hatte oft und lange darüber nachgedacht, doch egal, wie sehr er sich bemühte, etwas zu finden – ihm mochte einfach nichts einfallen, womit er seine Zeit lieber verbracht hätte. Sie war witzig, auf eine freche, vorlaute Art. Das gefiel ihm. Und sie ließ ihn glauben, er sei ebenfalls witzig, zumindest gelegentlich. Sie erzählte viel von Nephilim. Davon, wie die Stadt – angeblich, laut ihrer Mutter – gewesen sei, bevor die Krone entschied, man müsse Wachstationen in die Stadt setzen, um das aufrührerische elbische Volk daran zu erinnern, wer Ordnung und Recht vertritt und aufrecht erhält. Als hätten die Elben das ohne Anleitung von ein paar Menschen in Rüstung nicht gekonnt. Armes Nephilim – es musste die reinste Anarchie gewesen sein, bevor die Wache kam! Belle erzählte ihm auch vom Rat Nephilims. Von elbischem Adel und elbischen Häusern. Von elbischen Traditionen und elbischem Glauben. Und davon, dass sie nicht mal eine Elbe war. Obwohl sie zuvor schon erwähnt hatte, dass ihr Vater Magier war, hatte er nie ganz begriffen, was das für sie eigentlich hieß. Sie war ein Halbblut, ein Mischling. Teil beider Welten, aber doch zugehörig zu keiner davon. Oder, wie Belle es selbst sagte: Sie war zu hübsch, um ein Mensch zu sein, aber zu fett, um eine Elbe zu sein. Und immer dieses warme, heitere Lachen. Sie rissen ihre Witze. Über Elben und ihre Ansichten. Und irgendwie wurde ihm auch klar, dass sie auf der Straße lebte. Vermutlich zumindest. Es erklärte allemal, warum er sie immer wieder traf, in unterschiedlichsten Teilen der Stadt, warum sie immer ein klein wenig verdreckt wirkte. Vielleicht erklärte es sogar, warum sie so dürr war und das war gar nicht – ausnahmsweise – die Schuld der Elbe in ihr. Je häufiger sie sich trafen, umso mehr redeten sie. Umso mehr glaubte er auch, ihr trauen zu können. Also begann er ebenfalls zu erzählen. Von seinem täglichen Lauf durch die Wachstuben. Davon, wie trist und leise das Leben im Haus Almar war. Wie sehr ihn Peters Gegenwart anwiderte, aber wie sehr er sich auch beherrschen musste, nicht zu grinsen, wann immer ihm dessen Nachname einfiel. Oh und wie sie da erst gelacht hatte! Der ranzige Peter, unterernährte rechte Hand des sonst ziemlich schwabbeligen Grimm Fettsack, Kommandant der Wache von Nephilim. Aber so ruhig und unauffällig, wie alles und jeder im Hause Almar zu sein versuchte, war es kein Wunder, das die Anekdoten über das Leben dort selbst bei nur den rund zehn Minuten, die sie jedes Mal hatten, irgendwann erschöpft waren. Er wusste zu schätzen, wie vorsichtig sie war, als sie versuchte, mehr zu erfahren. Ihn weiter am Reden zu halten. Also erzählte er von seinen vorherigen Dienstherren. Von seinen Fluchtversuchen. Und davon, wie sie endeten. Und davon, wie er es geschafft hätte, wäre nur dies oder jenes nicht passiert. Er wunderte sich zu jenen Zeiten doch sehr darüber, wie er nicht länger voller Frustration davon sprach, wie seine Flucht vereitelt worden war, sondern vielmehr mit Stolz, es überhaupt als Vierzehnjähriger soweit geschafft zu haben! Und hätte nicht ein dummer Zufall es verhindert, er hätte es noch viel weiter bringen können! Aber früher oder später war auch das erschöpft. Also erzählte er von Norwingen und Haus Luberon. Es gab nicht viel, das er wusste. Manche Erinnerungen waren verblasst, verwaschen, verdrängt. Aber was er noch wusste, gab er wieder. Es tat ihm fast Leid um die vielen Minuten, die sie damit zubrachten, einander anzuschweigen. Wenn er versuchte, sich zu erinnern. Oder die nötige Überwindung, den Mut, zusammenzukratzen. Wenn er mit den Tränen kämpfte und nicht wollte, dass sie ihn so sah. Und sie hielt an sich. Keine vorlauten oder aberwitzigen Kommentare. Nur gelegentlich die Hand auf seiner. Ein warmer Blick, ein mildes Lächeln. Und bei jedem Abschied ein Kuss auf die Wange. Er mochte das Gefühl. Es ging mit einem Kribbeln einher, das ihn regelrecht elektrisierte. Er fühlte sich wie frisch aufgestanden, voller Elan, Energie und Tatendrang und die zweite Hälfte seiner Runde wurde stets ein wenig einfacher. Er konnte manchmal sogar noch ein paar Minuten herausschlagen – und bedauerte in diesen Minuten, dass sie nicht da war. An diesem Tag jedoch… gab es etwas zu klären. Er hatte es lange, wirklich sehr lange vor sich her geschoben. Niemandem war etwas passiert, nicht wahr? Es war harmlos, völlig harmlos. Und sehr lange hatte er sich das erfolgreich einreden und sein Gewissen damit beruhigen können. Aber in letzter Zeit hatte es begonnen, an ihm zu nagen, ihn um den Schlaf zu bringen, ja sogar seinen Spaß an diesen Treffen zu schmälern. Das konnte, wollte er einfach nicht zulassen. Nur wie anfangen? Sie hatten sich getroffen, wie üblich. Sie hatten sich hingesetzt, in einem abgelegenen Teil, außer Sicht der Hauptstraßen. Er hatte angekündigt, sie etwas Wichtiges fragen zu müssen. Sie hatte genickt, ernst, sich zu ihm gesetzt. Sie hatte ihre Hand auf seine gelegt und gewartet. Das tat sie noch. Schließlich seufzte er schwer. Es brachte ja doch nichts. Egal wie sehr er es auch zu drehen und zu wenden versuchte, es gab keine nette Art, das zu sagen. „Warum kopierst du die Karten?“ Dass sie schlagartig ihre Hand zurückzog, war nicht völlig unerwartet. Es tat dennoch weh und er vermisste die weiche Wärme schlagartig. Um Haaresbreite hätte er bereut, überhaupt einen Ton von sich gegeben zu haben, aber… das musste geklärt werden. Als er wagte, zu ihr aufzuschauen, starrte sie ihn aus großen, überraschten Augen an. Fast schon… panisch? „Du… du weißt davon?“, kam von ihr so leise, das sie im Grunde auch gleich hätte flüstern können. Er seufzte. Ehrlichkeit, so hatte seine Mutter ihn gelehrt, war eine Tugend. Na jedenfalls hatte sie versucht, ihn das zu lehren – Notlügen waren, seiner Ansicht nach, auch eine Tugend. Aber das hier war nicht der Augenblick für Lügen, ganz gleich welcher Art. Von einem Nicken begleitet hob er an. „Du prägst dir alles ein, was du hörst. Und auch alles, was du siehst, vermute ich? Als du das erste Mal Haarspalterei betrieben hast, weil ich darüber stritt, wann du bei unserem ersten Treffen deinen Namen genannt hast, dachte ich noch, dir wäre der Moment so wichtig gewesen. Aber irgendwann habe ich das mal… ausprobiert. Und du wusstest alles noch. Bis ins Detail. Und du schaust dir die Karten an. Immer dann, wenn du glaubst, ich würde nicht hinsehen oder wäre abgelenkt. Ich… ich bin jetzt schon eine Weile hier in der Stadt. Ich habe inzwischen ein wenig Ahnung, wie die üblen Gestalten hier aussehen. Die zwei Kerle, als… als wir uns erstmals trafen… Freunde von dir?“ Schockstarr saß sie dort und blickte ihn an. Sie blinzelte nicht einmal, bis ihre Augen es so sehr vermissten, das sie zu tränen begonnen hätten. Seine Pause hatte nicht mehr viel Zeit übrig. Wusste sie das? Zögerte sie es deshalb hinaus? Um nicht antworten zu müssen? Er wollte nicht, dass es so endete. Dass sie das hörte und verschwand und er sie dann möglicherweise einfach nicht wiedersah. Nie wieder. Die bloße Vorstellung bereitete ihm Magenschmerzen. „Bitte sag etwas. Irgendwas.“ Vorsichtig nickte sie. Auf die Bitte hin, oder auf das Vorherige? Erst einige Augenblicke später erlöste sie ihn… zumindest teilweise. „Sie… ja. Ja, sie… sind Freunde von mir. Sie sollten dich ablenken, damit ich einen Blick auf die Karte werfen kann.“ Es tat weh. Aber ihm war klar gewesen, dass das hätte passieren können. Dass es wahrscheinlich passieren würde. Warum hätte es auch nicht passieren sollen? Das Leben war nicht bekannt dafür, nett zu sein. „Also ging es von Anfang an nur um die Karten.“ Er erschrak, zumindest innerlich, gedanklich. Er war wütend und ängstlich und es tat weh und er wollte sie nicht verlieren und wollte sie zugleich anschreien, aber seine Stimme betrog nichts davon, die klang einfach nur… bitter. „Jannis“, hob sie leise an und griff nach seiner Hand. Sie brach ab, als er sie zurückzog, vor ihr schützte. Eine unwillkürliche, unüberlegte Handlung, aber er konnte sich auch nicht dazu bringen, im Gegenzug ihre Hand zu ergreifen. Also ließ sie es bleiben. Senkte beide Hände in ihren Schoß. „Anfangs, ja.“ „Ach? Und jetzt nicht mehr?“ Jetzt hörte man den Zorn. Warum musste es immer die Wut sein, die sich zuerst durchsetzte…? Nicht, das ihm in diesem Moment lieber gewesen wäre, neben ihr zu sitzen und wie ein Schlosshund zu heulen, aber warum mussten es immer Anklagen und Lautstärke sein, die zuerst kamen? Sie zuckte sichtlich zusammen und er bereute es. Es tat ihm leid und er wollte, dass sie das weiß, konnte sich aber nicht überwinden, es zu sagen, zu zeigen, nichts. Denn ein Teil von ihm wollte, dass sie litt. Dass sie wusste, was sie getan hatte. Und wie sehr es wehtat – ihm wehtat. „Ich kümmere mich immer noch um die Karten. Und das war, womit es anfing. Aber… ich habe dich kennenlernen können. Und du mich auch, oder nicht?“ Der hoffnungsvolle Ton in ihrer Stimme tat noch weit mehr weh als ihr vorheriges Zusammenfahren. Als würde alles, wirklich alles, von seiner Antwort abhängen. Er sollte seine Worte sorgfältig wählen, bedacht. Stattdessen… „Kommt darauf an, wie viel davon echt war.“ Er sah auf und sah den Schmerz in ihren Augen. Sah, das er sie getroffen hatte… und wie sehr. Aber waren seine Ängste nicht legitim? Sie hatte ihn belogen, oder nicht? Nun, technisch betrachtet vielleicht nicht belogen, aber zumindest ihm etwas vorgemacht. Wie viel war Schauspiel und was war es nicht? Er wartete keine weiteren Erklärungen ab. Es gab nur eins, das ihn noch interessierte. „Warum?“ Wunderbar. Jetzt kamen die Ängste durch. Das Zittern in der Stimme hätte auch sie zweifellos nicht überhören können. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Wir brauchen die Patrouillenrouten. Wir wollen niemanden verletzen und wir wollen natürlich auch nicht verletzt werden. Jannis, ich… ich habe nicht gelogen und dir nichts vorgemacht. Bitte glaube mir das!“ Das war… ein wirklich merkwürdiger Moment. Mit diesem einen Satz fiel alles zusammen. Jedes Teil des Puzzles fügte sich ein und das Bild war komplett. Per Fingerschnippen, gewissermaßen. Sie wollten niemanden verletzen. Wie viel hatte Belle ihm über Nephilims Politik erzählt? Hatte sie nicht irgendwann beiläufig erwähnt, ihre Mutter hätte einst im Rat gesessen, bevor sie sich von einem Magier in Ordewey entführen ließ? Wie viel hatten sie über elbische Traditionen gescherzt? Wie viel über die nötige Präsenz der Menschen zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung? Man lebte nicht über ein halbes Jahr an einem Ort und schnappte nicht ein einziges Gerücht auf, ganz egal wie wenig Zeit man auch hatte. In den Wachstuben wurde von flüchtigen Rebellen geredet, Peter fluchte auf geplünderte Waffenlieferungen, Grimm wütete wegen halbierter Steuergeldlieferungen und mit Bratenfett geschmierter Waffen. Es waren mal große, mal kleine Dinge, aber er hatte von diesen Dingen gehört. Und stets waren die Übeltäter, Unruhestifter und Strauchdiebe entkommen. Als hätte es sie nie gegeben. … oder als hätten sie einfach gewusst, wann Schichtwechsel war, wann wo patrouilliert wurde und in welcher Stärke und Bewaffnung. Belle gehörte zur Rebellion. Belle war eine Rebellin. „Jannis?“ Er glaubte sie mit gänzlich neuen Augen zu betrachten, ihre Gestalt zu erfassen. Sie lebte vielleicht doch nicht auf der Straße. Konnte sie mit Waffen umgehen? Hatte sie auch schon nachts einer Patrouille aufgelauert? Oder war springend von Hausdach zu Hausdach geschlichen? Die Vorstellungen wanderten durch seinen Schädel. Sie waren abenteuerlich, aufregend, spannend und die Flut drückte den Choral der Stimmen allmählich nieder, die sich empörten. Sie hatte ihn belogen, sie hatte ihn ausgenutzt, sie hatte ihn verraten! „Jannis?“ Aber hatte sie das denn? Niemandem war etwas passiert, oder nicht? Es gab ab und an Wächter mit einer Beule am Kopf, sicherlich. Aber die Rebellen entkamen, ohne gehängt zu werden und die Wache hatte eben auch nur Beulen am Kopf, keine durchgeschnittenen Kehlen und dergleichen. Natürlich gab es dahingehend Leidtragende, das jeder Zwischenfall Grimms Laune weiter verschlechterte und die Hausbelegschaft das gewissermaßen ausbaden musste, aber… was, wenn sie es wirklich schafften? Wenn sie für die Wache hier so nervig und lästig und quälend und penetrant wurden… das man irgendwo anders, wo Macht war und Entscheidungen getroffen wurden, darauf plädierte, das Nephilim die Mühen einfach nicht wert sei und man die Soldaten wieder abzog? War das nicht etwas wert? „Jannis!“ Er hatte sich so leicht gefühlt. Federleicht. Und sein Kopf schwirrte vor Bildern und Gedanken. Er hatte nicht bemerkt, wie sein unfokussierter Blick abgeglitten war, wie er zum Himmel empor starrte, der sich zwischen den dichten Kronen der Bäume fleckenweise abzeichnete. Er war umgekippt, aber fühlte keinen Aufprall und die ihn einhüllende Schwärze war mehr Freund als Quelle für Sorge oder Angst. Doch dann war da Wärme. Eine so wundervolle Wärme. Und weich. Das ist nicht die Wange… Innerlich grinsend, streckte er sich dem entgegen. Es fühlte sich gut an und er wollte mehr davon. Als er die Augen wieder aufschlug, war Belle gerade dabei, ihre zu schließen. Als sie sich voneinander lösten, atmeten sie beide schwer. „Das war unglaublich…“, hauchte er bemüht. „Ich habe magische Küsse!“, erklärte Belle im Brustton des Stolzes. Einen Moment blickten sie einander entgegen. So viel Unsicherheit. So vieles, das – theoretisch – zwischen ihnen stand. Oder zwischen ihnen stehen sollte. Könnte? Er musste grinsen, ganz unweigerlich. Und je breiter sein Grinsen wurde, umso sicherer wurde das Lächeln auf ihren wundervollen Lippen. Als er leise zu glucksen begann, tat sie es ihm gleich – bis beide lachten. Herzhaft und laut und ungezügelt lachten. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe er sich wieder gefangen hatte. „Warum hast du nie etwas gesagt?“, erkundigte sie sich, als er wenig später aufgestanden dabei war, seine Sachen zu packen. Er hatte einen Lauf zu beenden. Und vielleicht, in ein paar Tagen, würden sie sich wiedersehen. Und weiterreden. Und lachen. „Ich mochte-… uhm…“ Er spürte die Röte in seine Wangen schießen. Einen Moment brauchte sie, zu verstehen, ehe Belle erneut lachte. Ehe er loslaufen und der Peinlichkeit davonrennen konnte – flink genug war er sicherlich! – hielt sie ihn auf, beide Hände auf seinen Schultern und drehte ihn sich zu. „Was… w-was wird das?“ Warum musste er ausgerechnet jetzt wie ein dummer Junge stammeln?! Er war weder dumm, noch ein Junge, gute Götter! „Ich verzaubere dich – so richtig!“, hauchte sie ihm mit neckischem Grinsen zu.   589. Tag „Hey, Dummkopf!“ Er hätte frustriert seufzen wollen. Diesen verdammten Spitznamen wurde er einfach nicht mehr los. Vielleicht nie mehr. Dennoch folgte er Belles Ruf in die Gasse, tiefer hinein und um eine weitere Windung. Warum sie diesmal solche Mühe betrieb, sich zu verstecken, war ihm ein Rätsel – eines jedoch, das sich rasch klärte. Kaum umrundete er die nächste Ecke, packte sie ihn schon beim Kragen seines Hemdes und zog ihn zu sich. Ihre Küsse waren… gierig. Feurig. Leidenschaftlich. Nicht, das er das nicht inzwischen zu schätzen gelernt hatte, nur war sie… noch gieriger als sonst. Drängend, irgendwie. „Ein besonderer Anlass?“, hakte er irritiert nach und irgendwie… beunruhigte ihn das Funkeln in ihren Augen. „Heute machen wir dich zu einem Mann, Jannis.“ Einen Moment glaubte er, sich verhört zu haben. „W-Was? H-Hier?“ Das war natürlich die einzig wichtige, intelligente Frage, weshalb sein Blick auch sofort die Gasse mit all ihrem… nun ja, Schmutz erfasste. Erde, Stein, ein paar kleinere Waldtiere, die sich in den menschlichen Teil der Stadt trauten, und dazu Unrat, Müll… dabei war der Ort doch eigentlich wirklich das geringste Problem. „Ich finde, es passt zu uns“, amüsierte sich Belle, „Der dumme Leibeigene und die dreckige Bettlerin – hach, wie romantisch! Wie aus einem Märchen…“ Eine Welle der Erleichterung brandete über ihn hinweg und selbst seine Verstimmung konnte sich nicht bemerkbar machen, als er zu erkennen glaubte, dass sie das alles nicht ernst meine. Er wandte sich von ihr ab und wollte schon seine Briefe und Papiere aufsammeln, um sie ordentlich abzulegen, als sie ihn prompt am Handgelenk griff und wieder zu sich zog, um ihn erneut mit Küssen einzudecken. „Das war mein voller Ernst“, hauchte sie ihm mit heißem Atem ans Ohr. Ein Schauer jagte den nächsten sein Rückgrat herab und bis in die Fingerspitzen hinein. „A-Aber wir sind-“ … nicht verheiratet? … nicht von der gleichen Rasse? … nicht sicher vor Beobachtung? … unter Zeitdruck? Das könnte klappen! „Wir haben nicht viel Zeit!“, merkte er an und registrierte erst im Nachhinein, wie… potenziell missverständlich das klang. Belle merkte kurz auf und grinste. „Dein erstes Mal, oder nicht?“ Benommen konnte er nur vorsichtig nicken und versuchen, zu ignorieren, dass ihre Hand längst seinen Gürtel gelöst hatte und sich unter den Stoff wühlte. Seine kurz darauf folgende, kurze Schnappatmung hingegen schien ihr Amüsement nur zu stärken. „Dann mach dir keine Sorgen. Beim ersten Mal hält kein Mann lange durch!“ Das… gab ihm doch zu denken. Er hatte sich nie Gedanken darum gemacht, was genau er mit Belle eigentlich hatte. Ob sie das mit anderen als nur ihm teilte. Oder es teilen würde, wenn ihre Vorhaben es nötig machten. Hatte es andere vor ihm gegeben? „Woh-her…?“, stammelte er. Zu vollständigen Fragen war er kaum noch fähig. Ganz sicher nicht, nachdem sie den Rock ihres Kleides an der Vorderseite gerafft hatte und er einen guten, freien Blick auf… nun, alles bekam. Feine, dünne, gekräuselte Haare und bemerkenswert saubere Haut. Nun, sie spielte das Straßenkind ja auch nur – und niemand sollte auf die Idee kommen, ihr unter die Kleider zu gehen. „Bücher“, gab sie nonchalant zurück, „Oh und vielleicht ein paar überhörte Gespräche, die nicht für meine Ohren gedacht waren. Jannis, wenn du mir umkippst, werde ich ungehalten! Weiteratmen.“ Er bemühte sich, sich zu konzentrieren, riss seinen Blick los, schüttelte kurz den Kopf… sah sie breit grinsen. Sie war… nervös. All ihrer Fassade, guten Laune, frecher Sprüche zum Trotz konnte er es spüren, es in ihren Augen sehen. Viel Zeit, das zu hinterfragen, ließ sie ihm nicht. Mit einer Hand fest um… das da geschlossen und von ihren spielerischen Bewegungen nicht ablassend, legte sie die andere in seinen Nacken und zog ihn zu neuen Küssen an sich. Inzwischen glaubte er, das Umkippen unvermeidlich sein würde. Sein Herz hämmerte in seiner Brust laut genug, das er glaubte, selbst sie müsse es hören. Das Blut rauschte in seinen Ohren und doch hörte er jeden ihrer Atemzüge. Seine Finger kribbelten und doch spürte er die von ihr ausgehende Wärme. Jeder klare Gedanke wurde zusehens zäher, schwieriger, schließlich unmöglich. Er schluckte schwer, trocken, als er spürte, wie sie ihn dirigierte. Sie schien immerhin tatsächlich zu wissen, was sie tat, was… wohin gehörte. Ihre Hand löste sich aus seinem Nacken, als er keinen Widerstand mehr leistete, nicht zu flüchten versuchte. Stattdessen legte er, unter ihrer Führung, seine Hände nun an ihre Hüfte. Er zitterte wie Espenlaub. Glaubte er jedenfalls. Immerhin fühlte es sich so an. Konnte man an Nervosität sterben…? „Nimm mich“, hauchte sie ihm ins Ohr. Wieder ein Schaudern. Ihre Hand glitt über seinen Rücken, kam über seinem Hintern zur Ruhe und übte langsam Druck aus. Nur zögerlich gab er nach, drückte sich ihr entgegen, vorwärts. Ihr Geruch war betörend. Die Wärme, die von ihr ausging, einlullend. Und obwohl es vollkommener Unsinn war, glaubte er durch den Stoff spüren, ihren Körper spüren zu können. In seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Schluck Alkohol getrunken. Aber nach allem, was er von denen, die es taten, gehört hatte… glaubte er, dass sich so ein Rausch anfühlen musste. Als er auf Widerstand traf, hob er den Kopf, suchte ihren Blick. Wortlos, ein Nicken, ein Biss auf ihre Unterlippe, ein Keuchen an seinem Ohr, Schaudern, Gänsehaut, das Gefühl war unbeschreiblich und sein Verstand verabschiedete sich völlig. „A-alles… gut…?“, brachte er noch zustande. Sie zögerte einen Moment, nickte schließlich. Ein paar einfache Bewegungen nur. Langsam zog er seine Hüfte zurück, presste sie wieder vorwärts, bis seine und ihre aneinander lagen. Vergeblich versuchte er irgendeinen Rhythmus zu finden, jeder bewusste Gedankengang wurde vom Geräusch ihres Keuchens, vom Gefühl ihres Atems an seinem Hals zerstört, schon im Keim erstickt. Ein paar einfache Bewegungen nur. Er hatte die Anspannung gespürt. Das Ziehen und Drücken und das Gefühl, das etwas passieren würde. Er hatte es nicht verstanden, tat es noch nicht, spürte nur das Pulsieren, die Erleichterung, die Genugtuung, den Rausch, als all seine Sinne noch einmal schärfer wurden und zugleich fokussierter, ausblendeten, was immer ihnen nicht zu passen schien. Er hatte nicht bemerkt, die dicht und stark Belle ihn an sich gedrückt hielt. Hatte nicht bemerkt, wie sehr seine Beine zitterten, seine Knie nachgeben wollten. Wie kalt es an seinem Hintern war, nachdem seine Hose vollkommen unbeachtet herabgerutscht war. Erst als sie kicherte, kam er langsam wieder zu Sinnen. Leicht drückte er sich von ihr ab, aber nur den Oberkörper, um sie anschauen zu können. Sie glühte regelrecht. Und blickte zur Seite weg. Die Unterlagen vielleicht? Als er ihrem Blick folgte, stand dort ein Elb. Und gaffte. „Halt’s in Öl fest, hält länger!“, rief Belle ihm sichtlich heiter entgegen. Der Passant lief hochrot an, ob vor Scham oder Wut, wer konnte das schon sagen… und wirklich, wen interessierte es? Er wandte sich ihr wieder zu. „Das… war… n-nicht lange, oder?“ Wieder lachte sie. Warm. Angenehm. „Nein“, meinte sie mit einem Kopfschütteln, „War es nicht. Aber keine Sorge, angeblich wird man mit der Übung besser. Und wir können üben… jede Menge, hm?“ Warum musste sie das immer machen?! Immerhin, wenn er auch so rot war wie sie, würde es nicht weiter auffallen… richtig? Dennoch glaubte er zu spüren, wie seine Wangen und Ohren noch ein wenig mehr glühten. Langsam zog er sich von ihr, aus ihr, zurück. Ein weiterer Schauer jagte seinen Rücken herab. Egal wie… merkwürdig und ungelenk es gewesen war oder ausgesehen haben mochte, dieser Rausch war… er wollte mehr davon. Jedenfalls, bis er an sich herab sah. „Oh gute Götter, Belle, ich… du bist verletzt?!“ Irritiert blickte sie zu ihm, folgte seinem Blick… und seufzte. Vielleicht sollte sie ihm ihre Bücher ausleihen… Kapitel 49: Die Reise endet nie ------------------------------- Es ist schon seltsam, wie über die Jahre hinweg manche Worte an Stärke, Präsenz und Macht gewinnen, während man im Gegenzug in Gesprächen und Texten teilweise ganze Absätze überblättert und nur einzelne Fetzen aufschnappt, Schlüsselwörter, um sich den Inhalt zu erschließen, während man an diesen… diesen anderen Aneinanderreihungen von Buchstaben hängen bleibt. Wie an einem Nagel, der schief und krumm herausstehend die eigene Flucht bremst, weil man sich die Hand daran aufreißt. Für einen Kriegsversehrten mögen es Worte wie Befehl oder Vorrücken sein. Geweitete Augen, Schweiß auf der Stirn, fahle Haut und ein Zittern in den Händen, hektisches Kopfschütteln, der Blick rast umher, sucht Feinde und Ausgänge. Oder vielmehr Fluchtrouten. Thorin hatte in seinen vielen Jahren mehr als genug Kriege gesehen, aber er bewies, dass man sich dem Schrecken von Schlachtfeldern nicht beugen muss. Dann wiederum, vielleicht ist das auch einfach eine persönliche Sache? Ihn schien nie sonderlich gestört oder beeindruckt zu haben, wenn die Worte fielen, die mir inzwischen ein Schaudern den Rücken herunter jagen. Worte wie immer, ewig oder niemals.  Vielleicht war ihm einfach nur allzeit klar gewesen, dass es sich für ihn vielleicht wie eine Ewigkeit anfühlen mochte, jedoch nie tatsächlich eine war. Keine hätte sein können. Er hatte Zeit, die ihm geliehen worden war. Er wusste zwar nicht, wieviel davon, aber sein Vorrat war endlich. Anders als meiner. Dies ist die Geschichte, wie ich die Ewigkeit zu fürchten lernte. Das Niemals und das Immer. Andere werden vielleicht, irgendwann einmal, diese Worte lesen und zu einem anderen Schluss kommen. Sie werden sagen, dass dies die Geschichte ist, wie Ishara Lileth Wyrmblut zu einer Legende wurde, deren Erzählung über die Grenzen des kleinen, halb vergessenen Inselreiches Lumiél hinaus schwappte. Oder sie werden sagen, dass dies die Geschichte ist, wie ich Jeva traf. Vielleicht sagen sie auch, dass dies die Geschichte vom Anfang des Endes ist, vom einsetzenden Untergang so vieler – Dinge, Leute und Nationen, Kultur und Traditionen gleichermaßen… so wie ich es befürchte. Geschichten beginnen, so hat die Liebe meines Lebens mir einmal gesagt, immer am Anfang. Aber wer hat schon die Zeit und Muse, sich durchzulesen, wie Lumiél aus dem Meer aufstieg, wie die Drachen die Welt von hier ausgehend bevölkerten oder wie die ersten Menschen das Atoll für sich erschlossen? Das würde einfach zu weit zurückgreifen. Also nutze ich einen kleinen Trick meiner Mutter: Mit wenigen Sätzen – oder in diesem Medium wohl eher Zeilen - die Szene präsentieren.   Lumiél hatte in den Jahren viel mitmachen müssen. Land und Völker gleichermaßen. Unter der Regentschaft zunehmend grausamerer, selbstsüchtigerer Tyrannen hatte die Nation geblutet. Wunden, die nie die Chance bekamen, richtig zu heilen. Und Thorin, irgendwo im Ausland als Söldner unterwegs, der die Kunde vernahm, hier und da, immer mal wieder, und letztlich seine Augen nicht mehr vor dem Desaster in seiner Heimat verschließen konnte. Er kehrte heim, schloss sich der Rebellion an und führte sie zum Sieg. Und wir alle hatten glauben wollen, dass es ein Sieg war. Aber die Kämpfe enden einfach nicht. Tun sie nie. Wir hatten den König gestürzt. Wir hatten mit dem korrupten Adel und vielen Militärangehörigen abgerechnet. Wir hatten dem Land eine Chance erarbeitet. Auf Stabilität, Sicherheit und Erholung. Aber mit einer Schlacht geschlagen, nahten natürlich sofort die Wölfe des Krieges, bereit, sich auf uns zu stürzen und direkt den nächsten Krieg zu beginnen. Lumiéls korrupte, verdorbene Verbündete – einstmalige Verbündete, wohlbemerkt – sahen ihre Chance gekommen. Es wurden Bündnisse geformt, Allianzen geschmiedet und ja, auch gelegentliche Schlachten geschlagen. Thorin waren die Piraten Sundergrads immer ein Dorn im Fleisch gewesen – aber als der König sie zu den Waffen rief, da folgten sie mit einem Stolz, den er in seinem Volk verloren geglaubt hatte und kämpften so leidenschaftlich, das sie ungeheuren Übermächten erfolgreich die Stirn boten. Es war beeindruckend, es damals selbst zu sehen, wieder und wieder. Ich hatte in all den Jahren nie ganz verstanden, was er damit gemeint hatte. Mit diesem angeblich vorhandenen Stolz und der heiß lodernden Leidenschaft seines Volkes, mit seiner Stärke an Willen und Tatendrang. Bis ich es selbst in Aktion sah. Schlachten wurden geschlagen und Projekte verfolgt. Der Ausbau des Landes lief parallel. Alles lief parallel – es gab einfach keine Baustellen, die in der Priorität zurückgestellt werden konnten. Alles war irgendwie wichtig. Das dünnte zwar die Ressourcen aus, gewährleistete aber wohl irgendwie auch einen steten, gleichmäßigen Fortschritt. Natürlich kam der Punkt, an dem Thorin nicht länger einfach nur zweifelte, sondern Konsequenzen daraus zog. Er war ein guter König. Er liebte sein Land und sein Volk und sah sich als Diener des selbigen. Aber das Land und Volk, dem er diente, war nicht das, worüber er herrschte. Er stammte aus einer anderen Epoche. Und diese Zeit war vorbei. Er hatte dem Land maßgeblich helfen können, hatte ihm eine neue Chance erarbeitet, es gestärkt, geführt, angeleitet. Aber mit jedem Tag wuchs die Sorge, was diese Differenz letztlich anstellen würde. Er war nicht willens, zuzusehen, wie er selbst sich möglicherweise einfach nur zum nächsten Tyrannen mausern würde. Egal, wie gering diese Chance auch sein mochte. Ebenso wenig war er bereit, dem Land zu schaden – oder dieses Risiko einzugehen. Sich einer befestigten Stellung entgegen werfen mit nicht mehr als einem ledernen Brustpanzer und einer Axt in der Hand, direkt in Speere hinein, an Turmschilden vorbei und in die Ränge von Bellatoren preschen – das war ein Risiko, das er guten Gewissens tragen konnte. Aber Lumiél schaden? Da zog er die Grenze. Die Erbfolge war abgeschafft. Und dennoch wollte das Volk mehr Thorin. Mehr Wyrmblut. Man konnte ihn schlecht zwingen, die Krone weiter zu tragen. Mutter hatte keinen Anspruch darauf und ich ebenso wenig – ganz gleich, ob das Recht es anders vorsah. Sein Sohn dagegen, den konnte man auf den Thron setzen. Und sie taten es. Es ist befremdlich, darüber nachzudenken, dass er ein guter Junge gewesen sei. Ich war älter als er, natürlich, nur… inzwischen dürfte er seit vielen Jahrzehnten tot sein. Jahrhunderten vermutlich. Und ich bin nur wenige Tage gealtert, falls überhaupt. Ich sah ihn aufwachsen und die Erinnerungen daran, wie Mutter einem nackten, kichernden Bengel nachjagte, um ihm etwas anzuziehen, scheinen mir nicht so fern und schwer vereinbar mit der Vorstellung, wie das Alter einen von Flecken übersäten Greis mit zittrigen Händen, schneeweißen Haaren und eingefallenen Wangen dahingerafft hat. Es war während dieser Zeit, dass Duncan zurückkehrte. Jeder hatte ihn vergessen. Oder vielmehr, nahezu jeder. Meister Lamerak und Herrin Tanveer hatten ihn verfolgt, regelrecht gejagt und waren erst nach Lumiél zurückgekehrt, als sie sich seines Unterganges versichert hatten. Der Chronist Duncan war vernichtet worden. Sie hatten nie herausfinden können, wie eigentlich. Er war nicht gestorben, nein. Vernichtet. Irgendeine Kraft hatte ihn in Fetzen gerissen. Erst später sollten wir erfahren, wie wahr das war. Denn nicht nur seinen Körper hätte man stückchenweise aufsammeln können. Seine Essenz, seine Seele, seine Persönlichkeit, alles an ihm war zerrissen worden. Oder vielleicht vielmehr, gesplittert. Er kehrte nach Lumiél zurück, um Rache zu üben – so vermuteten wir zunächst. Mit nicht mehr als einem kleinen Beiboot, ausgesetzt irgendwo vor der südlichen Küste, ließ er sich von einem Schiff aufsammeln und nach Sundergrad bringen. Er tötete dort Hunderte, zerstörte fast ein Fünftel der gesamten Stadt, versenkte ein Dutzend Schiffe, ehe die Enge Sundergrads ihn vertrieb. Zu viel Gegenwehr, die er nicht immer schnell genug sehen konnte. Verletzt zog er nordwärts und schaffte es sogar lebend durch die Wüste. Nur um in Samara einzufallen wie eine Naturgewalt. Die äußeren Mauern verwitterten am Südwall, Häuser stürzten ein und begruben die Männer, Frauen und Kinder darin. Auch in Samara fielen ihm Dutzende zum Opfer, ehe Meister Lamerak und Herrin Tanveer ihn stellen konnten. Die Kämpfe in der Stadt auszufechten war, was Thorin im Anschluss so rasend gemacht hatte. Aber was hätten sie tun sollen? Duncan nahm keine Rücksicht. Nicht auf andere und nicht einmal auf sich selbst. Er wurde getötet. Zum zweiten Mal. Und nach vier Monaten kehrte er zurück. Nach seinem dritten Tod dauerte es nur sieben Wochen. Nach seinem vierten Tod waren es drei Jahre. Aber er kehrte wieder. Immer wieder. Die Magier des Zirkels hätten uns vielleicht helfen können… hätten sie das denn gewollt. So hingegen waren wir auf unsere eigene Expertise angewiesen und da… waren wir schlecht aufgestellt. Angriff folgte auf Angriff. Schäden, Tote, und letztlich, was Thorin am meisten besorgte: Angst. Häuser konnte man reparieren. Oder neu bauen. Märkte konnte man aufstellen, Stoffe einführen. Und das Volk würde sich erholen. Aber es war die Angst, die alles zu zerstören drohte. Was nützte es, den Markt wiederaufzubauen? Was nützte es, wenn sich die Bevölkerungszahl erholte, wenn niemand den Markt zu besuchen wagte? Wenn jeder aus Sundergrad zu verschwinden versuchte? Wenn die großen Städte gemieden wurden – aus Furcht vor der nächsten Attacke eines wahnsinnigen Chronisten? Angst schmälerte die Attraktivität der Märkte Sundergrads. Weniger Händler bedeutete weniger Reichtum. Weniger Reichtum zog weniger Piraten an. Sie unterhielten weniger Schiffe und das schwächte Lumiéls Verteidigungsfähigkeit zur See. Und das waren nur eine Stadt und nur eine Mechanik. Es gab so viel mehr, was ihm Sorgen bereitete. Wir mussten herausfinden, was es mit Duncan auf sich hatte. Wie er es vollbrachte, immer wieder zurückzukehren. Und was er eigentlich wollte. Als wir Duncan also das siebte Mal getötet hatten – diesmal dank eines glücklichen Zufalls direkt auf See, noch außerhalb Sundergrads -, beschloss Thorin auch die Mittel in Betracht zu ziehen, die er bis zu diesem Punkt ausgeschlossen hatte. Er hatte immer gehofft, dass dergleichen nicht notwendig werden würde. Dass es nur eine begrenzte Anzahl an Duncans geben konnte. Dass die Angriffe irgendwann schon stoppen würden. Aber es sah einfach nicht danach aus. Wir waren alle anwesend, als er Kaleran rief. Ich muss zugeben, ich wollte diesem Geschöpf nicht begegnen. Nie wieder. Und ich hatte auch nicht erwartet, dass er überhaupt reagieren würde. Nach allem, was ich mir erfolgreich eingeredet hatte, hatte er mit uns erreicht, was er hatte erreichen wollen. Wir waren fertig miteinander. Aber als Thorin rief, zog der strahlend blaue Himmel sich fast augenblicklich mit tiefschwarzen Wolken zu. Es wurde finster in der Thronhalle. Dann zuckten Blitze, grell und gleißend und ich schloss meine Augen, wie alle, um nicht zu erblinden. Ich hatte Hoffnung gehabt – bis zu dem Punkt, als ich sie wieder zu öffnen wagte und dort diese vertraute, unmenschliche Gestalt stehen sah. Hoch gewachsen, schlank, die Haut jedoch verfärbt und eine harte, gefühllose Miene in einem Gesicht mit drei Augen. Ein Anblick, den ich wahrscheinlich Zeit meines Lebens nicht mehr loswerde. Bevor irgendjemand irgendetwas sagen konnte, platzte ich mit meiner eigenen Neugier hervor. Wie viele Jahre waren es nun schon, seit Hans verschwunden war? Zugegeben, er war nicht vollständig vom Erdboden verschluckt worden. Er hatte sich sehen lassen, hier und da. Hatte mit mir geredet. Ob nun beim Tempelbesuch oder in Träumen. Selten sogar in Person. Aber Hans machte mir Sorgen. Sein Wohl, vielmehr. Die Einsamkeit bekam ihm nicht gut und mit einem Lehrmeister wie Kaleran… mit jemandem wie ihm um sich, nur ihm, da war es Einsamkeit. Dazu kam, dass ich Hans kannte. Einen Freund nannte. Und wusste, mit welchen Leiden er sich trug. Leiden, die Kaleran zwar sehen konnte. Die Ursachen in der Vergangenheit. Die Gedanken in der Gegenwart. Die resultierenden Handlungen in der Zukunft. Aber er verstand sie nicht. Und das verbot ihm, etwas dagegen zu tun. Also fragte ich ihn, wie es Hans ginge. Und er ignorierte mich. Stattdessen blieb sein Blick zunächst starr auf  Thorin gerichtet, der einen Moment noch zögerte. Ich wusste genau, dass er abwog. Sollte er Kaleran bedrängen, mir zu antworten, oder sich seinem eigenen Anliegen widmen? Aber das Schicksal des Reiches war wichtiger… das war mir klar. Also nickte ich ihm zu. Er wirkte fast schon… erleichtert. Erleichtert, nicht wählen zu müssen. Es machte mir klar, wie schwer die Verantwortung auf ihm wiegen musste. Wie viele Jahre war ich der Verantwortung unterlegen gewesen, eine Herzogin zu mimen? Aber vermutlich war das nichts im Vergleich zur Bürde einer Krone. Thorin verlangte von Kaleran ausführliche Informationen. Er bot keinen Handel an, er verlangte. Jeden anderen hätte ich für wahnsinnig erklärt. Aber ich hatte gesehen, wie er erfolgreich Götter erpresste. Ich hatte die Geschichten gehört, wie er ein Jahrhundert lang einen Magier quer über einen Kontinent jagte, aus nicht mehr als einer Laune und Sturheit heraus. Wenn irgendwer sich das herausnehmen konnte, dann er. Und die Warnung war stets mit impliziert. Wir wussten, das Kaleran viel Arbeit investiert hatte, um uns in die Positionen zu manövrieren, in denen wir waren. Und er wusste, dass wir das wussten. Während ich und vermutlich auch viele andere je nach Situation entschieden, gezögert und vielleicht auch klein bei gegeben hätten, hätten Thorin und Ninafer zweifellos auf Biegen und Brechen seine Pläne zu ruinieren versucht. Um sich einen Chronisten zu erziehen. Und ich hege keinen Zweifel, dass es früher oder später funktioniert hätte. Vielleicht war das der Grund, warum Kaleran letztlich antwortete. Freimütig und großzügig gab er uns alles, was wir wissen wollten, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Er bot uns sogar eine Erklärung für sein ungewöhnliches Verhalten. Duncan war tatsächlich zersplittert worden. Teile seiner Persönlichkeit und Seele wanderten umher. In der Zeit verstreut. Im Raum verstreut. Kaleran ging nicht darauf ein, wie das geschehen war und niemand fragte nach. Wichtig war, dass wir nun wussten, dass es eine endliche Anzahl an Duncans gab. Allerdings wussten wir nun auch, dass wir bislang sieben bekämpft und bezwungen hatten und noch Hunderte dort draußen waren. Irgendwann und irgendwo. Ein Krieg, den Lumiél nicht gewinnen konnte. Duncan hatte eine Vision empfangen. Und wie einstmals – der Legende nach – Kaleran, so entschied auch er sich dazu, dieses sehr wahrscheinliche Ereignis nicht eintreten zu lassen. Dummerweise setzte er sich damit in den Kopf, ein Ereignis zu verhindern, dass Kaleran mit allen Mitteln herbeizuführen versuchte. Und dieser Chronist zog es doch stets und allzeit vor, seine Arbeit nicht selbst erledigen zu müssen. Offenbar hatte dieses Ereignis irgendetwas mit Arvum zu tun. Den Namen des Kontinentes hatte ich nicht einmal gehört, bevor wir ihn im Anschluss dieses Gespräches in der Bibliothek nachschlugen. Und Duncan war sich darüber im Klaren, dass wir verhindern würden, dass er dieses Ereignis verhindert. Deshalb griff er uns fortwährend an. Um sich selbst die Bahn freizuräumen. Ehe er mit seiner eigentlichen Aufgabe beginnen konnte. Kalerans Weisung war damit simpel. Wir mussten Duncan beschäftigt halten. Ihm war völlig gleich, wie wir das anstellten. Wir hätten weiter in Lumiél hocken bleiben und ihn dort wieder und wieder und wieder abwehren können – auf Kosten des Volkes und der Nation, die Thorin gerade erst so mühselig wiederaufgebaut hatte. Oder wir zogen aus. Ihn und seine Aufmerksamkeit mit uns. Solange er uns folgte und uns zu töten versuchte, würde er sich nicht seinem eigentlichen Ziel widmen. Thorin war Kalerans Ziel wiederum völlig einerlei. Er hatte das Nötige erfahren: Duncan würde nicht aufhören, uns zu jagen. Er würde nicht Frieden geben. Niemals. Thorin entließ den Chronisten aus seiner Thronhalle und bevor Kaleran verschwand… wandte er sich mir zu. Da lag etwas Vertrautes in seinem Blick. Ein… emotionaler Schimmer, will ich fast meinen. Er kam mir in diesem Moment so viel bekannter vor. Wie jemand, den ich vor langer Zeit getroffen hatte. Und ehe er in seinen Blitzen verschwand und sich die schwarze Wolkenfront über dem Palast auflöste, ließ er mich wissen, dass es Hans gut gehe. Und aus irgendeinem Grund bekam ich dabei eine Gänsehaut.   Es waren keine drei Wochen, ehe wir aufbrachen. Über viele Jahre hinweg hatten wir versucht, seinem Sohn zu helfen, das Land zu führen. Es durch diplomatische Fallstricke zu steuern, an militärischen Niederlagen vorbei. Wir hatten ihn gut gelehrt, befanden wir. Er war fähig, das Land zu führen. Ein guter, gerechter König. Ein König, wie Lumiél ihn verdient hatte. Ein König ohne die Lasten der Vergangenheit, die sein Handeln beeinflussen. Wir hatten uns alle Kräfte zu Dienste gemacht, um die Bibliotheken des Landes zu durchforsten. Aber Lumiél, der Erweckung der Drachen zum Trotz, war nicht das Zentrum der Welt. Wir hatten ein paar Hinweise hier und da, aber nicht viel. Denn für uns war unser Weg nun auch vorgezeichnet worden. Duncan würde nicht aufgeben – also mussten wir den Kampf zu ihm tragen. Ihn ausfindig machen und bezwingen. Alle von ihm. Doch obgleich die Splitterung seine Zeitmagie maßgeblich geschwächt hatte, war sie noch immer vorhanden. Und wir brauchten Mittel und Möglichkeiten, um uns dagegen zu verteidigen. Wir brauchten mehr Artefakte. Mehr Schriftrollen. Mehr Tränke. Mehr Rüstung. Mehr Waffen. Ein bisschen mehr von allem. Unsere eigenen Bibliotheken gaben nicht viel her. Und das Wenige erschöpfte sich binnen der ersten zwei Jahre unserer Reise. Die meiste Zeit davon brachten wir auf See zu, von einem Hafen zum nächsten fahrend. Wir bemühten uns, Arvum zu meiden, um Duncan nicht auf Ideen zu bringen. Doch letztlich mussten wir einsehen, dass es keinen besseren Weg gab. In diesen zwei Jahren waren wir neun Mal Duncan begegnet – und nur zwei Mal hatten wir einen Splitter zerstören können. Wir fanden uns in Südwacht ein. Einer Stadt, deren Wunder und Schönheit mir selbst heute noch zu beschreiben schwer fällt. Weltweit ist sie bekannt. Man nennt sie auch die Bibliotheksstadt. Und sie verdiente sich ihren Namen redlich. Nie zuvor und nur selten seither sah ich so viele Bücher. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit dort verbringen können. Auch wenn mehr Zeit vermutlich angesichts der Fülle der Werke niemals genug Zeit gewesen wäre. Selbst hier, in einer Stadt des Ordus Haereticus, einer Stadt der Hexenjäger und Kriegsmagier, fanden wir keine Verweise auf Möglichkeiten, sich gegen Zeitmagie zu schützen. Wie auch. Sie existierte in dieser Welt nicht, sollte nicht, durfte nicht. Aber unsere tagelange Suche förderte zumindest einen Hinweis zutage, den wir verwerten konnten. Wir mochten uns vielleicht nicht gegen Duncans Zeitmagie wehren können – aber was, wenn das auch überhaupt nicht notwendig wäre? Die alten Texte waren in der Sprache der Drakoiden geschrieben. Selbst Thorin mit dem Herz Lumiéls ausgestattet hatte seine Schwierigkeiten, das zu übersetzen. Diverse Schriftgelehrte verdienten gut an uns. Und das Ergebnis klang vielversprechend. Eine alte Tempelanlage wurde zu unserem neuen Ziel. Angeblich hatten die Drakoiden es nach harten, langjährigen Kämpfen einstmals geschafft, in einer Reliquie ihres Volkes einen böswilligen Geist einzusperren, der über gewaltige Mächte verfügte. Er hatte deren Reich nicht eigenständig angegriffen – dazu war er nicht fähig. Gebunden an Weisungen und Versprechen, waren andere Drakoiden seiner habhaft geworden und hatten ihn in ihrem damaligen Bürgerkrieg gegen ihresgleichen eingesetzt. Es klang nach einer Kreatur, die fähig war, Wünsche zu erfüllen. Die Tage und Wochen darauf reisten wir wieder, auf der Fährte dieses Tempels, und überlegten uns, wie wir einen solchen Wunsch formulieren sollten. Wir hatten genau einen Satz und solche Geister waren bekannt dafür, Wünsche bestmöglich zu verdrehen. Sollten wir Duncan wieder zu einem einzelnen Geschöpf zusammenfügen? Sollten wir ihm seine Zeitmagie nehmen? Sollten wir uns das Wissen verleihen, wie man ihn tötet und wo man ihn findet? Sollten wir ihn einfach aus der Geschichte tilgen oder alle Splitter sofort sterben lassen? Selbst als wir nach einer langen Kette aus Hinweisen, mal mehr und mal weniger kalten und obskuren Spuren und viel Wegstrecke die Anlage fanden, hatten wir noch immer keinen fertigen Wunsch. Denn das war gewissermaßen unsere eigentliche Hürde. Die Anlage aufspüren war eine Frage von Zeit und Geduld. Die Fallen im Inneren überwinden und sich mit den Wächtern des Tempels herumschlagen, das war eine Frage von Kampfgeschick und Intelligenz. Wir hatten alles, was wir brauchten, dabei. Aber diesen Wunsch zu formulieren, wasserdicht zu formulieren… das erforderte ein Ausmaß an Kalkül und Weitsicht, bei dem selbst Mutter ihre Schwierigkeiten bekam. Ich erinnere mich, dass sie einstmals – noch zu Rebellionszeiten - mit Lord Adamah darüber sprach, wie man einen Wunsch am besten formulieren würde, um sich selbst nicht in Teufels Küche zu bringen. Seine damalige Antwort war knapp gewesen: Gar nicht.   Der Hauptgang zur zentralen Kammer mochte sicherlich sieben oder acht Meter breit und um die fünf Meter hoch gewesen sein. Es war ein wenig einschüchternd, darin zu laufen. Wir waren zu viert und fühlten uns dennoch winzig und verloren. Oder… vielleicht war das nur ich. Thorin schaffte es zumindest erfolgreich, sich nichts anmerken zu lassen. Cyron wirkte nicht wirklich eingeschüchtert und Ninafer betrachtete die kunstvoll verzierten, wenn auch vom Zahn der Zeit übel zugerichteten Wandreliefs mit der Begeisterung und Bewunderung einer Schaulustigen, die nur des Spektakels hierhergekommen wäre. Ja, vielleicht war das nur ich. Dabei trugen die gewaltigen Golems nicht unbedingt zu meiner Beruhigung bei. Sie ragten an die dreieinhalb Meter auf. Moos überwucherte ihre stählernen Panzerplatten. Es stieg kein Rauch aus der Kanone auf, die ihren linken Arm ersetzte. Noch nicht. Wir hatten diese Dinger weiter vorne schon in Aktion erlebt. Wir wussten, dass es irgendwo einen Auslöser gab, der sie anschalten würde. Dass sie dann knackend, knarrend und rumpelnd aus ihren Alkoven treten, ihre Kanone laden und uns das Leben schwer machen würden. Den in der Eingangshalle hatten wir austricksen können. Frühere Abenteurer oder Plünderer mussten es gewesen sein, die sein linkes Bein angeschlagen hatten. Wir nutzten das aus, um ihn zu Fall zu bringen – und Thorin stieß eine der Säulen auf ihn. Das hätte ihn lediglich aufhalten und eine Weile beschäftigen sollen, aber der Tempel war alt und als ein Teil der Decke einbrach, da rührte sich der Golem gar nicht mehr. Anderen waren wir entkommen, weil manche Räume und Gänge einfach zu klein für sie waren. Sie hatten uns hinterher schießen können, aber irgendwann waren wir außer Sichtweite und sie kehrten einfach in ihre Startstellungen zurück. „Schmetterlinge frieren nur im Winter nicht“, meinte Mutter. Es war… anstrengend. Sie bemühte sich, nichts zu sagen, seit dieses andere, kleinere Konstrukt sie direkt in der ersten Wachkammer mit irgendeinem Zauber getroffen hatte. Es war bemerkenswert leicht zu Boden gegangen, als Thorin es erst einmal nahe herangeschafft hatte. Aber seither redete Ninafer nur noch Unsinn. Sie wusste, was sie sagen wollte. Und manchmal – weil wir sie gut kannten – verstanden wir sogar, was sie zu vermitteln versuchte. Aber die Worte selbst ergaben einfach keinen Sinn mehr. Sie packte Thorin am Unterarm und zog. Er hielt inne und sah zu ihr, aber es folgte nur ein weiterer Strom aus Worten. Schmetterlinge, die im Winter nicht frieren. Nun, mir war nicht klar, ob Schmetterlinge überhaupt froren. Aber im Winter waren sie üblicherweise auch gar nicht da. Wer nicht da ist, kann nicht frieren. Vielleicht gab es doch Sinn? Vielleicht wollte sie uns sagen, dass wir nicht hier sein sollten? Hatte sie etwas bemerkt, dass wir nicht sahen? Cyron hatte ein feines Gespür für Gefahren und nicht angeschlagen. Es war also nichts, was auf Geruch basierte… Thorin entschied, ihre Worte zunächst zu ignorieren. Er legte eine Hand auf ihre und nickte, ehe er sich abwandte und weiter ging. Sie seufzte tief, sagte jedoch nichts weiter. Irgendwann würde der Zauber vielleicht enden. Oder wir würden das hier hinter uns bringen und einen Magier finden können, der dem ein Ende setzte. So oder so gab es jetzt unmittelbar erstmal nichts, was wir hätten tun können. Vielleicht hatte sie uns aber auch vor der Falle warnen wollen, deren Auslöser so gänzlich an uns vorbei ging. Er war nicht mechanischer Natur, sondern magischer. Vielleicht hatte sie ihn irgendwie wahrgenommen. Oder einfach ein mieses Bauchgefühl gehabt. Dass es überhaupt eine Falle gab, wurde uns auch erst klar, als die Golems in den Alkoven aktiviert wurden. „In die Kammer!“, rief Thorin. Befehlsgewohnt, routiniert. Eilig, aber nicht hektisch. Die gleiche Routine, die ihm erlaubte, zu kommandieren, erlaubte mir, zu folgen. Mich in Bewegung zu setzen, noch bevor sein Befehl eigentlich überhaupt in meinem Kopf angekommen und verarbeitet worden war. Bevor ich entschieden hatte, ihn zu befolgen. Diese dadurch gewonnenen, kostbaren Sekunden können mitunter über Leben und Tod entscheiden. Wir eilten vorwärts, mögliche Gefahren durch weitere Fallen keineswegs ignorierend, sondern dadurch auslotend, dass Thorin stets einen Schritt vor uns rannte. Nicht, was ich begrüßt hätte… aber darüber mit ihm zu diskutieren war müßig. Immer schon gewesen. Vor allem in solch einer Situation. „Lileth, Ausgang!“, lautete die nächste Anweisung, als wir das große Tor zur Zentralkammer erreichten. Ninafer stürmte hinein und schoss zunächst um die Ecke, um sich an der Wand zu verstecken. Thorin trat etwas tiefer in den Raum und verbarg sich erstmal hinter einer Säule, während ich mich rasch mit Cyron verständigte und wir uns aufteilten, um herauszufinden, ob es weitere Zu- oder Ausgänge gab. Fluchtwege. Oder ob wir hier in der Falle saßen. Dann kam das nächste Knacken und Knarren. Diesmal aber nicht von weiteren, sich aktivierenden Golems draußen auf dem breiten Flur. Nein. Der türlose Zugang zur Kammer war nicht so türlos, wie wir vermutet hatten. Angesichts der bisherigen Dichte an Fallen und Wächtern war das wohl nicht allzu überraschend – aber dennoch erschöpfend. Es zu hören. Zu sehen. Ein weiterer Punkt, um den wir uns würden kümmern müssen. Ein massives Steintor sank von oben langsam herab und drohte, uns in der Kammer einzuschließen. Mit begrenzter Luft, keinem Wasser und, wie ich im Begriff war, herauszufinden, keinem weiteren Ausgang. Ein etwas spöttisch-amüsiertes Stimmchen in meinem Hinterkopf ließ mich in jenem Moment der Erkenntnis zumindest wissen, dass wir damit immerhin die Golems los wären. Wie tröstlich… „Bär!“, fluchte Ninafer. Das ließ mich doch herumschauen. Thorin hatte sich in den Eingang gestellt und versuchte, mit bloßer Muskelkraft die Steinplatte davon abzuhalten, weiter herabzusinken. Es schien ihm nicht zu gelingen, obwohl es zumindest wirkte, als würde er das Sinken verlangsamen. „Ishara, Ausgang!“, brüllte er und ich fuhr unweigerlich zusammen. Mir war klar, dass meine Aufgabe wichtig war. Und was daraus resultierte. Wenn es einen gab, konnten wir die Platte sinken lassen – alles war gut, irgendwo ging es weiter. Aber falls nicht… mussten wir hier raus, so schnell wir konnten. Und damit den Golems entgegen. Obendrein, bevorzugt, mit der Sache, deretwegen wir hier waren. „Keiner!“, rief ich daher hastig zurück. Cyron hatte keinen gefunden, ich nahm auch nichts wahr. Vielleicht gab es hier irgendwo eine Illusion, aber dazu hätte ich die Wände abtasten müssen. Soviel Zeit blieb uns einfach nicht. „Such das Ding, wir müssen hier raus!“, folgte unweigerlich. Mein Blick streifte damit erstmals weniger fokussiert durch die Kammer. Sie war rund, besaß einen äußeren Gang, der mittels eines Säulenkreises vom Inneren abgegrenzt war. Reliefs, die Geschichten erzählten und noch bemerkenswert gut erhalten waren, säumten die äußeren Wände – und wie mir nach einem Moment bewusst wurde, sogar die Säulen, den Boden und die Decke. Im Inneren fanden sich flache, breite Stufen, die zu einem zentralen Podest heraufführten. Auf dem befand sich… Eine Lampe? Wir hatten diese Dinger in Südwacht schon gesehen. Kleine, vergoldete Öllampen. Ich eilte nach oben und war im Begriff, danach zu greifen, als Ninafer aufrief. „Mäuschen!“ Ich hielt abrupt inne – gerade rechtzeitig, damit der massive Eisenball vor meinem Kopf vorbei schoss, statt damit zu kollidieren. Mein Blick folgte etwas schockiert der Flugbahn bis zu ihrem Ursprung. Die Golems, Seite an Seite, traten immer weiter vor. Sonderlich eilig schienen sie es aber auch nicht zu haben. Thorin dagegen kniete inzwischen fast und hatte redlich Mühe, sich der Wand noch entgegen zu stellen. Ich versuchte einen Moment abzuwägen, ob wir es noch rechtzeitig würden heraus schaffen können. Und dann wurde Thorin getroffen. Ein Speer durchschlug seinen Oberschenkel. Die Kette rasselte, die daran hing. Er schrie auf vor Schmerz und mir gefror das Blut. Nicht nur des Schreies wegen. Oder des Anblicks wegen, wie er verletzt wurde. Es war der Horror über die Vorstellung dessen, was folgen könnte. Ein Speer mit Kette. Was, wenn sie ihn hinausziehen würden? Was, wenn er von uns getrennt werden würde? Was, wenn ich mit Ninafer hier allein zurückbliebe? Ich sah bereits den Zug, wie sich die Kette spannte, wie sie sich bereit machten, ihn von uns zu trennen. Weglaufen war jetzt eh keine Option mehr. Die Steinwand war zu weit herabgesunken. Und mit Thorins nunmehr durchschlagenem Bein… er erkannte das ebenso. Fluchend wie ein Seemann packte er die Kette, riss ein Stück daran und rollte sich unter dem Steintor hervor, zu uns ins Innere. Die Kette hatte genug nachgegeben, den Widerhaken nicht in sein Fleisch zu rammen, als der Stein mit einem Krachen auf den Boden schlug und die Kette damit durchtrennte. Völlig unbewusst war ich zu ihm herüber geeilt. Ninafer hatte ihn bereits mit dem Rücken an eine Säule gelehnt und ihn herab gedrückt, bis er saß. Sie hatte angefangen, die Wunde freizulegen und ich sah mir unumwunden an, wie schlimm es wirklich war. Die Antwort auf meine Frage gefiel mir noch weniger. „Wir müssen die Blutung stoppen“, merkte ich an. Doch dazu musste dieser verdammte Speer raus. An einer Seite Widerhaken, an der anderen Seite die Kette. Meine Gedanken rasten. Wie bekamen wir das Ding fort, ohne die Wunde noch zu verschlimmern?! Ninafer dagegen kramte hastig in ihrer Tasche herum und förderte einen Tiegel hervor. Ich bekam erst mit, das sie überhaupt etwas tat, als sie die dicke, gräuliche Paste auf einen Teil des Eisenspeers auftrug. „Was-?“, setzte ich an, brach jedoch ab. Ich erkannte schließlich, was sie tat. Immerhin hatte ich ihr geholfen, dieses Mittel anzurühren. Gedacht war es eigentlich gewesen, um im Fall einer Gefangennahme mit Gitterstäben oder Eisentüren zurechtzukommen. Das Metall wurde nach einer kurzen Einwirkzeit weich und formbar. Jetzt hingegen rettete es Thorin potenziell das Leben. Es wurde zwar nicht weich genug, damit man es einfach brechen oder auseinanderziehen konnte, aber ein guter Schlag war genug. Also packten Ninafer und Thorin die zwei Teile des Speers so fest sie konnten. Je weniger Vibration sich auf die Wunde übertrug, umso besser. Und ich holte mit dem Schwert aus. Wenn ich bedenke, wieviel Panik ich zu Beginn meiner Reise hatte, ein Schwert zu führen. Oder auch nur anzufassen. Jetzt hingegen? Ich zog es ohne Zögern, ich setzte an in dem Wissen, das nur ein paar Zentimeter mich davon trennten, Thorin zu töten, Ninafer zu töten oder zumindest, sie sehr schwer zu verletzen. Und mit ruhiger Hand zog ich die Klinge durch, gezielt, geübt, erfahren. Der Speer brach an der präparierten Stelle und wir konnten das Metall entfernen. Die Wunde im Anschluss mit Heilmagie zu stopfen war… unangenehm. Ich nahm so viel ich vor Thorin rechtfertigen konnte von mir selbst, griff jedoch auch auf Ninafer, Cyron und Thorin selbst zurück. Wenn sich an seinem Körper andere Wunden öffneten, war das nicht so schlimm wie die Große, die geschlossen werden musste. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, hätte ich einfach ein paar Pflanzen nehmen können. Gras. Moose. Flechten. Aber hier unten lebte absolut nichts. Es war eine gähnende, klaffende Leere für meinen Lebenssinn. Glücklicherweise begegnete ich diesem Phänomen nicht zum ersten Mal, sonst hätte mich das vermutlich weit mehr aus der Bahn werfen können… Als wir die Beinwunde halbwegs versiegelt hatten, wies Ninafer ihn in strikten Worten an, Ruhe zu wahren. „Ein Stier donnert durch die Gassen, bis man ihm ein Ende setzt!“, erklärte sie scharfen Tones. Er nickte artig und blieb sitzen. Ihr mahnender Blick ging zu mir und auch, wenn es mir schwer fiel… sie meinte es ja gut. Also setzte ich mich ebenfalls hin und ließ sie ihre Arbeit machen. Salben und Tinkturen, ein paar Tränke, Verbände, sie versorgte die zahlreichen kleinen Wunden, die ich geschlagen hatte. Desinfektion war wichtig, gerade hier unten. „Ich seh mir das Podest an“, erklärte ich, kaum, dass Ninafer mit mir fertig war. Wir würden nicht ewig hier bleiben können – die Luft war der begrenzende Faktor. Und falls das Tor sich öffnete, standen potenziell zwei Golems davor. Wir brauchten Alternativen. Glücklicherweise sahen beide das ein und nickten. Also hievte ich mich mit Cyrons Hilfe wieder auf die Beine. Und ich war dankbar für seine Unterstützung. Ich fühlte mich in diesem Moment elend, erschöpft. Sitzen zu bleiben, besser noch – mich hinzulegen -, das hatte solche Verlockung besessen. Einfach einen Moment ruhen. Oder zwei. Stattdessen stakste ich etwas ungelenk zum Podest herauf. Es schien keine Druckplatte unter der Lampe zu geben und sie war neben den Reliefs, die zu studieren wir nun wirklich keine Zeit hatten, das einzig Bemerkenswerte im Raum. Ich erwog, sie mit einem Tuch zu nehmen. Sie vorher vom Staub frei zu putzen. Sie einfach da stehen zu lassen. Ich ließ mir all meine Optionen durch den Kopf gehen und… nahm sie am Ende einfach von dort weg. Schon als ich die Lampe anrührte, begann ein dicker, blauer Nebel aus der Lampe zu quellen. Ich hielt sie am ausgestreckten Arm so weit wie möglich von mir fort und warnte Thorin und Ninafer. „Wir bekommen vermutlich gleich Gesellschaft.“ „Hoffentlich atmet der nicht auch noch“, maulte Vater, während er sich mit Hilfe der Säule und Ninafers aufrichtete. Er packte seine Axt, nickte ihr zu und beide verschwanden vorläufig hinter Säulen in Deckung. Nur für den Fall der Fälle. Nach wenigen Sekunden manifestierte sich aus dem dicken, blauen Nebel eine Gestalt. Der Unterkörper blieb auch Nebel, aber ein muskulöser, von einer tiefblauen Weste bekleideter Oberkörper formte sich. Hellblaue Haut, eisblaue Augen, die Haare fast schon schwarz. „Ahhh, endlich! Das wurde aber auch mal Zeit, dass sich jemand bequemt, mich rauszuholen“, begann die Gestalt. Er sah sich aufmerksam im Raum um und verneigte sich dann vor mir. Vielleicht, weil er nur mich sah – obwohl ich selbst aus dem Augenwinkel heraus Thorins Schultern hinter der Säule hervorlugen sehen konnte. „Nenn mich Jeva, Teuerste.“ Etwas überfordert von der Situation, erinnerte ich mich der Lehre, die ich unter Leander, Myron und Ninafer vollzogen hatte und knickste leicht. „Ishara.“ Es folgte ein Moment des Schweigens. Der sich zog. Und zog. Und weiter zog. Bis Jeva die Geduld zu verlieren schien. „Nun? Ich warte.“ Verdutzt sah ich mich um, starrte ihn an. „Worauf?“ Das wir ihn hier heraus brachten? Dass ich fragte, was er sei? Dass ich ihm irgendwie auf eine Weise Respekt zollte, wie die alten Drakoiden es getan hatten, die ihn beschworen? „Dass du dir etwas wünschst, selbstverständlich“, merkte er in einer Mischung aus leichter Frustration und überwiegendem Amüsement an. Als wäre es das Offensichtlichste der Welt. Nun… für ihn war es das vielleicht auch. „Einfach so?“, stutzte ich. „Einfach so. Wenn du willst“, gab er mit einem derartig spitzbübischen, hintergründigen Lächeln zurück, das sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf erklangen und selbst Cyron mich eindringlich warnte, mit meinen Worten vorsichtig zu sein. „Bist du… ein Djinni?“ Ich weiß nicht, warum mir diese Frage in jenem Moment wichtig erschien. Vielleicht, weil ich in meinen Büchern – den Teuren, Exotischen -, von den Djinn gelesen hatte. Aber sie waren nie als… nun, blau beschrieben worden. Wenn er also diese Wünsche erfüllende Kreatur sein sollte – was war er dann? Und funktionierten Wünsche überhaupt wie in den Büchern, oder- Gute nächste Frage. „Also bitte!“, empörte sich Jeva, obwohl ich das Gefühl bekam, dass es ihm damit nicht wirklich ernst war, „Ich bin ein Marid! Kein Shaitan, kein Janni und schon gar kein niederer Djinni.“ Marid? Shaitan? Janni? Gab es so viele Geister, die Wünsche erfüllten? Worin unterschieden die sich wohl alle? Eine Frage der Hautfarbe? So neugierig ich auch war, da weiter zu fragen… gab es Dringlicheres. Und Thorin hätte mich wirklich nicht mit seinem bohrenden Blick darauf aufmerksam machen müssen, den ich im Kreuz spürte. „Wie funktioniert das mit den Wünschen?“, hakte ich also nach. Das Lächeln Jevas wurde unangenehm räuberisch, während er mich durchdringend musterte. Als würde er den Wert seiner nächsten Mahlzeit abschätzen. Und je nachdem, welche Geschichten nun wohl zutrafen, mochte das vielleicht sogar tatsächlich den Tatsachen entsprochen haben. „Du bist ein kluges Mädchen, Ishara. Also gut, kommen wir zum geschäftlichen Teil. Ein Wesen kann von einem Marid nur einmal in seinem Leben Wünsche gewährt bekommen. Findest du einen zweiten Marid, kann der dir keine Wünsche erfüllen. Ein Shaitan oder andere Genie können das. Überleg‘ dir also gut, was du willst. Überhaupt: das ist ein gutes Motto für unsere Zusammenarbeit, Ishara. Denk vorher gut nach. Ich erfülle dir genau eine Intention. Wir nennen das gerne Wünsche, aber es sind Intentionen. Du willst deinen größten Feind tot sehen? Dann wünsch es dir. Falls es nicht klappt, wirst du dir nie wieder wünschen können, dass er stirbt – zumindest nicht von einem Marid. Egal, wie oft du es umformulierst. Soweit verstanden?“ Verstanden schon. Aber es warf so viele Fragen auf. Wusste ein anderer… Marid denn automatisch, das er mir keine Wünsche mehr erfüllen durfte? Oder spürte er das einfach? Was waren Shaitan überhaupt? Oder Janni? Oder Marid? Genies, offenbar – aber worin unterschieden sie sich, wenn diese Differenzen groß genug waren, dass andere Genies einem weiterhin Wünsche erfüllen durften? Wenn ich meinen Feind töten wollte und der Wunsch scheiterte – durfte ich mir dann legitim wünschen, ihn zu verstümmeln? Nicht, dass ich das vorhätte, aber es war eine andere Intention, oder nicht? Dennoch nickte ich zunächst nur etwas benommen. „Fein“, fuhr Jeva unumwunden fort, „Ich gewähre dir sieben Wünsche. Sieben. Nicht sechs, nicht acht, sieben. Du kannst dir mehr Wünsche wünschen, aber das funktioniert nicht. Was funktioniert? Du kannst dir mehr Genie-Behausungen herbei wünschen und dich dann mit denen herumplagen, wie dir der Sinn danach steht. Aufgrund des Wunsches eines ach so edlen, noblen früheren Besitzers bin ich angehalten, vor jedem Wunsch eine Warnung darüber auszusprechen, was mit deinem Wunsch passieren könnte. Genauer gesagt, was ich mit deinem Wunsch wahrscheinlich machen werde. Ich will, kann und werde jeden deiner Wünsche verdrehen. Hauptsächlich, weil es mir Spaß macht. Es gibt immer mal wieder kluge Magier, die elend lange Schriftrollen mit ihren angeblich perfekt ausformulierten Wünschen präsentieren und es ist ein Vergnügen sondergleichen, ihren angeblich unbeugsamen Intellekt zurechtzuweisen, indem man ihnen ihre Fehler vor Augen führt. Einfach ein Genuss. Soweit mitgekommen?“ Erneut nickte ich. Eigentlich nur in der Hoffnung, er würde endlich zu reden aufhören. Dabei war dieser Teil wichtig, und das war mir auch klar. Die Regeln waren komplizierter, als ich erwartet hatte. In den Büchern stand stets nur, dass ein Djinni drei Wünsche gewährte und das war’s. Oh – und je nach Buch sollte man ihm die Freiheit gewähren oder genau das eben gerade nicht tun. Denn entweder waren sie gefangene Geschöpfe, die dann endlich heimkehren konnten, oder böswillige Monster, die dann ihre Kräfte frei gebrauchen konnten. Ich wusste nicht recht, womit ich es bei Jeva zu tun hatte. Er widersprach bisher bestmöglich sämtlichen Informationen, die ich über Genies hatte. „Gut, dann der letzte Punkt. Ich habe drei Vetos. Du hast sieben Wünsche und ich habe drei Vetos. Wenn ich einen deiner Wünsche partout nicht erfüllen will, aus welchen Gründen auch immer, dann kann ich mich dem verweigern. Drei Mal. Jedes Mal, wenn ich ein Veto ausspreche, bekommst du einen weiteren Wunsch. Im Grunde sorgt das nur dafür, dass ich bestimmte Intentionen ausschalten kann, weil du sie dir ja nur einmal wünschen darfst. Ich denke, damit hätten wir das Gröbste. Noch Fragen?“ Jeva wirkte… vergnügt. Amüsiert. Ihn belustigte all das hier. Ich belustigte ihn. Meine Überforderung, die er mir vermutlich bestens am Gesicht ablesen konnte. Und sicherlich auch der Umstand, überhaupt wieder Gesellschaft zu haben, die er irreführen konnte. Ich sah mich um. Sah Thorin dort stehen, die Axt in der Hand, der Blick warnend, alarmiert. Ninafer mit dem Blasrohr hinter einer anderen Säule, der Blick lauernd. Das geschlossene Steintor. Der türlose Rundgang. Und dann die blaue Nebelwolke, aus der Jeva aufstieg. „Kannst du uns hier herausbringen?“ „Mädchen, also bitte! Natürlich kann ich das. Aber da müssen wir etwas arbeiten. Ich dachte, die Folklore hätte da gründlicher gegriffen. Ein Wunsch beginnt mit: Ich wünsche mir…!“, schulmeisterte er mit sichtlichem Vergnügen über die neue Rolle. Ich schüttelte den Kopf. Darum ging es nicht. „Nein, kein Wunsch. Kannst du oder kannst du nicht?“ Das schien ihn kurz stutzen zu lassen. Vielleicht hatte er den Verlauf anders erwartet? „Warum sollte ich, wenn es kein Wunsch ist?“ Er schien aufrichtig verwirrt darüber. Oder schauspielerte es gut. Cyron drängte sich noch etwas dichter an mich. Ihm war die fremde Gestalt nicht geheuer. „Wir sind hier eingeschlossen. Und werden hier in den nächsten Stunden ersticken, falls du uns nicht hilfst. Es könnte Jahrhunderte dauern, bis die nächsten hierher kommen. Vielleicht Jahrtausende. Vielleicht kommt nie jemand, weil der Tempel des Alters wegen zusammenbricht und du verschüttet wirst.“ Jeva verzog das Gesicht. Sehr. Die Aussicht, uns beim Sterben zuzusehen… ich weiß nicht, ob die ihm überhaupt irgendetwas bedeutete. Die Aussicht jedoch, hier festzusitzen, weiterhin, die schien ihm wiederum reichlich Unbehagen zu bereiten. Nach einigem Hin und Her, Stirnrunzeln und überlegenden „Hmmmm“‘s, „Hrm“‘s und „Mmmmm…“‘s seufzte er schließlich gedehnt, überdramatisierend. „Fein. Die Statuten. Jede enthält eine Darstellung der Weltenschlange. Drück das Auge rein und da drüben öffnet sich eine Tür.“ Erleichtert atmete ich auf. Es gab also einen Geheimgang. Vielleicht wären wir auch rechtzeitig darauf aufmerksam geworden, nur… kein Risiko war immer besser. „Vielen Dank, Jeva!“ „Hey! Was ist mit den Wünschen?“, verlangte er zu wissen, als ich mich bereits zum Gehen abwandte. „Oh, uhm… später, vielleicht? Wir müssen erstmal hier heraus kommen und Duncan entkommen, der war ziemlich dicht auf unseren Fersen.“ Er wollte noch wissen, von wem ich sprach, doch Thorin nahm mir die Lampe ab und hängte sie sich an den Gürtel. Mit Verlust des Kontaktes wurde der blaue Dunst rasant in die Lampe zurückgezogen und Jevas Gespräch damit unweigerlich abgebrochen. Das war… unhöflich. Dann wiederum war Thorin Thorin und niemand konnte ihm das mit ernster Miene vorwerfen. Er war einfach so. „Worüber habt ihr geredet?“, erkundigte er sich prompt und meine Verwirrung schnellte abermals empor. „Hast du denn nicht die ganze Zeit zugehört?“, stutzte ich. „Schon. Aber ihr habt in irgendeiner seltsamen Sprache geredet“, gab er noch immer besorgten Blickes zurück. An jener Stelle wurde auch mir etwas flau im Magen. Es gab viele mögliche Erklärungen dafür, warum das geschehen sein könnte und auch, wenn ein paar Harmlose sicherlich mit dabei waren – die Mehrheit der Möglichkeiten war doch eher beunruhigender Natur. „Wir… wir müssen die Augen der Schlangen reindrücken“, begann ich unsicher, zögerlich. Ich demonstrierte an Thorins Säule, wovon ich sprach und sie folgten bereitwillig meinem Beispiel. Währenddessen jedoch gab ich bestmöglich wieder, was ich im Gespräch mit Jeva erfahren hatte. Auch wenn mir nach wie vor ein Rätsel war, warum sie kein Wort verstanden hatten. Wie Jeva gesagt hatte, öffnete sich ein Gang. Er führte in eine tiefere Ebene des Tempels, von wo aus wir unseren weiteren Weg bestreiten konnten, bis es uns gelang, an die Oberfläche zurückzukehren. Eine alte, steinerne Wendeltreppe führte aus den tiefsten Tiefen herauf in einen langen Korridor, zwei Meter breit, drei Meter hoch, leer, muffige Luft, verstaubt. Ein dezent gesetzter Fackelhalter bediente die Geheimtür, die hinausführte. Als sich der Stein seitlich davon schob, um den Ausgang für uns zu öffnen, blinzelten wir allesamt. Echtes Tageslicht war nach so vielen Stunden – Tagen? – in der Dunkelheit, begleitet bestenfalls von Fackeln und Sturmlaternen, ungewohnt. Grell, regelrecht. „Wir sollten nicht zu viel Zeit vertrödeln“, fuhr Thorin fort, „Rasten können wir heute Abend, wenn wir ein Stück Weg zwischen uns und die Anlage gebracht haben, sonst-“ Wir hatten uns nur wenige Schritte hinaus bewegt, als Ninafers Aufschrei uns alarmierte. Zeitgleich rief irgendwo weiter vorne jemand „Jetzt!“ und ein Hagel aus Bolzen und Pfeilen ging über uns nieder. Jemand hatte Ninafer am Arm gepackt und fortgezerrt. Sie kämpfte dagegen an. Cyron packte mich vorsichtig, stieß, zog, schob mich in Deckung. „Nein, warte, Thorin!“, rief ich hastig aus, doch der war – glücklicherweise – selbst bereits in Deckung gesprungen. Ich spähte über den Findling hinweg, der mir Schutz bot und versuchte, mir die Situation zu vergegenwärtigen. Ein Hüne von einem Mann, glatzköpfig, muskulös und dunkelhäutig, schleppte Ninafer gegen ihre initial fruchtlose Wehr davon. Er erinnerte mich stark an Jarduk – der ein ähnlich unangenehmes Schicksal erlitten hatte wie dieser Kerl es würde. Als Ninafer sich erst einmal ihrer Situation bewusst wurde, endete der abrupte Widerstand. Stattdessen setzte sie sogar ein paar Schritte vor – zog eine Nadel und stieß sie dem Muskelberg in den Hals. Binnen Sekundenbruchteilen ließ er sie los, brach auf die Knie und kippte vornüber, ein zitterndes, krampfendes Bündel schwindenden Lebens. Ninafer hechtete ihrerseits ebenfalls in Deckung, als der nächste Geschosshagel sich gleichmäßig zwischen uns aufteilte. Sie befand sich einige Meter von uns entfernt und mit so vielen Schützen in so guter Deckung hätten es auch Meilen sein können. Thorin wiederum war keine vier Meter entfernt hinter einem anderen Findling – die ich jetzt erst als die verwitterten, umgekippten Überraste von Statuen erkannte, die hier vermutlich einstmals den Ausgang oder Hintereingang oder etwas in der Richtung markiert hatten. Obendrein sah ich die Lampe, von einem der Pfeile von Thorins Gürtel geschossen, zwischen uns auf dem Boden liegen. Und weiter hinten beiden nunmehr langsam vorrückenden Schützen war Duncan. „Konzentriert euer Feuer“, wies er seine Söldner an. Ich konnte nicht sehen, auf wen er deutete. Wir brauchten einen Plan, und zwar schnell. Ich spähte zu Thorin, der sich gerade bereit machte, anzugreifen. Ich verstand erst nach einem weiteren Spähversuch, warum. Mehrere der Söldner begannen, Ninafer einzukreisen. Ihre Position zu flankieren. Wenn er ihr nicht zu Hilfe käme, würde sie nicht mehr lange überleben. Ich konzentrierte mich. Auf die Tiere um uns herum. Auf die Pflanzen überall. Auf die unglaubliche, gewaltige Vielfalt an Leben, das es hier gab. Und dann, einfach so, brach meine Konzentration. Weil es neben mir winselte. Ich hatte es nicht bemerkt. Aber jetzt? Jetzt, da ich mich auf all das Leben um mich herum konzentrierte? Da konnte ich es nicht mehr übersehen. Und so sehr er sich auch bemüht hatte, sich zurückzuhalten, sich zu beherrschen, mich nicht aus der Fassung zu bringen… hatte auch seine Selbstdisziplin und Willensstärke Grenzen. Cyron starb. Ich begriff es nicht. Nicht sofort. Vielleicht, weil alles in mir sich gegen diese Erkenntnis aufstemmte, mit aller Kraft. Ich tastete ihn ab, suchte nach seinen Strömen im Gewebe. Was ich fand, war eine kitzgraue Stelle in seinem Fell, die es vorher nicht gegeben hatte. Meine Gedanken fühlten sich zäh an, schlierig, träge, und doch waren es nur Sekundenbruchteile, die ich benötigte, um zu verstehen. Man hatte uns hier einen Hinterhalt gelegt. Sie hatten gewusst, dass wir kommen würden. Sie hatten auf uns gewartet. Duncan hatte Zeitmagie. Cyrons Fell war ergraut. Dem Winkel folgend lag irgendwo darunter, unter Fell, Haut und Knochen, sein Herz. Das nun, binnen eines Wimpernschlages um Jahre gealtert, seinen Dienst einstellte. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, wie oder wann Duncan irgendetwas getan hatte. Ob er außer seinen Kommandos irgendetwas zum Kampf beigetragen hatte. Jetzt… wusste ich es. Jeder, der jemals irgendwen, der ihm nahe stand, verloren hat – unmittelbar, direkt vor den eigenen Augen – wird verstehen. Wird wissen, was das bedeutet. Cyron war mein Freund. Mein erster Freund. Mein bester Freund. Und viele, harte Jahre lang mein einziger Freund. Er hatte mich durch dick und dünn begleitet. Wir hatten gemeinsam gejagt. Unser Essen geteilt. In bitterkalten Nächten Wärme geteilt. Unser Band war natürlich gewachsen und zugleich von meiner Naturmagie gefördert worden. Er war verständiger geworden, klüger. Irgendwie hatte dieses Band dafür gesorgt, dass er länger lebte. Weit länger als je ein Hund gelebt hatte oder hätte leben dürfen. Ich hatte das nie hinterfragt. Und war stets einfach glücklich darüber gewesen, nicht von ihm Abschied nehmen zu müssen. Bis zu diesem Moment. Es gibt keine Worte für das, was ich empfand. Ich realisierte, am Rande meiner Wahrnehmung, wie Thorin den seiner Meinung nach richtigen Moment abwartete, um loszustürmen. Wie er mit der Axt eine gehörige Furche in die Reihen der Feinde schlug und Ninafer ermöglichte, sich in eine neue Position zurückzuziehen, mit besserer Deckung. Ich sah, wie er einen Pfeil in die Schulter bekam. Wie jemand gegen die Wunde an seinem Bein trat. Ich sah den fein gekleideten Herrn aus der Böschung hervortreten, lange nachdem alle Schützen sich vorgewagt hatten. Ich sah ihn in aller Ruhe die Schriftrolle entfalten und den Zauber sprechen. Ich sah Ninafer mit ihrem Blasrohr ein halbes Dutzend Männer zu Boden schicken. Ich sah sie – vor meinem geistigen Auge – sterben. Was immer sie tun würden, es wäre nicht genug. Duncan war dort draußen. Und er hatte sich einen Magier zur Unterstützung angeheuert. Neben einer kleinen Armee fähiger Schützen und ein paar Nahkämpfern. Eine kleine Armee gegen uns vier. Drei. Mit fahrigen, zittrigen Händen strich ich selbst in den Sekunden noch durch sein Fell, als bereits kein Leben mehr von Cyron ausging. Ich brauchte all meine Willenskraft, um mich aus dieser Starre zu reißen. Mein Vater kämpfte noch verbittert gegen das plötzlich unausweichlich Scheinende. Er kämpfte für mein Überleben und das meiner Mutter. Selbst Mutter kämpfte. Nur ich nicht. Ich saß herum. War nutzlos. Ballast. Es war dieser Gedanke, den zu fokussieren mir erlaubte, mich loszureißen. Ich konnte, durfte mir nicht erlauben, im Chaos zu ertrinken. Nicht jetzt. Also rollte ich mich rasch aus meiner Deckung, packte die Lampe und verschwand hinter dem zweiten Findling. Der Zauber des Magiers ging los. Ein Riss öffnete sich. Ein gewaltiger Schlund, der zog und sog und zerrte. Thorin schlug seine Axt in den blanken Stein und hielt sich daran fest. Es zog ihn herauf. Mit den Füßen als höchstem Punkt versuchte er, sich nicht davon verschlingen zu lassen. Pfeile und Bolzen, auf ihn abgefeuert, erreichten trotz guter Schusslinie ihr Ziel nicht, sondern wurden in das Portal gesaugt. Selbst als Duncan befahl, nicht auf ihn zu feuern, sondern auf die Axt, wurden die Projektile abgelenkt. Thorin würde sich da nicht ewig halten können. Ninafers neue Position wurde abermals eingekreist. Cyron war tot. Und vor mir manifestierte sich Jeva. „Ich wünsche mir, dass du alle Splitter Duncans tötest!“ Heiße Tränen, eine bittere, zitternde Stimme und der unstillbare Wunsch nach Vergeltung. Es war das Erste, was mir in den Sinn und über die Lippen kam. Jeva aber verschränkte die Arme. „Nein. Veto. Aber lustig, dass du genau diese Formulierung wählst. Kaleran meinte, dass jemand kommen und mir grenzenlose, endlose Unterhaltung bescheren würde. Jemand, dessen erster Wunsch genau das wäre. Also worin läge für mich der Spaß, wenn ich deine Reise einfach hier schon beende, hm?“ Ich versuchte, meinen Zorn herunterzuschlucken. Die Raserei, für die er sich plötzlich als so viel geeigneteres Ziel anbot. Versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren – so unmöglich dieses Unterfangen angesichts der Umstände auch zu sein schien. Ich konnte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, das war mir klar. Ich musste eine Entscheidung treffen. Eine, von der ich nicht erwartet hatte, je vor ihr zu stehen. Würde ich Ninafer retten und zulassen, dass Thorin durch dieses Portal verschwand? Oder sollte ich Thorin zur Seite stehen und zulassen, dass-… „Ich wünsche mir…“, begann ich zittriger Stimme. Was? Was wünschte ich mir? Ich wünschte mir, der Alptraum würde endlich ein Ende nehmen! Ich wünschte mir, wir könnten einfach nur in Ruhe unser Leben leben! Ich wünschte mir, die Welt würde sich einen neuen Spielball suchen! Ich wünschte mir, die Götter würden- Aber das war ja, weshalb ich mir Sorgen um Hans machte, nicht wahr? „Ich wünsche mir, ich könnte an mehreren Orten zugleich sein!“, platzte ich schließlich heraus. Es war nicht nachgedacht, nicht gut überlegt, nicht einmal ansatzweise gut formuliert. Jeva würde so viel Grässliches damit anstellen können, aber was hätte ich noch tun sollen? Duncan war dort draußen und er hatte bereits einen von uns getötet. Meine Gedanken kreisten immer wieder um diesen einen Punkt. Er war da und hatte bereits einen von uns erwischt. Jeva hingegen lachte beherzt auf. „Oh köstlich, wundervoll, einfach prächtig, meine Liebe! Ich sehe, was er meinte. Oh, wir werden so. Viel. Spaß miteinander haben! Ich warne dich gemäß der Verpflichtungen vor: Du wirst fähig werden, jederzeit und an jedem Ort beliebig viele Kopien von dir zu erstellen – bis zu einem Maximum von zwölf. Du musst es nur wollen. Die Kopien werden all deine Erinnerungen bis zum Zeitpunkt der Erstellung der Kopie tragen und deine vollständige Persönlichkeit innehaben. Wirkt harmlos, oder?“ Nein, tat es nicht. Ich wusste genau, was das bedeuten mochte. Irgendwann einmal, vielleicht, falls es überhaupt je Relevanz erlangen würde. „Bleibt das dein Wunsch?“ Ein letzter Blick über die Schulter, ein Nicken und er schlug in die Hände. „So sei es!“ Ich schloss die Augen. Ich weiß nicht mehr, warum. Es erschien mir in dem Moment richtig. Und ich erschrak furchtbar, als mich jemand an der Schulter berührte. „Gib mir den Bogen und Köcher, ich kümmere mich um Mutter!“, haspelte mein eigenes, gehetztes Ich mir entgegen. Ich nickte lediglich, mehr mechanisch als verständig, reichte das Gewünschte weiter, reichte ihr auch den Umhang, damit sie wenigstens etwas zum Anziehen hatte. Sie stürmte vor und feuerte. Pfeil um Pfeil. Ranken. Vögelschwärme. Sie entfesselte alles, was ich hätte entfesseln sollen. Warum war sie dazu fähig? War sie beherrschter als ich? Aber sollte sie nicht ich sein, genau ich sein? Ich konnte mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Denn ein Gedanke manifestierte sich mit unbeugsamem Ringen um Präsenz und Priorität: Thorin brauchte mich. Also schnellte ich, Schwerter gezogen, hervor und versuchte, zu ihm zu kommen. Der Sog des Portals riss mich fast von den Füßen, lenkte aber auch die auf mich gefeuerten Projektile ab und verschlang sie. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nicht an ihn herankommen würde. „Tu das nicht!“, rief er mir zu. Ich hörte es kaum, aber konnte es seinen Lippen ablesen. Er wollte mich zurückschicken. Er wollte sich lieber von diesem Portal verschlingen lassen, als zu riskieren, dass ich an einer Stelle eingesaugt wurde. Aber wir waren eine Familie. Ich war sein kleines Mädchen. Er hatte mich gelehrt, ausgebildet, mir so viel von dem vermittelt, was ich wusste. Auf mich abgefärbt, ganz unwillkürlich. Das betraf auch seine Sturheit. Ein letzter Blick zur Seite. Ishara mit Bogen, Köcher, Pfeilen und Umhang. Ein paar Ranken rissen die Schützen von den Füßen, bevor sie den perfekten Schuss auf sie setzen konnten. Sie hatte einen beachtlichen Bienenschwarm aufgestöbert, der sich wie ein Sichtschild um sie legte. Kleine Nagetiere stürzten sich scharenweise auf die Söldner. Sie war der entfesselte Zorn der Natur. Sie war der Zorn der Natur. In dem Moment wurde mir klar, was Jeva getan hatte. Zwölf Kopien. Ich war die Botin des Pantheons. Ich war die Botin der zwölf Götter. Jede angebliche Kopie war vielmehr eine Abspaltung von etwas. Die Ishara dort drüben, die meinen Kampf kämpfte, meine Mutter rettete, meine Naturmagie nutzte… war die Botin Phylias. Mich ängstigte der Gedanke, ob ich durch diese Abspaltung meine eigene Naturmagie möglicherweise verloren haben mochte. Ob ich meinen Lebenssinn verloren hatte. Ob ich noch mit Tieren auf die gewohnte Weise kommunizieren konnte. Doch ich wagte ebenso wenig, das zu prüfen. Nicht hier und jetzt. Nicht, solange wir noch mitten im Kampf waren. „Schütze Ninafer!“, brüllte Thorin mit aller Kraft über das Tosen hinweg. Mein Kopf schwenkte herum, mein Blick fixierte ihn, als könne ich ihn tatsächlich dort, genau dort, im Raum festpinnen. Aber so funktionierte das natürlich nicht – und er ließ los. Die Axt löste sich, auf wundersame Weise, im gleichen Moment und kam prompt in seine Hand geflogen. Ich dachte nicht nach. Nicht in diesem Moment. Ich stürzte vorwärts und sprang. Ich wollte ihn festhalten. Ihn zurückziehen. Ich versuchte sogar, nach Ranken zu rufen, die mich wiederum würden halten können. Aber weder bekam ich Thorin zu greifen, noch erhielt ich von den Pflanzen eine Antwort. Stattdessen wurde er in das Portal gezogen – und ich Sekunden nach ihm ebenso. Die Reise in jenem Strudel war chaotisch. Verwirrend. Ich weiß nicht, ob sie nur Sekunden dauerte oder Stunden. Es hätten genauso gut Jahre sein können – jegliches Zeitgefühl geht verloren in diesem Wirbel aus Farben, Formen und Lichtern. Thorin jedoch… sah ich da drinnen nicht. Nirgendwo. Als das Portal mich auf der anderen Seite wieder ausspuckte, landete ich auf heißem Stein. Nicht brennend, sengend, Haut bratend heiß. Aber unangenehm heiß. Und dennoch war ich zunächst nicht fähig, mich zu rühren. Ich lag dort, übergab mich und lag in der Pfütze, die ich selbst angerichtet hatte. Alles drehte sich. Schwankte. Weigerte sich, feste Form anzunehmen, feste Farben. Erst nach einem unbestimmten Zeitraum – Minuten, schätze ich -, nahm diese neue Welt, diese neue Umgebung, allmählich Gestalt an. Sie war laut. Um mich herum war eine Stadt. Eine riesige, gewaltige Stadt. Der steinerne Boden war der Gehweg. Die Luft war heiß. Die Winde waren heiß. Die Häuser bestanden teilweise aus Obsidian oder Basalt. Langsam nur richtete ich mich auf. Zunächst auf die Knie. Atmete tief ein. Versuchte, mit dem Schlauch an meinem Gürtel meine Haare etwas vom Unrat zu befreien. Die ganze Zeit liefen Gestalten an mir vorbei. Zuhauf. Es war eine große Stadt. Und keinen scherte, dass ich dort lag. Dort kniete. Dort saß. Dort stand. Nach und nach. Sie trugen seltsame Kleider, Roben, Umhänge, Tücher. Es wäre mir noch weitaus seltsamer vorgekommen, hätte ich solche Mode nicht in Südwacht schon gesehen. Südländische Mode. Aber dies war nicht Akkara. Kein Magierland. Die Gestalten waren fremd. Humanoid, aber keine Menschen. Hier und da waren Hörner zu sehen. Die meisten hatten rote Haut. Viele Hände waren mit regelrechten Krallen bewehrt. Der Lärmpegel resultierte nicht nur aus den Gesprächen, dem Laufen, dem Geräusch von Schuhen auf Stein oder den Rädern der gelegentlich vorbeirollenden Gefährte – er war auch das Ergebnis der Marktschreier, die lauthals einander übertönend ihre Waren anpriesen. Hoch über mir ragte ein blutroter Himmel auf, nur hier und da besprenkelt mit vereinzelten, rußschwarzen Wolken. Wenn es hier regnete, dann regnete es Asche. Drei Sonnen rotierten. Drei von fünf. Und viele der Dächer der Stadt waren aus polierten Kupferplatten geformt worden. Dieser ganze Ort schien eine Faszination für alle nur erdenklichen Abstufungen von Rottönen zu haben. Ich griff die Lampe und Jeva formte sich wieder vor mir. „Ah, wundervoll. Na dann – gute Entscheidung, Ishara. Willkommen… in der Kupferstadt!“ Ich sah mich kurz um. Eine Stadt, ja. Kupferdächer. Der Name war nicht sonderlich originell. Ich nickte lediglich. „Wo ist Thorin?