Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 56: Zusammenkunft ------------------------- Welche Kräfte auch immer Emilia und Nathenial quer durch die Welt und auf einen fremden Kontinent ziehen mochten – aus irgendeinem wenig rational scheinenden Grund wurden sie offenbar schwächer, je näher sie ihrem Ziel kamen. Das führte unweigerlich dazu, dass Thorin mit seiner Gruppe und den Kindern fast volle drei Tage in Ostlond zubrachte, ehe die Götter sich in ihrer endlosen Gnade entschieden, ein Zeichen zu geben und ihre unverhoffte und weiterhin unerwünschte Reise fortzuführen. Drei Tage. In denen keiner von ihnen gesteigertes Interesse daran zeigte, Ostlond kennenzulernen. Dort draußen war eine ganze Stadt, riesig für Arvums Verhältnisse, voller Händler und Handwerker und exotischer Waren. Ninafer hätte so viele neue und potente Rohstoffe erwerben können, die es auf Sundergrads Märkten gar nicht zu erstehen gab, obendrein zu Preisen, die sie mit ihrem Geschick ein gutes Stück weiter runter hätte drücken können. Alistair hätte die Straßen und Märkte über und über mit leichtfertig an den Gürtel gebundenen Geldbeuteln vorgefunden, ein Kinderspiel und eine gute Fingerübung. Thorin hätte viele Tavernen und sogar die eine oder andere Brauerei aufsuchen können und selbst Ishara wäre möglicherweise auf den Märkten fündig geworden, bot Ostlonds Handel doch neben den üblichen Waren genauso gut den Verkauf von Tieren diverser Größe oder Setzlingen an. Doch der Schmuck, Prunk und Reichtum der Stadt zog völlig unbeachtet an ihnen vorbei. Sie verließen das Gasthaus nicht einmal, blieben bei ihren Kindern und ließen sich die Mahlzeiten vom Wirt aufs Zimmer bringen. Emilia und Nathenial wurden häufiger wach, länger wach und wenn dem so war, platzten sie regelrecht mit Fragen. Thorin war schon während der Schifffahrt klar geworden, dass die Zeit der Unschuld vorbei war und es keinen Sinn mehr machte, irgendetwas vor ihnen verheimlichen zu wollen. Zumindest nicht in Bezug auf die Götter und die möglichen Geschehnisse, in die sie hier involviert schienen. Also beantwortete er ihre Fragen, so gut er es konnte. Und rätselte, unweigerlich, insgeheim darüber, ob sein Bemühen, all das von ihnen fern zu halten, nicht überhaupt erst das gewesen sei, was den Göttern diesen Schachzug ermöglicht hatte. Nach drei Tagen – bei einsetzendem Morgengrauen – schreckte Nathenial aus Alpträumen auf. Seiner Verwirrung über den Wechsel zwischen Traum und Realität war es geschuldet, dass er sich nicht allzu sehr darüber wunderte, dass außer Emilia und Ishara bereits alle wach waren. „Wir müssen los“, erklärte er noch immer hektisch atmend, verschwitzt und leicht zitternd, „Da fährt eine Karawane von einem der südlichen Marktplätze, zum Frühstück.“ Thorin erhob sich, nickend, und begann ihrer aller Sachen zusammen zu räumen. Den Aufbruch vorzubereiten, während Ninafer ihren Sohn an sich zog und zu beruhigen versuchte, ihm über Haar und Rücken strich und sanft auf ihn einsprach. Mit der plötzlichen Hektik war Ishara, alarmiert und sich daher keinen tiefen Schlaf gewährend, auch wach. „Wir brechen auf“, war alles, was Thorin auf ihren fragenden Blick hin zu wissen brauchte. Emilia wurde geweckt und erwachte tatsächlich, problemlos – anders als zu den Gelegenheiten auf dem Schiff, auf dem selbst ein Kanonenschuss neben ihrem Kopf sie nicht hätte wecken können. Nicht hektisch, aber zügig durchliefen sie alle im geteilten Bad die Morgenwäsche, kleideten sich an und sammelten ihr Gepäck. Noch in den letzten Zügen des Morgengrauens fanden sie sich unten im Schankraum ein. Ein reichlich verschlafener Wirt, der sichtlich darauf gehofft hatte, noch ein paar Stunden in seinem Dämmerzustand herumwanken und automatisierten Routinen folgen zu können, starrte ihnen gleichermaßen überrascht wie frustriert entgegen, ehe er sich fing und sich seiner Manieren und seines Geschäftssinns besann. „Guten Morgen, meine Damen und Herren! Ihr brecht auf? Wünscht ihr noch ein Frühstück? Oder vielleicht etwas Proviant und was Feines auf die Hand?