“ Jeva lächelte mich strahlend an. „Hier. Irgendwo. Und vermutlich, weil die Kupferstadt nunmal die Kupferstadt ist, Hals über Kopf in Schwierigkeiten.“ Ein gefährlicher Ort also. Er sah nicht gefährlich aus, auf den ersten Blick. Aber dass das täuschte, hatte ich frühzeitig gelernt. Städte waren so viel heimtückischer als Wälder. „Ich wünschte mir, dass du Cyron wiederbelebst und zu mir bringst.“ Ich weiß nicht, was es war. Ich hatte meinen Freund vor wenigen Minuten erst verloren. Sekunden, dem Gefühl nach. Das unbeugsame emotionale Chaos hätte noch da sein, mich zu dieser erstbesten Gelegenheit völlig überwältigen müssen. Stattdessen stand ich dort, mitten in der Kupferstadt, umgeben von fremdartigen Geschöpfen – Tieflingen, vermutlich – und sprach mit ruhiger, gefasster Stimme einen weiteren Wunsch aus. Jeva schien amüsiert. „Ah, schön, schön! Eine Frau, die weiß, was sie will – die sind ja nun wirklich selten genug geworden. Ich warne dich allerdings vor: Cyron könnte eventuell zeitlos werden, immerhin ist Altersschwäche schwer zu kurieren und sollte irgendwann das Universum zusammenstürzen, er würde immer noch-“ „Ich bleibe dabei“, fiel ich Jeva ins Wort. Er grinste lediglich. „So sei es“, und klatschte abermals in die Hände. Ich spürte wenige Augenblicke später, wie sich ein vertrauter, pelziger Kopf unter meine Hand schob. Sein Fell war dunkler geworden. Schien das Licht schon fast zu schlucken. Ich hockte mich vor ihn, schmiegte mich an ihn. Die Augen geschlossen, verweilte ich einen Moment, vergrub das Gesicht an seinem Hals. Atmete tief ein. Füllte meine Lungen mit seinem vertrauten Geruch. Er war nicht tot. Nie gewesen. Es war so leicht, es mir in diesem Augenblick einzureden. Wir hatten einander lediglich kurz aus den Augen verloren. Irgendwo dort draußen, wo genau war mir nicht klar, kämpfte eine andere, stärker von Phylia geprägte Ishara an Ninafers Seite. Sie würden den Kampf sicherlich nicht gewinnen können – aber gemeinsam würden sie zumindest entkommen. Von ganzem Herzen – wirkt so etwas selbstsüchtig? – wünschte ich ihnen Glück. Alles Glück, dass ich selbst für meine Aufgabe entbehren konnte. Sie würde gut auf Mutter aufpassen, das war mir klar. Das wusste ich. Darauf musste ich mich verlassen. Aber Thorin brauchte mich ebenso. Und ich war hier – nicht sie. Thorin zu finden und ihn zurück zu bringen, das war meine Aufgabe. „Wir müssen ihn finden“, flüsterte ich Cyron zu, als ich mich langsam von ihm löste. Er nickte verständig wie eh und je. Nichts war anders als vorher. Keine graue Stelle im Fell. Ihm war nie etwas geschehen. Er senkte seine Schnauze und schnüffelte. Es wurde leichter, als ich ihm etwas gab, an dem er schnüffeln und Thorins Note aufnehmen konnte. Die Lampe hängte ich mir an den Gürtel. Jeva schwebte einher. Verfolgte schweigsam, aber neugierig jeden Schritt, jede Bewegung. Vielleicht lauerte er einfach nur darauf, dass ich realisierte, was ich getan hatte. Oder er wartete, bis sich eine weitere Situation ergab, um mir einen neuen Wunsch abzupressen. So leicht würde er mir jedoch nicht davon kommen. Ob er nun beteiligt war oder nicht – seinetwegen waren diese Dinge überhaupt erst passiert. „Dritter Wunsch“, begann ich, „Ich wünsche mir, dass du mir dabei helfen wirst, Thorin zu finden und zu Ninafer zurückzubringen.“ „So sei es!“, erwiderte er prompt, geradezu jubeljauchzend. „Keine Warnung?“, hakte ich argwöhnisch nach. Jeva jedoch schüttelte lediglich amüsiert den Kopf. „Wozu? Ich habe nicht vor, diesen Wunsch zu verdrehen. Der Wunsch in sich ist schon sooo viel spannender als alles, was ich daraus machen könnte! Ich bin neugierig, wohin uns das führen wird.“ Ich nickte und wollte ansetzen, ihn über diese Kupferstadt zu befragen, als Cyron anschlug. Er hatte eine Spur. Thorin war hier gewesen, offenbar vor nur wenigen Tagen. Wieviel Unterschied bedeutete es, mit ein paar Sekunden Differenz in das gleiche Portal zu springen? War die Verzerrung immer so groß oder hatte Duncan das steuern können? Hatte er Verbündete auf dieser Seite, hier in der Kupferstadt, oder hatte Thorin einfach nur nicht warten wollen und hatte direkt nach eigenen Mitteln gesucht, zurückzukehren? Vielleicht hatte er sogar gewartet… aber es hatte Tage gedauert, ehe ich das Portal verließ. Wichtig war nur: Er war hier irgendwo und brauchte mich. Cyron war bei mir. Ich hatte mir Jevas Hilfe gesichert. Und ich würde ihn finden und heimbringen. Irgendwann, irgendwie. „Cyron – los!“ Kapitel 50: Es ist noch nicht zu spät ------------------------------------- „Ach komm schon~!“, quengelte Alistair, „Er würde es überhaupt nicht mitbekommen. Naja, nicht im ersten Moment jedenfalls. Und sobald er wieder aufwacht, ist alles vorbei. Keine Zeit mehr übrig, er muss zurück, keine Tischgespräche, alles gut!“ Ishara dagegen war von der Idee nach wie vor nicht allzu angetan, während beide den Weg in ihre Gemächer suchten und die steinernen Korridore der Kreuzwegfeste hinab spazierten. „Du erwartest nicht wirklich irgendeine Form von Zustimmung von mir, hoffe ich, oder?“ Im Handumdrehen schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Nein, erwartete er nicht. Aber sie wusste genau, dass er trotzdem darauf hoffte. Und sei es nur, weil sie sich verplapperte oder zur Schonung ihrer eigenen Nerven einfach nachgab. „Ninafer ist sehr präzise mit ihren Giften! Sie hat sogar von Reva ein paar Tricks dazulernen können“, wandte Alistair hartnäckig weiterredend ein. „Er ist mein Vater!“, echauffierte sich Ishara schließlich ein wenig und warf ihrem Liebsten einen galligen Blick zu, „Wir werden ihn ganz sicher nicht vergiften. Schon gar nicht am Frühstückstisch!“ „Aber… aber er will mit uns reden~! Da kommt nie was Gutes raus! Kann es gar nicht! Hast du je davon gehört, dass ein Gespräch mit „Wir müssen reden!“ begonnen wurde und irgendwas Gutes herauskam? Nein! Und weißt du, warum? Weil das unmöglich ist! Das ist schlicht Naturgesetz oder so!“ „Ich denke, mit denen kenne ich mich weit besser aus als du“, belehrte Ishara seufzend, aber auch grinsend. Thorin war für sie alles andere als einschüchternd. Oh er konnte es, zweifellos. Er konnte es noch immer, selbst nach all der Zeit. Wenn dieser Mann die Stimme hob, dann spürte man einfach instinktiv, dass man drauf und dran war, sich den Zorn einer Naturgewalt zuzulegen. Nichts, das man leichtfertig riskieren sollte. Aber ja… er war ihr Vater. Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen, wo zuvor das amüsiert-enervierte Grinsen seinen Platz gehabt hatte. Er war ihr Vater… Eine Weile liefen sie schweigend einher. Alistair folgte schlicht. Kein unangenehmes Schweigen – er spürte, dass sie in Gedanken war. Angenehmen Gedanken, ausnahmsweise einmal. Momente wie diesen würde er nicht zerstören, nicht absichtlich allemal. Erst als er die Stille der Feste bei Nacht nicht mehr recht aushielt, unterbrochen nur von leichten Winden, die die Vorhänge offener Fenster gespenstisch tanzen ließen, während Mond- und Sternenlicht Geisterfiguren unter sie zauberten, setzte er leise wieder an. „Bitterrosenöl in seinem Tee?“ Sie musste auflachen. Ganz unweigerlich auflachen. Sie hätte nicht einmal genau sagen können, worüber sie lachte. Vielleicht Alistairs Hartnäckigkeit. Vielleicht, weil sie glaubte, das unter all dem Witz, den er aufbot, dem Schabernack, den er vorschlug und seinen Mühen, ihren anstrengenden Tag etwas aufzulockern, tatsächlich noch immer ein wenig Sorge steckte. Oder regelrechte, echte Furcht. Vor Thorin. Eine ganz grundsätzlich gesunde Lebenshaltung, wie sie befand. Aber vielleicht lachte sie auch über die Vorstellung, wie ihr Vater am Tisch saß, gepflegt an seinem hübsch bemalten Teetässchen nippte. Oder darüber, wie er im Anschluss – wenn das Öl zu wirken begann – sich nichts anzumerken lassen versuchte, während er sich bemühte, sich zu konzentrieren und ein ernstes, wichtiges Gespräch über, nun, irgendwas zu führen – während seine Innereien in Aufruhr waren und ihn eigentlich nur dazu treiben wollten, sich zu erleichtern. „Du bist unmöglich“, flüsterte sie leise, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. Ohnehin waren sie inzwischen angekommen und Ishara bemühte sich, die Tür im Dunkel aufzuschließen. Mit einem zutiefst ehrlichen „Danke“ seinerseits und einem Antwortlächeln auf ihren Lippen traten sie schließlich gemeinsam ein, schlossen die Tür und… es fühlte sich gut an, abzuschließen. Der Tag war vorbei. Jetzt mit einer gewissen Endgültigkeit. Natürlich war selbst die rein empfunden – das Drehen des Schlüssels im Schloss bedeutete letztlich überhaupt nichts. Wenn ein Notfall eintrat, konnte jemand klopfen. Oder, wie sie in Erinnerung an eine amüsante Begebenheit mit einem gewissen Herrn Papa zufügte, jemand könnte die Tür auch einfach einrennen. Zugegeben, er hatte geglaubt, es sei ein Notfall, es sei dringend, er habe keine Zeit und möglicherweise wäre ihr Leben bedroht… … dann wiederum glaubte er das offensichtlich sehr häufig und generell wirklich schnell. Keiner von beiden dachte daran, Licht anzuzünden. Der Tag war vorbei. Schlafenszeit. Und obgleich sie Alistair gern sah, gern ansah und auch nur zu gut wusste, dass auch er sich aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund an ihr ebenso wenig sattsehen konnte, bestand sie nicht darauf. Das tat keiner von ihnen je. Aus ihren Sachen geschlüpft und das Nachthemd übergeworfen, kletterte sie in das viel zu große Bett und vergrub sich unter zwei, drei Decken. Alistair folgte kurz darauf. Sie spürte seine von der Nachtluft kühle Brust an ihrem Rücken. Seinen Atem im Haar ihres Hinterkopfes. Allein das Gewicht seines Körpers auf der Matratze neben sich, noch immer nicht vollständig vertraut und gewohnt, aber doch beruhigend. Es verschaffte ihr eine Form von Frieden, die sie noch immer nicht begreifen konnte. Er schob einen Arm unter ihr Kopfkissen, legte den anderen um ihre Taille und zog sie noch ein Stück dichter an sich. Ganz unweigerlich seufzte sie. So ließ es sich leben, spukte ihr ein verwaister Gedanke durch den Kopf, während ihre Lider schwerer wurden, ihre Gedanken zäher. Vor allem aber, ließ es sich so wirklich gut schlafen. Theoretisch. Erst als seine Hand sich langsam löste, merkte sie auf. Sein Atem war nur unmerklich ruhiger geworden. Seine Fingerspitzen rutschten behutsam, tänzelten regelrecht, gaben ihr Zeit, jede Menge Zeit. Um zu widersprechen, sich zu weigern, seine Hand wieder an ihre Position zu ziehen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen in der nächtlichen Dunkelheit ihres Zimmers, als er seine Finger zögerlich über ihren Bauch herab führte. So dicht, wie er an ihr lag? Oh sie konnte nur zu gut spüren, was er im Schilde führte. Nicht, das es nicht ohnehin subtil genug gewesen wäre. Langsam hob sie ihren oberen Schenkel, gewährte ihm mehr Bewegungsfreiheit, mehr… Spielraum. Und wurde sich unweigerlich im gleichen Moment darüber klar, dass der Tag noch nicht gänzlich vorbei war, sondern noch ein wenig mehr Kraft und Energie von ihr verlangen würde. Dann wiederum gab es sehr viel schlimmere Wege, selbige auszugeben als hier mit ihm. Unter einem ersten, wohligen Seufzen wandte sie sich vom Rascheln der Decken und Kissen begleitet zu ihm um. Die Küsse wurden rasch leidenschaftlicher, sein Atem stoßartiger, als sie nach ein wenig Selbstüberwindung ohne jegliche Scheu – scheinbar, zumindest – zugriff und den Gefallen erwiderte, den er ihr zukommen ließ. Es war der Auftakt. Inzwischen zumindest. Sie erinnerte sich noch nur zu gut an die Zeiten, in denen Nervosität, Aufregung und ein Überschuss an gleichen Teilen Schüchternheit wie Neugier ihnen so manchen Abend sehr viel kürzer als erwartet gestaltet hatte. Mit der Zeit hatte sich das… reguliert. War keineswegs verschwunden, gewiss nicht – sonst würde ihr nicht jetzt noch das Herz bis zum Halse schlagen, wäre sie nicht jetzt noch fürchterlich nervös und voller Zweifel, ob sie das, was sie da tat, eigentlich gut tat. Aber sie hatte sich belesen. Soweit man das eben konnte. Und sich gut und sehr, nun, ausführlich beraten lassen. Vielleicht vertraute sie noch immer nicht  ganz darauf, zu wissen, was sie hier tat. Aber sie war inzwischen soweit, darauf vertrauen zu können, das Alistair sich vermutlich beschweren würde, wenn ihm etwas nicht gefiel.   Tiefste Nacht. Zwei schlafende Gestalten in einem viel zu großen Bett. Zugezogene Vorhänge in den Gemächern der Herzogin Acedia. Ein großer Hund schlief am Fußende. Des Wächters ungeachtet, trat eine Gestalt behutsam näher heran. Jede knarrende Diele war gefährlich, konnte Verrat und Tod bedeuten. Doch er erreichte die trügerische Sicherheit des Teppichs, der noch trägen, bettwarmen Füßen am Morgen einen Moment länger die grausame, kalte Realität des Erwachsens ersparen sollte. Etwas weniger angespannt nun, aber noch immer vorsichtig, schlich die Gestalt weiter vorwärts, näher an das schlafende Paar heran. Er zog die Schriftrolle, entfaltete sie sehr langsam. Er hatte Zeit. Stunden. Und es war schlicht wichtiger, lautlos zu sein, als schnell zu sein. Ein einziger Blick auf die Rolle offenbarte seinen Irrtum. Er beherrschte sich, würgte das leise Fluchen herab und legte die Rolle sehr behutsam auf dem Bett ab. Achtete genau, sie lautlos so zu knicken, dass sie sich nicht geräuschvoll eigenständig wieder zusammenrollen würde. Als das erledigt, die Rolle gesichert war, zog er eine kleine Phiole hervor. Den Korken herausziehen war eine Kunst für sich, er sah die Hand vor Augen kaum. Einmal den Trank befreit, verschwand der Inhalt rasch in seiner Kehle, während der Korken seinen Platz zurück fand und der dünnwandige Glasbehälter wieder verstaut wurde. Es dauerte einen Moment, ehe die Wirkung einsetzte. Eine Wärme, sich rasch steigernd, die seine Augen betraf, in seine Schläfen abstrahlte. Sie wurde unangenehm, wurde heiß, wurde brennend, sengend. Er presste die Hände darauf, entschied sich einen Moment später eines Besseren und presste sie sich auf den Mund, während er mit aller Kraft die Lider zukniff und versuchte, irgendwie die Schmerzen zu überwinden, ohne einen Mucks von sich zu geben. Er sah den Hund kurz zucken und glaubte, sein Herz bliebe stehen. Dann realisierte er: Er sah den Hund zucken. Der Schmerz ließ nach. Er konnte sehen. Gut und zuverlässig und… seltsam farbarm. Aber Farbe war nicht nötig. Vorsichtig löste er eine zweite Schriftrolle, entwickelte auch diese und legte sie behutsam, ein Glas als Gewicht darauf verschiebend, auf dem Nachttisch ab. Dann erst nahm er die erste Schriftrolle vom Bett wieder zur Hand. Die Formel stand nun perfekt lesbar darauf. Im Geiste rezitierte er sie wieder und wieder, bemüht, sie sich einzuprägen, eine… Verbindung herzustellen, wie der Wandermagier so schön gesagt hatte. Es dauerte seine liebe lange Weile, bis er endlich irgendeine Verbindung hatte. Aber wenigstens funktionierte es tatsächlich. Kurz war er besorgt. Wirklich aufrichtig besorgt. Gut, eher schon… panisch, vielleicht auch ein wenig hysterisch, als die Schriftzeichen auf der Rolle langsam nach und nach aufzuleuchten begannen. Sie leuchteten. In einem stockdusteren Raum! Wenn er diesen verdammten Magier je wieder in die Finger bekäme…! Sowas gehörte gefälligst beim Verkaufsgespräch erwähnt. Einfach nur unprofessionell…! Das Leuchten ließ nach, die Zeichen verblassten und eine leere Rolle Pergament blieb zurück. Dafür hatte er nun arkane Energien, die als schwarzer Wirbel sichtbar um seine Hand zirkulierten. Siegessicher und sehr zufrieden nickte er sich selbst bekräftigend zu. Das war gute Arbeit. Das war ein Plan, gut ausgeführt! … dann wurde ihm klar, dass er Herzogin Acedia damit würde berühren müssen. Seufzend blickte er auf das Bett. Warum musste es so verdammt groß sein?! Vielleicht ja gerade deswegen. Damit Attentäter und dergleichen erst einmal mit den weichen Matratzen der feinen Damen und Herren kämpfen, in ihren watteartigen Decken einsinken und gegen Heerscharen an Kissen bestehen mussten. Ein lächerlicher Gedanke, doch die Realität zeigte deutlich auf, wie effektiv dieser Wall war. Zu viel Herumrutschen und die Herzogin und ihr Verlobter würden wach werden. Oder der Hund. Und den ganzen Plan ruinieren. Also belastete er zunächst vorsichtig das Bett. Ganz, ganz vorsichtig. Erst mit einem Knie. Sank tief ein. Dann mit dem anderen. Sank noch tiefer. Er beugte sich vor, stützte sich mit der freien Hand auf und reckte und streckte sich, so weit er nur konnte – nicht weit genug, um an sie heranzukommen. Er verbiss sich ein enerviertes Seufzen. Stattdessen robbte er im Verlauf einer halben Stunde Millimeter um Millimeter vor, stockte zwei Mal für mehrere Minuten, als sich der Hund wieder regte, drehte, im Traum irgendetwas sehr unterschwellig und leise anknurrte. Und dann, endlich, erreichte er die Herzogin. Er musste sich weit, weit vorbeugen und seine Balance war mehr als wackelig, aber er konnte- Sie drehte sich. Wie schon bei ihrem verdammten Köter zuvor blieb er zunächst schreckstarr, wie und wo er war – nur mit dem zusätzlichen Hindernis, gehörig um seine Balance rudern zu müssen, während ihr Gewicht auf der Matratze sich verschob und damit auch zusätzlich an seiner Balance riss. Kalter Schweiß rann ihm von der Stirn über Schläfe, Brauen, Nasenspitze. Er spürte jeden Luftzug in seinem feuchten Nacken. Er spürte das Zittern in seinen Händen. Wie ihm das Herz rasend aus der Brust zu springen versuchte. Er atmete flach, in raschen Stößen, noch immer um Lautlosigkeit bemüht. Wieder verstrichen Minuten. Er versuchte sich zu beruhigen, versuchte durchzuatmen, versuchte Fassung zu bewahren, Balance zu finden. Aber diesmal vergeblich. Sie hatte sich umgedreht. Sie lag mit dem Gesicht ihm zugewandt. Wenn sie nun auch nur eine Sekunde verschlafen die Lider nur den kleinsten Spalt öffnen würde, könnte sie ihn sehen. Ihn direkt ansehen. Sein Gesicht sehen. Die bloße Vorstellung schuf Panik. Genug für zwei, eigentlich. Einen Moment noch gab er seinem zum Scheitern verdammten Vorhaben, dann überwandte er sich und senkte die verzauberte Hand langsam und vorsichtig nach vorne, in Richtung ihres Gesichts – denn der gesamte Rest ihres Körpers war unter dieser verflixt dicken Hermelindecke begraben.   Als Alistair am Morgen erwachte, war er sofort alarmiert. Das mochte einerseits daran liegen, das Ishara nicht mehr im Bett war. Und sie eigentlich immer zusammen aufstanden, wenn sie es konnten. Die Morgenstunden waren angenehm friedlich und selbst, wenn sie nicht mit dem jugendlichen Hunger frisch Verliebter übereinander herfielen, so genossen sie es doch beide, eine Weile schweigend oder mit seichtem Gespräch aneinandergeschmiegt zu liegen, in der Gegenwart des anderen zu rasten, darin zu schwelgen. Was ihn alarmierte, war das wuchtige, kräftige Klopfen an der Zimmertür. War der Umstand, dass er im Bad kein Wasser laufen hörte. Das Cyron aber hier lag, sichtlich verwirrt, ebenfalls gerade aus dem Schlaf hochschreckend. Und die Stimme hinter jener Zimmertür, die ungeduldig ein „Ich weiß genau, das ihr da drin seid – ihr könnt euch nicht drücken, macht auf!“ verlauten ließ und sehr eindeutig zu einem schon früh am Morgen sehr ungehaltenen Glatzkopf gehörte. Den Befehl vorläufig ignorierend und von Cyrons Unruhe angesteckt, sah er sich im Raum um und fand schließlich die Notiz auf dem Nachttisch.   An den Verlobten der Herzogin Acedia.   Ich entschuldige mich zunächst für die Anrede. Trotz gründlicher Recherche war es mir nicht möglich, euren Namen in Erfahrung zu bringen. Dies ist der 23. Entwurf, bitte seht mir nach, dass ich nicht noch mehr Pergament verschwenden will. Auch meine Nacht war lang. Wir Ich habe eure Verlobte! Entführt. Ich habe eure Verlobte entführt. Wenn ihr sie lebend wiedersehen wollt, werdet ihr unsere meine Forderungen erfüllen! Die Erste lautet: Ihr werdet niemanden hierüber informieren! Weitere Forderungen werden kommen, sobald ihr euer Einverständnis erklärt. Zündet dazu eine rote Kerze im Tempel an.   Gezeichnet: Der Entführer   Es lag eine gewisse… Faszination darin, mit der Alistair die Notiz las. Wieder und wieder. Dabei blendete er unweigerlich alles aus, was um ihn herum geschah. Weshalb er weder Cyrons Fiepen und Winseln mitbekam, als der den Raum nach Ishara absuchte und dann die Tür ankläffte, um Thorin Notstand zu signalisieren, noch, wie selbiger nach ihm rief und ihm… diverse unschöne Dinge androhte. Bis der Aufschlag kam. Beim ersten Mal hörte man das Holz knirschen und knacken, vermutlich verzog sich gerade der Rahmen und Alistair schrak furchtbar zusammen. Er konnte gerade noch dem felligen Verräter einen strafenden Blick zuwerfen, als der Hüne beim zweiten Anlauf durch die Tür brach. Nicht schon wieder eine Tür… Der Krieger wirkte… nun, ungehalten wurde dem nicht ganz gerecht und er trat eiligen Schrittes auf ihn zu, weshalb Alistair unweigerlich das Einzige tat, was ihn jetzt noch retten konnte. Zugegeben, eine eher reflexartige, instinktive Handlung – er riss die Arme und Hände hoch und… präsentierte damit unweigerlich die Notiz. Thorin entriss ihm diese ohne Zögern und las den Text selbst. Ebenfalls mehrmals, wie Alistair vermutete, als er dann und wann etwas zögerlich zu dem Hünen hinauf schielte. Nur, das ihre Reaktionen sehr, sehr unterschiedlich waren. Alistair machte sich Sorgen um Ishara, so war es nicht. Aber er kannte sie. Kannte sie gut. Es war eindrucksvoll, sicherlich, dass sich jemand hier hatte hereinschleichen und sie entführen können. Und ein wenig beleidigend – auch wenn er das nicht zugeben würde. Stattdessen setzte er sich in den Kopf, bei passender Gelegenheit einfach nochmal mit Ishara darüber zu reden, wie sich die Kreuzwegfeste, die Flure, Zimmertüren und ihr Zimmer insbesondere sicherer gestalten ließen. Er machte sich aber keine allzu großen Sorgen darum, das Ishara tatsächlich getötet werden könnte. Oder, dass man ihr etwas Ernstes antat. Die Notiz des Entführers war unprofessionell. Er verriet manche Sachen – scheinbar wohl, ohne es zu wissen. Natürlich mochte ein brillanter Verstand dahinter stehen, der sie mit falschen Hinweisen und gezielt gestreuten Fährten in die Irre führen wollte, doch… das hielt der Dieb nicht für allzu wahrscheinlich. Was allem voran hieß, dass just in diesem Moment Ishara, seine Verlobte, seine Herzallerliebste, das tat, was sie am besten konnte: Ihren Gegnern eine Plage sein. Ihnen den letzten Nerv rauben. Sie an jeder Ecke ausmanövrieren. Und generell ihr Dasein als unverwüstliches Unkraut pflegen. Für Alistair war es keine Frage, ob sie Ishara wiedersehen würden oder ob sie dann noch leben würde. Es war eher eine Frage des Wann, des Wieviele blaue Flecken mochte sie wohl haben? und des Wie sehr mochte ihr Entführer sich wohl entschuldigen und darum betteln, dass man sie wieder mitnahm? Dem gegenüber stand Thorin. Die Notiz wäre zweifellos in Flammen aufgegangen, hätte er auch nur über ein Nadelöhr an Magiezugang verfügt. Selbst hätte man ihm Wassermagie gegeben, die Notiz wäre dennoch in Flammen aufgegangen. Er vermochte sowas. Das Unmögliche umzusetzen. Alistair bezweifelte, dass der vernünftige Thorin glaubte, das Isharas Leben tatsächlich bedroht war. Nicht nach dieser Notiz. Obwohl der vernünftige Thorin wohl ebenso die Möglichkeit eines hintergründigen Strippenziehers nicht ausschloss. Zu dumm nur, dass jemand ausgerechnet Ishara bedrohte. Mehr noch, sogar bereits entführt hatte. Dadurch war der vernünftige Thorin gerade diese unglaublich kleine Figur, weggesperrt in einem sehr soliden Käfig, während der Vater Thorin wütete und raste und vermutlich Schaum vorm Mund hatte. Als der Stein zermürbende Blick des Kriegers den Dieb traf, glaubte der kurz, seine Knochen hätten spontan entschieden, Stein zu sein. „Gibt es im Tempel rote Kerzen?“ Alistair nickte vorsichtig. Nur keine hastigen Bewegungen, keine weitere, unnötige Provokation. „Schon, ja. Sie werden zu Festtagen rausgeholt, aber die Kiste ist voll davon und steht jedem offen zugänglich herum.“ Thorin nickte sichtlich bis zum Bersten gespannt. „Zieh dich an. Du gehst beten.“   So kam es, dass sie kurz darauf im Tempel standen und Alistair zu eben jener Kiste ging, sich eine der roten Altarkerzen nahm und sie sorgfältig aufstellte und anzündete. Thorin derweil stand am Tor – und verriegelte es gerade. Gerüstet und die Axt gezogen, wollte der Priester natürlich sofort wissen, was das zu bedeuten hatte. Immerhin war dies ein Ort spirituellen Rückzugs und Friedens, ein Ort von Einklang mit den Göttern und der Hoffnung. Der Hüne widmete ihm nicht mehr als ein abfälliges Schnauben, während er mit barschem Befehlston alle Anwesenden zusammentrieb wie Schafe. Der Priester, zwei Messdiener, drei Gäste. Unter letzteren befand sich Floran, dem Alistair kurz etwas peinlich berührt zuwinkte – denn selbst der schien nach Thorins Ermessen nicht über jeglichen Verdacht erhaben. Der Krieger ging dann nach Lehrbuch seine Einschüchterungs- und Verhörtaktiken durch. Floran widerstand dem, wie zu erwarten war, ziemlich gut. Der Rebell war zwar sehr schüchtern und auch grundsätzlich zart besaitet, aber er kannte Thorin inzwischen gut genug und Alistair hatte, in Thorins Rücken stehend, die Zeit genug, dem Rebell ein paar grobe Ideen zu verpassen, warum das alles hier eigentlich überhaupt gerade stattfand. Der Priester und seine Messdiener waren rasch aus dem Schneider. Sie wussten nichts und gaben sich eher empört über die Unterstellung, dem könne anders sein. Damit wanderte die Aufmerksamkeit unweigerlich zu den beiden verbliebenen Gästen. Einer angeblich nur ein Händler aus Samara, der Teppiche verkaufte. Auf dem Weg nach Sundergrad und ein kurzer Zwischenstopp in der Kreuzwegfeste, um vielleicht nochmal eine bequeme Nacht zu haben und ein paar Münzen zu gewinnen. Der andere ein Schuster aus Sundergrad, dem die Stadt nach Jahren der Arbeit doch zu heiß geworden war und der sein Geschäft wieder nach Samara verlagern wollte. Er reiste ohne viel Gepäck und war noch nicht dazu gekommen, sich auch nur im Gasthaus einzuquartieren. Aus irgendeinem Grund versteifte sich Thorin bemerkenswert schnell auf den Schuster. Und das noch während Floran von ihm beauftragt unterwegs war, um nach dem beschriebenen Pferdegespann voller Teppiche zu schauen. Das Gespann gab es. Die Teppiche auch. Und die Geschichte hätte einfach nur sorgfältig aufgezogen sein können. Doch tatsächlich knickte der angebliche Schuster unter Thorins bohrendem Blick ein, wie er dort stand, Minute um Minute ihn niederstarrend, noch bevor Floran zurückkehrte. Was Thorin daraufhin aus ihm herausquetschte – sehr zu Alistairs Überraschung sogar tatsächlich, ohne Hand an den Mann zu legen -, war nicht viel. Ein Zahnrad im Getriebe, das die Uhr nicht kannte. Er war angeheuert worden, um den Tempel zu beobachten. Tag und Nacht, falls nötig. Bis jemand – nicht einmal Alistair, die Stümper, einfach nur jemand – eine rote Kerze anzünden würde. Dann sollte er einen Botenvogel losschicken. Der wiederum fand sich tatsächlich in seiner sehr spärlichen Habe im Gasthaus, in einem bereits vor mehreren Tagen angemieteten Zimmer. Während Thorin herumzog und ein paar Vorbereitungen traf, kam Alistair nicht umhin, sich – und schließlich ihn – ein paar Dinge zu fragen. „Warum der Schneider?“, allem voran. „Seine Hände“, erwiderte der Krieger zunächst nur knapp wie eh und je. Beide pflegten nicht unbedingt das innigste Verhältnis, weshalb es wenig überraschend war, dass Thorin sich nicht allzu begeistert über Alistairs Einmischung zeigte. Nichtsdestotrotz hatte der auf seine Beteiligung bestanden. Immerhin hatte der Entführer nur mit ihm Kontakt gewünscht und Thorin war eher zufällig hineingepoltert. Wortwörtlich. Außerdem war Ishara schließlich seine Verlobte. Das daraufhin von Thorin natürlich ein „Und meine Tochter!“ zurückkam, war zwar zu erwarten gewesen – entkräftete jedoch keineswegs sein Argument, wie Alistair befand und ihn wissen ließ. Außerdem war nicht immer jedes Rätsel mit Einschüchterung und roher Gewalt zu lösen. Ein Vermerk, der ihn rasch den Kopf zwischen die Schultern ziehen ließ, als ihn daraufhin der reichlich ungnädige Blick des Kriegers traf. Eine stille Herausforderung. Oder  vielleicht ein ‚Das wollen wir doch mal sehen‘. „Was war mit seinen Händen?“, hakte der Dieb verwirrt nach. Sie waren normal gewesen. Keine Verletzungen, keine Missbildungen, nichts. Alistair hatte als Dieb ein gutes Auge für Details, aber ihm war nichts diesbezüglich aufgefallen. „Du hast noch nie etwas genäht, oder? Man sticht sich. Und wenn man das über Jahre hinweg macht, sticht man sich sehr oft. Zumal er meinte, die Hitze hätte ihm zugesetzt und er würde nach Samara zurückkehren. Zu wenig Bräune. Das ließe sich vielleicht durch umsichtige Arbeit erklären, Sonnenschutz, Schatten, dergleichen. Aber Hitze für jemanden, der sie nicht gewohnt ist? Das lenkt ab, schlaucht. Man sticht sich noch öfter. Seine Hände hätten sehr viel mehr Hornhaut haben müssen. Sie waren aber fein, wie die von jemandem, der kein Handwerk kennt.“ Alistair dachte eine Weile darüber nach. Thorins Argumentation mochte einleuchtend wirken, nur… „Der Teppich-Kerl hatte auch feine Hände…?“ Thorin nickte und erst, als Alistairs erwartungsvoller Blick nicht nachließ, grummelte er und erklärte sich abermals. „Der war aber auch Händler. Er kauft die Dinger an und verkauft sie weiter. Er stellt sie nicht tatsächlich her. Und hast du gesehen, wie langsam er sich erhob, als ich dazu aufforderte? Das war kein Trotz oder weil er es so wollte. Er konnte nicht schneller. Das Alter macht ihm zu schaffen. Das heißt, dass er vermutlich jemanden dafür bezahlt, die Dinger zu schleppen. Teppiche sind schwer.“ Langsam nickte der Dieb. Nun… so ungern er es zugab, auch das leuchtete ein. Er selbst hatte sich immer nur damit beschäftigt, wie er die Dinge, die er wollte, bekam. Was er dazu tun musste. Ablenkungen schaffen, schnell sein, geschickt sein, Fluchtpläne haben. Er hatte sich nie damit befasst, wie schwer ein Teppich war oder wie sich Hände veränderten, wenn man ständig mit Nadeln hinein stach. Doch mehr noch als die breit gefächerte Wissensgrundlage Thorins beeindruckte Alistair tatsächlich dessen Geistesschärfe. Ishara war entführt worden, ihr Leben bedroht – zumindest laut Text. Und dennoch hatte sich der Hüne genug unter Kontrolle, Floran nicht in Tränen ausbrechen zu lassen, den Priester nicht rauszuwerfen und niemandes Arme, Beine oder Rückgrate zu brechen. Das war sehr  viel mehr, als er ihm zu Beginn dieser Aktion zugetraut hatte. „Außerdem roch er nach diesem widerlichen Lilienöl, das sie im Gasthaus als Badezusatz reichen und angeblich hatte er da kein Zimmer…“, schob Thorin nach. Irritiert und – nach einem Moment – auch recht amüsiert blickte Alistair erneut zu seinem Komplizen und nickte grinsend. „Verstehe.“ Von da an wurde es etwas leichter. Die Vorbereitungen waren schnell getroffen. Den Botenvogel einzuspannen, war müßig gewesen. Allem voran, weil Medea ständig Fragen stellte, statt zu tun, was man ihr gesagt hatte: Zu vermitteln. Aber nachdem sie sich einig geworden waren, dass dem Tier nichts geschehen würde, verriet der Vogel das Ziel seiner Reise. Und gab sich damit zufrieden – statt dorthin zurückzukehren -, in Medeas Dienst zu verweilen. Der Ort ihres vermeintlichen Unterschlupfes erregte dabei nicht nur Thorins ungezügelten Unmut, sondern auch Alistairs umfassende Verwirrung: Die Flachwasserfeste. Wie lange brauchte ein Botenvogel bis dorthin? Und dann musste ein weiterer Vogel mit neuen Anweisungen zurückflattern. Jeder einzelne Austausch würde Wochen dauern. Wochen. Und sie war Ishara Königsend – wer war so brillant gewesen, zu glauben, dass ihr spontane Abwesenheit sich wochenlang verbergen ließ? Es sprach einmal mehr für die Theorie von Leuten, die einen wirklich schlechten Plan ausgearbeitet und mit mehr Glück als Verstand erfolgreich umzusetzen angefangen hatten.   Es war nicht mehr warm. Das war das Erste, was Ishara klar wurde, als sie langsam, sehr langsam, zu sich kam. Nein, es war kalt und zugig. „Alistair… mach das Fenster zu…“, nuschelte sie leise, noch benommen, ehe ihre Sinne schlagartig zu ihr zurückkehrten. Eine Festung, ja, aber nicht ihre Festung! Das hier war nicht ihr Schlafzimmer, sie lag nicht in ihrem Bett und befand sich nicht in Gesellschaft ihres Verlobten. Stattdessen saß sie an einen Stuhl gefesselt in der Mitte eines beeindruckend leeren Raumes, der neben ihrer Sitzgelegenheit nur noch einen schlichten und hierher unpassend wirkenden Tisch samt weiterem Stuhl aufbot. Und natürlich dessen gegenwärtigen Besetzer. „Morgen“, grüßte der fremde Mann sie. Zunächst ignorierte sie ihn völlig. Er machte keine Anstalten, aufzustehen. Er machte keine Anstalten, zu zaubern – so er dazu überhaupt fähig war. Er machte, vorläufig, keine Anstalten, überhaupt irgendetwas anderes zu tun als das, was er bereits die ganze Zeit getan zu haben schien. Und das bedeutete, dass er zumindest für den Moment weiter dort sitzen, ihre allgemeine Existenz ignorieren, Äpfel vom Tisch nehmen, schälen und zu kunstfertig geschnittenen Figuren modelliert wieder auf den Tisch stellen würde. Jeder brauchte ein Hobby, so vermutete sie. Der Raum war darüber hinaus karg und doch gab es genug, ihr so manches zu verraten. Der Stein war alt, stellenweise brüchig und verwittert. Diese Anlage war also ebenfalls vom Zahn der Zeit zernagt worden. Dazu kam die Seeluft, die durch die fensterlosen Maueröffnungen hereinzog und eine frische, kalte Brise und eine hohe Feuchtigkeit mit sich brachte. Dann das gelegentliche Kreischen von Möwen. Der reichlich umständliche Blick aus dem Fenster verriet darüber hinaus, dass sie sich offenbar recht hoch befanden. Und die Festung zudem auf einer Landsenke auf Wasserniveau stehen musste, während nur einige dutzend Meter entfernt eine Steilküste aufragte. Alles in allem, war es nicht schwierig, darauf zu kommen, dass sie sich in der Flachwasserfeste befanden. Und das entlockte ihr, allem voran, ein erleichtertes Aufatmen. Und sie hatte schon gedacht, es sei etwas Ernstes oder Gefährliches… Noch dazu entlockte es ihr jedoch auch ein Seufzen. Sie… ahnte zumindest, was folgen würde. Und bevor es dazu kam, wollte sie noch ein paar Fragen beantwortet wissen. Sie hätte nie geglaubt, dass irgendwer jemals auf die Idee kommen könnte, sie zu entführen. Thorin hatte sie diesbezüglich eindringlich zu warnen versucht, aber seinerzeit hatte sie es als seine übliche, übervorsichtige Art abgetan, sie beschützen zu wollen. Alistair hingegen hatte Fallen installieren wollen – und sie war ganz entschieden dagegen, ihren Fuß zu verlieren, nur weil sie in einem unbedachten Moment oder verschlafen am Morgen auf die falsche Stelle am Boden trat. Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht Sorgen gemacht. Sich gefürchtet. Wäre nervös oder unsicher geworden. Aber inzwischen hatte sie eine vage Vorstellung davon, was es hieß, eine Herzogin zu sein. Was in ihrer Macht stand. Was damit einher kam. Sie war lebendig sehr viel mehr wert als tot. Sehr viel mehr. Und irgendwo dort draußen waren ihr Vater und ihr Verlobter – und eine halbe Rebellion -, die daran arbeiten würden, sie zu befreien. Als sie zunehmend wacher die frische Seeluft tief in ihre Lungen sog… da fiel es ihr schlicht schwer, sich in Panik zu sehen. Überhaupt Panik zu fühlen. Ein vages Empfinden von Sorge, sicherlich. Das hier war alles schließlich sehr… unangenehm. Aber tatsächliche Angst? Sie war schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden. Und auch schon mit ganz anderen Leuten. „Wie kam ich hierher?“, fragte sie leise. „Ham‘ dich hergebracht“, erwiderte  die Wache schulterzuckend. „Ja, schon – aber wie?“, erkundigte sie sich seufzend. Nicht der Hellste also. Von der Flachwasserfeste bis zur Kreuzwegfeste – wie viele Tagesreisen mochten das wohl sein? Eigentlich war das nur möglich per- „Teleportation“, antwortete ein fein gekleideter junger Mann, der gerade die quietschende Tür aufschiebend den Raum betrat und offenbar die Wache ablöste. Er setzte sich, wartete, bis die noch immer scheußlich quietschende Tür zugezogen worden war und begann dann… die Apfelfiguren zu essen. „Dann seid ihr ein Magier?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Mit dem Zirkel war nicht zu spaßen, wie Thorin immer wieder betonte… „Ganz. Sicher. Nicht“, erwiderte ihr Gegenüber unerwartet hart und entschlossen. Dann vielleicht einer dieser Verräter-Magier, von denen Meister Lamerak und Herrin Tanveer erzählt hatten? Oder ein Hexer? Aber Hexer trugen keine edlen Kleider, oder? Dann wiederum, was hatte Mortimer so schön gesagt? Kleider machen Leute. „Und warum… bin ich hier?“, hakte sie nun doch mit einem Nachhall früherer Nervosität und Unsicherheit in der Stimme nach. „Ihr habt nichts von uns zu befürchten, dass versichere ich euch“, erklärte er zunächst einem Apfelschwan den Kopf abbeißend, „Solange euer Verlobter sich an die Anweisungen hält, versteht sich. Ihr seid gewissermaßen unser Unterpfand für Verhandlungen.“ Ishara nickte erleichtert. Das war gut zu hören – es hieß, dass ihre Vermutung zutraf. Sie war lebendig sehr viel mehr wert. Es hieß auch, dass sie ein Stück weit kooperieren konnte, um Alistair mehr Zeit zu verschaffen, und ihre Ausbruchsbemühungen am besten auf den Moment seiner unweigerlichen Ankunft verschob. Bis dahin galt es also, so viel wie möglich an Informationen zu erringen. „Ihr… macht einen höflichen, gebildeten Eindruck. Dann… sollten wir das nicht vielleicht richtig machen? Ich bin Ishara. Ishara Königsend. Ist mir eine Freude, euch kennenzulernen, Herr…?“ Einen Versuch war es ja schließlich wert, nicht? Irgendwann mussten die zahllosen, zähen, nervenaufreibenden Lektionen Thorins über Etikette und gutes Benehmen und gebräuchliche Floskeln ja auch mal zum Einsatz kommen. Außerhalb tatsächlicher diplomatischer Treffen und Bälle, verstand sich. Ihr Wächter dagegen schüttelte lächelnd den Kopf. „Vielleicht, wenn diese ganze leidige Angelegenheit beendet ist und wir euch gehen lassen können. Bis dahin, so fürchte ich, werde ich so unhöflich sein müssen, euch meinen Namen vorzuenthalten.“ Ishara seufzte innerlich. Nun einen Versuch war es dennoch wert gewesen. Das warf nur die Frage auf, wie es weitergehen sollte und… das wiederum war glücklicherweise ein Problem, das sich von selbst löste. Gewissermaßen. „Ich muss aufs Klo.“ Nunmehr seufzte ihr Gefängniswärter. „Ihr werdet es mir nicht leicht machen, oder?“ Nachdenklich zog die Halbelbe die Stirn kraus. „Das ist kein Trick.“ „Ach nein?“, hakte er sichtlich vom Gegenteil überzeugt nach. „Nein!“, beharrte sie, „Ihr habt mich im Schlaf entführt. Müsst ihr früh nicht aufs Klo? Und überhaupt - was dachtet ihr, wie das abläuft? Die Flachwasserfeste ist viele Tagesreisen entfernt, vielleicht Wochen. Selbst mit Botenreitern oder Vögeln dauert das Hin und Her eine Weile, außer ihr teleportiert ständig herum. Was auch ziemlich anstrengend sein muss. Wollt ihr mir erzählen, dass ich in all der Zeit nicht aufs Klo gedurft hätte? Hätte ich nichts zu essen oder zu trinken bekommen?“ Allein zu sehen, wie seine Augen sich weiteten und er ein wenig blasser wurde, war erschreckend. Ihre eigenen Pläne waren selten Meisterwerke der Strategie und Taktik gewesen, aber das?! Wie konnte man das nicht bedenken?! Vielleicht färbte Thorin auch einfach inzwischen zu stark auf sie ab, als das sie solche Fehler ebenfalls noch als etwas wahrzunehmen fähig wäre, das man hätte übersehen können. Immerhin, er besann sich und löste nach einigem Hin und Her ihre Fußfesseln, sodass er sie unter Geleitschutz zum Klo führen konnte. Dort angelangt, wandte sie sich um und wartete… und wartete… und wartete unter seinem allmählich ungeduldiger werdenden Blick eine ganze Weile, ehe sie seufzend die zusammengebundenen Handgelenke hob. „Sofern ihr mir nicht das Nachthemd heben und abwischen wollt-“, brachte sie kleinlaut und mit hochrotem Kopf, den Blick zu Boden gesenkt, hervor. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er ebenso bis in die Ohrenspitzen errötete. Ninafer wäre sicherlich stolz auf sie gewesen. Er löste ihre Hände und nach einem weiteren, weniger subtilen Hinweis darauf, dass sie ganz sicher nichts tun würde, solange er immer noch die Tür offen hielt und zusah, ließ er auch die endlich zufallen. Natürlich prüfte sie zunächst sehr genau ihre Möglichkeiten, doch die waren tatsächlich – wie erwartet – sehr begrenzt. Sie spürte in der Festung drei Dutzend Leute, keine Tiere. Bemerkenswerterweise keine Tiere – offenbar wusste man doch das eine oder andere über sie und ihre Fähigkeiten und hatte vorzusorgen versucht. Wie viel sie wohl wussten? Der Mauerspalt taugte indes nicht zur Flucht, zumal es an der Außenseite über sehr glitschigen Stein steil in die Tiefe ging. Aber die empfindliche Kälte an ihren Nieren erinnerte sie daran, ihn abermals freundlich darauf hinzuweisen, dass sie für die Dauer ihres Aufenthaltes vielleicht etwas mehr benötigen würde als nur ein dünnes Nachthemd. „Sonst hole ich mir den Tod und ihr habt keinen Unterpfand mehr“, erklärte sie mit Nachdruck. Und siehe da, es tauchten passende Kleider für sie auf. Wobei passend ein relativer Begriff war. Es handelte sich tatsächlich um ein Kleid samt Zubehör – ein klein wenig zu groß für sie und Ishara besaß eindeutig nicht ansatzweise hinreichend Oberweite für das offenbar eingeplante Dekolleté. Das hieß also, dass nicht nur Männer in den Reihen ihrer Entführer verweilten. … oder ein paar von denen hatten sehr ausgefallenen Geschmack…   Einige Tage später. „Ey – was’n das da?“, hakte einer der Wachen nach und stieß seinen Kumpan an der Schulter. Er deutete zum Himmel empor und dessen Blick folgte. „Ist’s’n Vogel?“, rätselte er und kniff die Augen zusammen. „Nee. Is‘ so’n Goblinflugding?“, vermutete der. „Glaub nich‘, is‘ eher…“ Ein dritter Wächter kam dazu, sah nur kurz in die Richtung, die die volle Aufmerksamkeit seiner Kollegen fesselte und bekam große Augen. „Vor allem ist’s groß und kommt schnell näher!“, fluchte er und riss die zwei gerade noch rechtzeitig an den Schultern nach unten, als unter einem gellenden Aufschrei ein Greif über ihre Köpfe hinwegstürzte. Begleitet von einem hysterischen Gelächter, das den Männern eine Gänsehaut bescherte. Alistair hatte in seinem Leben selten zuvor so etwas erlebt. Fliegen zu können war… beeindruckend. Ein Gefühl von Freiheit, wie er es nicht gekannt hatte. Er konnte Isharas Begeisterung nun sehr viel besser nachvollziehen. Zudem war das Fell des Greif sehr weich, angenehm warm. „Komm schon“, stachelte er sein Reittier an und klopfte ihm gegen den Hals, „geben wir ihnen Saures! Ich hoffe, du bist wirklich so wendig, wie Medea sagte…!“ „Angriff! Wir werden angegriffen!“ erklang weit unten derweil der Warnruf des dritten Wachmanns auf der Festungsmauer. Rasch strömte eine gewaltige Schar an Leuten aus den verschiedenen Häusern der Feste. Manche schossen mir Armbrüsten auf sie, andere warteten mit ihren Bögen, bis sie weiter unten wären – und von mancher Seite kamen Zauber. Ein Feuerball jagte an ihnen vorbei und explodierte lautstark irgendwo hoch über ihnen, während der Greif im Sturzflug nach unten jagte. Alistair hielt sich so gut er nur konnte im Fell der Kreatur fest, kniff die Augen zusammen, um gegen den Wind überhaupt noch irgendwas sehen zu können. Dann fegte das Tier mit seiner gewaltigen Flügelspannweite und den zwei ausgestreckten Tatzen über die nördliche Mauer hinweg und beförderte drei Mann von den Zinnen in den Sturzflug – glücklicherweise ins Wasser, wie Alistair mit einem Blick zurück bemerkte. Er war nicht darauf aus, unnötig zu töten. Blieb nur zu hoffen, dass die schwimmen konnten… Ein paar weitere Attacken konnte er fliegen, unter allem Beschuss wegsegelnd und fortduckend, ehe er die nächste Angriffsphase einleitete und den Greif inmitten der inzwischen hübsch über den Verlauf der Attacken zu einem geballten Haufen zusammengetriebenen Schützen landen ließ. Alistair rollte gekonnt ab, während die Schützen auf den Wällen zu feuern zögerten, da immerhin auch viele ihrer eigenen Leute mitten im Gedränge waren. Mit einigen beherzten Schlägen um sich konnte der Greif nicht nur viel Staub aufwirbeln – wortwörtlich – und einige Verwirrung stiften, er verletzte auch zahlreiche Schützen in unterschiedlichsten Graden. Hier eine gebissene Schulter, dort ein gebrochenes Bein – er fegte die Leiber der Männer und Frauen wie Puppen herum. Es war beinahe beängstigend, wie viel Kraft in so einem gewaltigen, muskulösen Löwenleib steckte. Alistair derweil jagte durch die Menge und tat nicht mehr, als auszuweichen und dann und wann einzige Nadeln um sich zu werfen oder mit ihnen zuzustechen. Ninafer war sehr entgegenkommend gewesen und das Gift wirkte wirklich bemerkenswert schnell. Eine Nadel in der Wade, eine Nadel in der Hand, eine Nadel in den Bauch und eine Nadel im Hals. Je nach Trefferort dauerte es ein paar Sekunden, aber unweigerlich wurden sie Opfer der Paralyse. Mit der zusammengetriebenen Schützengruppe fertig, verschaffte der Greif ihm noch einiges an Deckung durch das Aufwirbeln von noch mehr Staub, Stroh und Wind, ehe er sich in die Luft erhob und mit einigen akrobatisch kunstvollen Manövern der Feste entkam. Er trat den Rückweg an, heimwärts, denn sein Part war erfüllt. Alistair dagegen erwies sich mit seinen Nadeln auch weiterhin als sehr gefährlich – bis er die Mauern zu erstürmen versuchte und jemand ihm etwas an den Kopf hielt. „Da sind Feuerbälle drin“, mahnte der Wächter, „Sei so gut und lass die Hände da, wo ich sie sehen kann. Hier so reinzuplatzen war eine wirklich, wirklich dumme Idee.“ Einundzwanzig der sechsunddreißig Männer waren bereits ausgeschaltet, zumindest für die nächsten Stunden. Ein Großteil des Rests war damit beschäftigt, sich um die Verletzten zu kümmern, sie vom Platz zu schaffen, auf Betten zu hieven, ihre Wunden zu versorgen. Drei Mann befassten sich damit, Alistair von Nadeln und Dolchen zu befreien und ihn ordentlich zu verschnüren. Weshalb nach einigen Minuten dreiundzwanzig ausgeschaltet waren und man sich darauf besann, ihn einfach nur zu verschnüren. Die Mauerwache war damit auf eine Rumpfmannschaft reduziert, zumindest vorübergehend. Die bezogen ihren Posten – und erblassten prompt gehörig. „Scheiße… is‘ dat Thorin?“, meinte der Erste, nachdem alle drei sich sofort bei jenem Anblick hinter die Zinnen geduckt hatten. „Warum hat’n der’n Kater? Dacht‘ immer, der sei mehr so’n Hundetyp…?“, rätselte der Zweite und sah nochmals zum Strand, um festzustellen: Ja, da stand noch immer der gerüstete Hüne, mit einem schneeweißen Kater auf dem Arm, den er kraulte. „Ist das dein Ernst? Dich interessiert der verdammte Kater?!“, blaffte der Dritte ungläubig. „Jo, schon?“, erwiderte der Zweite. Noch immer ungläubig spähte der dritte Wächter wieder hervor, zum Strand. Sah den nachtschwarzen Raben auf Thorins Schulter sitzen. Sah die schier unüberschaubaren Legionen an Raben überall um ihn herum sitzen. „Der Kater…“, gab er ungläubig  von sich, „Nicht die beschissene Armee an Krähen, nein, der verdammte Kater.“ „Ick glob‘, des sin‘ Raben“, korrigierte der Erste. „Ich komm jetzt rein, aus dem Weg!“, mahnte Thorins weithin hallende Stimme alle verbliebenen Verteidiger der Feste, die daraufhin beklommen wieder ihre Stellungen einnahmen. „Der kommt hier nicht rein… die Zugbrücke ist oben…!“, redete sich der Dritte gut selbst zu, „Und das Tor ist zu… der kommt hier nicht rein…!“ Es gab immer wieder jene Momente, in denen man Lenikki herausforderte, oftmals unabsichtlich, und das Schicksal selbst dazu veranlasste, belehrend, mahnend, manisch grinsend über einen hereinbrechen zu lassen. Dies war einer davon. Firie erhob sich in die Lüfte, Kommandant einer großen Heerschar. Der Rabenschwarm tat, was Ishara schon früher vollbracht hatte und sabotierte den Mechanismus der Zugbrücke. Natürlich war diese Schwäche besteigt worden – weshalb sie stattdessen hackend, kratzend, pickend, kreischend und flügelschlagend in den Hof brachen und über die armen Seelen herfielen, die die großen Räder der Zugbrücke blockiert hatten. Einer der Männer stolperte schlicht rückwärts vor dem Ansturm davon und überließ den Raben, die Blockade des Rades zu lösen. Der andere machte es ihnen noch einfacher – er versuchte sich zu verteidigen. Erst schlug er mit seinem Messer nach den Tieren, erwischte aber gefühlt einfach nichts und niemanden, während seine Hände allmählich blutig gepickt das Messer losließen. Er brauchte etwas Breiteres! Etwas Größeres! Einen Knüppel…! Er zog das Holzstück, welches das Rad blockierte und schlug damit erfolgreich den Rabenschwarm in die Flucht. Nein, das hatte nichts damit zu tun, dass sie ihre Arbeit erledigt hatten und sich einfach zurückzogen… er hatte gewonnen. Er hatte den Schwarm im Kampf bezwungen. Während irgendwo anders ratternd und rasselnd die Ketten nachgaben und die Zugbrücke ungebremst in ihre Fassung donnerte. Oberhalb des Tores, auf der Mauer hinter Zinnen verschanzt sitzend, begann der dritte Wächter just zu begreifen, was er mit wenigen Worten angerichtet hatte und fluchte innerlich. „Der kommt hier nicht rein“, klammerte er sich weiterhin verzweifelt an sein Mantra. Da war noch immer ein sehr massives Holztor, mit Eisenbeschlägen verstärkt, das- Ein brachiales Krachen ertönte. Den Aufschlag hatte man in der ganzen Feste spüren können. Ein massives Rütteln, eine Erschütterung, die als Vibrieren durch den ganzen Stein zog. Dann ein brachiales Schreien, tief und kehlig und furchteinflößend. Obwohl die drei Wächter sehr überzeugt davon waren, das sie wirklich, wirklich, wirklich nicht sehen mussten, was da gerade das Tor eingerissen hatte, krochen sie doch auf dem Bauch robbend zum Vorsprung und spähten herab. Und bereuten es. Im Hof stand ein Höhlentroll. Ein gewaltiges Monstrum mit zwei Köpfen, das gerade ein zersplittertes Stück des eingerannten Tores aufhob und offenbar als Keule zu verwenden gedachte. Und ein Thorin stieg langsam vom Rücken des Trolls herab. Und – als wäre all das nicht ohnehin bereits schlimm genug gewesen -… im gleichen Moment brach unter Jaulen und Heulen und Kläffen und Blaffen eine ansehnliche Sippe an Hunden in den Hof, angeführt von einem Tier, das eher als zotteliges Kalb durchgehen mochte. „Hundetyp, sag ich doch…“, nuschelte der zweite Wächter beklommen und kreidebleich. Der Dritte richtete sich auf, blickte auf seine zwei Kameraden herab. Keiner von ihnen machte einen sonderlich kampffähigen Eindruck. Im Gegenteil, die gelbliche Lache unter Wächter Nummer eins erklärte eher, dass der Kampf für diese Beiden sehr deutlich vorbei war. Er hingegen… er gedachte nicht auf der Mauer kauernd unterzugehen, nachdem er so viel erträumt und sich hiervon erhofft hatte! Er würde für seine Träume kämpfen! Er würde dort runter gehen und- Die vermeintliche Keule des Trolls jagte um kaum einen halben Meter an ihm vorbei. Geworfen wie ein unförmiger Speer. Nicht einmal wirklich auf ihn gezielt – glaubte er jedenfalls -, aber er hatte das Holz riechen können. Er hatte die Zugluft gespürt. Sein Blick folgte dem Geschoss zunächst, wie es mühelos über die Mauer jagte. Wie ein Hochspringer. Dann sah er zum Ursprung. Dort stand ein Troll. Ein richtiger, echter, zweiköpfiger Troll. Und starrte ihn sehr herausfordernd an. Und direkt neben ihm wischte ein Thorin Königsend gerade mit einem seiner Mitstreiter den Boden. Wortwörtlich. Er hatte nicht einmal gehört, wie er das Schwert fallengelassen hatte. Er erinnerte sich auch generell nicht, wann er es überhaupt gezogen hatte. Aber er griff, sich ganz langsam vorbeugend, nach der Halterung an der Wand. Oder vielmehr, der Fackel darin. Sie war nicht entzündet. Aber er musste ja nur auf der innenseitig nicht von Sinnen vor weiteren Wurfgeschossen geschützten Mauer entlang um die Ecke laufen, die Treppen herab, quer über den Hof ins Hauptgebäude, dort in den vermutlich inzwischen vor tollwütigen Hunden wimmelnden Schlafsaal, sich erinnern, welches Bett seins war, den Schlüssel aus der Tasche ziehen, die Vorratstruhe zu Füßen des Bettes aufschließen, die Zundersteine aus seinem Gepäck wühlen, einen Funken auf die Fackel geben und dann mit der entzündeten Fackel in den Hof zurückkehren, wo dann hoffentlich immer noch ein wartender Troll stand. Spaziergang. Und dann… beugte sich der Troll auf irgendeinen Befehl Thorins hin vor. Der nahm ihm das Halsband ab und legte ihm ein anderes an und… und plötzlich war da… da war schon wieder ein… „Ach kommt schon…“, entfuhr es ihm nahezu tonlos. Begleitet vom streitlustigen Kreischen des Greifs fiel der dritte Mauerwächter schlicht in Ohnmacht…   Es begann mit einer Explosion, irgendwo hoch oben am Himmel. Bei helllichtem Tage war nicht gut auszumachen, wo genau, aber es musste weit weg sein. Dann erklangen Befehle, Geschrei, das Fauchen, Zischen und Knistern anderer Zauber. Ishara wusste, dass der Moment gekommen war. Wenn sie fliehen konnte, dann jetzt. Genauer genommen… würde sie fliehen. Es gab kein Scheitern. Nur hatte sie in den letzten Tagen ein wenig begriffen, was hier vor sich ging. Wer diese Leute waren. Weshalb sie all das taten. Und auch, wie Maximilian, ihr Anführer, tickte. Glaubte sie jedenfalls. Also war dies offenkundig der Moment, ein paar von Ninafers anderen Lektionen zu erproben. „Max?“, versuchte sie sich langsam seine Aufmerksamkeit zu sichern. Er war bei den ersten Geräuschen furchtbar zusammengezuckt, hatte sich rasch draußen erkundigt, was vor sich ging und lauschte seither auf die Geschehnisse. Nur langsam riss er sich von seinem Versuch los, alles zu erfahren, ohne etwas riskieren zu müssen. „Hm?“ Ishara vermutete, dass es mit seiner Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit nicht viel besser als das werden würde, also galt es gut, schnell und entschlossen zu handeln. Sie raffte ihren Mut, packte so viel Entschlossenheit und Bestimmtheit in ihre Stimme, wie sie nur konnte und hob an. „Das hier ging jetzt lange genug! Du weißt, wer dort draußen ist“, fuhr sie ihn an, ganz die Herzogin, „Du weißt, das ihr keine Chance gegen sie haben werdet. Lass mich frei, auf der Stelle, und ich versichere, dass ich mir euer Anliegen anhören werde. Euch wird kein Leid geschehen, das ihr nicht selbst über euch bringt und ich bin nicht die Krone, ich misshandle keine Gefangenen! Gebt auf und das alles hier kann noch glimpflicher gelöst werden als-“ „Glimpflich?!“, fluchte Maximilian aufbegehrend, sichtlich angespannt und mit aufgeriebenem Nervenkostüm, „Dein Verlobter hätte den Mund halten sollen! Stattdessen taucht er hier mit einer verdammten Armee auf! Habt ihr nicht irgendwie eine Rebellion zu kämpfen?! Sind die ganzen Soldaten da nicht gefragter?! Müsst ihr keine Festung verteidigen?!“ Oh. Offenbar war er… eher hastig und lückenhaft informiert worden. Eine Armee? Nun zugegeben, Ishara spürte nicht ohne eine gewisse Freude, das Firie hier war – und das mit sehr vielen ihrer Artgenossen. Und das auch Cyron hier war. Abermals mit sehr vielen Artgenossen aus Numaths Züchtung. Sie spürte auch die sich stetig verändernde Lebenskraft Ba’als, spie spürte Alistair und Thorin, hatte ihren alten Bekannten vorhin kreischen und dann davonfliegen spüren. Doch das war nicht die Art von Armee, die Max hinter alledem vermutete. Vielleicht war das aber auch besser so? Er wäre vermutlich gekränkt und trotzig – eine sehr gefährliche Einstellung in der kommenden Situation -, hätte er erfahren, dass im Grunde nur zwei Männer und einiges an Getier seine gesamte Bande schlugen. „Darüber haben wir schon geredet!“, begehrte sie entsprechend auf, „Es hätte unmöglich dauerhaft ein Geheimnis bleiben können, das ich weg bin!“ „Die schlachten meine Leute ab!“, kreischte Maximilian ihr regelrecht entgegen. Nun, nein, taten sie nicht. Bisher hatte es tatsächlich keine Verluste gegeben. Einigen ging es übel, wirklich übel – aber tot war niemand und soweit sie das sehen konnte, lag auch keiner im Sterben. Doch sie bezweifelte, dass er ihr glauben würde. Gerade hier und jetzt. „Max, es ist noch nicht zu spät…!“, mahnte sie, doch sie hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder verloren. Verdammt…!   „Aaaaaahhhhhh…!“, schrie Gunther. Er war als Koch angeheuert worden. Als Koch. Man hatte ihm erklärt, dass es nahezu ausgeschlossen sei, dass er in Kämpfe verwickelt werde. Denn er war ja schließlich nur der Koch. Und dann war alles schiefgelaufen und jemand hatte ihm plötzlich einen Dolch in die Hand gedrückt und dieser pferdegroße Köter hatte das gesehen und falsch verstanden und obwohl er den Dolch, der wirklich nicht mal seiner war, hatte fallen lassen, rannte er jetzt die Gänge entlang, schrie sich panisch die Seele aus dem Leib und traute sich nicht einmal, zurückzuschauen, wie nah das Tier war. Er konnte ihn immer noch kläffen hören! Per Echo. Irgendwo. Am anderen Ende des Ganges hingegen holte Thorin in weitem Schwung aus und schleuderte die Axt dem Flüchtenden hinterher. Sie traf ihn im Kreuz, kurz bevor er um die Ecke biegen konnte, verpasste ihm zusätzlichen Schwung und ließ ihn die Kurve verpassend gegen die Mauer prallen, woraufhin er ächzend zu Boden ging und ohnmächtig liegen blieb. „Wie machst du das…?“, rätselte Alistair. „Hm?“ „Du wolltest ihn nicht töten, richtig?“ Der Krieger nickte. „Aber du hast eine Axt geworfen.“ Der Krieger nickte. „Und du hast ihn nicht mit der Schneide getroffen, sondern mit dem stumpfen Ende.“ Der Krieger nickte. Alistair starrte ihn erwartungsvoll an und wiederholte schließlich schlicht nach einigen Augenblicken ungeduldigen Lauerns seine Frage. „Wie machst du das?!“ Thorin dagegen zuckte mit den Schultern – was in Alistairs Kopf die Frage wachrief, wie glücklich sich Gunther der Koch schätzen sollte, noch am Leben zu sein… Sie kamen nach kurzem Marsch an einer Tür an, die sichtlich nachträglich eingebaut worden war. Das Schloss war… solide. Tatsächlich versuchte sich Alistair daran, aber Thorins ständige, ungeduldige Nachfragerei brachte ihn rasch nahezu um den Verstand. „Wird nicht schneller, wenn ich mich nicht konzentrieren kann…!“, merkte der Dieb an. „Dann konzentrier‘ dich verdammt nochmal ordentlich!“, drängte der Kahlkopf und Alistair war sehr, sehr froh, dass sein Mitstreiter das Augenrollen nicht sehen konnte. Allerdings brachte die kurze Spitze an Wut, die Alistair piekste, ihn auf eine unterhaltsame Idee. Sorgfältig betrachtete er nochmals die Tür samt Schloss, ehe er sich halb zu Thorin umwandte. „Weißt du, vielleicht liegt’s auch an meinen Händen. Die sind noch etwas steif von letzter Nacht.“ Das drohende Funkeln in Thorins Augen war ein gutes Indiz dafür, dass er sich auf der richtigen Spur befand, nur… wollte er wirklich nicht unter diesem Blick sitzen, ihn auf sich spüren, oder über solche Themen reden. Schon gar nicht mit Thorin. „S-Sie waren schließlich ü-überall a-an i-ihr… w-wenn du w-wüsstest, wie sie s-so ist… z-ziemlich w-wild u-und-“ Alistair hätte nicht gewusst, was er noch weiter hätte sagen sollen. Sie war wild und… ja und was eigentlich? Er gedachte ganz sicher nicht, irgendwelche tatsächlichen Informationen preiszugeben. Das ging Thorin, Vater hin oder her, einen Dreck an! Doch glücklicherweise übernahm dessen Vorstellungskraft offenkundig sehr zuverlässig und bereitwillig den notwendigen Part und trieb dem Krieger die Zornesröte ins Gesicht. Er setzte ein Stück zurück, holte Schwung und ein äußerst wuchtiger Tritt, der ihn vermutlich mit dem Brustkorb sehr schmerzhaft gegen die Tür geschmettert hätte, traf stattdessen die Tür und brach das Schloss ein Stück aus den Angeln. Alistair hingegen richtete sich vorsichtig auf, klopfte sich die Kleidung ab, nachdem er sein Werkzeug weggesteckt hatte. „T-Tad-da…? Offen. Und zügig a-auch n-noch… sowas k-können n-nur Meisterd-diebe!“ Eine der Brauen Thorins wanderte in die Höhe, ehe er an die Tür trat und sie mit einem kräftigen Ruck seiner Schulter vollständig aufbrach. „Dünnes Eis“, mahnte er Alistair mit einer unangenehmen Ernsthaftigkeit, „Sehr dünnes Eis.“   Es gab offenbar ein letztes Widerstandsnest direkt vor der Tür ihres Gefangenenzimmers. Sie hörte den Kampflärm, laut und brachial. Hörte Aufschläge gegen Wände, an der Tür selbst, hörte Thorins Aufschrei. Sie hoffte inständig, dass keiner von beiden verletzt wurde. Es wäre immerhin ihretwegen gewesen. Hätte sie nur mehr auf die zwei gehört, hätte sie Alistair die verdammten Fallen einbauen lassen… „Max, bitte hör mir zu!“, begann sie abermals, „Sie sind jeden Moment hier, du weißt das, du hörst das da draußen so gut wie ich. Du kennst Thorin nicht, nicht so wie ich. Wenn du mich bedrohst, wird er keine Gnade zeigen! Gib einfach auf, leg die Waffe weg und binde mich los, mein Angebot steht noch immer!“ „Nein“, begann der Hexer, „Ich… w-wir können noch gewinnen! Wir haben immer noch dich! Wir können noch gewinnen…“ Draußen wurde es derweil verdächtig still. Die Auseinandersetzung war heftig gewesen… aber kurz. „Max… es gibt kein wir mehr. Deine Mitstreiter sind alle dort draußen. Es… es geht ihnen gut, ehrlich. Ich kann es spüren. Du weißt, dass ich das kann. Viele von ihnen sind verletzt, aber keiner ist tot, keiner liegt im Sterben. Bitte vertrau mir! Ich hätte fliehen können, das weißt du! Ich hätte Blitze werfen, ich hätte euch sabotieren können. Aber ich habe kooperiert, oder nicht?“ „Du kennst Thorin nicht. Du weißt nicht, was er früher schon alles getan hat…!“ „Doch, das weiß ich!“, widersprach sie augenblicklich und vehement. Damit wiederum schien sie sich seine Aufmerksamkeit zu sichern. „Bitte vertrau mir. Es… es ist noch nicht zu spät…“   Erst gab es einen Ruck. Der war noch recht unscheinbar, hätte er nicht irgendwie fast die gesamte Wand betroffen. Dann… wurde plötzlich ein Großteil der Wand – direkt neben der Tür – einfach herausgerissen. Es war ein Bild für die Götter: Ba’al setzte das Mauerstück vorsichtig an eine andere Mauer angelehnt ab, Thorin stand die Axt kampfbereit gehoben, die Drachenschuppe auf den Arm geklemmt, für alles gewappnet bereit. Leicht hinter ihm versetzt stand Alistair, ein Schatten des Kriegers, einen Dolch in der einen Hand und einige Giftnadeln zwischen den Fingern der anderen. Neben Thorin stand Cyron, leicht gepanzert und zähnefletschend. Er gab sich – sehr erfolgreich – alle Mühe, so furchteinflößend und eindrucksvoll wie nur möglich zu wirken. Und dann war da natürlich noch Firie, die bei dieser Kampfaufstellung irgendwie einfach nicht recht ins Bild passen wollte…   „Hey Jungs“, grüßte Ishara mit einiger Röte in den Wangen. Noch saß sie, rieb sich die Handgelenke, während Maximilian sich hastig aufrichtete und den Dolch fallenließ, mit dem er eben noch hockend ihre Fußgelenke von den Fesseln befreit hatte. „Aw… kein Bosskampf?“, hakte Alistair nach. Vorsichtig schüttelte Ishara den Kopf, versuchte, Reaktionen abzuschätzen. Alistair packte seinen Dolch und die Nadeln behutsam weg, Ba’al hingegen zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und ging einfach. Cyron brauchte natürlich nur ein paar Herzschläge, um zu verstehen und zu ihr zu springen, ehe sie von ihm herzlich begrüßt wurde, und er von ihr ebenso. Sorge bereitete ihr, wie so oft, Thorin. Der Hüne stand noch immer kampfbereit und schien abzuwägen, ob er dem letzten verbliebenen ‚Gegner‘ den Schädel einschlagen sollte oder nicht. „Thorin?“ Er reagierte nicht. „Thorin.“ Er reagierte noch immer nicht. „Papa?“ Es war… ein bemerkenswerter Wandel. Er zuckte nicht wirklich zusammen, nichts, das so… extrovertiert gewesen wäre. Aber er löste langsam seinen Blick von Maximilian und der Entscheidung über dessen Leben oder Tod, um sie mit einer Wärme anzublicken, die man selten in seinen Augen fand. „Bitte nicht.“ Er zog die Stirn kraus und Ishara, Cyron langsam von sich drückend, stand auf. „Es geht mir gut. Alles ist gut. Er hat mir nichts getan. Als ich es wollte, bekam ich essen. Als ich es brauchte, bekam ich Kleidung. Das… es ist… es geht mir gut, es ist nichts passiert. Und… du solltest ihn anhören.“ Es gab ein überaus bedauerliches, tragikkomisches Element an den Geschehnissen dieser letzten Tage. Maximilian war Hexer. Ein treuer und loyaler Bürger Ulthwes. Und einige seiner Brüder und Schwestern waren ihm in diesen Kampf gefolgt. Aufrechten Herzens und mit guten Absichten, aber schlechter Planung und ohne Erfahrung. Lumiél stand auf der Kippe. Die Magiefähigen streckten ihre Hände danach. Der Zirkel in gewohnter Gier, die Hexer in verzweifelter Hoffnung. Man wusste, dass die Rebellen hier mit Hexern Seite an Seite standen. Und man glaubte sie verraten. Denn es war so viel schwerer zu akzeptieren, das Magi des Zirkels abtrünnig werden würden, als das man das verächtliche, mordlüsterne Hexerpack verraten würde. Meister Lamerak, Herrin Tanveer und eine kleine, überschaubare Schar anderer Verbündeter – ihre bloße Präsenz in den Reihen der Rebellion hatte auf der Weltbühne offenkundig falsche Signale gesendet. Oder zumindest für einige Verwirrung gesorgt. Es hatte allerdings auch einen Grund, warum Maximilian ohne offiziellen Auftrag Adira Ibadahs hier war, der Königin Ulthwes – oder, aufgrund ihrer bereits dreißig Jahre andauernden Regentschaft in einem von Bürgerkrieg zerrütteten Land, auch die Ewige genannt. Anders als Maximilian und seine Anhänger… hatte sich die Ewige nicht zu vorschnellen Schlüssen hinreißen lassen.   „So war das also?“, erkundigte sich Myron skeptisch. Ishara saß in seinem Büro. Nicht länger das kleine, muffige Zimmer voller Papiere und Unterlagen in der Kanalisation Samaras. Nein, sie – die Rebellion als Ganzes – hatten sich verbessert. Er hatte jetzt Anspruch auf ein kleines, muffiges Zimmer voller Papiere und Unterlagen in der Kreuzwegfestung. Er war zugegeben nur selten hier, meist nur zu bestimmten Anlässen… Ishara überlegte kurz, prüfte ihre Erzählung auf Vollständigkeit und nickte dann. „Und deshalb habe ich jetzt sechsunddreißig neue Rekruten, die Mehrzahl von denen magisch befähigt, und keiner hat eine gottverdammte Ahnung, an welcher Seite man ein Schwert anfasst…?“ Wieder erwog sie kurz mögliche Antworten, bedachte sich dann eines Besseren und nickte erneut. Myron nickte ebenfalls bedächtig. Dann beendete Ninafer ihre Arbeiten an seinem Bein. Sie packte ihre kleine Tasche zusammen und erhob sich. Bevor sie den Raum verließ, blieb sie nochmals kurz bei Ishara stehen und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wir sehen uns nachher beim Tee? Ausgezeichnet! Wir haben uns ein paar lustige Sachen zu erzählen.“ Mit einem Blick zurück zu Myron setzte sie nach, „Und danke für die Ablenkung. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, hätte er ständig herumgezappelt und sich beschwert, was nicht alles weh täte und ob das Narben ergäbe.“ Ein Grinsen huschte über das Gesicht der Halbelbe, ehe die Giftmischerin sich davon machte. Myron hingegen betrachtete stirnrunzelnd den Verband an seinem Unterschenkel und blickte dann zu Ishara. „Die Geschichte ist gut, wirklich. Aber was ich immer noch nicht ganz verstehe…“ Unwillkürlich wurde sie hellhörig. Wenn sie noch etwas ergänzen konnte, gut. Wenn Fragen offen waren, gut. Sie würde natürlich tun, was sie konnte. Entsprechend nickte sie ihm bekräftigend zu, dass er ruhig fragen könne… und bereute die Entscheidung nur Sekunden darauf, hochrot anlaufend… „… warum eine Drahtfalle, in meinem Arbeitszimmer…?“ Kapitel 51: Die wa(h)re Geschichte ---------------------------------- „Ah, willkommen, willkommen, nur herein! Wir haben uns ja mal wieder scheußliches Wetter ausgesucht…!“, empfing die brünette Heilkundige sie an der Tür des Lagerhauses. Natürlich war jenes von außen unscheinbare Gebäude im Armenviertel Samaras ganz gewiss alles andere als unwichtig. Betrat man den Bau, wurde allein durch den Geruch nach Wundmitteln und Desinfektionstinkturen rasch klar, dass es sich hier um ein Lazarett handeln musste. Zum Glück des Widerstandes war Ninafer sehr – wirklich sehr – vorsichtig damit, wen sie einließ oder auch nur in der Nähe duldete. Es hatte schon so manchen Vorfall gegeben, bei dem allzu neugierige Augen und Ohren oder zu eifrige Hände mitsamt dem daran hängenden Rest verschwanden. Ganz gewiss nicht die schönste Praktik – aber ein notwendiges Übel, wie so viele Dinge. Sie trat wie angewiesen an der Giftmischerin vorbei, aus dem mit dicken, schweren Tropfen gegen alles und jeden prasselnden Regen hinaus, der die Straßen in kleine Sturzbäche tränkte und die Hausdächer einzuschlagen versuchte, hinein in eben diese Wolke eigenwilligen Geruchs. „Es ist Herbst, was willst du erwarten…?“, erwiderte sie lächelnd. Ninafer stammte aus Ceryddwin – wie oft hatte es dort geregnet? Vor allem so? Dabei war sie zusätzlich erleichtert, Ninafer in ihrem Schlafgewand vorzufinden. Der hauchdünne, seidenartige Stoff, der an mancher Stelle, so man sich Mühe gab, mehr zu sehen als zu erahnen gab, war für sie noch immer dann und wann befremdlich. Sie hätte sich ganz gewiss nicht-… nun angezogen hätte sie es vermutlich, es war ja durchaus ein Augenöffner und sicherlich bequem. Nur sich so an der Tür zeigen? Gäste empfangen? Sie hielt sich für alles andere als zugeknöpft, aber ihr war klar, dass Ninafer diesbezüglich nochmals in einer ganz anderen Liga spielte. Das Gewand wies zumindest darauf hin, dass das Lazarett für heute geschlossen worden war und seinen Betrieb für die nächsten Stunden eingestellt hatte. Zwar hätte die Giftmischerin sie hereinbeordert und in den Salon gescheut wie sonst auch, aber es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich dort angelangt eine ganze Weile die Zeit vertreiben musste, während Ninafer ihre verbliebenen, aufgestauten oder sich noch während ihrer Anwesenheit stetig höher türmenden Arbeiten zu bewältigen versuchte. An manchen Tagen war eben einfach der Wurm drin. Heute dagegen war es nur ein bisschen Regen gewesen und gegen den kam man mit einigen Handtüchern und vorsorglich bereitliegender Wechselkleidung gut an. Nachdem sie sich darum also gekümmert hatte, wanderte sie durch die Gänge des Lazaretts. Allzu viele derer gab es nicht – Lagerhäuser waren schließlich, entgegen der Darstellung in vielen Romanen, nicht als Irrgärten konzipiert. Der Geruch nach frisch aufgebrühtem Tee lotste sie bis in den Salon hinein, wo Ishara bereits wartete. „Hey, ist noch ein Platz frei?“, erkundigte sie sich unnötig, lediglich als Ankündigung ihrer Existenz, da die junge Frau mal wieder bis über beide Ohren in ihren Büchern versunken schien. Sie zuckte auch tatsächlich ein wenig zusammen, blickte dann langsam auf und nickte errötend. „J-Ja, natürlich! Entschuldigung, ich wollte nicht-“ „Alles gut“, fuhr sie der Halbelbe dazwischen, ehe sie sich wieder in irgendeine Panikform hineinsteigern – hineinreden vor allem – konnte. „Susann kommt heute nicht?“ „Nein. Jemand hat bei ihr einzubrechen versucht. Sie vermutet, dass es die Wache war. Und hat jetzt die Wache gerufen, damit die dem nachgehen. Sie will sie wohl an der Nase herumführen und ihnen zugleich aufzeigen, dass es nichts zu finden gibt.“ Sie nickte auf diese Erklärung hin – das passte ganz gut zu der alten Apothekerin. Obwohl sie der strengen Miene, die so selten auch nur ein Lächeln andeutete, solche Verschlagenheit eigentlich nicht zugetraut hätte. Eingangs zumindest. Es dauerte nur wenige Minuten, ehe sich Ninafer ebenfalls zu ihnen gesellte, mit einem etwas dickeren Fell über den Schultern. Denn Kamin oder nicht, das Gewand allein war doch arg… dünn. Und wie so oft begann ihre kleine, nachmittägliche Teerunde mit einem Austausch über die Neuigkeiten, die Tagesgeschehnisse, die kleinen und großen Sorgen und Erfolge. Sie hatte diese Gelegenheiten zu völlig normalen Gesprächen sehr zu schätzen gelernt, auch wenn sie zunächst sehr, sehr vorsichtig im Umgang mit der Heilerin war. Sie machte beständig den Eindruck einer Katze. Spielerisch, schleichend, lauernd. Bereit zum Sprung. Bereit zum Streich. Es hatte seine Zeit gedauert, bis sie begriff, dass man lediglich nicht auf diese bewusst ausgestrahlte Aura eingehen durfte. Es war Ninafers verschrobene, subtile Art, eine Lektion zu erteilen. Wer sich im Angesicht der Katze wie eine Maus verhielt, oh ja, der wurde gejagt, mit dem wurde gespielt und er wurde am Ende bei lebendigem Leib und mit Haut und Haar gefressen. Sie erinnerte sich noch unangenehm lebhaft an diese erste Einladung und das Gespräch, in dem so manches aus ihr herausgelockt worden war. Manchmal, zu seltenen Gelegenheiten, zog die Brünette sie heute noch damit auf. Doch sie hatte begriffen, hatte gelernt, sich angepasst. Und inzwischen konnte sie in Gegenwart der lauernden Katze… völlig ruhig bleiben. Normal reden. Nicht nur, sich nichts anmerken zu lassen. Inzwischen war da nichts mehr, das man ihr hätte anmerken können. Nichts, das sie verbergen musste. Sie war hier in einer kleinen, gemütlichen Runde und konnte frei heraus sprechen. Keiner hier würde etwas verurteilen. Und als netten kleinen Bonus gab es einen wirklich guten Tee. Wie jeden Nachmittag, an dem sie dazu kamen, in einer Runde wie dieser zusammenzufinden, entwickelten sich die Gespräche irgendwann eher in Rekapitulationen älterer Geschehnisse. Ishara wurde dabei stets ein klein wenig ausgelassen. Nicht aus Böswilligkeit heraus, gewiss nicht. Doch die großen und kleinen Geschichten der Halbelbe waren inzwischen entweder zum Großteil bereits bekannt, oder rührten an schmerzhaften Themen. Während Ninafer und sie selbst eine kunterbunte Fundkiste an allerhand merkwürdigen Erlebnissen hatten. Letztlich spielte es auch keine Rolle, wer mit seiner mal mehr, mal weniger ausgeschmückten Geschichte für die Unterhaltung des Treffens sorgte. Es ging nicht um die Wahrheit, es ging um das Beisammensein. An diesem Nachmittag jedoch entwickelte sich das Gespräch schließlich in eine unerwartete Richtung. Die Frage wurde gewiss nicht zum ersten Mal gestellt. Aber hier und heute war sie möglicherweise gewillt, sie zum ersten Mal zu beantworten. „Sag, Sierra, wie genau haben Thorin und du einander eigentlich kennengelernt?“   Viel zu viele Jahre zuvor… Sie hinkte leicht. Ein Beobachter mochte es vielleicht nicht bemerken, sie gab sich immerhin redlich Mühe, es sich auch nicht anmerken zu lassen, aber sie konnte es spüren. Außerdem brannten die unteren Rippen auf der linken Seite wie Feuer und sie vermutete, dass sie zumindest zum Verstecken der Blutergüsse überall weit mehr brauchen würde als nur reine Willenskraft und unachtsame Augen anderer. Es… tat einfach höllisch weh. Alles. Selbst atmen. Nichtsdestotrotz schleppte sie sich ins Dorf zurück. Oder bemühte sich zumindest, es so wirken zu lassen, als würde sie stampfen. Einmarschieren, gewissermaßen. Dabei hatte sie den Rückzug angetreten, antreten müssen. Skorina Askimasdottir war keine Kriegerin. Sie war Kupferschmiedin, verdammt nochmal! Sie hätte es besser wissen müssen. Doch die Leute im Dorf hatten sie um Hilfe gebeten. Sie war vor ein paar wenigen Tagen überhaupt erst angekommen, spät am Abend, hatte ihr Bündel in ihrem frisch bezahlten Zimmer im einzigen Gasthaus aufs Bett geworfen – und da konnte sie schon froh sein, dass es überhaupt ein Gasthaus gab, mit Einzelzimmern obendrein, statt einem Schlafsaal – und sich eigentlich nur eine warme Mahlzeit gönnen wollen. Vielleicht ein Bad. Und ganz gewiss eine große, überbeladene Mütze voll Schlaf. Stattdessen waren ein paar Männer des Dorfes noch am ersten Abend hoffnungsvoll an sie herangetreten, während sie im Schankraum saß und ihre Mahlzeit so weit zu genießen versuchte, wie ihr Impuls, alles herunter zu schlingen, es eben zuließ. Ein paar Räuber hatten sich in der Nähe eingenistet. Irgendwo im Wald gab es eine Höhle und dort hauste die kleine Bande wohl. Sie, als Reisende, als Abenteurerin, musste ja wohl damit fertig werden, nicht wahr? Und so sehr Skorina sich auch bemühte, sie vermochte diesen Leuten einfach nicht zu erklären, dass das nicht ging, dass es nicht so einfach war. Dass die kleine Axt an ihrem Gürtel mehr Schauspiel und Fassade war, als das sie tatsächlich damit umgehen könne. Es sollte zwielichtiges Pack, wie eben beispielsweise Räubern und Taschendieben, vor Augen führen, dass sie gefährlich sein könnte. Schlechtere Beute war als andere. Es war ein Bluff, verdammt nochmal! Doch man ließ sie nicht ausreden. Gute Ahnen, man ließ sie ja generell überhaupt kaum zu Wort kommen. Jede nur erdenkliche Trickkarte zog man aus dem imaginären Zaubererhut. Man appellierte an ihre Güte und Gutmütigkeit. Was unangenehm gut funktionierte. Man appellierte an ihren Geschäftssinn, als man ihr einige Münzen als Entlohnung für ihre Mühen und ihr Risiko anbot – was weniger gut funktionierte. Als man obendrein jedoch anbot, der örtliche Schmied könne ihre Waffe aufbessern, ihre Rüstung bearbeiten, ihr vielleicht sogar einen Schild fertigen… das wiederum klang schon interessanter. Man versuchte natürlich auch an ihrem Stolz zu kratzen – nur für den Fall, dass das vielleicht eher funktionieren könne -, indem man ihr subtil vermittelte, dass der örtliche Schmied ja mit all seinen Produkten umzugehen wisse. Oh wie sie in diesem Moment bereute, erwähnt zu haben, dass sie Schmiedin war. Man hatte sie den Satz ja nicht einmal weit genug führen lassen, das sie wenigstens das entstandene Bild korrigieren konnte. Sie war immerhin nicht irgendeine Schmiedin. Sie war Kupferschmiedin, verdammt. Kupfer. Die Axt bestand aus Holz und Stahl. Beides neigte dazu, sehr geringe Kupferanteile zu haben! Generell schmiedete kein Zwerg, der etwas auf sich hielt, Waffen oder Rüstungen aus Kupfer. Und sie fertigte ganz grundsätzlich weder das eine, noch das andere. Sie war Kunstschmiedin. Sie schmiedete… Briefbeschwerer, im Grunde. Hübschen Tand. Ab und an eine kleine Statue. Nicht einmal wirklich Große, wie jene, für die das Zwergenvolk berühmt war. Kleine, hübsche, zierliche Dinger, die man sich irgendwo in einer Eingangshalle in die Ecke stellen konnte, um den Raum ein wenig aufzulockern. Und auch, wenn den Männern fast die Augen vor Unglaube ausfallen mochten – ihre dreihundertvierundvierzig Jahre waren nicht alt. Ganz im Gegenteil! Sie war jung. Sie war so verdammt jung. Im Grunde gerade erst frisch im Erwachsenendasein angelangt. Und nach allem, was ihr gelehrt worden war, war es ganz gewiss das Letzte, was sie wollte: Sich von irgendwelchen Räubern aufspießen lassen, bevor sie irgendetwas in ihrem Leben erreicht hatte. Man hatte sie sicherlich ein, zwei, vielleicht sogar drei Stunden bearbeitet. Auf Knien flehend und bettelnd, im Grunde. Sie hatte jede Minute davon gehasst. Diese Leute waren verzweifelt, aufrichtig verzweifelt. Sie brauchten Hilfe. Der Knackpunkt, an dem sie einbrach, war schließlich das größte Geschoss, das sie hatten. Zurückgehalten bis zuletzt. Ein Dorf in Waldnähe – sie waren gute Jäger. Sie hätte vielleicht wissen, zumindest ahnen sollen, dass dem Gespräch irgendeine Form von rudimentärer Taktik zugrunde lag. Bisher hatten die Räuber stets nur getan, was Räuber eben taten. Auflauern und bestehlen. Und handgreiflich werden, falls jemand sich wehrte. Aber sie hatten niemanden getötet. Das hatten sie noch immer nicht – doch der Umstand, dass die Müllerstochter seit ihrer Rückkehr und dem inbegriffenen Überfall kein Wort mehr sprach und sie mit ihrem an unangenehm implizierendem Stellen zerrissenen Kleid zurückgekehrt war, war eindeutig genug. Sie hatte eingelenkt. Sich bereit erklärt, sich darum zu kümmern. Sie hatte nichts versprochen, nein – sogar deutlich betont, dass sie versuchen würde, das Problem zu lösen. Aber so, wie die Männer sich verhalten hatten, hätte sie ebenso gut einen Teufelsvertrag in Blut unterschreiben können. Und nun sah sie, was für eine brillante Idee das gewesen war. Oh nun, sie hatte die Räuber gefunden – so war’s ja nicht. Oder vielmehr hatten diese sie gefunden. Glücklicherweise hatte sie nichts besessen, das zu stehlen sich lohnte – das lag, hoffentlich noch unangetastet, alles im Zimmer des Gasthauses. Aber der Versuch, mit diesen Männern zu reden, ihnen Vernunft aufzuzeigen, war… auf sehr schmerzhafte Weise schiefgelaufen. Man hatte sie windelweich geprügelt und so ungern Sierra es zugab: Sie konnte wohl froh sein, so leicht davongekommen zu sein. Sie konnte noch laufen. Sie war nicht blind. Sie hatten ihr keine Finger abgeschnitten oder solch üble Scherze. Man hatte sie nur zusammengeschlagen. Dabei war im Gespräch mit den Herren durchaus herausgekommen, das sie zu weit mehr fähig und willens waren. Dass sie sich bisher so beherrschten und zurückhielten war schlicht Taktik. Das Dorf hatte lange keine Schwierigkeiten gehabt. Räuber waren unerhört, eine Plage des Landes, ganz und gar grässlich – und man sprach nur Abenteurer an, statt einen Boten zu bezahlen, dass er die Autoritäten in der nächstgrößeren Stadt informierte. Denn jeder hatte irgendwelche Schmutzwäsche und keiner wollte, das eine kleine Abteilung Soldaten vorübergehend im Dorf stationiert wurde, das ein offizieller Beauftragter seine Nase in aller Leute Angelegenheiten steckte. Also bat man Abenteurer. Die scheiterten. Und solange die Bande so gemäßigt blieb, konnten sie sich noch einige Tage, Wochen, vielleicht Monate länger ein ruhiges, beschauliches, ja fast schon gemütliches Leben leisten. Fett und bequem werden. Das darin zugrundeliegende Kalkül ekelte sie gleich noch ein wenig mehr an. Zeigte ihr allem voran aber auch auf, dass diese Leute schon länger aktiv sein mussten. Erfahrung gesammelt hatten, andernorts. Was sie also brauchte, war entweder mehr Training, als sie hatte – oder Vernunft, die sie den Leuten in den Schädel hämmern könnte. Damit sie endlich einen Boten lossandten und sich eben damit abfanden, all ihre hässlichen kleinen Geheimnisse ins Tageslicht  gezerrt zu sehen. Sie selbst sollte zu diesem Zeitpunkt bevorzugt allerdings weit, weit weg sein. Nur wie das anstellen? Die Männer waren so verzweifelt gewesen, so erleichtert, als sie einbrach. Sie könnte vielleicht- „Hail Vraccas, kleine Lady“, tönte es krächzend von der linken Seite. Fürchterlich erschreckend, sprang Skorina zunächst einen guten Satz davon – für eine Zwergin, allemal – und zog die Axt. Dabei schnitt sie, hastig und durch die Schmerzen in der Schulter etwas ungelenk, den Gürtel an, blieb mit dem Klingenblatt ein Stück hängen und riss und ruckte, dass sie das verdammte Ding fast aus der Hand fallen gelassen hätte. Dummerweise mit genug Geistesgegenwart, sich nicht an der eigenen Waffe schneiden zu wollen – das brachte sehr viel Unglück -, fummelte sie einen Moment herum, ehe sie die Waffe sicher im Griff hatte und sich nach der Quelle der Störung umschauen konnte. Bis dahin, so vermutete sie innerlich seufzend, hätte sie eine königliche Parade passieren verpasst. Auf dem Boden saß ein Bettler. Einfach nur ein Bettler. Er saß im Schatten des Hauses, lehnte an der Wand und sah ihr mit einem schiefen Lächeln entgegen. Das konnte sie ihm schwer vorwerfen – sie hatte sich ja gerade ganz prächtig vor ihm blamiert! Dennoch nahm sie sich Zeit. Ihren Puls und Atem zu beruhigen und ihn näher zu betrachten. Er war ihr gestern nicht aufgefallen – dann wiederum, vielleicht war er gestern auch einfach nicht da gewesen. Die Flasche, die einen Meter entfernt  von ihm lag – leer, natürlich – war Zeugnis, das sie nur ein paar Schritt näher herantreten brauchte, um in eine Wolke aus Alkoholdünsten zu treten. Seine Kleider waren von minderwertiger Qualität, gerissen und unsachgemäß geflickt. Seine kurzen Haare wirkten verklebt von… oh wirklich, sie wollte es so genau gar nicht wissen. Doch obgleich er abgemagert wirkte, leicht eingefallene Wangen hatte und sein Blick leer und irrlichternd immer wieder zu ihr zurückkehrte, aber nie konstant auf ihr zu verharren schien, war doch eine Statur erkennbar, die unter anderen Umständen beeindruckend hätte sein können. Wenn er nur mehr Acht auf sich gäbe. Es kostete sie etwas Mühe, sich zu erinnern, mit welchen Worten genau er sie angesprochen hatte. Als sie sich entsann, runzelte Skorina die Stirn. Eine zwergische Begrüßung war in diesen Breiten selten anzutreffen. Noch dazu so… angenehm korrekt betont. Und mit was hatte er sie da gemischt? Irgendeinem… schnippischen Nachsatz? Oder-… nein, das konnte er unmöglich ernst meinen. Sie war nicht adlig. Machte er sich über ihre Größe lustig? Während sie ihren Gedanken nachhing, rätselte, das Für und Wider abwog... blieb er dort sitzen. Still, geduldig. „Tagelöhner?“, fragte sie vorsichtig. „Ehemals, kleine Lady“, kam verzerrt zurück, „Ist schon das fünfte Dorf, in dem keiner eine billige Hand braucht.“ Sie nickte verständig. Das war tatsächlich ein weitestgehend ruhiger Landstrich. Vielleicht hatten sich die Räuber gerade deshalb hier eingenistet. Hatten davon gehört, wie ruhig und friedlich es hier zuging. Wie wenige Probleme es gab. „Mein Name ist Skorina Askimasdottir, nicht kleine Lady“, wies sie ihn zurecht. Je häufiger er diese Bezeichnung nannte, umso mehr störte sie sich daran. Und er hatte sie erst zweimal benutzt! „Askimi-… Asimi-… Askta-… Skorina, richtig?“, wiederholte er. Es tat weh. Es bereitete ihr physische Schmerzen, zu hören, wie er ihren edlen und traditionsreichen Namen verunstaltete… dann wiederum mochte das der Tritt in den Bauch gewesen sein, dessen Nachwehen sie noch immer spürte. Also nickte sie zunächst nur. „Als was hast du denn gearbeitet?“, erkundigte sie sich langsam. Seine Erscheinung gab ihr Rätsel auf, aber sie wusste nicht recht, worauf sie es schieben sollte. Vielleicht wirkte die Flasche etwas teurer, als sie hätte sein dürfen? Oder seine Statur etwas besser, breiter, als sie von einem Gossenbettler erwartete? Vielleicht suchte sie auch einfach nur verzweifelt irgendwen, der ihr bei diesem Unsinn mit der Räuberbande würde helfen können… „So dies und das“, erklärte er schulterzuckend und ruinierte gehörig ihre diesbezüglichen Hoffnungen, „Was eben anfiel. Feldarbeit. Vieh versorgen. Dach reparieren. Botengänge erledigen. Kinder hüten. Was eben anfiel.“ Sie nickte zu jedem einzelnen Punkt, mit jedem Mal ein wenig enttäuschter, ehe sie stockte und benommen den Kopf schüttelte. „… Kinder hüten? Ihr… ihr habt euch als Amme betätigt?“ Sie wollte ihm ganz sicher nicht zu nahe treten, doch sie konnte auch nicht den Unglauben, die schiere Fassungslosigkeit, aus ihrer Stimme verbannen. Wer in aller Welt bezahlte, nun ja, so jemanden dafür, auf seine Kinder aufzupassen?! „Münzen sind Münzen, egal woher“, meinte er ein wenig trotziger als ihr lieb war. Er hatte sie und ihre Verwirrung falsch verstanden. Dann wiederum war das wohl angesichts der Umstände auch nicht schwer gewesen, also hob sie abwehrend die Hände und versicherte rasch, ihm nicht zu nahe treten zu wollen. Was… er natürlich auch missverstand. Er schien sich bemerkenswert gut darüber im Klaren zu sein, in was für einem erbärmlichen Zustand er sich befand und wie nötig er ein Bad hätte. Seufzend kramte sie in einer der nahezu unauffindbaren Taschen – außer, man wusste, wo man zu suchen hatte – und zog ein paar Silbermünzen hervor. „Hier. Damit solltest du es bis ins nächste Dorf schaffen. Viel Glück dort.“ Sie hatte auf Hilfe gehofft. Und vermutlich hätte sie ihn für die zwei Silber – und vielleicht noch ein paar mehr – auch rekrutieren können. Aber wenn er Tagelöhner war, gewohnt an Feldarbeit und Schindeln verlegen… dann wollte sie ihn gewiss nicht dabei haben, wenn es gegen kampferprobte Räuber ging. Ihn einfach ignorieren wollte sie jedoch auch nicht. Es war… eine kleine Sache, hier und jetzt. Aber diese zwei Münzen, die für sie keinen allzu großen Verlust bedeuteten, konnten für ihn vielleicht die Welt verändern. „Mögen die Ahnen eure Güte sehen, kleine Lady Skorina.“ Sie hätte fluchen und ihn scharf anfahren wollen, dass er diesen verdammten Titel weglassen solle. Ein Impuls, der erst viele Minuten später lebhaft zu ihr zurückkehrte, als sie sich von der Verwirrung, ausgelöst durch seine Abschiedsworte, erholte hatte. Er war ganz offenkundig sehr gut bewandert in zwergischer Sitte und Manieren. Nur warum? Woher? Nicht, das sie ihn zu fragen gedachte… Stattdessen stand sie noch einen Moment still dort und starrte ihn an. Das war nämlich sooo viel besser…! Als sie sich dessen bewusst wurde, errötete sie sogar leicht, nickte ihm nochmals knapp zu und zog weiter. Das Gasthaus war nur ein paar wenige Dutzend Meter entfernt und einmal angekommen, schloss sie nach dem Weg die Treppen hinauf die Zimmertür hinter sich. Die Lider bis auf einen unmerklichen Spalt gesenkt, seufzte sie tief und schleifte sich mit wenigen Schritten zu ihrem Bett. Baden konnte sie später noch, erst einmal verlangte ihr Kopf nach Schlaf. Ihr Körper nach Rast und Ruhe. Vor allem die brennenden Teile… Als Skorina tatsächlich ein paar Stunden später wieder zu sich kam, hatte sich die Szenerie doch merklich verändert. Draußen hatte die Abenddämmerung eingesetzt und pinselte ein beeindruckendes Farbspektrum auf die Leinwand des Himmels. Ihr gesamter Leib schmerzte noch immer. Oder jetzt vielleicht auch noch mehr. Weshalb sie sich entschied, die qualvollen Stufen herabzusteigen, dem Wirt ein paar Kupfermünzen auf den Tresen zu legen, die dämlichen Kommentare und Blicke der ersten Kunden im Schankraum zu ignorieren, den Schlüssel für das Bad zu erbitten und sich dort angelangt mit den letzten Resten ihrer verbliebenen körperlichen Kräfte ein Bad einzulassen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Flammen das Wasser im Zuber angenehm erhitzt hatten. Und mit jeder noch so kleinen Bewegung schienen die Krämpfe, das ständige Ziehen und Brennen, wieder schlimmer zu werden. Umso wohltuender war das Bad, als sie erst einmal ihre Kleider ablegen und hineinklettern konnte. Die Hitze umfing sie mit einem initialen Schmerz, aber inzwischen, nach all den Stunden, blendete der unweigerlich mit dem Rest ein. Und was danach kam… war flüssige Glückseligkeit. Sie gönnte sich ein ausufernd langes Bad. Zwei Mal befeuerte sie die Zunderstelle neu, was – sich über den Wannenrand beugend und nach Feuerholz und Zunder angelnd – gar nicht so leicht war, wie man vielleicht denken mochte. Denn das Wasser verlassen, nein, das kam wirklich nicht in Frage. Doch als nach gut zwei Stunden jede Spur von Tageslicht verschwunden war, der Mond und die Sterne die Szenerie hätten beleuchten müssen - hätten sich über die Zeit hinweg nicht gehörige Sturmwolken aufgetan und ein beständiger, auf das Dach prasselnder Regenschauer sie zusätzlich einzulullen versucht -, als abermals die Wärme aus dem Badewasser wich… konnte sie sich endlich überwinden, den Zuber zu verlassen. Sie trocknete sich sorgfältig ab, zog mit einem gewissen Widerwillen die Kleider wieder an. Bis zum Zimmer würde es gehen. Sie hatte schlicht nicht daran gedacht, Wechselkleidung mit ins Bad zu nehmen. Und nachdem sie die Fenster zum Auslüften weit aufgerissen, die Tür aufgesperrt und sich zum Umziehen kurz in ihr Zimmer geschlichen hatte, gab sie auch im Schankraum brav den Schlüssel wieder ab und setzte sich an einen der Fensterplätze, um ein reichhaltiges Mahl einzunehmen. Und, um den bohrenden, fragenden Blicken mancher Gäste auszuweichen, die wissen wollten, wie erfolgreich ihr erster Versuch wohl verlaufen sein mochte. Und da die Fenster dünn waren und dort beständig die Kälte hereinzukriechen schien, zusammen mit einem auf Dauer zweifellos unschönen Luftzug, war sie sogar recht sicher vor eventuellen Gesprächen, die man ihr aufbinden wollen würde. Im Moment… wollte sie einfach nur ihre Ruhe. Ihre Ruhe, und etwas Essbares. Letzteres bekam sie nach ihrer Bestellung bei der vorbeischauenden Magd kurz darauf. Aufs Haus, wie es hieß. Es entlockte ihr nach außen ein höfliches Lächeln und Nicken, nach innen ein tiefes Seufzen. Diese Leute behandelten sie, als hätte sie deren Problem bereits gelöst. Sie hasste solche Situationen. So ruhig und langsam, wie ihr Hunger es zuließ, speiste sie. Genoss den Geruch nach Bier und Braten, die an ihren Ohren vorbeirauschende Kulisse von Geselligkeit, schlechten Scherzen, zotigen und frivolen Kommentaren, Betrugsvorwürfen und lausig erzählten Geschichten. Sie genoss das warme Licht der Kerzen und das Geräusch, welches der Regen verursachte, wenn der Wind ihn in Wellen gegen die Wand, die Tür, die Fenster warf. Irgendwann begann es auch zu blitzen. Der Sturm wurde schlimmer. Doch Skorina empfand ihn nicht als schlimm, im Gegenteil. Es war ein Schauspiel. Kein Zorn der Götter, keine göttliche Machtdemonstration. Das Zusammenwirken von Naturgesetzen, vielmehr. Und wer jemals die farbenfrohe Gestaltung eines Schmetterlings hatte bewundern können, der musste ein Gewitter doch eigentlich ebenso zu schätzen wissen. Immer wieder versuchte sie, den Blitz zu sehen. Die ausgefallenen, verwobenen Muster, die er zog. Zählte bis zum Donner die Herzschläge und lauschte auf das tiefe Grollen. Zumindest, bis ein weiterer Blitz etwas Seltsames enthüllte. Dort draußen in der vom Regen gepeitschten Nacht lag jemand auf der Straße. Mögen die Ahnen eure Güte sehen, kleine Lady. Sie wusste nicht, warum ihr der Satz plötzlich in Erinnerung kam oder so unangenehm laut in der plötzlichen Stille ihres Schädels hallte. Man… hatte ihn nicht wegen zwei Silbermünzen umgebracht, oder? War er das überhaupt? Ohne groß zu zögern, erhob sie sich, ließ den spärlichen Rest ihres Essens stehen und eilte hinaus. Irgendwo hinter sich glaubte sie den Wirt irgendetwas rufen zu hören, doch da hatte sie die Tür bereits geschlossen. Die Augen zusammengekniffen, eilte sie zu der liegenden Gestalt und als hätte das Schicksal es ihr eingeflüstert – es war der Bettler, dem sie ein paar Stunden zuvor die Münzen gegeben hatte. Sie rollte ihn auf den Rücken und er hustete zunächst Matsch und Regenwasser aus. Er schien kaum fähig, sich zu rühren. Selbst wider der Nachtschwärze, gegen den Regenschleier und von nicht mehr als spärlichen Sekundenbruchteilen im Falle eines Blitzes erleuchtet, konnte sie seinen horrenden Zustand erkennen. Er war ganz offensichtlich zusammengeschlagen worden, und das mehr als gründlich. Sie machte sich unweigerlich Vorwürfe. Es gab natürlich keinerlei Garantie, dass es mit ihr oder den Münzen zu tun hatte. Vielleicht waren Tagelöhner hier auch schlicht nicht gesehen oder er hatte es sich mit seiner charmanten Art selbst irgendwie verdient. Kleine Lady. Nichtsdestotrotz würde sie ihn ganz gewiss nicht hier liegen und an einer Lungenentzündung sterben lassen. Falls die Verletzungen ihn nicht ohnehin dahinraffen würden. Also schleppte sie ihn. Sie zog ihn ein kleines Stück am Arm, was gut funktionierte, dank des allgegenwärtigen Matsches und Regenwassers. Doch ihr wurde rasch klar, dass der Aufguss, der damit in seine Wunden kam, ihn nur noch schneller umbringen könnte. Also bemühte sie sich, ihn aufzurichten. Sprach ihn an. Zog. Drückte. Schrie. Bis dieser Sturkopf endlich, endlich, endlich auf die Füße kam. Zumindest weit genug, dass sie sich seinen Arm umlegen und ihn eben ein Stück schleppen konnte. Zurück ins Gasthaus. „Bitte, helft mir!“, erklang Skorinas Stimme, als sie die Tür aufriss und mit dem Fremden über der Schulter eintrat. Alle starrten, manche düster, aber keiner rührte sich. Sie… hatte einfach keine Zeit für solchen Unsinn! „Zwei Kupfer für jeden, der mir hilft, ihn in mein Zimmer hoch zu bringen!“ Alle starrten, manche düster. Aber immerhin, nach einem Moment und der einen oder anderen krausgezogenen Stirn erhoben sich drei Mann und schleppten ihn die Stufen hinauf. Derweil schloss Skorina sorgfältig die Tür, entschuldigte sich bei der Magd zutiefst und aufrichtig für all das Wasser und den Schlamm, den sie hereinschleppte und orderte beim Wirt eine Schale heißen Wassers, Verbandstücher, Nadel und Faden und noch so manch andere Kleinigkeit, die sie gut gebrauchen könnte. Eine Flasche sehr hochprozentigen Schnapses, beispielsweise. Denn irgendwie musste sie die möglichen Wunden säubern… Oben angelangt, zogen sich die drei Gehilfen nach Bezahlung direkt zurück. Sie hingegen hatte nun ein durchweichtes, schlammiges Bett. Prima. Ihn ein Stück weit zu entkleiden war schwierig, aber sie musste sich einen Überblick über seine Verletzungen verschaffen. Offenbar waren ein paar Rippen gebrochen. Mehrere Platzwunden am Kopf, eine an der Braue. Das Auge geschwollen, die Nase gebrochen. Ein paar Finger waren seltsam verdreht, eine Schulter ausgerenkt. Schürfwunden und Blutergüsse überall. „Hey, kleine Lady…“, säuselte der Bettler, eine fürchterliche Schnapsfahne in ihre Richtung sendend. Ganz plötzlich hatte sie eine Ahnung, wohin die zwei Münzen  verschwunden waren… und obgleich ihr Wille, ihre Hilfsbereitschaft, mit der Erkenntnis doch merklich sank, gab es jetzt kein Zurück mehr. Sie hatte es begonnen, sie hatte sich entschieden. Sie hatte gewusst, dass diese Möglichkeit bestehen mochte. „Lass das“, fuhr sie ihn an und meinte damit sowohl die Anrede, als auch seine kontinuierlichen Versuche, sich hinzulegen. Er war… so unglaublich keine Hilfe, dass sie kurz davor stand, ihm eine Ohrfeige verpassen zu wollen – nur damit er still hielt! Die halbe Nacht schlug sie sich, gefühlt, damit um die Ohren, ihn versorgen zu wollen. Sie schälte ihn aus den Lumpen, versorgte die Wunden, nähte und verband ein paar davon nach der Desinfektion – und schlug ihm gefühlt hundert Mal auf die Hand, als er die verdammte Schnapsflasche einfach trinken wollte – und stopfte ihn schließlich gegen die Schulter tippend und die Decke über ihn werfend in ihr Bett. Während sie selbst sich aufmachte, seine und, wenn sei schon mal dabei war, ihre eigene Kleidung zu waschen. Im Anschluss setzte sie sich in den Stuhl, löste die lausigen Nähte und flickte sie neu. Als der Morgen dämmerte, schnarchte der Bettler wie ein Sägewerk – was, über die Stunden hinweg, mindestens so sehr an ihren Nerven gezehrt hatte wie das Prasseln des Regens, das eingangs noch so schön und beschaulich und beruhigend gewesen war. Jetzt dagegen war der Sturm weitergezogen und draußen versuchte Mermerus ihnen einen freundlichen Tag voller Friede, Freude und Eierkuchen vorzugaukeln. Eierkuchen. Sie hatte Hunger. Und er würde den vermutlich auch haben… Also verließ sie das Zimmer kurz und orderte ein ordentliches Frühstück, mit dem sie zurückkehrte – nur um ihn wach vorzufinden. Mit der verdammten Schnapsflasche. „Ich schmeiß dich kopfüber aus meinem Fenster, wenn du das Ding nicht sofort zumachst und wegstellst“, knurrte sie bitterböse, als sie noch in der offenen Zimmertür stand. Ertappt fuhr er ein wenig zusammen – immerhin das – und starrte dann erst sie an, klein und schmächtig, selbst für eine Zwergin, dann das Fenster, dann die Flasche… ehe er, sehr zu ihrer Erleichterung, eine vernünftige Entscheidung traf und sie geschlossen wegstellte. Vielleicht hatte der Anblick des Frühstücks, das unweigerlich viel zu viel für eine einzelne Person sein musste, ihn auch zu dieser Entscheidung bewogen. „Wie heißt du?“, verlangte sie zunächst zu wissen, während sie die Tür mit dem Fuß zuschob und sich zu ihm ans Bett setzte. „Thorin“, kam es schlicht zurück. „Thorin wer?“, fragte Skorina unnachgiebig weiter. Er seufzte. „Thorin Eichenschild.“ Das… das konnte nicht sein Name sein, oder? Es gab Zwergenfamilien, die sehr prägende Namen hatten. Eisenhand. Kupferschlag. Silberbart. Donnerschlag. Kesselflicker. Goldgürtel. Aber ein Mensch? Benannten die sich nicht eigentlich immer nach ihren Berufsständen? Müller, Schneider, Schnitzer und dergleichen? „Und wo ist dann dein Schild?“, witzelte sie etwas bemüht und reichte ihm seine Portion des Frühstücks. Wie erwartet… war er schlicht ausgehungert und machte sich ohne jeden Rückhalt, das Besteck völlig missachtend, darüber her. Als ein Großteil der Portion verschwunden war, aß sie einen sehr viel kleineren Teil ihres eigenen Frühstücks und gab ihm den Rest. Nicht, weil sie Rücksicht nahm. Sie hatte letztlich doch einfach weniger Hunger, als sie erwartet hatte. Und er, er schien ganze Wagenladungen verspeisen zu können. „Hab ich verkauft“, erwiderte er, als alles vertilgt war und er sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes lehnte. „Warum?“, hakte sie neugierig nach. Er… hatte also tatsächlich einen Schild besessen? „Brauchte ihn nicht mehr. Brauchte den Schnaps mehr.“ Diese Antwort wiederum passte schmerzlich gut ins Bild. Und entlockte ihr ein Seufzen. Nichtsdestotrotz blieb der Fakt im Raum stehen, dass er einen Schild besessen hatte. „Du bist also eigentlich Abenteurer?“, hakte sie wieder hoffnungsvoll nach. Das würde allerdings Probleme lösen – mehr als eins sogar! Es konnte ihr mit den Räubern helfen und es konnte, ganz offensichtlich, ihm helfen. Immerhin waren ein paar Münzen für diese ganze Sache in Aussicht gestellt worden… „Nein“, erwiderte er zunächst ihre Hoffnungen abermals einreißend, „War.“ Oh, nun… damit ließ sich arbeiten, nicht? „Und… warum ‚war‘?“ Skeptisch blickte er zum Fenster. Ob er erwog, zu flüchten? Oder rätselte, ob sie ihn wirklich aus dem Fenster würde befördern können? Ob er überlegte, sich die Flasche zu schnappen und es zu riskieren? Als sein Blick den ihren traf, hielt sie ihm stand. Doch sie konnte nicht leugnen, dass es sich… seltsam anfühlte. So angesehen zu werden. Als würde jemand mit sehr viel mehr Wissen, als er haben sollte, direkt durch sie hindurch blicken. Auf das, was dahinter lag. Ein Gedanke, der ihr seit jeher nicht behagen wollte. „Mein letzter Auftrag für irgendeinen Lord haste-nich-gesehen. Erstürmung einer feindlichen Befestigungsanlage. Vorkasse in Münzen, gutes Angebot, viele Freiberufler. Aufteilung von Plündergut bei Erfolg. Klang vernünftig.“ Skorina verzog das Gesicht. Kein Abenteurer, nein. Söldner. Das war… vermutlich besser, was seine Kampffertigkeiten anbelangte. Aber es hieß auch, dass sie eine Ahnung dessen besaß, mit was für einem Menschenschlag sie es hier zu tun hatte. Vielleicht hatte er sich tatsächlich verdient, was letzte Nacht geschehen war. Zunächst jedoch nickte sie nur. „Gute Planung, klare Anweisungen, professionelle Ausführung. Alles kein Problem. Geringer Widerstand. Stellt sich raus, dass diese angebliche, feindliche Befestigungsanlage der letzte Rückzugsort von Lady was-weiß-ich und ihrer Familie war, nachdem seine Lordschaft in einem Kleinkrieg schon den Rest ihrer Sippe ausgemerzt hatte, abzüglich der Lady, ihrer zwei Töchter, ihres Sohnes und einer kleinen Abteilung der Leibgarde. Er wollte keine losen Enden. Leibgarde bezwungen. Keine Gefangenen – Überlebende wurden direkt exekutiert. Zu plündern gab’s nicht viel. Was sie an Wertsachen besessen hatten, war bereits in anderen Kämpfen gefunden worden. Oder sie hatte es dafür ausgegeben, ihre Spuren zu verwischen. Gefunden hatte er sie dennoch. Also…“ Er zögerte und Skorina dämmerte allmählich, wohin das gehen würde. Und sie erwog wirklich, ihn anzuhalten. Sie wusste nicht, ob sie das hören wollte. Ob sie es wirklich hören musste. Doch sie zögerte mit ihrem Einwand länger als er mit seiner Geschichte. „Also bot er uns die Lady und ihre Kinder an. Sagte uns, dass sie bei Morgengrauen exekutiert werden würden. Bis dahin hätten wir freie Hand.“ Seine Stimme hatte sich verändert. Klang… erstickt. Obwohl seine Miene noch immer unlesbar war, steinern, nicht den kleinsten Deut an Gefühlsregung durchschimmern ließ, konnte sie es ihm anhören. „Was hast du getan?“, hörte Skorina sich selbst in beinahe lautlosem Flüsterton fragen. „Ich ging.“ Es waren nur zwei Worte. Aber es lag eine solch bedrückende Schwere in diesen Worten, dass keiner von ihnen eine ganze Weile irgendetwas zu sagen wusste oder vermochte. Sie kannte diesen Mann nicht. Sie wusste einen Dreck darüber, wer er war oder woher er kam. Aber hier und jetzt, nachdem sie ihn verbunden, seine zickigen Launen und Griffe nach der Schnapsflasche eine ganze Nacht lang unterdrückt, ihn in ihr eigenes Bett gestopft und mit Frühstück versorgt hatte… da glaubte sie zu begreifen. Es gab Rechnungen zu zahlen. Und sei es nur, die paar Kupfer für das Frühstück in einem Gasthaus übrig zu haben. Aber es gab immer irgendwen, der Geld wollte für irgendwas. Und Münzen, nun, die wuchsen nicht an Büschen am Straßenrand. Was er bereute, war nicht, den Auftrag angenommen zu haben. Er bereute nicht, Söldner geworden zu sein. Er bereute nicht, diese Festung angegriffen zu haben. Selbst dann nicht, als sie sich als etwas anderes entpuppte. Er bereute, gegangen zu sein. Wortlos zugelassen zu haben, was immer in jener Nacht in dieser Festung geschehen sein mochte. „Die Jüngste war acht“, kam es nach einer gefühlten Ewigkeit – und auch diese Worte saßen wie ein Faustschlag in die Magengrube. Vielleicht war ja gar nichts passiert, versuchte sie sich einzureden. Vielleicht hatte man sich sogar entschieden, den Anweisungen seiner Lordschaft nicht Folge zu leisten. Vielleicht hatte man Aufstand geprobt, hatte die Familie zumindest teilweise retten, fliehen lassen, hinausschmuggeln können. Doch der Schmerz, den seine Stimme betrog, wo seine Miene steinern blieb, sprach Bände. Keiner war entkommen. Und niemand war in dieser Nacht geschont worden. Ob er es gesehen, beobachtet oder während seines Abzugs nur gehört hatte, spielte keine Rolle. Erst nach mehreren, langen Minuten schien er sich ein klein wenig gefangen zu haben. „Scheiße wie diese habe ich zu oft mitgemacht, zu oft erlebt. Als ich am Morgen danach in meiner eigenen Kotze und Pisse aufwachte, mein Schädel vom Schnaps schwirrte, gab es nur eine richtige Entscheidung. Mehr Schnaps.“ Sie bemerkte seinen Blick zum Nachttisch durchaus. Und sie sah auch, wie er auf ihr verständnisvolles Nicken hin danach griff – bis sie die Flasche ihm zuvorkommend entgegen nahm, damit raschen Schrittes zum Fenster trat und das Ding in hohem Bogen hinausbeförderte. „Nein“, erwiderte sie und wandte sich ihm wieder zu, das Fenster zum Auslüften des Raumes offen stehenlassend. „Das ist nicht der richtige Weg.“ „Was weißt du schon über den richtigen Weg, kleine Lady“, schoss er zurück. Er hatte seine Miene noch immer erschreckend gut im Griff, doch seine Stimme betrog ihn abermals. Das Zittern darin, während er der Flasche nachsah. „Ich bin jung. Für meinesgleichen, allemal. Aber selbst ich weiß, selbst ich erkenne, dass das, was du da machst, Blödsinn ist. Gut, fein, es gibt also Monster da draußen. Und zufällig sehen sie aus, als wären die Menschen. Oder Zwerge. Oder Elben. Oder was auch immer! Weißt du, was der richtige Weg wäre? Ihnen die Stirn zu bieten! Sie in ihre Schranken zu weisen! Du wirfst dir vor, in dieser Nacht in der Feste nicht eingegriffen zu haben, nicht? Warum hast du das nicht getan? Warst du zu feige? Hattest du Angst, dass sie dich besiegen würden? Oder warst du einfach nur zu erschöpft davon, wie oft du solchen Leuten begegnet bist?“ Der zornige Funke in seinen Augen verriet ihr genug, sich weiter in Rage zu reden. „Ich halte dich nicht für feige. Aber für jemanden, der vielleicht das Wesentliche aus dem Blick verloren hat. Du wirst niemals alle Monster besiegen können. Es entstehen ständig Neue. Aber mit jedem, das du besiegst, verbesserst du die Welt ein kleines Stückchen mehr. Du rettest jemandem das Leben. Verbesserst es für viele. Nimmst ihnen Furcht. Und gibst ihnen stattdessen die Hoffnung, das – egal wie schlimm es wird – dort draußen Leute sind, die helfen wollen und können. Die sich dem entgegen stellen, was normale Leute nicht bewältigen können.“ Eine ganze Weile war es still zwischen ihnen. So lange, bis er amüsiert und schiefen Lächelns schnaubte. „War das einstudiert? Übst du deine Helden-Inspirationsreden vor dem Spiegel?“ Empört stemmte Skorina die Hände in die Hüften. „Nein! Das kam von Herzen!“, erwiderte sie erbost. Und hätte noch im gleichen Moment fluchen wollen. Innerlich tat sie es. Ganz gehörig. Das kam von Herzen. Sie hätte es eigentlich nicht schlimmer formulieren können. Und entsprechend konnte sie ihm schwerlich übelnehmen, als er sie dafür auslachte. Als Thorin sich wieder ein wenig unter Kontrolle hatte, fasste er sie erneut in den Blick. „Und?“ „Und was?“, erwiderte sie noch immer etwas trotziger, als ihr lieb war. „Und, was versuchst du mir zu verkaufen?“, hakte der Söldner nach. „Gar nichts!“, fauchte sie zurück. Er starrte sei an. Und starrte. Und ganz langsam, fast unmerklich, kletterte eine seiner buschigen Brauen etwas höher auf die Stirn. Unter einem Seufzen gab sie nach. Sie konnte lügen, konnte gut lügen, aber irgendetwas an diesem Sturkopf reizte sie so sehr, dass sie ihre ganzen Lehren und Lektionen vergaß und sich wieder wie ein Anfänger benahm. Es war zum Haareraufen! Und sie hatte ihm ja nun einmal schlicht etwas verkaufen wollen. „Fein“, lenkte sie daher schließlich ein, „Die Leute hier haben ein Problem mit einer Räuberbande. Ich… sie baten mich, es zu lösen.“ Erneut lachte er auf – und diesmal verstand sie nicht, wieso. „Was ist daran so witzig?“ „Du bist Schmied. Und kannst nicht mit deiner Axt umgehen“, erwiderte er prompt, noch immer sichtlich amüsiert. Wie er auf Letzteres kam, war ihr nur schmerzlich bewusst. Sie erinnerte sich noch gut an die Misere ihrer ersten Begegnung. Doch woher wusste er, welches Handwerk sie erlernt hatte…? „Ich bin Abenteurer“, hielt sie probehalber dagegen. Und wie erhofft, schüttelte er den Kopf und erläuterte es ihr. „Schmied. Die feinen Vernarbungen an den Fingerkuppen sind eindeutig dafür. Viele sieht man nicht mal mehr, außer bei gutem Licht. Aber man spürt sie. Dazu die Verteilung der Muskulatur, die höhere Kraft in den Armen, breitere Schultern. Die Vorsicht beim Umgang mit offenem Feuer und wie du gestern die Pinzette und die Nadel gehalten hast. Und natürlich die Schmiedeschürze. Die könnte auch ein kleiner Hinweis gewesen sein.“ Sichtlich überrascht über so viel Aufmerksamkeit trotz seines völlig desaströsen Zustandes lauschte sie beeindruckt – bis er die Schürze erwähnte. „Du warst an meinen Sachen?!“, ereiferte sie sich prompt und er besaß die Dreistigkeit, mit einem Schulterzucken zu nicken. Fassungslos über so viel Frechheit ließ sie sich zunächst nur in ihren Stuhl sinken. Sie hätte ihn vielleicht doch dort draußen liegenlassen sollen…? Was sie erinnerte. „Weshalb hat man dich zusammengeschlagen? Und wer war das?“, verlangte sie zu wissen. „Der Dorfschmied, der Schneider und sein Gehilfe… ich glaube, auch ein paar der Bauern von den äußeren Höfen“, erwiderte er ohne den Eindruck zu machen, das er ihnen das allzu sehr nachtragen würde, „Sie behaupten, ich hätte mit der Tochter des Schmiedes geschlafen. Und mit des Schneiders Weib.“ Skorina nickte langsam. Gerüchte waren immer rasch in Umlauf und gerade ein Fremder bot sich als Sündenbock an, um die eigene Dreckwäsche auf andere abzuladen. „Und, warst du’s?“, erkundigte sie sich eigentlich nur der  Form halber. Das Grinsen, das ihr daraufhin entgegen kam, ließ sie abermals fassungslos zurück. Er hatte mit beiden geschlafen?! Sie wusste nicht einmal, was sie mehr aus der Bahn warf. Dass diese Weiber, wer immer sie sein mochten, sich mit jemand so Heruntergekommenem wie ihm einließen… das er seine  gerechte Strafe dafür empfing und einfach widerspruchslos anzunehmen schien… oder das er scheinbar auch noch stolz darauf war. „Ich hoffe, das war’s wert“, maulte sie halblaut. Dieser Kerl war doch wirklich einfach nicht mehr zu retten! „Find’s doch raus?“ Es waren nur ein paar Worte. Simple Worte. Aber so… so… einladend gesprochen. So wohlgeformt und wohlgewichtet. Sie blickte zu ihm herüber, obwohl sie es kaum wagte. Wich diesem Blick aus, den sie dort vorfand. Sie konnte doch nicht… sie würde keinesfalls… also nicht mit ihm oder jemandem wie ihm oder… und überhaupt, was bildete der sich eigentlich ein?! „Thorin“, begann sie langsam, das Kinn mit wiederentdecktem Stolz reckend, „Mit dir teile ich das Bett an dem Tag, an dem die Hölle zufriert!“ Er antwortete nicht sofort. Stattdessen erwog er, schien ihre Worte mit der Zunge in seinem Mund hin und her zu schieben, als müsse er sie wie eine edle und rare Delikatesse verkosten. Schließlich hob er mit einem unangenehm hintergründigen Grinsen die Hände. „Schon gut – du hast mich überzeugt. Ist gekauft.“ „Ich habe dich-… was?“ Was war das denn bitte für ein Gedankensprung?! „Die Räuberbande. Ich helfe dir. Aber unter drei Bedingungen.“ Oh…? Oh! Oh, nun das war tatsächlich eine Überraschung! Skorina begriff nicht so recht, wie und warum und warum vor allem so plötzlich ohne jeden Zusammenhang. Hatte er das ganze Gespräch über die gestrige Nacht, deren Geschehnisse und Gründe nur dazu genutzt, ein wenig besser über ihre Worte nachzudenken? Er hätte doch auch einfach sagen können, dass er noch etwas Zeit brauchte, um zu überlegen… warte – was für Bedingungen? „Ich höre“, gab sie daher zunächst nur vorsichtig zurück. „Erstens: Der Schmied muss meine Rüstung ausbessern. Und mir zurückgeben, ich habe sie ihm verpfändet.“ Sie seufzte. Natürlich hatte er das. Sie konnte sich sogar gut vorstellen, warum und wofür. „Zweitens: Ich brauche einen Schild. Ein hölzerner Rundschild, bevorzugt. Ich habe einen recht… eigenwilligen Kampfstil, ich bin mit einem Schild einfach besser.“ Sie nickte langsam und sah davon ab, ihn darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich keine Kämpfe eingeplant hatte. Aber das hatte sie bei ihrem ersten Kontaktversuch auch nicht. Kämpfe hatte es so gesehen auch keine gegeben – wie ihr noch immer dann und wann etwas schmerzender Magen sie wissen ließ. „Drittens: Sobald die Räuber erledigt sind und du das Dorf verlässt… komme ich mit.“ „Huh.“ Das war unerwartet. Er… er wollte mit? Mit bis ins nächste Dorf? Oder generell mit ihr mit? Skorina überlegte lange. Sie hatte ihm helfen wollen, ja. Eingangs mit zwei Silbermünzen, damit er seinen armseligen Arsch allein ins nächste Dorf scheren könnte. Wo er vielleicht mehr Glück hätte. Aber so, wie sie Thorin inzwischen dank dieser wenigen Stunden kannte, würde er sich dort volllaufen lassen, irgendjemandes Tochter und Weib ausspannen und dann als Revanche zusammengeschlagen in einer Pfütze liegend ertrinken. Obwohl sie inzwischen fest daran glaubte, das in diesem Mann so viel mehr Potenzial steckte, so viel mehr zu tun, zu leisten, zu bewegen. Würde es so einen großen Unterschied machen, ihn ins nächste Dorf zu begleiten? Würde es so einen großen Unterschied machen, ihn länger dabei zu haben? Ein kampferfahrener Söldner konnte vielleicht nützlich sein. Möglicherweise konnte sie von ihm ein paar Tricks lernen. Und würde ihn zugleich auch wieder auf eine bessere Bahn lenken können. Indem sie einfach da war. Demonstrierte. Vorlebte. Abfärbte. … auf sowas zu hoffen, war nicht zu naiv, oder? „Fein, einverstanden. Dann meine Grundregeln. Erstens: Ich bin Kupferschmiedin. Ich fertige keine Waffen oder Rüstungen, sondern Kunst. Und trotzdem will ich den Leuten hier helfen. Und das werde ich auch andernorts wollen. Wenn du mit mir reist, wirst du mir helfen. Zweitens: Ich nehme für die Hilfe keine Münzen. Wenn sie freiwillig angeboten werden, gut. Aber ich verlange sie nicht. In jedem Dorf und jeder größeren Stadt gibt es Anschlagtafeln mit genug gut bezahlten Aufträgen, um bestens über die Runden zu kommen. Drittens: Wir arbeiten moralisch vertretbar. Sowas wie dieser letzte Auftrag von dir? Auf gar keinen Fall. Egal wie gut die Bezahlung ist. Im Gegenteil – wird uns sowas angeboten, vielleicht entscheide ich, die Leute zu warnen.“ Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. Was um alles in der Welt tat sie hier gerade?! Das war nicht… das war schlecht geplant, schlecht vorbereitet, schlecht durchdacht, das war einfach rundheraus schlecht. Aber sie konnte die Hilfe gut gebrauchen! Sie konnte zusätzliches Training gut gebrauchen! Und sie hatte bei diesem Sturkopf eigentlich ein gutes Gefühl. Solange man ihn nur lange genug von Schnaps oder dem Unterleib von irgendwem fernhalten konnte. Was sie sofort mahnte und nachsetzen ließ. „Viertens: Du wirst mich nicht in deine Weibergeschichten hineinziehen. Wenn du solchen Blödsinn machst, badest du das alleine aus und flickst dich in Zukunft gefälligst danach auch allein wieder zusammen!“ Und schon wieder lachte er. Sie wusste nicht, ob er über sie lachte, es… klang zumindest nicht so. „Einverstanden. Dann… darf ich die erste Frage in dieser neuen Partnerschaft stellen?“ Irritiert starrte sie ihn zunächst einfach nur einen Moment lang an. Partnerschaft? Sie hatte doch kein Wort von irgendeiner Partnerschaft gesagt! Etwas benommen nickte sie lediglich geistesabwesend. „Gut, Skorina, junge Kunst-Kupferschmiedin aus Ceryddwin. Was bei Ceteus treibst du hier draußen?“ Obgleich er sichtlich interessiert schien, schob sie die Antwort zunächst – wenigstens für einen kleinen Moment – bei Seite. Sie hatte den Akzent offenbar gut genug imitiert, ihn hinreichend erlernt. Woher Thorin Ceryddwin kannte, war ihr schleierhaft – doch mit dieser offenbar frisch entstandenen Partnerschaft ergaben sich zukünftig vermutlich hinreichend Möglichkeiten, das zu ergründen. Das und noch ganz andere Sachen. Also begann sie ihm zunächst von ihrer Lehrreise zu erzählen. Davon, wie sie die Welt sehen und bereisen wollte, um neue Kunstformen zu studieren, Verarbeitungstechniken zu erlernen – von anderen Schmieden ihres Volkes insbesondere, natürlich. Und sie kam nicht umhin, das Gefühl zu entwickeln, das er vieles des Gesagten und Erklärten besser wusste und verstand, als er eigentlich sollte. Aber auch das war… etwas für später. Zunächst galt es eine Räuberbande in die Schranken zu weisen! Noch am gleichen Abend trafen sie alle nötigen Vorbereitungen, um im Morgengrauen aufbrechen zu können. Der Schmied war begeistert, diesen lausigen, uralten Lederpanzer als Belohnung für ihre Mühen herausrücken zu können. Erst recht, weil das Ding nicht nur nahezu wertlos war, sondern geflickt werden musste. Erst recht stieg seine Laune, als sie auf Anpassungen an ihren Körper verzichtete und ihm damit weitere Stunden der Arbeit einsparte. Von jenem stahlbeschlagenen Eichenschild wollte er sich nicht recht trennen, aber nachdem er nochmals subtil von Skorina darauf hingewiesen wurde, wofür das Stück gut sein solle, gab er doch noch nach. Thorin hatte sich derweil ein wenig herausgeputzt. Sich offenbar, aus irgendeinem Grund, die schwarzen Haare rest- und spurlos vom Kopf geschoren, sich gewaschen und sich ein Unterhemd für die Rüstung besorgt. Sie fragte nicht, wie und woher. Vermutlich war es besser, wenn sie es nicht wusste. Und kaum steckte er in dem Brustpanzer, der ihm tatsächlich wie auf den Leib gegossen wirkte und schulterte den Rundschild, sah er so viel anders aus. Er war nicht länger der heruntergekommene Bettler und ehemalige Tagelöhner. Er war… imposanter. Strahlte eine Stärke und Härte aus, mit der man sich nicht messen wollte. Kleider machten eben doch Leute. Oder Rüstungen, ersatzweise. An jenem Abend probten sie, ob er wirklich eine ganze Wagenladung würde essen können. Thorins Ernährung war in den letzten Wochen miserabel gewesen. Er hatte keine wirklichen Einnahmequellen und war, groß und breit gebaut, zu auffällig für Taschendiebstahl und dergleichen. Dann und wann hatte er sich an frischen Feldfrüchten satt essen können, aber auch das war weit von einer ausgewogenen Ernährung entfernt. Und zur Jagd hätte er mehr Wissen über Fallen benötigt. Oder einen Bogen samt Pfeil. Den er nicht sofort zum Trinken versetzen würde. Dabei staunte sie tatsächlich nicht schlecht, wie viel der frisch geschorene Kahlkopf in sich hineinschlingen konnte. Wohin er das alles packte, war ihr schleierhaft – aber solange es half, würde sie sich gewiss nicht beschweren. Dabei war der frühere Söldner ganz offenkundig nach wie vor alles andere als gern gesehen. Die Leute mieden ihn – und damit neuerdings auch sie. Vermutlich würde es rasch die Runde machen, bis auch der Schmied wusste, wer nun seinen Schild und den Brustpanzer trug. Doch Skorina behielt den Fokus. Es galt die Räuber zu vertreiben und nach allem, was sie sah, wusste und abschätzen konnte, waren ihre Chancen mit Thorin einfach höher als ohne ihn. So gesehen war es bemerkenswert, dass er sich nicht selbst der Räuberbande angeschlossen hatte… Am nächsten Tag zogen sie schon vor Morgendämmerung los und erreichten das Lauergebiet der Bande gegen Mittag. Früh genug, damit noch kein Hinterhalt aufgebaut worden war. Es erlaubte ihnen, sich umzusehen, die Gegend zu erkunden – einen eigenen Plan auszuhecken. Und als der Nachmittag kam und Skorina des Weges schritt, war ihre Überraschung das Ergebnis gründlicher Vorbereitung und guten Schauspiels, als erneut die Räuber hervortraten. „Du schon wieder“, maulte einer zu ihrer Linken, „Hast wohl noch nicht genug gehabt, was?“ „Vielleicht steht sie ja auf Schläge“, witzelte ein Zweiter zur Linken. „Was hast du heute dabei, hm? Wieder nur unnützen Mist? Vielleicht müssen wir wirklich langsam was in Zahlung nehmen. Du kannst dich nicht einfach immer um den Wegezoll drücken!“, amüsierte sich einer zu ihrer Rechten. „Ich gebe euch diese eine, letzte Möglichkeit“, hob Skorina mit fester, lauter Stimme an, „Zieht friedlich ab und lasst das Dorf in Ruhe, dann wird euch nichts geschehen.“ Gelächter aus zehn verschiedenen Kehlen. Diesmal war ziemlich eindeutig, dass sie über sie lachten. „Ich glaube kaum, Püppchen“, erwiderte der scheinbare Anführer der Truppe, als er sehr viel näher an sie herantrat. Wozu sich auch Sorgen machen? Seine Männer waren mit Kurzschwertern und Bögen bewaffnet, in soliden Lederrüstungen bewehrt. Sie könnte ihnen gar nichts. „Aber ich kann dir jetzt schon sagen: Wieder hierher zu kommen war ein großer, großer Fehler.“ Sie nickte. „Eure letzte Antwort?“ Wieder Gelächter. „Thorin, jetzt!“ Alarmiert sprang der Anführer sofort einen guten Satz zurück, während seine Männer sich umblickten. Einer von ihnen tat es zu spät. Der Kahlkopf hatte sich erfolgreich an ihn angeschlichen und… brach ihm unter einem wirklich widerwärtigen Geräusch schlicht das Genick, mit einem einzigen, heftigen Ruck. Er kam beim zweiten Räuber an, als die zwei verbliebenen Bogenschützen feuerten – auf den Räuber, den der frühere Söldner als lebenden Schutzschild vor sich hielt. Ein Pfeil durchschlug die Lunge und ließ ihn langsam röchelnd am eigenen Blut ersticken, während der andere sich irgendwo in seinen Magen bohrte. Der Krieger aber, der hinter ihm stand, ihn gepackt hielt, zog ihm langsam die Waffe aus den krampfenden Fingern. Was für ein bemerkenswerter Zufall, dass die Bande am gestrigen Tage erst einen Händler überfallen hatte, in dessen Fundus – und damit letztlich unter den gestohlenen Sachen – sich eine recht merkwürdige Kriegsaxt befand. Sie war irgendwann vor ein paar Wochen einmal verzecht worden. Seither war sie gestohlen, verloren, gefunden, verkauft, verspielt und erneut gefunden worden und damit binnen weniger Tage durch dutzende Hände geglitten, ehe sie hier gelandet war. Zurück in Thorins Hand. Den Angeschossenen achtlos zum Sterben zurücklassend, wehrte der Kahlkopf die nächsten zwei Schuss mit seinem Schild ab, ehe er diesen dem nahegelegenen Schützen entgegenschleuderte. Der Versuch, unter dem Wurf weg zu ducken, endete mit einem schmerzhaft klingenden Aufschlag der metallverstärkten Kante an der Stirn des Mannes – der unter einem Ächzen zu Boden ging und liegen blieb. „Thorin?!“, fluchte der Anführer der Bande – Sekunden, bevor die unangenehm wuchtig geworfene Axt sich mit dem Klingenblatt voran tief in seinen Brustkorb grub und ihn einen guten Meter fliegen ließ, ehe er leblos am Boden aufschlug. Das ließ den Kahlkopf, theoretisch, ohne Deckung. Ein Umstand, den der verbliebene Schütze sofort auszunutzen versuchte. Er feuerte – in den Baum, hinter dem der Krieger in Deckung gegangen war. Und ehe ein weiterer Pfeil seinen Weg auf die Sehne fand, hatte Skorina sich aus ihrer verblüfften Schreckstarre lösen und den Schützen schlicht umrennen können. Während sie ihn im Nahkampf beschäftigt hielt, bekam sie nur am Rande mit, wie der Hüne sich Schild und Axt zurückholte. Ab und an versuchte sie zu ihm zu spähen, ein paar Dinge zu sehen – natürlich nicht auf Risiko ihrer eigenen Deckung. Also manövrierte sie so, dass Thorin im Blick behalten eigentlich nur bedeutete, über die Schulter ihres eigenen Kontrahenten zu blicken. Just als der Kahlkopf einem das Knie eintrat und die damit einbrechende Deckung nutzte, um mit dem Schild ihm gegen das Gesicht zu donnern. Es war… erschreckend. Ein rundheraus grässlicher, erschreckender Anblick. Das alles hier. Sie hatte nicht länger das Gefühl bedauerlich gescheiterter Verhandlungen, die nun im unausweichlichen Kampf endeten. Sie hatte das Gefühl, ein Gemetzel anzurichten, indem sie Thorin Eichenschild von der Kette gelassen hatte. Einige Männer waren klug genug, ihre Chancen abzuschätzen und Hals über Kopf zu fliehen. Für den Schützen, der sie mit seinem Breitschwert beschäftigt hielt, kam jedoch ebenfalls alle Hilfe zu spät. Thorin war fertig und näherte sich von hinten. Er schlug ihm mit einem wuchtigen Überkopfschwung die Axt in den Schädel und als der Mann auf die Knie sank, die Augen sich im Schädel zurück rollten, wuchtete der Krieger seinen Stiefel gegen die Schulter des Sterbenden und riss die Axt mit einem widerlichen Schmatzen aus dessen Schädel. Sie hatte schon früher gekämpft. Hatte hässliche Wunden gesehen und, leider, auch verursacht. Aber das hier… diese… Gnadenlosigkeit und Brutalität, die all dem anhaftete… es drehte ihr beinahe den Magen um. „Wir hatten… wir hatten gesagt… du solltest einen gefangen nehmen…!“, krächzte sie zwischen dem Bemühen heraus, nicht zu würgen. „Der Kerl, den du hier aufgehalten hast und deren Anführer? Ich kannte die zwei. Sie waren auf dem Auftrag dabei, von dem ich dir erzählte“, erwiderte Thorin kaum außer Atem, „Die beiden hätte ich niemals lebend davonkommen lassen. Sobald Blut fließt, verteidigt sich der Rest oder flieht. Und die, die sich hierauf eingelassen haben… Räuber, Söldner, Abenteurer – sterben ist Berufsrisiko.“ Nur langsam nickte sie. Es fiel ihr noch immer schwer, den Umfang der Situation zu erfassen, die Bedeutung. Sie hatten sich um die Räuber gekümmert. Die würden dieses Dorf ganz sicher nie wieder belästigen. Und… und vielleicht würden die Geflohenen ja ein Einsehen haben, wie gefährlich so etwas war und sich ehrlicheren, aufrichtigeren Lebenspfaden zuwenden? Sie… sie konnte zumindest darauf hoffen, nicht? Sorgfältig und wider ihres Impulses, von hier zu verschwinden, blickte sie sich um. Sechs von zehn waren tot. Ob sie Familien gehabt hatten? Münzen wuschen nicht an Büschen am Straßenrand… aber es gab andere Wege, nicht? Bessere. Ehrlichere. Nur während das Blut langsam an ihrer Schuhsohle haftend auskühlte, war es irgendwie so viel schwerer, zu glauben, was sie sich zu glauben wünschte. Und Skorina begann allmählich zu begreifen, was es heißen würde, mit Thorin Eichenschild zu reisen. Sie stand am Scheideweg. Sie konnte noch versuchen, mit ihm zu reden. Ihn zu bitten, dass er sie aus dem Versprechen entließ. Sie hielt ihn für vernünftig, vermutlich würde er es zulassen. Ignorieren, dass sie sich durch ihr eigenes Wort gebunden hatte. Oder sie folgte diesem Weg weiter. Lernte von ihm, was immer sie lernen konnte. Wie oft war sie auf ihrer Reise schon Missständen begegnet, gegen die sie machtlos war? Wie oft schon hatte sie kauern und verhandeln und Kompromisse schließen müssen, müssen, wo eine starke Hand besser gewesen wäre? Eine Waffe war das Mittel der Armen, so hatte sie einst gehört. Aber eine Waffe konnte zum Guten geführt werden! Eine Waffe war nur ein Werkzeug und wer sie führte, wozu er sie führte, entschied letztlich über das Gewicht der Taten. Sie stand am Scheideweg… und er war blutig…   Ein Jahr später. Eine gewaltige, zornig fauchende Sphäre aus Flammen schoss an der Felsspalte vorbei, in die sie sich gerade noch rechtzeitig hatte hineinflüchten können. „Brillant, Thorin, wirklich brillant!“, fluchte sie und lud hastig ihre Armbrust nach. „Ich weiß nicht, was du meinst“, merkte der Krieger unglaubwürdig unschuldigen Tonfalls an und stürmte an ihrer Spalte vorbei, den Schild gehoben, den Hügel hinauf. „Scheiße“, fluchte sie leise, jagte aus ihrem Versteck und der Figur des Hünen hinterher. „Lass uns nach Akkara gehen, Sierra! Da gibt es hübsche Gegenden, Sierra! Da ist die Auftragslage gut, Sierra!“, imitierte sie so sarkastisch wie ihr nur möglich war den Tonfall Thorins. Der… daraufhin mitten in der Erstürmung des verdammten Hügels stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. „Hey, wenn’s dir nicht passt, sag es mir ins Gesicht!“, forderte der Krieger abrupt. „Das ist der beschissenste Zeitpunkt, den du dir hättest aussuchen können, um jetzt rumzuzicken, alter Mann!“, fauchte sie ihm entgegen. Tatsächlich sah sie die Ordensmagier auf der Hügelspitze neue Geschosse feuern. „Vorsicht!“ Ihrer Anweisung folgend, packte Thorin Sierra und zog sie, seinen Schild ziehend, hinter sich in Deckung. Irgendetwas prallte mit viel Wucht gegen das Holz. Ein feiner Regen aus Kälte zerstäubte über ihren Köpfen und für eine Schrecksekunde hielten beide den Atem an, ehe sie sich wagten, die Augen wieder zu öffnen. Um sie herum war alles… … zugefroren. Das Gras konnte man abbrechen. Sein Schild war spröde und brüchig geworden. Und schmerzhaft kalt, dass er ihn abwarf. Der gesamte Hügel, die Stalagniten aus früheren Angriffen, einfach alles war plötzlich von Eis überzogen. Es schneite auch leicht. Und die sonst so warme Sonne Akkaras konnte nichts an den rapide sinkenden Temperaturen ändern. „Ich hasse Akkara! Akkara ist scheiße! Das hier ist die reinste Hölle!“, fluchte sie einem weiteren Feuerball ausweichend, während Thorin ebenfalls wieder vorrückte. Unter beständigem Fluchen und gegenseitigem Anschreien und Vorwürfe machen konnten sie schließlich trotz der nunmehr sehr kalten und rutschigen Steigung die Hügelspitze erstreiten und dem Kampf ein vorläufiges Ende versetzen. Sie sahen davon ab, die zwei Magier zu töten – das hätte ihnen schnell den Unbill des gesamten Ordens eingebracht. Aber es war eine Genugtuung, die feinen Herrschaften bewusstlos zu schlagen, sie mit ihren prächtigen Roben in den Dreck fallen zu lassen, wie ein Spanferkel zu verschnüren und ihre ach so kostbaren Zauberstäbe zu zerbrechen. Sie setzten sich. Atmeten durch. Sierra trug ein wenig der Brandsalbe auf die Stellen, an denen die gelegentlichen Feuerzauber sie erwischt hatten. Thorin… Thorin konnte sich selbst drum kümmern. Verdammter Hornochse. Sie war noch immer reichlich gereizt, als der Hüne plötzlich schallend zu lachen begann. Mehrere Minuten bekam er sich nicht mehr ein und sie rätselte aufrichtig, ob sie ihm wütend sein sollte, verschob das jedoch, bis er sich hatte erklären können. Häufig wusste er es ja tatsächlich besser. Leider. „Was war so witzig?“, hakte sie nach, als er ein paar Tränen wegwischend sich das Zwerchfell hielt. „Akkara ist die Hölle!“, gab er breit grinsend zurück. „Ja… und?“ Sei verstand einfach nicht, worauf er mit diesem Unsinn jetzt hinaus wollte. Akkara hatte seine schönen Seiten, Gegenden, Landschaften, natürlich, nur… ihm musste klar sein, das ein Großteil dessen, was sie sich zugeworfen hatten, nicht ernst gemeint gewesen war, oder nicht? Das taten sie, um sich gegenseitig anzustacheln. Wie sonst auch…? Er deutete jedoch den Hang herab. „Überall Eis.“ „Ja~…?“ „Die Hölle ist gerade zugefroren.“ Sie nickte langsam. Das ließ sich vermutlich so sagen, nur- Und dann begriff sie. Mit einem Schlag. Es war nur so… so völlig… absurd. Doch ein Jahr mit Thorin Eichenschild war ein Jahr, das man sehr… extrem zu brachte. Sie kannte ihn inzwischen zumindest ein klein wenig. Konnte dann und wann erahnen, wie er dachte. In welchen Bahnen er dachte. Und das hier, das war einfach nur… „Ich schlafe mit dir an dem Tag, an dem die Hölle zufriert…“, gab sie leise von sich, was sie ein Jahr zuvor bei ihrer ersten Begegnung irgendwann einmal gesagt hatte. Und der Hüne nickte. Wie selbstverständlich. Und grinste das dämlichste, breiteste Grinsen, das sie seit langem auf seinem verdammten Gesicht gesehen hatte. Sie hätte ihn dafür schlagen wollen. Eine richtige Maulschelle, das man das Echo des Klatschens noch in ein paar Meilen hören würde! Zugegeben, der Drang, über ihn herzufallen war mit einem Mal auch wieder da und rang um Aufmerksamkeit. Aber das war irgendwie ein Effekt, den Thorin ständig hatte. Auf viele Leute. Man wollte ihm wirklich, wirklich wehtun. Und ihm näher kommen. Im Idealfall beides. „… du… du hast mich aber nicht extra nach Akkara geschleppt, nur weil du hofftest, das sich irgendein zur Eismagie fähiger Idiot  finden würde, der uns den Tag so sehr vermiest, das ich ihn als ‚die Hölle‘ bezeichne… oder…?“ Das war irrsinnig. Völlig abwegig. Thorin konnte unmöglich wissen, dass das passieren würde. Dann wiederum – er konnte es hoffen und provozieren, nicht wahr? Er konnte darauf spekulieren und seine diesbezüglichen Chancen verbessern. Zum Beispiel, indem sie nach Akkara gingen. In die Hochburg der Ordensmagier. Die üblicherweise wenig Geduld hatten, mächtig waren, häufig versiert in den sehr offensivlastigen Zauberschulen. Und die leicht reizbar waren. Gerade und insbesondere von einem Thorin Eichenschild, der diesen Effekt zwar auf generell alles und jeden zu haben schien, insbesondere aber wohl auf Adlige und, wie sie sie inzwischen gelegentlich nannte, Adelsähnliche. Und da war es wieder. Dieses verdammte Grinsen, das man ihm einfach nur aus dem Gesicht wischen wollte! Auf die eine oder andere Weise…   Zurück in der Gegenwart. Sierra war einen langen, langen Moment weggetreten, hatte gelächelt, gegrinst, geschmunzelt, geschnaubt. Schließlich schüttelte sie den Kopf und blickte zu einer sehr neugierig dreinschauenden Ninafer und einer zwar verwirrten, aber ebenso neugierigen Ishara auf. Ein letztes Mal schnaubte sie amüsiert, ehe sie sich bequemer hinsetzte. „Also gut, die wahre Geschichte, wie wir uns kennenlernten“, begann sie und Ishara war sofort wie gebannt, „Alles begann damals in Ceryddwin, als dieser Schattendrache die Stadt angriff…“ Mit einem wissenden, verstehenden Schmunzeln lehnte sich Ninafer in ihrem Stuhl zurück und genoss die seichte Unterhaltung, die über sie hinweg spülte. Und Sierra, Sierra genoss es, diese Unterhaltung zu bieten. Die Geschichte zu erzählen und zu schauen, ganz in Thorins Manier, wie viel Absurdität sie hineinpacken konnte, ehe selbst die Belastbarkeitsgrenzen von Isharas Fantasie erreicht waren. Oh wie sehr hatte sie diese Nachmittage zu schätzen gelernt. Die Treffen bei Gebäck und gutem Tee, mit einem Buch einfach beisammen sitzen, dann und wann etwas erzählen oder wie heute, an denen der ganze Nachmittag und gute Teile des Abends einer einzelnen Geschichte gewidmet waren.   Wenn dieser Hornochse nur irgendwann aufgehört hätte, sie mit ‚kleine Lady‘ aufzuziehen…! Kapitel 52: Die Schlangengrube von Sûr Waslin --------------------------------------------- Eine Woche war es noch. Wenn es nach Sierra ging, hätten diese sieben Tage gut und gerne schneller vorbeiziehen können, als sie es am Ende tatsächlich taten. Und wenn es nach Sierra gegangen wäre, dann hätte sie auch mit weit weniger Drama gut leben können. Mit weniger Verschwörungen und weniger Attentaten und weniger Intrigen. Dabei war diese eine Woche an Vorbereitungen noch eine recht harmlose Zeit, ein schaler Vorgeschmack auf das Kommende. Eine Woche bis Thorin Wyrmblut eintreffen würde, rechtmäßiger König von Lumiél, mit seiner Braut und seiner Tochter. Nicht eigen Fleisch und Blut, aber gewählt und vor dem Recht und Gesetz als solche akzeptiert. Eine Woche, bis auch ein Vertreter der entfernten Verwandtschaft seiner Liebsten eintreffen würde. Illias Saeryleth war ein Botschafter und kam in solcher Funktion. Gut und lange war auf diesen Zeitpunkt zugearbeitet worden. Und kritisch war er obendrein. Seit dem Sturz der Krone war nahezu allen mit genug Grips klar, dass Lumiél die Wölfe vor den Toren nicht ewig mit wildem Gefuchtel und einem beherzt ergriffenen Stock würde auf Abstand halten können. Was es brauchte, waren Verbündete. Und Ceryddwin war die unweigerliche erste Wahl. Eine Woche, bis ein brisantes Zusammenkommen in jener restaurierten Festung an der Ostküste Lumiéls stattfinden würde. Sie rechneten mit Ärger. Mit Widerstand. Mit Unterwanderung. Deshalb war das Kontingent an Soldaten so groß – um zu gewährleisten, dass immer genug Augen und Ohren da waren, um einzugreifen. Um einander auf die Finger zu schauen. Um dem Hofstaat auf die Finger zu schauen. Ihr war die Handhabe übertragen worden. Das vorläufige Kommando über Sûr Waslin. Über die Bediensteten darin. Über die ersten, eingetroffenen Gäste. Über die Soldaten. Über das Prozedere. Und damit, unweigerlich, auch über die ersten Gefangenen. Denn keine zwei Tage hatte es benötigt, bis sie eine Gruppe Zwerge aufgriffen, die sich in die Stollen unter der Feste hinein zu buddeln versucht hatte. Angeführt von zwei Männern, die bei der Restauration geholfen hatten, spien sie zwergische Flüche und Verwünschungen, predigten voller blindem Zorn von der falschen Krone und dem unweigerlichen Verrat durch schwaches Menschenvolk, von der Herrlichkeit ihrer Krone, von deren Bestand, von-… nun, noch jeder Menge anderem Unsinn. Es war der dritte Tag, früh am Morgen, als Sierra die Augen aufschlug. Sie hatte gehofft, der letzte Teil sei ein nicht völlig verwehter Fetzen aus ihren sich verflüchtigenden Träumen gewesen, doch nein – es klopfte erneut. „Ihr Götter habt Gnade mit der armen Seele, die da klopft…“, murrte sie verdrossen, schlüpfte jedoch zügig aus dem Bett und trat zur Tür. Das Schwert stand direkt daneben griffbereit. Sie wischte sich kurz über Haare und Gesicht, schüttelte den Kopf, um auch die letzten Reste der Schläfrigkeit und Benommenheit zu vertreiben, ehe sie öffnete. Es hätte schließlich wichtig sein können. Stattdessen stand dort der Bibliothekar. Und dieser Anblick entlockte ihr ein tiefes Seufzen. „Was gibt es?“ Sie stellte die Frage in dem vollen Bewusstsein, dass es eine gute Weile dauern könnte, die tatsächliche Antwort von all den irreführenden, wenn auch gutgemeinten Erklärungen zu trennen. Fehr Walther war ein Abschiedsgeschenk der zwergischen Arbeitermannschaft gewesen. Als Respektsbezeugung des zwergischen Volkes an Thorin und seine Regentschaft, möge er lange leben und weise regieren. Der Name allein war ein Witz. Und auch, wenn dieses Uhrwerk-Konstrukt einen eigenen Verstand besaß und ohne jeden Zweifel nützlich über alle Maßen war, empfand Sierra ihn als ungemein… anstrengend. Nicht nur, dass der Name ein eindeutig schlechter Witz seitens besagter Zwerge sein musste – wie sein Verstand funktionierte, war ihr obendrein ein Rätsel. Seinen Gedankengängen ließ sich schwer folgen und die Sprünge darin waren teilweise der Rede nicht wert oder größer als die Kluft zwischen Varakas und Kaderalith. Also stand sie dort und lauschte. Eine volle, geschlagene Stunde. Irgendein Problem hatte sich wohl bei der Sortierung der Bibliothek ergeben. Ein grundsätzliches Hindernis, das in Zusammenhang mit mehrsprachigen Texten stand. War Xoltans Handbuch für Edelsteine aller Art nun bei den Werken der Allgemeinsprache einzuordnen, oder genügte der immerhin neunundvierzig Prozent große Anteil an zwergischen Passagen und Zitaten, um es der zwergischen Literatur zuzuschreiben? Oder sollte man einfach eine Kreuzsektion einrichten? Die wäre dann aber bislang, mit Ausnahme dieses einen Werkes, ziemlich leer. Gäbe man dieser Sektion also ein eigenes Regal? Doch das wäre Platzverschwendung. Wieso also nicht das Regal auffüllen – aber wie dann deutlich machen, dass dieses eine Werk eine eigene Sektion darstellte? Er hätte sie vermutlich in den Wahnsinn treiben können. Und es wäre ihm vermutlich auch geglückt. Vermutlich. Glücklicherweise jedoch wurde Sierra kurz darauf gerettet. „Heinrich! Den Göttern sei Dank“, seufzte Sierra erleichtert, als sie den Mann gewohnt militärischen Stechschrittes um die Ecke biegen sah. Hier oben gab es nicht viele Räume außer ihrem und jener war der einzige, der gegenwärtig Nutzung sah. Er konnte also nur zu ihr wollen. Fehr Walther hob leicht die Braue. Ob er ihren Ton und die wenig subtile Aussage richtig deutete, überhaupt richtig deuten konnte, war ihr unklar. Sie wollte ihn auch eigentlich wirklich nicht vor den Kopf stoßen und würde sich sicherlich bei ihm entschuldigen. Irgendwann später. Aber hier und jetzt war sie einfach nur unglaublich froh, gerettet worden zu sein. Der Angesprochene dagegen trat unbeirrt näher, ein nunmehr etwas breiteres Lächeln auf den Lippen, verständig im Angesicht ihrer Gesellschaft. „Meister Walther, wie immer ein Vergnügen“, grüßte er mit tiefer Stimme seinen Konkurrenten um Sierras Aufmerksamkeit, ehe er sich ihr selbst zuwandte. „Du hast fünf Minuten, um dich fertig zu machen.“ Sierra stockte. Er war gut gelaunt. Er trug seine Plattenrüstung, wie es sich gehörte, sobald er wach war. Denn sobald er wach war, war er im Dienst. Warum aber- „Wir warten unten seit einer Weile auf dich“, schob er nach, als sich ihre Verwirrung offenbar auf ihrem Gesicht wiederspiegelte. Das war der Moment, an dem es in Sierras Kopf klickte und sie das Gesicht verzog. Ihre überaus spannende Konversation mit Fehr Walther über die zahllosen Komplikationen einer guten Bibliothekssortierung hatten sie schlicht vergessen lassen, dass es durchaus einen Tagesplan gab, der auch anderen mitgeteilt worden war und deshalb nicht die Güte besaß, ihre Ablenkung zu ignorieren oder einfach ein wenig zu warten. Illias mochte erst in vier bis fünf Tagen ankommen. Doch Thorin hatte an Stricken gezupft und Einfluss geltend gemacht, oder es zumindest versucht. Und deshalb würden die Verhandlungen in Anwesenheit eines neutralen Beobachters geführt werden. Eines Beobachters aus Ulthwe selbstredend – und zweifellos ein kluger Schachzug zur Vorbereitung auf das nächste Bündnis. Mit all den neuen Verpflichtungen, die in den letzten Wochen und Monaten auf die eingestürzt waren, hatte sie sich schlicht nicht danach erkundigen können. „Sag mir bitte, dass der Botschafter noch nicht da ist“, meinte sie leise. Sie bettelte nicht, nein. Sie war ruhig, beherrscht, gefasst. Die etwas quengeligere Tonart hob sie sich für die Privatsphäre ihres Kopfes auf, wo sie in aller Ruhe fluchen und zetern konnte, unbemerkt und ohne Schäden für ihr Ansehen. „Der Botschafter ist noch nicht da“, wiederholte Heinrich beflissentlich. Sierra atmete erleichtert auf, was ihn dazu brachte, nachzusetzen: „Alle anderen jedoch schon und der Botschafter ist mitsamt seiner Eskorte bereits gesichtet worden. Deshalb gab ich dir fünf Minuten. Jetzt hast du noch drei.“ Sierra nickte in Gedanken. Was musste sie noch erledigen? Sich waschen wäre ein guter Anfang. Und etwas anderes als das Nachthemd anziehen. Vielleicht auch- Abrupt stockten ihre Überlegungen, sie bekam große Augen und musterte den Soldaten. Hastig folgte ein Nicken und die Tür wurde zugeworfen. Sie hätte schwören können, ein Kichern zu hören, gedämpft durch schweres Eichenholz, aber das konnte nicht sein, musste einfach eine Einbildung sein. Heinrich war zu geradlinig, dienstbeflissentlich und generell beherrscht, um jetzt die Kontrolle zu verlieren. Und Fehr Walther wusste vermutlich nicht einmal, wozu dieses Geräusch gut sein sollte. Er hatte eine komplette Bibliothek in seinem Kopf, einen unvorstellbaren Wissensschatz, den er jederzeit zitieren konnte – aber ihm fehlte so viel Erfahrung mit Zwischenmenschlichkeit, dass es gelegentlich schmerzte, es zu bemerken. Nun angemessen vorgewarnt, jagte Sierra im Eiltempo durch ihr Zimmer. Eine Garderobe wurde in aller Windeseile zusammengestellt, indem sie farblich passend scheinende Fetzen aufs Bett warf, gleichzeitig ihre Rüstung hervor wühlte, sich die Zähne putzte und eine Schüssel mit Wasser volllaufen ließ. Katzenwäsche würde für den Moment genügen müssen. Sie schlüpfte in ihre Kleider, warf die Rüstung nur über und trat das Schwert greifend wieder an die Tür. „Fertig!“, erklärte sie stolz. Damit brachte sie Heinrich tatsächlich zum Schmunzeln. Leider nur innerlich, aber sie konnte das verräterische Zucken seiner Mundwinkel genau sehen. Nach außen nickte er ihr einfach nur zu. Der Bibliothekar zumindest war immerhin schon verschwunden. Vermutlich, nachdem man ihm erklärt hatte, weshalb Sierra schlicht keine Zeit mehr haben würde, zumindest nicht hier und jetzt oder irgendwann sonst heute. „Du hast mir das Leben gerettet“, seufzte Sierra leise auf dem Weg nach unten. „Heißt das, ich werde befördert?“, ließ Heinrich sich zu einem seltenen Scherz hinreißen. „Wenn’s nach mir geht? Klar. Lebensretter sollten belohnt werden. Aber ich fürchte, dafür steckst du im falschen Heer.“ Er seufzte theatralisch. „Ich könnte aufhören, mir die Nägel zu feilen. Dann hätte ich Klauen. Wäre das ausreichend für eine Verlegung zu deinen Truppen?“ Sie grinste schief, schüttelte aber den Kopf. Er ließ sich noch ein, zwei interessante andere Ansätze einfallen, wie ein Wechsel möglich wäre, ehe er ernster wurde, seine Haltung – wie war das überhaupt möglich?! – noch ein wenig mehr straffte und sie ernst und wichtig und ehrbar in die Halle traten, sie mit zügigem, aber nicht hastigem Schritt durchmaßen und sich dem Tor Sûr Waslins näherten. An sich, so erwog sie, wäre ein Wechsel für ihn nicht einmal unmöglich. Im Gegenteil. Sie bezweifelte, dass Thorin ihm verwehren würde, seinen Wünschen und Träumen zu folgen. Aber Heinrich war ein Mensch. Viel menschlicher konnte man nicht geraten. Er war jung, enthusiastisch, motiviert. Ungeduldig in den Augen anderer, zweifellos. Er war in kürzester Zeit durch die Ränge gestürmt. Er gab sich als ernster, pflichtbewusster Mann, solange er die Rüstung trug. Außerhalb derer war er umgänglich. Scherzte, mochte gute Musik und einen Braten so sehr wie jeder andere Soldat, saß mit ihnen beisammen und speiste, erzählte Witze und lachte über die anderer. Ein guter Mann. Gesellig. Er hätte vermutlich einige Anpassungsschwierigkeiten unter ihren Leuten. Nicht, das Harpyien nicht ebenfalls gesellig waren, nur… anders. Vor allem mit Männern. Einige der Drow würden ihm vermutlich misstrauen und auch, wenn sie das – nach ihren Maßstäben – rasch überwinden würden, wäre er dann möglicherweise schon ein Greis. Ganz zu schweigen davon, dass schwer absehbar war, was die Tieflinge davon halten würden, wenn sich nun plötzlich ein Mensch in ihre Hierarchie drängte. Sie seufzte. Es gab immer noch viel Arbeit. So viel zu tun. So viel zu überwinden. Kluften zu überbrücken. Sie hatten diese Prozesse vor Jahren begonnen – doch im Angesicht des monumentalen Werkes, das sie da zu verrichten gedachten, brauchten sie, sie alle, enorme Geduld. Solcherlei Brücken spannte man nicht in kurzer Zeit. Man ließ sie wachsen, über Jahre und Jahrzehnte, über Generationen hinweg, genährt von fortwährenden Bemühungen. Irgendwann einmal würde der Tag kommen, an dem jemand wie Heinrich völlig mühelos und ohne Bedenken – von keiner der zwei involvierten Seiten – seinen Bereich würde wechseln können. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich der Soldat an ihrer Seite. Offenbar hatte er ihr Seufzen bemerkt. Oder das Regenwetter-Gesicht. „Schon gut“, erwiderte sie. Die Eskorte war sichtbar und jetzt damit ein schlechter Zeitpunkt. Vielleicht würde sie irgendwann später mit ihm reden. Seine Meinung dazu einholen. Wie er die Dinge sah. Ändern würde das selbstverständlich nicht das Geringste, aber die Sicht von außen war dennoch wertvoll. Konnte regelrecht beruhigend wirken. Schließlich kam der Botschafter Ulthwes mitsamt seiner Eskorte vor ihnen zum Stehen. Und Sierra bemühte sich erfolgreich, ihre Überraschung zu verbergen: Sie hatten einen Tiefling geschickt. Ulthwe war bekannt dafür, mit Standards zu brechen. Sie hatten schließlich auch mit ihrer Akzeptanz für den Zirkel und dessen Praktiken gebrochen. Das erste und noch immer strahlendste Beispiel erfolgreichen Widerstandes gegen eine schier unüberwindlich wirkende Weltmacht. Die Völker Ulthwes kooperierten wie sonst kaum irgendwo auf der Welt, um ihre Nation aufrecht zu erhalten im Angesicht des Drucks, den der Zirkel auszuüben versuchte. Aber… ihr war neu gewesen, dass es einen Tiefling im Rang eines Botschafters überhaupt gab. Eben jener Mann stieg von seinem Pferd ab, nachdem er dem Rest Halt bedeutet hatte. Dass er mit seinen zwei an den individuelleren Rüstungen und der uneinheitlichen Bewaffnung leicht identifizierbaren Leibwächtern an der Spitze des Zuges ritt, war ein angenehmer Bonus für die ohnehin bislang positive Überraschung. Jemand, der sich nicht scheute, Dinge anzugehen und sich Problemen selbst zu stellen, statt sich hinter einem Schild seiner Landsleute zu verstecken. „Botschafter, es ist mir eine Ehre, euch in Sûr Waslin und, in Erweiterung, Lumiél willkommen zu heißen“, eröffnete Sierra – und stutzte, als er die Hand hob. „Sierra, nicht wahr?“, erklang die tiefe, raue Stimme. Kleine, dornartige Auswüchse – aus Knochen, vermutete sie – zogen sich als Verlängerung seines Kinns von seinem Kiefer fort. Seine Haut war von einem dunklen, rotbräunlichen Ton. Die Augen golden durch und durch, mit regelrecht leuchtend scheinenden Pupillen. Kurzes, schwarzes Haar und Hörner, die sich seinen Schädel entlang zogen und am Hinterkopf abstanden. Ein markantes Gesicht, das man so schnell nicht vergaß. Dazu eine durchaus trainierte, beeindruckende Statur – auch wenn er längst nicht der Größte war, konnte er so zweifellos dennoch Eindruck schinden. Sie nickte, wartete ab. Er hatte mit den Formalitäten gebrochen – er würde sich sicherlich etwas dabei gedacht haben. „Salcas Nephris. Aber das wusstet ihr natürlich längst, nicht wahr? Bitte, wir können uns die Titel sparen. Ich bin nicht als Botschafter hier, sondern als neutraler Beobachter. Das heißt, für mich zumindest, dass ich für die Dauer meines Aufenthaltes hier einfach nur Salcas für euch bin. Dies sind meine Leibwächter, Gerard Liranza und Marco Vannis. Der Mann dort hinten, mit der hübschen blauen Feder am Helm, ist Kommandant Blaigt.“ Sierra nickte und musterte die angesprochenen und angedeuteten Männer. Zum Zwecke der Verhandlungen hatte Thorin eine kleinere Garnison an Männern abgestellt, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Dieser Umstand war einem Zugeständnis an Ceryddwin und Ulthwe geschuldet – jeder von ihnen brachte eine eigene Schar Soldaten mit, um die Wehrmauern zu besetzen. Ein Zeichen des Vertrauens und der Kooperation. Drei Nationen, deren Soldaten sich das Feuer und die Betten teilten. Etwas, das Heinrich die ganze Zeit nervös gemacht hatte und es noch immer tat, auch wenn er sich das natürlich nach Vermögen nicht anmerken ließ. Sierra erwog einen Moment ihre Optionen. Dieser Mann wollte auf Formalitäten verzichten? Er wollte als Salcas Nephris, Bürger Ulthwes, behandelt werden? Ihr war das nur allzu recht. „Das ist Kommandant Floranson“, erwiderte sie zunächst, reihte sich derweil neben Salcas ein und setzte sich in Bewegung. Sehr zu Heinrichs Horror. Das war gegen das Protokoll, das war… schwierig zu überwachen und schwierig zu händeln. Was galt es für ihn nun zu tun? Sich einfach ebenfalls neben ihr einreihen und den Soldaten Ulthwes den Rücken zudrehen? Er misstraute ja nicht einmal Ulthwes Absichten generell. Er war für die Sicherheit der Festung verantwortlich, von innen und außen. Es hatte bereits Übergriffe gegeben. Und es brauchte nur einen Mann in Botschafter Nephris‘ Gefolge, um die Verhandlungen schnell in eine blutigere Richtung laufen zu lassen… „Es ist in Ordnung“, durchbrach Sierras mahnende Stimme seine Gedanken, „Wir bringen das Willkommen noch zu Ende und dann werde ich Bo-… Salcas erst einmal sein Zimmer zeigen.“ Heinrich verzog das Gesicht nur minimal, nickte jedoch. Sierra war letztlich trotz allem seine Vorgesetzte. Ihr Wort galt und es oblag ihrer Verantwortung, solche Entscheidungen zu treffen. Auch wenn er Bauchschmerzen angesichts der Möglichkeiten hatte, wie all das schief gehen könnte. Die Eskorte setzte sich daraufhin mit Sierra und Salcas an der Spitze im Schritttempo wieder in Bewegung. Sie passierten die Brücke und das Tor. Wie zuvor angeordnet, hatten die Bediensteten im Hof Aufstellung bezogen. Einschließlich der bisher eingetroffenen Gäste. Das Küchenpersonal, der Stallbursche, die Mägde, ein Alchemist, ein Barde, ein Bibliothekar und eine Reihe Soldaten. Die Männer Ulthwes entfernten ihre Helme, damit beide Seiten einander ebenwürdig waren, sahen, sich einprägen konnten. „Kommandant Floranson?“ Der Angesprochene stand direkt noch ein klein wenig strammer als ohnehin schon. Das tat er immer, wenn er mit vollem Titel angesprochen wurde. Ein üblicherweise amüsanter Effekt, den sie gelegentlich nutzte, ihn ein klein wenig aufzuziehen. Diesmal war dafür jedoch kein Raum. „Sprecht euch mit Kommandant Blaigt ab. Erklärt ihm den Aufbau, führt ihn herum, besprecht die Unterbringung und Wachroutine. Ich erwarte, dass binnen einer Stunde alle Posten wieder besetzt sind und es keinerlei Zwischenfälle gibt.“ „Jawohl“, schoss der prompt zurück und trat in Richtung des Zuges ab. „Ein guter Mann“, kommentierte Salcas ernst. „Einer unserer Besten“, erwiderte Sierra durchaus mit einem gewissen Stolz. Als Heinrich erstmals seinen Willen verkündet hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, hatte man ihn scherzhaft damit aufgezogen, dass der aktuelle Regent doch eigentlich gar nicht so übel sei und man keine neue Revolution brauche. Ein deutlich jüngerer Heinrich, ernster und ungestümer, hatte getobt und gewütet und geschrien. Dass das keine witzige Sache sei. Dass das Land verletzlich sei. Ob er überhaupt gewusst, überhaupt wirklich begriffen hatte, was er da um sich warf? Dieser Tage tat er das zweifellos und sah die Dinge in einem anderen Licht, auch wenn sich an seiner Entschlossenheit nichts geändert hatte. Er trug die Rüstung mit Stolz und demonstrierte, wozu Lumiéls Volk fähig war. Was für gute, große Männer es hervorbringen konnte. Zumindest befand Sierra das.   Die Führung begann natürlich im Innenhof. Ein kleiner Durchgang, überwuchert mit Beerengestrüpp, in direkter Nähe zu Stall und Hühnerverschlag. Ein Teich, unmittelbar neben dem Brunnen, überschattet von einem riesigen Apfelbaum. Die Soldaten machten sich einen Spaß daraus, abends am Lagerfeuer zu prüfen, wer sich die beste Geschichte dazu ausdenken konnte, wie dieser Baum wohl entstanden sei. Sierra tippte zwar nach wie vor darauf, dass irgendeine Räuberbande sich zwischenzeitlich hier eingenistet hatte, wie es bei den anderen großen Festungen Lumiéls auch früher oder später der Fall gewesen war, doch sie hatte selbstverständlich auch weit bessere Geschichten auf Lager als das. Bis hin zu göttlicher Einmischung Phylias. Die hatten die Männer durchaus gemocht… Sie führte Salcas zunächst durch die Anlage, zeigte ihm den Küchentrakt, die Unterkünfte, Wehrgänge und Waffenkammern. Die kleine Rundschau endete schließlich im Hauptgebäude auf der zweithöchsten Ebene. „Hinter dieser Tür befindet sich das Quartier für Botschafter Saeryleth und seine Assistenz. Seine Leibgarde schläft hier im Vorraum. Die Tür dort drüben führt in euer Gemach. Es ist ein Raum angeschlossen, den wir als Kammer für eure Leibwache hergerichtet haben. Ich hoffe, das ist euch genehm?“ „Eine beeindruckende Burg“, erwiderte Salcas zunächst der Frage ausweichend, „Man sieht hier und da noch die Spuren des Alters, aber ihr habt sie gut und zügig wieder auf Vordermann gebracht. Ich frage mich, ob das nur für diesen Anlass geschehen sein mag, oder ob es noch andere Beweggründe dafür gibt.“ Sierra zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, dazu werdet ihr meinen König befragen müssen, sobald er eintrifft. Ich habe eine Menge eigener Aufgaben und das zählt zu den Details, die mich angesichts derer nicht übermäßig interessiert haben.“ Er nickte. „Selbstredend. Und macht euch der Unterkünfte wegen keine Sorge, ich habe schon weit schlimmer hausiert.“ „Gut. Dann gebe ich euch eine Weile, euch einzufinden. Ich lasse euch dann zum Abendmahl abholen“, erwiderte sie und ging in Gedanken bereits durch, was es noch alles zu erledigen galt. „Mittagessen“, erwiderte er unbeeindruckt. „Wie bitte?“ Verdutzt sah sie auf, ihre Gedanken ins Chaos gestürzt. „Ich würde vorziehen, zunächst nur meine Sachen abzulegen und mich freuen, falls ihr mir weiterhin Gesellschaft leisten könntet. Falls eure Verpflichtungen in der Feste das verhindern, kann ich das selbstverständlich verstehen. Wir könnten zu Mittag essen.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen und spiegelte sich nach kurzer Weile auf ihren. Nochmals prüfte sie in Gedanken ihren Tagesplan und all die Dinge, die darauf warteten, erledigt zu werden. Nichts davon war tatsächlich dringlich und sie hieß die Gelegenheit stets willkommen, mit einem der Ihren zu reden. Erst recht, wenn er es irgendwie auf mysteriöse Weise geschafft hatte, sich nicht nur ihrer Kenntnis zu entziehen, sondern auch in einem von Krieg gebeutelten Land sich eine Führungsposition zu erarbeiten. „Sehr gern.“   Eine Stunde später saßen sie tatsächlich im Speisesaal beisammen. In der oberen Ebene davon, die seltener von den Soldaten genutzt wurde. Die zwei Leibwächter Salcas‘ hielten sich an einem anderen Tisch etwas auf Abstand, während Sierra schlicht auf Leibgarde verzichtete. Sie war mehr als fähig, sich ihrer Haut zu erwehren und dies war noch immer der Grund und Boden Lumiéls. Hier, in der eigenen Festung, mit Garde zu laufen hätte das falsche Signal senden können. „Sierra.“ Es klang, als würde er den Namen in Gedanken in verschiedenen Betonungen durchgehen, als würde er ihn kosten wie einen guten Wein. „Kein Nachname?“ „Keiner, den ich gegenwärtig zu teilen wünsche, mit Verlaub“, erwiderte sie mit einem Lächeln. Er nickte und nahm ihre diesbezügliche Zurückhaltung hin. „Natürlich. Ich habe selbst eine Weile gebraucht, mit mir und meinem Namen ins Reine zu kommen. Aber wenn man Ämter wie das meine ansteuert ist es schwieriger, sich ohne einen Familiennamen durchschlagen zu wollen.“ „Dahingehend sind Revolutionen vermutlich praktisch. So viel weniger Formalitäten“, erwiderte sie den Grund und Boden prüfend, auf dem sie stand. Und  tatsächlich schmunzelte er, sehr zu ihrer Erleichterung. Ein ernster und respektabler Mann war eine Sache. Aber die nächsten Tage hätten sehr viel anstrengender werden können, hätte er nicht wenigstens ein Grundmaß an Humor besessen. „Zweifellos. Obwohl man aus Ulthwes Richtung sicherlich mehrheitlich von Krieg und Kampf hört, ist das Land doch stabiler, als man angesichts jener Neuigkeiten denken mag. Stabiler allemal, als der Zirkel es gern hätte. Und mit dieser Stabilität geht der Wunsch nach noch mehr Sicherheit einher, was aus irgendwelchen mir völlig unbegreiflichen Gründen mit gewaltigen Bergen an Papierarbeit einhergeht. Wenn es rechtskräftig wäre, hätte ich mir längst einen Stempel mit meinem Namen zugelegt…!“ Nun war es an Sierra, zu schmunzeln. „Bürokratie ist der Tod jeglichen Vergnügens. Ein alter Freund kann davon neuerdings auch Lieder singen. Nicht, das man ihn ganz grundsätzlich singen hören wollen würde. Dann wiederum, ein anderer Freund hat ein verdächtiges Maß an Freude an dieser Papierarbeit.“ „Nun, so sehr ich auch geneigt bin, nach der Devise zu handeln, dass jeder tun und lassen können sollte, was immer er will, solange er damit sein Umfeld nicht negativ beeinflusst… diesem Mann sollte eindeutig geholfen werden. Solch eine Verbindung zu Papier kann einfach nicht gesund sein“, bekräftigte Salcas ernst nickend. „Die ganzen Krämpfe im Handgelenk…“, begann sie neu. „Und die Verschwendung von Tinte!“ „Das Leiden der ihrer Federn beraubten Vögel…“ „All die Papierschnitte, vergossenes Blut der stillen und heimlichen Helden eines jeden Staates…“ An jener Stelle musste sie doch auflachen. Sie hätte nie in Zweifel gezogen, dass Myron ein Held war. Ein stiller und heimlicher Held möglicherweise obendrein. Selbst heute noch – zu wem rannten die meisten in Horror, wenn ihnen irgendwelche Verträge oder Vorschläge oder komplex formulierten Dokumente über den Kopf wuchsen? Doch in ihrem Schädel manifestierte sich das Bild Myrons an seinem Schreibtisch unten in den Kanälen, wo er schon seit Jahren nicht mehr stand, wie er sich an einem Stück Papier schnitt, den Finger fasziniert beobachtete und sein schweres Opfer mit Stolz trug, mit der Tugend der Bescheidenheit, wiedergegeben in so vielen Legenden. Es war absurd, wirklich. „Ich bin zugegeben erleichtert, euch kennenzulernen, Sierra.“ Jener Satz ließ sie dann jedoch auch wieder nüchterner werden. Das Grinsen schmälerte sich zu einem Lächeln. Er hatte nichts gesagt, das inhärent verdächtig wäre, doch… sie wusste genug um Verschwörungen auf politischer Ebene, um nochmals ein gutes Stück vorsichtiger geworden zu sein. Dennoch: Salcas war ihr sympathisch. Und es würde gewiss nicht schaden, sich darauf einzulassen – und sei es nur, um seine tatsächlichen Motive aufzudecken, sollte er verschleierte Beweggründe haben. „Nun, das Kompliment darf ich zurückgeben.“ „Demnach habt ihr mit etwas Schlimmerem gerechnet, als nun vor euch sitzt?“, erkundigte Salcas sich mit einem herausfordernden Lächeln. „Habt ihr denn?“, schoss Sierra amüsiert zurück. „Definitiv. Bevor ich aufbrach, ließ ich Merle – meine Vertraute daheim – alles über Lumiél zusammenstellen, was sie finden konnte. Je aktueller, desto besser. Ich hatte immerhin eine ansehnliche Seereise vor mir. Und ich muss zugeben, ich befürchtete hier oben jemanden vorzufinden, der sehr viel verstockter sei, verschlossener und misstrauischer“, gestand Salcas ein. „Wer sagt, dass ich euch traue?“, erwiderte sie schmunzelnd. „Niemand. Aber es besteht ein Unterschied zwischen Misstrauen und vernünftiger Vorsicht.“ Nun gut – dem konnte sie schwerlich widersprechen. „Was ist mit euch?“ „Was meint ihr?“ „Was habt ihr erwartet?“ Sierra erwog einen Moment, ihm die Antwort schuldig zu bleiben. Doch das wäre alles andere als gerecht gewesen und bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich tadellos verhalten. Leicht seufzend lehnte sie sich ein Stück zurück. „Im Grunde? Das Gleiche. Nur umgedreht. Irgendeinen hochrangigen Diplomaten, der alles sehr ernst nimmt. Der am besten noch versucht, mich und meine Leute herumzukommandieren, denn er ist ja der Beobachter, der neutrale Gast und Vermittler, das zweifellos wichtigste Zahnrad der Maschine. Ohne ihn kann nichts gelingen.“ Salcas lachte auf. „Einen klassischen Adligen also, verstehe. Nun ich fürchte, da werde ich enttäuschen müssen. Ich stamme ursprünglich aus der Gosse.“ Es war nicht nur Sierra, die an dieser Stelle stutzte, aufhorchte. Auch seine Leibwachen – bei ihrem Rang möglicherweise selbst Mitglieder des Niederadels – horchten auf. „Ich sehe die Verwunderung in euren Augen, nicht aber Empörung. Freut mich.“ Salcas setzte eine Pause, lehnte sich nun ebenfalls ein wenig zurück und lächelte einen Moment lediglich versonnen vor sich hin, ehe er erneut ansetzte. „Ich war ein Straßenkind in der Hauptstadt. Und eines Tages, ich war mit ein paar Datteln auf der Flucht, rannte ich in eine Meute hinein, die auf einer großen Hauptstraße einfach herumstand. Ich hatte eigentlich vorgehabt, in der Menge zu verschwinden. Stattdessen fing man mich ein und ich gab die Datteln zurück. Jede einzelne. Das rettete mir zwar die Hand, hieß aber auch, dass ich weiterhin ziemlichen Hunger hatte. Ich war nicht sonderlich klug und versuchte es immer im gleichen Viertel bei den gleichen Händlern. Die sich natürlich irgendwann an meine Gegenwart und meine Taktiken anpassten. Glücklicherweise nahmen sie’s mir auch selten wirklich übel. Ich war also für den Tag wieder am Anfang und dachte mir: Wenn so viele Leute einfach gaffend herumstehen… dann musste es nicht nur was zu sehen geben. Dann waren sie auch abgelenkt! Also bemühte ich mich ein wenig im Beutelschneiden. Funktionierte soweit auch ganz gut. Ich hatte mich etwas durch die Menge gequetscht und den dritten Geldsack in der Hand, als ich zwischen den Leuten hindurch das Spektakel sehen konnte. Unsere großartige Königin Ibadah, wie sie an der Spitze eines Festzuges durch die Straßen schritt. Dumm wie ich war, sah ich nur jemanden, der sehr reich schien und eine Horde gaffender Leute, die mir die Flucht erleichtern würden, weil sie im Weg standen. Also probierte ich mich an einem Klassiker. Reinlaufen, anrempeln, entschuldigen, wegrennen. Mit der Beute, selbstredend. Sie hatte zwar keinen Geldbeutel am Gürtel, aber dafür einen Dolch, der mit Juwelen verziert war. Jeder einzelne Stein hätte mich über Monate bringen können, dachte ich mir so. Also jage ich aus der Menge vor und… komme keine zwei Meter weit. Ihre Wachen sind trainiert, jederzeit mit einem Angriff durch Magier oder Hexer zu rechnen. Natürlich kommt ein halbgarer Straßenjunge da nicht mal ansatzweise in Reichweite. Die Wachen hätten mir dort etwas antun können. Immerhin, das ich auf sie zu rannte hätte auch ein Anschlag sein können. Und ich Dummkopf hielt natürlich noch immer das Messer vom Beutelschneiden gezogen. Heute bin ich mir darüber im Klaren, dass es ein gut kalkulierter und rasch überdachter Schachzug von ihrer Seite war und keine Geste aus Nächstenliebe und Freundlichkeit. Aber an jenem Tag verschonte sie mich und, vor aller Leute Augen, sprach mit mir. Sie fragte mich nach meinem Leben, meinem Namen, meinem Tag. Warum ich sie angegriffen hätte. Nicht das hellste Licht, erwiderte ich natürlich prompt, dass ich überhaupt niemanden angegriffen hätte, sondern nur den verdammten Dolch wollte. Sie meinte, ich könne ihn haben, wenn ich ihn mir verdiene. Ich war skeptisch und wollte wissen, was sie dafür verlangte. Sie rechnete mir dann kurz vor, was der Dolch wert war. Was ein gewöhnlicher Bediensteter an Lohn für seine Arbeit erhielt. Und wie lange es dauern würde, diese Schuld abzutragen. Ich war… natürlich nicht sonderlich angetan. Die nächsten Jahrzehnte in irgendjemandes Dienst stehen? Wozu? Das änderte sich schlagartig, als sie mir erzählte, dass sie natürlich nicht riskieren könne, dass einer ihrer Bediensteten an einer Lungenentzündung sterben würde. Also würde sie wohl oder übel eine Unterkunft für mich bereitstellen müssen. Und ihre Bediensteten mussten bei Kräften sein, um ihre Arbeiten verrichten zu können. Also würde ich wohl etwas essen können müssen. Sie hatte sicherlich noch ein paar andere gute Köder auf Lager – aber da in dem Moment mein geretteter Hals und etwas im Magen alles war, was mich interessierte, sagte ich sofort zu. Sie nickte einem ihrer Wächter zu, der mich am Arm packte und voraus schleifte, während sie ihren Zug durch die Stadt fortsetzte. Der Kerl knurrte mir leise zu, dass das der glücklichste Tag meines Lebens sei. Was soll ich sagen? Er war ein Bastard. Lehrte mich später Selbstverteidigung, mit Faust und Schwert. Wir konnten einander nie leiden und er war hart im Austeilen. Trotzdem… hatte er Recht. Adira setzte mich in ihren Palast. Natürlich unter ständiger Aufsicht. Aber im Grunde gab sie mir alles, was ich mir hätte wünschen können, und mehr. Was sie mir nicht gab, war eine Richtung. Sie sagte nicht, dass ich der Wache beitreten solle – obwohl ich mit dem Schwert durchaus geschickt war. Sie sagte mir auch nicht, dass ich den Gelehrten beitreten solle, obwohl ich mich ziemlich gut auf Sternenkarten verstand. Selbst eine Richtung zu finden war… schwierig. Da half es, sich immer mal rauszuschleichen und die alte Gegend zu besuchen. Zu sehen, wie die Dinge sich veränderten. Neue Häuser entstanden, die Märkte wanderten, die Waren sich wandelten. Die Händler erkannten mich. Manche nahmen mir das Glück übel, dass ich hatte. Andere zeigten Humor und schenkten mir Datteln. Meine Königin unternahm diese Züge durch die Stadt, um das Volk zu sehen. Es kennenzulernen. Sich zu zeigen. Sie konnte sich natürlich schlecht einfach rausschleichen und unerkannt in eine Taverne setzen oder wie jeder andere auch gewöhnlich auf dem Markt einkaufen gehen. Das war ihre Möglichkeit, dem Volk nahe zu bleiben. Also entschied ich mich, ihr dabei zu helfen. Zwischen ihr und den Leuten zu vermitteln. Ich war sehr viel öfter draußen. Sah mir Schäden an Häusern an. Hörte mir die Probleme der Leute an. Schlechtes Pflaster hier, fast leere Schutzrunen dort, ein grantiger Zwerg, der die Preise immer höher trieb da. Und gab es an sie weiter. Sie handelte nicht immer. Aber ich glaube, sie wusste zu schätzen, was ich versuchte. Denn diese Züge durch die Straßen? Sie gab sie zwar nie auf, hatte sie aber auch nur ein oder zwei Mal im Jahr machen können. Und nachdem das mit dem Vermitteln so gut zu klappen schien, dachte ich mir, erweitere ich meinen Horizont mal ein wenig und vermittle auf größerer Ebene weiter. Das hing mit ein paar diplomatischen Zwischenfällen zusammen, selbstredend. Mir war mit all der Bildung, die ich erfuhr, durchaus klar, dass Ulthwe allein Bestand hatte. Unsere Wirtschaft ist autark. Aber wir haben inländische Verbindungswege, die störanfällig sind. Wichtige Lieferungen können ausbleiben. Das Problem wäre weniger dramatisch, wenn das Handelsembargo des Zirkels aufgehoben werden würde. Ich bemühte mich Jahre darum, mit Magiern zu reden. Ziemlich stures Volk. Also suchte ich mir später einfach einen anderen Ansatz. Wenn die das Embargo nicht aufheben wollten – dann musste man sich eben Leute suchen, denen das Embargo einfach nichts bedeutete. Oder die den Mut hatten, es zu brechen. Das machte mich dann wohl zum Botschafter und nun bin ich hier in erlesener Gesellschaft und gebe meine heroische Geschichte wieder, wie ein Knabe aus niederster Abstammung in die höchsten Kreise aufstieg.