“ Thorin, der bis zu jenem Punkt stoisch die Tür angesteuert hatte, hielt inne. Und damit auch alle anderen. Während er das Angebot überdachte – oder vielmehr die eventuelle Notwendigkeit, es anzunehmen -, war es Nathenial, der an ihn herantrat und an seinem Hemd zupfte, um aus großen Augen zu ihm aufzuschauen. Der Hüne hob leicht die Brauen. „Bist du nicht zu alt, um auf diese Weise zu betteln?“, erkundigte er sich leise. Der Bursche brach seinen Akt nicht, aber Ninafer trat zusätzlich an ihn heran und flüsterte ihm leise zu. „Wenn die Karawane zum Frühstück aufbricht, werden wir selbst kein Frühstück bekommen können. Nicht, wenn wir als Eskorte anheuern. Du magst einige Tage völlig ohne Mahlzeit auskommen können – wir nicht.“ Der Hüne seufzte, wandte sich jedoch um und trat an den Tresen heran. Der Wirt lächelte gewinnend, einen guten Fang und ersten Verkauf des Tages witternd. „Was habt ihr?“ „Oh, nun, was ihr wünscht, wirklich! Der Markt ist ja quasi vor der Tür. Falls ihr zähen, wetterfesten Proviant braucht? Haben wir! Trockenfleisch, Brot, Hartkäse, eingelegter Fisch, sogar Äpfel. Und Mandarinen – die Kinder werden bestimmt Mandarinen mögen, nicht? Falls es etwas anderes sein soll, das können wir bestimmt zügig auftreiben. Und für unterwegs haben wir Gebäckstückchen. Hörnchen aus Blätterteig, gefüllt mit einer Walnuss-Krokant-Schokoladenmischung.“ Irgendwo hinter Thorin knurrte ein Magen. Ihm war egal, wessen. „Oder ein hübsches Stück Marmorkuchen, so saftig als wär’s frisch aus dem Ofen. Falls ihr eher etwas Herzhaftes wünscht, ich könnte euch auch eine Bretzel aufschneiden. Laugenbrot und etwas Salz, dazu ein paar Scheiben Käse und Wurst, vielleicht ein Salatblatt, Tomatenstückchen und frisch geschnittene Zwiebeln…“ Thorin hob die Hand. Je länger dieser verflixte Beutelschneider davon erzählte und so bemüht regelrecht vorschwärmte, umso mehr Hunger bekam der Krieger auch. „Fein, fein. Nehmen wir.“ Der Wirt dagegen stutzte einen Moment, bemüht, das Lächeln ob seiner Verwirrung nicht fallen zu lassen. „Ich… ich verstehe nicht recht, fürchte ich. Was davon?“ „Alles.“   Was der Wirt ihnen angeboten und letztlich gegen gutes Geld auch erfolgreich angedreht hatte, war qualitativ weit über dem Standard des Hauses. Erklärungen gab es dafür einige. Vielleicht hatte er einfach ein gutes Angebot gesehen und zugeschlagen, in dem Versuch, seine Gäste zu verwöhnen und seinen Ruf ein wenig zu steigern, um – irgendwann vielleicht – in die höhere Riege der besseren Gasthäuser aufzusteigen. Vielleicht hatte er auch einfach einem anderen Reisenden dessen nicht länger benötigte oder schlicht unerwünschte Vorräte abgekauft. Oder die Version, die Thorin am wenigsten behagte: Er hatte gesehen, wie sie die ganze Zeit da oben beisammen hockten und das Zimmer nicht verließen und sich auf ihre Abreise vorbereitet, nachdem sie mit dem Zimmermädchen großzügig umgegangen waren. Schließlich waren Wirte nicht dumm und mussten, wollten sie ein Haus mitten in einer Großstadt mit reichlich Konkurrenz