“ Salcas grinste schief und nahm einen Schluck aus seinem Becher. „Und wieviel davon ist wahr?“, erwiderte Sierra schmunzelnd. Sie war durchaus neugierig. Die Geschichte hatte er fesselnd genug erzählt. Es gab noch so viele offene Stellen und Fragen und nur zu gerne hätte sie dem Drang nachgegeben und diese Lücken gefüllt – doch es gab, zumindest für den Moment, Dringlicheres. „Wahr? Oh, wahr ist alles. Es ist ein Zeugnis schlechter Manieren, sich beim Lügen erwischen zu lassen, gerade in politischen Kreisen. Und dieses Treffen hier ist höchst politisch, nicht?“, erwiderte er schmunzelnd. Sie sah kurz auf ihren Krug herab, sah sich in der schmucklosen, bis auf sie vier leeren Speisehalle um. Höchst politisch. „Ich habe euch also beim Lügen erwischt?“, gab sie dem einen neuen Versuch. Salcas hingegen lachte auf. „Keineswegs, Sierra. Aber wer lügt, wird immer erwischt. Früher oder später. Also ist man besser dran, sich gar nicht erst etwas zu Schulden kommen zu lassen. Die für euch zweifellos interessantere Frage ist: Was hat er nicht erzählt?“ Schmunzelnd hob sie eine Braue. „Und? Was hat er nicht erzählt?“ „Ich denke… das ist etwas, das wir heute Abend bei einem Glas Wein unter vier Augen bereden können.“ Eine Braue gehoben, musterte sie Salcas. Er war charmant und gutaussehend, aber er konnte unmöglich glauben, dass das allein ausreichend wäre, damit sie irgendwelche Verwicklungen und Zwischenfälle riskieren würde. „Sind wir immer noch in der Politik?“, erkundigte sie sich als subtilen Hinweis, doch entgegen ihrer Erwartungen nickte er. „Aber auf jeden Fall“, kam zurück. Nun – sie hatte Verhandlungen auch schon an weit seltsameren Orten und unter deutlich verfänglicheren Bedingungen geführt. Wie schlimm konnte eine Einladung zu Wein also werden? „Dann treffen wir uns offenbar zu einem späteren Zeitpunkt wieder hier?“, erkundigte sie sich neugierig. Wie hatte er sich das alles wohl vorgestellt? „Nun, ich werde euch ja wohl schlecht den ganzen Tag von der Arbeit abhalten können. Aber nein, nicht hier. Ich werde mich ein wenig umschauen und euch dann Bescheid geben lassen, wo wir uns treffen.“ Salcas wirkte entspannt, erfreut sogar. Sie nickte ihm zu, erhob sich und lud ihn nochmals ein, sich ganz wie zuhause zu fühlen – auch wenn Sûr Waslin ein schwacher Ersatz für den Palast in Zivah Elmas sein musste. Dennoch ging sie in Gedanken bereits durch, was sie in Vorbereitung auf dieses Treffen noch tun musste. Sicherstellen, dass Heinrich Bescheid wusste, natürlich. Und ihn instruieren, sich trotzdem erst einmal rauszuhalten. Die Wachen mussten alarmiert und auf Posten sein, allesamt. Sie würde gewiss nicht unbewaffnet dort auftauchen. Auch wenn Sierra sich nicht vorstellen konnte, dass Salcas ein Attentat beabsichtigte – sie konnte es sich nicht leisten, nicht mit einem zu rechnen. Hinzu kam, dass sie vorsichtig sein musste, wo sie sich trafen. Ihr Zimmer – oder seines – war völlig ausgeschlossen. Nicht nur, aber auch,  des unweigerlichen Getratsches unter der Dienerschaft wegen.   Stunden zogen dahin. Sie verrichtete sehr viel weniger Arbeit als ihr lieb war und ihre Konzentration erwies sich als ein launisches Biest an jenem Tag. Immer wieder drifteten ihre Gedanken ab. Zu Salcas und dem Treffen. Sie spürte, dass da mehr war und wünschte sich sehr, er hätte wenigstens irgendwelche Andeutungen bezüglich der Thematiken gemacht, die er anzusprechen wünschte. Es gab sogar den Moment, in dem sie sich wünschte, dass er sich an einem Attentat versuchen würde. Das war wenigstens simpel und unkompliziert. Gegen späten Abend kam ein junger Bursche und erklärte, der Herr Botschafter hätte darum gebeten, ihr auszurichten, dass sie sich auf dem Dach des Haupthauses treffen würden. Mit einer Decke, einer Flasche Wein und der Bereitschaft, ihm Lumiéls Sternenhimmel nahezubringen. Sierra war ein wenig irritiert. Warum hatte er sich nicht selbst zu ihr bemüht? Oder einen seiner Leibwächter geschickt? Das Gesicht des Burschen war ihr fremd, also musste er mit seinen Männern gekommen sein. Aber hatte sie ihn dort gesehen? Was ihre Bedenken zumindest für den Moment wieder zerstreute war die Nachricht selbst. Denn das klang sehr wohl nach Salcas, zumindest so, wie sie ihn bisher kennengelernt hatte. Also zog sie sich in ihr Zimmer zurück und stellte sich der nächsten Herausforderung. Kleidung zu finden, die zu diesem Anlass passte. Eine wirklich schwierige Aufgabe, da der Anlass recht… unklar war. Letztlich befand sie, dass sie einfach etwas Bequemes tragen würde, verschwand das doch sowieso unter ihrer Rüstung. Nur zur Sicherheit würde sie jedoch auch einfach ein paar Minuten in die Tasche springen können. Sie tauchte auf dem Dach auf und war zunächst allein. Vielleicht war sie ein kleines bisschen zu eifrig gewesen, ein kleines bisschen zu schnell. Sie wollte diese Sache endlich hinter sich haben, sie geklärt wissen. Egal, in welche Richtung das nun laufen würde. Also wanderte sie zunächst ein wenig auf dem Dach herum, sah sich um, kontrollierte die Ballisten auf ihre Funktionalität. „Ich muss zugeben, ich hatte nicht so viel Initiative erwartet, sondern etwas mehr… Nervosität? Zurückhaltung?“, kam Salcas‘ Stimme von der anderen Seite. Einen Moment glaubte Sierra, sie hätte beinahe aus ihrer eigenen Haut springen müssen. Äußerlich jedoch beherrschte sie sich, fasste sich nach einem Moment, atmete tief durch und wandte sich ihm zu. „Ich bin üblicherweise kein leichtes Opfer für Nervosität. Und… ich bin einfach nur ein wenig früh dran. Offenbar habe ich mich in der Zeit verschätzt. Ich erwartete eigentlich, dass ihr ein Treffen im Innenhof vorziehen würdet, aber von hier hat man die bessere Aussicht, das ist wahr.“ Sierra lächelte. Für einen Moment noch etwas bemüht, aber sie lächelte. Und sie war sich sicher, dass das Lächeln auch gleich echter werden würde, ihr leichter fallen würde… oder hätte werden können. Als sie jedoch sah, wie seine Miene ernst wurde und seine Hand langsam zum Rapier wanderte, fand sie auch binnen Sekundenschnelle ihre eigene Klinge gezogen. „Der Vorschlag, uns hier zu treffen, kam von euch, überbracht von einem Botenjungen“, erwiderte Salcas. Sierra fluchte innerlich wie ein Rohrspatz. Sie hatte ein seltsames Gefühl bei diesem Burschen gehabt! Warum hatte sie nicht darauf gehört?! „Kurzes braunes Haar, grüne Augen, blass, ein Muttermal am linken Ohrläppchen?“ Er nickte. Beide sahen sich wachsam um, rückten ein ganzes Stück näher zueinander. „Woher soll ich wissen, dass das nicht alles deine Idee war?“, brach Salcas schließlich restlos mit den Formalitäten. „Woher soll ich wissen, dass es nicht deine war?“, schoss sie zurück. „So amüsant die Vorstellung auch ist“, erhob sich eine dritte Stimme aus Richtung des einzigen Treppenaufgangs, „einfach zuzuschauen, wie ihr barbarischen Kreaturen euch gegenseitig in eurem angeborenen Misstrauen abschlachtet, so fürchte ich doch, haben wir nicht die Zeit für euer Geplänkel. Und ich bin nicht gewillt, auf eure diesbezügliche Kompetenz zu vertrauen.“ Der angebliche Botenjunge trat hervor und ließ die Maskerade fallen. Er wirkte… älter als zuvor. „Ihr werdet scheitern, hier und jetzt.“ Sierra ergriff Salcas‘ Schulter mit einem hastigen „Wehr‘ dich nicht.“ Es war alles, was sie ihm an Vorwarnung geben konnte. Doch just die Sekunde, als sie mit ihm in die Tasche springen wollte, wurde sie selbst von etwas in den Rücken getroffen. Keuchend taumelte sie einen halben Schritt vor. Salcas fing sie ab und half ihr auf. Eine weitere Gestalt schwebte jenseits der Burgmauer. Mehrere kamen hervor, bis sie von einem Dutzend eingekreist waren. „Ihr begeht einen gewaltigen Fehler“, mahnte Sierra, „Ich gebe euch jetzt noch eine Chance: Gebt auf und fügt euch, dann wird euch ein gerechter Prozess widerfahren. Ein Ruf und meine Männer sind hier!“ „Eure Männer schlafen, allesamt. Alle schlafen. Und mit euch werden wir fertig werden“, gab er zurück. Sein Blick wanderte zu seinen Untergebenen. „Tötet die Brüter!“ Sierra wusste, dass sie nicht springen konnte. Über den ersten Schwerthieb hinweg mühelos, aber definitiv nicht in ihre Tasche. Sie hatte dieses Gefühl schon früher verspürt. Alandor hatte mit ihr trainiert. Wie sie sich schneller von solchen Effekten erholte. Sie hatte seine Abwehrtechniken nicht lernen können, aber zumindest begriffen, wie sie den Nebenwirkungen besser entgegenwirken konnte. Als also ein Dutzend Feinde auf sie beide einstürzte und zumindest deren Worten nach deutlich gemacht worden war, dass sie Salcas ebenso tot sehen wollten wie sie, standen sie rasch Rücken an Rücken und erwehrten sich ihrer Haut. Natürlich hätte das noch immer eine clevere Scharade sein können. Die meisterliche Irreführung eines Tieflings. Doch diese Schwerter waren echt, sie waren scharf und die Schläge, die in Salcas‘ Richtung gingen, sahen durchaus präzise geführt aus, mit Tötungsabsicht. Also spielte er verdammt gut, falls er denn spielte. Die ersten, kostbaren Sekunden hatten sie schwer zu tun. Für fünfzehn Personen war es auf dem Dach ein wenig eng. Erst recht, als Salcas und Sierra ihre Position zwischen die Ballisten verlagerten. Sie parierten, wichen aus, umtänzelten so gut sie konnten, doch das zehrte an ihren Kräften. Dann jedoch… veränderte sich etwas. Salcas hatte die Zeit genug, Sierras Bewegungsabläufe ein wenig zu beobachten, zu studieren – sofern das Vordringen des Gegners ihm diese kostbaren Sekundenbruchteile hier und da ließ. Ebenso hatte Sierra ihrerseits natürlich ihn nicht aus den Augen zu lassen versucht, der ganzen Rücken-an-Rücken-Kiste zum Trotz, immerhin war der Herr Botschafter trotz allem ein Fremder und ganz gewiss kein Thorin. Die gegenseitige Beobachtung brachte jedoch Erkenntnisse. Ihre Kampfart war einander ähnlich. Also spiegelte Salcas seinen Rhythmus. Das Vordringen, Abwehren, Zurückfallen, es wurde zu einem Tanz, den sie gemeinsam bestritten. Sie fanden einen Einklang, der ihnen nicht nur mehr Raum zum Atmen verschaffte. Zwischen den Ballisten… wurde es sogar spürbar leichter, sich der eigenen Haut zu erwehren. Raum für Fehler war weiterhin keine, aber das hieß zumindest- „Gut, das ist nicht ganz der Verlauf, den ich mir für unser Treffen erwünscht hätte, aber da die Herrschaften so freundlich waren, dafür Sorge zu tragen, das wirklich nichts und niemand mithört, bietet sich diese Gelegenheit dennoch an und ich gedenke sie beim Schopf zu ergreifen!“, verkündete Salcas. Er verschwendete kostbaren Atem, wie Sierra befand, doch… ein Blick über die Schulter, dieses selbstsichere Lächeln, wie er einen Gegner umtänzelte… es war schwer, es ihm in diesem Moment vorzuwerfen. Auch wenn ihr Blick zweifellos ein hell leuchtendes ‚Jetzt?! Ernsthaft?!‘ in seine Richtung warf. „Fein!“, fluchte sie und duckte sich unter einem Schwerthieb hinfort, „Wovon reden die? Warum bin ich neuerdings ein Brüter?“ „Schweigt still, Missgeburten!“, mischte sich der vermeintliche Botenjunge ein, wurde jedoch großzügig ignoriert. „Nun“, begann Salcas, einen gewagten Stich nach vorne setzend. Er traf den Gegner punktgenau, sodass der verwundet sich zunächst zurückzog, um einem Mitstreiter das Feld und seinen Platz zu überlassen. Während er sich heilte. Sichtbar. Er legte sich selbst die glühende Hand auf und die Wunde wurde geschlossen. „Adira sandte mich nicht einfach willkürlich. Wir wussten zwar nicht, dass du hier sein würdest, aber wir hofften es. Andernfalls hätten wir uns von König Wyrmblut eine Audienz mit dir erbeten.“ „Ich hab‘ gerade Zeit – Audienz gewährt!“, warf Sierra zurück. Ihr nächster Streich zog eine lange, blutige Schneise über den Arm des Angreifers, der so fahrlässig seine Deckung vernachlässigt hatte. „Nun, wie sicherlich bekannt, ist Ulthwe nicht grundlos als Beobachter für diese Verhandlungen gewählt worden. Die Gespräche mit König Wyrmblut über eine mögliche Allianz dauern nun schon eine Weile an. Wenn das hier gut läuft, dann- woah!“ Salcas duckte sich unter einem deutlich wuchtigeren Hieb hinweg, setzte nach vorne und stach dem Gegner direkt in den Bauch – der darauf den Fehler beging, die Klinge mit bloßer Hand zu umgreifen, woraufhin er sie mit einem Ruck auch wieder hervor riss, „Wenn das hier gut läuft, dann werden die Tore für Verhandlungen zwischen unseren Ländern offen stehen. Und so wie’s aussieht, gehe ich davon aus, dass es gut laufen wird. Lumiél hat eine wirklich fähige Botschafterin abgestellt, und Ulthwe ebenso – was soll schon schief gehen…!“ Er manövrierte einen weiteren Vorstoß des Gegners aus, der sehr zum eigenen Entsetzen seine Offensive damit direkt auf einen seiner Kameraden niedergehen ließ. „Du meinst, abgesehen von nächtlichen Überfällen auf dem Dach, während der Rest eingeschläfert wurde?“, erwiderte Sierra und zog mit dem Schwanz einem unvorsichtig nahe gekommenen Gegner das Bein weg. Ihre Klinge beendete sein Leben. „Details und Kleinigkeiten, Sierra, Details und Kleinigkeiten – du musst den großen Rahmen sehen!“, schoss er zurück. Mit beherztem Vorstoß schlug er einem Gegner das frisch parierte Schwert fort und setzte zum Vorstoß an. Die Klinge drang durch das Auge in den Schädel und ließ den Unglücklichen daraufhin zusammensinken. „Natürlich hätte jeder diese Verhandlungen beobachten und die Nachfolgenden führen können. Aber man hoffte auf dich und sandte deshalb mich. Ulthwe hat eine eigene Tieflingsgemeinde, weißt du? Und sie haben ihre eigenen Hoffnungen und Traditionen. Wir haben von deinem kleinen Inselreich gehört. Davon, dass es wächst und gedeiht. Anerkannt wird. Sogar halbwegs sicher ist, wehrhaft genug allemal. Du wirst von vielen als Wegbereiter für ein neues Zeitalter gesehen, nicht nur in Lumiél.“ „Kommt jetzt die Stelle mit ‚aber wir können es besser, lass uns dir helfen‘? Falls ja – nicht interessiert!“ Ein Schrei drang aus ihrer Kehle, als sie selbst kurz im Versuch eines Vorstoßes gegen einen Gegner die Offensive des anderen übersehen hatte. Der Schnitt war nicht tief und nicht gefährlich – er kam nur überraschend. Kurz hielt sie sich unweigerlich die Flanke, trat einen Schritt zurück, als der Gegner die Schwäche nutzend vorrückte. Mit einem beherzten, kräftigen Schwung hielt sie sie dann auf Abstand. „Keineswegs, keineswegs!“, erklärte Salcas, der seinerseits nach einem leichten Treffer sich bemühte, das linke Bein nicht zu stark zu belasten, „Wir wollen dich nicht ablösen. Wir wollen dich unterstützen. Das zwergische Volk hat bewiesen, dass es in Lumiél möglich ist, seine Souveränität zu wahren und dennoch Teil einer größeren Nation zu sein. Zwei Könige unter einem Banner.“ „Was schlägst du also vor?“ Sierra ließ sich unter einem Hieb hindurchfallen, rollte sich ein Stück auf den Gegner zu, die Klinge an sich gepresst. Als sie zum Stillstand kam, stach sie rasch nach oben, während die Stöße des Gegners nach unten sie knapp verfehlten. Zwei weitere konnte sie damit schwer verletzen – einer starb, bevor er seine Wunde zu heilen fähig war. „Eine Heirat natürlich!“ „Nein!“, brauste der Anführer der Gegner auf und setzte umso bemühter Salcas zu, bis der sich ein Stück weit in Sierras Bereich zurückziehen musste. „Ich soll dich heiraten?“, stutzte Sierra verwundert, „Das ist ein Antrag? Hier? Jetzt?“ „Ja!“, kam es von Salcas unmittelbar darauf. „Nein!“, schrie ihr Feind dagegen dazwischen. „Klappe!“, brausten beide auf und wagten einen Vorstoß in Richtung des feindlichen Anführers. Von der plötzlichen Koordination etwas überrumpelt, zog er sich tatsächlich zurück und überließ zunächst wieder seinen Kameraden das Feld. „Es wäre perfekt! Wir würden das Bündnis mit Lumiél stärken. Wir würden etwas für unser eigenes Volk tun. Wir würden deinem Vorhaben einen guten Erben bieten. Und damit auch die Möglichkeit, sich mehr Souveränität zu erarbeiten.“ Ein neuer Vorstoß des Gegners wurde von beiden in Kooperation ausgenutzt. Salcas raubte beiden mit einem kurzen Beinfeger und einer Parade das Gleichgewicht – und sie stolperten regelrecht in Sierras Klinge und Faust hinein. Mit mehr als der Hälfte der Feinde außer Gefecht wurde der Kampf allmählich auch noch leichter, auch wenn ihre zunehmende Erschöpfung dem entgegenzuwirken versuchte. „Kommandant, wir müssen uns zurückziehen!“, meinte einer der Angreifer. „Nein! Wir werden die Brüter nicht verschonen!“ „Ich hasse diesen Begriff!“, fluchte Sierra, packte eine der Klingen eines Gegners und übte sich an einem Trick, den sie von Thorin gelernt hatte. Der Mann hatte ihr endlose Geschichten davon erzählt und darauf geschworen, dass es möglich sei. Er habe seine Axt tatsächlich geworfen. Dutzende Male, hunderte Male. Sie sei nicht so präzise wie Wurfäxte, die dafür gefertigt worden waren, aber allemal gut genug, um ein nahes Ziel zu treffen. Und wenn man die Kraft hatte, war die Wucht dahinter nicht ohne. Sierra hatte ganz gewiss nicht ansatzweise Thorins Kraft. Aber sie wollte auch keine verdammte Streitaxt werfen, sondern ein Kurzschwert. Dafür wiederum reichte es. Der Kommandant, den sie anvisiert hatte, bekam die Klinge jedoch nicht ab, weil einer seiner Männer sich in den Weg stellte. Regelrecht hinein warf. Das hieß auch, dass er leider nicht die Klinge abbekam, sondern den Knauf. Der dumpfe Schlag gegen die Stirn ließ ihn dennoch bewusstlos zu Boden brechen. Ahnend, womit sie es zu tun hatten, veränderten beide ihre Taktik ein wenig. Einen Gegner nur zu verwunden war nicht genug – er würde sich kurz aus dem Kampf zurückziehen, heilen und zurückkehren. Doch mit ihrer nunmehr wie geölt laufenden Maschinerie aus gegenseitiger Verteidigung und gemeinsamen Vorstößen gelang es ihnen, mehr und mehr Gegner auszuschalten. Bis, mit einem letzten Vorstoß und zwei Klingen in seiner Brust, auch der Anführer vor ihnen auf die Knie brach und sich nach hinten gegen die Mauer von den Schwertern rutschen ließ. „Ich habe euch einen gerechten Prozess angeboten. Ihr hättet euch erklären können. Aasimare leben lange, länger als Menschen – nach deren Gesetz ihr be- und verurteilt worden wärt. Was wären die paar Jahre Gefängnis für euch gewesen? Stattdessen habt ihr hier eure Männer geopfert, allesamt. Zwei von ihnen sind ohnmächtig. Mit etwas Glück werden sie mehr Einsicht haben als ihr. Ihnen steht noch ein Leben bevor, das sie – so sie hieraus lernen – in Frieden zubringen können. Ich bin dieses Blutvergießens leid. Könnt ihr nicht einfach-“ „Ave Sol Invictus…!“, krächzte der Aasimar mit seinem letzten Atem. Seine Haut begann zu glühen, seine Augen leuchteten in schwachem Schein auf, während das Leben aus ihnen wich. „Nicht wehren!“, meinte Salcas hinter ihr und griff ihr Handgelenk. Binnen eines Herzschlages standen sie im Innenhof Sûr Waslins – und irgendwo dort oben war das Geräusch einer Detonation zu hören. „Du kannst teleportieren?!“, zischte sie ihn zunächst an, während sie mit Schwindel und Übelkeit rang. „Nun… ja. Was wäre dir lieber gewesen? Dich selbst mit ihnen zu befassen, oder es mit einer Geiselnahme zu tun zu haben? Er hätte jeden aus der Festung verschleppen können. Er hätte einigen, noch während sie schlafen, die Kehlen öffnen können. Zu Zwecken der Demonstration seiner Entschlossenheit. Es mag sein, dass ich mich nach diesen wenigen Stunden unseres Kennenlernens verschätzt habe, aber wäre dir das lieber gewesen? Und ehe du mir vorwirfst, das ich etwas hätte sagen müssen: sie haben demonstriert, dass sie nur darauf lauerten, dass du zu springen versuchst. Sie wussten, was du kannst. Sie wussten möglicherweise auch, was ich kann. Sie hatten das Gleiche möglicherweise auch für mich vorbereitet. Falls ja, war es klug, es nicht einzusetzen. Falls nein, war es klug, es nicht zu erwähnen – damit sie es nicht einsetzen.“ Sierra stutzte und besah sich ihre eigenen Hände. Der schwache, grünliche Schimmer war verschwunden. „Wann…?“ „Der Zauber lief von ihnen ebenfalls unbemerkt aus, als noch drei von ihnen standen. Ebenso wie die Wirkung der Tränke, die ihnen das Fliegen erlaubten.“ Sie nickte schwach, sah bemüht zum Dach empor. „Wir müssen wieder da hoch.“ „Natürlich. Ich schlage nur vor… das wir die Treppen nehmen.“ Sierra nickte abermals, spürte eine neue Welle der Übelkeit bei der bloßen Vorstellung eines weiteren Teleports. Wenn das war, wie es sich anfühlte, Gast im Teleport eines anderen zu sein, dann würde sie nie wieder Witze über Thorins grünes Gesicht machen…! Gemeinsam bewegten sie sich langsam durch den Innenhof. Der Stallbursche lag bei den Pferden im Stall zusammengesunken. Sie beschnupperten ihn, ließen ihn sonst aber in Ruhe. Der Gärtner lag am Teichufer. „Warte. Wir sollten erst schauen, dass es allen gut geht“, besann sie sich. Was, wenn jemand in der Badewanne eingeschlafen war? Um Ertrinkende zu retten, war es jetzt natürlich zu spät. Aber vielleicht konnten sich andere Dinge noch richten lassen? Die Kontrolle der Festung dauerte eine knappe halbe Stunde. Die Soldaten auf ihren Wachposten, die meisten Bediensteten in ihren Betten – selbst das Vieh war mehrheitlich eingeschlafen. Warum ausgerechnet die Pferde noch wach waren, nicht eins von ihnen betroffen, war ihnen beiden ein Rätsel. Dann erst, nachdem sichergestellt worden war, dass es allen soweit gut ging und sich keine Verluste ergeben hatten, wagten sie den Aufstieg aufs Dach. Das Ausmaß der Verwüstung wurde schon im Treppenaufgang darunter deutlich. Die Stufen waren seltsam rutschig und die Luft deutlich kühler. Eine Eisschicht zog sich die Wände und Decke entlang, die dicker wurde, je höher sie kamen. Durch den Durchgang aufs Dach mussten sie sich regelrecht hindurch quetschen. Dort oben herrschte Winter. Die Ballisten waren völlig überfroren, die Gefallenen eingefroren in eisigen Särgen. Scharfkantige Splitter und Dornen erhoben sich, alle vom Zentrum der Detonation fortgerichtet. Kleinste Eiskristalle wanderten wie Schnee durch die Luft. Diese Explosion konnte keiner der beiden Bewusstlosen überlebt haben. Und tatsächlich fanden sie sie unter einer dicken Eisschicht begraben wie die anderen auch. „So viel zu dem Versuch, ein paar Antworten zu bekommen“, seufzte Sierra frustriert. „Wir haben in Zivah Elmas ein paar Seher. Sie sind nicht vergleichbar mit denen des Zirkels, aber vielleicht kommt ja etwas dabei heraus. Es wird natürlich eine ganze Weile dauern, ehe ich wieder dort bin, ehe sie Informationen haben und ehe diese dann euch hier erreichen. Aber ich werde sehen, was ich herausfinden kann.“ Salcas legte ihr die Hand auf die Schulter und es fühlte sich… seltsam tröstlich an. „Danke. Ich werde hier auch ein paar unserer Spürhunde darauf ansetzen. Sie müssen von irgendwo gekommen sein. Irgendein Hafen. Die Tränke müssen irgendwoher gestammt haben. Und diese Farben und Stoffe sind definitiv von hier. Irgendwer wird irgendwas wissen. Irgendwie, irgendwann.“ Nach einem Moment erhob sie sich. Es war dennoch… bedauerlich. Diese zwei hätten nicht sterben müssen. Keiner von denen hätte sterben müssen. Es machte ihr nur einmal mehr deutlich, wofür sie diesen Kampf führte. Damit es Momente wie diesen nicht mehr geben musste. „Der Antrag war also dein Ernst, hm?“, meinte sie leise, als sie sich von dem Desaster abwandte. „Voll und ganz. Ich denke, wir schlagen damit drei Fliegen mit einer Klappe.“ „Waren es in der Geschichte nicht sieben?“, gab sie um ein Lächeln bemüht zurück. An Salcas Seite wandte sie sich ab. Solange das Eis so dick war und sie nur zu zweit, ließ sich hier nichts machen. Und bei der erstbesten Gelegenheit fanden sie auch rasch heraus, dass sich dieser magische Schlafeffekt nicht einfach so mühelos durchbrechen ließ. Sie würden abwarten müssen, bis der Effekt nachließ. „Nun, wir arbeiten uns langsam vor. Jeder fängt mal klein an, nicht?“ Schmunzelnd nickte sie ihm zu. „Ich denke, ich kann dich ganz gut leiden, Salcas Nephris, Gossenbotschafter aus Ulthwe.“ Er… legte den Arm um sie. Und obgleich da noch immer Vorsicht war und Alarmglocken schrillen ließ, war da auch ein Teil, der schlicht… dankbar war und es genoss. Auskostete. Selten genug hatte sie Momente wie diesen, die sie einfach nur genießen konnte. Selten genug hatte sie sich Augenblicke eingestanden, in denen sie zu hoffen wagte. Glaubte, dass sie so etwas würde haben können. Nun schien das nicht nur in greifbarer Reichweite, sogar etwas… Positives. Förderliches. Nützliches. Eine gute Ausrede, die Gelegenheit zu ergreifen, nicht wahr? Die Chance zu nutzen. „Ist das also ein ‚ja‘?“, hakte er ein, während sie sich im Innenhof ein kleines Stück abseits des bewusstlosen Gärtners an den Teich setzten. „Es ist kein ‚nein‘. Ich erwäge es zumindest.“ Er nickte und blieb für einige Minuten still. Während ihr Blick zum Wasser wanderte, der durch den Schatten des Baumes fast schwarzen Oberfläche, wanderte seiner nach oben zu den Sternen Lumiéls. „Irgendetwas, das ich vor unserer gewaltigen und zweifellos beeindruckenden Hochzeit wissen sollte?“ Sierra schmunzelte. Er war hartnäckig. Und ein wenig frech. „Ich habe gern Recht. Und du?“ „Ich habe Angst vor Tauben.“ Verdutzt schaute sie auf. Beide maßen einander kurz mit Blicken, ehe sie zu lachen begannen. Leicht, leise, aber unverkennbar da. „Das sind wirklich hübsche Sterne, die ihr hier habt“, fuhr er nach einer Weile fort. Sierras Blick folgte seinem empor. Lächelnd strich sie sich über den Arm und stutzte. Er war feucht. Und die Berührung schmerzte dumpf. Ihr Blick wanderte herab und sie stockte. „Wir… wir sollten uns vermutlich um unsere Wunden kümmern…“ Etwas irritiert stand sie auf, half ihm hoch. Sie hatte sein Humpeln nicht bemerkt – jetzt aber war es prägnant. Wie lange war es her, dass sie eine Verletzung vergessen hatte? Als Marco und Gerard aus ihrer Kammer gestürzt kamen, fanden sie Salcas auf seinem Bett sitzend vor, die Beinkleider neben sich, Sierra auf den Knien vor ihm und… sie nähte eine Schnittwunde. „Ausgeschlafen?“, brach der Botschafter den ersten Moment peinlich berührter Verwirrung. Beide nickten dumpf. „Gut. Dann macht eine Runde. Informiert Kommandant Blaigt und Kommandant Floranson, das wir überfallen worden sind. Es kam niemand sonst zu Schaden, unsere Verletzungen werden versorgt, sind nicht kritisch und die Angreifer sind restlos ausgeschaltet worden, keine Überlebenden. Oh und… jemand soll eine Gruppe der Bediensteten zum Putzen an den Treppengang des Hauptgebäudes stellen. Da wird demnächst  vermutlich sehr viel Schmelzwasser durchkommen.“ Gerard überblickte die Situation nochmals kurz, nickte dann und trat ab. Marco dagegen blieb stehen und starrte noch einen Moment. „Herr? Ist alles in Ordnung?“ Sichtlich etwas beklommen angesichts seines offenkundigen Versagens, senkte er betreten den Blick. Salcas hingegen seufzte. „Zerbrich dir nicht den Kopf, Marco. Ich habe eine Naht am Bein, auf die ich wirklich gut und gerne verzichten könnte. Und noch ein paar kleine Schnitte und Prellungen hier und da. Aber wir leben und sonst ist noch alles dran, was wichtig wäre. Kümmer‘ dich um die anderen – sie dürften ebenfalls allmählich aufwachen und werden vermutlich verwirrt sein, wenn nicht sogar panisch.“ Er zögerte einen Moment, nickte dann jedoch und trat ab, um die Befehle auszuführen. „Jetzt schubst du ja doch meine Leute herum“, wandte Sierra konzentriert, aber lächelnd ein, während sie die Naht allmählich beendete. „Nun… nein. Ich schicke Leute, die deine Leute herumschubsen. Völlig andere Sache. Aber wenn wir schon bei unterhaltsamen Abenden sind: Respekt für das eindrucksvolle Abendprogramm, du hast dich wirklich ins Zeug gelegt.“ Sierra schüttelte leicht den Kopf. „Ja, alles nur für den Herrn Botschafter. Mir tut’s nur um den Wein leid. War ein guter Jahrgang und ich bezweifle, dass er es sonderlich gut überlebt haben wird, schockgefroren zu werden.“ „Nun, das war hoffentlich nicht die letzte Flasche. Oder der letzte unterhaltsame Abend. Und nachdem du meine ganze Lebensgeschichte kennst, steht mir das Gleiche zu, wie ich finde.“ „Findest du, hm? Dabei hat deine Geschichte noch Löcher so groß, dass ich meine darin versenken könnte und niemand würde es bemerken.“ Dennoch. Als sie mit der Naht fertig war, setzte sie sich auf. Sie war erschöpft. Müde. Fertig. Und trotzdem begann sie zu erzählen. Marco und Gernard würden eine Weile unterwegs sein. Es gab wahrlich genug, das jetzt getan werden wollte. Und Heinrich, so gerne er sicherlich sich mit eigenen Augen Sierras Unversehrtheit überzeugt hätte, hatte ebenfalls zu tun. Ihm und Kommandant Blaigt oblag die Sicherheit der Feste. Also galt es, Wachposten aufzustellen, den Hofstaat zu beruhigen, Schäden zu sichten. Maßnahmen zu ergreifen, um zur Normalität zurückzufinden. Das ließ ihnen noch genug Zeit, sich ein wenig auszutauschen und fürwahr: Es gab noch vier weitere Tage bis zu Thorins und Illias‘ Ankunft. Die ersten drei Tage und sie hatten einen zwergischen Tunnel voller Sprengstoff und verkleidete Aasimare mit Eisbomben. Falls man daraus eine Prognose ziehen wollte… so sprach diese in der Tat für noch einige interessante Abende… Kapitel 53: Annika ------------------ Mehrere Monate zuvor… „Nein, woah, warte. Das ist nicht, was ich gesagt habe.“ „Aber es ist, was du implizierst, oder nicht?“ Schritte hallten die langen, dunklen Korridore herab. Warfen hier und da gruselige Echos in Seitengängen und –räumen, die völlig verwaist lagen. Die Kanalisation war nie ein sonderlich angenehmer Ort gewesen. Sie kannten diese Gänge natürlich beide gut, hatten hier eine Weile zugebracht… doch jetzt, mit der Mehrheit der Rebellen abgezogen und nur noch der üblichen Standard-Rumpfmannschaft hier, irgendwo über ihren Köpfen in den Straßen der Stadt ihrem Alltag nachgehend, da gab es schlicht keine Notwendigkeit mehr für eine klassisch-klischeehafte Untergrundanlage des Widerstandes in den Kanälen der Stadt. So, wie sie von zweifellos nur äußerst wenigen Romanen je beschrieben wurde. Vielleicht hatte man sie deshalb nie aufgespürt? Es war zu offensichtlich gewesen? Die Vorstellung war zugegeben ziemlich amüsant. Wie irgendein Wachmann, vermutlich ein junger Rekrut frisch aus dem Training, seinem Offizier nach dessen aufgewühlt-launischen Rede und auf seine Frage nach Vorschlägen hin erklärte, das man doch in den Kanälen suchen könne. Immerhin habe da noch keiner einen Blick hinein geworfen. Und eben jener Offizier rümpfte die Nase, blickte seinen Rekruten mit einer neuen Art von Geringschätzung an und erklärte ihm dann in aller Länge und Ausführlichkeit, dass keiner jemals so dumm wäre, ein derartig offensichtliches Versteck zu nutzen – so offensichtlich, dass man es in hunderten von Büchern nachschlagen konnte! Nicht, das die Wache noch immer ein Problem wäre. Selbst die Kanäle waren es nicht mehr, so oder so. Bald würden hier Heerscharen von zwergischen Baumeistern einfallen und Ordnung bringen. Die Trümmer aus den eingestürzten Tunneln abtragen, die Wände verstärken, die gefluteten Bereiche regulieren, die ausgetrockneten Bereiche wieder fluten – kurzum: Die völlig verwaiste, verwahrloste und gerade noch so funktionstüchtige Kanalisation wieder in einen Topzustand bringen. Denn die Infrastruktur Lumiéls gehörte mit zu den höchsten Prioritäten des neuen Königs. Grantig wie er war, konnte man ihm wenig vorwerfen – und schon gar nicht, das er sich nicht um die Bedürfnisse seiner Leute kümmern würde. Aber ohne diese Zwergenhorden, die Spitzhacken schwingend, Schaufeln stoßend und kontinuierlich maulend hier ihre Arbeit verrichteten, war es dennoch weiterhin… verwaist. Und damit gespenstisch. Vielleicht hatte sich der Eindruck einfach zu sehr eingeprägt? Dort war mal eine Stolperfalle gewesen. Nichts wirklich Überragendes. Nicht ausgefeilt oder sonderlich clever. Aber in ihrer Simplizität effektiv. Da drüben hatten dann die von der Falle vorgewarnten Rebellen Posten bezogen, um einem Feind in den Rücken zu fallen, sobald er passiert hätte. Es gab sogar ein paar Geheimwände, wenn man die in laienhafter Eigenarbeit eingezogenen, beweglichen Wandteile so nennen wollte. Doch egal, wie sehr er die Umgebung musterte – er konnte ihrer Frage unweigerlich ewig ausweichen. Und sie hatte so ein unangenehmes Talent, ohnehin zu erfahren, was sie erfahren wollte. Seufzend wandte sich Alistair also wieder Daeri zu. „Nein“, begann er zunächst zögernd. Wie machte er ihr das am besten klar? „Das ist wie… mit mir und den Diamanten damals. Ich mag es, Dinge zu haben und ich gebe sie ungern wieder heraus, das stimmt schon. Es ist schließlich meine Beute. Die ich mir tapfer und ehrlich verdient habe.“ Der Blick sagte genug, entsprechend räusperte er sich und korrigierte rasch. „Tapfer und… also die ich mir professionell und tüchtig verdient habe! ... ist doch auch egal! Jedenfalls waren es meine. Aber eigentlich stehle ich um des Stehlens willen. Ich mag die Herausforderung. Sehen zu können, ob ich es schaffe, dieses Ding zu bekommen, ohne dass der, dem es gegenwärtig gehört, das bemerkt. Ist bei dir nicht anders, oder? Du bist nur etwas… praxisbezogener? Wobei, nicht mal das. Wir haben beide immer wieder sehr reale Probleme, für die wir sehr reale Lösungen brauchen. Und wir müssen beide kreativ werden, um damit fertig zu werden. Nur das du dazu eben Dinge baust.“ Sie nickte, als sie den Eindruck zu gewinnen schien, dass das von ihr erwartet wurde. Und Alistair seufzte unweigerlich. das war nicht, worauf er hinaus wollte. Aber selbst nach Monaten und Jahren hatte sie noch immer ihre Schwierigkeiten, soziales Verhalten immer korrekt zu interpretieren – weil es oft einfach so unlogisch war. Wie mochte wohl eine nach Daeris Verständnis perfekte Welt aussehen? Wären sie dann alle wie ihre Maschinen? Zuverlässig tickend und klickend bis absehbare Faktoren wie Energie und Materialverschleiß sie in absehbaren Zeiträumen auf absehbare Weise absehbar zugrunde gehen ließen…? Klang irgendwie grässlich. Grässlich langweilig zum Beispiel. Den Kopf schüttelnd, versuchte er sich wieder zu fokussieren. „Alles, was ich sagen wollte, ist eigentlich das: Schön und gut, dass du clever bist und so viel Zeug basteln kannst. Aber vielleicht solltest du dich damit bedeckter halten? Ich sage nicht, dass du nicht mehr bauen, Probleme lösen, beim Probleme lösen helfen oder andere in deine Projekte einbeziehen sollst. Hey ich mochte den Teil, bei dem ich dein Schloss knacken durfte – so eine Herausforderung hatte ich seit Jahren nicht mehr! Aber in den Augen der Welt da draußen haben wir ‚gewonnen‘. So als gäbe es hier nichts mehr zu tun. Und du hast sowieso noch andere Leute im Nacken, oder nicht? Wenn du die ganze Zeit herumerzählst, was du alles kannst und gemacht hast, dann könnten das mehr werden und keiner von uns will, dass du-“ Sie war weg. Normalerweise hätte er das nicht als allzu tragisch empfunden. Weg sein konnte schließlich vieles sein und vieles bedeuten. Das jemand geistig aus einer Konversation ausgestiegen war. Das jemand, mit dem man eben noch Seite an Seite lief, plötzlich abgebogen war. Doch Daeri hatte nicht die Neigung, einfach weg zu sein. Gerade noch war sie neben ihm gewesen, hatte sich seinem Schritttempo angepasst. Er hatte ihre Nähe regelrecht spüren können. Es hatte keine Lichteffekte gegeben. Kein ‚Wooosch!‘, kein ‚Bzzzzzt‘, keinerlei seltsame Geräusche. Nicht mal ein Lüftchen hatte sich bewegt. Sie war einfach weg. „Huh…“   Mont de Glace war nicht unbedingt die schönste Stadt aller Zeiten – entgegen dem, was man vielleicht meinen mochte. Die Magier  gaben sich natürlich Mühe, Ordewey bestmöglich zu präsentieren und die Hauptstadt war damit zwangsläufig das Aushängeschild. Das hieß allem voran, dass man allerhand, nun ja, magische Dinge sah. Häuser aus Glas – was unpraktisch sein musste, oder nicht? – und schwebende Verkaufsstände und sprechende Blumen und allerlei Merkwürdigkeiten. Das machte die Stadt ausgesprochen exotisch und beeindruckend und ereignisreich und sehenswert und sicherlich auch irgendwie super-magisch. Aber es machte sie nicht schön. Natürlich störte das Annika wenig. Mont de Glace war ihre Heimat. Sie war hier geboren worden, Tochter einer Schneiderin und eines Bauern, dessen Hof die äußeren Felder bewirtete. Nicht, das ihm der Hof gehört hätte, nein. Ein Magier besaß das Land. Aber welcher Magier nahm schon eine Spitzhacke oder Schaufel oder führte den Ochsen samt Pflug über das Feld? Sie beschworen Dinge, die das für sie taten. Oder, wenn sie dafür noch nicht mächtig genug waren oder weniger Wert auf solche Demonstrationen legten… dann bezahlten sie einfach Leute, die das taten. Und großzügig, wie sie damit waren, durften die dann gelegentlich sogar in Häusern leben, die ebenfalls auf dem Grundstück errichtet worden waren. Nun ja, und ihre Mutter war Schneiderin. Keine von den ganz Großen. Keine, deren Namen man wirklich in allen Winkeln der Stadt kannte. Im Gegenteil. Sie nähte Schürzen. Und Leinenhosen. Und manchmal einen dickeren Wams für den Winter. Sie arbeitete an kleinen Dingen. An… ordinärem Zeug. Das war natürlich genauso wenig verwerflich. Mancher der feinen Herren Ordeweys mochte darauf herabblicken, aber ohne Leute wie ihre Mutter hätten all die Handwerker und Arbeiter keine Kleider am Leib und würden erfrieren. Oder die seltsamen Zauber besagter Herren benötigen. Die sich das vermutlich wiederum entlohnen ließen, was bedeuten würde, das Ordeweys einfaches Volk langsam verarmen, erfrieren und/oder verhungern müsste. Und wenn der Zirkel vor irgendetwas Angst hatte, dann war es: Den Eindruck zu erwecken, dass sie sich nicht kümmern würden. Denn darum ging es bei der Idee des Zirkels, nicht wahr? Um Fürsorge. Andere Völker wie die Elben und die Tieflinge hatten ihre Magie von Natur aus, von Geburt an – jeder einzelne von ihnen. Damit war das Wirken von Magie ein völlig normaler Teil ihres Lebens, ihres Aufwachsens. Und andere wie die Zentauren und Zwerge, die hatten eigene Wege gefunden, ihre wenigen Magiefähigen zu unterrichten, auszubilden und den restlichen, nicht-magischen Teil ihres Volkes vor Ausbrüchen zu beschützen. Und vor allem: Diese Begabten auch vor der Angst und dem Unverständnis der Magielosen zu schützen. Der Zirkel war schlicht die Antwort der Menschen auf die Frage, wie diese mit ihren Magiebegabten umgingen. Annika wusste und verstand das. Nicht zuletzt, weil es eine dieser lästigen Lektionen war, die man im Tempel in jedem Lehrjahr erneut zu hören bekam. Und dann war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie erstmals aus Versehen selbst einen Zauber gewirkt hatte. Zugegeben – mit neunzehn Jahren war sie ein gehöriger Spätzünder und man hatte ihr früh deutlich gemacht, das ihre Begabung einfach zu schwach ausgeprägt war. Sie würde die Abschlussprüfung niemals überleben. Und damit war es besser, sie gar nicht erst zu selbiger zuzulassen. Das hieß natürlich nicht, dass sie weniger verbissen lernte. Das Studium eröffnete ihr völlig neue Möglichkeiten. Immerhin: Selbst das, was ein Adept bei guter Anstellung verdienen konnte, war noch immer weit mehr, als ihre Eltern je hätten erträumen können! Und mit dem Geld könnte sie den beiden auch kräftig unter die Arme greifen. Also lernte sie. Viel und verbissen. Und sie lernte gut. War gut. Und erarbeitete sich, trotz ihres kontinuierlich belächelten Status‘, binnen weniger Jahre genug Expertise in dem einen oder anderen Feld, das man ihr eine Position anbot, die ihren Geschmack traf. Eine Position mit guter Entlohnung. Eine Position mit Verantwortung. Eine Position… die nicht war, was man ihr versprochen hatte…   „Guten Morgen, Miss – was kann ich für sie tun?“ Ein schweres Seufzen lag auf Annikas Lippen, aber sie würgte es herunter und zwang stattdessen ein freundliches Lächeln auf. Sie arbeitete jetzt wie lange hier? Einen Monat? Vielleicht anderthalb? Ihr war natürlich klar gewesen, dass sie als nicht wirklich vollwertige Magierin keinerlei Anspruch darauf hatte, als Herrin bezeichnet oder als solche angesprochen zu werden. Doch innerhalb der Hochsicherheitsanlage waren alle so freundlich, darüber hinwegzusehen. Das lag allem voran natürlich darin begründet, dass sie für niemanden eine Gefahr war. Jeder war im Vorfeld ausführlich darüber in Kenntnis gesetzt worden, wer sie war, was sie konnte, was unter ihre Aufgaben fiel und was man von ihr verlangen und erwarten konnte. Sie war der Niemand, der in der Zirkelhierarchie steckengeblieben war und es niemals zur Abschlussprüfung schaffen würde. Das hatte jegliches Intrigen- und Bedrohungspotenzial im Keim erstickt. Weshalb sie sich mit der Mehrheit der Magier da drinnen wirklich gut verstand. Es mochte vielleicht ein wenig traurig anmuten, dass diese Umstände nötig waren, um so etwas zu fördern und zu gewährleisten, aber… das war eben einfach die Welt der Magier. Die funktionierte so. Und bemessen an dem, was ihr alter Lehrmeister ihr immer gesagt hatte, war das auch schon immer so gewesen. Dennoch. Warum ‚Miss‘? Selbst das Sicherheitspersonal am Geländezugang war eigentlich freundlicher gewesen. Annika wandte sich um und musterte den Kerl eingehender. Die feine Robe war natürlich eindeutig. Aber es handelte sich offenkundig um jemanden, der unkonventionell dachte. Oder von Natur aus-… nein. Solche Muskelpakete waren nicht angeboren. Vielleicht ein Verwandlungsmagier? Die konnten noch am ehesten etwas mit purer physischer Kraft anfangen, oder nicht? Jedenfalls kannte sie ihn nicht. Ein fremdes Gesicht. Das war nicht gut. Jetzt musste sie mit dem ganzen Prozess von vorne anfangen. Sich ihm vorstellen, mit ihm Schwatzen, jeden Tag immer mal wieder ein bisschen. Bis sie sich kannten und beim Vornamen nannten und er endlich so freundlich wäre, auch darüber hinwegzusehen, das sie eigentlich nur eine Miss war und keine Herrin. „Guten Morgen…?“ Doch entgegen ihrer Hoffnung stellte er sich nicht vor, sondern wartete geduldig ab. Abermals unterdrückte sie ein Seufzen. „Ich bin Annika – freut mich, euch kennenzulernen!“ Sie streckte ihm die Hand entgegen und einen Moment starrte er verdutzt darauf, als wäre sie das Opfer spontaner Tentakelbildung. Stattdessen jedoch nickte er langsam. „Ich weiß, Miss…?“ „Annika. Bitte. Das reicht völlig, oder nicht?“ Er musterte sie erneut kritisch, seufzte dann jedoch und nickte. „Meinetwegen.“ „Und ihr seid?“ „Meister Eduardo Carissian Belamonte von Urststetten“, gab er in stolzem Brustton wieder. Ein weiteres inneres Seufzen. Magier und ihre Namen. „Also… Eduardo?“ Oh sie wünschte sich, sie hätte nicht gefragt. Der Blick des Mannes war beinahe schon physisch einschüchternd und schrumpfend. Bohrend und brennend und strafend und vernichtend. „Meister Belamonte sollte reichen“, gab er mit kaum verhohlenem Ärger zu verstehen. Annika nickte langsam. „E-Entschuldigung. Ich… i-ich wollte nur… i-ich arbeite da drinnen…“ Meister Belamonte nickte grimmig, nahm seine Liste zur Hand und suchte sie kurz ab. „Ich weiß. Ich trage sie ein, Miss.“ Seufzend schlich sie weiter über das Gelände, nachdem sie das große Tor passiert hatte. Das war kein sehr guter Start gewesen. Sie würde Monate brauchen, um diesen ersten, fiesen Schnitzer auszubügeln. Falls das überhaupt möglich war. Schade drum – Ed-… Meister Belamonte wirkte eigentlich, als könne er nett sein. Wenn er es denn wollte. Das Feld zwischen dem Lichtschrankenzaun mitsamt des Flüssigtors und der eigentlichen Anlage war im Grunde eine große, ebene Freifläche. Zwangsläufig. Sollte jemand unbefugt die Anlage verlassen wollen, dann brauchte man ein gutes Stück, um zu den Zäunen zu kommen. Die alle, was sie berührte, verbrannten. Oder zerschnitten, falls man versuchte, durchzurennen. Hässliche Vorstellung. Die Freifläche war lediglich der Versuch, den Elementarmagi und Geistmagi ein freies Schussfeld zu ermöglichen, bevor die Zäune überhaupt relevant wurden. Die Kaserne, in der die Sicherheitsleute die meiste Zeit untergebracht waren, befand sich ganz in der Nähe, aber nicht auf dem Gelände selbst. Und die hatten auch keinen Zutritt zur Anlage. Nur… wie hatte Bert das genannt? Perimeterkontrolle. Sie bewachten den Zaun und die Freifläche. Nicht mehr. Sie wussten nicht einmal, was in der Anlage vor sich ging, wie es dort aussah, wozu sie überhaupt existierte. Zur Sicherheit aller natürlich. Entsprechend waren Gespräche zwischen Mitarbeitern und Sicherheitsleuten auch eher ungern gesehen. Oh… Vielleicht hatte man Bert ausgewechselt? Weil er mit ihr geredet hatte? Das… war eine unschöne Erkenntnis. Vielleicht sollte sie sich bei ihm entschuldigen, nur… sie wusste überhaupt nicht, wo er lebte. Sie wusste generell so gut wie nichts über ihn – außer eben seinen Vornamen, dass er ein recht sonniges Gemüt hatte, seinen Kaffee bevorzugt schwarz trank, Schuhe aus einem ganz bestimmten Leder bevorzugte, weil es einfach besser roch als anderes und er diesen Tick hatte, ständig mit der Feder herumspielen zu müssen, wenn während seines Gespräches seine Hände frei waren… Mit einem bittersüßen Lächeln auf den Lippen trat sie die letzten Meter des Pfades entlang an die Anlage heran. Der gesamte Komplex war… in seinen Ausmaßen ziemlich beeindruckend. Erst recht, wenn man erstmal wusste, was es damit auf sich hatte. Ursprünglich dachte sie – bei all den Sicherheitsmaßnahmen war das wohl auch nicht ganz so abwegig gewesen, oder? –, dass es sich um ein Gefängnis oder dergleichen handeln musste. Dann, dass man hier vielleicht unwillige Hexer unterrichtete. Dann, das hier vielleicht mächtige und damit gefährliche Artefakte hergestellt wurden. Irgendwann hatte sie das Rätseln aufgegeben. Und war zu ihrem ersten Arbeitstag erschienen. Das Gebäude bestand vollständig aus massivem Granit. Ein einzelner Block. Zweifellos von einer ganzen Menge sehr fähiger Erdmagier gebaut. Fenster gab es durchaus – sie hatte Herbert mal danach gefragt. Irgendetwas über verdichtete Kohlen oder so. Sie waren wie Glas, aber unglaublich hart. Herbert hatte Witze über die Unnötigkeit von Sicherheitspersonal gerissen, weil mögliche Ausbrecher die Fenster sicherlich als Schwachstellen sehen und sie einzuschlagen versuchen würden – dabei war es wohl letztlich sogar leichter, die Wände zu durchbrechen als die Fenster. Sie gab das übliche Klopfzeichen und zwei Erdmagier öffneten ihr vorübergehend einen Spalt im Granit, damit sie eintreten konnte. „Guten Morgen Jungs! Ich habe euch was mitgebracht. Eine halbe Tasse Zucker mit drei Tropfen Tee drin für Jannus“, erklärte Annika grinsend und reichte dem einen den Tee, „Und eine dreiviertel Tasse Milch mit einem Schuss des miesesten Billigkaffees, den ich finden konnte, für Ernst.“ Beide nahmen grinsend ihre dargebotenen Getränke entgegen. „Morgen Annika. Und hey, danke – du bist die Beste!“, erwiderte einer von beiden. „Als könntest du Gedankenlesen!“, versuchte der andere es erneut. „Ich bin knapp dran und habe nicht vor, unpünktlich zu sein – tut mir leid, Jungs!“ Grinsend tappte sie davon, den Korridor herab, während Jannus und Ernst die Lücke wieder schlossen. Sie versuchten schon, seit sie hier angekommen war, ihre Schule zu erraten. Bisher erfolglos. Die Luft im Komplex war… anders. Man versuchte sich keine Blöße in der Sicherheit zu geben, indem man Luftschächte oder dergleichen zuließ. Es gab keine Ventilation, keine Luftzirkulation. Stattdessen gab es ein paar Windelementare, die beständig Frischluft verströmend und die gebrauchte Luft aufsaugend durch das Gebäude streiften. Ihre zugehörigen Beschwörer und Luftmagier hatten eine Art von Lobby, in der sie sich den lieben langen Tag die Zeit vertrieben. Annika taten sie ein wenig leid – es musste grässlich sein, die ganze Zeit hier eingepfercht zu werden. Natürlich waren sie das nicht immer. Es gab Wochenschichten. Sie waren eine Woche hier drinnen und sorgten für Frischluft und dann waren sie eine Woche draußen und konnten tun, was immer sie mit ihrem Leben anzufangen gedachten. Nichtsdestotrotz war es schwer vorstellbar, dass es leicht sein konnte, diesem Rhythmus immer zu folgen. In der Umkleidekabine angelangt, begann sie sorgfältig ihre Sachen zu falten und zu verstauen und zog sich die Adeptenrobe an. Sie war nicht individualisiert, durfte es laut der Anlagenleitung nicht sein. Damit man nicht auf dumme Ideen kam. Welche auch immer das wieder sein mochten. Also begann sie ihre tägliche Routine. Sie fand sich beim Postzentrum ein. „Hey Marrika. Hast du was für mich?“ Die angesprochene Brünette sah über den Rand ihrer Brille auf und ihre Miene wurde rasch deutlich weicher. „Hey Annika, guten Morgen! Hm, ja, ist heute ganz wenig. Die Lieferung aus Thethys traf ein. Hat sich wohl endlich mal einer überlegt, dass es klüger wäre, Wort zu halten. Oder sie haben Wind davon bekommen, das sie ins Hintertreffen geraten, wenn sie hier nicht rasch handeln.“ Annika seufzte schwer. „Na prächtig.“ Kurz darauf wuchtete Marrika einen unangenehm großen, unangenehm schwer aussehenden Stapel an Akten auf den Tresen. „Viel Spaß damit!“, erklärte sie lächelnd, „Oh und Annika? Mittag wie üblich?“ Sie nickte ihr zu, zog den tatsächlich schweren Stapel an sich und hoffte einmal mehr, dass irgendwer daran gedacht hätte, die Adeptenroben gegen Schwitzen zu immunisieren. Nach wenigen Metern merkte sie bereits, dass dem nicht so war… Wie üblich führte ihr erster Weg sie einmal quer durch die Anlage, zu einer recht unscheinbaren, unbeschrifteten Tür. Vermutlich hatte man ihren täglichen Weg extra so angelegt. Um sie zu ärgern. Zu quälen. Zu foltern. Schwitzen zu lassen. Genau – darum ging es! Dass sie jeden Tag in verschwitzten Sachen herumlaufen musste, von früh an, um ihr aufzuzeigen, dass sie kein ordentlicher Magier war! Gedanken wie diese plagten sie immer wieder, wenn sie die Poststelle verließ. Denn es war im Grunde jeden Tag so, dass sie einen gewaltigen Stapel aufgedrückt bekam. Anfragen kamen aus dem gesamten Land herein – und neuerdings auch aus Alrym und Akkara, wie es schien. Das hieß vermutlich, das sich ihre Arbeitslast in wenigen Wochen verdoppeln, verdreifachen oder sogar vervierfachen würde. Und über kurz oder lang waren entweder mehr Aushilfen nötig – denn wenn sie ganz ehrlich mit sich selbst war, dann war das im Grunde, was sie hier tat -, oder aber sie würden ihr einen dieser Bärenstärke-Gürtel geben müssen, damit sie diese Dinger noch herumwuchten konnte. Ein Korb auf Rädern täte es vielleicht auch. Sie klopfte nach einem Moment etwas umständlich mit dem Fuß an der Tür. „Herein“, kam die tiefe, männliche Stimme von drinnen. Sehr gedämpft. Angespannt. Kratzig. Er hatte offenbar wieder einen Abend seinen Sohn bei dieser komischen Sportart beobachtet und sich ihn anfeuernd die Stimme weggebrüllt. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Lass mich“, meinte sie leise. Kurz darauf wurde die Tür aufgezogen und sie eingelassen. „Guten Morgen, Bob! Ich hab dir was Hübsches mitgebracht – Anzünder für deinen Kamin daheim!“ Bob – oder auch Meister Bobatulus Irastris Masinikum von Berlingen – war ein eigenwilliger Magier. Allem voran war er deutlich, unbestreitbar und kaum zu beschönigen übergewichtig. Und er machte sich aus all den Kommentaren, die seine Kollegen diesbezüglich vielleicht aufbieten mochten, nicht das Geringste. Ein Stück weit bewunderte Annika seine Fähigkeit, solcherlei einfach an sich abperlen zu lassen. Bob liebte das Essen. Er liebte es, zu essen. Er liebte das Kochen. Das Würzen. Das Zusammenstellen verschiedener Aromen zu immer neuen Kompositionen. Er verglich es oft mit dem schöpferischen und gleichzeitig konsumierenden Prozess hinter Musik. Verschiedene Noten ergaben eine Melodie – und der geneigte Zuhörer empfand sie als bemerkenswert schön und genoss sie in vollen Zügen. Nur das Bob das mit Essen tat. Darüber hinaus empfand er offenkundig wenig Sinn darin, sich sonderlich um seine Mode zu scheren. Gerade in Mont de Glace, der Stadt der Magier, änderten sich Modetrends häufig über Nacht. Bob dagegen hatte die gleiche, schlicht-braune Robe mit einem stilisierten Drachenmotiv auf dem Rücken seit über fünfhundert Jahren. Und die Letzte hatte er auch nur ersetzt, weil irgendein dummer Adept sie ihm in einem unvorsichtig durchgeführten Experiment angezündet hatte. Darüber hinaus war er schlicht… umgänglich. Er war neben Marrika die freundlichste Seele im gesamten Komplex und das, obwohl er das wirklich nicht hätte sein müssen. Er war ein äußerst fähiger und talentierter Geistmagier – zweifellos konnte er jederzeit jedermanns Gedanken lesen. Konnte die Abgründe in ihren Vorstellungen sehen. Die Boshaftigkeit in manchem Gedankengang erkennen. Aber er tat nichts dergleichen. Annika hatte ihn einst darauf angesprochen und er hatte ihr erzählt, dass er in seiner Jugend diese Fähigkeit tatsächlich exzessiv genutzt hatte, um sein Umfeld zu durchleuchten, zu prüfen, zu kontrollieren. Doch letztlich hatte das sehr an seinen Nerven gezehrt und ihm war klar geworden, dass die Gedanken eines jeden dessen kleines Heiligtum waren, ein – eigentlich – privater Rückzugsort, an dem alles bar lag, unbeschönigt und entblößt. Das war kein Ort, an den ein anderer zu schauen fähig sein sollte. Also hielt er sich die meiste Zeit aus den Köpfen anderer Leute heraus, aus Respekt ihnen gegenüber. Auch das war eine Willensstärke, die sie bewunderte – denn sie war sich nicht so sicher, ob sie die gleiche Entscheidung getroffen hätte, hätte sie ständig die Gedanken der Leute um sie herum lesen können. Allein schon ihre Unsicherheit bei so vielen Dingen. Meinte der da jetzt wirklich, was er sagte? Schnell nachsehen! War das Kompliment aufrichtig oder erhoffte er sich etwas? Schnell nachsehen! Derjenige hatte eine Rätselaufgabe gestellt? Dann dachte er bestimmt gerade an die Lösung – schnell nachsehen! Es wäre gewiss einfach zu verlockend gewesen. Nachdem Bob sie eingelassen und die Tür geschlossen hatte, dämpfte sich das Licht automatisch wieder auf den von ihm eingestellten Grad herab. Der plötzlich im Halbdunkel liegende Raum war eine Katastrophe. So nannten andere ihn jedenfalls fortwährend. Aber Annika wusste inzwischen, das Bob nicht scherzte, wenn er erklärte, dass er jederzeit wisse, wo sich was befände. Vorsichtig navigierte sie die Berge an Notizen, Werkzeugen und magie-technischem Gerät, ehe sie ihren eigenen Stapel vorläufig auf eine freie Ecke des Tisches wuchtete. „Feuerholz, endlich!“, erklärte er mit heiserer Stimme und nahm grinsend wieder Platz, „Aber ich schätze, die werten Herren und Damen weiter oben wären wenig begeistert, wenn du mir deren Spielzeug überlässt.“ „Du warst wieder bei einem Spiel, oder?“ Er grinste, nickte. Eigentlich hätte da vermutlich ein schuldbewusster Ton sein sollen. Seine Frau war… nicht mehr wirklich seine Frau. Sie lebten getrennt, seit Jahrhunderten schon. Das kam vor, immer wieder – ein ewiges Leben versprach dummerweise nicht die ewige Liebe. Und sie mochte es wirklich nicht, wenn er sich in der Nähe ihres Kindes herumdrückte. Vielleicht sollte sie ihn diesbezüglich maßregeln, schon wieder, aber… nicht heute. Sie konnte verstehen, warum ein Vater die Erfolge seines Sohnes miterleben wollte. Warum er ihn von Zeit zu Zeit wenigstens sehen wollte. Und sein Sohn war inzwischen auch zweihundert, vor zwei Jahrzehnten mit der Ausbildung fertig geworden – fähig, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und selbst zu bestimmen, wen er in seiner Nähe duldete und wen nicht. Annika trat zu Bob herüber und lehnte sich vor. Direkt vor Bob war der gewaltige Schreibtisch. Links ein Stapel fertiger Akten, sorgfältig zusammengestellt, ergänzt, sortiert, korrigiert. Vor ihm drei nebeneinander liegende Blatt Pergament, mehrere Tintenfässer und Federn in unterschiedlichem Zustand. Manche leer und schon verkrustet, andere angefangen. Die Federn mal gebrochen, mal gerupft, mal noch intakt und schreibfähig. Rechts dagegen ein großer Stapel frischen, unbeschriebenen Pergaments. Und jenseits des Tisches eine große, breite Scheibe, nur einseitig durchsichtig. Dahinter lag der Grund für all das hier. Für wirklich alles. Obwohl sie aktuell eher saß, als zu liegen. Daeri Vindur, auch Sylphe genannt. Warum auch immer. Der Tiefling war beeindruckend. Ein wenig einschüchternd, auf ihre eigene Art und Weise. Ihr Zimmer jenseits der Scheibe war nicht wirklich luxuriös eingerichtet worden, aber zumindest komfortabel. Man wollte es ihr bequem machen. So bequem, wie es in einem riesigen Gefängnis eben möglich war. Sie war obendrein die einzige Insassin, also bekam sie nicht einmal sonderlich viel Gesellschaft. Nur gelegentliche Besuche von Leuten, die wissen wollten, ob sie irgendetwas wünschte oder benötigte. Neue Stifte, neues Pergament, neues irgendwas – alles… alles, außer ihrer Freiheit. Und Bobs Aufgabe war denkbar simpel. Er schrieb. Sehr schnell, sehr viel. Mit der gestiegenen Anzahl an Anfragen und Akten allerdings würde man wohl irgendwann auch Bob Verstärkung zukommen lassen müssen. Ein weiterer, sehr speziell talentierter Geistmagier, der zeitgleich über die Fähigkeit verfügte, sehr schnell gut sortierte und gut lesbare Notizen anzufertigen. Denn dieser gewaltige Berg an Akten, den sie von Marrika bekommen hatte? Der war eigentlich für Daeri. Dummerweise gab es in ihrem Zimmer bereits einige Stapel davon. Und es würden einfach nicht weniger werden, im Gegenteil. Ein wenig tat der Tiefling Annika schon leid. Sie wusste, dass sie hier gefangen gehalten wurde, gegen ihren Willen. Doch letztlich war der Großteil der Sicherungsmaßnahmen nicht der Vermutung geschuldet, sie könne fliehen. Dafür hatte man Bob. Nein, man fürchtete… wie hatten sie es genannt? Industriespionage? Jede Akte ein Problem. Mit allen Details, die man dazu hatte zusammentragen können. So genau wie möglich formuliert und beschrieben, mit Bildern und Erklärungen und Plänen und Karten. Und Daeri löste sie. Manchmal binnen Minuten. Spielend leicht, als wären es keine Rätsel, die schon Jahre jenen Magier beschäftigten, sondern Knobelaufgaben für Kinder. Sie war unbestreitbar brillant, aber sie war auch… seltsam. Seltsam entrückt. Sie verstand manche Dinge nicht wirklich, wie es schien. Bob hatte versucht, es ihr zu erklären. Das ihr Geist auf seltsame Weise funktioniere, einfach anders funktioniere als die meisten anderen. Er konnte es verstehen. Dass hatte seine Zeit bedurft, aber er adaptierte schnell. Und die Problemlösungen Daeris waren ein Vermögen wert – jede Einzelne. Sie konzipierte nicht einfach nur Veränderungen. Eine Maschine war unzureichend für die zu verrichtende Arbeit? Mit diesen und jenen Abwandlungen nicht mehr! Nein, sie schuf völlig neue Wege. Die Lichtschranken waren auf einen ihrer Entwürfe zurückzuführen. Und weil sie revolutionär waren und ein Vermögen wert waren, gab es andere, die Entwürfe zu stehlen versuchen würden. So jedenfalls die Erklärung. Und Annika sah wenig Grund, daran zu zweifeln – Magier, die Magier bestehlen würden? Früher hätte sie das vielleicht schockiert, sie hätte sich über den bloßen Gedanken empört… aber früher war eben früher und heute war heute und sie, sie war Adeptin und hatte einige Jahre der Ausbildung hinter sich gebracht, hatte das Buhlen der anderen Studenten um Aufmerksamkeit verfolgt, hatte die Intrigen beobachtet. Man hütete hier einen Schatz. Man hütete hier Daeris Verstand. Und gegen eben jenes Vermögen, das es wert war, ihr eine Frage zu stellen, durfte man ihr seine Probleme vorlegen. Dabei gab es keine Reihenfolge. Daeri besaß gewissermaßen kreative Freiheit – sie suchte sich aus, welche Akten sie bearbeitete und welche nicht. Bob war nur dafür zuständig, die Entwürfe und Ideen, die sie letztlich zu Papier brachte – und falls er schnell genug dafür war auch die, die sie verwarf – verständlich zu machen. Denn ihr Verstand funktionierte anders und kaum jemand war fähig, die Daeri-Reinentwürfe zu lesen. Das gelang oft erst mit Bobs Notizen. „Na gut, ich bringe ihr gleich den neuen Schwung. Du wartest so lange auf mich?“, hakte Annika mit gedämpfter Stimmung nach, als sie einige Minuten Daeri beim Zeichnen beobachtet hatte, während Bob die Feder geschickt und flink von Tintenfass zu Pergament und zurück führte. „Auf dich würde ich Jahrhunderte warten, Liebchen!“, witzelte Bob. Sie boxte ihm spielerisch gegen die Schulter – die Linke natürlich, damit er sich nicht verschrieb – und wanderte dann erstmal in einen anderen Teil der Anlage. Bei Helena bestellte sie das Übliche und bekam kurz darauf Daeris Frühstück ausgehändigt. Damit bewaffnet, kehrte sie zurück, drapierte das Essen vorsichtig oben auf dem Aktenstapel und balancierte den denn aus Bobs Arbeitszimmer heraus. Sie schloss die Tür zu Daeris Zimmer auf, trat ein und schloss sie hinter sich wieder – ohne abzuschließen natürlich, sie hatte immerhin beide Hände voll. „Guten Morgen, Daeri! Heute gibt es Pfannkuchen. Ich hoffe, du magst Pfannkuchen? Und, naja… schon wieder mehr Akten. Einer versucht, eine Stadt am Meeresgrund zu bauen, aber er will dabei nicht auf Magie zurückgreifen müssen, weil das zu anstrengend wäre. Und ein anderer will eine Stadt in den Himmel bringen. Dass sie von allein hoch über den Wolken schwebt. Ich finde das ja ein wenig gefährlich, ich meine… wenn die Maschinen ausfallen, stürzt sie ab, oder nicht?“ Es gab, wie jeden Tag, ein kurzes Gespräch zwischen ihnen, in denen der Tiefling ihr aufzuzeigen versuchte, warum eine Stadt in der Luft tatsächlich eine reichlich dumme, wenn auch nicht unmöglich umzusetzende Idee war, während die Stadt unter Wasser ihr tatsächlich offenbar eine neue, kreative Spitze bescherte. Die Pfannkuchen wurden dabei nur mäßig gewürdigt, aber immerhin aß sie überhaupt. Und während der Unterredung musste Annika einmal mehr feststellen, dass sie aus Daeri einfach nicht schlau wurde. Sie… verstand wenig von dem, was sie da erzählte. Sie bemühte sich wirklich und hatte immer geglaubt, mit dem Dasein als Mitglied des Zirkels – Adept oder nicht – gehe eine gewisse Intelligenz einher. Aber ihre Lehre allein hatte ihr bereits deutlich bewiesen, dass es auch Magier geben musste, die dumm wie Brot waren. Die Gabe, arkane Energien zu weben, war nicht vom Intelligenzlevel des Lebewesens abhängig… Nachdem das Gespräch dank Daeris neuem Schub zum Erliegen kam, nahm sich Annika stattdessen einfach den Stapel der bereits gelösten Akten. Sie schloss die Tür wieder sorgfältig ab, klopfte erneut bei Bob und gab dem die nötige Zeit, die richtigen Notizen zu den richtigen Akten zu packen und ihnen die richtigen Stempel aufzudrücken. „Dann bis später“, erklärte er geistesabwesend, während die Feder eilig über das Pergament kratzte. Sie nickte lediglich, wissend, dass er jedwede Erwiderung ohnehin nicht mehr mitbekommen würde. Mit dem frisch versorgten Aktenstapel ging es in den größten Trakt der Anlage. Mehrere Bereiche waren hier unterteilt worden. Es gab ganze Abteilungen mit teilweise bis zu einem Dutzend der klügsten Köpfe Ordeweys, um Daeris Pläne zu entschlüsseln, in etwas Praktikables umzusetzen und dann, letztlich, zum Wohle aller zu verkaufen. Da hinten irgendwo war die Abteilung für Transportwesen. Die versuchten immer noch – wenngleich auch eher als Hobby nebenbei, da sich die ursprünglichen Originalpläne nicht mehr auftreiben ließen -, Daeris Idee von Unterseebooten zu rekonstruieren. Es war bekannt, dass sie dazu keine Magie verwendet hatte. Also musste es irgendwie rein technisch umsetzbar sein. Doch der Tiefling weigerte sich vehement, die Pläne einfach noch einmal zu zeichnen. Das sei nicht nutzbringend. Oder langweilig? Nein. Nein, Daeri würde nichts als ‚langweilig‘ bezeichnen. Das entsprach nicht ihrem fachlich orientierten Jargon. Aber die Transportabteilung hatte oft gut zu tun. Und arbeitete eng mit der Abteilung direkt daneben zusammen: Energiewirtschaft. In Kooperation miteinander entwickelten sie Generatoren, die aus verschiedenen Reagenzien und Rohstoffen elektrische Energie produzierte. Annika tat sich nach wie vor schwer damit, die elektrische Energie eines Generators von der arkanen Energie eines magischen Blitzschlags zu unterscheiden – aber vielleicht war das auch einer der Gründe, warum sie Adeptin war und der Rest Herrinnen und Meister. Die Lichtschranken an der Freiflächenbegrenzung beispielsweise liefen mit irgendeinem sehr effektiven Energieverfahren, das allerdings auch sehr gefährlichen Abfall produzierte. Sie wusste nicht, wie und wo man den entsorgte oder was man generell damit tat, hatte da allerdings eine üble Befürchtung. Denn gerade, wenn es in der Energiewirtschaftsabteilung um Abfallentsorgung ging, wanderten ein paar der dort stationierten Magier mit diversen Akten hinüber zur Offensiv/Defensiv-Abteilung. Die wiederum arbeitete manchmal mit dem Transportwesen zusammen, um Kriegsschiffe zu entwickeln. Manchmal sogar fliegende Kriegsschiffe. Oder die Bewaffnung für Unterseeboote. Aber Annika ekelte sich ein wenig vor der Vorstellung, diese Abteilung würde den Müll aus der Energiewirtschaft irgendwie als Waffe verwenden. Etwas halb Verrottetes mochte gut als Stinkbombe taugen und ein von Maden zerfressenes Stück Fleisch, jemandem vor die Füße geworfen, mochte auch in dem Moment zur Waffe werden, wenn er sich vom Anblick provoziert übergab und dadurch unaufmerksam war. Aber sie konnte und wollte sich einfach nicht vorstellen, wie genau das wohl aussehen mochte. Obwohl sie ihren damaligen Gedanken nach wie vor erheiternd fand, demnach es irgendwo ein Lager voller benutzter Blitze gab, die zwar noch leuchteten, aber nicht mehr kribbelten. Natürlich gab es auch noch die Abteilung für Bau- und Konstruktionswesen. Da würde vermutlich Daeris Lösungsansatz zur Konstruktion einer Unterwasserstadt landen. Und Annika musste zugeben, dass sie doch neugierig war, wie das wohl aussehen mochte. Und wie es generell wäre, am Meeresboden zu leben. Dunkel und kalt, allem voran, so schätzte sie. Aber falls man ein paar hübsche, bunte Lichter mitbrachte und gut heizte…? Es musste ein beeindruckender Anblick sein, wenn dann und wann ein neugieriger Wal am Fenster vorbeischwamm… Die letzte Abteilung war schlicht die für Sonstiges. Eine recht überforderte Abteilung, weil sich längst nicht immer einordnen ließ, was genau man da eigentlich vor sich hatte. Die dortigen Magier waren Bob dahingehend ähnlich, das sie Querdenker waren. Kreative Geister, die rasch die Perspektive wechseln konnten. Um ein Problem aus einer anderen Warte zu betrachten. Häufig endete das darin, dass sie erkannten, worum es ging – und die Akte einer der anderen Abteilungen zuschoben, weil sie sich mit dem richtigen Blickwinkel dort einordnen ließ. Sie hatten ja immerhin auch so schon mehr als genug zu tun. Annika hatte selten mit den vielen, vielen allzeit geschäftigen, ernsten und grummeligen Magiern dort zu tun. Die Damen und Herren waren für ihren Geschmack viel zu verbissen und wirkten stets so gehetzt. Selbst in der Mittagspause kamen sie oft nur in die Kantine, nahmen sich etwas und verschwanden wieder an ihre Schreibtische. Glücklicherweise hatte sie ohnehin so gut wie nie mit denen zu tun, denn ihre Aufgabe endete üblicherweise an der letzten Abteilung in diesem Bereich: Hellseherei. Als Kind hatte sie immer geglaubt, dass jeder Magier fähig sei, die Zukunft zu sehen. Später erfuhr sie zu ihrer Enttäuschung, dass das genau genommen Zeitmagie wäre. Hellseherei war schlicht nicht fähig, irgendwem irgendwas über die Zukunft zu erzählen, dass man nicht mit einem klugen Verstand auch hätte sagen können. Magie wirkte so nicht. Die normale Magie jedenfalls nicht. Aber: Hellseherei konnte einem sehr wohl eine Menge über die Vergangenheit erzählen. Wie genau das wiederum dabei half, aus Daeris Entwürfen und Bobs Notizen schlau zu werden, war Annika ein Rätsel. Aber sie tat jeden Tag das Gleiche. Sie holte neue Rätsel, gab sie Daeri und nahm die gelösten Rätsel mit. Die bekamen Notizen von Bob verpasst und landeten in der Abteilung für Hellseherei – die ihrerseits die Entwürfe und Notizen in Einklang brachte, üblicherweise Bobs aufgestempelte Abteilungsempfehlung unterstützte und die Akte dann dorthin wandern ließ. Sie musste schlicht nicht wissen, wie es funktionierte. Es war für die Art ihrer Anstellung unnötig. Und auch das trug dann und wann ein klein wenig zu ihrer Frustration bei. Man nahm sie nicht ernst – das konnte sie verstehen. Aber das man nie zu glauben schien, ihr auch irgendetwas hierüber erzählen zu müssen… sie arbeitete doch hier, oder nicht?! Und sie tat gute Arbeit – so gut man sie eben ließ! Mit einem schweren Seufzen begann sie den lästigen Teil des Tages, der sich ein ganzes Stück bis zum frühen Nachmittag ziehen würde: Den verschiedenen Abteilungsleitern hinterher rennen in dem Versuch, die bereits abgefertigten Akten einzusammeln – man konnte die Umschläge ja immerhin wiederverwenden -, die Unterlagen rüber ins Archiv zu bringen und die Pläne zur Poststelle zu schleppen, zwecks Versand. Immerhin musste sie, wie jeden Tag, im Grunde nur einen ersten Warnschuss an die Abteilungen abgeben, hier und da höflich und angemessen duckmäuserisch herumfragen, ehe sie erst einmal zu ihrer Mittagspause davonschleichen konnte. Marrika erwartete sie in der Kantine bereits mit zwei gut befüllten Tabletts. Sie setzte sich wie gewohnt zu ihr, nahm das kleine Küchlein zuerst und grinste zufrieden, als sie genüsslich darauf herumkaute. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so viel Wonne dabei empfindet, gegen die Regeln zu verstoßen, indem er die Nachspeise zuerst isst…“, merkte die Brünette an. Annika grinste zur Antwort, biss nochmals herzhaft ab und kaute in aller Ruhe, ehe sie sich kurz umsah. Die Kantine war nicht leer, wirklich nicht. Hier und da saßen vereinzelte Gruppen an Magi und diskutierten. Manche flüsterten, andere nicht. Manche lachten dann und wann auf, andere nicht. Spürbar war nur der räumliche Abstand zwischen allen. Die Kantine war darauf ausgelegt, im Notfall wirklich jeden einzelnen Kopf, der hier arbeitete, auf einen Schlag unterbringen zu können. Aber Magier waren ein eigenwilliges Volk. Eines, das absurde Probleme mit festen Essenszeiten hatte. Weshalb der Speisesaal so gut wie nie mehr als zu einem Viertel, höchstens einem Drittel gefüllt war. „Was ist mit Bob?“, erkundigte sich Marrika weiter, nachdem sie einen Gutteil ihres Gemüseauflaufs verspeist hatte. Annika zuckte mit den Schultern. „Wie du schon sagtest – mehr Zeug da. Außerdem hatte Daeri wieder Einfälle.“ Die Brünette nickte. „Schade. Aber gut, vielleicht klappt es ja die Tage wieder.“ Sie aß einen Moment weiter, ehe ein Gedanke sie innehalten und amüsiert schnauben ließ. „Weißt du, es ist immer noch seltsam.“ „Hm?“ „Bob. Und Annika. Und Jeremiah. Und Alex. Ich glaube, bevor du hier angefangen hast, kannte ich vielleicht einen Vornamen der Leute, die hier arbeiten? Und es ist einfach so merkwürdig, nach all den Jahren an einem Projekt zu arbeiten, bei dem man sich kontinuierlich duzt und beim Vornamen nennt. Es erweckt irgendwie diesen Eindruck von… Familiarität? Zugehörigkeit zumindest. Macht den ganzen Laden hier ein bisschen weniger drückend und beklemmend.“ Annika errötete leicht. „D-Danke. Ich… ich meine… ja: Danke. Freut mich, wenn ich was Sinnvolles beitragen kann. Ich meine, viel mehr als das ist es ja auch nicht. Ein paar simple Teleporationszauber könnten das Herumschleppen der Akten genauso gut erledigen. Ich bin mir nicht  ganz sicher, wozu ich eigentlich hier bin, aber als wirkliche Hilfe ist’s bestimmt nicht.“ Marrika nickte. Sie führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal. Und da sie selbst eine äußerst talentierte Transportmagierin war, wusste sie nur zu gut, wie gering der Aufwand gewesen wäre, Annikas Arbeiten einem repetitiven Zauber zu überlassen oder dafür irgendein kleines Stück zu basteln. „Naja, vielleicht bist du auch einfach hier, um uns alle bei Laune zu halten. Einschließlich Bob und Daeri, hm? Und darin bist du ja ziemlich gut.“ Die Röte wurde etwas intensiver auf ihren Wangen, sie nickte leicht und stocherte mit einem seltsam mulmigen Gefühl in der Magengegend in ihrem Essen herum. „Hast du eigentlich schon gehört, das Peter einen Antrag bekommen hat?“, amüsierte sich Marrika kurz darauf und erlöste Annika von ihrer Folter. Die schaute irritiert, aber dankbar auf und schüttelte den Kopf. „Ja, von seiner Freundin. Jetzt Verlobte, schätze ich. Der Ärmste. Er hatte so viele Monate in die Vorbereitungen investiert. Nächste Woche, sagte er, will er sie fragen. Tja – sie kam ihm zuvor. Kein großes Schauspiel, wie er es geplant hatte. Einfach nur die Frage. Aber er meint, er will es trotzdem durchziehen. Damit nicht alles umsonst war und als Dankeschön.“ Wie üblich, verloren sich die Tischgespräche nach und nach in Klatsch und Tratsch. Über die eigenen Leben, über die der anderen, über all die unsinnigen Kleinigkeiten, die das Miteinander zwangsläufig mit sich brachte. Und als sie auf ihre Posten zurückkehrten, da fiel es Annika sehr viel leichter, wieder den Abteilungen, ihren Leitern und deren Plänen nachzujagen. Gegen Nachmittag machte sie einen letzten Abstecher bei Bob. Sie brachte ihm eine frische Kanne Kaffee aus der Kantine vorbei, doch der war noch immer damit beschäftigt, zu schreiben. Bergeweise türmten sich die Notizen inzwischen auf. Das hätte dann morgen wohl ein verdammt arbeitsreicher Tag werden können. Sie legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schultern. „Übertreib’s nicht, hm? Irgendwann fällt dir noch die Hand ab. Ich… ich mach für heute Schluss.“ Kurz hielt er inne, sah auf. Musterte zunächst die Kanne wie man eben einen Gegenstand ansah, dessen Existenz man sich zuvor nicht gewahr gewesen war, ehe er seinen Blick zu ihr schweifen ließ. „Dann – und darauf kannst du Gift nehmen – würden sie einen ganzen Trupp der fähigsten Heiler herschicken, um sie mir wieder anwachsen zu lassen“, erklärte er im Brustton der Überzeugung, ehe er sich zu einem weicheren Lächeln hinreißen ließ, „Gut, dann komm gut heim, hm? Wir sehen uns morgen früh?“ Annika trat zur Tür und verfolgte amüsiert, wie Bob bereits wieder furios auf das Pergament kritzelnd seine Aufmerksamkeit abgewandt hatte. „Pass gut auf dich auf“, meinte sie leise und schloss vorsichtig die Tür. Sie kam mit ihrem vor selbiger wartenden Stapel an Unterlagen schließlich einmal quer durch die Anlage gewandert wieder bei Marrika an. „Hey. Ich mach Schluss für heute. Das hier ist das Abteilungszeug.“ Die Brünette runzelte einen Moment die Stirn, nahm jedoch zunächst sämtliche Pläne an. „Alles gut?“ Annika seufzte leise. „Naja… nicht wirklich. Weiß nicht, vielleicht hat mir das Essen auf den Magen geschlagen.“ „Soll ich den Heilern Bescheid geben?“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Danke, aber ich denke, das ist nicht nötig. Ich hab noch ein paar Stunden über. Ich geh einfach früher heim, schmeiß mir den Kamin an und leg mich ein wenig hin.“ Einen Moment musterte Marrika sie noch besorgt, ehe jener kritische Blick in ein Lächeln aufweichte und sie nickte, sogar ein wenig Schalk in ihre Augen trat. „Gut, mach das. Und gute Besserung. Ich hab dir ja immer gesagt, dass es dich irgendwann teuer zu stehen kommen wird, wenn du weiterhin die heilige Ordnung des Essens störst! Ich sag’s dir, das ist Pales‘ Rache für all die Törtchen vor dem Hauptgang…!“ Lachend nickte Annika. „Selbst wenn – dann war’s das wert und ich sterbe mit Würde und einem siegreichen Lächeln!“ Beide amüsierten sich noch einen Moment darüber, ehe Annika sich zurückzog. Wieder in der Umkleide, atmete sie tief durch. Ihr war immer noch unwohl. Vielleicht lag das wirklich an den Törtchen…? Nein. Nein, das war völlig lächerlich. Törtchen waren zu gut, um einem so etwas anzutun. Sie konnten gar nichts Schlechtes tun oder sein. Völlig unmöglich. Langsam schälte sie sich aus der verschwitzten Adeptenrobe, gab sie in den Korb für die Dreckwäsche und schlüpfte wieder in ihre eigene Kleidung. Morgen würde die Robe wieder sauber in ihrem Spind hängen, wie immer. Lächelnd strich sie nochmals über die kalte, metallische Spindtür, ehe sie den Schlüssel drehte, abschloss und sich auf den Weg nach draußen machte.   Der Sonnenuntergang war atemberaubend schön. Ob da auch mit Magie nachgeholfen worden war? Es war Ordewey. Vermutlich sollte es niemanden überraschen, falls dem so wäre. Irgendwelche merkwürdigen Effekte in der Luft oder Illusionen, die jeden betrafen, dessen Füße auf Ordeweys Grund und Boden standen. Möglichkeiten gab es da bestimmt viele. Und für Magier musste es im Grunde ganz leicht sein, jemanden etwas als schöner empfinden zu lassen. Illusionen, Geistmagie, Verwandlung… sicherlich könnte man sogar mit Feuermagie einwirken, irgendwie. Oder Naturmagie – Pflanzen, die einen Duftstoff ausstießen, der einen empfänglicher für Schönheit machte. Sowas gab es bestimmt irgendwo, oder nicht? Seufzend blickte Annika auf die See hinaus. Der Sand des Strandes war ein wenig lästig geworden in den letzten Stunden. Er rieselte ständig in ihre Schuhe hinein. Irgendwie. Als leise Schritte zu hören waren, drehte sie sich nicht um. Wartete lediglich ab, bis sich die Gestalt Daeris neben sie stellte. „Hi Daeri!“, grüßte Annika mit einem ehrlich erfreuten Lächeln. „Hallo Alistair“, erwiderte der Tiefling. Dem Dieb entglitten ein wenig die Gesichtszüge. „Ach komm schon! Das war bombensicher! Wir haben uns so verdammt viel Mühe gegeben! Wieso kannst du einfach-… woher… seit wann… aber… wie?!“ Hatte… hatte sie da gerade geschmunzelt? Hatte Daeri gerade… geschmunzelt?! „Mein Name. Du sprichst ihn seit dem ersten Tag auf eine sehr spezifische Weise aus, die ich so nur von dir und in sehr ähnlicher Form aus Lumiél kenne. Angesichts der Geduld anderer, ihrer bevorzugten Methoden und Fähigkeiten war das die wahrscheinlichste Lösung aus der ohnehin recht kleinen Schnittmenge.“ Er grummelte. „Das ist nicht fair. Du bist nicht fair.“ Ihr Nicken hätte ihn unter anderen Umständen vielleicht provoziert – so jedoch… „Oh und wenn wir schon dabei sind: Genau das ist der Grund, warum du damit umsichtiger sein solltest!“, erklärte er nachdrücklich und deutete zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der Gefängniskomplex lag eine gute Stunde von hier. „Wie sieht der weitere Plan aus?“, erkundigte sie sich dessen ungerührt. Das hingegen erinnerte ihn an etwas anderes. „Die Notiz. Du hast sie gefunden? Gelesen?“ Daeri nickte. „Großmeister Khranril Deehrn von Alrym ist tot. Es war sehr riskant, eine Anfrage von ihm einzuschmuggeln. Hat der darin beschriebene, namenlose Kahlkopf wirklich eine experimentelle alchemische Verbindung zur Steigerung des Haarwachstums ausprobiert und ist nun Opfer einer exponentiell wachsenden Ganzkörperbehaarung?“ Alistair gluckste, verschluckte sich mehrfach und hatte generell schwere Not, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Er schüttelte noch immer breit grinsend den Kopf, als er sich unter Aufbietung aller Willenskraft beherrschen konnte. „Nicht ganz, nein…“ Sie nickt abermals. „Ich habe die Notiz erhalten, ja. Ich habe den beschriebenen Individuen keinerlei folgenschwere Schäden zugefügt, sie werden sich erholen.“ „Danke“, erklärte er etwas ernster und aufrichtig erleichtert. Marrika und Bob und viele der anderen waren einfach nur… Leute. Die morgens zur Arbeit gingen, ihr Soll erfüllten und am Nachmittag heim wollten. Hätten sie diesen Job nicht getan, hätten es andere übernommen. „Der Plan?“ Er begann unweigerlich wieder zu grinsen. „Oh nun ja… ursprünglich war ich nicht sicher, ob es nicht klüger wäre, allein zu kommen. Das wir zwei das gemeinsam regeln und gut ist. Ich wusste, wo ich hin muss und war mir sicher, dass ich schon einen Weg finden würde, wie ich rein käme.“ „Aber?“, hakte sie nach, als er eine dramaturgische Pause ließ. „Aaaber… Lileth war nicht sehr angetan von meiner Idee, dass ich schon einen Weg finden würde. Und Thorin war nicht angetan von der ganzen Magier-entführen-Daeri-Kiste. Und Sierra wies mich dann darauf hin, dass ich keine Ahnung hatte, wie wir eigentlich von hier wieder weg kommen, sobald ich dich rausgehauen habe.“ Sie nickte, offenkundig abwartend. „Aaalso… habe ich die Kavallerie gleich mitgebracht. Ich präsentiere…“ Aus einer seiner Taschen zog Alistair eine kleine Konstruktion, die verdächtig goblinischen Ursprungs erschien und feuerte die Signalpistole nach oben. Das Geräusch glich eher einem dumpfen, gedämpften Aufschlag von etwas in Flüssigkeit, doch das grell leuchtende Geschoss stieg in die Lüfte und… wechselte ständig die Farbe. „Huh. Das sollte es eigentlich nicht tun…“ Und direkt in den Küstengewässern vor ihnen zerfiel die Illusion der Normalität und aus dem gelüfteten Umhang der Unsichtbarkeit tauchte ein gewaltiges, mit unangenehm vielen Kanonen bestücktes Kriegsschiff auf. „Darf ich vorstellen: Die L.M. Vindur! Sie war ja fast fertig, als du verschwunden bist und wir dachten uns, dass das eine gute Gelegenheit für die Jungfernfahrt wäre… und eine Umbenennung.“ Ohne große Umschweife hängte er dem Tiefling eine Kette um. Damit würde es in Zukunft um ein Vielfaches schwerer werden, sie mit Späh- und Teleportationszaubern zu erfassen. Schwer zu glauben war nach wie vor, dass dieser kleine Anhänger mehr gekostet hatte als das verdammt riesige Schiff da drüben… „Na komm, verschwinden wir. Deine Werkstatt daheim wartet auf dich…“ Kapitel 54: Gewaltfreie Methoden -------------------------------- „Du musst langsam lernen, auf eigenen Beinen zu stehen“, witzelte Thorin heiter, als das Gröbste getan war. Und wie gern hätte sie ihm dafür eine Ladung frischen Schlamm direkt in sein breites, selbstgefälliges Grinsen gedrückt. Doch Sierra beherrschte sich. Nicht nur, weil sie wusste, dass er sie lediglich aufzog und es nicht böse meinte. Sondern allem voran, weil sie die nicht völlig unbegründete Befürchtung hegte, dass das Heft ihres Schwertes sie durchbohren könnte, sollte sie in ihren Anstrengungen nachlassen. Der nordländische Riese, der auf ihr lag, mochte sicherlich um die einhundertzwanzig, vielleicht sogar einhundertdreißig Kilo wiegen. Die Klinge ihres Schwertes ging durch seine Brust, war irgendwo an Rippen abgerutscht, durchgestoßen und tatsächlich auf der Rückseite herausgetreten. Und genau das war das Problem. Tot war er schon lange – ein dünnes Rinnsal aus Blut sickerte aus seinem leicht offenstehenden Mund direkt auf eine Stelle am Boden keine zwei Zentimeter von ihrem Ohr entfernt. Und vermutlich in ihre Haare. Die Vorstellung allein machte sie wiederum wütend genug, die Hände noch etwas verkrampfter um das Schwertheft zu schließen. Unzählige Wunden hatten ihn letztlich in die Knie gezwungen. Hätten es auch, bevor er sich entschied, sie mit in den Tod zu reißen, indem er sich direkt in ihr Schwert stürzte – die eigene Waffe ebenfalls zur Attacke bereit. Nur das sie geschickt unter seinem Schlag wegduckte. Sie hatte lediglich nicht erwartet, wie, nun… wuchtig ein Zusammenprall mit ihm wäre. Er hatte sie umgeworfen und sich dabei selbst aufgespießt. Und jetzt bekam sie aufgrund der unglücklichen Position ihres Schwertes allmählich Krämpfe in den Armen und wurde die Befürchtung nicht los, dass die schlimmste Wunde dieses Kampfes, die sie erlitten haben würde, von ihrer eigenen Waffe stammte. Das wäre einfach nur peinlich. Sie hätte ihn wirklich gern schlicht zur Seite abgewälzt. Das wäre nur gut und logisch gewesen. Nur lag links ein kleiner Berg aus zwei weiteren, von Thorin gefällten Riesen und rechts ging es die Böschung hinab. Sie wusste nicht, wie tief oder wohin und wenn sie ihn zur Seite wälzte, nun… ihr Schwert steckte ziemlich tief drin und ihre Kraft war nahezu erschöpft. Sie wollte die Klinge allerdings schon behalten. Irgendwo rauschte Wasser und das hätte ihr jetzt noch gefehlt, nach dem ganzen Desaster, was diese Reise bisher war – ihre Klinge an einen Fluss zu verlieren. „Halt die Klappe und mach dich endlich nützlich!“, fluchte sie kleinlauter, als ihr lieb war. „Wohoho, ganz ruhig mit den jungen Pferden – sonst setz‘ ich mich am Ende vielleicht auch einfach oben drauf und deine heutige Trainingseinheit besteht darin, dir zu überlegen, wie du dich aus der Misere befreist“, schoss Thorin unumwunden zurück. Nach wie vor nicht ernst, aber doch mit leicht rügendem Unterton. Glücklicherweise musste sie nicht weiter mit ihm herumzanken. Vermutlich, weil er nur zu gut um ihre Kräfte und Reserven wusste. In letzter Zeit hatte sie oft das Gefühl gehabt, dass er besser um ihre Grenzen und Fertigkeiten wusste als sie selbst. Mit allem, was er wusste, konnte und verstand war ziemlich offensichtlich, dass Thorin früher einmal Soldat in irgendeinem Heer gewesen sein musste. Bei seiner kommandierenden Stimme und dieser Aura der Autorität, die er zumindest auszustrahlen fähig war, vermutlich sogar in einer höheren Position. Die Vorstellung, von ihm taxiert, analysiert und bewertet zu werden, damit er ein persönlich auf sie zugeschnittenes Trainingsprogramm entwickeln konnte, um ihre Potenziale aus deren Winterschlaf zu kitzeln, war absurd. Dann wiederum: In den Nächten war er es schließlich, der ihr einen Teil ihrer Kräfte raubte. Die kläglichen Reste des Vortages und dem Gefühl von Erschöpfung am Morgen nach zu urteilen auch einen kleinen Teil der Reserven für den nächsten Tag. Vielleicht wusste er einfach deshalb, wieviel er ihr zumuten konnte. Denn in dem Feld war er definitiv auch kein Waisenknabe… „Denkst du, die hören irgendwann auch mal wieder auf, uns zu jagen?“, erkundigte sie sich ätzend, als sie dank seiner Hilfe endlich ihre Freiheit wiedergewann. Er hievte mit sichtlicher Anstrengung den Hünen von ihr herunter, sodass sie direkt die Klinge aus dessen Leib ziehen konnte und platzierte den Toten auf seinen zwei Kameraden zu ihrer Linken. Die angebotene Hand nahm sie nur zu gerne an und ließ sich auf die zugegeben wackeligen Beine ziehen. Sechs Anhänger des Kultes der Mohnblume, alle riesig, alle in soliden, beschlagenen Lederrüstungen, ausgestattet mit gewaltigen Hämmern, Äxten und Großschwertern, alle mit dem Emblem einer stilisierten Mohnblume auf ihrem Helm, alle… tot. „Verdammte Fanatiker“, zischte Thorin leise, schulterzuckend, ehe er mit den üblichen Aufräumarbeiten begann. Rüstungen und Waffen waren Geld wert, Proviant war gern gesehen, gerade hier und jetzt. Wasser war auch in Ordnung. Alles, was sie gebrauchen konnten, nahmen sie – und gebrauchen konnten sie letztlich fast alles. „Keine Ahnung und mir auch egal. Irgendwann sollten sie einsehen, dass ihre Leute nicht erfolgreich sind. Das ist jetzt die dritte Gruppe. So sehr beleidigt haben wir sie nun auch wieder nicht. Ich schätze, ein oder zwei Gruppen noch, höchstens. Wenn sie danach weitermachen, gibt es bald keinen Kult mehr. Sie brennen sich selbst aus.“ Sierra half natürlich, so gut ihre erschöpften Reserven es zuließen. Wobei es jetzt etwas besser wurde. Nun, da sie wieder frei atmen und ihren Armen wenigstens etwas Entlastung und Entspannung zugestehen konnte. „Du gehst davon aus, dass sie nicht erfolgreich sein werden. Die nächste Gruppe schafft es vielleicht schon. Oder zumindest könnte das sein, worauf sie hoffen? Zermürbungstaktik, quasi?“ Thorins amüsierter Blick sagte alles Nötige. Zu ihrer Verteidigung zuckte Sierra lediglich mit den Schultern. „Was? Erfahrungsgemäß sind die wenigsten Leute wirklich… naja… klug. Ganz zu schweigen von: Taktisch versiert.“ Seine Braue wanderte ob des indirekten Hohns seiner Lehrsätze etwas höher und Sierra entschied, ihr Glück an dieser Stelle nicht überstrapazieren zu wollen. Stattdessen setzte sie ihre Suche fort und bereute gedanklich, dass sie sich vor ein paar Wochen auf Thorins Scherze bezüglich des Emblems und Namens des Kultes überhaupt eingelassen hatte. Es war – in dem Moment – das Witzigste gewesen, was ihr seit vielen tristen Tagen untergekommen war. Aber jetzt? Jetzt war es eine gute Lektion darin, dass man sich nie zu sicher sein sollte, wer nicht alles ein vermeintlich privates Gespräch mithörte. Es dauerte keine halbe Stunde, dann waren ihre üblichen Aufräumarbeiten abgeschlossen. Die nunmehr fast nackten Leichen, bekleidet nur noch mit ihrer Unterwäsche und den vermutlich kulturell irgendwie bedeutsamen Tätowierungen, ließen sie für die Tiere liegen. Thorin befand das nur gerecht. Sie waren zwar gute Gegner gewesen, herausfordernde Gegner, aber man jagte sie wie Füchse – sandte die Hunde hinter ihnen her, während der eigentliche Jäger irgendwo bequem in der Ferne auf Erfolg wartete. Das wiederum passte ihm offenkundig so gar nicht und obgleich dieser Fuchs vor den ihnen jagenden Hunden Respekt hatte, war sein Widerwille dem Jäger gegenüber groß genug, die Hunde nicht zu begraben. Wie er es jedoch sowieso nur für die wenigsten seiner Gegner letztlich auch tatsächlich tat. Ein Knurren unterbrach ihren flapsigen Kommentar, als sie sich wieder zu Thorin gesellte. Rasch schoss leichte Röte in ihre Wangen. „Hätte mich wirklich gefreut und auch gewundert, hätten die etwas mehr Proviant dabei gehabt.“ Thorin musterte sie kritisch, nickte dann und begann, in seinem Rucksack zu wühlen. Nach einem Augenblick zog er drei Streifen Trockenfleisch und ein Viertel Brötchen hervor, inzwischen hart wie Stein. „Iss“, wies er knapp an und drückte es ihr in die Hand. Sierra fühlte sich damit mehr als unwohl. Thorin hatte Hunger, so wie sie auch. Daran gab es keinen Zweifel, konnte es nicht geben. Wie lange hatten sie kein vernünftiges Mahl mehr gehabt? Dieser ganze Landstrich war verflucht. Vielleicht nicht wortwörtlich verflucht… oder, nun, vielleicht ja irgendwie doch. Die Hungersnot, die in dieser Region grassierte, war fürchterlich. Auf einer kargen Strecke, die nur alle drei bis vier Tage ein Gasthaus aufbot, hatten sie die Auswirkungen gesehen und auch am eigenen Leib erlebt. Die Gasthäuser boten Wasser. Für das Bier fehlte die Gerste. Für den hiesigen, berüchtigten Schnaps die notwendigen Pilze. Für die Lammkeule fehlte das Lamm und für die Beilagen die Kartoffeln, die Erbsen, die Möhren. Proviant gab es höchst selten zu kaufen. Anfangs hatten die Diebe die Vorratslager geplündert und alles zu Wucherpreisen unter die Leute gebracht. Aber das war seinerseits auch schon wieder eine Weile her. Inzwischen – das war das Problem mit Essen: irgendwann war es einfach weg -, gab es keine Vorratslager mehr. Und die Diebe waren ihrerseits oftmals zu erschöpft und geschwächt, um sich nicht erwischen zu lassen. Die Rationierungen zu Gunsten der Soldaten hatten auch nicht wirklich geholfen. Es stand im Gesetz verankert: Wer sich zur Ausbildung bewarb, der wurde aufgenommen und zwei Wochen lang in der Kaserne auf Tauglichkeit geprüft. Zwei Wochen, in denen er Unterkunft und Versorgung erhielt, als sei er ein Soldat. Und ganz plötzlich gab es bemerkenswert viele, die freiwillig eine Militär-Karriere einschlagen wollten. Ganz gleich, ob sie dreizehn oder fünfzig waren, ob sie halb verhungert ankamen, ob sie ihre Juwelen nicht ablegen wollten. Denn selbst Reichtum konnte nicht kaufen, was zu kaufen einfach nicht da war. Gerüchte, warum es dem Land so miserabel erging, gab es natürlich hinreichend. Und mit all dem, was sie dazu vernommen hatten, hatte sich auch ein gewisser, roter Faden herauskristallisiert. Lord Marrkus Hedwig, der Aufseher dieses Landstrichs, hatte angeblich – da gingen die Geschichten wieder sehr auseinander – irgendwie Phylia verärgert. Sehr. Und das Resultat sah und spürte man. Sehr deutlich sogar. Die Tiere waren flüchtig, scheuer denn je. Kaum eins ließ sich blicken – als würden ihre Sinne mit denen der Vögel kooperieren, die beständig Wachen gleich am Himmel Ausschau hielten und Warnrufe ausstießen, gerade hoch genug, das ein präziser Bogen sie nicht traf, eine Armbrust aber schon… wenn es der denn mal gelang, auf die Distanz ins Schwarze zu treffen. Auf den Feldern sah es derweil nicht anders aus. Die Bäume wuchsen, die Gräser wuchsen, das Getreide wuchs. Wirklich, den Pflanzen ging es prächtig. Besser denn je. Ihre satten Farben frohlockten regelrecht. Aber es gab nicht einen Apfel an den Ästen, nicht ein Korn in den Ähren, nicht eine Karotte im Boden. Zu Beginn hatte man Besserung erwartet. Das Korn würde schon wiederkommen. Und das Vieh ebenso. Man wartete, geduldig, während Geschichten über die Gründe die Runde machten. Beunruhigend, aber es gab Vertrauen in die Obrigkeit. Und tatsächlich wurden ja auch Karawanen zusammengestellt, aus den nicht betroffenen Nachbargebieten. Aber die wurden ihrerseits angegriffen, direkt oder indirekt. Es waren Wölfe und Bären und Marder, die über die Leute herfielen. Mancher trug sich mit den Krankheiten, die ein Biss verursachte oder den hässlichen Wunden, die so eine Pranke anzurichten wusste. Aber was die Tiere wirklich gewollt hatten? Das Essen stehlen. Was immer sie damit auch tun mochten – sie trieben die Ochsen und Pferde vom Weg ab. Der Karren kippte oder wurde komplett entführt und in Windeseile war nicht ein Stück Obst, Gemüse oder Fleisch übrig, das man noch irgendwohin hätte liefern können. Und manches, manches verrottete auch einfach, sobald es das Gebiet betrat. Gerade während der späteren Lieferungen, als mehr und fähigere Wachen mitgesandt wurden, befiel ein seltsam aggressiver Schimmel die Vorräte. Die Leute warteten einfach zu lange. Der von den umliegenden Dörfern und Städten befürchtete, gewaltige Exodus dieses Landstriches kam nie – anfangs hoffte man, dann bangte man, am Ende setzte sie Verzweiflung ein. Doch in jenem letzten Stadium, dass die Leute aus dem Haus getrieben und ihre Sachen packen ließe, waren die meisten einfach schon zu geschwächt, um große, lange Reisen zu überstehen. Vom Gezänk mit denen ganz zu schweigen, die sicherlich unwillens am Ziel ihrer Odyssee auf sie warten würden. Thorin seinerseits gab sich von alledem bemerkenswert unbeeindruckt. Er zog seiner Wege, tat seine Dinge. Wenn Vorräte ihn das Zehnfache kosteten, gab er das Geld nur zu gern. Wenn es keine Vorräte gab, zogen sie weiter. Das Gebiet war nicht endlos lang – sie würden herauskommen, bevor sie tatsächlich verhungern würden. Wahrscheinlich. Dennoch. Ihr selbst setzte das alles sehr zu. Die Leute so zu sehen. Hungernd. Zweifelnd. Verzweifelnd. Wie um alles in der Welt konnte er nach wie vor diese unendliche Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen? Diesen und ähnlichen Gedanken hing sie nach, während sie auf dem Stück Brötchen herumkaute. Ihr Magen gierte regelrecht danach. So sehr, dass ihr sogar von der Aussicht, etwas zu essen, schlecht wurde. Dennoch sollte sie, musste sie, etwas essen. Also zwang sie sich, biss ab, würgte es herunter. Spülte mit Wasser nach. Davon wiederum hatten sie reichlich.   Es war eine weitere Tagesreise bis zum nächsten Dorf. Costlein lag tiefer in einem großen Waldgebiet. Und schon bei Betreten des Dorfes wurde rasch klar, wie wenig Hoffnung auf Besserung es hier gab. Im Gegenteil. Fast schien Sierra, als würde es von Dorf zu Dorf eigentlich nur noch schlimmer werden. Was natürlich auch stimmte. Nicht der Entfernung oder Lage wegen, sondern der Tage wegen, die dazwischen lagen. Die Leute wirkten elend. Niedergeschlagen, verzweifelt, ausgehungert. Kaum jemanden sah man seinem Handwerk nachgehen. Die Holzfäller waren daheim, statt im Wald auf Bäume einzuschlagen. Die Esse in der Schmiede stand still. Der Bäcker saß gelangweilt vor der Tür seiner Stube. Man bewegte sich so wenig wie möglich. Um Kraft zu sparen. Wie viele Alte, Kranke und Kinder mochte diese Hungersnot schon das Leben gekostet haben? „Das Gasthaus ist da drüben, Träumer“, meinte Thorin und stieß sie mit einem schmalen Lächeln gegen die Schulter. Sie hatte durchaus mitbekommen, wie er angehalten hatte. Sie hielt schließlich auch an. Sie hatte am Rande mitbekommen, wie er zu einem der Leute ging und kurz mit ihm sprach. Vermutlich eben, sich nach dem Weg erkundigte. Sie hatte auch mitbekommen, wie er zurückgekehrt war, aber… dieses Dorf. Es zwang ihren Fokus zu den Leuten darin. Natürlich war Costlein nicht anders als die anderen Dörfer. Es schockierte sie nur irgendwie jedes Mal wieder. Benommen nickte sie und setzte sich in Bewegung, folgte ihm zu dem gewaltig aufragenden Bau. Gewaltig jedenfalls im Vergleich zu den restlichen, bescheidenen und oftmals einstöckigen Hütten. Das Gasthaus gebot über drei Stockwerke. Unten teilten sich Lager, Gastraum und die Unterkünfte des Wirtes und seiner Familie das Areal. Und zwei Stockwerke für die Gästezimmer und Bäder. Das war recht pompös, luxuriös geradezu. Gerade im Angesicht dessen, wie klein und bescheiden Costlein sonst war. Zu besseren Zeiten musste es sich bei dem Dorf wohl um eine Art Durchgang handeln. Viele, die auf Reisen waren, kamen und gingen auf tagtäglicher Basis. Wohin oder woher, das konnte sie nicht abschätzen – letztlich war ihr das Land fremd. Thorin hatte auch nur wenig zu sagen gewusst. Vielleicht aus Desinteresse. Vielleicht seiner Philosophie wegen, dass Kultur und Wissen in einen unweigerlich, indirekt, irgendwie einsickern würden, wenn man sich in einer Gegend nur lange genug herumtrieb. Was sie bei Betreten des Etablissements nicht überraschte, war der Anblick vieler an den Tischen sitzender Leute mit Krügen voller Wasser, keinen Teller in Sicht, und lange, verdrossene Gesichter. Dennoch war in dieser Stimmung etwas einzigartig. Anders als in den anderen Gasthäusern, die sie bisher passierten. Eine unterschwellige Feindseligkeit. Thorin steuerte dessen ungeachtet zum Wirt an den Tresen. „Ein Zimmer für zwei“, bestellte er. „Wie lange?“, schoss der hagere Mittvierziger zurück. Er stellte den Krug ab, den er mit seinem Tuch trocknete und trat an das Schlüsselbrett herüber. „Kommt drauf an. Erstmal eine Nacht“, gab der Hüne zurück. Die Brauen des Wirtes dagegen hoben sich leicht. „Worauf kommt’s denn an?“ Dennoch zog er bereits einen Schlüssel vom Brett und kehrte damit zum Tresen zurück. „Was habt ihr auf der Speisekarte? Und könnt ihr Proviant für die Weiterreise bereitstellen?“ Thorin war kein Dummkopf. In seinem Rücken saßen dutzende Einwohner Costleins, die sehr hungrig, sehr  verstimmt und – vermutlich – sehr streitlustig waren. Doch das musste nicht zwangsläufig immer den gleichen Grund haben. Aber er senkte die Stimme zumindest so weit, dass selbst Sierra ihre Schwierigkeiten hatte, alles auszumachen. Der Blick des Wirtes verfinsterte sich ebenfalls einen Moment, ehe er seufzend das Gesicht verzog, als habe Thorin persönlich ihm gerade eine Maulschelle verpasst. Und Sierra wusste, dass solch eine durchaus Kiefer ausrenken konnte. „Hirschbraten, Wildschweinbraten, Hase, Fasan, Forelle, Barsch… Soße nach Wahl. An Gemüse haben wir Kartoffeln, Erbsen, Möhren, Bohnen, verschiedene Kohlsorten, Pilze. Für den Proviant kann ich Hartkäse und Trockenfleisch anbieten, eingelegten Fisch, Brot.“ Es schien den Mann regelrechte Schmerzen zu bereiten, das auszusprechen. Als müsse er jedes Wort hervorwürgen. Und auch er bemühte sich, so leise wie möglich zu sein. Thorin stutzte – Sierra ebenso. „Ich wollte nicht wissen, was ihr sonst da habt, sondern, was ihr da habt.“ Der Wirt seufzte bemüht leise. „Ich weiß. Bleibt dabei.“ Nun – das war doch interessant! Thorin nickte. „Wo ist der Haken?“ Es gab keinen Grund, großartig um das ziemlich offensichtliche Problem herumzutänzeln – das im Grunde im Dutzend in ihrem Rücken herumsaß und versuchte, ihre Mägen mit Wasser zu besänftigen. „Der Preis“, erklärte der Wirt sichtlich unbehaglich, „Eine volle Mahlzeit? Zehn Gulden. Und ich muss zusehen, dass ich’s euch unbemerkt aufs Zimmer bringe. Sonst weiß ich nicht, was die Leute hier tun werden.“ Thorin nickte und Sierra konnte ihm ansehen, wie er in Gedanken ihre gesamte Habe durchrechnete. „Nehmt ihr auch Güter an?“, erkundigte er sich. „Wir haben einen ehemaligen Bergarbeiter hier, früherer Schmiedelehrling, er kennt sich mit verschiedenen Steinen und Metallen aus, kann Verarbeitung und sowas beurteilen. Was immer ihr habt, gebe ich ihm. Was immer er schätzt, bekommt ihr raus.“ Thorin nickte. Das war nicht unbedingt fair, aber das interessierte den Hünen wenig. Zehn Gulden für eine Mahlzeit war schließlich auch alles andere als fair. So speisten vermutlich nicht einmal Niederadlige. „Gut. Wir bleiben mindestens vier Tage. Frühstück, Mittag, Abendessen. Lasst euch was einfallen. Falls eure Vorräte das mitmachen. Eventuell länger. Und wir nehmen Proviant mit. Genug für unsere zwei Rucksäcke.“ Dem Wirt konnte schlecht das ansehnliche Sammelsurium an Waffen, Armschonern, Helmen und Brustpanzern entgangen sein, das Thorin gut in einem Fischernetz verschnürt mitschleppte. Oder die prall gefüllten Beutel an seinem Gürtel. Und dennoch klappte ihm zunächst ungläubig der Kiefer herab, ehe er nickte und stirnrunzelnd nach hinten verschwand. Er kam keinen Herzschlag später zurück. Gab Thorin die Adresse, an der er die Habe abliefern sollte. Und ließ sich die Beutel voller Münzen zeigen. Goldmünzen, allesamt. Weit über zweihundert. Von denen Thorin nach Sierras Kalkulation gerade mindestens einhundertfünfzig ausgegeben hatte. Für vier Tage Kost und Logis plus Proviant für die Weiterreise. Das war… einfach nur völlig absurd. Wahnsinn. „Das kann nicht dein Ernst sein?“, zischte sie leise, während sie sich wieder durch das Dorf zum alten Bergmann begaben. „Die Leute verhungern und du verschleuderst unser gesamtes Erspartes für ein bisschen Essen?“ Sie war wütend. Sie wusste nur nicht genau, warum. Oder auf wen eigentlich. Thorin bot sich nur als Ziel gerade an, sehr. Insgeheim freute sie sich auf die Aussicht, ein gutes Mahl zu genießen. Vermutlich würde sie es eher herabschlingen. Aber allein der Gedanke, ihr Magen könne wieder in eine Phase übergehen, in der er nicht alle paar Minuten ziepte und krampfte… sie glaubte sich kaum noch erinnern zu können, wie das so war. War sie wütend darauf, sich auf ihr Essen zu freuen, während vor der Tür andere verhungerten? War sie wütend auf sich, weil ihr der Gedanke, ihr Essen zu teilen, so wenig zusagte, dass er nicht einmal direkt aufgetaucht war? War sie wütend, das Thorin so selbstverständlich mit alledem umging? Oder gar nicht weiter nachbohrte, wie es zu diesem wirklich merkwürdigen Wunder hatte kommen können? Oder war sie wütend auf ihn, weil er das Vermögen, das sie in einem halben Dutzend Aufträgen angespart hatten, jetzt mit beiden Händen zum Fenster hinauswarf? Es gab einfach zu viele Ansätze. Sie fühlte sich wütend. Und ziellos. „Du musst wieder zu Kräften kommen“, gab er schlicht zurück, „Und den Wald hatte ich nicht eingeplant. Der wird uns ein paar Tage mehr Reisezeit kosten. Wir können die Rast und den Proviant gut gebrauchen.“ Aus seinem Mund, so direkt und unverblümt, klang es simpel, wirklich. Aber es machte sie nur wütender. Warum musste sie zu Kräften kommen?! Was war verdammt nochmal eigentlich mit ihm? Hatte er keinen Hunger? War nicht geschwächt? Sierra ertappte sich selbst später erst dabei, dass sie finsteren Blickes hinter ihm her gestapft war wie ein trotziges Kind. Und nicht nur verlor sie selbst kein einziges Wort darüber – sie war sehr, sehr dankbar, dass er es auch nicht tat. Der geschätzte Wert der Ausrüstung erschien ihr gerecht. Sie hatte selbst nicht so viel Ahnung von Material und Herstellungsprozess – oder den Schwierigkeiten dessen -, aber sie erkannte eine gute Rüstung, wenn sie sie sah. Leder insbesondere. Also kehrten sie ins Gasthaus zurück, nachdem ihnen versichert worden war, dass der etwas rundliche Alte sich mit dem Wirt in Verbindung setzen und alles Weitere klären würde. An anderer Stelle hätte Sierra sich vielleicht Sorgen gemacht, auf das Wort von jemandem zu vertrauen und so viel Wertvolles zurückzulassen, ohne jegliche Absicherung. Doch sie wusste inzwischen auch gut genug, das Thorin – sollte jemand versuchen, ihn übers Ohr zu hauen – an sein Geld herankommen würde. So oder so. Irgendwie. Meist wollte man gar nicht erst im Detail herausfinden, wie. Während sie auf ihrem Zimmer aßen – das Essen war mittels eines Korbes und einer Seilwinde an dem Wald zugewandten Rückseite des Hauses hinaufgeschickt worden – kehrten unweigerlich die vorher schon vorhandenen Zweifel zu Sierra zurück. Sie saß hier und speiste geradezu fürstlich und dort unten saßen dutzende arme Schweine und hungerten vor sich hin. Bei den Preisen, die sie hatten entrichten müssen, war das kein Wunder, wirklich. Verwunderlich war da schon eher, warum sich die Leute nicht scharenweise zu Räuberbanden einfanden und einander überfielen in dem Versuch, genug Münzen für eine Mahlzeit zusammenzukratzen. Oder das Gasthaus zu plündern. Und gerade dieser letzte Gedanke bereitete ihr Kopfzerbrechen. Wieso gab es hier Essen? „Ist mir egal“, kam von Thorin, als sie das Besteck bei Seite legte, sich ihm zuwandte und gerade den Mund öffnete, um ihn genau das zu fragen. Der Hüne kaute fertig, schluckte das Stück Braten herab und sah recht eisernen Blickes zu ihr herüber. „Wirklich. Ist mir egal. Mir ist egal, ob irgendein Adliger Mist gebaut hat, ob die armen Leute darunter leiden, ob die Götter involviert sind, ob wir das Gasthaus plündern und den Leuten die Vorräte zukommen lassen könnten – ist mir alles egal. Dafür sind wir nicht hier. Wir sind auf der Durchreise. Nicht mehr, nicht weniger. Du wirst essen, du wirst wieder zu Kräften kommen, wir ziehen weiter. Wir prügeln und vermutlich noch ein, zwei Mal mit den Blümchen-Kultisten herum, verlassen das Gebiet, stocken mit dem restlichen Geld zu vernünftigen Preisen unsere Vorräte neu auf, erarbeiten uns vielleicht noch ein paar schnelle Zusatzmünzen und nehmen im nächsten Hafen das erstbeste Schiff runter von diesem Kontinent. Du kannst nicht das Elend der ganzen Welt heilen. Versuch’s gar nicht erst – ist eine undankbare Aufgabe, endlos obendrein, und jeder wird dir dabei bestmöglich im Weg stehen.“ Mit jedem Wort, jedem Satz ein neuer Schlag. Er nahm ihr rasch jeglichen Wind aus den Segeln, dimmte das Flämmchen ihrer Gutmütigkeit immer weiter herunter, bis es zu erlöschen drohte. Was hatte sie für Chancen ohne ihn? Was konnte sie ausrichten, wenn er ihr dabei nicht half? Doch ein kleiner Funke Widerstand blieb. Ein kleines Bisschen Aufbegehren und Rebellionswillen. Und dieses unscheinbare kleine Ding fand eine nicht weit zurückliegende Erinnerung. Etwas, das sie damals schon angestachelt und aufgewühlt hatte. „Du musst langsam lernen, auf eigenen Beinen zu stehen – deine Worte, oder nicht?“, warf sie ihm zur Antwort entgegen. Thorin sah auf, nachdem er die Sache ziemlich offensichtlich erledigt geglaubt und sich wieder seinem Essen zugewandt hatte. Einen Moment stutzte er, musste sich sichtlich erinnern… seufzte dann jedoch. „Mach, was du willst. Rechne nur nicht mit mir.“ Sie nickte. Das waren also seine Konditionen. Das waren ihre Arbeitsbedingungen. Fein. Dann wusste sie zumindest, woran sie war.   Alles, was sie tun musste war, der Spur aus Brotkrumen zu folgen. Wortwörtlich, gewissermaßen. „Woher kommt das Essen?“, erkundigte sie sich bei Lanzelot – nachdem sie eine Weile mit ihm über banale Dinge hatte plauschen müssen, um seinen Namen zu erfahren. Lanzelot, der Wirt, war eigentlich ein sonniges Gemüt. Einstmals gewesen jedenfalls. Sein Weib war schwanger. Nicht hochschwanger, aber schwanger. Er hatte eine Tochter von fünf Jahren. Viele der verdrossenen Kunden in seinem Schankraum waren Freunde. Costlein war, wie so viele Dörfer, eine eng zusammengewachsene, dicht verknüpfte Gemeinde. Jeder kannte jeden. Er kannte ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Lieblingsgetränke, ihre Leidensgeschichten. Und es nahm ihn sichtlich mit, ihnen nicht helfen zu können. Nur warum konnte er das nicht? Weil er es nicht durfte. Soso. Und warum durfte er nicht? Und an der Stelle rannte sie gegen eine Wand. Lanzelot war ein höflicher und freundlicher Gesprächspartner gewesen. Sie hatte sogar hier und da Andeutungen von Humor erkennen können, der unter all der schlechten Laune und der Ernsthaftigkeit der gegenwärtigen Situation begraben lag. Also zielte sie sorgsam, nach Thorin-Art, mit dem Kopf auf die richtige Mauerstelle und strebte an, vornübergebeugt einfach durchzubrechen. Lanzelot verzog das Gesicht, als hätte er ihren sprichwörtlichen Schädelaufschlag an seiner Wand spüren können. Und mehr noch: Ihren Durchbruch. „Aus dem Vorratslager.“ Sierra stutzte zunächst. Es gab Vorratslager, klar, gab es in jedem Dorf. Für harte Winter wurde dort eingelagert. Aber doch kein frisches Fleisch. Kein verderbliches Obst und Gemüse. Getreide, ja. Winteräpfel. Käseräder. Trockenfleisch. Salzfische. Aber doch nicht sowas! Mehr noch war sie natürlich überrascht davon, überhaupt so einfach erfolgreich gewesen zu sein. Sie hatte erwartet, ein paar rhetorische Finten und diplomatische Fallstricke auspacken zu müssen und nicht, das sie einfach direkt eine Antwort bekäme. Das sprach nur umso mehr dafür, dass hier irgendwas im Argen lag. Er wusste es. Er sprach offen darüber. Also war die Wahrscheinlichkeit nicht niedrig, dass jeder es wusste. Warum also die Zurückhaltung? Wohin waren da plötzlich die kräuterbeilschwingenden Fackelmobs verschwunden? „Einfach so?“, hakte sie zunächst verdutzt nach, „‘Im Vorratslager‘, und das war’s? Du sagst mir vermutlich auch gleich noch, wo das ist, oder?“ Lanzelot zuckte mit den Schultern. „Wenn du’s wissen willst. Bringt dir nur auch nichts. Dir nicht und auch sonst niemandem was.“ Theorie bestätigt. Jeder wusste es. Dort gab es Essen. Und trotzdem saßen alle hier, als warteten sie auf ein Wunder. Oder Lanzelots plötzliches Verscheiden durch Herzstillstand, damit sie seine Vorratsküche plündern könnten. „Wieso nicht? Wird das Lager von Geistern bewohnt? Von grässlichen Monstern verteidigt? Wie kommt ihr dann an die Vorräte?“ Lanzelot lachte tatsächlich kurz auf. Ein knappes Glucksen, nicht mehr, wirklich. Aber es war da. Und angesichts der miserablen Umstände… war das viel. Er schüttelte noch immer milde lächelnd den Kopf. „Keine Monster, nein. Sonst hätten wir waffenstarrende Reisende wie euch längst um Hilfe gebeten. Sebastian und Fridolin sind beim Lager. Und an denen kommt ihr nicht vorbei. Kommt keiner.“ „Sebastian und Fridolin, hm? Wer sind die zwei?“, hakte Sierra ungeniert nach. „Gunnarts Söhne. Das ist der alte Bergmann, bei dem ihr wart. Die zähesten, kräftigsten Burschen, die Costlein aufzubieten hat. Und neuerdings zwei von Kafkas Schlägern. Brunhild und Maximilian sind die anderen beiden. Sie weichen Kafka nie von der Seite. Brunhild ist Gunnarts Tochter.“ Lanzelot hatte keine Probleme, darüber zu reden, was vor sich ging – so viel war offensichtlich. Was natürlich auch wiederum hieß, dass er stark davon ausging, dass ihr all diese Informationen nicht das Geringste helfen würden. Ihr nicht oder sonst irgendwem. Aber Sierra erachtete es dennoch als sinnvoll, sich sehr genau umzuhören, sich alles anzuhören. Vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit, hier etwas zum Besseren zu wenden. „Gunnart schien mir ein vernünftiger Kerl zu sein. Kurzsichtig. Bisschen verschroben und grob, aber so einen kenn‘ ich schon. Sind seine drei Kinder so mies? Und was hat es mit Maximilian auf sich?“ Lanzelot stellte einen Krug vor ihr ab. Vielleicht aus alter Gewohnheit, vielleicht aus Freundlichkeit oder Gedankenlosigkeit. Wasser kostete nichts, ging aufs Haus. Es schmeckte… schal verglichen mit dem Bier, das sie zu ihrem Mahl gehabt hatte. „Wirf‘s ihnen nicht vor. Gunnart kommt zurecht. Der würde zur Not Stein fressen können und vermutlich überleben. Ich sag’s dir, da steckt Zwerg drin. Seine Kinder sind vernünftig geraten. Sebastian ist nicht das hellste Licht am Kranz, aber ein guter, aufrechter Junge. Fridolin kann eine ziemliche Drecksau sein, je nachdem, in welcher Laune man ihn antrifft. Brunhild ist die Klügste der Bande. Aber sie hat diesen… diesen Drang, ständigen allen nach dem Maul reden zu wollen. Bloß keinen enttäuschen, bloß nicht anecken, bloß keinen Widerstand aufkommen lassen. Wenn man sie sieht – ein ziemlich kräftiges Mannsweib -, erwartet man sowas gar nicht. Sie hat zudem eine hübsche Singstimme. Erwartet man auch nicht unbedingt. Und Maximilian, tja. Der kam vor zehn, zwölf Jahren her. Damals mit seiner Frau. Wollte angeblich neu anfangen. Ließ sich hier nieder, wurde Holzfäller. Mit dem Wald vor der Tür kann man Holzfäller immer gebrauchen. Dann wurde sein Weib schwanger. Starb aber und nahm das Kind gleich mit. Das hat ihn irgendwie kaputt gemacht. Er war die meiste Zeit Säufer. Wir hatten Mitleid und ließen ihm oft viel durchgehen. Jeder erfährt ja irgendwann, wie’s ist, jemanden zu verlieren. Aber sowas ist mies, wirklich mies. Jedenfalls hat er sich bei Kafka vorgestellt wie viele andere, als der seinen Ausruf startete. Stellt sich heraus, dass unser guter alter Maximilian wohl mal Soldat gewesen sein muss. Und er hat nicht alles vergessen. Dieser Tage ist er sogar die meiste Zeit nüchtern. Weil Kafka das von ihm verlangt. Sonst ist er den Posten sehr schnell wieder los.“ Es war kurios. Lanzelot ging mit völliger Gewohnheit dazu über, zu reden. Seinen Krug zu polieren. Einen ganz speziellen Krug. Mit einem ganz speziellen Lappen. Sie erkannte das, weil sie zwischendrin einer Vermutung folgend einfach den Lappen austauschte. Nein, es musste dieser Lappen sein. War das etwas, das allen Wirten zueigen war? Dass sie mindestens einen Krug nur zum Putzen haben mussten, der mit genau diesem einen Putztuch geputzt werden musste? Vielleicht steckte dahinter sogar irgendein amüsanter Aberglaube. Ein Ritual zur Beschwichtigung Lenikkis, damit der Gott der Reisenden ihnen nicht plötzlich den Bierhahn explodieren ließ oder so etwas. Natürlich war das nur eine Spielerei am Rande. Sierra verlor zu keinem Zeitpunkt aus den Augen, was sie vor hatte und was das, was sie zu hören bekam, diesbezüglich einbrachte und bedeutete. „Gut, also Gunnarts Söhne sind Kafkas Schläger. Sie bewachen das Lager und halten euch draußen. Und ihr bekommt Vorräte, die ihr verdammt teuer verkauft. Ganz ehrlich… ich versteh’s nicht. Wieso? Wozu? Wer ist dieser Kafka überhaupt?“ Lanzelot verzog leicht das Gesicht. Das war offensichtlich allmählich ein Themenbereich, an den er sich nur noch vorsichtig und mit der Kneifzange heranwagte. „Ist Kafkas Taktik. Er ist… war mal. Er war mal irgend so ein reicher Großhändler. Ist im Krieg wohl zu Vermögen gekommen. Hat Waffen an beide Seiten geliefert. Kein netter Typ. Hat Gelegenheiten genutzt, wenn sie kamen. Moral steht da nur im Weg. Irgendwann fand das jemand nicht mehr lustig und brannte sein Haus nieder, mit allem, was drin war. Ähnlich wie Maximilian kam er hierher, um neu anzufangen. Seinen Lebensabend zu verbringen, wie er’s mal nannte. Ich schätze, man bekommt ein ganzes Leben geführt wie das nicht wirklich aus dem eigenen Blut, nur weil man sich in den Kopf setzt, sich zur Ruhe setzen zu wollen. Als die Hungersnot losging, da hat er Geld rausgeworfen. Viel. Hat einen Magier bezahlt, damit der das Lager verzaubert. Hat dem Dorfältesten das Lager abgekauft. Samt Inhalt. Hat aus der ganzen Gegend Vorräte eingekauft, schon als die Wucherpreise begannen. Er hat’s alles in seinem Lager. Und dank der Verzauberung hält das noch Wochen, Monate vielleicht. Die Leute sind verzweifelt. Die, die es sich leisten können, zahlen seine Preise. Die, die es nicht können… naja, die müssen Wege finden. Er bietet vielen an, das sie das Geld nicht zahlen müssen, wenn sie das Geld nicht zusammen bekommen. Stattdessen schulden sie ihm Geld. Die Schuldbriefe, sagt unser Schreiber, sind rechtens. Er setzt sie auf und berechnet die Schuld daran, wie viel gegessen wird, wie viel übrig ist, wie sich die Preise entwickeln. Viele haben ihre Läden an ihn überschrieben. Sogar unser Schreiber. Kein Tintenfass und keine Feder gehört ihm mehr, ist jetzt alles Kafkas. Dem gehört inzwischen sowieso dreiviertel des Dorfes, die Leute darin eingeschlossen. Kaum einer wird Zeit seines Lebens je wieder aus der Schuld herauskommen. Und die Schuldbriefe übertragen sich auf spätere Generationen. Er hat sogar schon angefangen, Besitzurkunden von Gasthäusern und Schmieden und Werkstätten aus Dörfern in der Umgebung zu sammeln und stellt sie in seinem Arbeitszimmer aus wie Trophäen.“ Sierra wurde beinahe schlecht im Angesicht des Kalküls, das hinter diesem Vorgehen steckte. Eine Person ohne jede Skrupel, ohne jede Moral, ohne Rücksicht oder Mitgefühl. Er machte aus dem Elend anderer ein Geschäft und letztlich war er nur der Teufel in Verkleidung – denn das Balsam, das er ihnen bot, war doch wieder nur ein Gift für ihre Kinder und Kindeskinder. Schön wäre es gewesen, daran zu glauben, dass an ihren Worten – gedanklich oder nicht – vielleicht mehr dran sein könnte. Dass es sich tatsächlich um einen Teufel in Verkleidung handelte. Der hier, aus irgendeinem Grund, Münzen und Schulden und Besitzurkunden von Grundstücken sammelte, statt Seelen. Vielleicht wollte er sich hier ein Imperium aufbauen. Vielleicht brauchte er ganz bestimmte Stätten, um einen gewaltigen Beschwörungskreis aufzuziehen. Vielleicht hatte er einfach Spaß am Elend der Leute und langweilte sich daheim mangels spannender Herausforderer. Doch auch, wenn sie ihn daraufhin zu prüfen vorhatte, war ihr völlig bewusst, dass es sehr gut möglich, ja sogar wahrscheinlich war, dass es sich bei Kafka lediglich um einen ganz gewöhnlichen Menschen handelte. Abschaum, keine Frage. Sinnbild all dessen, was in der menschlichen Natur falsch und korrupt war. Aber ein Mensch nichtsdestotrotz. Dazu musste er nicht einmal ein belesener, gelehrter, Jahrhunderte an Erfahrung reicher und in Intrigen geübter Magier des Zirkels sein. Ein völlig gewöhnlicher Mensch reichte da aus. Die Umstände boten ihm eine Bühne. Dann, mit einem Schlag, stockte Sierra und sah sich nochmals um. „Ihr habt an ihn verkauft.“ Es war nicht einmal ein Vorwurf, obwohl ihr Kopf es so formuliert hatte. Vielmehr eine Feststellung des Offensichtlichen, die etwas spät eintrudelte. Lanzelot nickte und zuckte zeitgleich mit den Schultern. „Ich habe Familie“, gab er lediglich zurück. Natürlich. Was war besser? Eine Familie in Sklaverei – denn nichts anderes war es, was Kafka hier aufbaute -, oder eine Familie in Gräbern? Über solcherlei Fragen stritten sich die Philosophen seit geraumer Zeit und eine wirklich befriedigende, eindeutige, allgemeingültige Antwort gab es dazu nach wie vor nicht, doch sie konnte Lanzelots Entscheidung verstehen, sie nachvollziehen. „Ich will mit ihm reden“, erklärte sie dann entschlosseneren Tones. „Natürlich willst du das“, seufzte Lanzelot und schüttelte leicht den Kopf, „Zur Tür raus, den Pfad nach links runter. Bei der rotbraunen Hütte rechts rein – das Haus ganz am Ende des Weges. Nur… mir wär’s wirklich lieb, wenn er nicht zu hören bekommt, dass du das alles von mir hast, hm?“ Ein freundliches Lächeln aufsetzend, erhob sich Sierra von ihrem Hochstuhl. „Keine Sorge. Ich werde ein wenig im Dorf herumspazieren und mir die ganzen Details nochmal von anderer Seite zusammentragen lassen.“ „Danke.“   Genau das war letztlich auch, was Sierra tat. Letztlich waren längst nicht alle Einwohner Costleins so gesprächig wie Lanzelot und gerade, wenn es zum Thema Kafka kam – sein Lager, sein Vorgehen und seine Schläger einbegriffen – wurden viele bemerkenswert still. Aber zumindest das Grobe konnte sie sich mit ein wenig guter, altmodischer Recherchearbeit zusammenkratzen. Das verschlang jedoch auch diverse Stunden – was bedeutete, dass sie ins Gasthaus zurückkehrte, ehe sie sich mit dem ominösen Kafka auseinandersetzte. Stattdessen kehrte sie in ihr Zimmer zurück, wo bereits ihre Portion des Abendessens auf sie wartete. „Und, gibt es Sehenswürdigkeiten?“, erkundigte sich Thorin beiläufig. Dem Geruch nach Schmierfett und Metall zu urteilen hatte er die Zeit genutzt, um seine Ausrüstung zu pflegen. Und da ihr eigenes Schwert blitzblank poliert auf dem Bett lag, direkt neben einem Brustpanzer, dessen originale Farbe man wieder erkennen konnte, vermutete sie nicht grundlos, dass er sich ihrer Sachen auch gleich mit angenommen hatte. „Danke“, warf sie zunächst in seine Richtung, setzte sich und zog den Teller von ihrem Nachttisch. Ihr Magen hatte sich über die erste Mahlzeit gefreut – das erlaubte ihr nun zumindest, weniger zu schlingen und zu würgen und mehr darauf zu achten, was sie aß und wie sie es aß. Was sich dabei ernüchternd herausstellte: Das Essen war gut, wirklich. Aber sie hatte schon Besseres gehabt. Während, vor ein paar Stunden noch, ihre Zunge und ihr Magen sich darin einig waren, dass das definitiv das Beste und Schlimmste war, was sie jemals gegessen hatte. „Von Sehenswürdigkeiten würde ich jetzt nicht unbedingt reden. Kleine Hütten, keine Statuen oder Denkmäler, ziemlich überschaubar. Die Leute sind interessant“, versuchte sie sich langsam vorzutasten. „Mhm. Ich werde die Gelegenheit nutzen, mich auszuruhen, bis die nächsten Kultisten aufkreuzen“, war Thorins Erwiderung. Und nicht grundlos fühlte sich Sierra dezent vor den Kopf gestoßen und regelrecht sprichwörtlich abgewürgt. Sie hatten gestern erst deren letzten Jagdtrupp bezwungen. Es würde Tage dauern, ehe dem Kult das neuerliche Versagen bekannt werden würde. Möglicherweise ein oder zwei Wochen, ehe sie den nächsten Trupp zusammengestellt und ausgerüstet und losgeschickt hatten. Vielleicht drei Wochen, bis sie das nächste Mal angegriffen werden würden. Hierbei ging es also ziemlich eindeutig nicht darum, dass er sich ausruhen wollte. Oder gar musste. Er wollte einfach nur nichts über ihren Ausflug ins Dorf hören. Oder von den Leuten. Und deren Problemen. Er hatte ihr Vorhaben erkannt, durchschaut und abgeblockt. Nun, sie konnte ihm zumindest nicht vorhalten, dass er sie diesbezüglich nicht vorgewarnt hätte – er hatte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie – was immer sie tat – es ohne ihn tat. Dennoch erzürnte es sie einen Moment, frustrierte sie maßlos. Doch statt sich kleinlich zu geben, fokussierte sie sich lieber darauf, das Fleisch mit ihrer Gabel zu erstechen und mit ihren Zähnen zu zerhäxeln. Fein. Er wollte also nicht helfen. Dann würde sie eben alleine weitermachen.   Das Mahl beendet, holte der Schlaf sie rasch ein. Und ebenso rasch, dem Gefühl nach, kam der Morgen. Thorin schlief seinerseits aus, bis das Frühstück am Fenster klopfte und Sierra, nun – sie verweigerte sich der Mahlzeit nicht. Sie wäre dumm gewesen, hätte sie das getan. Thorin hatte nicht Unrecht. Alles Unheil der Welt würde sie nicht ändern können. Schon gar nicht, wenn sie nicht auf sich selbst Acht gab. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, an eben jenem Unheil eine Mitschuld zu tragen, wenn sie nicht ihre Mittel und Möglichkeiten nutzte, um etwas dagegen zu unternehmen. Irgendetwas. Also machte sie sich nach dem Frühstück auf zu Kafkas Haus, während Thorin offenbar einem rigorosen Trainingsprogramm folgte. Denn wenn dieser Mann etwas nötiger hatte als eine gute Mahlzeit und langen, erholsamen Schlaf, dann waren es eindeutig noch mehr Muskeln. Kafkas Haus war groß. Größer als die anderen, aber zugleich nicht groß genug, um aus der Menge hervorzustechen. Wirklich nur ein subtiles Zeichen der Überlegenheit seines Besitzers gegenüber den restlichen, gewöhnlichen Einwohnern Costleins. Sie klopfte und nach einem Moment wurde ihr von Maximilian aufgemacht. Sie erkannte ihn an dem schütteren Haar und dem generell eingefallenen, verlebten Gesicht. Die deutlichen Spuren seines exzessiven Alkoholkonsums waren kaum zu übersehen. „Ich will zu Kafka“, erklärte sie ohne Umschweife. Nach allem, was sie über Maximilian gehört hatte, hätte er sich für ein freundliches ‚Guten Morgen‘ ohnehin nicht interessiert. „Wie praktisch. Spart mir Arbeit“, erwiderte der mit kratziger Stimme. Er ließ sie ein und führte sie in Kafkas sogenanntes und inzwischen mehrfach erwähntes und beschriebenes Arbeitszimmer. Wie erwartet, waren die Wände tatsächlich mit Besitzurkunden verschiedener Unternehmen und Läden dekoriert. Eine Trophäenhalle, tatsächlich. Und hinter dem gewaltigen Tisch aus tropischen Hölzern, fein auf Hochglanz poliert, saß Kafka selbst. Er war bemerkenswert unscheinbar. Nicht sonderlich groß, aber auch nicht nennenswert klein. Kein wirklich dürrer, hagerer Bau, aber auch gewiss nicht dick. Nicht übermäßig muskulös, aber auch nicht sehnig. Kurze, stoppelige braune Haare, kühle, blaugraue Augen und für sein stolzes Alter von dreiundvierzig Jahren recht weiche Gesichtszüge. Gut gepflegt, offenkundig. Gekleidet in hochwertige Sachen, sicherlich, aber unauffällig. Eine braune Leinenhose, ein ungefärbtes Leinenhemd, darüber eine ungefärbte, braune Lederweste. Ein Gürtel, solides Schuhwerk. Er war ein Jedermann. Ihn in einer Menge zu verlieren war kein Wunder. Er konnte gewissermaßen direkt vor einem stehen und man hätte ihn übersehen können. Der große, gefürchtete Kafka, Schrecken von Costlein, Monster der Hunger-Ära… hinterließ keinerlei spürbaren Eindruck, wenn man ihn sah. Irgendwie passte es. Trotzdem. „Ah, prächtig. Seid mir willkommen! Bitte, setzt euch. Mein Name ist Kafka – wie ihr inzwischen sicherlich wisst“, grüßte er mit einer Stimme, die so freundlich und zugleich distanziert war, dass sie sich perfekt ins Bild fügte. „Siara. Siara Alaric. Und danke, das ihr mich so kurzfristig empfangt.“ Sie nahm auf dem gewiesenen Stuhl Platz. Zahllose Anschuldigungen und Vorwürfe lagen ihr direkt auf der Zunge, aber sie wartete ab. Was wollte er wiederum von ihr? „Kein Problem, wirklich“, erklärte er gutmütigen Lächelns und winkte ab, „Wir haben ja potenziell Geschäfte miteinander. Für Kunden hat man immer Zeit. Wie mir zu Ohren kam, residiert ihr ein paar Tage in Costlein. Hübsches Dorf, nicht? Schmeckt euch das Essen? Drei Mahlzeiten am Tag, hörte ich. Gut zahlende Kundschaft ist ein Segen für jedes Gasthaus. Vor allem, wenn es so unkomplizierte Kundschaft ist.“ Sierra entging keineswegs, dass Kafkas Augen wanderten. Er war freundlich und höflich und manierlich – aber auch gierig und gewohnt, zu bekommen, was er wollte. Und es war nicht schwer, aus ihm herauszulesen, dass zumindest ein Teil von ihm sie wollte. „Das Essen ist vorzüglich. Etwas teuer, aber lecker“, erwiderte sie mit der Untertreibung des Jahres. „Nun, wie mein alter Herr immer schon so schön sagte: Der Preis ist der Punkt, an dem sich Nachfrage und Angebot treffen.“ Er nickte sich selbst bekräftigend zu, als bräuchte es da noch irgendeine Bestätigung. Dabei lag ihm diese Philosophie mit all ihren Kehrseiten zweifellos als zweite Natur im Blut. „Was für Geschäfte habt ihr denn im Sinn?“, erkundigte sie sich nach einem Moment. „Ah, direkt zum Punkt. Natürlich. Reisende haben selten wirklich Zeit zum Plaudern, nicht? Marotten wie diese gewöhnt man sich schnell an, das kenne ich aus meiner früheren Zeit auch. Nun gut, dann also offen und direkt, eh? Dann erst die Arbeit, danach das Vergnügen. Auch so ein Sprichwort meines alten Herrn. Ich möchte, dass ihr für mich mit Gunnart redet“, eröffnete Kafka. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände über dem kaum vorhandenen Wohlstandsbauch. „Dem alten Bergmann? Was meint ihr mit: ‚mit ihm reden‘?“, gab sie seiner Floskeln ungeachtet weiterhin direkt zurück. „Ja, genau der. Seht ihr, ihm gehört eine Miene. Nutzlos dieser Tage, wirklich. Sie ist fast erschöpft und kaum noch das Papier wert, auf dem ihre Rechte geschrieben stehen. Aber ich bin ein Mann mit Sicht für das große Ganze, ich blicke voraus. Diese Krise, tragisch wie sie ist, wird nicht ewig anhalten. Danach, wenn sich das Land und die Leute erholen, braucht es Führung. Jemanden, der Stabilität bietet. Eine Zukunft. Der etwas aufzubauen fähig ist. An dem Punkt komme ich ins Spiel. Ich habe meinen Einfluss geltend gemacht und mir ein hübsches Stück an Land zusammengetragen. Mancher mag das sicherlich als Ketten um ihre Hälse betrachten, vielleicht sogar euch gegenüber so bezeichnet haben. Aber ich bin keineswegs der Übeltäter, als den mancher mich aus Frustration heraus darstellen will. Ich gedenke in einer Zeit, die für Chaos anfällig sein wird, Ordnung zu halten. Die Miene kann Arbeitsplätze bereitstellen für jene, die andernfalls auf die brillante Idee kommen könnten, Räuberbanden im hügeligen Hinterland zu formen. Der gute alte Gunnart sieht das anders. Er scheint sentimentale Impulse in den Weg von Vernunft und Rationalität kommen zu lassen. Unwillens, mit mir zu verhandeln – oder irgendwem sonst, den ich in meinem Namen schicke. Egal, was ich biete, wirklich. Dabei ist bekannt, dass er nun auch wirklich keinerlei Pläne hat, selbst etwas mit der Miene anzufangen. Ich möchte, das ihr mit ihm redet und ihn zur Vernunft bringt.“ „Und wie soll ich das anstellen, wenn er mit niemandem darüber verhandelt?“, erwiderte Sierra mit skeptisch gehobener Braue. „Oh, nun – reisendes Volk hat ja allerhand Pfiffigkeit, nicht? Ich bin sicher, da wird euch was einfallen“, erwiderte Kafka mit einem Grinsen, das wenig Spielraum für Interpretation ließ. „Ich soll ihn einschüchtern?“, hakte sie weiter nach. Kafka dagegen zuckte mit den Schultern. „Ihn einschüchtern, ihn erpressen, ihn zusammenschlagen, mir ist das wirklich einerlei. Solange die Besitzurkunde rechtmäßig in meinen Händen landet. Und ehe ihr jetzt Anstalten macht, euch auf euer hohes Ross aufzuschwingen und mir Vorträge über Moral haltet: Es spielt keine Rolle. Ich biete euch hier etwas an. Wenn ihr euch dagegen entscheidet oder einfach geht oder ihn sogar warnt, es spielt keine Rolle. Dann kommen andere, die ich fragen kann. Und sollte ich die Geduld verlieren, schicke ich einen meiner Jungs hin. Ihr werdet nicht ewig Geld haben, um euch bei Lanzelot zu verkriechen. Ihr werdet irgendwann weiterreisen wollen, nein, müssen. Und diese Sache hier, das ist eine Kleinigkeit. Eurer Aufmerksamkeit zweifellos wirklich nicht wert angesichts dessen, womit ihr euch sonst herumschlagt, nicht wahr? Also, was haltet ihr von ein paar leicht verdienten Münzen?“ Sierra verkniff sich mit aller gebotenen Willenskraft ein ‚Die wir dann bei Lanzelot lassen können, weil ihr ihm vorschreibt, welche Preise er zu verlangen hat?‘ Stattdessen atmete sie bemüht ein und aus, langsam, rang um Fassung und darum, sich nichts davon anmerken zu lassen. Erfolgreich, offenbar. „Und was wäre dann der vergnügliche Teil?“ „Nun, ich muss zugeben, ich hatte immer schon einen Faible für Rothaarige. Ihr wärt nicht zufällig an einem Arrangement interessiert? Es könnte sich für euch lohnen.“ Die nahezu unverblümte Frage Kafkas brachte Sierra dann doch lange genug aus dem Tritt, das selbst ihrer Illusion die Gesichtszüge einen Moment entglitten. „Ernsthaft…?“, brachte sie leise hervor, noch immer überrumpelt. Nach dem, was er ihr gerade zu tun aufgetragen hatte – im Grunde war es kein Angebot gewesen, sondern ein Auftrag -, wollte er sie für sein Bett kaufen. Der Mann hatte Nerven… „Warum nicht?“, erwiderte Kafka schulterzuckend, „Fragen wird man ja wohl dürfen.“ Sierra nickte geistesabwesend. „Das ist ein ‚ja‘?“ „Was?“, stutzte sie, besann sich dann jedoch, „Nein. Also ja – ja, ihr dürft fragen, aber nein, das wird nichts.“ „Bedauerlich, wirklich. Ich beneide euren Begleiter, muss ich gestehen – angeblich ist er bemerkenswert gebaut. Ich fürchte, mit derlei Qualitäten kann ich nicht aufwarten.“ Wenn du wüsstest… „Das stimmt. Aber es gibt noch andere Qualitäten, die ihn deutlich attraktiver machen als sein Aussehen.“ „Oh? Und die wären?“, erkundigte sich Kafka sichtlich überrascht und rückte in seinem Stuhl nach vorne. Alles oder nichts. „Er hat ein Gewissen.“ Naja. Manchmal. Kafka hingegen zeigte sich weiterhin völlig uneinsichtig, lächelte geradezu wölfisch. „Nun ich fürchte, auch damit kann ich nicht dienen.“ Er lehnte sich wieder zurück und winkte Maximilian heran. „Sei so gut und führe unseren Gast zur Tür. Und heute Nachmittag wirst du etwas nachdrücklicher mit Gunnart verhandeln. Bis dahin hat unser Gast Zeit, es sich zu überlegen.“ Sierra erhob sich. Sie brodelte innerlich. Was hier vor sich ging, war falsch. Alle wussten es. Und keiner handelte. Sie alle waren damit Mitschuldige. Aber sie selbst, sie wollte sich da nicht einsortieren. Sich nicht einsortieren lassen. Thorin hatte ihr gedankenlos an den Kopf geworfen, dass sie lernen müsse, eigenständig zu stehen. Dann war das hier ihre Entscheidung, oder nicht? Ihre Gedanken rasten. Was konnte sie tun? Für Thorin war das immer leicht. Der schlug jemandem die Nase ein oder brach ihm den Kiefer oder schlug ihm ein paar Zähne aus und alle Probleme wurden gelöst, solange man nur oft und hart genug darauf einschlug. Aber Gewalt war keine gute Lösung. Entgegen dem, was Thorin vielleicht glauben mochte und gelegentlich propagierte. Vielleicht eine Finte? Oder was wäre, wenn sie die Dorfbewohner gegen Kafka aufbringen könnte? Oder wenn sie- Letztlich blieb bei all ihren Ansätzen die immer gleiche Wurzel. All ihre Pläne ließen sich auf eine Sache eindampfen: Kafka musste, irgendwie, auf seinen Platz verwiesen werden. Nur mit all seinem politischen und wirtschaftlichen Einfluss, mit seinen Schlägern… war das gar nicht so leicht. Bis es klick machte. Sie hatte eine Idee. Eine Methode. Einen Plan. Wie sie völlig gewaltfrei aus der Sache herauskam und gleichzeitig das Problem löste. Siegessicher lächelnd stemmte Sierra die Hände in die Hüften. „Ich gebe euch bis Mittag Zeit!“, tönte sie. „Oh? Und um was zu tun?“, hakte Kafka eher aus Amüsement denn tatsächlichem Interesse nach. „Um ein Einsehen zu haben. Um ein Gewissen zu entwickeln. Oder, damit es für euch konkret genug ist: Um die Tore zum Lager aufzustoßen und allen freien Zugang zu den Vorräten zu ermöglichen und die Schuldbriefe zu verbrennen und die Besitzurkunden zurückzugeben. Als Zeichen eurer Reue, eures guten Willens und zur Versöhnung mit den Leuten, die euch hier in ihrem Kreis willkommen hießen und aufnahmen.“ Sie bemühte sich, nicht zu grinsen. Er würde nicht annehmen, niemals – und darum ging es auch. Er war unrettbar. Das zumindest war ihr inzwischen klar geworden. Einen Moment stutzte er, aufrichtig überrascht, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach. „Ihr seid noch nicht sehr lange in Costlein, das merkt man. Das Dorf gehört mir. Die Leute darin gehören mir. Und was genau, nur der Neugier wegen, soll am Mittag dann geschehen, mein Liebchen?“ Sierra verzog bei dem Kosenamen sehr das Gesicht, hielt die Reaktion jedoch glücklicherweise von ihrer Illusion fern. Sie wollte ihm diese Genugtuung nicht gönnen, dass er unter ihre Haut gekommen war. „Am Mittag werdet ihr euch auf dem Dorfplatz vor dem Gasthaus einfinden und das Geforderte umsetzen. Andernfalls… sagen wir es so: Ihr würdet es sehr bereuen. Wirklich sehr.“ Halbseitig schmunzelnd hob Kafka eine Braue. „Ist dem so? Ich fürchte, um mich einzuschüchtern, habt ihr zu viel eurer Ausrüstung im Gasthaus liegen lassen. Aber ich werde da sein, keine Sorge. Ich werde da sein und ich werde jeden einzelnen, der dort auftaucht, sehr genau ins Auge nehmen. Sie werden von mir nichts mehr bekommen. Keinen Krumen. Und wisst ihr was? Mir ist sogar völlig gleich, ob ihr sie diesbezüglich vorwarnt oder nicht. Und sollten sie Masken tragen – ich werde meine Leute selbstverständlich auch dabei haben. Die können ihnen die dann direkt wieder abnehmen. Zumal das ein wirklich kleines Dorf ist, manchen erkennt man schon allein am Schuhwerk.“ „Wir werden sehen, wer zuletzt lacht!“, zürnte sie etwas übertrieben, während Kafka abermals zu glucksen begann und Maximilian Anweisung gab, sie hinaus zu bringen. „Tut mir leid“, meinte der an der Tür, „Aber so läuft das hier nunmal inzwischen.“ Sierra erwiderte nichts. Noch nicht. Ihr Plan war eine Frage des Timings. Und des Geschicks. Und von Verhandlungen, die sie angesichts der fortgeschrittenen Morgenstunden jetzt wirklich, wirklich zügig führen musste!   „Gunnart?“, fragte sie noch während sie an dessen Haustür klopfte. „Ja?“, kam es krächzend von drin, während jemand sich mit einem Gehstock hörbar zur Tür bewegte. Noch während die Tür sich langsam öffnete, platzte Sierra heraus. „Wir müssen reden.“   Zurück im Gasthaus eilte Sierra zum Tresen. „Lanzelot?“ „Oh. Schon zurück? Und, wie-“ Sierra unterbrach ihn mit einer Geste und der Wirt hielt tatsächlich inne. „Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen reden. Hinterräume?“ Sichtlich besorgt nickte der Hagere und stellte seinen obligatorischen, rituellen Polierkrug ab.   „Thorin?“, rief Sierra noch während sie die Zimmertür aufriss. Ihn dort sitzen zu sehen, wie er die Axt polierte, war gleichermaßen beruhigend – er war da – wie beunruhigend – er polierte die Axt. Er sah auf und runzelte die Stirn. Inzwischen musste sie wohl etwas aus der Puste sein. „Gunnart will wegen der Waffen und Rüstungen nachverhandeln. Er meint, er habe Schnitzer und Krahler und Verarbeitungsfehler gefunden, es sei nicht mal die Hälfte wert.“ Seine Rechnung kurz neu überschlagend, verzog Thorin das Gesicht und erhob sich. Glücklicherweise legte er dabei auch die Axt bei Seite. „Dann sollten wir mit ihm reden, hm?“ Sierra zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, aber dafür hab ich keine Zeit. Du weißt schon – ich muss die Dinge erledigen, von denen du nichts wissen willst. Viel Erfolg und bis heute Abend!“ Noch ehe er sie auf ihr Mittagessen hinweisen konnte, das eigentlich jede Minute fällig sein müsste, war sie bereits wieder verschwunden. Flog regelrecht die Treppen hinab. Denn es war fast Mittag. Und sie hatte eine Verabredung.   Sierra stand allein auf dem kleinen Platz vor dem Gasthaus. Kein anderer Dorfbewohner weit und breit zu sehen. Ihr gegenüber stand Kafka mit seinen vier Schlägern. Er trug ein siegessicheres Grinsen zur Schau. „Ich warte. Ich warte auf das Publikum, auf all eure Rückendeckung. Auf den wilden Mob, der mich in Stücke reißen soll. Auf euer göttliches Wunder, das mich nun erschlägt für all meine ach so bösen Taten. Und… ich warte immer noch.“ Sierra verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich brauche weder Rückendeckung, noch Wunder. Diese Leute haben euch aufgenommen. Sie gaben euch Heim und Hof und einen Platz in ihrer Mitte. Sie haben zu euch gestanden. Sie haben euch geholfen. So muss das hier nicht laufen.“ Amüsiert lachte Kafka erneut auf. „Oh, muss es wohl nicht, nein. Wird es aber. Tut es bereits.“ Sierra rollte demonstrativ mit den Augen. „Ich rede nicht mit dir, Schwachkopf.“ Sie setzte sich langsam in Bewegung auf Kafka zu. Seine vier Schläger spannten sich an, traten einen Schritt vor, warnend, mahnend – aber noch immer hinter Kafka. Sierra aber blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer. Stattdessen glitt ihr Blick zu Maximilian. Und sie konnte es in seinen Augen sehen. Er verstand. Sebastian und Brunhild waren die nächsten, die ins Stocken gerieten. Dort drüben stand ihr Vater. Die stämmigen Arme vor der breiten Brust verschränkt, einen bohrenden, warnenden, rügenden Blick wie nur ein enttäuschter Vater ihn haben konnte, die buschigen Brauen zusammengezogen. Beide waren schockstarr. Einzig Fridolin schien sich an seines Vaters Missfallen wenig zu stören – was Sierra nicht überraschte. Ein Punkt, um den sich jedoch seine zwei anderen Kinder kümmern konnten, als der alte Gunnart mit wenigen Gesten zu verstehen gab, dass sie ihren übereifrigen Bruder aufhalten sollten. Und dann stand Sierra direkt vor Kafka. Vor ihm und ohne seine Leibwachen, die sich einmischten. Und noch immer trug er ein siegessicheres Grinsen. „Na, meine Hübsche, was jetzt? Stichst du mich jetzt ab? Das wird immer noch das ganze Dorf aufwiegeln. Ganz zu schweigen davon, dass du dann eine kaltblütige Mörderin bist. Ich habe nichts Ungesetzliches getan, mein Täubchen. Weißt du, was man im Kerker mit so hübschen jungen Dingern wie dir anstellt?“ Sierra unterdrückte ein Frösteln. „Jetzt? Jetzt komme ich auf dein Angebot zurück, vergnüge mich und du, du kannst froh sein, dass es dich nicht deine Seele kosten wird…!“ Mit einem Ruck, den sie sich selbst geben musste, drängte sie sich an Kafka heran. Ob er sie nun aus Reflex wegschieben wollte oder nicht, irgendwie landete sein Arm an ihr, um sie. Und mit der Berührung brach, wie Sierra es sich erhofft hatte, auch ihre Illusion – für ihn zumindest. Der Rest der Welt sah nur, wie Kafka Siara Alaric küsste. Denn sie verstand sich inzwischen genug darauf, die Szenerie so zu manipulieren, dass es den Eindruck erweckte, als ginge die Initiative von ihm aus. Sie stemmte sogar die Hände gegen seine Brust, als wolle sie ihn auf Biegen und Brechen von sich drücken, während sie genau jene zugegeben anstrengende und unbequeme Haltung tatsächlich dafür nutzte, ihn auf genau der richtigen Distanz zu halten. Zum Rest der Welt zählte Thorin Eichenschild. Der nicht teilte. Schon gar nicht seine Eroberungen. Es war nach Sierras kleinem Gewaltmarsch nicht völlig zufällig gewesen, dass Gunnart und Thorin ausgerechnet in einer Seitengasse vor dem Platz ineinander liefen. Gunnart hatte das Gespräch gut genug lenken können, um Thorin rechtzeitig klar zu machen, dass Sierra sich da vertan haben müsse. Man wäre wohl besser beraten, das mit ihr direkt zu klären – also führte er Thorin aus der Gasse auf den Platz. Wo er seine Kinder im Zaum halten und Thorin die Aussicht bieten konnte. Der Plan klappte wie am Schnürchen. Bis einschließlich des Momentes, als eine Naturgewalt namens Thorin Kafka an der Schulter packte. Sierra ließ Kafka in genau jenem Moment los, zufrieden mit dem Ausdruck schierer Panik angesichts der Erkenntnis, dass er gerade einen Tiefling geküsst hatte und was das möglicherweise für sein Seelenheil bedeuten würde. Gedanken, um die er sich sicherlich später noch würde Sorgen machen können. Sierra konnte sich nicht vorstellen, dass Denken sonderlich leicht viel, wenn Fäuste wie Hammerschläge auf den Schädel eindroschen. Oder die Rippen. Oder so ziemlich jeden anderen Teil, der Thorin in seiner Rage in die Quere kam. Sierra dagegen zog sich zu Lanzelot zurück, der nunmehr neben dem Eingang des Gasthauses stehend ausharrte und sich das Spektakel anschaute – wie inzwischen viele der Dörfler. „Zugang zum Depot sollte kein Problem mehr sein“, erklärte sie leise, „Kafka hat sich bemüht, seine Schläger nichts wissen zu lassen. Aber Brunhild war aufmerksam und hat gesehen, wie man das Schloss öffnet und wo er den Schlüssel versteckt hält. Ihr solltet es dringend rationieren, wirklich. So knapp ihr könnt. Aber es gibt keinen Grund mehr, darüber Existenzen zu ruinieren.“ Lanzelot bemühte sich, all seine Dankbarkeit in einem Lächeln unterzubringen. „Danke. Wirklich. Vielen, vielen Dank. Costlein schuldet euch… viel. Und ich noch mehr. Er… er wird ihn aber nicht umbringen, oder?“ Zweifelnd sah Sierra zurück. Thorin verlor, einem Bär ähnlich, oftmals das Interesse an Gegnern, wenn die sich zu wehren und zu zucken aufhörten. Das schien auch hier der Fall. „Nein, keine Sorge. Aber er wird vermutlich einige Tage bettlägerig sein und Hilfe brauchen bei selbst den kleinsten Tätigkeiten. Vielleicht lehrt ihn das sogar etwas. Denkt ihr, das bekommt ihr hin? Ihm zu helfen?“ Lanzelot verzog leicht das Gesicht. „Viele werden meinen, dass er diese Hilfe nicht mehr wert sei. Aber egal, wie tief er gesunken ist… er ist immer noch einer von uns. Ich denke, wir werden uns gut um ihn kümmern. Und wer weiß, vielleicht lernt er hieraus ja wirklich etwas. Das ist das zweite Mal, dass seine… seine Geschäftspraktiken ihn so teuer zu stehen kommen. Vielleicht begreift er’s ja diesmal?“ „Ja. Vielleicht“, spekulierte auch Sierra und verzog das Gesicht, als sie irgendwo hinter sich eine Rippe unter einem Stiefel brechen hörte. Wenig später kehrte Thorin bei ihnen ein. Sein bohrender Blick suchte nach Erklärungen, Rechtfertigungen, vielleicht sogar neuen Zielen. Sierra dagegen… kannte ihn. Sie lächelte ihm zu und ließ ihn wissen, wie sehr er ihr aufgelaufen war. „Danke“, flüsterte sie ihm sogar zu, die Hand auf seinem Unterarm. Wäre er ihr wirklich wütend deshalb gewesen, hätte er ihn weggezogen – das tat er jedoch nicht. Wann hatte Thorin sich je beschwert, wenn man ihm eine gute Gelegenheit bot, sich auszutoben? „Wir nehmen jetzt den Proviant und ziehen nach Norden ab“, erwiderte er noch immer grollend wie eine massive, gewaltige Sturmfront. „Westen“, gab sie unverhofft zurück. „Die Häfen liegen im Norden“, erklärte Thorin das Offensichtliche mit Nachdruck. „Ja das mag ja sein und sobald wir fertig sind, können wir ja auch zu den Häfen im Norden. Aber das Anwesen seiner Lordschaft Marrkus Hedwig von Szueborn liegt drei Tagesreisen westlich von hier. Ich habe mich mit Gunnart und Lanzelot unterhalten. Sie stimmen zu, dass die Bekämpfung der Ursache der Hungersnot definitiv Vorrang haben sollte vor Symptombekämpfungen wie Kafka da drüben. Übrigens gute Arbeit, nochmal. Solange wir seiner Lordschaft mal einen Besuch abstatten, gewähren Gunnart und Lanzelot uns sogar freien Zugang zum Depot. Wir können Also Vorräte für die Dreitagesreise mitnehmen. Ich bin sicher, seine Lordschaft wird uns dann weiter behilflich sein können. Du und dein Charme, ihr werdet das schon regeln, nicht?“ Ihr Herz flatterte und schwankte in seiner Position zwischen ‚schlug ihr bis zum Halse‘, ‚rutschte ständig in ihre Kniekehlen‘ und ‚irgendwo in ihrer Brust, am hektische Kreise drehen‘. Sie befand sich auf dünnem Eis. Sehr dünnem Eis. Sie wusste das. Thorin wusste das. Er könnte sie im Grunde genauso gut einfach hier mitten im Nirgendwo stehen lassen. Sie wollte unbedingt nach Westen? Gut, fein, sollte sie doch! Stattdessen hob er eine Braue. Sein Blick bohrte. Bohrte weiter. Sie hielt ihm stand. Es war keine leichte Aufgabe, wirklich nicht. Jeder, der jemals Ziel und Opfer dieses Blickes eines Thorin Eichenschilds wurde, konnte das bestätigen. Würde das bestätigen. Aber sie vollbrachte das nicht Unmögliche, aber zumindest Schwierige und hielt stand. Dann brach Thorin ab und richtete sich an Lanzelot, der unter seinem Blick, obgleich nicht mal mehr ansatzweise bohrend oder drohend, dennoch ein Stück zusammenschrumpfte. „Wir reisen vorzeitig ab. Wir werden jetzt packen. Kümmert euch darum, dass das Depot offen ist, wenn wir dort ankommen – wir haben eine Dreitagesreise vor uns und je früher wir losmarschieren, umso früher kommen wir nach Norden.“ Lanzelot nickte ergeben und verschwand ins Innere. Zusammen mit Thorin. Sierra blieb noch einen Moment draußen stehen. Seufzte tief und gedehnt aus. Erleichtert. Die Last eines gefühlten Gebirgszuges fiel ihr von den Schultern ab und ihr hektisch flatterndes Herz beruhigte sich ein klein wenig, fand in einen nicht mehr suizidalen Rhythmus zurück. Ihr Blick schweifte über den Platz zu den langsam aus ihren Hütten kommenden Einwohnern Costleins, zu Gunnart, der seine Söhne und seine Tochter aufklärte und zu Kafka. Maximilian half dem blutig gedroschenen Bündel gerade auf die Beine und hielt inne, um ihr auf die Distanz hinweg kurz dankbar zuzunicken. Nun, sie hatte vielleicht doch etwas Gutes bewirkt. Und das ganz ohne Gewalt. Also… ohne dass sie gewalttätig werden musste. Wofür hatte man einen Thorin, der- „Kommst du?!“, brandete dessen Stimme aus dem Schankraum in ihre Richtung. Fürchterlich zusammenzuckend und das Herz wieder irgendwo auf der Flucht, war der adrenalinschwere Moment der Euphorie und des Triumphes kurz gebrochen. „J-Ja, klar, gleich!“, brachte sie hervor und eilte ihm nach, dann nach kurzem Moment sogar an ihm vorbei die Treppen hinauf. Thorin sah ihr mit einem zufriedenen Schmunzeln nach. Zu lernen hatte das Mädchen noch viel. Aber sie war auf einem guten Weg. Kapitel 55: Der Ruf ------------------- Langsam schlugen die Wogen gegen die Flanken des Schiffes. Wieder und wieder und wieder, während es mit nur leichtem Wind in den Segeln versuchte, diese gewaltige See zu durchpflügen. Fast schon unbemerkt in Relation zur Größe des Meeres. Was war das Schiff, wenn es Kreaturen in den Wassern unter ihnen gab, die es aus Versehen hätten verschlucken können? Sein Blick hing am Horizont. Nicht dem Horizont, einfach nur einem davon. Osten, Westen, Norden, Süden – es spielte keine Rolle. Überall war Wasser. Überall waren Wolken. Und überall war Himmel. Des Nachts sah er die Sterne und den Mond, am Tag die Sonne. Vögel begegneten ihnen so weit draußen keine. Gelegentlich sah er Wale, Haie, riesige Fischschwärme. Immer nur angedeutet. Silhouetten unter der Oberfläche des Meeres. Die meisten hielten sich vom Schiff fern. Und entgegen seiner früheren, ja entgegen seiner sonstigen Abenteuerlust… begeisterte ihn all das nicht im Geringsten. Es war nicht die erste Seereise, die er unternahm und er wusste ganz genau, wie bahnbrechend langweilig die erst einmal wurden, wenn man alles getan, alles belauscht und alles berührt hatte. Aber diesmal war es anders. Die Schlösser in den Eingeweiden des Schiffes, ob nun an Türen oder Ruhen, Schreibtischen oder kleinen Schmuckschatullen, hatten nichts von ihm zu befürchten. Die Reichtümer darin ebenso wenig wie die Händler, behangen mit kostbaren Ringen und feinsten Stoffen, denen sie gehörten. Ihm stand nicht der Sinn danach, die Frachtkammern und Laderäume zu durchstreifen. Lieber blieb er hier oben, im Krähennest. So weit oben wie möglich. So sicher und entfernt von Thorin, wie möglich. Dabei fürchtete er den Krieger nicht einmal. Nicht wie früher, als er sich noch tatsächlich Sorgen darum gemacht hätte, er könne ihm den Arm brechen oder einfach den Schädel einschlagen, das Genick wie dünne Äste knicken oder-… oh, nun, er hatte eine blühende, lebhafte und gelegentlich grausame Fantasie – er hatte sich viele Arten und Weisen vorstellen können und es auch getan, wie ein Thorin Königsend einem unbedeutenden kleinen Alistair das Leben schwer machte. Oder beendete. Doch Thorin Königsend war mit der Revolution verschwunden. Und Thorin Wyrmblut war aufgetaucht. Der Mann war anders, das merkte man rasch. Vor allem, wenn man Vergleiche zog. Vergleiche ziehen konnte, wenn man beide Männer kannte. Als hätte Thorin eine Metamorphose durchlaufen. Als hätte er, mal wieder, sein früheres Selbst zu Grabe getragen und nur Teile davon für die Konstruktion seines neuen Ichs benutzt. „Du brütest“, kam es von irgendwo hinter ihm. Alistair zuckte fürchterlich zusammen und spähte über seine Schulter. Ishara, seine hübsche Ishara, saß dort, die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen, das Kinn auf die Knie gebettet und ihn bohrend musternd. Sie wollte herausfinden, wie es ihm ging. Er kannte diesen Blick. Inzwischen kannte er ihn zur Genüge. „Es geht mir gut“, erwiderte er seufzend. Der Teil mit dem Seufzen war ungeplant gewesen. Und unangenehm verräterisch. „Mhm“, erwiderte sie, „Du hast mich nicht hochklettern bemerkt. Und ich sitze hier schon einen Moment.“ Er verzog leicht das Gesicht. Sie zog ihn auf, richtig? Sie musste ihn einfach aufziehen. Keine Chance, dass er so abgelenkt war… richtig? Doch in ihrem Gesicht konnte er keinerlei Amüsement lesen, keinen Scherz, den sie gleich aufdecken würde. Wie lange saß sie da schon? Sie löste sich aus ihrer Position und krabbelte zu ihm herüber. Zog ihn vom Rand des Krähennestes fort und in ihre Arme. Mit dem Rücken gegen die Reling gelehnt, damit sie den Blick vom Meer ab- und dem Himmel zuwenden konnte. Wasser, obgleich für sie im Grunde ungefährlich, bereitete ihr noch immer Unbehagen – während der Himmel dank ihrer Verwandlungen inzwischen sehr viel vertrauter geworden war. Sie zog ihn an sich, in ihre Arme, fort von seiner Wache und strich ihm durch das Haar. Den Hals herab, über Brust und Arme. „Du machst dir Vorwürfe“, benannte sie das Offensichtliche. Alistair stutzte nicht einmal mehr. Es war ein kurzer, funkenartig aufflammender Gedanke, präsent nur für ein paar Sekunden: Sie kannten einander inzwischen bemerkenswert gut. Früher hätten sie jetzt vielleicht zunächst ein klärendes Gespräch vorschalten müssen, zäh und langwierig. Weil er sich weigerte, auszusprechen, was los war. Wo das Problem tatsächlich lag. Nein, es ging nicht darum, dass er Angst vor Thorin hätte. Ihm war klar, dass der Hüne ihm nichts tun würde. Selbst jetzt nicht. Thorin gab ihm die Schuld an dem, was geschehen war, zweifellos. Er hatte schließlich sich von den Göttern manipulieren lassen. Er hatte seiner eigenen Tochter – und Thorins Sohn – diesen verdammten Schlüssel zugespielt. Er hatte in Gang gesetzt, was Thorin seit Jahren zu verhindern versucht hatte. Er war schuldig. Das konnte er akzeptieren. So wie er Thorins Groll akzeptieren konnte. Fehler waren gemacht worden. So man es denn als Fehler sah, einer Religion zugehörig zu sein. An etwas zu glauben. Zu beten. Aber ihm war auch klar, dass Thorin ihn nicht anrühren würde. Nicht nur, weil er seinen Tag damit füllte, Nathenial mit Fürsorge und Aufmerksamkeit zu überschütten. Sondern ebenso, weil Thorin allem zum Trotz auch wollte, das Ishara glücklich war. So glücklich, wie es unter den jeweils gegebenen Umständen eben möglich war. Er wollte für sie in jeder Situation das Bestmögliche. Jetzt Alistair anzufallen wie ein wildes Tier und ihn in Stücke zu reißen war kontraproduktiv – Ishara brauchte Halt ebenso wie der Rest von ihnen. Sie wäre ob dieser Zwistigkeiten traurig gewesen, gelinde gesagt. Hätte ihn vielleicht sogar gegen ihren Vater zu verteidigen versucht. Und Ninafers potenzielle Einmischung erst noch! Das hätte alles viel zu schnell aus dem Ruder laufen können, als dass der weitsichtige Thorin Wyrmblut es versucht hätte. Zumal auch Ninafer, die Ärmste, getröstet werden wollte. Die Alchemistin wirkte stets unnahbar, unangreifbar. Ihre Fassade perfekt. Aber wer sie lange genug kannte, der wusste auch die subtilen Zeichen zu lesen, mit denen sie sich zu verständigen gewohnt war. Und die waren in den letzten Tagen und Wochen eindeutig. Sie litt. So wie sie alle. Nathenial und Emilia hatten ihr Abenteuer überlebt. Was immer sie da unten alles hatten tun und leisten müssen, sie waren mit halbwegs heiler Haut davon gekommen. Nur bedeutete das nicht das Ende. Ähnlich wie Thorins Axt, die stets ihren Weg zu ihm zurück fand, wurden auch ihre Kinder nun von deren frisch errungenen Preisen verfolgt. Brecher, die Zweihandaxt des Kriegsgottes. Fang und Stich, die Dolche Lenikkis. Thorin warf sie in die Grube, in deren Nähe sie ihre Sprösslinge fanden. Tags darauf lagen sie an deren Krankenbett auf dem Nachttisch. Es war einen Versuch wert gewesen, sicherlich – nur hatte irgendwer von ihnen tatsächlich zu hoffen gewagt, es wäre so einfach? Sie waren auserkoren worden. Von den Göttern selbst. Niemand wagte wirklich zu fragen, wofür. Was immer es war, konnte nichts Gutes sein. Thorin hatte ein Abkommen gebrochen. Eines, das er direkt und unmittelbar mit einem Gott geschlossen hatte. Und mehr noch. Im Nachklang dieses Verrates hatte er gewagt, die Götter offen herauszufordern, indem er ihnen Macht und Einfluss in seinem Reich absprach. Die Säkularisierung hatte die Nation gespalten. Nicht tief, wirklich. Im Nachhall des Krieges waren die Leute des Beschwerens und Kämpfens müde geworden. Thorin führte sie und er führte sie gut. Vielleicht würden sie in ein paar Jahren oder Jahrzehnten  die Kraft haben, diese Entscheidungen zu hinterfragen und sich dagegen aufzustellen. Vielleicht hätten sie sich bis dahin aber auch bereits daran gewöhnt. So viele Unterschiede waren es ja nun wirklich nicht. Die Tempel konnten weiterhin unterrichten, wenn die Eltern das vorzogen. Aber es gab auch Schulen. In denen Religion nicht gelehrt wurde. In denen nicht die Priester es waren, die Mathematik und die Grundgesetze der Natur lehrten. Stattdessen waren es handverlesene Weise, Gelehrte und allem voran, Staatsdiener. Denn ein Staat sollte sich selbst darum scheren, ein fähiges und kluges Volk für seine eigene Zukunft heranzuzüchten. Das waren jedenfalls die ungefähren Worte gewesen, mit denen  Thorin damals seine Ankündigung erklärt und verteidigt hatte. Die inoffizielle Variante war natürlich weniger rosig und freundlich. Wie so oft. Politik war eine Schlangengrube und ganz gleich, ob sie fast leer war – wer eintrat, musste selbst zur Schlange werden. Schien einfach ein Naturgesetz zu sein. Eines, das Alistair ebenso betraf und ihn oft genug angewidert und ermüdet hatte. Aber nichts davon musste er aussprechen. Nichts erklären. Nicht ausholen. Stattdessen konnte er sich zurücklehnen. Isharas Fingern in seinen Haaren nachspüren. Es genießen. Diesen Moment vertrauter Zweisamkeit. Sie waren einander nahe, auf mehr als nur körperlicher Ebene und er wusste es zu schätzen. Rang sich ein erschöpftes, müdes Lächeln ab. Die letzten Nächte hatte er mies geschlafen – wenn überhaupt. So wie Thorin und Ninafer auch. So wie, den dunklen Ringen unter ihren hübschen Augen nach zu urteilen, seine Liebste auch. Er war schuldig. „Ich habe ihn nie ernst genommen“, seufzte Alistair leise. „Ich weiß“, erwiderte Ishara lediglich. Ihre Stimme war neutral. Nicht, weil sie sich darum bemühte. Er sah sie über ihre Miene huschen – die vielen verschiedenen Impulse und Empfindungen, die sie bei dieser Äußerung wie wilde Tiere anfielen. Thorin nicht zu glauben erschien ihr inzwischen vermutlich töricht. Närrisch. Dann wiederum waren das Begriffe, mit denen Alistair oft genug beschrieben worden war. Sie kannte ihn. Wusste darum. Hatte es auch damals gewusst. Und nie hatte sie versucht, ihn in der Ausübung seines Glaubens zu behindern. Nie. Wie hätte sie das auch können sollen, gerade sie, Botin des Pantheons. Sie hasste den Titel. Und wehrte sich dagegen, wo und wie und wann immer sie konnte. „Komm mit runter. Du musst was essen. Und solltest schlafen.“ Ihre Stimme nahm diesmal einen Klang an. Warm, weich. Einlullend, geradezu. Sie becircte ihn, so gut sie konnte. Lockte. Und all ihr Mühen war auch nötig – Alistairs Miene zeigte nur zu deutlich den Widerspruch, der ihm auf der Zunge lag. Er hatte geschlafen. Naja, ein wenig. Er hatte gegessen. Ein wenig. Er musste nirgendwo hin. Hier war es wirklich perfekt, alles war gut, er musste nicht gehen. „Bitte“, schob sie leise nach – und brach damit mutwillig die Widerstände. Was hätte er darauf noch sagen sollen? Er war ebenso erpicht darauf, sie nicht noch unglücklicher zu machen, als Thorin. Seufzend nickte er leicht, gab sich geschlagen. Alistair wusste genau, was folgen würde und sollte darin auch bestätigt werden. Gemeinsam erhoben sie sich nach einem weiteren Augenblick des Zögerns und Zauderns – seinerseits, hauptsächlich. Ehe sie das Krähennest schließlich hinter sich ließen, ohne wirkliche Begeisterung für die an ihnen ziehenden Winde und das Adrenalin des Herunterkletterns in der sich windenden, schwankenden Takelage ihren Weg nach unten fanden. Ehe sie über das im Wellengang schaukelnde Deck des Schiffes wankten, die Treppe hinab, die Korridore entlang. Er wurde von ihr in ihre gemeinsame Kabine gebracht. Ein einziger, großer Raum mit vier Betten, zwei kleine Schmale, zwei große Breite. Wie erwartet spannte Thorin sich direkt an, als Alistair eintrat. Warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der sich jedoch rasch zu einem Anstarren geprägt  von Erschöpfung und Niederlage wandelte. Ninafer blickte auf, bemühte sich um ein Lächeln und bot ihnen Tee an. Alistair nickte, obwohl er wirklich keinen verdammten Tee wollte. Aber abermals waren die subtilen Zeichen, die sie von sich gab, alles, was er brauchte. Wie lange mochten die beiden schon an Nathenials Bett sitzen? Sie konnte die Ablenkung gebrauchen, selbst wenn es nur ein paar wenige Minuten waren. Einen Grund, aufzustehen, sich zu bewegen, ihre Glieder zu strecken und ihren gebeugten Rücken zu entlasten. Erst nach einem flüchtigen Blick in den Raum bemerkte Alistair, das auch Emilia in Nathenials Bett lag. Beide Kinder dicht beisammen, die Decke über ihre Schultern gezogen. Sie schliefen. Und ließen sich selbst von Ninafer nicht stören, als diese ohne besondere Rücksichtnahme daran ging, Tee zu brühen. Es gab Alistair noch immer Rätsel auf. Sie hatten die Kinder dort unten wiedergefunden und sie waren ansprechbar gewesen. Emilia, zugegeben, erst nach einer vorsichtigen Ohrfeige. Aber beide hatten sich geregt. Es war dieser erste Schlaf, der irgendetwas auszulösen schien. Sie wirkten danach oftmals erschöpft, müde. Und wenn sie schliefen, dann schliefen sie lange. Tief und fest. Und träumten. Oft vergaßen sie, wovon – aber wehe, wenn sie sich erinnerten. Schlachten von epischen Ausmaßen, düstere Gassen und funkelnde Juwelen. Sie träumten thematisch. Sie träumten von Arimasper und seinen Taten – und Lenikki und dessen Taten. Natürlich jeweils zugeordnet. Emilia hatte Brecher angenommen und träumte ganz gewiss nicht von Juwelendiebstahl und Seitenstraßenraub. Während Nathenial sicherlich nicht von den Schlachtfeldern der Welt träumte. Trotz der Erschöpfung, die Alistair empfand – mit jeder Nacht ein Quäntchen mehr -, waren seiner Einschätzung nach die Ersten dennoch die Schlimmsten gewesen.  Als alles noch ungewiss war. Bis sie erstmals wirklich erwachten, nicht nur in einen Dämmerschlaf übergingen, halbwach und wie in Trance. Weder Emilia noch Nathenial hatten es wirklich begriffen. Oder wirklich begreifen können. Etwas war geschehen. Nicht nur dort unten, sondern vielmehr mit ihnen. Sie steckten beide in einer Sache, deren Dimensionen und Ausmaße weit über ihr Verständnis hinausgingen. Sie hatten Brecher, Stich und Fang gefunden. Gefunden. Und das bedeutete etwas – sie wussten nur nicht recht, was eigentlich. Knapp eine Woche hatte man ihnen geben wollen, damit sie sich unter der konstanten Aufsicht und Fürsorge ihrer Eltern erholen konnten. Aber es war nur so lange, wie man die Staatsgeschäfte pausieren konnte. Dokumentenstapel wuchsen täglich, Diplomaten wurden unruhig, Gesandte langsam verstimmt. Letztlich hatte Thorin ohnehin erwogen, Sierra für eine Weile als seine Stellvertretung einzusetzen. Tatsächlich notwendig geworden war das erst an dem Tag, als beide erwachten und ihnen die unbequemen Nachrichten mitteilten. Sie mussten ziehen. Emilia und Nathenial hatten das tiefe, drängende Bedürfnis, zu gehen. Sie konnten auf Gedeih und Verderb nicht sagen, wohin. Aber sie mussten gehen. Schnellstmöglich. Was war ihnen schon anderes zu tun geblieben? Natürlich packten sie allesamt in Windeseile ihre sieben Sachen. Als hätten sie ihre Kinder allein in die Welt hinausgelassen! Nicht in eine Welt so instabil und feindselig wie diese, nicht mit ihrer Abstammung, nicht mit diesen Waffen im Gepäck, nicht… nein, einfach ganz grundsätzlich gar nicht. Es hatte nur wenig Verabschiedung gegeben. Ein paar Glückwünsche von Sierra, ein gemaultes „Viel Erfolg“ von Garwinn, aber viele ihrer Freunde waren gar nicht im Schloss gewesen, als sie ihren Aufbruch vorbereiteten und ihre Verabschiedungen vornahmen. Sierra fiel die Bürde zu, den Rest darüber zu informieren, was geschehen war. Sicherlich auch nicht gerade eine dankbare Aufgabe. Wie Lumiél wohl darauf reagierte, einen Tiefling auf dem Thron zu haben? Selbst wenn es nur für eine kurze Zeit sein würde? Jedenfalls hofften alle, dass es nur für eine kurze Zeit wäre. Dass sie lediglich irgendwo auftauchen, etwas tun sollten und wieder heimkehren könnten. Weder Thorin, noch Ishara, Ninafer oder Alistair selbst hatten vor, ihre Kinder an ein Leben als Boten und Diener der Götter zu verlieren. Als Ninafer Alistair die Tasse in die Hand drückte, erwachte er wieder aus seiner Starre. Er ließ sich von einer besorgt dreinschauenden Ishara zum Bett ziehen. Zu Thorin und der Stelle, an der Ninafer gesessen hatte und nun auch wieder ihren Platz einnahm. „Wir übernehmen“, erklärte seine Liebste leise. Thorin blickte auf, widerwillig. Wie so oft beneidete Alistair die beiden ein klein wenig. Sie führten ganze Konversationen über simplen Blickkontakt, stritten und zankten und verhandelten und argumentierten. Er kannte seine Liebste gut, so wollte er stets behaupten. Aber nicht gut genug, um das zu vollbringen. Es schien jedoch, als wären sie gleichauf und kämen nicht recht voran. Ishara hielt seinem Blick stand und ließ sich nicht ab- oder zurückweisen. Etwas, das sie sich unweigerlich hatte angewöhnen müssen. Thorin handelte stets nach dem, was er für das Beste hielt – nur was das, was er für das Beste hielt nicht zwangsläufig das Beste. Erst Ninafers Hand auf seinem Unterarm ließ ihn den Blickkontakt brechen. „Du solltest schlafen, wenigstens ein bisschen“, mahnte die Heilerin leise. Unwillig verzog er das Gesicht, ließ seinen Blick zwischen beiden Frauen schwanken und seufzte leise. Seine Schultern sanken herab, sein Leib etwas in sich zusammen und dann erst konnte man ihm das wahre Ausmaß an Erschöpfung tatsächlich ansehen. „Fein“, quittierte er lediglich und erhob sich. Ninafer führte ihn zu ihrem gemeinsamen Bett herüber. Und die frisch geräumten Positionen wurden von Alistair und Ishara eingenommen. Erst als sie saßen bemerkte Alistair, wie ihm die Hand schmerzte – von der inzwischen bereits ein klein wenig abgekühlten Teetasse. Er nippte daran und stellte sie auf den Nachttisch, nur um in dem Moment, als er sich wieder zurückdrehte, von Ishara einen Teller in die Hand gedrückt zu bekommen. Suppe. Ein paar Streifen Trockenfleisch. Brot. Ein Stück Käse. Es war wenig, wirklich. Aber in dem Moment wurde ihm schlecht beim Gedanken daran, wie sehr sie ihn gerade zu mästen versuchte. Es war offensichtlich viel zu viel… angesichts der Umstände. Dennoch – ihr drängender Blick ließ wenig Raum für Widerspruch, also schöpfte er zunächst etwas Suppe. Die ließ sich wenigstens einfach nur schlucken. Auf dem Rest kaute er danach deutlich lustlos herum und doch, ohne es wirklich zu bemerken, weil er dem keine Aufmerksamkeit schenkte… verschwand zügiger als erwartet wirklich jeder Krümel. Währenddessen starrte er ihre Kinder an. Es hatte sie immer amüsiert, allesamt. Nathenial hatte stets versucht, Alistair zu imponieren. Ihn zu imitieren. Er hatte ihm und seinen Geschichten über Schurkenehre und den Charme der Diebe mehr gelauscht als allem anderen. Er hatte sich im Umgang mit Dolchen trainieren lassen. Hatte sich selbst angeeignet, wie man am besten herumschleichen konnte. Wie man sich versteckte. Wie man sich tarnte. Wie man unauffällig blieb. Ausgerechnet Thorins und Ninafers Sohn hatte sich bemüht, die Qualitäten und Vorzüge des Lebensstils zu adaptieren, dem sich letztlich Alistair und Ishara verschrieben hatten. Zudem hübsch geraten mit seinen kurzen, dunkelbraunen Haaren und den großen, vertrauenswürdigen braunen Augen… gab es inzwischen diverse Anfragen seitens großer Adelshäuser und ausländischer Familien mit Interesse an engeren Bindungen an das Land. Nathenial war schließlich bereits vierzehn Jahre – da konnte man ja wohl langsam darüber nachdenken, ihn zu verheiraten! Doch entgegen Tradition und Gepflogenheiten hatte Thorin vom Konzept Abstand genommen, seinem Sohn eine Gemahlin vorsetzen zu wollen – zumindest ohne dessen Mitspracherecht. Das schien nur beim Adel noch nicht recht angekommen zu sein. Und das es solch eine arrangierte, politische Ehe überhaupt geben würde, wurde zunehmend unwahrscheinlich. Emilia war erst dreizehn, aber für ihr Alter gefasst und reif. So wie Nathenial sich ausgerechnet einem zum Stil seines Vaters widersprüchlichen Pfad ausgesucht hatte, so hatte auch Emilia sich unbedingt etwas suchen müssen, das nicht widersprüchlicher zu ihren Eltern hätte sein können. Sie war begeistert, immer schon gewesen, von den heroischen Akten der Helden in den Epen und Geschichten Thorins. Von den großen Schlachten und gewaltigen Bestien der Welt. Von den Umwürfen und Revolutionen, den blutigen Kämpfen für ein besseres Morgen. Wo Nathenials gewählte Rolle leichte, flinke Füße und geschickte Finger erforderten, mehr allemal als rohe Kraft, da hatte Emilia trainiert. Mit Gewichten. Mit Hämmern. Äxten. Schwertern. Und die gleiche Affinität zu Äxten demonstriert wie Thorin. Sehr zum Verdruss aller, mit Ausnahme eben des Kriegers. Selbst Ninafer war davon wenig begeistert gewesen und hatte zusammen mit Alistair mehr als einmal versucht, das Mädchen auf eine andere Spur zu lenken. Erfolglos. Sie war stärker, als man ihr ansah und klüger, als man ihr nach dem ersten Händedruck zugestehen wollte. Doch ihre Träume zentrierten sich nicht um Schätze und Herausforderungen und Abenteuer in fallengespickten Tempeln vergangener Zeitalter. Sie wünschte sich allem voran ein Leben mit Sinn und Ziel. Etwas, auf das sie – bevorzugt für ihre Prinzipien und Ideale einstehend, kämpfend – zuarbeiten konnte. Damit war sie unweigerlich zielstrebiger als Nathenial. Eine Dynamik, die Alistair und Ishara irgendwie, irgendwoher, bereits kannten… „Wo… wo sind wir?