betreiben, einen guten Geschäftssinn haben. Er hatte sich zweifellos denken können, warum sie bei ihm untergekommen waren und nirgendwo sonst. Die Stunde war jedoch noch zu früh und die Spekulationen zu müßig, als dass Thorin sich bereitwillig den Kopf darüber zerbrochen hätte. Er besah sich die Möglichkeiten, die sein Verstand ihm vorführte, nickte und beließ es dabei. Wen scherte es? Sie hatten Frühstück und aßen auf dem Weg durch die Straßen Ostlonds. Eine weitere Parallele zwischen dieser Hafenstadt und Sundergrad tat sich rasch auf: Die Stadt schien einfach nie zu schlafen, nie wirklich endgültig zur Ruhe zu kommen. Es gab immer irgendwen, der seinen Geschäften nachging. Nachts wurden sie nur zwielichtiger. „Hier ist es“, meinte Emilia, die ungewohnt still bislang einfach neben ihrer Mutter einher gelaufen war. Nathenial nickte, um das zu bestätigen und tatsächlich brauchte es nur einen kurzen Gang über den großen Marktplatz, hindurch zwischen allerhand bunt behangenen Buden und Ständen, um den zentralen, geräumten Stellplatz zu finden, auf dem sich Karren und Tiere drängten. Erstere wurden teilweise noch beladen, Letztere noch gefüttert und gestriegelt. Die Mitglieder der Eskorte sahen brauchbar aus. Nicht einem tatsächlichen Kampf gegen organisierte, ausgebildete und gut gerüstete Angreifer gewappnet, aber brauchbar genug, um es mit Strauchdieben und kleinen Räuberbanden aufzunehmen. Der Führer der Karawane war ebenfalls leicht gefunden. Es handelte sich um die dunkelhäutige Frau, die die ganze Zeit Anweisungen über selbst die Lautstärke der werbenden Händler hinweg brüllte und Leute dafür verbal zusammenstauchte, zu trödeln oder ihre Arbeit nicht richtig zu verrichten. Jemand, der also eine kurze Leine hielt. „Wir heuern an“, grüßte Thorin an sie herantretend. Die Fremde stutzte und musterte ihn von oben bis unten, ehe ihr Blick über seine Schulter hinweg an ihm vorbei glitt. „Du schon – der Rest? Wohl kaum.“ Damit begannen die Verhandlungen, in denen allem voran Thorin ihr vor Augen zu führen versuchte, warum der Rest bestens fähig war, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf andere – und damit sie, ihre Passagiere und ihre Waren – aufzupassen. Ishara wurde, wenig überraschend, als fähige Bogenschützin mit einer Affinität für Naturmagie angepriesen, Ninafer als talentierte Unterhändlerin mit mehr Giften im Repertoire, als manche Blumen aufzählen konnten und Alistair, nun, der war ein brauchbarer Späher. Etwas fragiler und weniger kampfstark als der Rest, aber falls er es mal schaffte, dem Gegner in den Rücken zu fallen, dann bereute der das üblicherweise nicht mehr allzu lange. Es war seltsam für die anderen, ihn so reden zu hören. Über sie. In Thorins Stimme schwang diese lange nicht mehr vernommene Euphorie mit, ein Feuer, das sogar der Kahlkopf selbst verloschen glaubte. Seine Abenteurertage lagen zurück und er hatte diesen Teil nicht nur beendet, sondern auch beenden wollen. Doch hier und jetzt flammte kurz das auf, was ihn die Jahre am Laufen gehalten hatte. Die Lust am Herumziehen. Daran, sich mit anderen zu messen und seinen Wert zu demonstrieren. Denn das war – zumindest offiziell – der Grund für seine Wanderjahre. Keiner legte Wert darauf, dass er den Kindern davon erzählte, wie er als abgewracktes, versoffenes Scheusal sein Leben in Tavernen mehr als einmal in Alkohol begraben hatte. Während der Hüne mit der Karawanenführerin diskutierte, kam Nathenial nicht umhin, die Frau anzustarren. Sie überragte Thorin ein gutes Stück, war vielleicht knapp über die zwei Meter. Sehnig gebaut, leicht gerüstet. Die gekreuzten Gürtel auf ihrer Brust waren mit Wurfmessern besetzt, ihr Gürtel an der Hüfte trug eine kleine Schar an seltsam gebogenen Klingen, die er eigentlich für Dolche hatte halten wollen. Was ihn jedoch am meisten faszinierte, war ihre Haut. Nicht nur, wie finster sie wirkte. Etwas, das er so, in dieser Form, noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte zudem auch Zeichnungen darauf. Geschlungene Linien und Wellen. Formen, die ineinander übergingen und komplexe Muster bildeten. „Verliebst du dich gerade?“, kam es von der Seite. Aus seinen Beobachtungen gerissen – er spekulierte gerade, wie sich diese Muster wohl unter der Rüstung und Kleidung fortsetzen mochten -, starrte er zur Seite. Und errötete, als ihm klar wurde, worüber er gerade nachgedacht hatte. „Was? Nein, natürlich nicht! Mach dich nicht lächerlich!“, zischte er Emilia zu. Die hob grinsend die Braue und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gut. Dann muss ich ihr nicht wehtun.“ Sein Blick senkte sich, wich ihrem aus, während die Röte intensiver wurde. Stattdessen betrachtete er die Dunkelhäutige nochmals. Sie war groß, zäh, sicherlich erfahren im Umgang mit all den Waffen. Die Vorstellung, wie Emilia, die in ihrem ganzen Leben noch nie einen richtigen Kampf ausgestanden hatte, sie attackierte… bereitete ihm mehr als nur Unbehagen. „Darüber solltest du nicht mal scherzen. Die würde dich fertigmachen.“ Emilia stemmte die Hände in die Hüfte. „Ach, denkst du? Was bin ich geehrt von deinem Vertrauen in meine Fähigkeiten, danke auch!“ Der Launenumschwung kam so plötzlich, das Nathenial zunächst gar nicht wusste, was er erwidern sollte. Darum ging es doch gar nicht! Erst nach einem kurzen Moment gelang es ihm, sich zu fangen und den Kopf zu schütteln. Als sie Anstalten machte, empört  davon zu stapfen, packte er rasch zu, fasste ihre Hand und hielt sie zurück. Verdutzt starrte Emilia herab, auf seine Hand an ihrer. „Ich will einfach nur nicht, dass sie dich verletzt. Egal wie gut du bist – das Risiko gibt es immer. Und es wäre dumm, das zu ignorieren. Oder sich mit jemandem anzulegen, wenn man nicht kämpfen muss! Thorin hat’s dir oft genug gesagt – wenn du die Wahl hast, zieh den Weg vor, der ohne Waffen auskommt.“ Noch einen Moment länger zögerte Emilia, ehe sie ihren Blick zu ihm hob und ernst nickte. „Ist gut“, erklärte sie leise. Eigentlich, ursprünglich, hatte sie ihn auch nur aufziehen und ein wenig ablenken wollen. Er konnte es gebrauchen. Die Götter mochten es wissen: Sie konnten es beide gebrauchen. So ernst wie in letzter Zeit alle waren… Woher der Umschwung so plötzlich gekommen war, konnte sie sich selbst nicht recht erklären. Es sah ihr nicht ähnlich, befand sie jedenfalls, launisch zu sein und so empfindlich darauf zu reagieren, dass er sie anzweifelte. Das tat er ja, im Spaß, immer mal wieder und ihre übliche Reaktion war eigentlich, ihm das Gegenteil zu demonstrieren. Vielleicht ging ihr die Ernsthaftigkeit aller um sie herum mehr an die Nerven, als sie zunächst selbst vermutet hätte… „Wir sind soweit“, ertönte Thorins Stimme und riss sie aus ihren Gedanken, „Nathenial, Emilia, ihr fahrt mit Alistair und Ninafer hinten mit. Ishara, wir schützen den Wagen.“ Alle reihten sich an ihren gewiesenen Positionen ein, die zwei Kinder kletterten auf den Wagen herauf und machten es sich zwischen Kisten mit Lederstücken und kleinen Töpfen voller Garn und Nadeln bequem. „Wo geht es hin?