“, krächzte Nathenial leise. Sofort waren Thorin und Ninafer wieder auf den Beinen und beim Bett, nur diesmal eben auf der anderen Seite. Auch Ishara und Alistair waren sofort alarmiert und blickten auf. Der Bursche öffnete die flatternden Augenlider und sah sich langsam um, versuchte sich vorsichtig aufzurichten. „Auf der Nachtigall“, erwiderte Alistair. Nach Nathenials verwirrtem Blick setzte er seufzend nach: „Einem Schiff.“ Nein, sie ritten nicht neuerdings Vögel… die aus Holz bestanden… Der Knabe nickte langsam. Er schrumpfte unter den vier merklich besorgten Blicken sichtbar zusammen und stupste hilfesuchend Emilia an, die sich daraufhin tatsächlich ebenfalls regte und – anders als er – sogar erst einmal streckte, ehe sie die Augen öffnete. Sie lief sofort hochrot an, als ihr klar wurde, wie nah sie bei Nathenial lag und das sie überhaupt ganz grundsätzlich das Bett mit ihm teilte. Die Scham darüber verlor sich jedoch, als ihr klar wurde, in welcher Situation sie sich befand. Wer noch anwesend war. Und welche Stimmung im Raum herrschte. Sie analysierte rasch den Raum, erschloss sich vom Wellengang, dem Salz in der Luft und der Einrichtung das Notwendige wohl selbst und wählte eine bessere erste Frage. „Die Wüste war also… kein Traum?“ Die Mehrheit der Anwesenden verzog das Gesicht. „Nein, Liebste, war es nicht“, erklärte Ninafer leise, als Einzige unbekümmert von den Erinnerungen. Nathenial und Emilia hatten sagen können, dass sie gehen mussten. Nicht aber, wozu oder wohin.iehieltdd Oder wie. Stattdessen folgten Alistair, Ishara, Thorin und Ninafer den zwei Kindern auf einem diffusen Weg, den sie eigenen Worten nach einem nicht weniger diffusen Gefühl folgend bestimmten. Dieses Gefühl führte sie zu einer Karawane, welche sie in Richtung Sundergrad mitnahm. Auf dem Weg war Emilia bei einem der Rastplätze von einem Skorpion gestochen worden. Der glücklicherweise einzige Moment der Aufregung, den sie während der Wüstenreise hatten, aber dafür umso… spannender. Sie hatte ihr Geschäft verrichten wollen und war dazu über die Düne geklettert – außer Sicht aller anderen. Sie hatte den Skorpionsstich zunächst auch nicht ernst genommen, aller Lehren dazu zum Trotz. Das hätte übel ausgehen können, hätte Nathenial sie nicht gesucht und vom Kamm der Düne aus im Sand liegen sehen. Ninafer reichte beiden Kindern kleine Tassen mit Tee, während Ishara neue Portionen Suppe, Fleisch, Käse und Brot vorbereitete. Alistair fühlte sich seltsam nutzlos und obgleich er das eigentlich hätte ändern wollen, obwohl er etwas hätte machen wollen… wusste er nicht, was, und war auch ganz grundsätzlich unfähig, sich zu rühren. Von dort fort zu bewegen. Darin wiederum schien es Thorin ähnlich zu ergehen. Die Nachtigall war ein flotter Zweimaster nach elbisch-menschlicher Hybrid-Leichtbauweise. Ein Schiffstyp, der erst mit Daeris Unterstützung und in Kooperation zwischen Lithlad und Sundergrad entwickelt worden war. Gegenwärtig galten sie als die schnellsten Schiffe auf See – zumindest ohne Eumenes‘ Einmischung oder das Zutun von Magie. Allerdings entwickelte Daeri ihre Erfindungen gelegentlich auch weiter und es hieß, sie hätte bereits ein Schiff geplant, das einfach das Meer vollständig hinter sich ließ und durch den Himmel pflügte, obendrein schneller als alles, was es bisher gab. Das Schiff sollte sie, wenn alles klappte, binnen weniger Wochen nach Ceryddwin bringen. Und wie es von dort aus weiterginge… würde sich dann wohl unweigerlich zeigen, wenn sie da wären. „Was ist die Götterdämmerung?“ Emilias Frage hing einen Moment wie das drohende Beil des Henkers in der Luft – bis es hinter ihnen irgendwo schepperte. Ishara hatte aus Versehen einen der Teller fallen lassen und Alistair kam mit einem Ruck in Bewegung. Er war sofort bei ihr, ergriff ihre zitternden Hände und zog sie an sich. Sie vergrub ihr Gesicht tief in seiner Halsbeuge, legte die Arme um ihn und schien gewillt, alles Leben aus ihm herauspressen zu wollen. Er kannte diese Umarmungen inzwischen besser, als ihm lieb war. „Schhht, alles gut…“, flüsterte er ihr leise zu, während seine Hand über ihren Rücken strich. Er konnte es nun nicht mehr sehen, stand mit dem Rücken zum Bett, aber er glaubte gehört zu haben, wie auch Thorin aufgesprungen war. Der Krieger hatte einfach nur einen längeren Weg zu seiner Tochter gehabt als er selbst. „E-Entschuldigung…“, flüsterte Emilia leise, ungewohnt kleinlaut. Diese seltsam entrückte Stimme ihrer Tochter war es, die Alistair und Ishara schließlich aufweckte. Ishara hob den Kopf aus seinem Versteck. Sie kämpfte. Sie kämpfte mit aller Willenskraft, aller Gewalt, mit einfach allem, was sie aufbieten konnte und rang sich erfolgreich ein dünnes Lächeln ab. Sie riss sich zusammen und trat, unter Alistairs Führung, zum Bett herüber, um sich zu ihrer Tochter zu setzen. Ninafer hatte derweil übernommen, einen neuen Teller zu befüllen und brachte die Portionen zu den jeweiligen Nachttischen, wo sie zunächst unbeachtet liegen blieben. „Ist schon gut… schon gut“, erwiderte Ishara etwas verspätet, ergriff Emilias Hand und strich sanft darüber. Sie versuchte, ihre Tochter zu beruhigen – doch unruhig, wie sie selbst war, gelang ihr das schlecht. Und ein verzweifelter Seitenblick ging zu Thorin. Er hatte in Fällen, in denen sie nicht weiter kam, immer Rat gewusst, immer etwas zu tun gewusst, immer irgendwie handeln können. Sie brauchte ihn. Sie brauchte seine Hilfe. Hier. Jetzt. Und zuverlässig wie ein Uhrwerk nickte der Hüne ihr zu. Jahrhunderte der Selbstbeherrschung und Erfahrung zahlten sich aus, als er seine Miene etwas leerte, straffte, und die Erklärung gab, auf die trotz des versuchten Rückzugs noch immer gewartet wurde. Emilia hatte diese Frage nicht grundlos gestellt. Sie tat selten etwas grundlos. Also waren es die verdammten Träume gewesen. Was immer genau sie geträumt haben mochte, hatte mit diesem Ereignis zu tun. Also wurde es unweigerlich Zeit, das den Kindern mehr offenbart wurde – mehr darüber, was vor sich ging, um sie herum und auch mit ihnen selbst. „Es ist eine ganze Weile her, da begegnete ich dem Orakel“, erklärte er leise. Wie erwartet richtete sich Nathenial verdutzt auf, eine Geschichte witternd. Vergessen die seltsamen Träume und die Fragen und Verwirrung und Beklommenheit angesichts der Stimmung im Raum. Da war Thorin, der Geschichtenerzähler. „Du bist dem Orakel begegnet? Nicht einfach nur einem Orakel, sondern dem Orakel?“ „Dem Orakel, ja. Ich wusste es seinerzeit nur nicht. Für mich war das einfach nur ein alter Mann, der seltsame Sachen erzählte und mich vor eine Wahl stellte, die ich in ihrem Umfang nicht begriff. Seine Worte waren nachdrücklich und blieben mir lange im Gedächtnis. Lange genug, bis ich jemanden fand, der sie mir erklären konnte.“ An jenem Punkt war auch für einen etwas enttäuschten Nathenial deutlich geworden, dass Thorin keine Absicht hegte, näher auf diese Geschichte einzugehen. Zumindest nicht im Moment. Wie ihm das Orakel begegnet war, wann, wo – wer ihm geholfen hatte, seine oftmals kryptischen Weisungen zu verstehen… das waren Geschichten für einen anderen Tag. „Die Götterdämmerung bezeichnet einen Krieg der Götter. Ein Ereignis, das laut dem Orakel von Beginn der Schöpfung an unausweichlich war. Sie wird kommen – die Frage ist nicht, ob. Die Frage ist, wann. Und wenn die Götter selbst in den Krieg ziehen… dann wird eine Welt zurückbleiben – falls überhaupt etwas zurückbleibt -, die sich stark verändert haben wird. Vielleicht bis zur Unkenntlichkeit.“ Thorin sprach leise. Man wusste nie, wer zufällig im Gang gerade an der Tür des Zimmers vorbeilief. Oder dort seit einer Weile schon stand und lauschte. Die Nachtigall war schließlich, trotz allem, ein Schiff unter Shandra Dämmerlichts Flagge und damit ganz offiziell ein Piratenschiff. Den Kindern war derweil mühelos anzusehen, dass sie die Tragweite des Gesagten zwar zu begreifen versuchten, dessen aber letztlich schlicht unfähig sein würden. Niemand von ihnen war dessen fähig. Was sollte man sich vorstellen, wenn Götter in den Krieg zogen? Wie sah so etwas aus? Keiner wusste es. Nur eines war allen irgendwie klar: Das konnte nicht gut ausgehen. Für niemanden. Da würden Mächte zum Einsatz kommen… die die Welt und alles darin möglicherweise schlicht unabsichtlich zum Kollateralschaden reduzieren würden. Emilias Blick glitt durch den Raum, hinüber zu Thorins Axt, die an seinem Bett lehnte. Und der gewaltigen Zweihandaxt, die ein Stück entfernt lag. Zusammen mit einem Paar Dolche. „Wir sollen mit ihnen kämpfen, oder?“, hakte Emilia nach. „Warum kämpfen sie überhaupt?“, erkundigte sich auch Nathenial, fast zeitgleich mit Emilia. Beide stutzten und warfen einander kurz fragende Blicke zu, ehe diese sich an Thorin richteten. Der seufzte tief. Auch seine Aufmerksamkeit hatte sich kurz, Emilias Stirnrunzeln wegen, zu den Götterwaffen verschoben. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Ich kann nur vermuten. Die Götterwaffen galten allesamt als verschollen, teilweise sogar als zerstört. Aber ich vermute, Götterwaffen kann man nicht zerstören. Verlieren, ja. Und wie diese Mistdinger bei euch immer wieder demonstrieren, tauchen sie auch einfach wieder auf, wenn die Götter das wollen. Ich… ich hoffe, dass es nicht darum geht. Ihr seid deutlich zu jung, um in irgendwelchen Kriegen als Soldaten herzuhalten. Ich hoffe, den Göttern ist das klar. Falls… wenn die Götterdämmerung kommt, dann halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die Träger der Götterwaffen, zusammen mit all ihren Paladinen, Predigern, Priestern und Klerikern ins Feld gerufen werden. Dass sie unsere Welt mit ihren Stellvertreterkriegen ebenso zerreißen werden wie den Himmel selbst. Es wäre möglich. Die Götter haben in der Vergangenheit bereits demonstriert, wie wenig Verständnis sie für die Konsequenzen ihres Handelns für diese Welt, ihre Nationen und Völker haben. Oder wie gleichgültig ihnen das ist. Es gibt einen Grund, warum ich Staat und Religion zu trennen versucht habe. Damit, wenn der Tag kommt, die Tempel verwaisen und die Priester in den Krieg ziehen können, ohne dass ganz Lumiél ihnen in diesen Wahnsinn folgen muss. Wir sind nicht ihre Marionetten und Fußsoldaten, die sie nach Belieben herumschieben und opfern können.“ Bei jenen letzten Worten verzog der Hüne unweigerlich das Gesicht. Denn genau das war es doch, was gerade vor sich ging, nicht wahr? Emilia und Nathenial hatten die  Götterwaffen bekommen. Dank Alistair, der unbedingt hatte beten müssen. Etwas so Harmloses wie ein Gebet hatte gereicht. Wie viele Einwohner Lumiéls waren noch immer Anhänger des Alten Glaubens und beteten auf täglicher Basis? Baten um Segen für ihre schwangeren Weiber, um ertragreiche Ernten, baten um Regen, um Schutz, um Gnade, um Vergebung? Und nun waren die Waffen aufgetaucht und ihre Kinder folgten einem mysteriösen Drang, der sie quer durch die Welt zog. Sie wurden herumgeschoben. Wieviel fehlte, bis sie geopfert werden würden? Was, wenn die Götter eben nicht davor zurückschreckten, aus Nathenial und Emilia Kindersoldaten zu machen? Mit einem Kopfschütteln versuchte der Hüne die Gedanken los zu werden. Es gelang ihm eher schlecht als recht, aber zumindest ausreichend, um sich Nathenials Frage zu widmen. „Nach allem, was ich herausfinden konnte… und das ist wirklich nicht viel und besteht zu einem guten Teil aus vagen Schnipseln aus zwielichtigen Quellen… geht es in diesem Konflikt darum, wie sie mit ihrer Schöpfung verfahren sollten. Einige Götter sprechen sich dafür aus, sich nun, da die Schöpfung ist, da sie existiert und gedeiht, sich ein Stück weit selbst zu überlassen. Sich zurückzuziehen, zu ruhen, zu beobachten. Zu sehen, wohin das alles führen wird. Und wenn sich die Schöpfung selbst vernichtet, dann ist dem eben so – und die Götter können von vorne beginnen. Versuchen, es besser zu machen. Dem gegenüber stehen jene, die meinen, dass sie eine Verantwortung ihrer Schöpfung gegenüber haben. Dass sie sie lenken und leiten, sie führen müssen. Wie Eltern, die ihren Kindern Schutz bieten, Weisheit.“ Beide dachten eine Weile über das Gesagte nach, ehe Emilia sich als Erste entschied. „Sie sollten sich raushalten. Klar, wenn wir Mist bauen und es versauen, dann ist das wirklich mies. Da sind dann keine Götter mehr, die wir um Hilfe bitten können oder die notfalls von sich aus eingreifen, um uns zu helfen. Aber dafür sind wir selbst-… selbstbe-…stimmt! Selbstbestimmt! Wir können uns frei entscheiden. Wenn's schief geht, dann waren wir’s wenigstens selbst. Niemand hat uns zu irgendwas gezwungen. Es ist furchtbar, bevormundet zu werden.“ Es ging um die Götterdämmerung. Richtig? Unabhängig davon konnten Ishara und Alistair sich nicht dagegen wehren, kurz das Gesicht zu verziehen. Das klang doch ziemlich… nun, nach Kritik an ihren Erziehungsmethoden. Natürlich beschwerte sich ein Kind darüber, das ihm vorgeschrieben wurde, wann es zu essen hatte, wann es genug gegessen hatte, wann es Nachtisch gab, wann es schlafen sollte. Aber Kinder brauchten Führung. Ordnung. Anleitung. Regelmäßigkeit. Alistair stutzte. Und fluchte innerlich. „So einfach ist das nicht“, erwiderte Nathenial schließlich leise und wandte sich Emilia zu. Die Nähe zu ihr realisierend, wurde er zwar rot, wich aber auch nicht zurück. „Klar, ständig alles vorgeschrieben zu bekommen ist blöd. Und die Götter greifen ja ohnehin ziemlich selten ein. Aber wenn sie’s mal tun, dann kommt dabei ja schon häufig was Sinnvolles heraus. Diese Geschichten über große Stürme, die Eumenes zerstreut, ehe sie das Land treffen. Oder die Inseln, die sie hebt, damit man sie besiedeln kann. Die Götter verhindern, dass alles ins Chaos stürzt.“ „Du bist für die Götter?“, wunderte sich Emilia. „Nein“, erwiderte er sofort, ehe er leicht das Gesicht verzog, „Naja. Nicht direkt. Ich bin nicht für sie. Aber ich bin auch nicht gegen sie. Dieser ganze Krieg ist dämlich. So, wie die Dinge liegen, liegen sie doch gut. Warum können sie’s nicht einfach beibehalten, wie’s ist? Es mag ja nicht perfekt sein. Aber muss es das denn? Hauptsache ist doch, es funktioniert, oder nicht?“ Und an diesem Punkt nickte Thorin geistesabwesend. Mit wenigen Worten hatte Nathenial nicht nur den Kern des Problems erfasst, sondern ihn sogar auf sehr simple Formulierungen heruntergebrochen. Die Götter hatten ein fast schon philosophisches Problem. Eines, das sich auf eine Eltern-Kinder-Beziehung herunterbrechen ließ. Kontrollierte man jede Bewegung der Kinder, schrieb ihnen wirklich jedes Detail vor und formte sie so präzise wie möglich nach den eigenen Vorstellungen, oder überließ man sie einfach sich selbst und der sie umgebenden Welt und sah zu, was dabei herauskommen würde? Beide Ansätze waren idiotisch. Es gab einen Mittelweg. Es musste kein Extrem sein. Nein, vielmehr durfte es kein Extrem sein. Kinder brauchten Führung, ja – und sie brauchten ebenso Freiraum, sich zu entfalten. Sie brauchten die Weisheit und Erfahrung derer, die vor ihnen kamen und es besser wissen, wie auch die Möglichkeit, die Welt selbst zu entdecken, eigene Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen. So, wie die Dinge lagen, erweckte es den Eindruck, als seien die Götter Eltern, die das erste Mal mit den Herausforderungen der Elternschaft konfrontiert wurden und von manchen Entscheidungen schlicht überfordert waren. Wie erzog man Kinder? Mit Mäßigung und Kompromissen. Doch die Götter waren die  Götter. Und das Orakel, jene fremdartige Entität, geschaffen von Kaleran dem Sehenden – einem Chronisten, dessen Art und Rasse nachweislich von den Göttern unabhängig außerhalb der Zeit existierte -, unfehlbar in seinen bisher getroffenen Aussagen… hatte die Unausweichlichkeit dieses Konflikts prophezeit. Es legte nahe, dass die Götter niemandem zuhören würden, niemandem Mitspracherecht zugestehen würden. Dass sie in ihren Rollen und Ansichten einfach zu festgefahren waren. Sie konnten sich nicht von ihren Standpunkten lösen, sie waren mit einem einzigen, kritischen Makel behaftet, der hier und jetzt relevant wurde: Der schieren Unfähigkeit, Kompromisse einzugehen. Die Götterdämmerung würde kommen. Sie würde, sehr wahrscheinlich, verheerend für die Welt sein. Vielleicht für die Existenz als Ganzes. Wer konnte schon mit Gewissheit sagen, was von den Völkern und Nationen zurückblieb, wenn erst einmal göttliche Mächte entfesselt waren – parallel zu denen all der Götterdiener, die auf dieser Welt mit einem winzigen Bruchteil ihrer Macht herumliefen und dennoch fähig waren, halbe Inseln aus dem Boden zu reißen und auf ihre Gegner zu schleudern? Thorin hatte es gesehen. Lumiél war zart und unschuldig, was Magie anbelangte. Das Herz des Drachenvolkes lag hier, die Wiege ihrer Geburt. Sie hatten Magiertürme und Hexerzirkel und dennoch war die Magie in Lumiél so schwach vertreten wie kaum andernorts. Er hatte gesehen, wozu Magie fähig war. Insbesondere jene, die sie bewusst und gezielt als Waffe benutzten. Und göttliche Magie… kannte kaum Grenzen. Eine ganze Welt, die im Krieg religiösen Eifers brannte. Sie vor Fanatismus verbrannte. Weil Mütter und Väter sich nicht darüber hatten einigen können, wie man die Kinder erziehen sollte. „Demnach, was ich herausfand“, setzte Thorin neu an, um die aufkommende Kabbelei zwischen Nathenial und Emilia zu umgehen, „wird der Tag kommen. Unausweichlich. Er hätte schon mehrere Male da sein sollen. Aber immer kam irgendetwas dazwischen. Entschärfte irgendwer den sich aufbauenden Konflikt. Es ist wie eine… Uhr. Wenn es zwölf schlägt, dann ist der Tag da, komme was da wolle – aber immer wieder findet sich irgendwer, der zufällig davon erfährt und Großes leistet, um die Uhr auf eins zurückzusetzen. Oder andere Ereignisse, die nicht einmal beabsichtigt waren, tun genau das. Ich habe meinen Teil beigetragen, um die Zeiger bestmöglich zurückzudrängen. Aber nichts wird dieses Uhrwerk vom Ticken abhalten. Wir können nur stets aufs Neue versuchen, es zu verzögern.“ Emilia hatte aufgehört, Nathenial giftig anzustarren und war tief in Gedanken versunken. Der Knabe selbst war unter ihrem Blick regelrecht dahingewittert, raffte sich dann aber und begnügte sich zunächst damit, einfach in ihrer unmittelbaren Nähe zu sitzen und still zu sein. Schließlich nickte das Mädchen. „Ich erinnere mich nicht mehr wirklich gut an den Traum. Ich glaube, ich war in einer großen Schlacht. Schon wieder. Und da war Arimasper, denke ich. Entweder das, oder Trolle tragen neuerdings riesige schwarze Rüstungen und haben große Zweihandäxte.“ Thorin verzog leicht das Gesicht. Trolle waren nicht dumm – nicht so dumm jedenfalls, wie leichtsinnige Abenteurer ihnen gern unterstellten. Oftmals mit reichlich ungesunden Konsequenzen. Doch sie waren auch gewiss keine zivilisierten, philosophisch bewanderten Kreaturen, die des Schmiedehandwerks fähig waren. Natürlich war es möglich, das Orks, Zwerge oder andere Völker in ihrer Verzweiflung Trolle in vorgefertigte Rüstungen gesteckt hatten und ihnen zeigten, wie man die für sie geschmiedeten, überdimensionierten Waffen führte. Doch das hielt er nicht für sonderlich… wahrscheinlich. „Er hat gegen Mermerus gekämpft, denke ich? Jedes Mal, wenn die Axt auf diesen großen Schild niederging, blitzte alles auf und wurde ganz hell und blendend. Und ich war auch am Kämpfen, aber… aber dann zogen sich alle von mir zurück. Ignorierten mich, als wäre ich gar nicht mehr da. Und neben mir stand dieser Mann. Er war… nicht sehr alt. Dürr und schlaksig. Ein bisschen wie du.“ Sie stieß Nathenial leicht gegen die Schulter und bemühte sich um ein Lächeln, doch dem Burschen war angesichts des Themas nicht nach Lächeln zumute. „Nur hatte er blonde Haare, Kinnlänge. Und eine knolligere Nase. Er stand da in völlig normaler Kleidung. Keine Rüstung, keine Waffen, nichts. Er meinte, er hieße Möbius. Und dass das, was ich sehen könne, die Götterdämmerung sei. Ich… ich glaube, er hat mir danach noch mehr gezeigt, aber… ich erinnere mich nicht.“ Als der Name fiel, verspannte sich Thorin. Sein Blick ging unweigerlich zu Ishara, die ihrerseits ebenfalls erstarrt war und deutlich an Farbe verloren hatte. Alistair hielt ihre Hand, spürte das Zittern darin. Glücklicherweise bekamen die Kinder davon nicht viel mit. Emilia war zu beschäftigt damit, sich erinnern zu wollen und Nathenial schien an ihrer Seite halb eingedöst. „Das ist in Ordnung“, übernahm Ninafer für einen Moment die Gesprächsführung. „Wir hoffen schließlich immer noch darauf, dass das nur Träume sind und keine Visionen und falls dem so ist, dann ist auch nicht weiter wichtig, was darin noch vorkam.“ „Und falls es Visionen sind?“, erkundigte sich Emilia unsicher. „In dem Fall“, erklärte die Alchemistin mit einem munteren und überzeugenden Lächeln, während sie Emilia auf die Nasenspitze tippte, „Sollten die Götter vielleicht lernen, wie man Briefe schreibt oder sich deutlicher und eindeutiger ausdrückt. Wirklich, sie sollten die Fähigkeiten und Limitationen ihrer Schöpfungen wohl am besten kennen, nicht wahr? Wenn sie dir also prophetische Träume schicken, von denen du die Hälfte vergisst, dann wohl doch auch nur, weil das die Hälfte war, die du vergessen solltest oder kannst. Was für einen Sinn würde das sonst machen? Alles andere wäre recht kurzsichtig und dumm von ihnen, meinst du nicht?“ Emilia stutzte. Wirklich überzeugt wirkte sie nicht – und zufrieden noch viel weniger. Aber sie ließ sich von Ninafer zumindest genug einwickeln, schwach zu nicken und es dabei zumindest vorläufig zu belassen. „Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte sich Nathenial dann leise, offenbar vom Schweigen im Raum zu neuem Leben erweckt. „Wir wechseln den Kurs“, flüsterte Ishara leise. „Was?“, hakte Thorin sofort nach, sichtlich irritiert. „Wir wechseln Kurs“, wiederholte die Halbelbe stirnrunzelnd und sah zum Fenster des Raums auf. Alistair löste sich ungern von ihr, tat es jedoch zögerlich und trat an das Fenster hinüber. Er sah den Wellengang – der deutlich zugenommen hatte. Was er ebenfalls sah, war die schier gewaltige Sturmfront in einiger Entfernung, die es völlig unmöglich machte, zu sagen, wo der Übergang vom pechschwarzen Himmel in das Meer darunter war. „Sturm… großer, böser, schwerer, finsterer Sturm…“, erklärte Alistair leise, noch immer dem Fenster zugewandt. „Er… er zieht schnell“, ergänzte Ishara leise, in sich hinein spürend. Dann riss sie abrupt die Augen auf, geradezu schreckstarr. „Er ist hinter uns her!“ Mit einem Satz war sie auf den Beinen und zur Tür hinaus. Völlig überrumpelt starrte Alistair von der aufgeworfenen Tür zu Thorin. „Ihr nach!“, wies der an und machte selbst keine Anstalten. Jemand musste hier bleiben. Jemand musste Emilia und Nathenial beruhigen. Und auf sie aufpassen. Also jagte Alistair ihm zunickend zur Tür, die Korridore entlang und aufs Oberdeck. Ein wuchtiger Wind mit reichlich salzhaltiger Gischt empfing ihn, den man unter Deck nicht hatte spüren oder hören können. Ishara war dabei, den Seemännern zu helfen, die Taue festzubinden. „Die Segel einholen, jetzt!“, rief sie hinauf. Sofort setzten sich mehrere Leute in Bewegung, die Takelage hinauf zu klettern. „Und das Krähennest räumen!“ Ishara hatte keine Ahnung von der Seefahrt. Natürlich wusste sie, wozu das Krähennest  gut war. Und wie Segel funktionierten. Das konnte sich jeder mit etwas Verstand erschließen. Aber in diesem Moment war sie voll und ganz in ihrem göttlichen Modus, wie Alistair es gemeinhin nannte. Sie spürte etwas. Nicht unähnlich dem wirr drängenden Gefühl, das Emilia und Nathenial beschrieben. Nur das Ishara mit diesen Impulsen schon seit geraumer Zeit umgehen musste und eben diesen Umgang auch gelernt hatte, gemeistert hatte. Sie verstand, was von ihr verlangt oder was ihr angewiesen, vorgeschlagen, nahegelegt wurde. In diesem Moment sah sie sich um, erfasste Probleme und wies Lösungen an die Mannschaft an. Und niemand hier wagte, zu widersprechen. Alle wussten, wer sie war. Wer sie alle vier waren. Dazu kam, dass den Seeleuten selbst der Hintern auf Grundeis ging beim Anblick dessen, was da kam. Die schier gewaltige Sturmfront fraß einen Großteil des Himmels. Darunter war es pechschwarz, als würde das Meer dort einfach nicht mehr existieren, nur noch die gähnende, verzehrende Dunkelheit selbst. Keine Blitze zuckten, um das Nichts zu erhellen. Und die Front schien gegen den Wind zu ziehen. Sie wurden also möglicherweise tatsächlich gejagt. Und mit den neuen Informationen zusammen… machte das sogar irgendwie Sinn, auf unangenehme Art und Weise. Es gab immer ein paar wenige Irre, die den Untergang der Welt herbeiführen oder beschleunigen wollten, nach deren Meinung und Geschmack der Untergang wirklich einfach nicht früh genug kommen konnte. Falls die ebenfalls irgendwelche Hinweise aus obskuren Quellen bekommen hatten, waren möglicherweise andere Fraktionen daran interessiert, sie hier auf See umzubringen. Wo war es leichter als dort. Und Eumenes hatte schließlich ihre Augen und Ohren nicht allzeit überall… „Wie kann ich helfen?“, rief Alistair über den ohrenbetäubend laut heulenden Wind seiner Liebsten zu, die ihn jedoch nicht gehört zu haben schien. Er trat an sie heran, berührte sie an der Schulter. „Was kann ich tun?“, erkundigte er sich, nochmals laut gegen den Wind anrufend. Als sie sich umwandte, wäre er fast einen Satz zurückgesprungen. „Mir nicht im Weg stehen“, erwiderte sie. Licht drang in kaltem Eisblau aus ihren Augen. Er sah sie so nicht zum ersten Mal, doch jedes Mal wieder schmerzte es ihm. Es war das deutlichste Zeichen des göttlichen Einflusses, dem sie unterlag. Das dort… war nicht länger Ishara, seine Liebste, seine Gemahlin, Mutter seiner Tochter. Das war Ishara, die Götterdienerin, die Botin des Pantheons. Alistair hätte nicht seiner kleinlichen Sturheit wegen ihrer aller Überleben riskiert. Doch direkt nachdem sie das gesagt und ihn bei Seite geschoben hatte, tat Ishara auch nichts anderes, als verschiedene Positionen an Deck einnehmen und die Vorgänge genau im Blick behalten. Diese Seeleute jedoch wussten, was sie taten und begegneten schweren Stürmen nicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Mehr noch – vermutlich waren sie sogar schon magischen Stürmen begegnet. Das gab ihm die Möglichkeit, etwas auszutesten, an dem er eine ganze Weile gefeilt hatte. Eine Geheimwaffe gegen die Götter, sozusagen, die ihm gelegentlich und zumindest dem Gefühl nach immer häufiger die Liebste ausspannten. Also wagte er abermals, an sie heranzutreten. „Was kann ich tun?“, rief er wieder gegen den Sturm an. „Mir nicht im Weg stehen!“, blaffte sie zurück und machte Anstalten, ihn erneut aus ihrer Bahn zu schieben. Stattdessen trat er bei Seite. „Wie ihr wünscht, Botin des Pantheons.“ Ein Ruck ging durch sie durch. Ishara blieb stehen, wandte ihm das Haupt zu. Blinzelte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Laut drang hervor. Stattdessen dimmte das Leuchten ab, bis Ishara dort stand. Sie wirkte entkräftet, erschöpft. Und er wollte nicht wissen, nicht sofort jedenfalls, ob er den Regen nur nicht einzusetzen bemerkt hatte oder das Tränen waren. Also zog er sie direkt an sich, in seine Arme. Auch wenn sie auf Deck inzwischen alles andere als sicheren, soliden Stand hatten. Ohne weitere Kommentare überließ er das Ringen mit dem Sturm denen, die ihr Leben der See gewidmet hatten und brachte sein Weib unter Deck, zurück zu ihrem Vater und ihrer Tochter. Ishara hielt erst direkt vor der Tür zur Kabine inne, wandte sich ihm zu und umarmte ihn nochmals. „Danke“, flüsterte sie leise und drückte ihm einen innigen Kuss auf die Lippen. Alistair schmolz regelrecht dahin. Getrübt wurde der Moment nur vom Geschmack von Salz und dem Schwanken des Schiffes. Zumindest erlaubte Letzteres ihm, sie umso fester an sich zu drücken. Es hatte funktioniert. Er hatte erfolgreich eine Geheimwaffe, um seine Liebste zurückzuholen, wann immer er es für gut und richtig befand. Natürlich würde das noch zu anderen Gelegenheiten getestet werden müssen, doch… vielleicht konnten sie so den Göttern etwas Kontrolle über ihre Leben entreißen, die sie ihnen unverfroren abgenommen hatten. „Wie sieht’s aus?“, erkundigte sich Thorin, als sie wieder in die Kabine traten. „Finster. Stürmisch“, erwiderte Alistair in einem kurzen Anflug seines einstmals sonnigen Gemütes. Thorins Blick wechselte daraufhin ohne jede Regung zu Ishara. „Er zieht nicht gegen den Wind, die oberen Windschichten kommen tatsächlich in unsere Richtung. Aber jemand hält die Windschichten separiert und treibt den Sturm an, füttert ihn mit mehr Kraft als er ohnehin hätte. Der Sturm jagt uns – im Auftrag von irgendwem. Ich denke nicht, das wir dem entkommen werden.“ Während Alistair sich ans Fenster begab, um das gewaltige, massive Schwarz am Himmel verfolgen zu können, hatte sich Ishara zurück zum Bett begeben. Emilia, obgleich sonst so tapfer und mutig, drängte sich an sie. Während Nathenial in Ninafers Arm bereits wieder eingeschlafen war. „Dann hoffen wir mal, das Daeri gute Arbeit leistete und dieses Hybrid-Ding sein Geld wert war“, raunte Thorin unbegeistert. Die Nachtigall war schnell. Eins der schnellsten Schiffe der neuen Flotte, die man großzügig Shandras Kommando unterstellt hatte, obwohl sie trotzdem stolz das Wappen des Reiches trug. Es war eine Kooperation zwischen Regierung und Piraten – angelehnt an ähnliche Vorgänge in Nervaal, nur weniger chaotisch und blutrünstig. Eine Weile versuchten sie auch tatsächlich erfolgreich, dem Sturm auszuweichen. Doch die Front wuchs stetig weiter und machte es schlicht unmöglich, den Kurs nicht massiv zu ändern – also entschied der Kapitän, die Defensivmechanismen des Schiffes einer Feuerprobe zu unterziehen. Statt den Kurs noch weiter zu korrigieren, steuerte er direkt in die Front hinein mit dem simplen Ziel, auf kürzestem Weg mittendurch zu fahren. Wer immer ihnen die Front auf den Hals gehetzt hatte, würde gehörig Kraft und Arbeit investieren müssen, um sie über ihnen zu halten. Windrichtungen in dieser Höhe und diesem Ausmaß zu manipulieren war alles andere als ein Kinderspiel. „Das Schauspiel beginnt“, verkündete Alistair, als sie in den Sturm lenkten. Eine bläulich schimmernde Kugel umgab das Schiff, als jetzt – ganz plötzlich – massiver, trommelartiger Hagel einsetzte und die ersten, seltsam fokussierten Blitze zuckten. Alles konzentrierte sich auf das Schiff und seinen Schild. Die Körner waren groß genug, einem Mann bei dieser Geschwindigkeit den Schädel einzuschlagen und das bekamen die Reserven des Schildes auch rasch zu spüren. Der Kapitän – wie alle der Flotte von Shandra handverlesen – speiste die Mechanik mit seiner eigenen Magie und als es notwendig wurde, auch der Magie seiner Mannschaft. Natürlich nur so viel, wie jeder geben konnte, ohne entkräftet zu werden. Doch wenn der Schild brach… dann nützte ihnen Muskelkraft oder die Macht, mit Tieren zu sprechen, auch nichts mehr. Angespannte Stille fiel über die Kabine, gebrochen nur vom Trommelfeuer des Hagels und der Kanonenschläge des Donners. Selbst die Blitze konnten die sie umgebende Finsternis nur bedingt aufhellen und eben dieser Anblick, dieses Schwarz dort draußen und die gewaltigen Wogen, die sich gegen den Schild warfen, ließen Alistair richtige, ernstzunehmende Seeübelkeit verspüren. Entsprechend zog er sich auf das Bett zurück, bequemte sich zwischen die Kinder und zog Emilia ein Stück an sich. Ishara war so frei, ihnen beiden beruhigend über die Haare zu streichen und das… das funktionierte so gut wie eh und je. Immerhin etwas, auf das immer Verlass zu sein schien, komme was da wolle. Dem flauen Gefühl in Alistairs Magen nach zu urteilen hätten es durchaus Tage sein können, die sie so zubrachten. Tatsächlich jedoch war es gerade einmal eine Stunde. Eine Stunde, bis – von den einzigen Passagieren der Nachtigall unbemerkt – ihre Situation sich veränderte. Es war die Steuerbordseite, an der sich nach und nach ein immer größerer Wasserwirbel in die Luft schraubte. Die Matrosen hatten zunächst das Schlimmste befürchtet. Dieser Wirbel war der letzte Versuch, sie und ihr Schiff in die Knie zu zwingen, er würde den Schild samt Schiff zermalmen oder unter Wasser ziehen oder sie auf Position halten – doch nichts davon traf zu oder ein. Stattdessen wuchs der Wirbel einfach weiter und weiter, bewegte sich mit ihnen mit, ohne ihren Kurs auch nur im Geringsten zu beeinflussen. Und das wiederum ließ sich nur auf eine einzige Kraft zurückführen: Eumenes selbst. Die Herrin der Meere, so entschieden die Seeleute zu glauben, war mit ihnen. Vielleicht sogar wortwörtlich bei ihnen. Und wenn einem das nicht Mut machte – was dann? Der gewaltige Wasserwirbel schien passiv das Schiff zu begleiten, einfach nur zu wachsen und sonst nicht viel zu tun – bis er sich abrupt in die Höhe schraubte, all die gewonnenen, rotierenden Wassermassen auftürmte, in der Breite schrumpfte. Irgendetwas wurde im Inneren des Wirbels hinaufbefördert, hoch in die Wolken – und kaum war es, wo es sein sollte, brach der Wasserwirbel in sich zusammen und verschwand. So wie auch der Sturm wenig später. Er löste sich keineswegs auf. Doch die unnatürlich dichte Dunkelheit darin legte sich und die Schwärze wich in ein dunkles Grau auf, die Blitze zuckten nun ohne Fokus und der Hagel ging in dichten, dicken Regen über. Aus dem wütenden, zielgerichteten Sturm des Jahrzehnts wurde ein ganz gewöhnlicher Sturm, gefährlich und beeindruckend, aber nicht anders als andere Stürme auf See auch. Und auf Deck nahmen sich Kapitän und Mannschaft die wenigen Minuten, um niederzuknien und Eumenes anzubeten, um ihr für ihre Hilfe und Gnade zu danken. Vielleicht war es besser, dass unter Deck niemand davon erfuhr. Aus ihrer Warte hatten sie lediglich mit dem Plan Erfolg gehabt, den Sturm zu durchfahren. Was sich jedoch nicht vermeiden ließ, waren Planänderungen. Die Nachtigall hatte ursprünglich Ceryddwin ansteuern sollen, doch der Einsatz des Schildes über eine so lange Zeit und unter so intensivem Beschuss hatte die gesamte Mannschaft stark erschöpft. Sie hatten für solche Fälle Vorräte, natürlich. Aber auch wenn die großzügig geplant waren, war das nicht genug, damit umzugehen. Jeder von ihnen hatte mehrere Tage an Kraft und Energie verloren, war geplagt von brennendem Durst und Hunger und obgleich der Kapitän sich bemühte, das zu regulieren, das Aufzehren der Vorräte und Nachfüllen ihrer Reserven kontrolliert ablaufen zu lassen, konnte er doch auch verstehen, wieso dennoch alles so hastig und drängend ablief und letztlich weit mehr verspeist wurde, als notwendig gewesen wäre. Er stoppte sie nicht. Wozu auch – es war nicht notwendig. Selbst nach dem Festmahl hatten sie noch mehr als genug. Nicht für die Reise nach Ceryddwin, aber für einen kurzen Zwischenstopp in einem Hafen, der auf der Route lag. Thorin und seine Begleiter wurden am Abend vom Kapitän darüber informiert, als er sich persönlich dem Küchenjungen anschloss, der auch sonst immer die Gerichte zur Kabine brachte. Er hielt es knapp und sachlich und sah davon ab, irgendwelche Fragen zu stellen – auch wenn sie ihm zahlreich unter den Fingernägeln brannten. Er beförderte hier schließlich seinen König, seine Königin, Prinzen und Prinzessinnen. Das war kein alltägliches Geschäft. „Wir haben den Sturm hinter uns lassen können, Eumenes sei Dank, und sind wieder auf Kurs. Aber es wird eine Planänderung geben müssen. Der Einsatz der Mechanik hat uns einiges gekostet. Die Männer haben sich zwar erholt, aber wir haben ein unerwartet großes Loch in unseren Vorräten. Wir werden die aufstocken, wenn wir einen kurzen Stopp einlegen. Keine Sorge, die Reise wird zügig fortgesetzt werden – wir legen lediglich an, stocken auf und ziehen weiter. Eine Nacht würde ich den Männern gerne an Land zugestehen, ein paar Tavernen besuchen, in richtigen Betten schlafen, ein klein wenig Luxus, so ihr diesbezüglich keine Einwände hegt.“ Thorin musterte den Elb kritisch. Das Spitzohr hatte eine Braue leicht gehoben,  als der Hüne während des Dankes an Eumenes das Gesicht minimal verzog. Er war jemand, der subtilste Zeichen sah und verstand. Gleichzeitig aber hatte er nichts dazu gesagt und schien es auch ganz grundsätzlich zu übergehen gewillt. Vielleicht war an dem Mann ein fähiger Diplomat verloren gegangen – etwas, das sich durchaus bei ihrer Rückkehr korrigieren ließe. Es wäre nicht das erste Mal, dass Thorin Shandra Personal mit lukrativeren Aussichten abjagte. Die Piratenfürstin war davon zwar selten wirklich begeistert, doch der gegenseitige Nutzen ihrer Abkommen war zu groß, um wirklich enthusiastisch zu protestieren oder gar irgendetwas zu unternehmen. Und mehr Diplomaten konnte Lumiél immer gebrauchen. Dann musste er sich da im Idealfall weniger selbst einmischen. „Keine Einwände. Wo wird der Zwischenhalt liegen?“, erkundigte sich Thorin. Die Männer hatten sicherlich ihren Schrecken weg – so wie alle anderen auch. Sie hatten zudem tapfer ihren Dienst verrichtet, ohne zu wissen, ob sie die nächsten Minuten überhaupt überleben würden… sie hatten sich diese Nacht in den Hurenhäusern und Tavernen mehr als verdient. „Ich prüfe die Karten noch, aber vermutlich werden wir-“, setzte der Kapitän an, um jäh unterbrochen zu werden. „Ostlond. Wir laufen Ostlond an“, erklärte Emilia leise. Sie wirkte schläfrig, nur vor sich hin dämmernd. Dennoch vernahm jeder ihr plötzlich bemerkenswert dünnes Stimmchen. Der Kapitän stutzte. „Ja. Ostlond liegt auf der Route und ich hatte es in Betracht gezogen“, gestand er ein. Thorin seufzte. „Dann steuert Ostlond an. Vergesst die anderen Häfen.“ Erst als Ninafer ihm einen mahnenden Blick zuwarf, besann sich der Kahlkopf und schob ein leises „Bitte“ nach. Der Kapitän nickte. „Selbstverständlich, eure Majestät. Ostlond erreichen wir dann voraussichtlich morgen Abend.“ „Nein“, kam es da postwendend und recht entschieden zurück. Das Spitzohr verzog kurz leicht das Gesicht, nickte jedoch rasch. „Natürlich, verzeiht. Keine Titel, falls nicht unbedingt nötig oder in offizieller Angelegenheit“, gab er die Regelung wieder, die sie zu Beginn der Seereise getroffen hatten. Er machte Anstalten, sich zu entfernen, hielt jedoch an der Kabinentür inne, die Hand bereits auf der Klinke. „Dürfte ich eine Frage stellen?“ Sein Blick wanderte zurück zu den Versammelten. Sie wirkten… erschöpft, angespannt, übermüdet, allesamt. Dennoch nickten sein König und seine Königin. „Was ist der Zweck dieser Reise? Ich meine… ich weiß, was der Zweck unserer Reise ist. Wir holen einen der Diplomaten in Ceryddwin ab und liefern eine Fuhre Waffen und Runen. Aber weshalb haben wir plötzlich Passagiere auf der Hinfahrt? Das war nicht geplant, bis zuletzt nicht und um ehrlich zu sein, Shandra kam noch nie persönlich vorbei, um mir Gäste aufs Auge zu drücken. Versteht mich nicht falsch, ich habe keinerlei Einwände – sonst hätte ich sie geäußert. Ich… wundere mich nur. Ihr lasst das Reich zurück. Ihr alle.“ Mit der Mehrheit der Äußerungen hätte Thorin sich anfreunden können – nicht aber mit dem Klang, der die letzten Worte begleitete. „Ich ließ das Reich nicht zurück, ich übertrug es vorübergehend in die überaus fähigen Hände einer guten alten Freundin, die ihr Können und Geschick bereits oft genug bewiesen hat, um auch euer Vertrauen zu verdienen.“ Wie ein gescholtener Bursche stieg eine schwache Röte in die Wangen des Elben, der den Blick niederschlug und nickte. „Natürlich“, erklärte er leise. Thorin dagegen seufzte. „Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass das keine persönliche Angelegenheit sei. Aber es ist mehr als das. Es geht hierbei nicht nur um die Familie. Es geht auch um die Sicherheit des Reiches. Lumiél stehen noch viele Gefahren entgegen, unsere Zukunft ist alles andere als gesichert. Obgleich mancher glauben mag, das friedliche, ruhige Zeiten des Wohlstands und Wiederaufbaus vor uns liegen: Ich weiß es besser. Die Wölfe vor unserer Haustür mögen wir erstmal vertrieben haben, aber es gibt immer mehr von ihnen. Und es gibt Gefahren, die schwerer greifbar, schwerer vorstellbar sind. Von deren Existenz mancher nicht einmal weiß und, wirklich, weder wissen wollen würde noch wissen sollte. Eben eine dieser Mächte ist dabei, zu erstarken. Und wir sind hier, um zu gewährleisten, dass rechtzeitig die nötigen Schritte unternommen werden, um auch im Angesicht dieser Veränderung weiterhin Lumiéls Sicherheit und die Sicherheit seines Volkes zu wahren.“ Die Stirn leicht in Falten gelegt, durchdachte der Kapitän das Gesagte und nickte schließlich mit ernster, entschlossener Miene. „Ich verstehe. Ich danke für die Auskunft und… wenn ihr erlaubt, dass ich so frei bin: Es ist mir eine Ehre.“ Thorin nickte lediglich und wartete, bis der Elb sich aus der Kabine zurückgezogen hatte und die Tür mit hörbarem Rasten ins Schloss gefallen war. Er atmete aus und sank wieder ein Stück zusammen, während Ninafer ihm die Hand an die Wange legte, ihm einen langen Kuss gab und ihre Hand danach auf seiner Schulter zur Ruhe brachte. „Ich bin stolz auf dich. Gesprochen wie ein wahrer König“, erklärte sie lächelnd. Nicht die Art von Kompliment, die Thorin gerne hörte. Könige waren per Definition trotz allem Politiker und letztlich hatte er gerade genau das getan, was er an Politikern hasste – viel sagen, ohne etwas zu sagen und mit all den Worten jemanden irreführen, um die eigenen Zwecke zu verheimlichen und dennoch zu bekommen, was man will. Es war ein unbestreitbar nützliches Können – aber keines, das zu besitzen oder auszuüben ihn je mit Freude oder Stolz erfüllen würde. „Ich vermute, wir sollten anfangen zu packen“, meinte Thorin seufzend, „Mich beschleicht das seltsame Gefühl, das wir morgen Abend mit der Mannschaft von Bord gehen werden – nur dass wir nicht an Bord zurückkehren, wenn die Nachtigall wieder ablegt.“ Ninafer nickte. Alistair nickte. Ishara nickte. Emilia nickte.   Ostlond war die größte Hafenstadt Symmarions, die zweitgrößte Stadt des Landes und hatte generell ein paar interessante Parallelen zu Sundergrad. Ein paar Gesetze Symmarions waren dort explizit anders geregelt als im restlichen Land und die Märkte waren voll von allem: Exotische Waren, inländische Waren, Taschendiebe. Die Stadt pulsierte regelrecht vor Leben, doch die allgemeine Hektik, das Geschrei der ihre Waren anpreisenden Verkäufer, nichts davon wusste so recht auf die kleine Gruppe abzufärben, die sich einfach nur durch alles hindurch schob. Sie hatten sich beim Einlaufen und Anlegen vom Kapitän verabschiedet und es so eindeutig gemacht, wie sie konnten: Sie wussten schlicht selbst nicht, ob sie zum Schiff zurückkehren würden oder nicht. Aber es machte für die Nachtigall keinen Sinn, auf sie zu warten – wer konnte schon sagen, wie lange sie dann hier vor Anker liegen mochte? Also schied man voneinander und Thorin suchte sich in altgewohnter Abenteurermanier in akzeptables Quartier in mittlerer Preisklasse am Rande der Stadt. Man zahlte gut genug, das man keine totgekochten Schuhsohlen auf seinem Teller fand, aber nicht gut genug, dass der Wirt eine zwielichtige Kooperation mit den hiesigen Diebesgilden eingehen würde. Er hatte den Großteil seines Lebens so zugebracht. Und obgleich er das stets zu schätzen gewusst hatte, hatten die Jahre mit Ninafer ihn doch auch verändert. Die Rückkehr auf den Thron, die Verantwortung für die Geschicke und den Wohlstand einer Nation, seines Volkes… er hatte Wurzeln geschlagen. Er wusste es und er mochte es. Diese plötzliche Rückkehr in das alte Leben fühlte sich falsch an und war ihm zuwider. Er konnte es alles noch, wusste es alles noch. Wie man Fallen für die Jagd baute, wie man mit der Axt und dem Panzer kämpfte, wie man Wolken auslas, um das Wetter vorherzusagen und wo man sein Zelt besser nicht aufstellen sollte. Und doch… hatte er irgendwo, irgendwie, insgeheim gehofft, er hätte diesen Teil seines Lebens hinter sich lassen können. Neu anfangen können. Natürlich kam es ihnen zugute, dass er all diese Kenntnisse und Fertigkeiten hatte. Aber es zeigte ihm allzu deutlich auf, dass die Vergangenheit nie aufhörte, einen zu jagen und zu verfolgen und – beinahe schon regelmäßig – auch einzuholen. Ishara wusste und konnte all das ebenso gut. Sie wären nicht darauf angewiesen gewesen, auf seine Führung zu vertrauen. Sie hätte es ebenso gut machen können. Stattdessen jedoch war auch das ein Teil, in den er mit inzwischen unerwünschter Gewohnheit zurückschlüpfte. Das Leiten und Führen einer Gruppe. „Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte er sich leise, als sie allesamt im Gasthaus ihrer Wahl – zum Glücklichen Eber – beim Abendmahl zusammen am Tisch im Schankraum saßen. Sein Blick wandte sich dabei an Nathenial und Emilia, die scheinbar zu neuem Leben erwacht deutlich vitaler und energiegeladener wirkten und mit dem Hunger einer kleinen Kompanie Portion nach Portion vernichteten. „Westen“, nuschelte Emilia zwischen einem Stück Kartoffel hervor und spähte fragend zu Nathenial. Der nickte. „Karawane“, meinte der vor einer Gabel Bohnen, „Startet vom Marktplatz im Süden der Stadt nach Thethys. Mitfahren ist ziemlich teuer, deshalb gibt es kaum Passagiere. Aber wenn ihr euch als Eskorten anbietet, könnt ihr kostenlos mit und uns würden sie dann auch kostenlos mitnehmen… denke ich?“ Sein fragender Blick wich zu Emilia zurück, die nickend bestätigte. Thorin dagegen verzog das Gesicht. Sehr. Thethys. Die Hauptstadt Akkaras. Das Land des Ordus Haereticus. Die Magierhochburg überhaupt. „… Magier…“, fluchte der Krieger leise. Kapitel 56: Zusammenkunft ------------------------- Welche Kräfte auch immer Emilia und Nathenial quer durch die Welt und auf einen fremden Kontinent ziehen mochten – aus irgendeinem wenig rational scheinenden Grund wurden sie offenbar schwächer, je näher sie ihrem Ziel kamen. Das führte unweigerlich dazu, dass Thorin mit seiner Gruppe und den Kindern fast volle drei Tage in Ostlond zubrachte, ehe die Götter sich in ihrer endlosen Gnade entschieden, ein Zeichen zu geben und ihre unverhoffte und weiterhin unerwünschte Reise fortzuführen. Drei Tage. In denen keiner von ihnen gesteigertes Interesse daran zeigte, Ostlond kennenzulernen. Dort draußen war eine ganze Stadt, riesig für Arvums Verhältnisse, voller Händler und Handwerker und exotischer Waren. Ninafer hätte so viele neue und potente Rohstoffe erwerben können, die es auf Sundergrads Märkten gar nicht zu erstehen gab, obendrein zu Preisen, die sie mit ihrem Geschick ein gutes Stück weiter runter hätte drücken können. Alistair hätte die Straßen und Märkte über und über mit leichtfertig an den Gürtel gebundenen Geldbeuteln vorgefunden, ein Kinderspiel und eine gute Fingerübung. Thorin hätte viele Tavernen und sogar die eine oder andere Brauerei aufsuchen können und selbst Ishara wäre möglicherweise auf den Märkten fündig geworden, bot Ostlonds Handel doch neben den üblichen Waren genauso gut den Verkauf von Tieren diverser Größe oder Setzlingen an. Doch der Schmuck, Prunk und Reichtum der Stadt zog völlig unbeachtet an ihnen vorbei. Sie verließen das Gasthaus nicht einmal, blieben bei ihren Kindern und ließen sich die Mahlzeiten vom Wirt aufs Zimmer bringen. Emilia und Nathenial wurden häufiger wach, länger wach und wenn dem so war, platzten sie regelrecht mit Fragen. Thorin war schon während der Schifffahrt klar geworden, dass die Zeit der Unschuld vorbei war und es keinen Sinn mehr machte, irgendetwas vor ihnen verheimlichen zu wollen. Zumindest nicht in Bezug auf die Götter und die möglichen Geschehnisse, in die sie hier involviert schienen. Also beantwortete er ihre Fragen, so gut er es konnte. Und rätselte, unweigerlich, insgeheim darüber, ob sein Bemühen, all das von ihnen fern zu halten, nicht überhaupt erst das gewesen sei, was den Göttern diesen Schachzug ermöglicht hatte. Nach drei Tagen – bei einsetzendem Morgengrauen – schreckte Nathenial aus Alpträumen auf. Seiner Verwirrung über den Wechsel zwischen Traum und Realität war es geschuldet, dass er sich nicht allzu sehr darüber wunderte, dass außer Emilia und Ishara bereits alle wach waren. „Wir müssen los“, erklärte er noch immer hektisch atmend, verschwitzt und leicht zitternd, „Da fährt eine Karawane von einem der südlichen Marktplätze, zum Frühstück.“ Thorin erhob sich, nickend, und begann ihrer aller Sachen zusammen zu räumen. Den Aufbruch vorzubereiten, während Ninafer ihren Sohn an sich zog und zu beruhigen versuchte, ihm über Haar und Rücken strich und sanft auf ihn einsprach. Mit der plötzlichen Hektik war Ishara, alarmiert und sich daher keinen tiefen Schlaf gewährend, auch wach. „Wir brechen auf“, war alles, was Thorin auf ihren fragenden Blick hin zu wissen brauchte. Emilia wurde geweckt und erwachte tatsächlich, problemlos – anders als zu den Gelegenheiten auf dem Schiff, auf dem selbst ein Kanonenschuss neben ihrem Kopf sie nicht hätte wecken können. Nicht hektisch, aber zügig durchliefen sie alle im geteilten Bad die Morgenwäsche, kleideten sich an und sammelten ihr Gepäck. Noch in den letzten Zügen des Morgengrauens fanden sie sich unten im Schankraum ein. Ein reichlich verschlafener Wirt, der sichtlich darauf gehofft hatte, noch ein paar Stunden in seinem Dämmerzustand herumwanken und automatisierten Routinen folgen zu können, starrte ihnen gleichermaßen überrascht wie frustriert entgegen, ehe er sich fing und sich seiner Manieren und seines Geschäftssinns besann. „Guten Morgen, meine Damen und Herren! Ihr brecht auf? Wünscht ihr noch ein Frühstück? Oder vielleicht etwas Proviant und was Feines auf die Hand?“ Thorin, der bis zu jenem Punkt stoisch die Tür angesteuert hatte, hielt inne. Und damit auch alle anderen. Während er das Angebot überdachte – oder vielmehr die eventuelle Notwendigkeit, es anzunehmen -, war es Nathenial, der an ihn herantrat und an seinem Hemd zupfte, um aus großen Augen zu ihm aufzuschauen. Der Hüne hob leicht die Brauen. „Bist du nicht zu alt, um auf diese Weise zu betteln?“, erkundigte er sich leise. Der Bursche brach seinen Akt nicht, aber Ninafer trat zusätzlich an ihn heran und flüsterte ihm leise zu. „Wenn die Karawane zum Frühstück aufbricht, werden wir selbst kein Frühstück bekommen können. Nicht, wenn wir als Eskorte anheuern. Du magst einige Tage völlig ohne Mahlzeit auskommen können – wir nicht.“ Der Hüne seufzte, wandte sich jedoch um und trat an den Tresen heran. Der Wirt lächelte gewinnend, einen guten Fang und ersten Verkauf des Tages witternd. „Was habt ihr?“ „Oh, nun, was ihr wünscht, wirklich! Der Markt ist ja quasi vor der Tür. Falls ihr zähen, wetterfesten Proviant braucht? Haben wir! Trockenfleisch, Brot, Hartkäse, eingelegter Fisch, sogar Äpfel. Und Mandarinen – die Kinder werden bestimmt Mandarinen mögen, nicht? Falls es etwas anderes sein soll, das können wir bestimmt zügig auftreiben. Und für unterwegs haben wir Gebäckstückchen. Hörnchen aus Blätterteig, gefüllt mit einer Walnuss-Krokant-Schokoladenmischung.“ Irgendwo hinter Thorin knurrte ein Magen. Ihm war egal, wessen. „Oder ein hübsches Stück Marmorkuchen, so saftig als wär’s frisch aus dem Ofen. Falls ihr eher etwas Herzhaftes wünscht, ich könnte euch auch eine Bretzel aufschneiden. Laugenbrot und etwas Salz, dazu ein paar Scheiben Käse und Wurst, vielleicht ein Salatblatt, Tomatenstückchen und frisch geschnittene Zwiebeln…“ Thorin hob die Hand. Je länger dieser verflixte Beutelschneider davon erzählte und so bemüht regelrecht vorschwärmte, umso mehr Hunger bekam der Krieger auch. „Fein, fein. Nehmen wir.“ Der Wirt dagegen stutzte einen Moment, bemüht, das Lächeln ob seiner Verwirrung nicht fallen zu lassen. „Ich… ich verstehe nicht recht, fürchte ich. Was davon?“ „Alles.“   Was der Wirt ihnen angeboten und letztlich gegen gutes Geld auch erfolgreich angedreht hatte, war qualitativ weit über dem Standard des Hauses. Erklärungen gab es dafür einige. Vielleicht hatte er einfach ein gutes Angebot gesehen und zugeschlagen, in dem Versuch, seine Gäste zu verwöhnen und seinen Ruf ein wenig zu steigern, um – irgendwann vielleicht – in die höhere Riege der besseren Gasthäuser aufzusteigen. Vielleicht hatte er auch einfach einem anderen Reisenden dessen nicht länger benötigte oder schlicht unerwünschte Vorräte abgekauft. Oder die Version, die Thorin am wenigsten behagte: Er hatte gesehen, wie sie die ganze Zeit da oben beisammen hockten und das Zimmer nicht verließen und sich auf ihre Abreise vorbereitet, nachdem sie mit dem Zimmermädchen großzügig umgegangen waren. Schließlich waren Wirte nicht dumm und mussten, wollten sie ein Haus mitten in einer Großstadt mit reichlich Konkurrenz betreiben, einen guten Geschäftssinn haben. Er hatte sich zweifellos denken können, warum sie bei ihm untergekommen waren und nirgendwo sonst. Die Stunde war jedoch noch zu früh und die Spekulationen zu müßig, als dass Thorin sich bereitwillig den Kopf darüber zerbrochen hätte. Er besah sich die Möglichkeiten, die sein Verstand ihm vorführte, nickte und beließ es dabei. Wen scherte es? Sie hatten Frühstück und aßen auf dem Weg durch die Straßen Ostlonds. Eine weitere Parallele zwischen dieser Hafenstadt und Sundergrad tat sich rasch auf: Die Stadt schien einfach nie zu schlafen, nie wirklich endgültig zur Ruhe zu kommen. Es gab immer irgendwen, der seinen Geschäften nachging. Nachts wurden sie nur zwielichtiger. „Hier ist es“, meinte Emilia, die ungewohnt still bislang einfach neben ihrer Mutter einher gelaufen war. Nathenial nickte, um das zu bestätigen und tatsächlich brauchte es nur einen kurzen Gang über den großen Marktplatz, hindurch zwischen allerhand bunt behangenen Buden und Ständen, um den zentralen, geräumten Stellplatz zu finden, auf dem sich Karren und Tiere drängten. Erstere wurden teilweise noch beladen, Letztere noch gefüttert und gestriegelt. Die Mitglieder der Eskorte sahen brauchbar aus. Nicht einem tatsächlichen Kampf gegen organisierte, ausgebildete und gut gerüstete Angreifer gewappnet, aber brauchbar genug, um es mit Strauchdieben und kleinen Räuberbanden aufzunehmen. Der Führer der Karawane war ebenfalls leicht gefunden. Es handelte sich um die dunkelhäutige Frau, die die ganze Zeit Anweisungen über selbst die Lautstärke der werbenden Händler hinweg brüllte und Leute dafür verbal zusammenstauchte, zu trödeln oder ihre Arbeit nicht richtig zu verrichten. Jemand, der also eine kurze Leine hielt. „Wir heuern an“, grüßte Thorin an sie herantretend. Die Fremde stutzte und musterte ihn von oben bis unten, ehe ihr Blick über seine Schulter hinweg an ihm vorbei glitt. „Du schon – der Rest? Wohl kaum.“ Damit begannen die Verhandlungen, in denen allem voran Thorin ihr vor Augen zu führen versuchte, warum der Rest bestens fähig war, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf andere – und damit sie, ihre Passagiere und ihre Waren – aufzupassen. Ishara wurde, wenig überraschend, als fähige Bogenschützin mit einer Affinität für Naturmagie angepriesen, Ninafer als talentierte Unterhändlerin mit mehr Giften im Repertoire, als manche Blumen aufzählen konnten und Alistair, nun, der war ein brauchbarer Späher. Etwas fragiler und weniger kampfstark als der Rest, aber falls er es mal schaffte, dem Gegner in den Rücken zu fallen, dann bereute der das üblicherweise nicht mehr allzu lange. Es war seltsam für die anderen, ihn so reden zu hören. Über sie. In Thorins Stimme schwang diese lange nicht mehr vernommene Euphorie mit, ein Feuer, das sogar der Kahlkopf selbst verloschen glaubte. Seine Abenteurertage lagen zurück und er hatte diesen Teil nicht nur beendet, sondern auch beenden wollen. Doch hier und jetzt flammte kurz das auf, was ihn die Jahre am Laufen gehalten hatte. Die Lust am Herumziehen. Daran, sich mit anderen zu messen und seinen Wert zu demonstrieren. Denn das war – zumindest offiziell – der Grund für seine Wanderjahre. Keiner legte Wert darauf, dass er den Kindern davon erzählte, wie er als abgewracktes, versoffenes Scheusal sein Leben in Tavernen mehr als einmal in Alkohol begraben hatte. Während der Hüne mit der Karawanenführerin diskutierte, kam Nathenial nicht umhin, die Frau anzustarren. Sie überragte Thorin ein gutes Stück, war vielleicht knapp über die zwei Meter. Sehnig gebaut, leicht gerüstet. Die gekreuzten Gürtel auf ihrer Brust waren mit Wurfmessern besetzt, ihr Gürtel an der Hüfte trug eine kleine Schar an seltsam gebogenen Klingen, die er eigentlich für Dolche hatte halten wollen. Was ihn jedoch am meisten faszinierte, war ihre Haut. Nicht nur, wie finster sie wirkte. Etwas, das er so, in dieser Form, noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte zudem auch Zeichnungen darauf. Geschlungene Linien und Wellen. Formen, die ineinander übergingen und komplexe Muster bildeten. „Verliebst du dich gerade?“, kam es von der Seite. Aus seinen Beobachtungen gerissen – er spekulierte gerade, wie sich diese Muster wohl unter der Rüstung und Kleidung fortsetzen mochten -, starrte er zur Seite. Und errötete, als ihm klar wurde, worüber er gerade nachgedacht hatte. „Was? Nein, natürlich nicht! Mach dich nicht lächerlich!“, zischte er Emilia zu. Die hob grinsend die Braue und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gut. Dann muss ich ihr nicht wehtun.“ Sein Blick senkte sich, wich ihrem aus, während die Röte intensiver wurde. Stattdessen betrachtete er die Dunkelhäutige nochmals. Sie war groß, zäh, sicherlich erfahren im Umgang mit all den Waffen. Die Vorstellung, wie Emilia, die in ihrem ganzen Leben noch nie einen richtigen Kampf ausgestanden hatte, sie attackierte… bereitete ihm mehr als nur Unbehagen. „Darüber solltest du nicht mal scherzen. Die würde dich fertigmachen.“ Emilia stemmte die Hände in die Hüfte. „Ach, denkst du? Was bin ich geehrt von deinem Vertrauen in meine Fähigkeiten, danke auch!“ Der Launenumschwung kam so plötzlich, das Nathenial zunächst gar nicht wusste, was er erwidern sollte. Darum ging es doch gar nicht! Erst nach einem kurzen Moment gelang es ihm, sich zu fangen und den Kopf zu schütteln. Als sie Anstalten machte, empört  davon zu stapfen, packte er rasch zu, fasste ihre Hand und hielt sie zurück. Verdutzt starrte Emilia herab, auf seine Hand an ihrer. „Ich will einfach nur nicht, dass sie dich verletzt. Egal wie gut du bist – das Risiko gibt es immer. Und es wäre dumm, das zu ignorieren. Oder sich mit jemandem anzulegen, wenn man nicht kämpfen muss! Thorin hat’s dir oft genug gesagt – wenn du die Wahl hast, zieh den Weg vor, der ohne Waffen auskommt.“ Noch einen Moment länger zögerte Emilia, ehe sie ihren Blick zu ihm hob und ernst nickte. „Ist gut“, erklärte sie leise. Eigentlich, ursprünglich, hatte sie ihn auch nur aufziehen und ein wenig ablenken wollen. Er konnte es gebrauchen. Die Götter mochten es wissen: Sie konnten es beide gebrauchen. So ernst wie in letzter Zeit alle waren… Woher der Umschwung so plötzlich gekommen war, konnte sie sich selbst nicht recht erklären. Es sah ihr nicht ähnlich, befand sie jedenfalls, launisch zu sein und so empfindlich darauf zu reagieren, dass er sie anzweifelte. Das tat er ja, im Spaß, immer mal wieder und ihre übliche Reaktion war eigentlich, ihm das Gegenteil zu demonstrieren. Vielleicht ging ihr die Ernsthaftigkeit aller um sie herum mehr an die Nerven, als sie zunächst selbst vermutet hätte… „Wir sind soweit“, ertönte Thorins Stimme und riss sie aus ihren Gedanken, „Nathenial, Emilia, ihr fahrt mit Alistair und Ninafer hinten mit. Ishara, wir schützen den Wagen.“ Alle reihten sich an ihren gewiesenen Positionen ein, die zwei Kinder kletterten auf den Wagen herauf und machten es sich zwischen Kisten mit Lederstücken und kleinen Töpfen voller Garn und Nadeln bequem. „Wo geht es hin?“, erkundigte sich Ishara, als sie an Thorins Seite zum Stehen kam. Alistair und Ninafer hatten sich bereits mit auf den Wagen begeben und angefangen, ein paar der Waren zu begutachten – den gelegentlichen Gesprächsfetzen nach, um daraus irgendwelche wilden Geschichten für die zwei Jüngeren zu spinnen. „Die Karawane zieht nach Thethys, wie Nathenial gesagt hat“, erwiderte der Hüne. Er hatte so sehr, so inständig gehofft, der Knabe würde sich vertun. Doch dem schien nicht so. Ishara hatte sich bis zu diesem Punkt redlich bemüht, sich nicht den Konsequenzen dessen zu stellen, doch hier und jetzt? Da wühlte es Erinnerungen auf. An ein Gefängnis in Esgaroth, an ihren Vater, an dessen Worte und an das, was letztlich aus einer Begegnung resultiert war, die sie sich viele Jahre ihres Lebens herbeigesehnt hatte. Sie wurde ein wenig blasser, ballte ihre Hände zu Fäusten, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. „Thorin, i-ich-“, hob sie an, doch der Hüne unterbrach sie. Er hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Schon gut. Ich war klug genug, die Dokumente einzupacken. Sie können dir gar nichts.“ Thorin hatte die Adoptionsurkunde dabei – man wusste nie, wann man sie brauchte -, doch das war nur bedingt hilfreich, sobald es darum ging, dass irgendein übereifriger Magier Ishara einsammeln und zum neusten Prunkstück des Zirkels machen wollte. Nach allem, was sie von Reva, Eirik und Alandor über die Indoktrinationspraktiken des Zirkels gelernt hatten… stand niemandem der Sinn danach, Ishara deren Fängen zu überlassen. Insbesondere nicht mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre und Lumiéls trotz mehrfacher Warnungen seitens des Zirkels der Magi und des Ordus Haereticus fortgeführten Assoziation mit Hexern. Die Halbelbe hätte zweifellos einen prächtigen Fang für sie abgegeben – aber sofern sie sich nicht in aller Öffentlichkeit blamieren, ihren Ruf ruinieren wollten, waren sie an ihre eigenen Statuten gebunden. Was bedeutete, das Ishara vor jedwedem Zugriff sicher war, solange eine elbische Blutsverwandte die volle Verantwortung für Isharas magische Befähigungen übernahm. Was, laut offiziellem Schreiben, Caerwen Morgenwandler war und tat. Ishara nickte, atmete sichtlich erleichtert auf und ließ sich widerstandslos von ihm an sich ziehen. Sie sprachen beide kein Wort, wozu auch. Es gab Dinge, die mussten nicht gesagt werden.   Die Reise nach Thethys gestaltete sich bemerkenswert ereignislos und kam obendrein zu einem deutlich verkürzten Ende – zumindest für ihre Gruppe. Zwei bis drei Wochen, je nach Wetterbedingungen, hätte der Zug gebraucht. Gewiss nicht die schnellste Reise, aber die Wagen waren schwer beladen, das Vieh wurde geschont und die Leute hatten es generell nicht allzu eilig. Zehn Tage lang zogen sie Ostlond hinter sich lassend durch fruchtbares Land, war die Straße gesäumt von Äckern, Feldern und Weiden zu beiden Seiten und nur gelegentlich sah man die zugehörigen Farmhäuser. Sie zogen am dritten Tag am Ufer des Königssees entlang und fischten sogar erfolgreich. Sie schliefen dank des warmen Klimas unter freiem Himmel, denn kein Wölkchen trübte ihre Reise und die Karawane bot ihren Passagieren und Mitgliedern den Luxus, Stauraum für Felle eingeplant zu haben. Es war sehr viel angenehmer und komfortabler, als Thorin reisen in Erinnerung hatte. Emilia und Nathenial waren dennoch die Einzigen, die die Überfahrt auch tatsächlich ein Stück weit genießen konnten. Ishara und Alistair bemühten sich, sich dann und wann ein wenig darauf einzulassen. Mit ihnen zu spielen, wenn beide durch die Felder jagten. Es war fast… als wäre alles wieder auf seinen Stand der Dinge zurückgekehrt, zur Normalität, zum Status Quo. Doch dieser Schein trog und niemand konnte sich dieser bitteren Erkenntnis versperren. Ninafer fiel es noch ein wenig schwerer als ihrer Adoptivtochter und deren Gemahl, da sie nicht nur die Kinder fortwährend im Blick hatte, sondern auch Thorin – der seinerseits sich von allen am wenigsten Illusionen darüber machte, was vor sich ging und möglich war. Brecher, Stich und Fang lagen auf dem Karren, auf dem Nathenial und Emilia mitfuhren, auf dem sie rasteten, aßen, schliefen und sich darüber beschwerten, dass die Felle nicht dick genug waren, um zu verhindern, dass ihre Hinterteile auf den Kisten sitzend bei jeder Bodenwelle wundgeprügelt wurden. Alistair und Ishara waren entweder besser darin, es zu verbergen, oder hatten es generell leichter, es zu ignorieren. Und wirklich, er gönnte es ihnen, falls Letzteres zutraf. Aber trotz allem Sonnenschein und lauen Lüftchen wären sie nicht in diesem Land, wenn nicht ernstzunehmende Umstände ihnen diese Reise aufgezwungen hätten. Wenn da nicht diese verdammten Götterwaffen auf der Ladefläche liegen würden. Der zehnte Tag markierte die Halbzeit ihrer Reise. Sie waren Akkaras Grenze nahe, sehr nahe. Und kehrten in ein Dorf ein, um zu rasten. Die letzte Station vor der Überquerung der Grenze. „Wir fahren nicht weiter mit“, erklärte Nathenial leise, als sie beim Abendmahl zusammensaßen. Der Tisch befand sich in der Ecke des einzigen Gasthauses, das Schönblick aufbieten konnte – weshalb sein Schankraum wohl auch gerade jetzt prall gefüllt war. Vor allem mit den diversen, gut zahlenden weil gut gelaunten Mitgliedern der Karawane. Thorin seufzte leise. „Ihr wusstet das nicht früher, oder?“ Emilia schüttelte den Kopf. „Nein.“ Selbst hätten sie es früher gewusst, hätte er es den Kindern vermutlich dennoch nicht übelnehmen können. Was wussten sie schon, was solche Entscheidungen für eine Karawane bedeuteten. Oder zumindest bedeuten konnten. Glücklicherweise war ihr Verhältnis ohnehin eher loser Natur gewesen. Thorin hatte trotz des Angebotes keinerlei Bezahlung akzeptiert und war damit nicht daran gebunden, durch Wort und Geld, bis nach Thethys mitzukommen. Dennoch bereitete es Umstände, plötzlich Eskorten zu verlieren, die man für die zweite Hälfte der Reise ebenso einkalkuliert haben mochte. Vielleicht, mit etwas Glück, fand sich hier im Dorf abenteuerlustiger, reisewilliger Ersatz – doch je früher er das anstieß, desto besser konnten die Reisenden die Wogen ihres Abschiedes glätten. Also nickte der Hüne leise seufzend. „Gut, ich kümmere mich darum.“ Er erhob sich und setzte sich ein paar Meter weiter an den Tisch, an dem die Dunkelhäutige mit ein paar der anderen angeheuerten Eskorten beisammen saß und Karten spielte. Dem hübsch anzuschauenden Münzstapel vor ihr nach zu urteilen… gewann sie reichlich. Thorin zog seinen Stuhl vom Tisch mit, setzte sich ungefragt dazu und warf ein paar Münzen in die Tischmitte. Man teilte gerade das Blatt aus und bedachte ihn nun mit. Es wurde rasch deutlich, dass ihre Führerin von den Neuigkeiten nicht unbedingt begeistert war, aber Thorin spielte nicht zum ersten Mal den Boten schlechter Nachrichten. Er wusste die Wogen bereits selbst ein wenig zu glätten, indem er eben ein paar Münzen beim Spiel opferte und die getroffene Entscheidung zu erklären versuchte. Am Ecktisch wandte sich derweil Ishara an ihre Tochter. „Wisst ihr denn, wohin wir jetzt müssen?“ Emilia seufzte und sank ein wenig in sich zusammen. „Nein. Gar nicht. Nur, das wir erstmal hier bleiben und nicht weiter mitreisen.“ Die Halbelbe erhob sich kurz, rutschte mit ihrem Stuhl etwas herum und setzte sich neben ihren Sprössling. Sie zog das Mädchen an sich. „Schon gut. Ist nicht schlimm.“ „Thorin findet’s schlimm“, erwiderte Emilia gedrückt. Und Ishara kam nicht umhin, allem zum Trotz ein wenig zu lächeln. Sie setzte vorsichtig ihren Kopf auf Emilias, strich ihr über die Schulter und hielt sie bei sich. Das Mädchen vergötterte ihren Großvater. Ihn und seine Abenteuer und die wilden Geschichten, die er erzählte. Seit frühster Jugend schon hatte sie begonnen, ihm nachzueifern. Äxte waren wirklich nicht die besten Waffen. Sie hatten eine sehr spezielle Funktion, die selten wirklich zum Einsatz kam und doch hatte Emilia sich die Kampfart mit ausgerechnet dieser Gattung angeeignet – warum wohl? Doch so sehr das Mädchen Thorin auch vergötterte, so sehr hatte sie nach wie vor Probleme, Thorin zu lesen. Und wie konnte man ihr das verdenken? Der Mann machte es einem nicht leicht. „Tut er nicht“, erwiderte sie, „Er ist vielleicht nicht unbedingt begeistert. Aber das hat nichts mit dir zu tun. Du kannst nichts dafür, wann du Informationen bekommst, wann du wie wohin geführt wirst. Es ist diese ganze Geschichte mit den Götterwaffen, die euch wie Marionetten herumzerren, die ihm zusetzt und die er nicht leiden kann. Thorin hasst es, wenn er manipuliert wird. Er oder die, die er liebt.“ Bei jenen letzten Worten hob Emilia den Kopf, drückte sich ein Stück von Ishara ab, um ihrem Blick begegnen zu können. „Meinst du?“ Ishara nickte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Meine ich. Er liebt dich. Uns alle. Er ist nur… fürchterlich besorgt, weil er nicht weiß, was vor sich geht.“ Leicht errötend nickte Emilia und lehnte die Stirn wieder an Isharas Schulter. Die Halbelbe seufzte – wenn auch nur innerlich – und hob ihrerseits den Blick. Sie traf auf Ninafers, die mit sanftem Lächeln auf den Lippen zu ihr herüber sah. Die Giftmischerin hatte ihrerseits einen Nathenial bei sich, der sich auf dem Stuhl halb eingerollt hatte und mit dem Kopf auf ihrem Schoß lag und sich mit ruhigen, zärtlichen Bewegungen in einen soliden Halbschlaf hatte kraulen lassen. Ein Schmunzeln breitete sich auf den Gesichtern beider aus und Ishara wurde warm ums Herz, als ihr klar wurde, was sie in Ninafers Blick noch sah. Stolz. Ishara hatte gerade in den ersten Jahren sehr an sich gezweifelt. Daran, ob sie der Rolle als Mutter überhaupt gewachsen wäre. Ob sie nicht die gleichen Fehler begehen und genauso lausig sein würde wie ihre eigene Mutter, ob sie nicht in die gleiche Schiene fallen würde: Mit besten Absichten handeln, aber ohne Kompetenz und Verständnis. Ein Fehler nach dem anderen und stets mit nicht mehr bewaffnet als gutem Willen, aber keiner Ahnung, wie dieser umzusetzen war. Sie hatte Hilfe bekommen, selbstverständlich. Ninafer wusste über das Dasein als Mutter nicht das Geringste – nicht aus erster Hand, allemal. Auch wenn sie natürlich im Kloster genug gehört, gesehen und verfolgt hatte und auch in ihrem Leben danach mehr als genug Erfahrungen durch Beobachtung hatte sammeln können. Doch Wissen, das man nicht selbst gesammelt hatte, konnte einen nur so weit bringen. Thorin hingegen, wenngleich in einer anderen Rolle, wusste ihr mehr als genug dazu zu sagen, was es hieß, ein Kind zu haben. Wie man damit am besten umging. Welche Konsequenzen es gab und wie man ihnen begegnen konnte. Ninafer hatte sich bemerkenswert schnell in die Rolle gefügt, Thorin stand ihr mit Rat und Tat zur Seite und nicht zuletzt Alistair, obgleich ebenso unerfahren und zweifelnd wie sie, war stets da gewesen. Ob mit närrischen Streichen, flotten Sprüchen oder einer Umarmung, wenn sie sie am meisten brauchte. Sie hatte Hilfe gehabt. Und sie hatte sich gemausert, wie Ninafer ihr dann und wann gesagt hatte. Auch die Giftmischerin war sich anfangs nicht völlig sicher gewesen, ob die Halbelbe der Aufgabe gewachsen wäre. Doch hier saßen sie, in einer Situation, die absurder nicht hätte sein können, beruhigten ihre Sprösslinge und teilten einen Moment der Ruhe. Nicht nur wider des Lärms im sie umgebenden Schankraum, sondern der inneren Ruhe. Ninafer nickte ihr zu und Ishara errötete leicht, lächelnd. „Das ist so’n Weiberding, oder?“, platzte Alistair nach einem Moment hinein, „Dieses ganze ‚wir starren uns an und reden irgendwie, ohne wirklich zu reden‘. Weiberding, richtig?“ Ishara konnte nicht anders als leise auflachend mit den Augen zu rollen. Er hatte gewartet. Einen guten Moment abgewartet und ihnen damit Zeit gegeben, diesen Augenblick nicht nur zu erleben, sondern auch auszuschöpfen. Und als er im Begriff war, abzuklingen… machte er darauf aufmerksam, dass es ihn noch gab. „Ja, ein Weiberding“, erwiderte Ninafer mit leicht rügendem Blick, trotz ihres Lächelns, „Das war es jedenfalls, bis sich irgendein Mann eingemischt hat. Aber gut, die ruinieren oft genug so allerhand, meinst du nicht, Liebste?“ Ishara grinste Alistair schief an und nickte zustimmend. „Hey! Ich ruiniere gar nichts, wenn, dann mache ich Dinge besser. Durch meine Anwesenheit und gute Laune und meine grandiosen Witze!“, verteidigte sich der Nordmann. „Hast du nicht mal erzählt“, begann Ninafer demonstrativ an Ishara gewandt, „dass Emilia, als sie noch sehr viel kleiner war, nicht zu schreien aufhörte? Also habt ihr alles nur Erdenkliche versucht, um sie zu beruhigen. Alistair durfte sogar einen seiner Witze erzählen. Und sie schrie danach noch viel lauter…“ „Sie hat nur die Pointe nicht verstanden“, wehrte Alistair die Arme vor der Brust verschränkend ab und zog ein beleidigtes Gesicht. „Die Grimasse hatte mir Angst gemacht“, behauptete Emilia sich zu erinnern. „Oh komm schon! Verräter!“, maulte der Langfinger leise. Ein Glucksen, Grinsen und leises Lachen zog durch die Runde, den Nordmann eingeschlossen. Schließlich verstand er sich inzwischen ganz gut darauf, ein Schauspiel zu präsentieren. Und wer nicht über sich selbst lachen konnte, der brauchte seiner Ansicht nach wirklich Hilfe. Im Verlauf des Abends kehrte Thorin zu seinem Tisch zurück, um ein paar Münzen ärmer, aber dafür ließ er zumindest keinen zurück, der Grund hätte, nachtragend zu sein. Er packte einen Würfelbecher und ein paar Karten aus, die er sich geliehen hatte. „Wir sind hier, also können wir ebenso gut versuchen, uns etwas besser ins Bild zu fügen“, erklärte er. „Ins Bild fügen, hm?“, wiederholte Ninafer schmunzelnd. Das Lächeln verblasste jedoch rasch, als sie bemerkte, wie Thorin einen Moment unschlüssig, ja fast schon unsicher die Karten und Würfel anstarrte, seine Entscheidung sichtlich in Zweifel ziehend. Sie handelte rasch, legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Eine schöne Idee. Etwas Lokalkolorit kann uns sicherlich nicht schaden. Wir sind schließlich in Symmarion – wie hoch waren schon die Chancen, dass wir je hierher kämen? Ausgerechnet hierher, obendrein. Der Palast in Varnasse vielleicht, dank irgendwelcher diplomatischer Reisen, aber ein kleines Dörfchen wie dieses?“ Sie musste es verhindern, um jeden Preis. Thorin zweifelte nicht. Schon gar nicht an sich oder an seinen Entschlüssen, erst recht nicht, nachdem er diese gefasst hatte. Also mühte sie sich, den unbedacht angerichteten Schaden auch so schnell rückgängig zu machen, wie er geschlagen worden war. Der Hüne ließ sich von ihr erfolgreich aus den Gedanken ziehen und begann, die Karten zu mischen. Innerlich atmete die Giftmischerin auf und rügte sich. Im Angesicht dessen, was geschehen war, hinter ihnen lag... vielleicht noch vor ihnen lag... Es ließ sich leicht vergessen, dass diese ganze Sache Thorin vermutlich am meisten von ihnen allen zusetzte, wenn man es stets und allzeit nur mit seiner gewohnt neutralen Miene zu tun hatte – selbst wenn man ihn besser kannte. Während er also die erste Runde gab, strebte Ninafer an, auf ihrem Ansatz aufzubauen. Emilia löste sich von Ishara, ebenfalls etwas dösig, bestand aber dennoch darauf, mitzuspielen. Nathenial erwachte ebenfalls zu neuem Leben, als die kraulende Hand erst einmal aus seinem Schopf verschwand und beteiligte sich ebenfalls. „Ostlond war größer, als ich erwartet hatte“, setzte die Heilerin an und gab ihr erstes Gebot nach einem flüchtigen Blick über ihr Blatt. Der Abend ging darin auf, die Reise zu rekapitulieren. Nur setzten sie in ihren Erzählungen einen anderen Fokus. Statt der irreführenden göttlichen Weisungen sprachen sie von Sundergrads Märkten. Rätselten über magische Stürme auf See, ohne darauf einzugehen, dass dieser sie gewiss nicht zufällig genau dorthin verschlagen hatte, wo sie letztlich hatten landen sollen. Sie sprachen über ihre Eindrücke von der Stadt, wenige die da waren. Und vom Land darum herum. Schmiedeten Pläne, einen Drachen zu bauen und steigen zu lassen, schien sich die Straße zwischen Schönblick und Ostlond doch dafür anzubieten. Sie war lang, gut gepflegt, gut einsehbar und die große, relativ ebene Fläche mit zahllosen Äckern und Weiden bedeutete, dass es nur wenige Bäume gab, in denen sich die Schnur verfangen könnte. Tief in der Nacht war für die Runde dann dennoch der Schlusspunkt gekommen, als Emilia und Nathenial – die schon seit einer Weile mangels Konzentration nicht mehr mitspielten – sich definitiv nicht mehr wachhalten konnten. Ishara und Ninafer befanden, dass es Zeit wurde, die beiden zu Bett zu bringen. Und bei der Gelegenheit auch selbst gleich selbiges aufzusuchen. Thorin und Alistair setzten zwar beide an, zu widersprechen, fügten sich aber letztlich und kehrten mit ihren Frauen in die zwei Zimmer ein. Ihnen war tiefer und fester Schlaf beschieden, trotz der relativen Lautstärke der weiterhin Feiernden und Trinkenden im Schankraum, trotz des knarrenden Holzes, wann immer jemand den Abort aufsuchte oder die Korridore entlang zu seinem eigenen Zimmer und Bett wankte. Trotz des Lärms, der auch in den Morgenstunden wieder aufkam, als die Mitglieder der Karawane von ihrer Anführerin geweckt wurden und sich abreisefertig machten. Über Spiel und Trunk hatten sie brauchbaren Ersatz für die Eskorte auftreiben können und aller Ruhe und Gelassenheit zum Trotz, gab es einen Zeitplan, den zu verschieben die Dunkelhäutige schlicht nicht einsah. Das war eine Frage des Prinzips. Also reiste ihr Tross in den frühen Morgenstunden ab – nachdem viele zwar das abendliche Spiel und Bier genossen hatten, jedoch bei weitem nicht genug Schlaf bekamen. Zumindest dem Genörgel auf den Gängen nach zu urteilen, während sie das Gasthaus nach und nach räumten. Dann wurde es still und den Schlafenden waren noch einige Stunden mehr in ungestörter Ruhe beschieden. Als sich Thorin mit seinen Begleitern beim Frühstück einfand, war der Schankraum fast leer. Es ging straff auf die Mittagszeit zu, die meisten Dörfler waren auf den Feldern oder das Vieh versorgen und die Mehrzahl der Reisenden war fort. Über Speck, Eiern, Käse und Brot – oder süßem Brei für Nathenial, Alistair und Ninafer – ließen sie sich reichlich Zeit, langsam aufzuwachen. „Wir wissen, wohin wir müssen“, erklärte Emilia dann, als sie ihre Schale fast geleert hatte. „Wohin?“, hakte Thorin nach, bevor er abermals vom Käse abbiss. „Die Straße in den Wald, nach Norden“, ergänzte Nathenial, als Emilia gerade einen Schluck Traubensaft aus ihrem Krug nahm. Thorin hätte sich nur zu gern verschluckt, gehustet, demonstriert, wie überrascht er war, doch… das war er nicht. Seid erklärt worden war, dass sie in Schönblick bleiben und der Karawane nicht weiter folgen würden, hatte er es befürchtet. Eigentlich früher schon – seid sie die Karawane nach Thethys nehmen sollten. Vielleicht sogar schon, seid das Schiff überhaupt erst nach Ostlond abdrehte. Es ging zur Spicule. Thorin wusste selbst nur wenig über die Nadel. Hatte lediglich hier und da Geschichten gehört. Eine große, unnatürlich hoch aufragende Steinformation tief im Immergrün-Wald. Angeblich das Zentrum von unvorstellbarer Macht, nutzbar von jenen, die sich als würdig erwiesen und diese Mächte an sich binden konnten. Die sogenannten Nadelmeister. Es hatte über die Jahrhunderte hinweg immer mal wieder welche gegeben. Und den Gerüchten nach… waren sie ein verkommener, von Macht korrumpierter Haufen selbstgefälliger Sadisten, denen man nicht weiter über den Weg trauen sollte, als man sie werfen konnte. Das war ein Schlag an Leuten, mit denen Thorin umzugehen wusste. Er hatte die Axt nicht aus dekorativen Gründen mit. Nein, was ihn daran besorgte, waren die Hintergründe. Die Nadelmeister waren Gottberufene. Die Nadel war angeblich ein Zentrum spiritueller, göttlicher Macht und Magie. Ob es aktuell einen amtierenden Nadelmeister gab – oder mehrere – wusste Thorin nicht zu sagen und es war ihm auch gleich. Er würde Emilia und Nathenial nicht an diese Aufgabe verlieren. Oder vielmehr, an diesen Wahnsinn. Laut dem wenigen, was er vernommen hatte, hatte es durchaus Nadelmeister gegeben, die mit guten, ehrbaren Absichten begonnen hatten. Aber früher oder später schien einfach jedem die Macht zu Kopf zu steigen. Dazu kam, dass die Nadelmeister von den Göttern berufen wurden, um deren Aufgaben zu erfüllen. Um ihre Dreckwäsche zu erledigen, gewissermaßen. Die meiste Zeit waren die Nadelmeister und ihr Handeln auf Arvum beschränkt, auch wenn die Konsequenzen ihrer Taten oftmals wie Wellen im Teich früher oder später in der ganzen Welt zu spüren waren. Er würde seinen Sohn nicht hier zurücklassen. Niemand von ihnen würde hier bleiben. Nicht, solange er ein Wörtchen mitzureden hatte und in Situationen wie diesen war es schwierig, einem Thorin Wyrmblut das Wort zu verbieten. Der Hüne nickte zunächst nur mit sich verfinsternder Miene. „Wir brechen nach dem Frühstück auf.“ Der Waldpfad nördlich des Dorfes machte einen guten, soliden Eindruck. Natürlich war der Immergrün-Wald wild und gefährlich. Wilder und gefährlicher als die meisten anderen Wälder Arvums, so sagte man. Verflucht, flüsterte man in den Dörfern entlang seiner Grenzen. Weshalb trotz der Nähe zum Wald niemand töricht genug war, sich hier als Holzfäller zu verdienen. Und selbst die Jugend sah davon ab, eine Mutprobe daraus zu machen, wer sich in den Wald wagte, wie lange oder wie tief. Doch das wild wuchernde Dickicht am Rand des Pfades schien den Pfad selbst als solchen wahrzunehmen und zu respektieren, statt ihn mit der Zeit und genug Wachstum einfach zu verschlingen. Das war schon ein erster, bedenklicher Hinweis darauf, dass selbst mit diesem Wald längst nicht alles mit rechten Dingen zuging. „Seid wachsam“, mahnte Thorin an, auch wenn es angesichts der angespannten Mienen unnötig schien. Stunde um Stunde drangen sie tiefer vor. Das Bild blieb das Gleiche. Der Wald hielt sich vom Pfad fern und der Pfad schlängelte sich dünn, aber eindeutig mit gelegentlichen, seichten Biegungen durch das dichte Grün hindurch. Sie hörten die für Wälder typischen Laute. Den Wind in den Blättern. Kleintiere im Unterholz. Balzrufe, Jagdgeschrei, das Rascheln von Vögeln und Nagern in den Ästen. Doch kaum eine Kreatur bekamen sie auch tatsächlich zu Gesicht. „Sie halten sich von uns fern“, warnte auch Ishara schon kurz nachdem sie den Wald überhaupt betreten hatten. Sie konnte ohne mit den Tieren und Pflanzen zu reden natürlich nicht erschließen, warum man sie so sehr mied. Das Tiere, die stark bejagt wurden, sich vor dem Jäger versteckten, war nachvollziehbar – aber die Bewohner in der Nähe des Waldes mieden den Immergrün-Wald. Die Tiere hätten nicht so scheu sein sollen, wie sie sich gaben. Generell bekam Thorin mit jeder Stunde mehr das Gefühl, dass sie beobachtet wurden und- „Halt!