“, erkundigte sich Ishara, als sie an Thorins Seite zum Stehen kam. Alistair und Ninafer hatten sich bereits mit auf den Wagen begeben und angefangen, ein paar der Waren zu begutachten – den gelegentlichen Gesprächsfetzen nach, um daraus irgendwelche wilden Geschichten für die zwei Jüngeren zu spinnen. „Die Karawane zieht nach Thethys, wie Nathenial gesagt hat“, erwiderte der Hüne. Er hatte so sehr, so inständig gehofft, der Knabe würde sich vertun. Doch dem schien nicht so. Ishara hatte sich bis zu diesem Punkt redlich bemüht, sich nicht den Konsequenzen dessen zu stellen, doch hier und jetzt? Da wühlte es Erinnerungen auf. An ein Gefängnis in Esgaroth, an ihren Vater, an dessen Worte und an das, was letztlich aus einer Begegnung resultiert war, die sie sich viele Jahre ihres Lebens herbeigesehnt hatte. Sie wurde ein wenig blasser, ballte ihre Hände zu Fäusten, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. „Thorin, i-ich-“, hob sie an, doch der Hüne unterbrach sie. Er hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Schon gut. Ich war klug genug, die Dokumente einzupacken. Sie können dir gar nichts.“ Thorin hatte die Adoptionsurkunde dabei – man wusste nie, wann man sie brauchte -, doch das war nur bedingt hilfreich, sobald es darum ging, dass irgendein übereifriger Magier Ishara einsammeln und zum neusten Prunkstück des Zirkels machen wollte. Nach allem, was sie von Reva, Eirik und Alandor über die Indoktrinationspraktiken des Zirkels gelernt hatten… stand niemandem der Sinn danach, Ishara deren Fängen zu überlassen. Insbesondere nicht mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre und Lumiéls trotz mehrfacher Warnungen seitens des Zirkels der Magi und des Ordus Haereticus fortgeführten Assoziation mit Hexern. Die Halbelbe hätte zweifellos einen prächtigen Fang für sie abgegeben – aber sofern sie sich nicht in aller Öffentlichkeit blamieren, ihren Ruf ruinieren wollten, waren sie an ihre eigenen Statuten gebunden. Was bedeutete, das Ishara vor jedwedem Zugriff sicher war, solange eine elbische Blutsverwandte die volle Verantwortung für Isharas magische Befähigungen übernahm. Was, laut offiziellem Schreiben, Caerwen Morgenwandler war und tat. Ishara nickte, atmete sichtlich erleichtert auf und ließ sich widerstandslos von ihm an sich ziehen. Sie sprachen beide kein Wort, wozu auch. Es gab Dinge, die mussten nicht gesagt werden.   Die Reise nach Thethys gestaltete sich bemerkenswert ereignislos und kam obendrein zu einem deutlich verkürzten Ende – zumindest für ihre Gruppe. Zwei bis drei Wochen, je nach Wetterbedingungen, hätte der Zug gebraucht. Gewiss nicht die schnellste Reise, aber die Wagen waren schwer beladen, das Vieh wurde geschont und die Leute hatten es generell nicht allzu eilig. Zehn Tage lang zogen sie Ostlond hinter sich lassend durch fruchtbares Land, war die Straße gesäumt von Äckern, Feldern und Weiden zu beiden Seiten und nur gelegentlich sah man die zugehörigen Farmhäuser. Sie zogen am dritten Tag am Ufer des Königssees entlang und fischten sogar erfolgreich. Sie schliefen dank des warmen Klimas unter freiem Himmel, denn kein Wölkchen trübte ihre Reise und die Karawane bot ihren Passagieren und Mitgliedern den Luxus, Stauraum für Felle eingeplant zu haben. Es war sehr viel angenehmer und komfortabler, als Thorin reisen in Erinnerung hatte. Emilia und Nathenial waren dennoch die Einzigen, die die Überfahrt auch tatsächlich ein Stück weit genießen konnten. Ishara und Alistair bemühten sich, sich dann und wann ein wenig darauf einzulassen. Mit ihnen zu spielen, wenn beide durch die Felder