“, rief es vor ihnen. Es waren die frühen Abendstunden, als sich aus den seitlich gelegenen Böschungen Gestalten erhoben. Geladene Armbrüste zielten auf sie, ein Sammelsurium aus Schwertern, Dolchen und kleinen Handbeilen hing an diversen Laschen und Gürteln, die Kleidung oftmals geflickt, verdreckt, zerschlissen, die Rüstungen bedurften einer Ausbesserung. Diese Leute waren Räuber. Drei schnitten ihnen den Weg nach vorne ab, fünf den Weg nach hinten. Thorin warf Ishara einen kurzen Blick zu, die Axt kampfbereit gezogen. Die Halbelbe hatte ihrerseits bereits den Bogen in der Hand und den Pfeil auf der Sehne liegend. „Es gibt hier zu viel Leben, ich bin fast blind“, verteidigte sie sich. Thorin schüttelte den Kopf. „Schon gut.“ Niemand hatte den Hinterhalt bemerkt. Nicht einmal Alistair. Diese Leute wussten trotz ihres wenig bedrohlich wirkenden Auftretens also, was sie taten und taten das möglicherweise schon eine ganze Weile. Nur… wozu? Thorin konnte sich nicht vorstellen, dass es hier draußen, so tief im Wald, allzu viel gab, das man überfallen konnte. Oder wollte. Würden sie sich auch einem randalierenden Bären in den Weg stellen und Wegzoll aus ihm herauspressen wollen? Und überhaupt… dafür, dass der Wald angeblich so gefürchtet war, schien sich diese Bande ziemlich tief hinein gewagt zu haben. Zeigte nur wieder, wieviel man letztlich auf das Geschwätz der Dörfler geben sollte. Ein Mensch im mittleren Alter trat vor, die schwarzen Haare länger als im direkten Nahkampf gut für ihn sein konnte und dennoch trug er ein Rapier. „Erlaubt mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Francis und ich-“ „Interessiert mich einen Scheiß“, fuhr Thorin ihm dazwischen, „Ihr legt euch mit den Falschen an. Diesen Kampf könnt ihr nicht gewinnen. Was ihr dagegen könnt ist, hier viel Blut zu vergießen und Leben zu verlieren. Wenn euch eure Männer irgendwas bedeuten – oder eure Leben -, dann zieht ab.“ Der Schwarzhaarige stutzte verdutzt. „Nun, so wird man selten begrüßt. Nichts für ungut, aber ihr seid deutlich in der Unterzahl und auch, wenn ich euch Kampfvermögen gewiss nicht abspreche und diese Axt wirklich beeindruckend aussieht – ich habe ein paar brauchbare Schützen auf meiner Seite. Und ich würde wirklich vorziehen, wenn wir das Ganze ohne Gewalt und Blutvergießen regeln könnten.“ „Können wir. Ich sagte auch schon, wie. Ihr hört nur nicht besonders gut zu“, schoss Thorin prompt zurück. Francis seufzte. Einer der Schützen zu seiner Linken hob den Blick zu seinem Anführer, dann zu jener Gruppe Reisender zurück. „Die lernen es einfach nie, Boss. Wir sollten es ihnen demonstrieren.“ „Kein voreiliges Handeln, Naolas“, mahnte Francis seinen Kameraden, „Wir wollen nicht, dass irgendwer verletzt wird.“ Er wandte sich wieder Thorin zu. „Es ist nicht so, als würden wir euch all eure Habe abnehmen. Euch wird nichts geschehen, den Frauen nicht, den Kindern nicht. Wir haben kein Interesse an euren schicken Rüstungen und Waffen. Wir nehmen das Geld und gehen unserer Wege.“ Der Hüne dagegen schüttelte den Kopf. „Ihr geht eurer Wege. Punkt. Jetzt.“ „Thorin, vielleicht sollten wir es einfach lassen…?“ hakte Ishara nach. Ein paar Münzen waren den Streit nicht wert. Das Problem war natürlich weitreichender als das. Es ging nicht um die Münzen – auch wenn sie die für ihre Rückfahrt nach Sundergrad gut gebrauchen konnten. Sie würden vermutlich nach Varnasse ziehen und sich vom dortigen König eine Überfahrt besorgen lassen können, das sollte ein interessanter diplomatischer Ausflug werden, aber nichts allzu Kompliziertes. Nein, es ging um die Sicherheit der Gruppe, jedes Einzelnen darin. Behaupten konnten diese Leute viel. Und Thorin hatte sich in der Weltgeschichte genug herumgetrieben, war hinreichend Leuten begegnet, das er wusste, wie sehr man sich irren konnte – und wie fatal das werden könnte. Die Dinge eskalierten nur wenige Augenblicke später. Francis stemmte die freie Hand in die Hüfte, die Stirn kraus gezogen. Er erwog sichtlich, was er noch sagen konnte, ehe er dazu übergehen musste, etwas zu tun – was immer das dann auch wäre. Einer seiner Handlanger entschied jedoch offenbar, dass die Eingekesselten einen Schubs Motivation in die richtige Richtung benötigten – und drückte ab. „Nein!“, schrie Francis auf, als er bemerkte, was geschah – doch zu spät. Der Bolzen löste sich und jagte voran. Nicht mehr als ein Warnschuss, der direkt vor den Füßen Thorins einschlug… doch was spielte das für eine Rolle? Ishara bemerkte nur den Schuss, hörte den Einschlag, sah sich bedroht, sich, Thorin, ihre Tochter, sie alle. Die Halbelbe zog den Bogen herum und ließ den Pfeil los, dessen Spitze sich punktgenau ins Auge des Schützen fraß. Während der erste Tote im Begriff war, umzukippen, kam Leben in den Rest. Der Schütze neben Francis löste seine Armbrust aus und der Bolzen riss Emilia von den Füßen. Thorins Blick folgte dem Projektil, folgte ihm zum Einschlagspunkt. Irgendwo im Hinterkopf war ihm klar, dass dieser Schuss Emilia nicht getötet hatte. Der Bolzen schlug in ihre Schulter ein. Das konnte übel sein, konnte aber auch relativ harmlos sein. Doch der bloße Anblick, wie das Mädchen von der Wucht des Einschlags zu Boden geworfen wurde, war genug. Der Hüne packte die Axt mit der zweiten Hand, wirbelte wieder nach vorne und schleuderte die Waffe mit aller Kraft. Er verfehlte den Schützen. Weil er den Schützen nicht anvisiert hatte. Stattdessen riss die Klinge sich tief in seinen Brustkorb fressend Francis von den Beinen, schleuderte ihn einen guten Meter zurück, wo er tot im Staub der Straße aufschlug. Thorin dagegen war vorgeprescht, riss dem Schützen die Armbrust aus der Hand und benutzt sei als Knüppel. Er schlug dem Mann einmal kräftig gegen die Nase, woraufhin der ächzend zu Boden ging. Doch Thorin war nicht fertig mit ihm. Er hielt die Armbrust weiterhin, kniete sich auf die Brust des Schützen und schlug ihm mit der Schulterstütze der Armbrust das Gesicht ein. Der Rest der Bande war regelrecht schockstarr. Nach dem ersten Schuss und Gegenschuss hatte keiner von ihnen sich zu rühren gewagt – insbesondere mit Ishara, die den nächsten Pfeil auf der Sehne liegen hatte und Ninafer, die inzwischen ein Blasrohr hielt. Alistair mit seinen Dolchen und selbst Nathenial mit Stich und Fang. Doch als Thorin entfesselt wurde, da veränderte sich die Situation wieder. Die Starre der Leute löste sich, langsam. Ishara rief nach ihrer Tochter, hielt jedoch zunächst Bogen und Position weiterhin, während Nathenial seine Waffen fallen ließ und zu Emilia eilte. Die Reste der Räuberbande flohen rasch zurück in den Wald. Da erst ließ auch der Rest die Waffen sinken und eilte zu dem Mädchen. „Die Wunde ist nicht tief und nicht gefährlich“, erklärte Ninafer nach kurzer Untersuchung, „Aber wir werden Probleme haben, den Bolzen herauszulösen.“ „Ich kann es heilen“, erklärte Ishara entschlossen. „Es tut weh…“, krächzte Emilia leise, blass, zittrig, Tränen rannen über ihr Gesicht, sammelten sich an Schläfen und Ohren. „Schhht, ich weiß… ich weiß… das haben wir gleich“, bemühte sich Ishara hektisch, ihre Tochter zu beruhigen. Angesichts der eigenen, fehlenden Ruhe wenig erfolgreich. „Thorin! Er ist tot, verdammt nochmal! Komm her und mach dich nützlich!“, blaffte Ninafer in die generelle Richtung des Hünen, der den Schädel des Schützen inzwischen in eine klebrige, breiige Masse verwandelt hatte, die bröckchenweise an der Armbrust klebte. Er richtete sich auf, warf die Waffe weg und eilte zurück. „Haltet sie ruhig“, wies Ninafer den Kahlkopf und Alistair an. Beide nickten und begaben sich in Position. „Liebes, das wird jetzt wehtun. Sehr.“ Ninafer reichte Emilia nach deren zittrigen Nicken einen Stock zwischen die Zähne, nahm den Bolzen und zog ihn heraus. Glücklicherweise war die Kappe simpel gehalten, keine Widerhaken oder ähnliche Katastrophen, weshalb es Ishara auch weniger Kraft kostete als die befürchtet hatte, die Wunde vollständig zu schließen. „Wir sollten hier weg“, erklärte Thorin, nachdem er Emilia auf die wackeligen Beine half. Er überließ Nathenial, sie zu stützen und sammelte derweil Stich und Fang ein, die er zunächst Alistair anvertraute. Ebenso, wie er Brecher an sich nahm. Sein Weg führte ihn daraufhin zunächst zu Francis‘ Leiche. Einen Moment blickte er auf hin herab. „Du hast dir die falschen Gefolgsleute ausgesucht“, erklärte er dem Toten. Er packte seine Axt, riss sie aus dem Brustkorb hervor und wischte das Blut nur oberflächlich ab. Sie sollten nicht mehr Zeit als notwendig hier vergeuden. Es gab diesen Abend keine Rast und keinen Schlaf. Stattdessen gingen sie tief in der Nacht dazu über, dass Thorin Emilia trug und Alistair, sich mit Ishara abwechselnd, Nathenial, während Ninafer mit der Lampe den Weg wies. Auf diese Weise konnten sie ein Stück Weg in ansehnlichem Tempo zurücklegen und einen guten Vorsprung zu eventuellen, rachsüchtigen Verfolgern aufbauen. Auch am Tag danach rasteten sie nur ein einziges Mal für wenige Minuten, ehe Thorin die Gruppe zur Weiterreise antrieb. Er hatte nicht vor, in diesem Wald zu schlafen oder übermäßig lange darin zu verweilen. Sie waren dem Ziel nahe – je schneller es nun vorwärts ging, umso besser. Als sie die Spicule erreichten, war Thorin wenig überrascht, dort bereits jemanden vorzufinden. Dem Erscheinungsbild allein nach handelte es sich um einen Menschen, alt und greis. Das Haupt kahl, ein schneeweißer langer Bart, gepflegt, ein sonniges Lächeln und von dünner, ausgemergelter Statur. Der Alte erhob sich langsam, als sie näher traten und verneigte sich, als sie in gebührendem Sicherheitsabstand stehen blieben. In unmittelbarer Nähe war der Eingang zur gewaltig aufragenden Spicule – verschlossen von irgendeiner Art von seltsamem Lichtfeld. „Und du bist?“, erkundigte sich Thorin schmucklos. „Man nennt mich Mikael“, erklärte der Alte weiterhin freundlich lächelnd. Thorin nickte. „Bist du Magier, Mikael?“, hakte er unumwunden nach. Der Alte bedachte sich einen Moment, ehe er den Kopf schüttelte. „Wenn ich es wäre – würde ich euch das dann sagen? Gerade in der Art und Weise, wie ihr diese Frage stellt? Und wäre ich es wiederum nicht, würdet ihr mir dann glauben? Die Antwort, die ich geben kann, spielt also keine Rolle. Was heißt, das ihr die falsche Frage stellt. Ob nun absichtlich oder nicht.“ Thorin verzog das Gesicht und warf einen kurzen Blick zu Ninafer zurück. Sie war seine beste Option, mit solchen Leuten fertig zu werden, ohne die Geduld zu verlieren… aber noch er war nicht bereit, aufzugeben. „Gut, fein. Warum bist du hier, Mikael?“ „Ich betrachte mich selbst eher als… als einen Wanderscholar“, erwiderte Mikael zunächst. „Ein… was?“, mischte sich Nathenial ein und schrumpfte ein bisschen, als Thorin ihm einen mahnenden Blick zukommen ließ. Der Alte schien sich nicht gestört zu sehen, im Gegenteil. Er lächelte dem Burschen kurz freundlich zu. „Ich reise umher, erlebe, entdecke, lerne – und reise weiter, um überall dort, wohin ich komme, das Wissen zu verbreiten, das ich bis dahin sammelte.“ „Das klingt nach Spaß“, meinte Emilia und selbst Thorin hatte seine Schwierigkeiten, abzuschätzen, wie ernst es ihr damit war. Mikael dagegen nickte. „Es ist die Aufgabe, die ich mir selbst aussuchte und ich finde viel Genugtuung darin. Doch nun stehe ich hier vor der Spicule, einem Ort der Macht, an dem viel Wissen gesammelt worden ist und ich muss feststellen, dass sich Probleme ergeben haben. In meiner Reise quer durch diesen Kontinent habe ich viel über die Spicule lernen können, über die Legenden und ihre tatsächliche Geschichte. Ich kam hierher, weil sich im Inneren eine wahrlich beeindruckende Bibliothek befinden soll. Doch von der Welt unbemerkt, hat sich jemand hineingeschlichen und den Titel als Nadelmeister für sich erworben. Ein Drakoide, dessen Verstand schon lange in Scherben lag, bevor er überhaupt hierher kam. Und ich fürchte, die Macht, die dieser Titel mit sich bringt, bekam ihm ganz und gar nicht gut. Er und sein Schüler treiben gefährlichen Unfug dort drinnen. Als ich ankam, empfing er mich als einen Gast, so glaubte ich. Tatsächlich aber wollte er nur wissen, wie nützlich ich ihm in seinen Machenschaften sein könnte. Von der Bibliothek sah ich nicht viel, bevor er entschied, mich hinauszuwerfen. Meine Habe ist noch immer in seinem Besitz. Ein Buch mit dem Symbol von Sonne, Mond und Sternen darauf und ein Wanderstab aus Steineiche.“ „Wenn ich das richtig verstehe“, mischte sich Thorin an jener Stelle unterbrechend ein, „dann wollt ihr, dass wir uns mit diesem Nadelmeister anlegen, damit wir euch euren Krempel zurückholen?“ „Ich weiß nicht, wie vertraut ihr mit den Geschichten über die Nadelmeister seid. Aber ein Wahnsinniger mit solcher Macht ausgestattet, das kann zu großen Schäden führen. Nicht nur in Arvum, sondern auch anderen Teilen der Welt – möglicherweise selbst dort, woher ihr kommt“, erwiderte Mikael sichtlich besorgt. Der Alte nahm langsam wieder im Schneidersitz Platz, bot ihnen ebenfalls an, sich zu setzen. Natürlich folgte keiner der Einladung. Stattdessen wurde er regelrecht von skeptischen Blicken durchbohrt. „Eure Hautfarbe und euer Dialekt“, erklärte er nachträglich, „Ihr stammt nicht von hier. Aus dem hohen Norden, würde ich sagen.“ „Gut, fein – sagen wir mal für einen Moment, ich würde euch glauben. Dann… was könnt ihr uns erzählen und wie geht es weiter?“, prüfte Thorin. Er glaubte Mikael soweit kein Wort, wenn er nicht musste – aber das hielt ihn nicht davon ab, sich noch etwas mehr erzählen zu lassen. Falls das hier eine Hinhaltetaktik war, ein Ablenkungsmanöver, um sie in Sicherheit zu wiegen… dann war es schlecht konstruiert und damit zum Scheitern verdammt. „Wenn ihr diese Barriere durchschreitet, dann fordert ihr den amtierenden Nadelmeister heraus. Er wird wissen, dass ihr eingedrungen seid und nach euch suchen. Ich weiß nicht, in welchem Zustand sich sein Verstand inzwischen befindet – rausgeworfen hat er mich vor nunmehr vier Tagen. Ich bestehe nicht länger darauf, die Bibliothek sehen zu wollen. Aber ich hätte mein Buch gerne zurück, und meinen Stab. Es sind Stücke aus meiner Heimat, auf die ich ungern verzichten würde.“ Mikael spielte ein wenig mit seinem Bart, während er seine nächsten Worte bedachte. „Die Kinder sollten sich bei den Händen halten und zuerst hineingehen.“ Bei jenen Worten stockte jeder in ihrer Gruppe und Thorin, obgleich nicht bedroht, hatte sofort die Axt zur Hand. „Wieso?“ Mikael reagierte auf die Veränderung in der Stimmung nicht im Geringsten, zuckte lediglich mit den Schultern. „Ihr werdet den Nadelmeister herausfordern müssen, um einzutreten. Die Götter wählen die Nadelmeister, um in ihrem Namen zu handeln und Aufgaben zu verrichten. Manche Personen und Charaktere sind für diese Aufgaben mehr geeignet als andere, aber viel hat mit Kämpfen und politischen Intrigen zu tun. Ich bezweifle, dass die Götter es als weise Entscheidung erachten würden, diese Position zwei Kindern zu überlassen. Treten sie zuerst ein, sind sie die Herausforderer. Haben sie gewonnen, sind sie die neuen Nadelmeister. Und werden sehr wahrscheinlich schlicht gehen können, unbehelligt und ungehindert, sollten sie das wünschen. Niemand wird darauf bestehen, das zwei Kinder solche Aufgaben übernehmen.“ „Ihr bezweifelt es? Ihr spekuliert hier mit den Leben meiner Familie!“, zürnte der Krieger. „Ich weiß. Und ich entschuldige mich aufrichtig, sollte ich euch damit gekränkt haben. Doch als Gelehrter kann ich nicht mit Gewissheit sagen, was ich nicht mit Gewissheit weiß“, gab Mikael ruhig und freundlich zurück. Es war eben diese unbezwingbare, unerschütterliche Freundlichkeit, die Thorin reizte. Bis Ninafer neben ihn trat und ihm die Hand auf den Unterarm legte. „Wir danken euch vielmals für die Informationen und werden uns nun zurückziehen, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen“, erklärte sie Mikael zugewandt und zog Thorin mit sich fort. Ein Stück abseits schlugen sie ihr eigenes kleines Lager auf. „Wir müssen dort hinein“, erklärte Emilia ernst. Ninafer dagegen war damit beschäftigt, Isharas Wunden, die nach der Heilung ihrer Tochter entstanden waren, zu versorgen. Die Erstversorgung lag ein gutes Stück zurück und der Heilungsprozess hatte eingesetzt, aber eine er oberflächlichen Verletzungen schien sich möglicherweise zu entzünden und musste gut kontrolliert werden. „Müsst ihr nicht“, schoss Thorin prompt zurück. Nicht, weil er überzeugt davon war oder auch nur über seine Antwort nachgedacht hatte, sondern schlicht als Verweigerung, als Trotz gegenüber der Manipulation, der sie bis zu diesem Punkt unterlagen. „Thorin“, mahnte Ninafer ihn, während sie weiter konzentriert die Naht prüfte, „Stell dich nicht stur. Wir haben uns bis hierher bringen lassen, ziehen regelrecht. Und offenkundig ist die Lösung des Problems in diesem Bau. Du weißt, dass es nicht besser werden wird, nur weil – halt bitte still, Liebes – nur weil du es dir anders wünschen würdest. Es scheint der letzte Schritt dieser Reise, bevor wir hoffentlich alle heimkehren können. Also lass uns kurz hier rasten und diesen Schritt dann so zügig wie möglich angehen, so wie wir das bisher auch getan haben.“ Der Hüne war unbegeistert. Mehr als das. Aber ebenso wenig konnte er Ninafer widersprechen. „Heißt nicht, dass es mir gefallen muss“, maulte er leise. „Oh natürlich muss es das nicht. Glaubst du, irgendeinem von uns gefällt das hier? Aber wir tun alle unser Möglichstes, um es irgendwie zu überstehen und es einander nicht noch unnötig schwer zu machen. Sie müssen dort hinein – also müssen sie dort hinein. Wir sollten nicht überlegen, ob, sondern wie.“ Der Hüne setzte sich und zog die Stirn in Falten. Im Verlauf der nächsten Stunde wälzte er einiges an Ideen – was bis zu dem Punkt reichte, an dem er irgendwo auf den Märkten in Thethys raue Mengen Schwarzpulver stehen wollte, um der Nadel im Zweifelsfall einfach einen zweiten Eingang zu verpassen. Doch letztlich war es nicht Schwarzpulver, mit dem Thorin vor der Lichtbarriere stand, sondern Emilia und Nathenial, die er jeweils an den Händen hielt. „Haltet ihr das für klug? Nur der Tod eines Nadelmeisters oder seine Entbindung durch die Götter können eine Erwählung aufheben…“, merkte Mikael an. „Für jemanden, der wenig weiß, wisst ihr ziemlich viel und gebt es zu seltsamen Momenten preis“, erwiderte Thorin mit einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, das er Mikael nach wie vor nicht ein Wort seiner Geschichte abkaufte. Nicht zuletzt deshalb hatten sie auch vorher mit einem Zweig getestet, was die Lichtbarriere tatsächlich mit etwas tat, das sie zu passieren versuchte. Thorin machte sich keine Illusionen darüber, dass die Götter ihn schon entbinden würden, wenn es so weit käme. Er hatte da ein gewisses Verhandlungsgeschick. Oder die Fähigkeit, selbst Göttern auf die Nerven zu gehen. Emilia trug Brecher bei sich, Nathenial trug Stich und Fang und Thorin seine Axt. Schließlich liefen sie potenziell in Kämpfe hinein. Zudem hatte der Krieger Emilia den Drachenschuppenschild gegeben und Nathenial seinen Brustpanzer – damit beide etwas hatten, das sie zusätzlich schützen würde, sollten sie direkt in einen Hinterhalt hineinlaufen. Laut dem, was Mikael ihnen während ihrer Überlegungen zum weiteren Vorgehen noch mitgeteilt hatte, befand sich direkt hinter der Barriere ein kleines schmales Stück Korridor, das in eine größere Eingangshalle mündete. Ein weiterer Gang führte dann in einen zentralen Zylinder. Irgendeine magische Plattform hob und senkte Besucher dort auf die verschiedenen Stockwerke. Eine Schmiede und Ställe zweigten wohl von dort ab. Die Bibliothek und die Unterkünfte lagen weiter oben. Ishara, Ninafer und Alistair standen, bewaffnet, gerüstet und bereit, als zweite Welle direkt hinter ihnen. Ein letztes Mal sah Thorin sich um. „Alle bereit?“ Und trat dem allgemeinen Nicken folgend mit den beiden Kindern durch die Barriere. „Jetzzzt!“, zischte eine Stimme im Dunkel und ein Hagel aus Bolzen prasselte gegen die Lichtbarriere in ihrem Rücken. Thorin war mehr als froh, den Kindern Rüstzeug gegeben zu haben. „Deckung!“, rief er und stieß beide zu den Seiten davon. Er selbst war bereits getroffen worden, mehrfach. Oberschenkel, Bauch, Brust, Schulter. Ishara und Ninafer würden zweifellos unbegeistert sein. Die zweite Welle wiederum, in der eben jene waren… scheiterte an der Lichtbarriere. Die Herausforderung war gestellt, die Nadel abgeschottet, bis ein neuer Meister gekürt wäre – und Mikael war sichtlich überrascht von der plötzlichen Undurchlässigkeit der Schranke. „Ich… es tut mir leid, aufrichtig leid, davon wusste ich nichts!“ Natürlich glaubte ihm das zu diesem Zeitpunkt niemand mehr. Doch änderte auch alles Fluchen nichts und egal, wieviel Energie Ishara in das Feld zu pressen versuchte – es zeigte sich nicht einmal ein noch so winziger Riss darin. Im Inneren dagegen wütete der Kampf um die Meisterschaft, auch wenn es einer der kürzesten Machtkämpfe in der Geschichte Arvums werden sollte. Thorin stürmte den Verletzungen zum Trotz voran und konnte schon nach kurzem zwei Gestalten erkennen, die vor dem Teleporter standen. Anders als Thorin es sich vorgestellt hatte, waren die Stockwerke im Teleporterraum keineswegs geschlossen, sondern offene Löcher in Boden und Decke, durch die man mittels der Plattformen offenbar hindurchgehoben wurde. Was auch erlaubte, jemanden durch das Loch zu stoßen. Schulter voran rammte er von den beiden dort stehenden Drakoiden den mit der Robe, der seine Armbrust gesenkt hatte, um mit der Klaue seltsame Gesten zu vollführen. Thorin hatte Zauberwirker oft genug gesehen, um zu wissen, was das bedeutete und was es vor allem potenziell für Emilia und Nathenial bedeutete. Damit war der Zauberer das größere und akutere Problem und wurde von dem Hünen mit aller Wucht gerammt. Er verlor unweigerlich das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe davon, während Thorin taumelnd zur Seite abzudrehen versuchte. Von den Drakoiden und dem heranstürmenden Krieger unbemerkt hatte jedoch eine weitere Partei ihren Zug gesetzt. Rasska, ihres Zeichens eine Naga, lebte schon seit einer Weile im Kellergewölbe der Spicule und dem dichten, wilden Dschungel voll gefräßiger Kreaturen, der dort unten wucherte und irgendwie auf merkwürdige Weise trotzdem in Balance zu bleiben schien. Der neuste Nadelmeister und sein Schüler dagegen waren ihr ein gehöriger Dorn im Auge – und lange hatte sie nach einer Möglichkeit gesucht, sich beider zu entledigen. Während der Schüler an ihr vorbei in die Tiefe stürzte und sehr wahrscheinlich von den Raubtieren dort unten binnen Sekunden in Stücke gerissen werden würde, sofern der Aufschlag ihn nicht schon tötete, kümmerte Rasska sich um den selbsternannten Nadelmeister persönlich. Mit dem Speer bewaffnet, brachte die Plattform sie nach oben – just rechtzeitig, um Thorin zur Seite straucheln zu sehen und ihre Chance wahrzunehmen. Ein wuchtiger, kräftiger Stoß und sie durchbohrte den Drakoiden im Rücken, bis die Klinge an Knochen vorbeischabend auf seiner Vorderseite hervorbrach. „Ich sssagte ja: Dreht mir nicht den Rücken zzzu!“, zischte Rasska ihrem Opfer leise ins Ohr. Mit einem ebenso wuchtigen Zug riss sie den Speer wieder aus seinem Körper heraus und beförderte den Sterbenden mit einem Schlag ihres Schwanzes zur Seite. Blitzschnell wirbelte sie herum und erfasste Thorin. Der Mensch war kräftig gebaut und damit gefährlich. Verwundet von mehreren Bolzen – aber verwundete Tiere sollte man erst recht nicht unterschätzen. Etwas, das die Naga schon vor langer Zeit gut verinnerlicht hatte. „Wir sind nicht eure Feinde“, erklärte Thorin, die Axt zwar kampfbereit und sich halbwegs aufrichtend, aber doch zu deutlich geschwächt. „Dasss issst völlig egal“, erwiderte Rasska. „Nein!“, rief Emilia verzweifelt auf die Naga zustürmend, Brecher zum Kampf erhoben, als diese mit dem Speer einen Schlag in Thorins Richtung andeutete. Wie erwartet bemühte sich der Krieger, zu parieren – und schlug ins Leere, während der tatsächliche Stoß zwischen seinen Rippen hindurch glitt. Mit der unmittelbaren Notwendigkeit, sich gegen ein Kind mit einer Axt zu verteidigen und ohne die Zeit, den Speer vorher zu befreien, schlug Rasska mit dem Schwanz nach Emilia. Die wich nicht zurück, sondern erwiderte mit dem Versuch, den Schwanz während des Hiebes mit ihrer Axt zu treffen. Das gelang ihr zwar nicht, aber es schuf für Nathenial eine Lücke, damit er an Rasska vorbeijagen und von der Rückseite auf sie draufspringen konnte. Aufzischend, als Stich ihre Schulter entlangschnitt, packte sie hinter sich, bekam den Burschen zu fassen und schleuderte ihn gegen Emilia. Beide gingen zu Boden, ächzend, während ein paar Meter weiter Thorin aufhörte, sich zu regen. Die Naga kroch näher an die Kinder heran und besah sich beide. „Ihr seid schwach“, bemühte sie sich, das Zischeln aus ihrer Stimme zu nehmen, „Dürr und klein, jung und dumm… ihr seid keine Nadelmeister.“ „Wollen wir auch gar nicht sein!“, rief Emilia erbost zurück. Rasska musterte beide noch einen Moment, ehe sie sich abwandte. Sie kehrte zu Thorin zurück, riss den Speer aus seiner Brust und verschwand ohne ein weiteres Wort in die Tiefe zurück. Es gab noch einen Schüler, dessen Ableben sie sicherstellen wollte. Emilia und Nathenial hingegen stürzten zu Thorin hinüber. Laut um Hilfe rufend versuchten sie, herauszufinden, ob der Krieger überhaupt noch lebte und ihre Hilferufe wurden umso panischer, als sie keinen Herzschlag und keine Atmung fanden. Wenige Augenblicke, nachdem der amtierende Nadelmeister verstarb, brach auch die Lichtbarriere am Eingang zusammen. Die Meisterschaft war geklärt worden – und die drei Wartenden stürmten den panischen Hilferufen ihrer Sprösslinge entgegen. Einen Augenblick nur brauchten sie, sich die Situation zu vergegenwärtigen, ehe Ishara sich neben Thorin niederließ. Sie bemühte sich nicht, die Tränen zurückzuhalten. Alistair und Emilia dicht bei sich haltend, sah sie zu, wie Thorins Wunden sich langsam schlossen. Er hatte offenbar immer noch genug Jahre in sich. Aber sie hatte versagt, oder nicht? Darin, ihn zu beschützen. Ihn vom Sterben abzuhalten. Einmal mehr. Sie hatte sich geschworen, dass das nie wieder passieren würde. Aber hier waren sie. Ninafer setzte sich dazu, zog Thorin ein wenig herum und bettete seinen Kopf auf ihrem Schoß. Keine Stunde verging, da tat Thorin den ersten, gierigen Atemzug seines neu regenerierten Lebens. Ishara zuckte fürchterlich zusammen, war dann jedoch rasch bei ihm. Blinzelnd und träge sah Thorin sich um. „Dieses verdammte Miststück… ich habe ihr gesagt, dass wir nicht ihre Feinde sind…“, krächzte er bemüht und richtete sich mit Ninafers Hilfe langsam auf. Kaum hatte er sich aufgesetzt, fiel ihm Ishara um den Hals. „Ich hatte solche Angst…“, flüsterte sie leise. Was, wenn seine Kräfte nicht für eine volle Regeneration ausreichen würden? Was, wenn Wunden zurückblieben? Keiner von ihnen wusste, wie es wirklich aussehen würde, wenn seine Zeit aufgebraucht war. Und in kürzester Zeit fanden sich auch Emilia und Nathenial bei ihm ein. Thorin umarmte sie, drückte sie an sich und sog die Luft tief in seine Lungen, kämpfte selbst darum, Fassung zu wahren. Es roch nach abgestandener Luft, muffig und staubig, aber es roch auch nach der Lederpolitur auf dem Panzer, nach den Ölen, die Ninafer für ihre Haare verwendete und der Seife, die sie ständig Ishara und Emilia andrehte. Es roch nach dem schlecht zusammengemischten Juckpulver, das Nathenial mit sich herumschleppte und das kaum Wirkung zeigte. Er schloss die Augen und drückte sie noch etwas fester. „Können wir heim? Bitte?“, fragte Nathenial leise. Thorin öffnete die Augen wieder und sah sich um. Sie waren in der Spicule. Der Nadelmeister war tot. Emilia und Nathenial waren, offenbar, nicht berufen worden und er hatte sehr zum Leidwesen aller seine eventuelle Berufung durch sein Versterben negiert, mindestens. Was blieb also? „Können wir denn?“, hakte er nach. Emilia und Nathenial zuckten unsicher mit den Schultern. „Ich werde mich vorher noch etwas umsehen“, meinte ausgerechnet Ninafer. Thorin wollte bereits widersprechen, hielt dann jedoch inne. Er kannte diesen Ton. Es war ein Gefährlicher. Einer, der üblicherweise mit jemandes Tod und zumindest immensem Unbehagen einherging. Und obendrein ein gutes Signal, eine Warnung, ihr nicht in die Quere zu kommen. Wie Thorin zu wenigen Gelegenheiten hatte feststellen müssen, gab es dabei auch keinerlei Ausnahmen. Selbst für ihn nicht. „Wieviel Zeit brauchst du?“ „Kann ich nicht sagen. Wartet draußen.“ Er nickte und richtete sich mit Isharas Hilfe langsam auf. Ein kurzer Blick und ein Nicken und Alistair heftete sich als Assistenz, falls nötig, an Ninafers Fersen. Ishara stützte Thorin, obwohl unnötig, auf dem Weg nach draußen. Beide hielten Nathenial und Emilia jeweils an der Hand wie Thorin es bei Betreten der Spicule getan hatte. Als sie nach draußen traten, warf Thorin einen Blick zur Seite. Er war nicht allzu überrascht, Mikael nicht mehr dort sitzen zu sehen. Stattdessen steuerten sie ihr Lager an und rasteten in relativer Schweigsamkeit, dicht beisammen, für mehrere Stunden. Als Ninafer wieder zu ihnen stieß, von Alistair weiterhin begleitet, wirkte zumindest die Giftmischerin zufrieden. Lächelte sogar wieder. Während Alistair sichtlich unwohl immer wieder zum Eingang zurückblickte. „Was ist passiert?“, erkundigte sich Thorin. Schlicht, weil es weniger anklagend klang als ‚Was hast du getan?‘ „Es gab keine weiteren Probleme. Die alchemischen Vorräte sind aufgebraucht. In der Bibliothek hängt eine dichte, dicke Wolke aus Giftgas, die sich nach und nach in alles hineinsetzen sollte. Das Holz der Tische und Stühle, die Regale, die Bücher – jede Seite davon. Die Zusammensetzung gewährleistet, dass es mehrere Jahrzehnte potent bleibt, während die Wolke selbst zumindest die nächsten Tage noch überdauern sollte“, erklärte sie im sonnigsten Tonfall und mit dem zufriedenen Lächeln einer völlig Wahnsinnigen. Thorin konnte und wollte jedoch nichts dagegen sagen. Nicht nach dem, was geschehen war. Falls die Nadelmeister in irgendeinem Zusammenhang zur Götterdämmerung standen… dann war es besser, wenn es für ein paar Jahrzehnte einfach keine Nadelmeister mehr gäbe. Und für die Zeit danach… würde man Lösungen finden können, wenn es soweit war. Thorin nickte und erhob sich. „Gut. Zusammenräumen und weg hier. Ich vermisse unser kühleres Klima.“ Niemand widersprach ihm. Stattdessen waren in Windeseile alle Sachen gepackt und die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Niemand weinte der Spicule, Schönblick, Ostlond oder Arvum als Ganzem auch nur eine Träne nach. Es würde nicht ihr letzter Besuch in Arvum sein und nicht ihr letztes Zusammentreffen mit Nadelmeistern, doch für den Moment befanden sie genug davon erlebt und erfahren zu haben. Es reichte. Brecher, Stich und Fang waren in den Gängen des Erdgeschosses liegen gelassen worden. Unbeachtet, unerwünscht. Erst als die Gruppe abreiste, die unmittelbare Nähe zur Spicule verlassen hatte, beugte sich Mikael herab und hob die zwei Dolche und die Axt auf. Seufzend betrachtete er die Stücke. „So etwas lässt man doch nicht einfach herumliegen“, maßregelte er, ohne es an irgendwen zu richten, es an irgendwen richten zu können. Außer ihm war niemand mehr da. Mit den Waffen auf dem Arm trat er in den Teleporterkreis und die leuchtende Scheibe aus Kraftmagie erschien unter ihm, manifestierte sich und trug hin hinauf. Zum Gasthaus, zu den Zimmern, schließlich zur höchsten Ebene der Spicule – der Bibliothek. Und dann noch ein Stockwerk höher.   Wenige Tage später stolperte eine verhärmte, ausgezehrt wirkende Gestalt den Weg entlang. Sie kam abrupt zum Stehen, als sich die Baumkronen öffneten und erstmals einen Blick auf die beeindruckenden, gewaltigen Ausmaße der Spicule eröffneten. Die Figur senkte ihren Blick wieder zu jenem schwarz und düster klaffenden Eingang und stützte sich mit aller Kraft auf den Stab, den sie führte. Ein Stab aus Knochen, an dessen Ende eine Klinge aus geschliffenem Knochen prangerte. „Wer… w-wer seid ihr?!“, zischte die Gestalt entkräftet einer zweiten Figur entgegen, die ruhig im Schneidersitz unmittelbar neben dem Zugang saß. Jener Fremde öffnete die Augen, lächelte warm, freundlich und einladend. „Bitte, fürchtet mich nicht. Ich bin hier, um zu helfen. Mein Name ist Mikael. Und wenn ich mich nicht irre… dann ist das Styx?“ „Ich… w-was?“ „Die Sense“, führte Mikael weiter aus und deutete darauf. Es war ziemlich offensichtlich, dass sein neuster Besucher sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Hunger und Erschöpfung, Müdigkeit und Durst, die Laster des Lebens zehrten an seinem Leib. „W-weiß nicht… ihr kennt sie? Wollt ihr sie? Bitte… b-bitte, nehmt sie! Nehmt sie mir ab! B-bitte!“ Allzu rasch schlich sich ein flehender Ton in die Worte, humpelte die Gestalt hastig auf den fremden Alten zu und bot ihm die Gehstütze dar. Mikael richtete sich langsam auf. Er bemühte sich, das Mitleid aus seinen Augen zu verbannen, als er sich des wahren Zustandes seines Besuchers aus der Nähe vergewissern konnte. Langsam hob er eine Hand auf die Schulter des Besuchers. „Ich bin hier um zu helfen. Bitte, nehmt Platz. Esst mit mir, trinkt. Schlaft, wenn ihr wollt.“ Mit völliger Selbstverständlichkeit nahm Mikael Styx entgegen. „Ich kümmere mich darum.“ Er verschwand im Inneren der Spicule, während sein Besucher erleichtert aufatmete, von einem unsäglichen Gewicht befreit am Lagerfeuer niedersank und mit dem Hunger von Tagen und Wochen die Vorräte vertilgte. Er hatte eine lange und beschwerliche Reise hinter sich, voller Prüfungen und Entbehrungen. Wie sie alle vor ihm. Wie die, die noch kommen würden. Kapitel 57: Zwischen Hoffen und Bangen -------------------------------------- „Ich kam so schnell ich konnte“, erklärte sich Thorin hastig, ja, verteidigte sich regelrecht. Natürlich war dergleichen unnötig und Ishara vergeudete keine Sekunde damit, die Begrüßung mit Worten zu würdigen. Stattdessen nickte sie ihm zu, das Gesicht verzogen von Sorge, Gram und Kummer. Ihre Hand griff nach der Seinen und in Windeseile schloss Thorin mit seiner zweiten, im Vergleich geradezu überdimensionierten Pranke ihre zarten Finger ein. Sie zitterte leicht. Kaum spürbar, aber es war da. „Danke“, erwiderte sie erst einige Augenblicke später, als ihre zügigen Schritte sie unlängst ins Innere des Hauses getrieben hatten. „Wie stehen die Dinge? Wie geht es dir?“, platzte der Krieger hervor. Nun, da sie etwas gesagt hatte, schien ihm das Gebot des Schweigens gebrochen und obgleich sie nur noch wenige Schritte von der Tür zum Kinderzimmer entfernt waren, wollte er durchaus vor Betreten dessen gerne wissen, worauf er sich einstellen musste. „Eirik tut, was er kann. Er kam gestern an und hat sich sofort an die Arbeit gemacht. Er meint, Anabelle hätte lediglich einen weiteren Schub, aber stärker ausgeprägt. Jedenfalls war das seine Erstdiagnose. Heute Mittag erklärte er, es gäbe ein arkanes Ungleichgewicht in ihr, das die Symptome hervorriefe. Es müsse ausbalanciert werden und… u-und er… Alistair ist auch da. Er… er versucht eigentlich die ganze Zeit, Elaine und Frederick zu beruhigen. Ich weiß nicht, wie gut ihm das gelingt, sie machen sich natürlich ebenfalls große Sorgen und… u-und…“ Als Ishara die Stimme versagte, trat der Hüne zügig heran und zog seine Tochter an sich. Die paar Meter zur Zimmertür konnten warten. Stattdessen versuchte er, beruhigend auf sein kleines Mädchen einzuwirken. Herzogin Ishara Lileth Wyrmblut würde immer sein kleines Mädchen sein. Hier und jetzt, mit jenem Zittern in der Stimme und jeder fahrigen Bewegung, mit dem wässrigen Blick und der leichten Blässe, da war sie es umso mehr. Er strich ihr über die Haare, flüsterte ihr leise zu, dass alles wieder gut werden würde. Ob dem tatsächlich so war, konnte er natürlich unmöglich sagen. Niemand konnte das. Vermutlich nicht einmal Eirik selbst. Der Magier war ein fähiger Heiler, aber eben nur ein Heiler, kein Wunderwirker. „W-Wie geht es Ninafer?“, erkundigte sich Ishara einen Moment später, fast unhörbar leise und gegen seine Brust nuschelnd. „Gut. Sie macht sich natürlich Sorgen, hat sich aber bereit erklärt, vorläufig die Dinge zu regeln“, erklärte der Kahlkopf. Er ließ unausgesprochen, dass er ohne ihre Unterstützung vermutlich nicht einmal hätte hier sein können – nicht jetzt schon, nicht so, nicht so lange. Nicht konsequenzlos. Ishara nickte und löste sich langsam von ihm, die letzten Meter zur Tür überbrückend. Thorin trat neben sie, die Hand an der Klinke und atmete nochmals tief durch. Ging in Gedanken durch, welches Bild ihn wohl erwarten würde. Stählte sich gegen den zu erwartenden Schlag in die Magengrube. Dann erst öffnete er die Tür und trat ein, von Ishara dicht gefolgt. Der Anblick war, trotz allem, beunruhigend. Anabelle ruhte auf ihrem Bett. Das Mädchen schien zu schlafen – wenn auch nicht allzu ruhig. Immer wieder rutschte sie herum, drehte sich, zappelte regelrecht, ohne jedoch davon aufzuwachen. Oder zumindest ohne die Augen zu öffnen. An einer Seite ihres Bettes, auf einem kleinen Schemel, saß Eirik und wirkte seine Magie. Anabelle schien regelrecht zu glühen, ein unheilverkündendes Leuchten, das von ihr ausging und mühelos den Stoff der über ihr liegenden Decke durchdrang, davon lediglich gedämpft wurde. Das ergab nach den ihm bekannten Naturgesetzen absolut keinen Sinn. Die Decke war undurchsichtig und tat, was ihr Name implizierte: Anabelle abdecken. Zudecken. Doch das war die Krux mit Magie. Sie folgte eigenen Spielregeln, die jene ohne Magie oftmals nur schwerlich begreifen konnten, wenn überhaupt. Und was Halon dort tat, sah auf den ersten Blick nicht unbedingt nach sonderlicher Hilfe aus. Er vollführte mit seinen Händen komplexe und offenbar irgendwelchen nur ihm bekannte Muster folgenden Gesten, murmelte leise Worte in einer ihnen fremden Sprache vor sich hin. Ab und an unterbrach er seine Arbeit – oder schloss sie ab, denn selbst das ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen – und trank einen Schluck aus dem am Nachttisch bereitstehenden Becher. Simples Wasser. Das viele Reden machte dem alten Mann zu schaffen, zumal die Reise nicht unbedingt angenehm oder belastungsfrei gewesen war und er sich keine Pause gegönnt hatte, sondern direkt an die Arbeit gegangen war. Dann begann er direkt die nächste Formel, neue Gesten. Er saß nah bei Anabelle, aber nicht einmal berührte er sie. Thorin verzog leicht das Gesicht. Es war schwer, sich daran zu erinnern, dass Magie nicht auf dergleichen angewiesen war. Hier und da, abhängig vom gewirkten Zauber, mochte es die Sache leichter machen, aber im Grunde war es unnötig. Die Menschen aber waren aus irgendeinem Grund inzwischen so stark darauf konditioniert, zu erwarten, dass ein Heiler sie anfassen, herumdrehen, ihre Arme und Beine und Kinn heben müsse, als wären sie Gliederpuppen, dass es sich einfach falsch anfühlte, solch eine Szenerie zu sehen und als Hilfe zu empfinden. Dabei tat der Magier vermutlich mehr für Anabelle als es Susann, Ninafer und Reva zusammen gekonnt hätten. Auf der anderen Seite des Bettes saß Alistair. Er hatte sich auf der Bettkante des parallel stehenden zweiten Bettes niedergelassen. Elaine hing an seinem linken Arm, Frederick lehnte unter seinem Rechten an ihm. Beide folgten stillschweigend seinem Blick zu Anabelle. Thorin entging nicht, dass der Raum inzwischen größer geworden war. Ishara hatte das Kinderzimmer umbauen lassen, um Platz zu schaffen. Nicht nur für all die Kuscheltiere, all das Spielzeug, all die Geschenke von Gästen und Verwandten zu Anlässen, Geburtstagen, den Feiertagen der Götter. Nein, auch ein viertes Bett hatte sich eingefunden. Das wiederum war etwas, von dem der Krieger noch nichts gewusst hatte und zumindest vorläufig ließ er das auch unkommentiert. Hier und jetzt… ging es um andere, wichtigere Angelegenheiten. Er löste sich langsam von der Tür, an der er mit Ishara erstarrt war und trat näher. Die Schritte hinter ihnen ließen Alistair und seine Kinder aufmerksam werden und sich umdrehen. Thorin nickte Alistair zu und der sonst so unerträglich gut gelaunte frühere Gildendieb nickte schlicht mit ernster, erschöpfter Miene zurück. Augenringe zeugten davon, wie er seine letzte Nacht zugebracht hatte. Und damit nicht zuletzt auch, wofür genau Thorin – unter anderem – hier war. Zunächst setzte sich der Hüne wortlos ein kleines Stück neben Elaine. Das Mädchen löste sich von Alistairs Arm und kroch regelrecht bei Thorin unter. „Hey, na du? Wie läuft es?“, erkundigte er sich. Wenig überraschend zuckte Elaine nur mit den Schultern und blickte zu Anabelle und Eirik herüber. Der Magier wirkte konzentriert, angestrengt. Als habe er die gesamte restliche Welt um sich herum ausgeblendet und in die vorläufige Nonexistenz verbannt – was vermutlich sogar den Tatsachen entsprach. „Er arbeitet seit Stunden. Eigentlich seit gestern durch“, erklärte stattdessen Alistair, als Ishara ebenfalls auf das kleine Kinderbett gekrabbelt kam und sich hinter ihm auf die Knie setzte, um die Arme um ihren Liebsten und ihren Sohn zu schlingen. „Habt ihr ihm auch was zu Essen gegeben? Er sieht ein wenig dürr aus“, bemühte sich Thorin darum, die Stimmung etwas zu heben. Sein Versuch scheiterte kläglich, als Alistair, weiterhin ernst bleibend, einfach nur nickte. „Als er ankam aß er mit uns zu Abend. War nicht sonderlich üppig, aber immerhin etwas. Heute Morgen mussten wir ihn regelrecht zwingen, eine Pause einzulegen, damit er Frühstück hatte. Ich denke…“ Der einstmalige Langfinger ließ den Satz unvollendet, brach ab. Nach einem kurzen, flüchtigen Seitenblick zu Elaine. Das Mädchen war klug. Nicht nur belesen – obwohl sie, mit dem Gesicht ständig in Büchern steckend, daran auch kräftig arbeitete. Sie hatte einen von Grund auf fähigen, rasiermesserscharfen Verstand. Thorin brauchte nicht lange, um zu ergründen, warum Alistair nicht weitergesprochen hatte. Halon war alt. Wie mancher andere Magier auch, hatte er einen Teil der Jahre, die seinen Körper verzehrt hatten, bewusst und bereitwillig verstreichen lassen, um sich selbst das würdevolle, weise Aussehen zu verleihen, das gemeinhin von Magiern – Heilern insbesondere – erwartet wurde. Es war eine traurige Wahrheit, das man einem jungen Heiler weniger Vermögen und Kompetenz zutraute als einem alten Zausel, dem man einfach schlichtweg unterstellte, das er schon Jahre und Jahrzehnte seinen Beruf mehr oder minder erfolgreich ausübte und darin schon allerhand gesehen, erlebt und erfolgreich geheilt haben müsse. Man verließ sich auf den Erinnerungsschatz hohen Alters. Ein junger Magier konnte zwar zweitausend Jahre alt sein, aber solange man ihm das Alter nicht ansah, war er weniger vertrauenswürdig als der zweihundert Jahre alte Meister. Es war frustrierend, wie leicht sich ein Verstand doch täuschen ließ, aus nicht mehr als Gewohnheit und Erwartung heraus. Einige weitere Jahre jedoch waren, wie bei vielen Magi, dazugekommen, weil es nunmal Situationen gab. Solche, in denen es schwierig war, ein magisches Elixier einzunehmen. Solche, in denen man die Einnahme des selbigen schlicht vergaß. Solche, in denen man die notwendigen Rohstoffe schlicht nicht vorrätig hatte, um es herzustellen – oder die Apparaturen, die einen dazu befähigten. Viele Mitglieder des Zirkels verstanden ja nicht einmal genug von Alchemie, die Rezeptur überhaupt selbst herzustellen, was sie nochmals ein Stück abhängiger machte – von denen im Zirkel, die dazu fähig waren. Die die Ressourcen und Zeit dazu hatten. Halon war ein fähiger Alchemist. Er hatte auf Basis der vom Zirkel verwendeten Rezeptur einige Stoffe abwandeln, einige Ressourcen ersetzen können. Seit Lumiél sich offen dem Zirkel der Magi widersetzte, war es für den nunmehr als abtrünnig geltenden Alten besser, schlicht gesünder, seine Bande gänzlich und vollständig zu kappen – also auch, auf die Zirkelformel zur Unsterblichkeit zu verzichten. Sein alternatives Gebräu hatte einen ähnlichen, aber nicht so umfangreichen Effekt. Es verlängerte das Leben erheblich… aber es war nicht fähig, das Altern gänzlich zu stoppen. Und bei einem Mann, dessen Körper ohnehin bereits vom Alter geschlagen war, bedurfte es größere Mengen, den gleichen Effekt zu erzielen. Insbesondere, wenn eben jener Körper sich auf seine alten Tage noch umstellen sollte – von einem potenteren Gebräu auf einen halbgaren Ersatz. Halon war alt. Und wurde älter. Dass die Reise ihn erschöpfte, dass er wenig aß, dass er dürrer wirkte – all das sprach dafür. Und obgleich Elaine mit ihren acht Jahren klug war und sich vieles erschließen konnte und zweifellos auch schon oft genug darüber gelesen hatte, das Helden und Bestien, Bösewichter und ganz normale Leute in ihren Geschichten starben und sich auf Basis dessen ebenso unzweifelhaft schon darüber belesen hatte, was der Tod war und was es bedeutete, zu sterben… so war doch fraglich, wieviel vom Gelesenen sie auch tatsächlich begriff und ob ihr die Tragweite der Endlichkeit alles Lebendigen wirklich bewusst war. Gerade hier und jetzt, mit Anabelle ein Bett weiter und allen im Raum um ihr Leben bangend, wollte er dieses Thema wirklich nicht anschneiden. Schon allein aus der Unsicherheit heraus, wie gut er selbst würde Fassung wahren können. Thorin verstand. Und handelte entsprechend. Er hatte an der Eingangstür zum Anwesen der Herzogin – seines kleinen Mädchens – auch ihre Augenringe bemerkt. Hatte in diesem Haushalt überhaupt irgendwer die letzte Nacht ein Auge zugetan? „Schlaft ein wenig“, meinte der Kahlkopf nach einem Augenblick des Bedenkens. Alistair schüttelte einfach nur gedankenverloren den Kopf, während Ishara ihn gar nicht wahrgenommen zu haben schien, zu fixiert war ihr Blick auf ihre Jüngste. Seufzend hob Thorin den Arm, der um Elaine lag und legte Ishara die Hand auf die Schulter. Da erst blickte sie zu ihm auf und ihre Regung brachte ihm auch Alistairs Aufmerksamkeit ein. „Schlaft“, wies er diesmal an, „Versucht es wenigstens. Eirik tut, was er kann. Ihr könnt hier nichts machen. Falls etwas sein sollte, egal was, dann wecke ich euch. Aber ihr braucht eure Kräfte ebenso.“ Thorin erwartete eine Diskussion. Widerworte, gerade von Ishara. Ihre Jüngste lag dort drüben und starb! Natürlich tat sie das nicht wirklich, aber er hatte selbst wieder Kinder, er wusste, wie sehr man dazu neigte, übermäßig zu dramatisieren, sobald der eigene Nachwuchs betroffen war. Ishara machte auch durchaus Anstalten, schüttelte leicht den Kopf, öffnete den Mund. Er hob mahnend eine Braue und noch ehe sie den ersten Ton herausbrachte, hatte auch Alistair ihr die Hand auf den Unterarm gelegt. Die Geste, klein wie sie war, brachte sie ins Stocken. Ließ sie zu ihm schauen. Und schließlich zögerlich seufzen. Sie sank ein Stück in sich zusammen und ließ von ihrer Absicht ab. Sie hatte einfach nicht die Kraft, jetzt noch herumzustreiten. Also legte sie sich einfach auf dem eigentlich zu kleinen Kinderbett hin. Alistair tat es ihr gleich, nachdem er über sie hinweg gekrochen war, drängte sich an ihren Rücken und hielt sie im Arm. Elaine und Frederick, einem Wink Thorins mit Hand und Kopf folgend, gesellten sich ebenfalls dazu. Thorin hingegen blieb an der Bettkante sitzen, mit Blick auf das jüngere Mädchen. Elaine und Frederick schliefen nicht. Egal, wie wichtig es gewesen wäre, sie konnten einfach nicht einschlafen – zu viel ging ihnen in Kopf und Magen umher. Zu aufwühlend war die Sorge für sie. Nicht nur um ihre Schwester, sondern auch um ihre Eltern. Thorin konnte sich nicht erinnern, Elaine je so wenig fragen zu hören, oder Frederick so ruhig zu erleben. Dann wiederum hatte Ishara wirklich unfassbares Glück gehabt und alle drei Sprösslinge waren über die schwierigen ersten Jahre hinweg zahllosen gefährlichen Erkrankungen und ernsthaften Verletzungen erfolgreich ausgewichen. Was bei einem Raufbold wie Frederick eigentlich einem Wunder glich. „Erzähl uns eine Geschichte, Großvater“, flüsterte Elaine leise, irgendwo hinter ihm. Thorin spannte sich kurz an, als ihre Stimme ihn aus seinen Überlegungen riss und wandte sich langsam zu ihr um. Wie erwartet blickten sowohl Elaine als auch Frederick ihm entgegen, während Alistair und Ishara eingeschlafen waren. Eine Geschichte. Natürlich. Er war der große Geschichtenerzähler. Und was würde jetzt besser ablenken können, als eine seiner absurden, wilden Geschichten? Doch Thorin verspürte wenig Reiz und Drang danach. Auch ihm wog das Gewicht des Möglichen schwer auf den Schultern, auf der Brust, auf dem Herzen. „Es könnte helfen“, kam es unerwartet aus Eiriks Richtung. Das wiederum ließ den Krieger verdutzt zu jenem alten Mann hinüber schauen, der inzwischen – unausgesprochen – doch irgendwie ebenfalls Mitglied der Familie geworden war. Eirik brachte seine letzten Gesten zum Abschluss, ehe er seufzend nach dem Krug griff und einen Schluck Wasser trank. „Es ist nur eine Theorie und bislang hat niemand sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht, sie zu untersuchen. Aber es gibt die These, dass im Fall von Erkrankungen, in denen der Patient ohne Bewusstsein ist, die Stimme von Vertrauten, Bekannten, Freunden und Verwandten helfen kann. Rede mit ihr. Sie mag dich. Sie wird zuhören. Vielleicht wird sie sich nicht erinnern, wenn sie aufwacht, aber sie wird zuhören.“ Thorin wusste nicht, wieviel von dem, was Eirik ihm erzählte, tatsächlich den Tatsachen entsprach. Er hatte seine Zweifel, was die plötzlich aus dem Nichts auftauchende Theorie anbelangte. Warum hatte er das zuvor nicht geäußert und Alistair oder Ishara reden lassen? Hatte er es möglicherweise schlicht vergessen? Oder wollte er ihm gerade etwas zu tun geben, eine Alternative zum Grübeln bieten, damit er nicht ebenfalls in seinem ganz persönlichen Sumpf aus Frustration über seine Hilf- und Machtlosigkeit und seiner Sorgen versank? Es gab keine Möglichkeit, das auf den Prüfstand zu stellen, ohne Eirik zu kränken. Und Thorin wollte weder das, noch sich Gedanken über den Wahrheitsgehalt machen. Letztlich… war er dem Heiler dankbar. Dankbar für den Vorwand, sich selbst zu überzeugen, doch eine Geschichte zu ersinnen. Nur… was sollte es werden? Als habe sie die spontane Gabe des Gedankenlesens entwickelt, meldete sich Elaine ein weiteres Mal zu Wort. „Du hast uns nie weiter erzählt, was für Abenteuer du mit Mutter erlebt hast.“ Thorin stutzte. Abenteuer mit Ishara? „Du hast versprochen, weiter zu erzählen.“ Erst langsam dämmerte ihm, dass es da tatsächlich eine unvollendete Geschichte gab. Das mochte inzwischen sicherlich ein Jahr zurückliegen, wenn nicht mehr. Ishara, die Piratengeisterschiffe in Herothing explodieren ließ und in Ammarath rätsellösend Relikte der elbischen Kultur errang, um Geisterarmeen zu befrieden, die in Jegurath die Erste war, die Heilmagie als Waffe gegen Untote benutzte. Er erinnerte sich an die absurden Märchen, die er sich überlegt hatte, spontan zusammengesponnen. Ein Blick auf Anabelle, wie sie dort lag und sich unruhig herumwälzte, und er konnte sich nicht recht überzeugen, dass er fähig wäre, es diesmal auch wieder so wild und kurios ausufern zu lassen. Aber vielleicht, nur vielleicht, war es dennoch einen Versuch wert. Wenigstens das. Eirik hatte ja schließlich gesagt, das seine Stimme helfen könnte… „Also gut“, erklärte er und rutschte in eine bequemere Position, von der aus er nicht nur Anabelle die Geschichte erzählen konnte, sondern auch Frederick und Elaine. Letztere rutschte rasch wieder an ihn heran und ließ sich, den Kopf auf seinem Schoß, durch die Haare kraulen. „Wir waren in Norwingen. Das ist nicht so weit von Jegurath entfernt, wie man meinen möchte und es hatte uns dorthin verschlagen, nachdem Jegurath ja ziemlich angekratzt war. Die Evakuierten kehrten zwar langsam in die Stadt zurück, aber die Untoten hatten dennoch erhebliche Schäden angerichtet. Es brauchte Steinmetze und Zimmermänner, Schmiede und Baumeister. Jegurath brauchte neue Setzlinge für Bäume und Sträucher, Feldfrüchte und Getreide, sie brauchten, nun, so ziemlich alles. Und das Band zwischen beiden Städten des Nordens war früher eng gewesen. Also dachten wir uns, wir übernehmen eine Aufgabe, die nun unweigerlich anstand: In Norwingen Bescheid sagen, dass Hilfe benötigt wurde. Wir kamen also dort an und quartierten uns bei unseren Freunden im Norden ein und noch ehe wir irgendwas erzählen konnten, überfielen die uns regelrecht mit ihren eigenen Bitten. Aufgeflogen seien sie, so sagte man uns. Alles sei nun vorbei! Der König würde sie finden und fangen und von ihren Familien wegzerren.“ Thorin zögerte einen kurzen Moment. Sie von ihren Familien wegzerren? Er hatte vermieden, davon zu sprechen, was die Krone tatsächlich getan hätte. Sie gefoltert, getötet. Öffentlich zur Schau gestellt. Davor, währenddessen und danach. Das war nicht kindgerecht, so oder so. Aber für den Augenblick zögerte er und zweifelte, ob selbst das nicht schon zu viel war und, mit Anabelle dort drüben liegend, so fragil und verletzlich wirkend, nicht schon zu nah ans Herz zielte. So oder so war es jedoch zu spät, nun noch etwas daran zu ändern. Die Geschichte war begonnen und die Worte gefallen. Er sollte nur besser darauf achten, was er sagte… „Natürlich waren wir alarmiert und ließen uns in aller Ausführlichkeit erklären, was denn nun eigentlich geschehen sei. Und da fiel uns rasch auf, dass die Dinge gar nicht so übel lagen, wie wir zunächst vermutet hatten. Nicht rosig, sicherlich – ein paar Leute hatten sich den falschen Leuten gegenüber verquatscht und plötzlich hing das Gerücht in der Luft, dass es bald schon Attentate geben solle. Aber niemand hatte die Namen oder Gesichter unserer Freunde herausbekommen können. Also einigten wir uns darauf, einander auszuhelfen. Sie würden für uns in Norwingen herumrennen und die ganzen Botenarbeiten erledigen. All den Leuten Bescheid geben, deren Hilfe in Jegurath gebraucht werden würde. Und im Gegenzug würden wir uns darum kümmern, dass niemand ihnen zu nahe trat oder ihre Familien bedrohte.“ Der Hüne setzte kurz ab. Elaine und Frederick waren acht. Wieviel Unsinn würde er erzählen können, ehe sie skeptisch wurden und die Geschichte zu sehr hinterfragten? Sie waren nach wie vor von seinen Erzählungen begeistert, das konnte nicht in Zweifel gezogen werden – nicht angesichts der gebannten, faszinierten Blicke, die ihm entgegen starrten. Vielleicht war es jedoch eine kluge Entscheidung, auch nicht allzu sehr zu übertreiben. „Nun müsst ihr wissen, diese Leute, die Informationen hatten und uns Übles wollten, das waren Adlige. Und Adlige treffen sich gerne zu Bällen.“ Wie erwartet verzogen beide Kinder das Gesicht und Thorin lächelte kurz milde. „Ich sehe, ihr wisst genau, wovon ich rede.“ „Ich muss Kleider anziehen und Gespräche mit dummen Kindern führen“, quengelte Elaine leise. „Ich muss meine Sachen sauber halten und mich benehmen“, krächzte Frederick ebenfalls leise. Thorin hätte auflachen wollen. Der Impuls war da und auch, wenn der Laut ihm rasch in der Kehle schon abstarb, war es doch ein belebendes Gefühl, dass seine Enkel derlei vollbrachten – unter diesen Umständen. Die Vorstellung war auch wirklich amüsant. Wie Elaine gelangweilten Blickes unter Gleichaltrigen stand und sich deren wenig verständnisvolle Tiraden anhören musste, die sie vermutlich von ihren Eltern geschrieben bekommen hatten, einstudierten und ihr lediglich rezitierten. Reden, die keiner einzigen Frage standhalten konnten, weil der Redner das Thema nicht verstand. Während Elaine immer weiter mit ihrem Kreis an Zuhörern und Rednern zu Gruppen von Erwachsenen zog und sich bemühte, deren Gesprächen zu lauschen. Sie war immer schon ein paar Jahre ihrem Alter voraus gewesen. Während Frederick vermutlich die Mehrheit der Zeit unter dem Banketttisch hockte und versuchte, sich die Grasflecken aus den Knien zu schrubben, die allen verraten würden, dass er die letzte Stunde so auffällig abwesend gewesen war, weil er, nun, abwesend gewesen war – vermutlich draußen im Vorgarten mit den Hunden spielen. „Eure Mutter war auch sehr begeistert von der Aussicht. Umso mehr, als ich vorschlug, dass wir den Ball infiltrieren könnten. Wir erwogen viele, viele Vorschläge. Die Übeltäter direkt bei sich daheim stellen. Oder der Wache falsche Informationen zuspielen und sie einsperren lassen. Aber letztlich wollten wir nicht lügen oder sie bedrohen, wir wollten uns nicht auf das gleiche Niveau begeben, auf dem unsere Gegner waren. Wir waren besser und würden das auch zeigen – nicht nur darin, was wir taten, sondern auch damit, wie wir es taten. Also kauften wir ein hübsches Kleid für eure Mutter.“ „Das Blaue?“, hakte Elaine abrupt nach. Thorin stutzte und lächelte. Obwohl das Mädchen keinerlei Interesse daran zeigte, selbst Kleider aufzutragen, nur um hübsch zu sein, schien sie doch ein Interesse an der generellen Ästhetik zu besitzen – und sich gerade zu bemühen, sich vorzustellen, wie ihre Mutter wohl ausgesehen haben mochte. „Nicht das Blaue. Das war eine brillante Idee deines Vaters und hat aufgrund des rückenfreien Schnitts damals ziemlich für Furore gesorgt“, erwiderte er, ohne die Frage tatsächlich zu beantworten. Stattdessen führte er seine Geschichte weiter. „Wir waren also auf diesem Anlass, es gab gutes Essen, feinste Weine und jeder gesellschaftete ein wenig mit anderen. Kleine Grüppchen überall und wir, ohne Ahnung, was wir zu tun und zu lassen hatten, platzten da mittenrein. Aber ehe ihr uns jetzt für leichtsinnig haltet: Das war alles Teil des genialen Plans, den eure Mutter ersonnen hatte! Statt uns nämlich einzufügen, wollten wir auffallen. Wir mussten demonstrieren, dass wir nicht dazu gehören. Unser Gegner wusste nicht, wer wir sind, also war er auf der Suche nach uns. Wir sorgten dafür, dass er uns finden konnte. Wir aßen ein Tablett am Buffet leer, statt überall kleine Häppchen zu nehmen. Wir mischten uns ungefragt in Gespräche ein und wiesen auf, dass jemandes Ansicht falsch war – natürlich auch nur, wenn sie das tatsächlich war. Und wir stellten uns selbst neuen Leuten vor, ohne dass jemand anderen erledigen zu lassen, der bereits mit der Person bekannt war. Wir brachen mit so ziemlich jeder ungeschriebenen Regel des Adels. Und das Essen erst! Eine große Tafel mit feinem Silberbesteck und winzigen Portionen auf viel zu großen Tellern. Ich beschwerte mich mehrfach, wo der Rest der Portion sei und rätselte, ob in der Küche vielleicht die Wachhunde los wären und über die Speisen herfallen würden, wenn es nur so wenig auf den Teller und die Tafel schaffte. Die Blicke waren prächtig – als würde jeder Einzelne von ihnen mich am liebsten erdolchen!“ Erdolchen? Wirklich? Nun, sie waren acht Jahre alt… sie würden es sicherlich verkraften können. „Was ist dann passiert?“, hakte Frederick neugierig nach. Tatsächlich ausgerechnet er, der für diese Art von Geschichte eigentlich nicht sonderlich zugänglich war, sich schnell langweilte. Thorin brauchte einen Moment, ehe ihm klar wurde, worin das plötzliche Interesse begründet liegen mochte. Nicht nur erinnerte er sich, vor über einem Jahr angekündigt zu haben, das Gift und Duelle involviert waren – was schon deutlich eher seinen Geschmack traf -, sondern er bemerkte auch die gelegentlichen Seitenblicke zu seinen Schwestern, die von Elaine wiederum scheinbar unbemerkt blieben. Er spielte ihm zu, um seiner Schwester zu helfen. So sehr er sonst auch gegen sie wetterte, sie jagte und neckte – so fest hielten sie auch zusammen, wenn es hart auf hart kam. „Nun, dann kam der Tanz. Wenig überraschend wollte keiner wirklich mit uns tanzen und unsere Einladungen wurden allesamt ausgeschlagen. Wir standen also am Rand und aßen Häppchen und waren eigentlich wirklich zufrieden mit dem bisherigen Ergebnis und Verlauf. Und dann, aus heiterem Himmel, kommt dieser dürre Adlige an und bittet eure Mutter um einen Tanz.“ Wie erhofft leuchteten Elaines Augen auf, während Frederick unweigerlich den Kopf drehte und zu seinem Vater sah. „Er war irgendein schwarzhaariger Wichtigtuer aus dem Norden, der einfach den Mund nicht darüber halten konnte, ihr ganz genau zu erklären, wie wichtig er doch war. Ich ließ mir später erst erzählen, dass er auf der Tanzfläche dann jedoch tatsächlich dazu überging, sie zu komplimentieren. Auf die grässlichste und schleimigste Art, die man sich vorstellen kann.“ Die Zwillinge runzelten die Stirn. Das passte und passte nicht. Alistair war schwarzhaarig. Er zog es aber vor, lieber im Hintergrund zu bleiben, weil ihm die Aufmerksamkeit unangenehm war. Dann wiederum kam er aus dem Norden. Aber er hielt sich nicht für übermäßig wichtig oder prahlte. Nicht ernsthaft jedenfalls. Er machte ihrer Mutter selbst heute noch wirklich miese Komplimente, aber waren sie wirklich grässlich und schleimig? Thorin schmunzelte, während er sah, wie beide mit in Falten gelegter Stirn versuchten, das gezeichnete Bild mit ihrem Vater in Einklang zu bringen. Nach knapp zwei Minuten entschied er sich, das Rätsel aufzulösen. „Es war fast das Ende des Tanzes, die ersten Herren betraten die Fläche, um Damen aufzufordern und andere Herren abzulösen, als dieser Dürre versuchte, eure Mutter zu küssen. Ich sah vom Rand aus, wie sie sich zurücklehnte, während er sich vorbeugte und hätte lachen wollen, wirklich! Dann aber sah ich diesen anderen dürren Schwarzhaarigen, der sich durch die Menge schob. Er griff einfach die Hand einer Tänzerin und vollführte in einer Bewegung, die ich bis heute nicht ganz verstehe, das Unmögliche. Er zog eure Mutter dort weg und schob die andere Tänzerin an ihre Position. Die war natürlich völlig verdutzt, viel zu verwirrt, um sich zu wehren. „Darf ich um diesen Tanz bitten?“, meinte er leise zu ihr, während der vorherige Tanzpartner eurer Mutter, die Augen natürlich geschlossen, eine Fremde küsste. Dieser zweite Kerl? Das war euer Vater. Der Erste hingegen hatte mit größter Vorsicht ein Gift auf seine Lippen aufgetragen und keine Minute, nachdem er seine Partnerin geküsst hatte, schlief die ein und brach die zusammen. Sie sank gewissermaßen direkt in seine Arme und sofort sprangen alle bei Seite, besorgt und alarmiert. Euer Vater aber nahm eure Mutter und tanzte mit ihr, selbst als die Musikanten zu spielen aufhörten. Sie war natürlich ziemlich verdutzt und auch ein wenig beeindruckt. Immerhin hatte er sie gerade gerettet. Nicht nur vor dem Gift, sondern wichtiger noch, vor einem wirklich ekligen Kuss.“ Elaine und Frederick stimmten beide herzhaft nickend zu. Das Gift war halb so wild – aber küssen? Einfach widerlich. „In Windeseile war die Wache da, doch ich war noch nicht fertig. Bevor die den Adligen wegschleppen konnten, damit er sich in einer hübschen Zelle Gedanken über seine Untaten machen konnte, gedachte ich ihm noch eine richtige Abreibung zu verpassen. Niemand versucht, mein Mädchen zu vergiften – oder zu küssen!“ Wieder beherztes Nicken. „Also forderte ich ihn zu einem Duell heraus. Er konnte in der Situation nicht mehr ablehnen, ohne seine ach so kostbare Ehre zu verlieren und die Wache durfte bei einem adligen Duell nicht eingreifen. Also gingen wir raus in den Vorplatz. Jetzt müsst ihr wissen: Ich habe wirklich keine Ahnung, wie man mit einem Rapier umgeht. Aber das war die Waffe der Wahl. Also nahm ich das Ding und stellte direkt schon mal fest, dass diese kleinen Muscheln am Griff zu klein für meine Hände waren. Ja was tun? Er hingegen hatte natürlich keinerlei Probleme. Er fand sich prima zurecht, hatte ja jahrelang mit den Dingern geübt, es gelernt.“ An der Stelle erhob sich Thorin tatsächlich vom Bett und trat ein Stück ab. Er wollte schließlich den Kampf darstellen. Zunächst reckte er das Kinn übermäßig hoch, rümpfte die Nase und fuchtelte ein wenig wild herum, als würde er ein Rapier halten. „Er stach und stichelte und stieß immer neu vor. Und mehr als einmal traf er mich auch. Verdammt flink war der Bursche auch noch, gut zu Fuß. Tänzelte um mich herum und nadelte mich wie ein verdammtes Kissen. Zack, von hinten! Zack, von der Seite! Zack, in den Arm! Zack, in den Hintern!“ Wie erhofft zuckten Elaine und Frederick gespannt folgend zusammen und kicherten, als sie sich vorstellten, wie die Klingenspitze Thorins Allerwertesten nadelte. „Ich hingegen bemühte mich gar nicht erst, mit seinem Tempo mitzuhalten. Aber ich beobachtete, so gut ich eben konnte. Versuchte, zu parieren und auszuweichen. Mehr Letzteres, da ich ja das verdammte Ding nicht ordentlich halten konnte. Bis ich dann ein Muster in seinen Bewegungen erkannte! Er setzte immer die gleichen Schritte.“ Wie erwartet wanderte der Blick der Zwillinge auf seine Füße herab, während er seine Schrittfolge deutlich verlangsamte und ihnen eine der rudimentärsten Abfolgen demonstrierte, die im Rapierkampf zum Umkreisen von Gegnern genutzt wurden. Sie waren beeindruckt, nickten begreifend. „Also zog ich ein Stück Leder aus meiner Tasche – ist immer praktisch, dabei zu haben. Du hast den Topf über dem Feuer vergessen und das gute Essen ist kurz davor, zu verkochen? Mit Leder kannst du den Topf anfassen! Nicht lange, ehe es dir die Finger verbrennt, aber lange genug, um ihn zur Seite heben zu können. Der Gegner erwischt dich ohne Waffe? Mit Leder in der Hand hast du etwas mehr Gewicht im Schlag und rammst dir nicht aus Versehen die Finger in den Handballen. Oder, in diesem Fall: Mit Leder um die Klinge gewickelt kannst du sie anfassen. Also nahm ich das Rapier bei der Spitze. Damit lag natürlich das meiste Gewicht unten am Griff und als er einen neuen Vorsprung wagte, um wieder zuzustechen, da holte ich in weitem Schwung aus und nutzte das verdammte Ding einfach als Keule! Ich traf ihn am Kiefer, hier ungefähr, und das mit so viel Wucht, dass es das Leder durch schnitt. Meine Hand blieb glücklicherweise heil. Und der Kerl? Der flog! Flog bestimmt einen Meter zurück, bevor er aufschlug. „Jetzt könnt ihr ihn haben“, meinte ich zur Wache und die nickten artig und schleppten den Halunken davon.“ Elaine und Frederick nickten gebannt, starrten ihn an, als hätte er gerade erklärt, einem Gott die Stirn geboten zu haben. Er war in diesem Moment zweifellos in ihrem Ansehen ein paar Sprossen heraufgeklettert und befand sich jetzt vielleicht ansatzweise in der gleichen Liga, wie ihre Mutter – obwohl deren Position natürlich unantastbar war. Etwas, das er auch weiterhin zu schüren versuchte. Immerhin war ihre Mutter verdammt gut…! „Wie ging es dann weiter?“, hakte Frederick nach, als erwarte er, dass Thorin im Anschluss den gesamten Ball zum Duell fordern und der Reihe nach niederknüppeln würde. Ehe der Hüne jedoch zu einer Antwort kam, ächzte es seitlich. Sofort lag alle Aufmerksamkeit auf Eirik, der sich auf seinem Schemel ein klein wenig zusammenkrümmte. Thorin war rasch bei ihm, hielt ihn an der Schulter fest. „Was ist los?“, erkundigte er sich sofort. Der Heiler verzog das Gesicht vor Schmerzen, war jedoch zunächst nicht fähig, zu antworten. Lediglich leicht den Kopf zu schütteln, während seine Hände krampften. Es dauerte ein paar Minuten, in denen Thorin nicht nur Eirik blasser werden sah, sondern auch mit einem Blick über das Bett Anabelles hinweg zusehen musste, wie der kurzzeitig aufgeblühte Leichtsinn und Frohmut Elaines und Fredericks sofort wieder von Sorge und Kummer überschattet wurde. Seine Geschichten waren, wenn man alle Beschönigung fortnahm, ein Kampf gegen Windmühlen. Eine Schlacht, die einfach unmöglich zu gewinnen war. Und dennoch führte er sie. In der Hoffnung, es wenigstens weit genug zu schaffen, das andere übernehmen konnten. Und gemeinsam würden sie es vielleicht durchs Dunkel hinaus schaffen. Als Eirik sich langsam zu erholen schien, griff Thorin unter seine Arme, zog den Mann empor und führte ihn stützend zu einem der zwei leeren Betten auf der anderen Raumseite. Dort setzte er ihn ab und drückte ihn nieder, holte seinen Krug und flößte ihm kurz darauf etwas Wasser ein. Es brauchte weitere Minuten, bevor Eirik etwas zu sagen fähig war – Minuten, in denen Thorin mit äußerlich unerschütterlicher Ruhe wartete, während Frederick und Elaine sich in Angst sichtlich nicht zu rühren wagten. Als könne die kleinste Bewegung die nächste Katastrophe auslösen. „Ich glaube, das war einfach etwas viel“, ächzte der Heiler, „Ich bin es nicht mehr gewohnt, so viel Magie an einem Tag zu wirken.“ Thorin nickte und sah zu Anabelle zurück. Halon folgte dem Blick und seufzte. „Ich brauche nur ein paar Minuten, keine Sorge. Ich werde mich sofort wieder an die Arbeit machen und-“ „Nein“, fuhr Thorin ihm dazwischen, „Wenn du dich hier und heute überarbeitest… nein. Du wirst ruhen und dich erholen. Schlaf etwas. Danach kannst du weitermachen.“ Der Krieger entschied abermals, unausgesprochen zu lassen, was es für Meister Halon bedeuten würde, sich zu überanstrengen. Sein Körper war fragiler geworden, empfindlicher. Die Konsequenzen arkaner Erschöpfung wären für ihn deutlich gravierender. Vielleicht sogar tödlich. Das konnten sie nicht riskieren. „Thorin – wenn ich die Arbeit nicht fortsetze, wird ihr Zustand sich wieder verschlechtern“, warnte Eirik leise. „Wie sehr?“, hakte der Kahlkopf unvermittelt nach. „Das lässt sich schwer abschätzen.“ Thorin nickte, sein Blick schweifte zu Anabelle zurück, zu Elaine, Frederick, Alistair… Ishara. Er nickte nochmals, leise seufzend. „Schlaft. Dennoch. Ich wecke euch in zwei, drei Stunden und habe ein genaues Auge darauf, wie es ihr geht. Falls sich ihr Zustand rapide verschlechtert, wecke ich euch früher.“ Das wiederum schien ein Arrangement, mit dem Eirik leben konnte. Nicht glücklich, sicherlich, aber es war ein brauchbarer Kompromiss. Also nickte der Alte und schloss die Augen. Ob und wann es ihm tatsächlich gelang, zu schlafen, vermochte Thorin nicht zu sagen. Einer Magd des Hauses, die besorgt zwischenzeitlich den Kopf zur Tür hereinsteckte, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, trug er auf, für den Magier eine kleine Mahlzeit zusammenstellen zu lassen. Natürlich waren die Diener des Hauses genauso besorgt. Man konnte nicht jahrelang in diesem Anwesen arbeiten, auf täglicher Basis von Elaine mit Fragen gelöchert werden oder Fredericks Streiche ertragen oder Anabelles unschuldige Neugier beobachten, ohne irgendetwas für die Kinder zu empfinden. Und die Hausherren. Und mehr als genug der Angestellten waren selbst Väter und Mütter und verstanden die Sorge umso mehr. Thorin hingegen setzte sich auf den Schemel und während Frederick vorzog, sich noch etwas enger an Ishara zu schmiegen, krabbelte Elaine aus dem Bett und setzte sich mit etwas Hilfe auf Thorins Oberschenkel. „Erzähl weiter“, bat sie leise und schmiegte sich an seine breite Brust. Der Hüne legte den Arm um sie und sann nach einer neuen Geschichte. „Alistair hatte uns geholfen. Und er war willens, uns noch mehr zu helfen, sogar mit uns zu reisen. Ich ahnte damals schon, dass er ein Auge auf eure Mutter geworfen hatte, aber er hatte uns geholfen – also wollte ich ihm das mal nachsehen. Vorläufig. Wir nahmen ihn nach Samara mit, unserem damaligen Hauptquartier. Wie ihr euch vielleicht denken könnt, dauerte es nicht lange, bevor uns da die nächsten Katastrophen ereilten. Genau genommen, kamen wir schon wieder gerade an und uns wurde davon berichtet. Es gab in ganz Samara Verheerungen. Mitglieder des Adels, der Stadtwache, aber auch einfache Handwerker und Leute des Armenviertels waren benutzt worden, manipuliert. Sie kamen an Orten wieder zu sich, an die sie sich nicht erinnerten und hatten Dinge getan, von denen sie nichts mehr wussten. Sie waren nicht Herren ihrer eigenen Körper gewesen, oder auch nur ihres eigenen Verstandes.“ Langsam zog er den Lappen aus der Wasserschale und stich sich behutsam vorbeugend über Anabelles verschwitzte Stirn, während das Glühen etwas stärker und sie damit wieder etwas unruhiger wurde. „Das ist eine ziemlich unheimliche Sache, müsst ihr wissen. Wir kannten damals schon ein paar Arten, wie sowas möglich wäre. Geistmagie natürlich, allem voran. Also begaben wir uns auf die Suche nach der Quelle der Unruhe.“ Als Anabelle kurz krampfte, setzte Thorin Elaine vorsichtig ab. Das Mädchen stand dort, schlang die Arme um sich selbst und schien sich redlich zu bemühen, nicht in Tränen auszubrechen, während Thorin den schmalen Körper ruhig zu halten versuchte. Es dauerte nur wenige Sekunden an, aber ihm saß der Schrecken in den Knochen und es fiel dem Hünen um ein Vielfaches schwerer, seine sonst ruhige, steinerne Fassade wiederherzustellen. „Wir hatten uns einige Wochen zuvor im Armenviertel etwas umgehört und waren auf eine Kräuterkundige gestoßen. Sie hatte ein wirklich bemerkenswertes Mittel zusammengemischt. Es war fähig, alle Krankheiten zu heilen.“ „Kann Anabelle das nicht bekommen?“, fragte Frederick von der anderen Bettseite leise. Thorin seufzte. Innerlich sehr viel stärker und tiefer als er es nach außen dringen ließ. „Leider nein. Sie ist nicht krank. Auch wenn es so aussieht, ich weiß. Sie hat Magie und so, wie sie wächst, wächst auch ihre Magie. Normalerweise wächst beides ungefähr gleich schnell. Sodass es nicht zu seltsamen Sachen kommt. Aber ihre Magie hat gerade einen starken Wachstumsschub, stärker als ihr Körper. Das ist zu viel Magie für sie und für ihren Körper. Also versucht ihr Körper, nachzuwachsen. Sich anzupassen. Aber das kann er nicht mal eben einfach so. Eirik versucht, ihrem Körper zu helfen, indem er Magie aus ihr herauszieht. Abfließen lässt, sozusagen. Wie bei der Blutbeule, die du hattest.“ Frederick verzog fürchterlich das Gesicht bei der Erinnerung. Es war wirklich einfach widerlich gewesen. Aber es half ihm, zu verstehen. Und das war es letztlich auch, worauf es ankam. Thorin wiederum hatte keine Probleme, ihnen diese Geschichte zu verkaufen – vielleicht lag sie sogar nah bei der Wahrheit. Was hier wirklich vor sich ging, begriff er nur in kleinem Umfang und er hatte diese wenigen, ihm bekannten Informationen bestmöglich ausgeschmückt, um eine kohärente Geschichte daraus zu spinnen. „Was war mit der Kräuterkundigen?“, hakte Elaine leise nach. Thorin besann sich, setzte sich wieder auf den Schemel und zog das zitternde Mädchen wieder auf seinen Schoß. Er strich ihr über den Rücken, die Haare, versuchte, beruhigend auf sie einzuwirken. „Man nannte sie Mütterchen Yvellah. Wir hatten nicht wirklich rausgefunden, wie sie das mit dem Wunderheilmittel anstellte und wirklich, keiner von uns hatte es hinterfragt. Wozu auch. Es war ihre Rezeptur, ihr Geheimnis. Es wäre nicht sehr nett von uns gewesen, ihr das wegzunehmen. Aber als das alles drüber und drunter ging in Samara und wir auf der Suche nach den Verantwortlichen waren, da kam das Mütterchen zu uns. Sie wusste nicht genau, wer es war – aber jemand hatte sich in ihre Stube geschlichen und ihr Formelbuch genommen. Nicht gestohlen, wohlgemerkt. Es war geblieben, wo es lag. Aber jemand hatte Seiten daraus gelesen und Formeln abgeschrieben. Unter anderem ihre Formel. Jetzt erst kamen wir auf die Idee, nachzufragen, was das eigentlich genau für eine Formel war – und wie ihr euch vielleicht denken könnt, die Antwort gefiel uns nicht sonderlich. Mütterchen Yvellah verwendete Blutmagie.“ „Was… was ist das?“, hakte Elaine leise nach. Sie war wieder etwas stärker in den Fragenmodus übergegangen. Thorin vermutete jedoch, dass sich das weniger in tatsächlicher Neugier begründete und mehr darin, dass sie sich regelrecht daran klammerte, in dem Versuch, selbst ruhig und gefasst zu bleiben. Anabelle regte sich wieder mehr, wälzte sich wieder häufiger herum. Und das ging ihr, unweigerlich, an die Nerven. „Blutmagie ist, wie der Name schon sagt, Magie, die aus dem Blut kommt. Für die meisten ist Blut lebenswichtig. Das liegt daran, dass im Blut Lebensenergie steckt. Und wie hat Meister Lamerak es euch beigebracht?“ Wie erhofft stimmten Frederick und Elaine in den Chor ein. „Energie ist Magie.“ Das war natürlich bis auf ein schmerzhaftes Maß simplifiziert. Ein Blitzschlag war nicht magisch und die Generatoren der Goblins waren es – angeblich – auch nicht. Aber Alandor hatte sich über die Jahre hinweg vielen Werken verschrieben, die den Versuch wagten, nicht magisch Befähigten die Welt der Magie auf ein verständliches Maß herunter zu brechen – damit vielleicht, irgendwann, falls diese Bücher genug Verbreitung und Anklang fanden, die Leute weniger Angst vor den Zauberern der Welt haben würden. „Also nimmt sie Magie aus dem Blut?“, hakte Elaine nach, das Gesicht verziehend. „Ja. Sie nahm natürlich nur Leute, die es freiwillig gaben. Aber eine frühere Schülerin von ihr hatte sich für einen anderen, gefährlicheren Weg entschieden. Sie griff diese Leute an, hatte die Formel abgewandelt und mit Zauberei kombiniert. Yvellah erkannte ihr Werk und fühlte sich mitverantwortlich. Aktuell übte ihre Schülerin nur. Übte, wie sie am besten Kontrolle ausüben konnte, wie sie sie erlangen und halten konnte, welche Reichweite ihre Magie hatte und wozu sie sie befähigte. Wir mussten sie also aufhalten, bevor es zu tatsächlich gefährlichen Situationen kommen würde. Und das ist die Stelle, an der eure Mutter eine brillante Idee hatte. Seht ihr, in Samara gibt es mehrere Viertel, von stadtinternen Mauern getrennt. Das Hafenviertel, das Zwergenviertel, das Elbenviertel, die Altstadt, das Edelviertel und das Armenviertel. Der König war kein gerechter Mann, also gab es in den Vierteln unterschiedlich viele Wachen, die ihre Aufgaben unterschiedlich ernst nahmen. Kaum ein Wächter ging je ins Armenviertel und keiner hatte dort vor, wirklich etwas Gutes zu tun. Also wussten wir, wo sie sich am wahrscheinlichsten verstecken würde – da, wo es ihr am leichtesten gemacht wurde.“ Elaine nickte beklommen, während Thorin erneut Anabelles Schweiß wegtupfte. Die Erschöpfung schien die Krämpfe etwa gemildert zu haben. Und Frederick, obgleich ebenso besorgt und aufgewühlt, dämmerte inzwischen etwas. „Eure Mutter trat also auf einen der wenigen Marktplätze, die es im Armenviertel gab, nachdem wir vorher einige Boten durchgeschickt hatten, die alle dorthin riefen. Sie nahm sich diese alte, brüchige Apfelkiste, leerte sie in einen Eimer und nutzte sie als Podium, um etwas über die Menge zu ragen. Damit sie jeder sehen konnte. Und dann hielt sie eine Rede. Solch eine feurige, leidenschaftliche Rede, das an diesem Tag niemandes Herz unberührt blieb, der davon hörte. Wir seien ein Volk, eine Nation, ein jeder dem anderen Bruder, Nachbar, Gleichgestellter. Es gäbe Hürden zu überkommen, Feinde zu schlagen, im Inneren und Äußeren. Heute sei ein Tag, an dem sie als solches zusammenhalten müssten. Als Brüder. Als Schwestern. Als Nachbarn und geeintes Volk. Heute sei ein Tag, an dem sie sich gemeinsam, geschlossen, einem Feind in ihrer Mitte stellen mussten.“ Elaine blickte aus großen Augen zu ihm auf, gebannt. Er sah das Flackern von Angst und Sorge noch immer darin, entfernt, in den Hintergrund gerückt. „Das klingt beeindruckend.“ „Das war es auch. So beeindruckend sogar, dass Yvellahs frühere Schülerin sich zu erkennen gab. Sie war dem Ruf ebenfalls gefolgt, war in der Menge unerkannt geblieben. Da aber trat sie vor. Sie nannte eure Mutter eine Heuchlerin, eine üble Lügnerin. Doch statt sich von ihr zu einem Kampf provozieren zu lassen, ließ eure Mutter sie ausreden. Sah zu, wie sie näher trat, sich in Rage redete, fluchte, keifte, zeterte. Wie sie völlig unbewusst ihre Magie wirkte und all die Leute auf dem Platz niederknien ließ, ohne es selbst zu bemerken. Sie redete sich so sehr in Zorn hinein… bis sie zusammenbrach. Bis Tränen über ihre Wangen rannen. Sie forderte Ishara zum Kampf auf. Zum Angriff. Dass sie das klären würden, hier und jetzt, ein- für allemal. Aber eure Mutter verweigerte sich, die Waffe gegen sie zu heben. Auch sie war eine Schwester, erklärte sie. Und die Zeiten müssten enden, in denen der König uns dazu brächte, die Waffen gegeneinander zu heben. In denen er Angst und Zorn schürte und uns dazu brachte, den wahren Feind – ihn selbst – aus den Augen zu verlieren. Es war diese zweite, kleinere Rede, in der die Fassade von Yvellahs Schülerin restlos einbrach. Tränenüberströmt sank sie zu Boden und berichtete, wie die Wache gekommen war und ihren Bruder verschleppt hatte. Nicht mehr als einen Laib Brot hatte er gestohlen, damit sie beide nicht verhungern mussten. Jahre war das nun schon her, aber sie hatte nie aufgegeben. Nie aufgehört, zu hoffen, dass sie ihn eines Tages wiedersehen würde. Ihn finden und befreien würde. Als sie bei Yvellah in die Lehre ging, hatte sie gehofft, die großen Geheimnisse der Magie zu erlernen, um vielleicht kampffähig genug zu werden, damit sie die Krone angreifen könnte. Aber Yvellah hatte sich geweigert, ihr diese Rezepte zu geben. Ihr die wirkliche gefährlichen Geheimnisse anzuvertrauen. Weil ihre Schülerin von Zorn verzehrt war und die Meisterin das spürte. Also stahl sie die Formeln, experimentierte, übte. Eure Mutter war an diesem Tag besonnen und tapfer. Im Angesicht einer wirklich furchteinflößenden Macht hielt sie stand, gebrauchte ihren Kopf und kluge Worte, statt ihres Schwertes und ihrer Magie. Und statt einfach nur einen weiteren Feind besiegt zurückzulassen, gewannen wir eine wertvolle Verbündete. Denn letztlich waren unsere Ziele ein und dasselbe. Wir wollten den König zur Rechenschaft ziehen und jene befreien, die unter ihm litten, von ihm gefangen gehalten wurden.“ Anabelles Husten riss Thorin aus der Geschichte – und Elaine aus dem Bann, unter den er sie erfolgreich einmal mehr gebracht hatte. Elaine glitt mit eiliger Selbstverständlichkeit von seinem Schoß, während er sich auf das Bett setzte und Anabelle etwas aufhalf. Sie hustete… Blut. „Weck Eirik!“, wies Thorin das Mädchen rasch an. Die nickte beklommen und jagte sofort zum anderen Bett herüber, hastig und wild am alten Heiler schüttelnd. Binnen weniger Sekunden war der Heiler auf den Beinen, desorientiert, aber zumindest etwas erholter. Er trat zu Thorin herüber und nahm auf dem Schemel Platz. „Was passiert mit ihr?“, erkundigte sich Thorin gehetzten Blickes, die Panik sein eigenes Herz umklammernd, es in der Brust flattern und rasen spürend. Eirik dagegen seufzte erleichtert. „Das ist etwas Gutes“, erklärte er und begann mit den nächsten Gesten – offenbar jedoch, ohne Formeln zu verwenden. „Ich weiß, es mag nicht so wirken, aber das ist etwas Gutes. Sie erholt sich langsam. Ihr Körper regeneriert, passt sich an. Und ihre arkanen Ströme sehen auch schon viel besser aus.“ „Sie hustet Blut, verdammt nochmal!“, zischte Thorin leise und spähte zum zweiten Bett herüber. Er hatte Ishara und Alistair gesagt, versprochen, dass er sie wecken würde, sobald etwas wäre. Er gedachte sein Wort zu halten – sobald es ernst wurde. Das hier war möglicherweise dieser Moment. Nie hatte er davon gehört, dass es etwas Positives sei, Blut zu husten. Im Gegenteil. Üblicherweise bedeutete das für irgendwen das Ende. „Ich könnte dir die Zusammenhänge erklären, allesamt, Thorin. Aber du würdest sie ohne ein langwieriges Studium oder viele Jahre des Selbststudiums in meinen Büchern nicht verstehen können. Also hab Geduld und vertrau mir“, gab Eirik leise zurück, ruhig und bemüht, einen gefassten, freundlichen Eindruck zu erwecken. So, wie er sonst immer wirkte. Ruhig und freundlich. Thorin bemühte sich auch wirklich, sich darauf einzulassen. Leicht war es nicht. Inzwischen schien Frederick aller Mühen und Sorgen zum Trotz völlig eingeschlafen, während Elaine verblieb. Einmal mehr stand das Mädchen schreckensstarr im Raum. Thorin trat zu ihr herüber und hob sie an seine Brust. Sie klammerte sich fast unwillkürlich fest – als würde ihr Leben davon abhängen. Mit Elaine auf dem Arm setzte er sich wieder auf die Bettkante zu Ishara, Alistair und Frederick. Seitlich, sodass sie beide zu Anabelle sehen konnten – auch wenn Elaine es zunächst vorzuziehen schien, das Gesicht an seiner Brust zu vergraben und er genau spürte, wie ihre Tränen sein Hemd durchweichten. Diesmal musste sie nicht fragen, wie es weiterging. „Als wir in Samara unsere Angelegenheiten geklärt hatten, zogen wir nach Esgaroth weiter. Alistair blieb in Samara zurück, um Yvellahs Schülerin einzuweisen und zu unterrichten, um für Ordnung zu sorgen und die Kunde unserer zahlreichen Siege zu verbreiten. Wir kamen nach Esgaroth, weil wir den dortigen Elben hatten Bescheid geben wollen. Darüber, dass es Widerstand gegen die Krone geben würde. Dass wir uns formiert hatten. Und schon viele Siege errungen hatten. Damit sie uns auch glauben würden, dass wir eine Chance hätten. Aber wie das irgendwie inzwischen zu einer schlechten Tradition wurde, kamen wir an und die Probleme warteten schon auf uns.“ Thorin ließ sich Zeit. Oder vielmehr: Ließ Elaine Zeit. Die Geschichte zu erzählen würde nicht viel Sinn machen, wenn sie sich nicht darauf einlassen konnte. Und ob sie das konnte, würde sie signalisieren müssen. Irgendwie. Mehrere Minuten verstrichen, ehe ein leises, klägliches „Was war denn?“ kam. Er nickte. „Auf dem Weg nach Esgaroth kommt man durch Ilmwacht durch. Und wie du weißt, Eirik hat da früher sehr lange gewohnt. Damals beispielsweise war er noch dort der ansässige Heiler und half den Dörflern. Er war ein geachteter und respektierter Mann.“ „Anders als heute?“, erkundigte sich Eirik von der anderen Seite und lächelte schief. Thorin musste tatsächlich einen Moment schmunzeln. Völlig unwillkürlich. Geachtet und respektiert wurde der Heiler noch immer. Aber das waren vielleicht tatsächlich nicht mehr die Begriffe, die einem heute zuerst einfielen, wenn man an Eirik Halon, Meister des Zirkels der Magi dachte. „Er hatte uns von allerhand Kuriositäten erzählt. Beispielsweise von einem riesigen Sturmdrachen, der Esgaroth beschützen würde. Sein Körper bestand aus pechschwarzen Wolken, in denen ständig purpurfarbene Blitze zuckten und wo immer er lang flog, kribbelte die Luft und allen stellten sich die Haare auf und man bekam kleine Ladungen, wenn man etwas Metallisches berührte. Die Elben störte das natürlich wenig – bei denen ist ja das Meiste aus Holz oder anderen Pflanzen und Pflanzenteilen. Aber ich, naja. Die Lederrüstung hat Metallnieten und die Axt ist jetzt auch nicht gerade aus Porzellan gebaut. Stell dir also vor, wie ich durch den Sumpf marschiere und alle paar Schritte zusammenzucke, weil irgendein Teil meiner Ausrüstung mir schon wieder eine gewischt hat.“ Elaine lächelte. Er sah es natürlich nicht – sie hatte ihre Position nicht verändert. Sie sagte auch nichts, kein Wort. Aber er glaubte es dennoch irgendwie spüren zu können. Vielleicht aber war das auch einfach nur eine verzweifelte Hoffnung seinerseits… „Jedenfalls kamen wir an und mussten feststellen, dass ein paar der Elben durchgedreht waren. Warum? Ganz ehrlich, wir wissen’s bis heute nicht. Aber offenbar hielten sie es für eine brillante Idee, den Drachen zu seinem eigenen Schutz gefangen zu nehmen. Sie beteten ihn an, als wäre er ein Gott, in beeindruckend komplizierten Ritualen. Da fragt man sich, was? Ich meine, von uns kommt ja auch keiner auf die Idee, einen Gott gefangen zu nehmen. Aber das ist das Problem mit Wahnsinnigen – ihre Handlungen machen nicht wirklich Sinn. Und Kultisten, die sind wirklich die schlimmste Art von Wahnsinnigen. Und die Drachenkultisten erst! Furchtbar, wirklich. Natürlich war uns klar, dass wir was machen mussten. Wir konnten schlecht einfach zu den Elben gehen, sie zum Kampf gegen die Krone einladen und wieder gehen. Was haben wir also gemacht?“ Thorin wartete eine Weile, bis Elaine begriff, dass es keine rhetorische Pause war, keine Unterbrechung für dramatischen Effekt, sondern vielmehr eine kleine Probe, ob sie noch wach, da und gedanklich anwesend war. „Gegen sie gekämpft?“, erkundigte sie sich leise, unsicher. Ihre Zweifel waren völlig in Ordnung – seine Geschichten waren nicht sonderlich rational und damit schwer vorhersehbar. „So ähnlich“, erwiderte der Kahlkopf und strich ihr über den Rücken. Dabei warf er einen Blick zu Eirik hinüber, der mit neuen Formeln und Gesten begonnen hatte. Eine Magd schlich sich lautlos herein und positionierte den einhändig gegebenen Anweisungen Thorins folgend den Teller mit Eiriks Frühstück auf dem Nachttisch, beim Krug – der kurzerhand neu gefüllt wurde. Der Heiler war sogar so vernünftig, gelegentlich – wenn seine Zauberformeln und sein Gefuchtel mit den Händen das zuließ – ein Stück vom Teller zu klauben und nach und nach etwas zu essen, ohne, dass man ihn ermahnen oder regelrecht dazu nötigen musste. „Deine Mutter hat demonstriert, wie brillant sie ist. Gegen so viele Elben hätten wir nicht wirklich viel ausrichten können. Sie haben wirklich gute Ohren – deshalb sind die so lang!“, meinte er und zupfte kurz demonstrativ an Elaines nur geringfügig gespitzt zulaufendem Ohr. Wie erhofft wandte sie sich kurz, um dem zu entfliehen. „Sie haben auch wirklich gute Augen, weshalb man sehr schwer an ihnen vorbeischleichen kann. Und wenn man es versucht und erwischt wird? Da waren wirklich viele von denen und sie alle hatten Bögen, mit denen sie dank ihrer guten Augen und Ohren wirklich verdammt gut treffen konnten. Also nachdem das in Samara schon so gut funktioniert hatte, und in Ammarath ja auch schon, entscheidet deine Mutter sich für eine ganz verwegene Taktik: Sie redet mit den elbischen Drachenkultisten. Glücklicherweise war ihr Plan ein bisschen mehr als das, aber dazu gleich. Sie tritt also heraus aus unserem Dickicht, in dem wir uns angeschlichen haben – wohlgemerkt nicht sehr nah -, und tritt unter auf sie gerichteten Bögen ein gutes Stück näher. Dass man sie nicht sofort erschoss war das Risiko, was wir eingehen mussten und wir hatten wirklich Glück. Elben, selbst wahnsinnige Elben, schätzen das Leben sehr. Man verschwendet es nicht leichtfertig. „Ich bin Ishara Wyrmblut!“, ruf sie also über die Menge hinweg und allmählich drehen sich ihr auch tatsächlich alle zu. Viele holen ihre Rüstungen und Bögen und spannen Pfeile auf. „Und ich bin hier, um den Drachen von eurer Gefangenschaft zu befreien. Ihr huldigt einer falschen Gottheit, ihr macht ihn zu eurem unfreiwilligen Götzen und ihr haltet diese edle Kreatur gefangen wie geistloses Vieh! Besinnt euch eurer Wurzeln, besinnt euch der Größe eures Volkes, seiner Werte! Kehrt euch ab von diesem Irrsinn – oder ich werde gegen euch kämpfen müssen.“ Das war natürlich eine ziemlich eindrucksvolle Rede, aber trotz allem stand sie da allein herum. Die Elben blicken sich also etwas verwirrt um und einer fragt schließlich „Du und welche Armee?“ Sie nickt mir also zu und ich komme auch mal aus dem Busch heraus und stelle mich demonstrativ neben sie. Ein paar fiese Blicke zu denen, die nah dran stehen und sie weichen auch mit zittrigen Knien zurück. Du weißt schon, was ich meine – meine fiesen Blicke! Die Alistair immer mal wieder bekommt, weil er es einfach ständig übertreiben muss.“ Erst als Elaine nickte, gab er sich zufrieden und setzte fort. „Gut. Ich stehe da also neben ihr und ein paar bekommen durchaus Angst. Aber das sind ein paar von sicherlich hundert, vielleicht mehr! Was macht der Rest? Die tauschen kurz wieder verwirrte Blicke, ehe sie anfangen, zu lachen. Sie stehen da, die Bögen kampfbereit in der Hand und lachen uns aus. Und wir, wir tun erstmal gar nichts. Wozu auch? Denn unser Plan funktionierte ja wirklich prima. Und in genau diesem Moment ging er sogar ein Stück weiter auf. Alle waren so am Lachen, das sie abgelenkt waren. Dir ist sicher schon oft aufgefallen, dass nicht alle Hunde so klug sind wie Cyron, oder? Und das er wirklich, wirklich alt ist. Oder das deine Mutter gelegentlich mit Topfpflanzen redet und es denen tags darauf tatsächlich besser zu gehen scheint. Das liegt daran, dass deine Mutter wirklich gut mit der Natur ist. Mit Tieren und Pflanzen und dem Wetter. Es stimmt schon, wir waren in Esgaroth neu und hatten dort noch keine Verbündeten, die wir zur Hilfe hätten holen können. Und unsere ganzen Freunde und Kameraden waren in Samara. Selbst in Ilmwacht, was immer noch viele Tage weit weg war, hatten wir nur ein paar wenige Bekannte. Wir und welche Armee also? Naja, Elben bauen ihre Städte in Wäldern und Esgaroth folgt dieser Tradition. Ein sumpfiger Wald, aber nichtsdestotrotz ein Wald. Er war also wirklich voller – und ich meine voller – Nagetiere. Von Biebern über Eichhörnchen, alles war dabei. Ishara hatte die Kunde im Tierreich verbreitet, dass es ein großes Festmahl gäbe – sie würde es persönlich für sie zusammentragen – wenn sie ihr hierbei helfen würden. Also fanden sich all die Nager des Waldes und Sumpfes und sogar einige Vögel wie Spechte. Die meisten waren völlig unbemerkt bis zum Drachen gekommen. Der Wald war lebendig und voller Tiere, natürlich beachteten die Elben sie nicht weiter. Aber als alle über Ishara zu lachen begannen? Da begannen die Tiere, die Seile zu durchtrennen.“ Elaines Kichern, wenngleich leise und verhalten, deutete bestens an, dass sie begriff, worauf das hinauslief. „Ein paar lachten natürlich nicht so sehr wie andere. Es gibt immer welche, die ernster sind, humorlos. Die bemerkten auch, dass was nicht stimmte und was die Tiere da machten. Aber wie ich schon sagte: Elben verschwenden Leben nicht einfach so. Also versuchten einige von denen, ihre Kameraden darauf aufmerksam zu machen, aber egal wie laut sie brüllten, die anderen lachten noch lauter. Und wieder andere versuchten, die Tiere zu verscheuchen, magisch zu manipulieren oder auf sie einzureden. Aber was Ishara ihnen da für ein Festmahl versprochen hatte, war einfach zu groß und verlockend, um sich wegschicken zu lassen! Und so kam es, dass der Drache befreit wurde. Das Biest richtete sich auf und ließ ein gewaltiges, durch Mark und Bein vibrierendes Brüllen hören. Und da hörten dann wirklich alle zu lachen auf, als ihnen klar wurde, das Ishara gar keine Armee brauchte. Sie hatte einen Drachen auf ihrer Seite.“ Thorin stockte, als Eirik mit seinen Formeln und Gesten aufhörte. Der alte Heiler stand auf, zog den Schemel etwas an die Wand und setzte sich wieder, nachdem er sich Teller und Krug vom Nachttisch geholt hatte. Er frühstückte die verbliebenen Reste in aller Ruhe und auf Thorins fragenden Blick hin nickte er lächelnd. „Sie wird sich vollständig erholen“, erklärte er. Dem Kahlkopf fiel ein Stein vom Herzen. So groß und schwer, dass er überrascht war, nicht davon zerquetscht worden zu sein. Er nickte verstehend und an eben jener Stelle schien auch Elaine erleichtert aufzuatmen. Ihr zittriger Atemstoß traf gegen sein Schlüsselbein und sie lehnte die Stirn nach wie vor gegen seine Schulter, aber auch ihrem Körper war anzumerken, wie die seit Stunden konstante Anspannung allmählich wich. „Wie ging es aus?“, erkundigte sich das Mädchen nach ein paar Minuten leise. „Mit einem Festmahl natürlich. Deine Mutter hält immer ihr Wort. Immer. Wenn sie also sagt, das etwas wieder gut werden wird? Dann glaub ihr besser – sie wird alles tun, damit es wieder gut wird. Damals sind wir dann losgezogen und haben den Wald abgesucht, nach Nüssen und Früchten. Wir haben sogar Hilfe vom Drachen bekommen. Der war natürlich zu groß, um mit uns sammeln zu gehen, konnte uns aber sagen, wo wir die besten Gebiete fanden und was schon reif war. Es war wirklich ein lustiger Anblick, dieser riesige Berg, den wir da zusammengetragen hatten und dann diese Heerscharen an Nagern, die sich darüber hermachten und binnen einer Stunde nicht den kleinsten Krümel davon übrig ließen, bevor sie sich wieder in den Wald davon machten. Mit den Elben Esgaroths zu reden erwies sich wiederum als ziemlich unproblematisch. Sie hatten das Geschehen verfolgt und waren nicht nur davon beeindruckt, wie Ishara das Problem gelöst hatte, sondern auch davon, wie gut und stark ihre Naturmagie war. Das ist ja etwas, das Elben generell sehr schätzen. Und niemand war zu Schaden gekommen – das war natürlich ein großer Bonus. Also gab man uns in Esgaroth dann sogar ebenfalls eine kleine Feier.“ „Du hast vergessen, Caerwen zu erwähnen“, kam eine leise Stimme von der anderen Seite. Thorins Blick schweifte von Halon und Anabelle herüber ins Dunkel und er brauchte einen Moment, ehe er Ishara dort liegen sah, noch immer von ihrem schlafenden Gatten umfangen und noch immer ihren ebenso schlafenden Sohn an sich gedrückt. Thorin nickte leicht. „Mag sein. Das kommt dann in der nächsten Geschichte. Esgaroth, Teil zwei. Sozusagen.“ Ishara nickte schwach und machte Anstalten, sich aufzurichten und aus dem Knäuel an Gliedern zu lösen. Etwas, wovon Thorin sie mit einem Kopfschütteln abhielt. „Lass“, meinte er leise, „Es ist alles gut. Anabelle schläft und Halon ist mit der Arbeit fertig. Sie krampft schon seit Stunden nicht mehr und er meinte, sie würde sich in den nächsten Stunden gut und vollständig erholen.“ Erst nach der Erklärung wich die Spannung aus Isharas Muskeln und sie ließ sich tatsächlich wieder sinken. Erleichtert atmete sie tief durch und drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. Sie rang sich sogar ein Lächeln ab. Schwach und müde, noch immer erschöpft, aber zumindest zutiefst ehrlich. „Das ist gut.“ Thorin nickte geistesabwesend. Sein Blick wiederum hatte begonnen, zurück zu Eirik schwenken zu wollen und war unweigerlich auf der anderen Raumseite an jenem vierten Bett hängen geblieben. „Junge oder Mädchen?“, erkundigte er sich schmunzelnd. Selbst im Dunkel konnte er sehen, wie Ishara errötete. Es war wundervoll und er wurde dieses Anblickes nie müde. Etwas, das auch Alistair immer wieder betonte. „Eirik meinte, es würde wohl ein Mädchen werden. Aber sicher sein könne man sich so früh noch nicht.“ Thorin grinste schief. Also drei Mädchen und ein Junge. Frederick wusste nicht, was für eine Hölle ihm da blühte. Dann wiederum, es gab Beispiele, in denen das gutgehen konnte. „Seit wann weißt du’s?“ Ishara bemühte sich, sich genau zu erinnern, konnte jedoch in all dem watteweichen Chaos aus entkräfteter Sorge und Erleichterung nur bedingt klar denken. „Eine Woche? Ungefähr?“ Er nickte. Ein viertes Kind. Ob sie sich das so gut überlegt hatten? Bisher schienen Alistair und Ishara bemerkenswert gut mit drei Sprösslingen zurechtzukommen, ohne völlig überfordert zu sein. Aber da hatten sie auch den Luxus, eine vollständige Dienerschaft im Haushalt zu haben, Aufgaben delegieren zu können… nun, dieser Komfort würde auch weiterhin erhalten bleiben. Es war einfach grundsätzlich schwer abzuschätzen, ob sie damit noch zurechtkämen oder nicht. Aber selbst für den Fall, dass sie überfordert wären. Thorin und Ninafer hatten selbst noch mehr als genug Platz und Zeit, nun, Zeit würde sich schaffen lassen. Sollten die Adligen eben die ausschweifenden Vorreden weglassen und mal ausnahmsweise auf den Punkt kommen. Generell eine gute Idee: Jeder Bittsteller bekam nur noch eine bestimmte Anzahl an Minuten Zeit, um sich zu erklären. Er würde bei Garwinn mal eine Uhr für die Thronhalle in Auftrag geben müssen… „Habt ihr euch schon einen Namen überlegt?“, prüfte Thorin derweil weiter. Ishara verzog leicht das Gesicht. Der beste Indikator dafür, dass es offenbar ein noch offenstehendes Thema war, bei dem eine gewisse Uneinigkeit herrschte. „Nicht… nicht wirklich, denke ich. Ursprünglich hatten wir unseren Favoriten, aber dann kam Caerwen auf die Idee, das es auch ein elbischer Name sein könnte. In Ehrung meiner Wurzeln und all das. Und seither ist das ein schwieriges Thema geworden. Alistair wählt die Namen nach Klang aus und… und du würdest dich wundern, was für hundsmiserable Bedeutungen manche der am schönsten klingenden, elbischen Namen haben. Ich werde meiner Tochter gewiss keinen Namen geben, der impliziert, dass sie flatterhaft ist!“ „Was heißt das?“, erkundigte sich Elaine und just in diesem Moment lief Ishara wieder hochrot an. Sie hatte völlig vergessen, dass ihre Tochter sehr wahrscheinlich zuhörte. „Das… erkläre ich dir später“, vertagte Ishara seufzend die Problematik zu nächst einmal. „Und was war euer Favorit, bevor Caerwen auf ihre brillante Idee kam?“, hakte Thorin nach, um das Thema nicht völlig aus den Augen zu verlieren. „Emilia.“ Thorin nickte, wog den Namen einen Moment in Gedanken. „Klingt hübsch. Vielleicht solltet ihr darauf verzichten, den Namen eures Kindes rituell der elbischen Kultur zu opfern, und den Frieden in eurer Ehe gleich mit, hm? Ihr wart euch einig, bis jemand, der dazu nun wirklich nichts zu sagen hat, was dazu sagte. Also ignoriert es einfach.“ Ishara seufzte und setzte bereits zu Widerworten an. Warum das nicht so einfach sei und das er es doch wirklich besser wissen müsse, als Caerwen herauszufordern. Statt jedoch einen Kampf schlagen zu wollen, der nicht zu gewinnen war, besann sie sich und lächelte Thorin auf jene Weise an, die ihn rasch alarmierte, vorsichtiger zu sein. „Wie sieht es bei euch aus? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit nur einem Sprössling schon glücklich und zufrieden bist. Nicht, wenn ich jedes Mal wieder sehe, wie du dich bei uns einmischst und meine Kinder verziehst, allesamt.“ Der Hüne lächelte schief. „Ich verziehe sie nicht – ich helfe nach, dass sie ihren großen Idealen näher kommen. Euch. Also wenn sie auf dich verzogen wirken, dann ist das ein Spiegel für dich und du solltest wirklich mal darüber nachdenken…“ In einem Anflug demonstrativen Erwachsenseins streckte Ishara ihm die Zunge heraus, ihr zweifellos gewichtigstes Argument, und hatte im unmittelbaren Anschluss kurz mit Elaine zu kämpfen, als die versuchte, sich auf Thorins Seite springend einzumischen, das er ja einen guten Punkt hätte… „Aber um deine Frage zu beantworten – wir haben darüber nachgedacht, ja, und versuchen es auch wieder. Ein Sohn, darauf haben wir uns schon geeinigt.“ Ishara lachte leise auf. „Darauf geeinigt? Ach so funktioniert das? Wieder ein Geheimnis des Lebens, dass du mit mir zu teilen versäumt hast…! Und, wie soll er heißen?“ Thorin schmunzelte und setzte Elaine auf dem Bett ab, um sich etwas bequemer hinzusetzen. „Im Rennen sind aktuell noch drei. Alexander – wie der Held in Molly Oberweite. Bertram – wie irgendein Vorfahre Ninafers. Oder Nathenial – wie… kompliziert. Der… uff… der Bruder des Vaters einer früheren Flamme. Wirklich, ich habe den Namen nur gewählt, weil er hübsch klingt. Scheint also so ein Männerding zu sein.“ Ishara nickte nachdenklich. „Ja, scheint so. Bertram klingt scheußlich, wirklich. Und Alexander klingt zwar gut, aber der Name kommt unglaublich oft vor und ihr wollt eurem Sohn bestimmt niemals erklären, warum er diesen Namen hat… wo er her kommt.“ Thorin zuckte mit den Schultern. „An dem Punkt sind wir noch nicht, noch lange nicht. Erstmal… eins nach dem anderen.“ Und mit jenen Worten half er Ishara langsam und vorsichtig aus der Umklammerung heraus. Frederick wachte nicht auf, Alistair ebenso wenig – der einstige Langfinger schlang lediglich sich kurz regend den Arm um seinen Sohn und ruhte weiter. Ishara dagegen entschlüpfte geschickt und trat zum anderen Bett herüber. Nachdem sie sich wortlos fragenden Blickes bei Eirik versichert hatte, schlüpfte sie zu Anabelle ins Bett und zog ihre Jüngste an sich. „Ich bin so unendlich froh, dass es dir gut geht…“ Thorin setzte sich ebenfalls dazu, nahm Isharas Hand und wartete ab. Minuten zogen dahin, wurden zu einer Stunde, dann zu zwei. Es schien eine gefühlte Ewigkeit zu sein, bis Anabelle kaum merklich die Augen öffnete. Sowohl Eirik, als auch Thorin und Ishara wäre es völlig entgangen, hätte das Mädchen nicht jene eine Frage gestellt, die Ishara und Thorin leise auflachen ließ. „Kann ich ein Eichhörnchen haben?“ Kapitel 58: Jäger ----------------- Es gab Tage, an denen kam es Thorin so vor, als wurde das Treppenhaus immer länger und höher. In völliger, böswilliger Absicht, zweifellos. Denn zufällig waren es zumeist eben jene Tage, an denen er mehr als erschöpft war, froh, einfach nur noch vor seiner Wohnungstür zu stehen, den Schlüssel im Schloss zu drehen, die Tür kurz darauf hinter sich schließen und die Welt eine Weile einfach nur die Welt sein lassen zu können. Die moderate Bescheidenheit eines eigenen sicheren Hafens genießen – und derer, die man darin als Familie versammelt hatte. Aber diese verdammten Stufen wurden immer mehr. Er hätte schwören wollen, dass sie sich vermehrten. Nur, um ihn noch etwas länger von jener Tür fern zu halten. Verdammte kleine- „Hey Dad!“ Die Stimme riss ihn abrupt aus dem grollenden, drohenden Unwetter, das sich über seinem Kopf zusammenbraute. Noch ehe er sich hatte umwenden können, sprang ihn Ishara regelrecht von hinten an. Ein paar gut gezielte Akrobatik- und Tanzkurse vor ein paar Jahren sorgten selbst heute noch, nachdem sie das Interesse daran verloren und sich längst anderen Feldern zugewandt hatte, dafür, dass sie mühelos tatsächlich auf seinen Rücken aufspringen konnte. Von Thorin wurde dagegen erwartet, dass er der Rolle gerecht wurde, die er stets nach außen abstrahlte: Der unbewegliche Fels zu sein, der nicht wich, nicht nachgab. Also bemühte er sich mit einem raschen Griff zum Geländer, sich zusätzliche Stabilität zu verschaffen und balancierte das unerwartete Gewicht aus. „Hey, Grashüpfer“, erwiderte er den Gruß. Mit der freien Hand tastete er blindlings hinter sich, auf der Suche nach ihr. „Kalt“, kam es beim ersten Versuch, „Warm… wärmer… urgh… das war mein Mund…“ Grinsend nickte er und strich ihr über die Haare. „Toll, jetzt hast du meinen Sabber in meiner Frisur verteilt. Wenn ich vor dem Essen noch duschen gehen muss, dann ist das nur deine schuld!“ „Das solltest du sowieso“, erklärte er ungerührt. „Deine schuld!“, wiederholte sie leise in sein Ohr flüsternd. Mit einem Lächelnd schüttelte er den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Obwohl er nun wirklich ein nicht unerhebliches Zusatzgewicht trug, kam ihm das Treppenhaus doch nicht mehr ganz so endlos vor. „Wie war dein Tag?“, hakte Ishara nach der ersten Biegung nach. Thorin erwog kurz seine Antwort, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Gleich.“ Sie nickte und legte ihr Kinn auf seiner Schulter ab, schwieg sich aus, bis sie endlich vor der Tür ankamen. Eine hübsche Plakette, vergoldet, zeichnete die Nummer 42 aus. Ishara glitt von seinem Rücken und tat es ihm darin gleich, sich die Schuhe auszuziehen. Der Kahlkopf brauchte einen Moment, die verdammten Schlüssel zu finden, aber kurz darauf kamen sie herein und konnten die Schuhe auch im zugehörigen Regal abstellen. Ein wundervoller Duft hing in der Luft. Wildbraten, vermutlich mit einer schweren Soße, Kartoffelbrei, Gemüse, leicht angebraten, scharf gewürzt. „Ich bin duschen!“, meinte Ishara hastig und jagte den Korridor herab. Thorin dagegen lehnte sich kurz mit dem Rücken an die Tür, sog den Duft tief in die Lungen, die Augen geschlossen, und seufzte. Er hatte Ninafer nicht einmal näher kommen hören. Sie schlang scheinbar aus dem Nichts die Arme um seinen Hals – was für sie schon ein nicht unerhebliches Unterfangen war, schließlich war sie etwas kleiner als er – und zog ihn zu einem Willkommenskuss herab. „Essen ist gleich fertig“, säuselte sie ihm leise ins Ohr. Sie wusste genau, was das mit ihm tat. Und nur zu gern hätte er sie fest bei den Schultern gepackt und an die Wand gedrückt, um-… nun, stattdessen wurden seinen müden Geistern etwas neues Leben eingehaucht und er grinste wie der verliebte Schuljunge, als der er sich dank ihrer stets präzise gezielten Methoden immer mal wieder fühlte. „Ishara ist duschen gegangen. Kann also ein, zwei Stunden dauern“, übertrieb er lächelnd, „Wir hätten also alle Zeit der Welt, wirklich…“ Sie bemühte sich um einen tadelnden Blick, doch der Schalk in ihren Augen und das Grinsen waren einfach zu verräterisch. „Du weißt doch, warum es Nachtisch heißt…!“, säuselte sie abermals und schenkte ihm einen Kuss. Er nickte, legte den Arm um ihre Taille und zog sie enger an sich. Dass seine Hand da eventuell etwas tiefer wanderte und sich ihres Hinterns erfreute, das mochte reiner Zufall sein und wirklich, sie wehrte sich ja auch nicht, also war das gewissermaßen… die Vorspeise. Thorin seufzte wohlig. Warum konnte es nicht immer so sein. „Eklig, Leute! Nehmt euch’n Zimmer!“, hallte es halb kichernd von der anderen Seite des Flurs. „Haben wir, Liebling, du stehst drin!“, schoss Ninafer Thorin angrinsend zurück. „Genau genommen sind das alles unsere Zimmer“, ergänzte der Kahlkopf schmunzelnd. „Ja, ja, ja – sagt ruhig, wenn ihr mich loswerden wollt! Wisst ihr, was Wohnungen hier kosten?!“, setzte Ishara ihre Tirade fort. „Sie würden weniger kosten, wenn du nicht einen überdimensionierten Spielplatz in ausgerechnet dieser Gegend suchen würdest“, erwiderte Ninafer und wusste – sehr genau sogar -, dass damit der Punkt erreicht war, an dem unweigerlich Thorin die Seiten wechseln würde. In drei… zwei… eins… „Die Gegend ist gut. Vor allem ist sie sicher. Sie muss nur endlich mal lernen, dass sie als Einzelperson nicht so verdammt viel Raum braucht, wie sie denkt. Es dauert einfach noch etwas, die richtige Wohnung für sie zu finden. Das kommt schon noch.“ Pünktlich und zuverlässig wie ein Uhrwerk. „Wenn es nach dir geht, würde sie nie ausziehen – denn wo ist sie sicherer als hier, hm?“, flüsterte Ninafer lächelnd und strich ihm über die Brust, ehe sie sich löste. „Komm, mach dich ins Bad, ich tische auf.“ Er nickte und verschwand wie angewiesen. Dort konnte er sich auch endlich des restlichen Ballastes entledigen und in ganz normale, alltägliche Kleidung schlüpfen. Fort mit der verdammten Uniform – zumindest bis morgen. Etwas Wasser im Gesicht wirkte zusätzliche Wunder und der Blick in den Spiegel war nicht mehr ganz so fürchterlich wie bei Feierabend. Dann wiederum hatte er inzwischen auch besser verdaut, was kurz vor Feierabend geschehen war. Er war Abteilungsleiter. Wenn der Boss einen reinbestellte, dann üblicherweise aus einer sehr überschaubaren Anzahl an Gründen. Da er sich nicht vorstellen konnte, dass es um eine Beförderung ging, konnte es möglicherweise um eine Degradierung gehen. Oder generell Beschwerden – mal wieder. Aus seiner eigenen Sicht machte Thorin seinen Job gut. Mehr als gut. Er bekam Fälle auf den Tisch, er stellte Teams zusammen, die sich darum kümmerten, er griff gelegentlich selbst ein und am Ende des Tages, der Woche oder wie lange es auch dauern mochte, da hatten sie Ergebnisse. Er war nun schon einige Jahre in dieser Position und bislang war ihnen noch kein Fall untergekommen, den sie zu den ungelösten Akten hatten legen müssen. Zugegeben, seine Methoden waren mitunter etwas… rabiat. Und wenn jemand wirklich damit durchziehen würde, könnte man ihn vermutlich anzeigen und vor Gericht gewinnen. Was hässlich ausgehen würde. Aber Thorin war nicht dumm – er ließ die Leute wissen, dass er vielleicht hart durchgriff, aber eben auch Ergebnisse brachte. Es gab Statistiker, die seinen Job dadurch erleichterten, mit schicken Zahlen und Diagrammen um sich zu werfen, die belegten, dass er seinen Job besser machte als sein Vorgänger. Er sorgte in seinem Distrikt für Ruhe und Ordnung, auf täglicher Basis. Nun, so gut das bei einer Großstadt eben möglich war. Sein Vorgesetzter war jedoch nicht allzu begeistert. Mehr besorgt um sein öffentlichkeitswirksames Auftreten und den Ruf der Abteilung als tatsächlich darum, ob Fälle auch gelöst wurden. So kam es Thorin jedenfalls immer mal wieder vor, wenn er hereinbestellt und ihm lange Reden gehalten wurden. Aber er hatte diese Karriere nicht eingeschlagen, um das hübsche Gesicht der Ordnungshüter zu werden oder den Einflussreichen die Hand über kleinen Häppchen auf sozialen Anlässen schütteln zu können. Heute jedoch hatte sein Boss sich um ihn Sorgen gemacht. Zumindest war das, was er angeführt hatte. Der neue Fall würde ihm möglicherweise zu sehr zusetzen. Andere hätten bereits bemerkt, dass ihm diese Kiste an die Substanz ginge. Das bedeutete für Thorin vor allem eins: Irgendein Wiesel aus seiner Abteilung hatte gepetzt. Was wiederum hieß, dass er jetzt nicht nur einen schwierigen Fall lösen, sondern auch noch einen Verräter in den eigenen Reihen jagen musste. Und obwohl das alles ziemlich nach zusätzlicher Arbeit für eine ohnehin schon anstrengende Zeit sprach, war es ein kleiner Randkommentar, der ihm irgendwie mehr zu schaffen machte. „Die zuständigen Ermittler haben vielleicht eine neue Spur in Isharas Fall“ – es war solch ein harmloser Satz und wirklich, er sollte etwas Positives ausdrücken. Aber inzwischen wusste Thorin nicht mehr, ob er das überhaupt wollte. Ob er überhaupt noch wissen wollte, woher Ishara wirklich kam, wer ihre tatsächlichen Eltern waren, wer es fertig brachte, dieses süße Bündel einfach irgendwo auszusetzen. Noch weniger wollte er wissen, ob diese Personen irgendwann kontaktiert werden würden – oder schlimmer noch, ihn zu kontaktieren versuchen könnten. Er hatte sich mühsam seine Familie aufgebaut und hielt sie mit aller Kraft zusammen. Das war mal mehr, mal weniger anstrengend. Er wollte inzwischen keine Einflüsse von außen mehr, nicht einmal Informationen zu diesem speziellen, laufenden Fall. Und inzwischen hatte er die Situation und den Gesprächsverlauf genug überdenken können, dass ihm der abrupte Themenwechsel auffiel. Vielleicht war das generell nur aufgebracht worden, um ihn aus der Bahn zu werfen. Vielleicht hatte sein Chef prüfen, mit eigenen Augen sehen wollen, ob ihm der aktuelle Fall zu nah ging. Hatte er sich gut geschlagen oder nicht? Es fiel ihm schwer, das zu beurteilen. „Scheiß drauf“, raunte er entschlossen seinem Spiegelbild zu, wusch sich nochmals das Gesicht und kam ins Esszimmer herüber. Es roch köstlich, sah köstlich aus und seine zwei verrückten Hühner hatten sich auch schon am Tisch niedergelassen und schwatzten. Offenbar war es Ishara gelungen, einen Taschendieb zu erwischen, der sich wirklich geschickt angestellt hatte und sie prahlte regelrecht voller Stolz mit ihrem Fang des Tages. Für Thorin war das immer schon ein zweischneidiges Schwert gewesen. Üblicherweise bemühte er sich darum, an ihrer Freude teilzuhaben, ihren Enthusiasmus zu begrüßen. Sie folgte ihm, eiferte ihm ein Stück weit nach, das wusste er nur zu gut. Sie tat so einiges im Grunde nur für ihn. Nicht unbedingt die gesündeste Einstellung, aber noch hatte er die Hoffnung, dass sich das früher oder später verlieren würde. Irgendwann würde sie einsehen, dass er nicht so makellos war, wie sie glaubte – oder? Gelegentlich wurde ihm schwindlig davon, wie hoch das Podest sein musste, auf das sie ihn stellte. Er war ihr Held, unangefochten. Aber das hieß auch, dass sie ausgerechnet eines der gefährlicheren Berufsfelder gewählt hatte. Damals, vor vielen Jahren, hatte er ihr das begreiflich zu machen versucht. Dass es undankbare Arbeit war. Gefährliche Arbeit. Nicht nur, weil Kriminelle sich so gut wie immer wehrten, sondern auch, weil mit der Position ganz eigene Herausforderungen kamen. Rote Ampeln ignorieren, Taschenkontrollen durchführen, jemanden in Untersuchungshaft stecken – man bekam ein ganzes Repertoire an Möglichkeiten mit der Uniform gestellt, die einfach gelegentlich… verlockend waren. Und es gab dort draußen Leute, die es darauf anlegten. Darauf, zu demonstrieren, wie korrupt und von Macht korrumpiert die Ordnungshüter der Stadt waren. Früher oder später begegnete jeder von ihnen dem einen oder anderen von denen. Und dann war der Punkt gekommen, an dem man sich fragen lassen musste – und auch sich selbst fragen musste -, wieviel davon der Wahrheit entsprach. Wie weit man sich wirklich hatte verdrehen und verführen lassen. Ishara, ganz das gute Kind, das nicht enttäuschen wollte, hatte lange und intensiv darüber nachgedacht. Thorin hatte einige Narben. Stichwunden, Schusswunden, gerichtete Knochen von üblen Schlägereien. Das konnte ihr auch alles blühen. Doch am Ende hatte sie sich entschieden, diesen Weg zu beschreiten, allem zum Trotz und er, nun, er war nicht begeistert gewesen – aber was hätte er da noch sagen sollen? Er hatte nicht von vorn herein ‚nein!‘ gesagt, sondern ihr Optionen gelassen, wie sie seine Zustimmung erlangen konnte. Sie war genau diesen Weg gegangen, also wäre Ablehnung im Nachgang im Grunde wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Das konnte und wollte er ihr nicht antun. Und wirklich, sie erwies sich bislang ja auch als pfiffig und gescheit. Sie hatte eine gute Intuition, was Leute und deren Motive anging. Sie spürte einfach, wann ihr jemand die Taschen voll zu lügen versuchte. Das hielt ihn nur nicht davon ab, ihr ungefährlichere Aufgaben zuzuschieben, wenn es sich anbot. Immerhin arbeitete sie in seinem Distrikt, unterstand damit seinem Kommando. Wenn er sagte, sie würde wieder losziehen und Parktickets kontrollieren, dann konnte sie zwar Beschwerde einreichen… aber solche Dinge hatten sie bislang stets untereinander geklärt. „Er sieht müde aus“, merkte Thorin an, als er sich dazu setzte und sein Blick unweigerlich in die Ecke fiel. Auf seiner dicken, flauschigen Decke lag Cyron, auf schmerzhaft aussehende Weise zusammengerollt und blinzelte träge in ihre Richtung. Ninafer grinste. „Meinte Ishara auch schon. Es gab beim Kochen einige Reste und ich habe mich möglicherweise etwas damit verschätzt, wieviel er verträgt. Futterkoma, würde ich behaupten.“ Thorin nickte grinsend. „Deine fachliche Meinung?“ „Definitiv“, erwiderte sie sofort mit einem Nicken. „Gut, also: Alle sind da, Essen ist da, guten Appetit und so – was hat’s mit dem Fall auf sich?“, drängelte Ishara subtil wie eh und je. Thorin verzog das Gesicht und nahm ein paar erste Bissen. Es war, ganz wie erhofft und erwartet, köstlich. „Wirklich gut…“, merkte er breit lächelnd in Richtung der Köchin an. Die nickte zufrieden und begann selbst ebenfalls. Nur das Ishara eben auch ein klein wenig ungeduldig war. „Na falls du nicht willst, kann ich auch von Alistair vorschwärmen?“ „Nein!“, kam es da abrupt von Thorin. Und wie erwartet grinste Ishara ihn breit an. Oh wie er das hasste. Dieser naseweise Bengel war nur ein paar Jahre älter als sie und damit ebenfalls noch nicht lange im Dienst, hatte aber schon zwei Abteilungswechsel durchgemacht. Er war noch keinen Monat in seiner Abteilung und sorgte schon für… für Unruhe. Soweit er sich das hatte sagen lassen, ein humorvoller junger Mann – und genau da lag das Problem. Er nahm die Dinge einfach nicht so ernst, wie ihnen gebührte. Sie hatten hier eine schwierige, wichtige Aufgabe. Streiche unter Kollegen waren angesichts dessen einfach unpassend! Selbst er, der definitiv kein Interesse daran hatte, wie seine Arbeit auf die Öffentlichkeit wirken mochte, wusste doch genau zu sagen, wie die Presse wohl reagieren würde, fände die je heraus, dass an diesem einen Morgen auf dem Tisch des zuständigen Ermittlers eine Akte mit der Notiz lag, das sich neue Informationen ergeben hätten – nur um dann im Inneren diverse Bilder eines Clowns aus irgendeinem aktuellen Horrorfilm zu enthalten, zusammen mit ein paar Notizen, die Zusammenhänge zwischen ihm und dem Fall herzustellen versuchten, die einfach nicht da waren. Sicherlich, alle hatten es witzig gefunden. Thorin dagegen sah die Hinterbliebenen der Opfer mit dieser Pressemeldung konfrontiert und stellte sich vor, wie begeistert und amüsiert die wohl davon gewesen wären. Alistair war umgänglich, aber hatte offenkundig Schwierigkeiten, tiefergreifende soziale Kontakte aufzubauen. Trotz seines angeblichen Charmes und vier Wochen Zeit hatte er bislang noch keine wirklichen Freunde im Revier gefunden und der engste Kontakt, den er hatte, war ausgerechnet seine Tochter. Was auch immer Ishara an diesem selbsterklärten Komiker fand. Seufzend wischte der Kahlkopf sich über das Gesicht und sah zu ihr auf. In ihren tiefblauen Augen blitzte der Schalk. Vielleicht war das der Grund – sie hatten beide die Neigung, ihm Nerven zu rauben, wenn sich eine gute, amüsante Gelegenheit bot. Aber eher würde er sie auf dem Laufenden halten als sich anschauen, wie sie in überschwänglicher, übertriebener Manier spontan Liebesgedichte auf einen Kerl zusammenbaute, den sie kaum kannte. Das wiederum war einfach nur gruselig. „Der Fall nimmt allmählich unbequem große Ausmaße an. Ich bin deshalb letzte Woche selbst mit eingestiegen und habe ihn übernommen.“ Wie erwartet wurde Ishara rasch ernster. Sie ging in den Arbeitsmodus über – obwohl das wirklich, wirklich nicht ihre Arbeit war. Dann wiederum hatte es ihnen dann und wann schon weitergeholfen, sich gegenseitig Fälle, deren Eckdaten und Entwicklungen zuzuwerfen, um neue Blickwinkel zu bekommen. „Wir haben inzwischen fünf Opfer, vier davon tot. Dem Fünften fehlt der linke Lungenflügel, er hangt an Maschinen. Die anderen vier sind zu spät aufgefunden worden - der Täter hatte Zeit, sie im Grunde vollständig auszuschlachten. Das Labor sagt, dass die Klinge, die für die Prozedur verwendet wird, speziell behandelt sein muss. Verschiedene Chemikalien.“ Ishara gluckste kurz auf. Thorin hielt inne, sah auf und bemerkte, wie sie zu Ninafer herüber spähte. Ihrem Blick folgend, wirkte auch Ninafer… amüsiert? „Du weißt schon“, begann Ishara lächelnd, „dass ‚das Labor‘ am Tisch sitzt und dir gerade dein Lieblingsessen gemacht hat?“ Thorin seufzte. Das war das Problem mit der Professionalität. Früher oder später flog die unweigerlich zum Fenster raus – spätestens, wenn man zu viel davon in engen Kreisen versammelte. „Sie ist nicht das Labor, sie ist eine Chemikerin im Labor“, wies Thorin an. „Nein“, widersprach Ishara kopfschüttelnd, „Sie ist die Chemikerin im Labor! Komm schon, die anderen sind doch alles Nulpen, die können nichts und wären ohne sie völlig aufgeschmissen.“ „Aw, das war lieb“, meinte Ninafer lächelnd und strich Ishara kurz über den Unterarm. Danach wanderte ihr Blick zu Thorin. „Da hörst du’s, ich bin die Chemikerin!“ Sie nickte ernst, bekräftigend, und endlockte ihm damit ein Seufzen. „Fein. Deine Mutter meint, dass verschiedene ungewöhnliche Chemikalien benutzt worden sind, um die Klinge irgendwie zu präparieren. Für die Organentnahme selbst ist das nicht sinnvoll oder nützlich, im Gegenteil – der Täter muss dann umso schneller arbeiten, weil einige der Stoffe Vergiftungen hervorrufen könnten. Wir sind aktuell am Überlegen, ob wir Hunde dazu ziehen. Ein paar der Chemikalien sind ungewöhnlich genug, das man vielleicht danach suchen lassen könnte.“ „Hast du schon wegen Cyron überlegt?“, warf Ishara abermals dazwischen, „Ob er zur Hundestaffel kann? Er würde sich bestimmt gut machen! Ich meine, er ist ziemlich groß und clever…“ Thorin seufzte gedehnt. Es gab eine bestimmte, kleine Auswahl an Themen, die stetig wiederkehrten. Egal, ob sie abgeschlossen worden waren, oder eben nicht. Cyron war für die Hundestaffel nicht tauglich. Ein von der Straße aufgelesener Mischling in seinem Alter, das konnte einfach nicht funktionieren. Aber irgendwie schien sich Ishara den Gedanken nicht aus dem Kopf schlagen zu können, dass sie alle – die gesamte Familie, bis hin zum Hund – im gleichen Feld tätig sein könnten. Denn bislang lag Cyrons Hauptaufgabe darin, Reste der Essenszubereitung zu vernichten, sich von Ishara kraulen zu lassen oder zu auserwählten, seltenen Gelegenheiten sich so zwischen Thorin und Ninafer ins Bett zu legen, das der Krieger am Ende hinausrutschte und unsanft landete. Vermutlich mochte sie einfach den Gedanken, ihr Haustier noch etwas enger bei sich haben zu können. „Später“, wiegelte Thorin lediglich ab und, sehr zu seiner Überraschung, funktionierte das sogar. Sie nickte, aß weiter und wartete ab, bis er fortfuhr. „Jedenfalls… unsere Fallanalytikerin meint-“ „Emrhién“, fuhr Ishara dazwischen. „Was?“ „Du meintest ‚unsere Emrhién meint‘. Ich meine, ernsthaft, sie wohnt ein Stockwerk tiefer.“ Ishara wirkte an diesem Punkt tatsächlich verwirrt. Und als kurz darauf selbst Ninafer ihm die Hand auf den Arm legte und ihn besorgt anschauend fragte, ob alles in Ordnung sei, da musste sich Thorin doch unweigerlich eingestehen, dass ihm diese Sache vielleicht doch etwas an die Nerven ging. Er entpersonalisierte Freunde und Kollegen, selbst Familie, mit denen er schon Jahre zusammenarbeitete. Der Kahlkopf seufzte tief. „Entschuldigt. Diese Sache ist einfach… sie nagt. Wir haben jede Menge Trickbetrüger, Schwindler, Taschendiebe, Raubüberfälle. Übler sind die Vergewaltigungen, Morde, Kindsmisshandlungen und wirklich, nichts davon ist leichte Kost. Aber irgendwie… die Aussicht, dass wir einen Ring von Organhändlern im Distrikt haben… ist einfach beunruhigend. Ich meine, diese Präzision… Hier ein Herz, da eine Lunge, dort ein Stück Darm. Es sieht aus, als hätte jemand diese Leute gesehen und sie als eine Art… Tiefkühltruhe wahrgenommen. Einfach aufklappen, das Gewünschte rausnehmen und gehen. Es gibt kein Muster, was bevorzugt verschwindet. Einige der Organe, die entnommen worden, passen nicht einmal sinnvoll in die Organhändler-Theorie, weil sie zu schnell unbrauchbar werden. Die Schnitte sind gelernt und präzise, aber jeder Abgleich mit der Datenbank schlägt fehl. Wir hatten ein paar Treffer bei Medizinstudenten und Ärzten, aber die Untersuchungen verliefen alle spurlos im Sand. Und auch wenn’s bisher ‚nur‘ fünf Opfer sind, die Häufigkeit scheint zu steigen.“ Ishara und Ninafer nickten beide, bis Erstere die Stirn in Falten legte. „Nun“, begann sie, „du könntest mich dazu holen? Ich könnte dir Alistair aus dem Kreuz nehmen und-“ „Nein!“ Diesmal war es die unerwartete Vehemenz, mit der Thorin ihr Angebot noch vor dessen Ende ausschlug, die beide zum Erstarren brachte. Der Hüne starrte kurz von einer zur anderen, seufzte dann tief. „Ich habe ein mieses Bauchgefühl bei dieser Sache. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir es mit irgendeinem völlig Irren zu tun haben, der im Zweifelsfall auch plötzlich vor der Haustür steht. Solange ich das kann, werde ich auf dich aufpassen – also wirst du dich von diesem Fall fernhalten, verstanden?“ „Dad, komm schon! Ich bin keine zwölf mehr, dass du den Baum fällen musst, nur weil ich beim Klettern runtergefallen bin…“, beschwerte sich Ishara unleidlich. „Nein – du bist größer und älter und deine Probleme sind mit dir gewachsen, wie das eben bei jedem der Fall ist“, schoss Thorin zurück. „Du hast damals gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn ich diesen Weg einschlage! Dazu gehört nun mal, dass es möglicherweise auch gefährlich wird, das waren deine eigenen Worte! Mich jetzt in Watte packen zu wollen ist einfach nur unfair!“, setzte sie nach. „Du wirst nicht-“, hob der Kahlkopf an, stutzte jedoch abrupt. Gewohnheit war eine bemerkenswert starke Kraft. Man konnte mit einer Person, die man nicht ausstehen konnte, viele Stunden eines jeden Tages zubringen, gerade so koexistierend, und plötzlich, wenn sie verschwand, vermisste man sie. Ebenso konnte man jemandem täglich unzählige Male ins Gesicht sehen, ohne etwas Neues zu bemerken – weil man den altbekannten Anblick gewohnt war. Thorin bemerkte jetzt erst das seltsame Funkeln, als sich das Licht der Küchenlampe in dem kleinen, grün gefärbten Stecker an ihren Ohrläppchen brach. Mit einem Schlag verfinsterte sich sein Gesicht deutlich. „Piercings…?“, grollte er verstimmt. „Das fällt dir jetzt auf?!“, schoss Ishara den rasch aufziehenden Ärger witternd in die Offensive gehend zurück, „Die habe ich seit vorgestern!“ Thorin versuchte sich zu erinnern, doch er konnte auf Gedeih und Verderb nicht mit völliger Sicherheit sagen, ob sie ihn gerade anlog oder nicht. Das war das Problem mit Nähe – man war eher gewillt, denen zu glauben und zu vertrauen, die man liebte. „Politesse.“ „Das wagst du nicht…!“, zischte Ishara erbost zurück. „Schon geschehen“, erwiderte er lediglich kühl. Natürlich ging es bei dieser Entscheidung nicht nur um das verdammte Piercing. Nicht einmal um die grundsätzliche Entscheidung, dass er es ihr verboten hatte, mehrfach, und sie sich trotzdem Löcher in die Ohren stechen ließ. Nein, die Parkraumüberwachung war auch eine der ungefährlichsten Aufgaben, die er im Angebot hatte und irgendwer musste die sowieso machen. Nach wie vor undankbar, aber weit, weit von seinem Fall – und Alistair – entfernt. Drei Fliegen, eine Klappe. „Das ist unfair!“, fluchte Ishara, sprang vom Tisch auf und stapfte Cyron heranrufend davon. Der träge, vollgefressene Koloss erhob sich bemerkenswert zügig und schwänzelte ihr hinterher, um Trost zu spenden, sobald sie sich auf ihrem Bett zusammenrollen würde – nachdem, natürlich, die Tür geknallt hatte. Seufzend blickte Thorin auf die Reste des Abendessens. Nun, zumindest waren sie fast fertig geworden, bevor es knallte. Sein Blick wanderte zu Ninafer. Reumütig, zweifelnd, entschuldigend. „Tut mir leid“, merkte er leise an. Sie hatte sich einiges an Mühe gemacht und er hatte den Abend ruiniert. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Schon gut. Das musste unweigerlich kommen.“ Stutzend musterte er seine Liebste einen Moment eindringlich. „Du hast es ihr erlaubt…“, stellte er ungewohnt unschlüssig fest. „Nein“, erwiderte sie lächelnd, „Aber… erinnerst du dich daran, wie viele Sorgen du dir gemacht hast, noch immer machst? Weil sie dir nacheifert und so sehr versucht, wie du zu sein? Nun, möglicherweise habe ich sie dazu ermuntert, etwas rebellischer zu sein. Ohrringe sind nicht das Ende der Welt, Thorin, und ich denke… das könnte euch beiden gut tun – auf lange Sicht.“ Er hasste es, wenn sie das tat. Mit ihrer überragenden Menschenkenntnis und Weitsicht Dinge aussprechen, die so offensichtlich und richtig und ihm dennoch zuwider waren. „Nein, aber was kommt dann? Nasenpiercings? Lippe? Zunge?“ Die Brünette lachte herzlich auf. „Und wenn sie sich die Brustwarzen mit Kuhglocken behängt und ihren Intimbereich wie ein Kettenhemd gestaltet – es ist ihr freier Wille und ihr Körper, oder nicht?“ Sie hatte darauf spekuliert und wirklich, viel Chance, da falsch zu liegen, hatte es ohnehin nicht gegeben: Wie erwünscht verzog der Kahlkopf sehr das Gesicht. Das war einfach eine Art und Weise, wie er wirklich, wirklich nicht über seine Tochter nachdenken wollte, während sie wiederum kein Problem damit hatte. Ishara war zu einer jungen Frau erblüht. Nicht unbedingt dem Standard des Schönheitsideals folgend, dafür war sie zu schlank und hochgeschossen, hatte eine zu schmale Hüfte und zu wenig Brust, aber die gelegentlichen Verehrer demonstrierten hinreichend, das sie Ausstrahlung besaß – etwas, das ihrer Ansicht nach wichtiger und wertvoller war. „Nun, zumindest sind sie halbwegs hübsch“, grollte er noch immer missbilligend. „Siehst du. Das tat nicht allzu weh, oder? Und ich bin sicher, in zwei, drei Tagen wirst du sogar soweit sein, das auch ihr sagen zu können…“, stichelte Ninafer lächelnd. Beide beendeten in Ruhe ihr Mahl, räumten den Tisch ab und zogen sich, das Licht löschend, ins Schlafzimmer zurück. Sie hatte da immerhin Nachtisch in Aussicht gestellt…   „Der Tipp war anonym, wir wissen also nicht, ob es sich nicht möglicherweise um eine Falle handelt. Unsere Analytikerin hält es zumindest für möglich, dass der oder die Täter darauf aufmerksam geworden sind, dass wir ihren Spuren folgen. Daher: Dreierteams, behaltet einander immer im Auge. Meldet sofort Verdächtiges, und wenn’s nur grüne Suppe ist, die von der Decke tropft – besser einmal zu viel was gemeldet, als einmal zu wenig. Das Zielgebiet ist ein leerstehendes Lagerhaus. Gehört der Stadt nach einer Zwangsversteigerung und findet seither keinen neuen Besitzer und keine wirkliche Nutzung. Die Gebäudepläne sind hier drüben, prägt sie euch gut ein. Alistair, Vhrengal, ihr kommt mit mir.“ Die Einführung dauerte noch ein gutes Weilchen länger. Die anderen Teams wollten schließlich ebenso zusammengestellt werden und es gab noch den gesamten Ablaufplan auszuarbeiten. Ein großes Haupttor, zwei Seiteneingänge – einer neben dem Haupttor, einer an der seitlichen Wand. Eine große Haupthalle, aber eben auch zugehörige Büroräume. Ein Steg, der die Halle überspannte. Es gab einfach viele Winkel zu bedenken, doch Thorin sah nicht ein, das in die Hände irgendeines Sonderkommandos abzugeben. Seine Leute waren dem gewachsen, waren sie in der Vergangenheit schon gewesen. Außerdem war es ja Stadtbesitz. Also machten sie lediglich einen kleinen Ausflug… zu zwölft. In sechs Dienstfahrzeugen. Mit kugelsicheren Westen, Gasmasken und schwerer Bewaffnung als der Alltag es erforderte. Nachdem die Teams aufgeteilt waren und jeder seine Rolle kannte, wusste, wann sein Team sich wo entlang zu bewegen hatte und wie die Kommandos lauteten, richtete Thorin sich auf und blickte nochmals in die Runde der Versammelten. „Mit etwas Glück handeln wir schnell genug, um diese kranken Schweine zu erwischen. Aber wichtiger als sie zu fassen ist mir im Moment, das wir auch alle heil wieder zum Abendessen heim kommen, hm? Also passt da draußen auf euch auf und deckt euch gegenseitig den Rücken.“ Ein letztes Nicken ging durch die Runde, ehe sie aufbrachen. Das Gelände war weitläufig und ein Trupp wurde direkt abgestellt, sich langsam zu Fuß der Halle zu nähern und die Ausgänge im Blick zu behalten, um mögliche Aktivität zu melden. Der Rest durchkämmte zunächst das zur Halle gehörende Feld, das noch immer mit allmählich verrostenden Frachtcontainern vollgestellt war. Zumindest ergab die dortige Suche rein gar nichts – die Container waren mehrheitlich leer und die, die es nicht waren, deren Inhalt konnte man dank des Zahns der Zeit kaum noch identifizieren. Hier und da hatten sich sogar ein paar Tiere eingenistet. Streunende Hunde, Katzen, Nager, Ratten. Natürlich musste Alistair darüber witzeln, dass hier Cyron der Zweite, Dritte und Vierte herumliefen. Die gezogene Verbindung zu Ishara hätte fast dafür gesorgt, dass er ihn einfach in einem der Container einschloss. Die Luft würde ja wohl schon reichen, bis sie hier fertig waren. Es sei denn natürlich, er würde ihn auf dem Rückweg zum Revier dann einfach, naja, vergessen. Was für ein Unglück aber auch… Die Fantasie war besänftigend und erlaubte ihm, die dämlichen Kommentare zu übergehen, während sie auf die Halle vorrückten. Alle begaben sich in abgesprochene Positionen, ehe der Befehl zum Eindringen kam. Thorin hatte die Trupps so eingeteilt, dass zwei von ihnen sich den Büroräumen widmeten, während die anderen zwei die Haupthalle sichern sollten. „Scheiße…“, flüsterte Alistair leise, kaum dass sie den ersten Raum betraten. Die Räumlichkeiten hätten leer zu sein gehabt, waren es jedoch nicht. Soweit wenig überraschend. Hier jedoch eine im Grunde vollständige medizinische Ausstattung vorzufinden, das war wiederum unerwartet. Vor allem, weil ein Teil der Gerätschaften eher den Eindruck machte, frisch einer Metzgerei entwendet worden zu sein. „Schnauze halten“, zischte Thorin zurück und rückte weiter vor. Ein paar andere Räume waren zu Kühlkammern umfunktioniert worden. Es gab medizinisches Besteck. Operationstische. Ein kleines Chemielabor. Rohstoffe, die darauf hinwiesen, dass die seltsamen Mittel, mit denen die Klingen präpariert worden waren, hier hergestellt wurden. Es wirkte, auf den ersten Blick, wie der Jackpot. Das Nest des Feindes. Der Unterschlupf der verdammten Irren, die herumrannten und Leute ausschlachteten. Und allem Anschein nach auf professioneller Ebene. Die Geräte im ersten Raum waren von Blut verschmutzt gewesen – aber wer wusste schon genau, wie das zustande gekommen war? Was sie dagegen nicht fanden, waren der oder die Täter. Und auch keine weiteren Opfer. Selbst die Kühlkammern waren leer, allesamt. Keine Spur der fehlenden Organe. „Ich vermute, sie sind ausgeflogen“, grollte Thorin frustriert in den Sprechfunk. Er sah sich von den anderen Teams rasch bestätigt, die ähnliche Erfahrungen machten. Teures, professionelles Equipment, aber keine Spur von Tätern, Opfern oder Organen. Tür für Tür durchliefen sie das immer gleiche Prozedere. Zwei auf einer Seite, der Dritte auf der anderen. Einer öffnete die Tür, leise, langsam, vorsichtig. Keine Drahtfallen, keine Bomben – solche Späße hatten sie auch schon erlebt. Stattdessen fand sich ein Raum, der ihrem eigenen Organisationszentrum nicht unähnlich aussah. Eingerichtet mit einer detaillierten Karte der Stadt, einer darüber aufgebrachten Karte des Bezirks, darauf wiederum mit farbigen Nadeln Markierungen verschiedener Orte. Es brauchte nur ein paar Sekunden, bis Thorin die Markierungen als jene Orte erkannte, an denen die bisherigen Taten stattgefunden hatten. Fotos sammelten sich, fein sortiert, in einer Ablage. Vom Tatort. Vom Opfer. Von einem unbekannten, weiteren Ort. Eben jene Fotos erregten Thorins Aufmerksamkeit am meisten. Es brauchte ein paar Abgleiche und Alistair war nur zu glücklich, ihm dabei auszuhelfen, doch sie konnten sich rasch zusammenpuzzeln: Das waren wiederum Orte ganz in der Nähe. Nischen in einer Seitengasse, kaum genutzte Kellerräume, verfallene alte Häuser. Alles leicht zu erreichen vom eigentlichen Ort des Geschehens aus, leicht und unbemerkt vor allem. „Das Eine markiert den Punkt des Überfalls“, meinte Thorin leise, die Fotos gegeneinander wiegend, „Das andere den Arbeitsort. Macht Sinn – man kann jemanden in einer Seitenstraße niederschlagen, aber wenn man ihm wirklich vorsichtig und professionell die Organe entnehmen will, viele möglicherweise auch noch, dann braucht man dafür vor allem Zeit. Und sauberere Umgebung. Nur warum die Opfer dann zum Tatort zurückbringen? Oder überhaupt wieder zumachen?“ Während der Kahlkopf rätselte, sahen sich Vhrengal und Alistair weiter im Raum um. „Die Bilder der Opfer sind zudem alle gemacht worden, als sie ohnmächtig waren. Emrhién meinte, dass die Opfer kein wirkliches Beuteschema erkennen lassen. Keine bestimmte Altersgruppe, keine Ethnie, keine Vorzüge beim Geschlecht. Das hier…? Das macht den Eindruck, als würde vielmehr ein Ort ausgewählt. Wo zugeschlagen wird. Und wer, das ist dann nur die Frage des Umstandes, wer dort als Nächstes vorbeikommt. Aber das macht keinen Sinn für Organhändler. Da sucht man sich gesunde Individuen, junge Opfer…“ „Thorin?“, kam es über den Sprechfunk von Myron. „Ich höre“, erwiderte der Kahlkopf. „Das hier musst du sehen. Ich glaube, die Organhändler sind aus dem Spiel und die Irren sind drin.“ „Was du nicht sagst“, erwiderte Thorin mit einem letzten Blick durch den Raum. Die Beweissicherung würde sich um all das kümmern können. Er sammelte seine zwei Teammitglieder ein und rückte zu Myrons Position vor, einer kleinen Sekundärhalle, nicht einmal ein Zehntel der Größe der Haupthalle. „Die Haupthalle war im Grunde vollständig leer“, erwiderte Myron, der seinen Vorgesetzten schon im Flur vor der Tür zur Halle entgegenkam, „Ein paar staubige Kisten und derlei, alles kontrolliert, nichts drin, niemand zu sehen. Dann kamen wir hier rein…“ Er öffnete die Tür vor Thorin und dem Kahlkopf wurde rasch klar, worin sich Myrons Verdacht begründete. Der gesamte Raum war über und über und über vollgepinselt mit irgendwelchen seltsamen Symbolen, kryptischen Runen oder dergleichen. Wände, Decke, Boden, der gesamte Raum war leergeräumt, sorgfältig gesäubert und dann neu verziert worden. In Rot. Glücklicherweise jedoch ein Ton, der zu unnatürlich schien, um wirklich Blut sein zu können. Nichtsdestotrotz gab es im Zentrum der Miniaturhalle einen klischeehaften Kreis, der mit einer das sonstige Muster brechenden Anordnung aus Runen eingezäunt war. „Reizend“, kommentierte Thorin und steckte nur den Kopf zur Tür rein, um sich von der Vollständigkeit der Wandverzierungen zu überzeugen, „Beweismittelsicherung?“ „Schon informiert. Sie waren begeistert, dass wir das hier gemacht haben. Ich soll dich schimpfen, dass du endlich mal lernen sollst, deine Pfoten von den Beweisen zu lassen. Du könntest Fingerabdrücke ruinieren, indem du deine eigenen drüber pinselst.“ Myron grinste ihm schief zu. Thorin dagegen seufzte und hob die Handschuhe. „Da macht man ein einziges Mal einen dämlichen Fehler und er hängt einem bis in alle Ewigkeit nach…“ Der Kahlkopf wies über Funk kurz seine anderen Teams an, die Eingänge zu sichern und das umliegende Gelände im Blick zu behalten, bis die Kavallerie einträfe. Schließlich begab er sich in die Haupthalle, zusammen mit seinem Trupp und Myron, sowie dessen Teammitgliedern. Thorin lehnte sich nahe des nunmehr offenstehenden Haupttores an eine der staubigen Kisten. „Wie geht’s jetzt weiter, Boss?“, hakte Myron nach. „Weiß nicht. Noch nicht. Das Labor wird so ziemlich jeden Quadratmillimeter untersuchen müssen. Von dem gesamten Zeug da drinnen. Ist ziemlich hochwertige Ausrüstung, oder? Sollte also Seriennummern haben. Vielleicht können wir zurückverfolgen, wer es gekauft hat, wann, wo. Wohin es geliefert worden ist. Ich erwarte mir davon aber nicht zu viel. Unser Gegner hat sich bisher nicht sonderlich dumm angestellt, wäre seltsam, wenn er jetzt damit anfängt. Das Blut muss analysiert werden, ob es zu einem oder mehreren der Opfer passt. Und was das für rotes Zeug ist, mit dem der Raum verschönert worden ist. Außerdem werden wir einen Linguisten reinrufen müssen.“ „Vielleicht auch eher einen Okkultisten, oder?“, bemühte sich Myron, die gedrückte Stimmung zu heben. Erfolglos. „Emrhién kann uns da vielleicht auch schon weiterhelfen. Vielleicht wird sie ja schlau draus. Ansonsten… gibt’s ein paar Überwachungskameras drüben auf der Ostseite. Dummerweise aber keine auf der Westseite, also werden wir da vermutlich auch nicht viel Glück haben. Prüfen müssen wir’s natürlich trotzdem.“ Seufzend kam Thorin innerlich zu einem ernüchternden Resümee des Einsatzes. Sie hatten hier das mögliche Hauptquartier des vermuteten Organhändlerringes auf einem Silbertablett serviert bekommen. Es hätte der Hauptgewinn sein müssen. Alle nötigen Spuren und Beweismittel, Fall abgeschlossen. Stattdessen… hatten sie so gut wie nichts. Weniger als nichts: Sie hatten tonnenweise Arbeit geschenkt bekommen, die sein Team, das Labor, die Fallanalyse und noch einige Leute mehr für eine ganze Weile wach und beschäftigt halten würde. Vielleicht war das sogar Teil der Taktik gewesen. Sie unter der Last der Arbeit zu begraben. Es würde sicherlich ein paar Tage dauern, ehe sie sich aus diesem Berg wieder herausgewühlt haben würden. „Wir sollten versuchen, diesem anonymen Tipp irgendwie nachzugehen. Vielleicht gibt es da Möglichkeiten. Das hier ist zu… praktisch für die, die dahinter stecken. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das hier wirklich ihr Quartier war, oder ob wir nicht gerade in ein sorgfältig vorbereitetes Bühnenstück reinmarschiert sind, um unsere Rolle vorzutragen.“ Die bloße Vorstellung dessen reizte den Hünen auf eine Weise, die ihm nicht sonderlich behagte. Er hatte immer schon viel Temperament besessen, doch konnte sich in der Regel gut genug kontrollieren. Würde er das auch noch können, wenn sie dann irgendwann dem großen Manipulator gegenüber standen und er sich an all die Erniedrigungen erinnerte? Wie sie an der Nase herumgeführt worden sind? „Falls das hier schief geht“, setzte Thorin neu an, nur um von Myrons Seufzen unterbrochen zu werden. Der Kahlkopf sah prompt verwirrt zu ihm herüber. „Thorin, wie lange arbeiten wir jetzt schon zusammen? Jahre. Viele. Und die ganze Zeit predige ich es dir hoch und runter: Es gibt für alles eine Zeit und einen Ort. Das hier? Jetzt? Das ist nicht deine Zeit. Der Tag ist gelaufen. Punkt, aus, Schluss. Wir hatten eine Spur, wir haben getan, was wir konnten. Jetzt sind andere am Drücker. Die Beweissicherung wird ihre Arbeit machen, das Labor wird seine Arbeit machen, der Linguist wird seine Arbeit machen, Emrhién wird ihre Arbeit machen. Und all diese Leute, die füttern uns nach und nach ihre Informationen und Erkenntnisse, damit wir weitermachen können, damit wir puzzeln und den Fall langsam zusammensetzen können. Aber hier und jetzt, da können wir erstmal gar nichts tun. Also: Wie geht’s Lil?“ Thorin starrte noch einen Moment länger einfach nur zu Myron, als würde er durch ihn hindurch blicken, ehe er seufzte. Dabei entging dem Hünen keineswegs, wie Alistair am Rande seines Sichtfeldes ebenfalls aufmerksam wurde und auf seine gewohnt subtile Art versuchte, die Ohren zu spitzen. Thorin wiederum bemühte sich, die Existenz des Komikers bestmöglich zu ignorieren. Es fiel ihm überdies schwer, sich auf das Thema – oder vielmehr, den Themenwechsel – einzulassen. Aber er wusste, dass Myron es eigentlich nur gut mit ihm meinte. Ihm helfen wollte. „Sie hat jetzt Ohrringe. Inklusive Ohrlöcher“, erklärte er das Gesicht verziehend. „Oh? Gut für sie. Sind sie hübsch?“, erkundigte Myron sich weiter. „Kleine grüne Stecker“, erwiderte Thorin, ohne die Frage nach seiner Meinung wirklich zu beantworten, „Und ich weiß nicht, was gut daran sein soll, sich Metall in den Körper zu stecken. Jedes Mal, wenn mir das passiert ist, waren alle ziemlich besorgt.“ Myron lachte an dieser Stelle tatsächlich auf. „Ja – weil du es direkt mit Messern versuchst und nicht mit Piercings.“ „Wo ist der Unterschied nochmal?“, schoss Thorin zurück. Es wurde allmählich leichter, sich gedanklich von der riesigen Halle zu lösen, in der sie standen – und all dem, was damit zusammenhing. „Sie ist jung. Lass ihr ein bisschen Spaß, hm?“, plädierte Myron. „Sie kann so viel Spaß haben, wie sie will. Nur nicht, indem sie sich überall Löcher reinstechen lässt“, erwiderte Thorin defensiv. „Oder zu lange feiern geht“, ergänzte Myron, während der den anderen um sie herum ein Zeichen gab. „Oder sich zu aufreizend anzieht“, stimmte Vhrengal mit ein. „Oder sich mit Jungs rumtreibt“, witzelte Alistair grinsend. „Oder-“, setzte Floran gerade an, als Thorin die Hand hob. „Schon gut, schon gut, es kam an.“ Seufzend stemmte der Kahlkopf die Hände in die Hüften. „Ich sagte ja nicht, dass ich ihr das verdammte Ding rausgerissen hätte. Meinetwegen kann sie’s behalten. Mich besorgt nur, wo das hinführen könnte. Ich meine… heute sind es die Ohren. Und morgen? Heute sind es Piercings. Morgen dann Tattoos?“ Myron lachte kurz auf, schüttelte weiterhin grinsend den Kopf. „Ich hatte eigentlich immer erwartet, dass Ninafer die Glucke werden würde – nicht ausgerechnet du. So kann man sich täuschen, was?“   Ein paar Tage später. Es war später Nachmittag. Die Sonne stand hoch, der Himmel war – mehrheitlich – blau. Die paar wenigen Wolkentürme, die herumtrieben, waren weiß und wirkten harmlos, aber der Wetterbericht hatte für den Abend starke Regenfälle angekündigt. Alistair hatte seine Schicht beendet und gedachte definitiv einfach nur in Ruhe nach Hause zu gehen. Seid der aktuelle Falle solch eine unerwartete, heftige Linkskurve genommen hatte, waren irgendwie alle ein wenig… aufgekratzter als üblich. Und das konnte er sagen, obwohl er keine zwei Monate da war. Man merkte ihnen an, ihnen allen, dass sie sich außerhalb ihres gewohnten Metiers bewegten. Wie ein Fisch an Land. Ritualkreise passten einfach schlecht ins Bild. Mörder waren einfacher. Sie hatten nachvollziehbare Motive, man konnte sich in ihr Denken hineinversetzen. Das ging – fragte man Alistair – bei solchen Tätern wie in diesem Fall auch. Man brauchte nur eine gewisse, mentale Flexibilität, um sich in deren Position hineinversetzen zu können und ihre Motive waren mitunter etwas… abstrakter. Der Linguist hatte kaum Probleme mit den Runen gehabt. Eine Zusammensetzung alter Schriftzeichen aus unterschiedlichen Sprachen, aber allesamt bilder- und symbolbasiert. Der Großteil davon war ziemlich wirrer Unsinn, aber das wenige an Informationen, das sich erfolgreich zusammensetzen ließ, legte wohl die Vermutung nahe, dass da jemand versucht hatte, die Zukunft zu sehen. Oder so ähnlich. Irgendwas mit Weissagung jedenfalls. Demnach waren die klassischen und von ihm eigentlich als zeitlos vermuteten Kristallkugeln wohl offenbar aus der Mode gekommen und riesige Ritualkammern waren jetzt voll im Trend. Was dieser schräge Versuch, ein bisschen Weissagung zu betreiben, mit der Jagd nach Organen zu tun hatte, da fanden sich bisher keine wirklichen Verbindungen. So gar keine. Das rituelle Verspeisen oder Opfern von zwei Wochen alter, tiefgekühlter Menschenleber mochte ja etwas abgewandelt hier und da zum üblichen okkulten Hokuspokus gehören, aber diese Täter schienen laut der recht schnuckeligen Fallanalytikerin wohl eher zu wissen, was sie taten und hielten sich wohl mehrheitlich an vorgegebene Rituale, die dergleichen wiederum nicht vorsahen. Das ergab sich zumindest, als man die nun in Primär- und Sekundärtatorte unterteilten bisherigen Angriffsstellen nochmals untersuchte. Es fanden sich kleine Spuren durchgeführter Riten. Abgebrannte Kerzen in seltsamen Positionen. Ein bisschen Geschmiere mit Kohle. Alistair war durchaus neugierig, was am Ende bei alledem herauskommen würde. Aber um die unmittelbare Zukunft machte er sich erstmal keine großen Sorgen. Anders als arme Schweine wie Myron oder Thorin hatte er soweit niemanden, um den er sich ernsthaft Sorgen machen müsste. Wobei er wirklich hoffte, das demnächst ändern zu können. Immerhin war er nicht grundlos auf dem Weg zu einem der besten Blumenläden der Stadt. Er würde Ishara einen hübschen Strauß zusammenbinden lassen. Und weil er genau wusste, dass er nicht den Mumm hätte, ihn ihr persönlich zu überreichen, würde er einen Weg finden, ihn auf ihr Fensterbrett zu schmuggeln. Im vierten Stock. Heimlich. Irgendwie. Es gab Details des Plans, an denen er zugegeben noch feilen musste. Eben das war es auch, was ihn so tief in Gedanken sinken ließ, das er Ishara nicht bemerkte, als die auf der anderen Straßenseite stehen blieb und ihm kurz winkte. Stattdessen bog er in die Seitenstraße ab und trottete weiter grinsend seines Weges.   Parkraumüberwachung war eine der übelsten, weil langweiligsten Aufgaben, die Ishara sich vorstellen konnte. Und entgegen Thorins Ansichten empfand sie sie als noch deutlich undankbarer als so ziemlich jede andere Position, die er ihr hätte aufzwingen können. Aber es gab hier und da, gelegentlich, ein paar kleine Lichtblicke. Selten mal ein freundliches Gespräch mit jemandem oder Momente, in denen ein Parksünder tatsächlich seinen Fehler einsah und sich über bessere Alternativen beraten ließ. Heute war ein Tag, an dem ihr diese Dinge leider verwehrt blieben. Stattdessen bestand ihr bislang einziger Lichtblick darin, dass bald Feierabend war. Zumindest, bis sie Alistair auf der anderen Straßenseite entlangmarschieren sah, ein beinahe schon verdächtiges Grinsen auf den Lippen und offenbar hochfokussiert auf… alles oder nichts. Denn obgleich sie ihm kurz zuwinkte, schien er nicht einmal Notiz von ihr zu nehmen, sondern bog stattdessen einfach ab. „Ugh, Männer“, seufzte sie leise und überlegte, ob sie ihm einfach nachgehen sollte. Während sie sich zumindest schon einmal in Bewegung setzte, um die Straße direkter überqueren zu können, statt eine längere Diagonale zu laufen, fuhr ein sportlich geschnittener Kleinwagen vor und hielt unmittelbar vor dem Zugang zur Seitenstraße. Da… konnte man definitiv nicht anhalten, ohne als verkehrsbehindernd zu gelten. Die Arbeit rief. Prächtig. Sie versuchte zumindest, als sie auf das Auto zuhielt, schon einmal grob abzuschätzen, mit wem sie es wohl ungefähr zu tun bekäme. Am Steuer saß eine bildschöne Frau – anders ließ sich das nicht ausdrücken. Eine dunkle, wallende Haarmähne, volle Lippen, wohlakzentuiertes Makeup… ihre goldbraune Haut ließ sie exotisch wirken, insbesondere in Kombination mit den Goldohrringen und der Kette um ihren Hals, die kleine, rote Perlen, weiße Federn und Goldglöckchen zu bieten schien. Ein paar goldene Armreife, ein Armkettchen aus den gleichen roten Perlen wie die an ihrer Halskette, eine edel wirkende, rotbraune Korsage, die den wohlproportionierten Körper noch etwas mehr in Szene setzte… Ishara spürte, wie sie rot wurde. Und ihren Schritt ein klein wenig verlangsamte. Glücklicherweise war die Straße nicht allzu belebt – so viel zum guten Vorbild. Doch die hübsche Dunkelhaarige war nicht allein im Wagen. Sie schien kurz mit jemandem zu streiten, der lebhaften Gestik nach zu urteilen. Und deutete die Gasse herunter. Das wiederum ließ Ishara kurz zögern. Erst recht, als kurz darauf ein ziemlich wuchtiger Kerl ausstieg. Seine Nase war seltsam platt gedrückt, seine Augen wirkten getrübt und er ging leicht gebeugt. Das mochte möglicherweise aber auch einfach damit zusammenhängen, wie verdammt groß er war. Der Riese blickte nochmals ins Auto zurück, von wo nur eine weitere, letzte, nachdrückliche Geste die Gasse herab kam. Er nickte artig, wirkte dabei seltsam kleinlaut, obwohl es doch nur ein Nicken war und setzte sich in Bewegung. Und wie er das tat! Er hatte die Gasse betreten und in kürzester Zeit rannte er. Schneller, als Ishara von jemandem seiner Größe erwartet hatte. Ishara selbst bemerkte rasch, nicht mehr auf der Straße zu stehen und zu gaffen. Irgendwann, irgendwie, hatte ihr Körper ein paar gesunde Reflexe und Instinkte an den Tag gelegt und sich in Bewegung gesetzt. Offenbar natürlich und fließend genug, um weder die Aufmerksamkeit der Fahrerin zu erwecken, noch die ihres Begleiters. Stattdessen kauerte sie am Eingang des Ladens an der Wand und spähte um die Ecke, ehe sie sich entschied, genau das nicht mehr zu tun. Sie war schließlich kein Feigling. Sie hatte vielleicht ihre Pistole nicht dabei, aber- Verdammt. Sie hatte ihre Pistole nicht dabei. Hastig sah sie sich um und stellte amüsiert lächelnd fest, dass der Laden, an dessen Eingang sie kauerte, ein Spielwarengeschäft war. Perfekt, sozusagen. „‘Tschuldigung, Notfall, ich leih mir das – bezahl’s später!“, rief sie dem Verkäufer zu, als sie mit einer Plastik-Spielzeugpistole aus dem Laden stürmte und um die Ecke bog. Von Alistair und dem Riesen war erstmal nichts zu sehen… außer Alistairs Schuh, dessen Spitze hinter einem großen Müllcontainer hervorragte. Bei jenem Anblick gefror ihr dann doch das Blut. Ein Überfall war eine Sache, da hätte sie eingreifen können, mühelos, problemlos, aber… aber der Riese würde ihn nicht einfach… umgebracht haben, oder? Ihre Schritte trugen sie immer schneller an den Ort des Geschehens heran. „Hey!“, rief sie, die Waffe aus der Packung befreit. Als sie näher kam, verlangsamte sie ihr Tempo auch wieder, während sich der Gigant hinter dem Container erhob. Sein Mund, sein Kinn… eigentlich sein halbes Gesicht waren blutig, über und über. Ishara wurde blass, doch ihre Hände waren ruhig. Waren sie immer. Sie trat langsam näher, in sicherem Abstand zum Riesen, der bisher keine Anstalten gemacht hatte, zu gehen oder zu reden oder überhaupt irgendetwas zu tun. Alistair hatte keine sichtbaren Verletzungen, als sie ihn endlich sehen konnte. Das machte doch aber gar keinen Sinn, woher-… Da stand eine Kühlbox. Eine blutige Kühlbox. „Es tut mir leid“, grollte der Riese mit einer unmenschlich tiefen, rauen Stimme. Sofort schwenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihm, richtete sie die Waffe auf ihn. „Was tut dir leid?“ Sie hätte Anschuldigungen werfen können. Hätte es sogar gewollt. Dass er Alistair niedergeschlagen hatte? Dass er dem Zeichen auf der Kühltruhe nach zu urteilen medizinische Vorräte… fraß…? Oh er hatte noch keine Ahnung, wie leid ihm das bald schon tun würde! Er schüttelte lediglich den Kopf und… wirkte dabei tatsächlich seltsam bedauernd. Ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf vibrierte Sekundenbruchteile später durch Isharas Verstand. Sie spürte die Taubheit, die sie die Plastikpistole fallenlassen ließ. Sie spürte, wie sie zu stürzen drohte und vor dem Aufprall abgefangen wurde, wie man sie langsam und vorsichtig zu Boden senkte. „Alles muss man selber machen“, grollte eine weiche, weibliche Stimme. Die verdammte Fahrerin, kam Ishara die Erkenntnis. Lektion Nummer eins, die Thorin ihr beigebracht hatte, um in diesem Job überleben zu können: Behalte deine gottverdammte Umgebung im Auge. Scheiße. Sie versuchte, etwas zu sagen, bekam jedoch keinen Ton heraus. „Was tun wir jetzt?“, grollte der Riese und blickte zwischen beiden umher, während Isharas Welt an Farbe verlor und ihr Sichtfeld sich stetig verengte. „Vergiss ihn“, kam es von der hübschen Dunkelhäutigen, „Wir nehmen sie.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen, brachen die Dämme und rannen haltlos, tonlos, während Isharas Bewusstsein dahindämmerte. Tut mir leid, Papa…   „Ich kam, so schnell ich konnte“, ächzte Myron. Ninafer nickte lediglich und drückte ihn an die Wand, damit er sich aufrichten und erst einmal etwas zu Atem kommen konnte. „Danke. Ich weiß nicht, ob es irgendetwas ändern wird, aber… danke“, erwiderte sie mit belegter Stimme. „Was ist passiert?“, hakte er weiter nach. „Das wissen wir noch nicht wirklich.“ Ninafer führte Myron in einen Wartebereich. Für den Moment konnte sie nicht in Alistairs Nähe sein, zu sehr gab sie ihm noch die Schuld am Geschehenen – irrational wie das vielleicht auch sein mochte. Und ebenso wenig konnte sie in Isharas Nähe sein. Nicht im Moment, da Thorin ihr nicht von der Seite wich und Thorin… Thorin war. Also blieb das Wartezimmer, das glücklicherweise leer war. „Floran hat sich den Tatort angesehen, mit einem ansässigen Händler gesprochen, die Kameras geprüft. Er war wirklich schnell. Vermutlich hatte er noch keine Genehmigung, auf das Kameramaterial zuzugreifen, aber…“ Als Ninafers Stimme versagte, winkte Myron ab. „Darum kümmern wir uns später“, versicherte er und nahm ihre Hand. Sie zitterte. „Alistair kam aus der Schicht, war auf dem Weg durch die Stadt. Er hatte bei einem Blumenladen in der Nähe angerufen, um deren Öffnungszeiten zu erfragen. Ishara, sie… sie war auf dem Weg zur Zentrale, ihr Dienstende war nah. Sie sah ihn auf der anderen Straßenseite und winkte, aber er sah sie nicht. Der Händler meinte, sie habe die Straße überquert. Er hätte sie im Blick behalten, weil einer seiner Freunde in dem Moment als Kunde bei ihm war und im Halteverbot stand, er wollte abschätzen, wann er ihn am besten warnen sollte. Sie blieb mitten auf der Straße stehen und ging dann am Eingang seines Ladens in Deckung, als habe sie irgendwas gesehen. Kurz darauf kam sie rein und schnappte sich eine der Spielzeugpistolen. Sie… die Pistole haben wir bei ihr gefunden. Sie… sie hatte… sie bekam einen schweren Schlag auf den Hinterkopf und…“ Als ihre Stimme noch zittriger wurde, zog Myron sie schlicht an sich. Was immer er noch wissen musste, konnte er an anderer Stelle erfragen. Es machte keinen Sinn, Ninafer noch länger durch diese Tortur zu schicken. Also bemühte er sich einige Minuten lang, für sie da zu sein. Trost zu spenden. Aus ein paar Minuten wurde eine halbe Stunde, dann eine dreiviertel Stunde, dann eine Stunde. Als sie sich halbwegs gefangen hatte, seufzte sie tief. Erschöpft. „Thorin ist bei ihr. Du kennst ihn.“ Myron nickte auf die wenig subtile Warnung hin. Der Kahlkopf war sehr wahrscheinlich übermüdet. Es hatte schließlich fast zwei Tage gedauert, bevor Myron davon erfahren hatte. Natürlich hatte er sich über Thorins Abwesenheit gewundert, nur hatte er auch nicht nachgefragt, sondern stattdessen einfach wirklich gehofft, er hätte sich seinen Rat zu Herzen genommen und die anderen Glieder der Mechanik erstmal ihre Arbeit machen lassen, vielleicht ein, zwei Tage frei genommen, Zeit mit der Familie verbracht, etwas in der Richtung. Myron fühlte sich schlicht schuldig dafür, so lange gewartet zu haben. Jetzt erst hier zu sein. Nach anderthalb Stunden glaubte er, Ninafer zunächst wieder allein lassen zu können und wanderte die Korridore entlang, bis er eine der zuständigen Ärztinnen fand. Es bedurfte ein wenig Überredungskunst und mehrfaches Plädieren darauf, dass es für den Fall wichtig wäre, ehe er einsah, so nicht weiter zu kommen. Stattdessen änderte er seine Strategie und packte die Wahrheit auf den Tisch. Er war ein guter Freund der Familie, hatte gerade eben die Mutter getröstet, vom sehr wahrscheinlich ungehaltenen Vater im Zimmer gehört und wolle schlicht vermeiden, ein Feuer an die viel zu kurze Lunte zu halten. Offenbar, ihrem sichtlich unbehaglichen Gebaren hin, hatte Thorin bereits mehrfach für Ärger gesorgt, möglicherweise sich sogar schon mit den Sicherheitskräften des Hospitals angelegt. Da war es wiederum ein kleines Wunder, warum er überhaupt noch hier saß, noch hier sitzen durfte. Was Myron erfuhr, ließ selbst ihn schwer schlucken und in all seinen Jahren im Dienst hatte er schon manches mitgemacht, gehört und gesehen. Kinder, die Waffen auf ihre Eltern richteten und abdrückten. Junge Mädchen, die fixten und sich dann verkauften, um den nächsten Schuss bezahlen zu können. Sogar Mord aus Langeweile hatte es schon gegeben. Kollegen, die von selbstgebauten Sprengsätzen übel zugerichtet worden waren. Stichwunden im Bauch. Es gab ein paar wirklich grässliche Dinge. Aber Ishara… das war anders. Persönlicher. Persönlicher selbst als die Kollegen, mit denen er jeden Morgen in der Teambesprechung Kaffee trank. Jemand hatte ihr Leber und Nieren entnommen. Sie mit chirurgischer Präzision geöffnet, die Organe entnommen und sie wieder geschlossen. Die Wunden versorgt, desinfiziert, gekühlt, alles lange genug, damit ein Krankenwagen sie rechtzeitig einsammeln konnte. Angesichts dessen ahnte Myron, was ihn erwartete – doch das bereitete ihn immer noch nicht darauf vor, als er das Krankenzimmer tatsächlich betrat. Sie dort so liegen zu sehen, verkabelt mit so vielen Maschinen, die sich redlich bemühten, Funktionen ihres Körpers zu ersetzen, die er mangels der zugehörigen Organe selbst nicht mehr bewältigen konnte… es war grässlich. Und ließ ihn für einen Moment schwer schlucken. Ein paar Monate, so hatte man ihm gesagt. Die Maschinen allein würden sie nicht ewig am Leben halten, die Funktion nicht ewig ersetzen können. Ein paar Monate hatte sie noch, höchstens. Und Thorin saß dort, am potenziellen Totenbett seines Kindes. „Es tut mir leid“, erklärte Myron leise, als er noch drei, vier Schritt von Thorin entfernt stand. „Geh“, kam von dem schlicht zurück. Leise. Gebrochen. Statt dem Wunsch zu folgen, trat Myron einen weiteren Schritt näher heran. „Bitte denk nach. Ishara bedeutet auch uns viel. Nicht so viel wie dir, aber weit mehr als nichts. Wir sind da, immer noch. Für sie und dich. Wir haben alle nur erdenklichen Mittel genutzt, alle Hebel in Bewegung gesetzt. Wir finden das Schwein… und-“ „Ich finde ihn. Und dann werde ich ihn töten.“ Es war eine solch kalte Härte in den Worten, das Myron für keine Sekunde bezweifelte, wie bitterlich ernst es Thorin damit war. „Denkst du wirklich, dass du das allein schaffst?“, kam es plötzlich von der Tür. Myron wandte sich halb um und blickte zu Ninafer herüber, die langsam die Tür hinter sich schloss. „Glaubst du das, hm?“ Sie trat näher und näher, überholte Myron und legte einem Thorin, der bis dahin schweigsam verblieben war, die Hand auf die Schulter. „Denkst du, du bist der Einzige, der sie liebt? Der Einzige, in dem es nach Vergeltung schreit? Der Einzige, der den finden will, der ihr das antat?“ Ninafer blickte zu Myron herüber. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen, bitter… und gefährlich. „Vielleicht wäre es besser, wenn du jetzt gehst. Du hast ein ruhiges Leben und eine solide Karriere. Es wäre schade um all die investierte Arbeit.“ Myron brauchte einen Moment, um zu realisieren, was gesagt, vielmehr impliziert worden war. Und eine Gänsehaut kroch seinen Nacken herab, seine Schultern und Arme herab, als er es realisierte. Thorin war mit seinen ein Meter sechsundachtzig nicht gerade gewaltig. Weit davon entfernt, klein zu sein, natürlich, aber es gab genug Männer, die größer waren. Dennoch hatte er eine geradezu gewalttätige Ausstrahlung, die schnell einschüchterte und er war sich nicht zu fein, da physisch nachzuhelfen. Myron hatte einstmals, einer verlorenen Wette zum Dank, gegen ihn geboxt und Thorins rechten Haken zu spüren bekommen. Danach hatte er für fast eine Stunde Sternchen gesehen. Und Ninafer? Ninafer war eigentlich noch schlimmer. Sie war eine ungemein talentierte Chemikerin und verstand sich obendrein auf Botanik und Zoologie – eher Hobbies als alles andere – wie sonst niemand in seinem Bekanntenkreis. Sie hatte einen Faible für bestimmte Gifte oder Substanzen, die besonders seltsame Wirkungen hervorriefen, war regelrecht davon fasziniert. Ungesund fasziniert, wie mancher gelegentlich angemerkt hatte, aber Thorin hatte stets dagegen gehalten, dass das völlig bedeutungslos sei, solange sie in ‚ihrem Team‘ arbeite – was sie jetzt… möglicherweise nicht mehr tat? Er hätte etwas sagen sollen. Er hätte etwas sagen müssen, wirklich. Das hier war falsch. Die Entscheidung, die die beiden gerade zu treffen glaubten, war überstürzt und falsch. Aber wollte er das sagen, irgendwas von dem, was ihm durch den Kopf ging? Seufzend traf Myron seine Entscheidung und trat an das Krankenbett heran. Er strich einer schlafend wirkenden Ishara über das Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Erhol dich, Kleines“, flüsterte er bemüht leise, „Gott allein weiß, dass die Stadt die zwei nicht übersteht.“ Er löste sich von ihr und blickte, vorläufig zum letzten Mal, wie er vermutete, zu Thorin und Ninafer herüber. „Ich melde mich, wenn ich neue Informationen habe. Bleibt hier und… passt auf sie auf.“ Sie sahen auf. Blicke, die Abschied buchstabierten. Entgegen dem, wie düster es im Moment aussehen mochte, hoffte, betete Myron inbrünstig, dass sie sich irrten. Und nichts geschehen würde, dass es später zu bereuen galt. Es gab schließlich eine Hoffnung dafür, eine sehr simple sogar: Er musste mit seinen Leuten einfach nur schneller sein. Schneller als Thorin, schneller als Ninafer, schneller als beide zusammen und, hoffentlich, schnell genug, um das zurückzuholen, was Ishara genommen worden war. Andernfalls mussten Spenden her – und das konnte… dauern. Als Myron wenig später das Krankenhaus verlassen hatte, packte ihn die Realisierung dessen, was geschehen war und vor sich ging. Zittrig und von Schwindel geplagt hielt er sich an der Hauswand fest und übergab sich in einen Papierkorb…   Es war dunkel im Büro, dunkel und warm. Das war es meist. Als der Abteilungsleiter eintrat, war er rasch dabei, sein Beileid zu bekunden. „Es tut mir leid, was mit Ishara passiert ist. Sie war so eine vielversprechende junge Frau, engagiert, enthusiastisch, aufrichtig.“ „Sie reden von ihr, als wäre sie tot“, grollte Thorin zur Antwort und warf etwas auf den Tisch. Des unrühmlichen Verhaltens ungeachtet, war das vermutlich der Grund, warum er um dieses Treffen ersucht hatte. Und unter den gegebenen Bedingungen fiel es generell leichter, Thorin sein stets respektloses Verhalten nachzusehen. „Was ist das?“, erkundigte er sich. Thorin hingegen machte Anstalten, das Zimmer wieder zu verlassen. Also zog er die Mappe heran und öffnete sie – nur um von einem Kündigungsschreiben gegrüßt zu werden. Die Frage, ob es Thorin damit tatsächlich ernst war, erübrigte sich. Thorin war Thorin. Eine Frage jedoch, obgleich eigentlich ebenso rhetorischer Natur, galt es dennoch auszusprechen. „Werden wir uns wiedersehen?“ Der Kahlkopf stockte für einen Moment. „Nicht, wenn sie mir nicht in die Quere kommen.“ Als die Tür des Büros hinter Thorin zuschlug und Schweigen sich wieder über den Raum legte, wurde es nur noch ein letztes Mal von einem tiefen Seufzen durchbrochen. Die Akte wurde geschlossen und samt der Kündigung darin in die mittlere Schublade des Schreibtischs verbannt. Zur späteren Revision. Es würde sicherlich Opfer verlangen. Ein paar Gesetze würden vielleicht gebeugt, möglicherweise sogar hier und da gebrochen werden müssen. Aber er war nicht bereit, Thorin als Abteilungsleiter aufzugeben. Dafür machte er einfach einen zu guten Job. Noch nicht, allemal – die nächsten Tage und Wochen würden zeigen, was in dem Krieger wirklich steckte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)