jagten. Es war fast… als wäre alles wieder auf seinen Stand der Dinge zurückgekehrt, zur Normalität, zum Status Quo. Doch dieser Schein trog und niemand konnte sich dieser bitteren Erkenntnis versperren. Ninafer fiel es noch ein wenig schwerer als ihrer Adoptivtochter und deren Gemahl, da sie nicht nur die Kinder fortwährend im Blick hatte, sondern auch Thorin – der seinerseits sich von allen am wenigsten Illusionen darüber machte, was vor sich ging und möglich war. Brecher, Stich und Fang lagen auf dem Karren, auf dem Nathenial und Emilia mitfuhren, auf dem sie rasteten, aßen, schliefen und sich darüber beschwerten, dass die Felle nicht dick genug waren, um zu verhindern, dass ihre Hinterteile auf den Kisten sitzend bei jeder Bodenwelle wundgeprügelt wurden. Alistair und Ishara waren entweder besser darin, es zu verbergen, oder hatten es generell leichter, es zu ignorieren. Und wirklich, er gönnte es ihnen, falls Letzteres zutraf. Aber trotz allem Sonnenschein und lauen Lüftchen wären sie nicht in diesem Land, wenn nicht ernstzunehmende Umstände ihnen diese Reise aufgezwungen hätten. Wenn da nicht diese verdammten Götterwaffen auf der Ladefläche liegen würden. Der zehnte Tag markierte die Halbzeit ihrer Reise. Sie waren Akkaras Grenze nahe, sehr nahe. Und kehrten in ein Dorf ein, um zu rasten. Die letzte Station vor der Überquerung der Grenze. „Wir fahren nicht weiter mit“, erklärte Nathenial leise, als sie beim Abendmahl zusammensaßen. Der Tisch befand sich in der Ecke des einzigen Gasthauses, das Schönblick aufbieten konnte – weshalb sein Schankraum wohl auch gerade jetzt prall gefüllt war. Vor allem mit den diversen, gut zahlenden weil gut gelaunten Mitgliedern der Karawane. Thorin seufzte leise. „Ihr wusstet das nicht früher, oder?“ Emilia schüttelte den Kopf. „Nein.“ Selbst hätten sie es früher gewusst, hätte er es den Kindern vermutlich dennoch nicht übelnehmen können. Was wussten sie schon, was solche Entscheidungen für eine Karawane bedeuteten. Oder zumindest bedeuten konnten. Glücklicherweise war ihr Verhältnis ohnehin eher loser Natur gewesen. Thorin hatte trotz des Angebotes keinerlei Bezahlung akzeptiert und war damit nicht daran gebunden, durch Wort und Geld, bis nach Thethys mitzukommen. Dennoch bereitete es Umstände, plötzlich Eskorten zu verlieren, die man für die zweite Hälfte der Reise ebenso einkalkuliert haben mochte. Vielleicht, mit etwas Glück, fand sich hier im Dorf abenteuerlustiger, reisewilliger Ersatz – doch je früher er das anstieß, desto besser konnten die Reisenden die Wogen ihres Abschiedes glätten. Also nickte der Hüne leise seufzend. „Gut, ich kümmere mich darum.“ Er erhob sich und setzte sich ein paar Meter weiter an den Tisch, an dem die Dunkelhäutige mit ein paar der anderen angeheuerten Eskorten beisammen saß und Karten spielte. Dem hübsch anzuschauenden Münzstapel vor ihr nach zu urteilen… gewann sie reichlich. Thorin zog seinen Stuhl vom Tisch mit, setzte sich ungefragt dazu und warf ein paar Münzen in die Tischmitte. Man teilte gerade das Blatt aus und bedachte ihn nun mit. Es wurde rasch deutlich, dass ihre Führerin von den Neuigkeiten nicht unbedingt begeistert war, aber Thorin spielte nicht zum ersten Mal den Boten schlechter Nachrichten. Er wusste die Wogen bereits selbst ein wenig zu glätten, indem er eben ein paar Münzen beim Spiel opferte und die getroffene Entscheidung zu erklären versuchte. Am Ecktisch wandte sich derweil Ishara an ihre Tochter. „Wisst ihr denn, wohin wir jetzt müssen?“ Emilia seufzte und sank ein wenig in sich zusammen. „Nein. Gar nicht. Nur, das wir erstmal hier bleiben und nicht weiter mitreisen.“ Die Halbelbe erhob sich kurz, rutschte mit ihrem Stuhl etwas herum und setzte sich neben ihren Sprössling. Sie zog das Mädchen an sich. „Schon gut. Ist nicht schlimm.“ „Thorin findet’s schlimm“, erwiderte Emilia gedrückt. Und Ishara kam nicht umhin, allem zum Trotz ein wenig zu lächeln. Sie setzte vorsichtig ihren Kopf auf Emilias, strich ihr über die Schulter und hielt sie bei sich. Das Mädchen vergötterte ihren Großvater. Ihn und seine Abenteuer und die wilden Geschichten, die er erzählte. Seit frühster Jugend schon hatte sie begonnen, ihm nachzueifern. Äxte waren wirklich nicht die besten Waffen. Sie hatten eine sehr spezielle Funktion, die selten wirklich zum Einsatz kam und doch hatte Emilia sich die Kampfart mit ausgerechnet dieser Gattung angeeignet – warum wohl? Doch so sehr das Mädchen Thorin auch vergötterte, so sehr hatte sie nach wie vor Probleme, Thorin zu lesen. Und wie konnte man ihr das verdenken? Der Mann machte es einem nicht leicht. „Tut er nicht“, erwiderte sie, „Er ist vielleicht nicht unbedingt begeistert. Aber das hat nichts mit dir zu tun. Du kannst nichts dafür, wann du Informationen bekommst, wann du wie wohin geführt wirst. Es ist diese ganze Geschichte mit den Götterwaffen, die euch wie Marionetten herumzerren, die ihm zusetzt und die er nicht leiden kann. Thorin hasst es, wenn er manipuliert wird. Er oder die, die er liebt.“ Bei jenen letzten Worten hob Emilia den Kopf, drückte sich ein Stück von Ishara ab, um ihrem Blick begegnen zu können. „Meinst du?“ Ishara nickte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. „Meine ich. Er liebt dich. Uns alle. Er ist nur… fürchterlich besorgt, weil er nicht weiß, was vor sich geht.“ Leicht errötend nickte Emilia und lehnte die Stirn wieder an Isharas Schulter. Die Halbelbe seufzte – wenn auch nur innerlich – und hob ihrerseits den Blick. Sie traf auf Ninafers, die mit sanftem Lächeln auf den Lippen zu ihr herüber sah. Die Giftmischerin hatte ihrerseits einen Nathenial bei sich, der sich auf dem Stuhl halb eingerollt hatte und mit dem Kopf auf ihrem Schoß lag und sich mit ruhigen, zärtlichen Bewegungen in einen soliden Halbschlaf hatte kraulen lassen. Ein Schmunzeln breitete sich auf den Gesichtern beider aus und Ishara wurde warm ums Herz, als ihr klar wurde, was sie in Ninafers Blick noch sah. Stolz. Ishara hatte gerade in den ersten Jahren sehr an sich gezweifelt. Daran, ob sie der Rolle als Mutter überhaupt gewachsen wäre. Ob sie nicht die gleichen Fehler begehen und genauso lausig sein würde wie ihre eigene Mutter, ob sie nicht in die gleiche Schiene fallen würde: Mit besten Absichten handeln, aber ohne Kompetenz und Verständnis. Ein Fehler nach dem anderen und stets mit nicht mehr bewaffnet als gutem Willen, aber keiner Ahnung, wie dieser umzusetzen war. Sie hatte Hilfe bekommen, selbstverständlich. Ninafer wusste über das Dasein als Mutter nicht das Geringste – nicht aus erster Hand, allemal. Auch wenn sie natürlich im Kloster genug gehört, gesehen und verfolgt hatte und auch in ihrem Leben danach mehr als genug Erfahrungen durch Beobachtung hatte sammeln können. Doch Wissen, das man nicht selbst gesammelt hatte, konnte einen nur so weit bringen. Thorin hingegen, wenngleich in einer anderen Rolle, wusste ihr mehr als genug dazu zu sagen, was es hieß, ein Kind zu haben. Wie man damit am besten umging. Welche Konsequenzen es gab und wie man ihnen begegnen konnte. Ninafer hatte sich bemerkenswert schnell in die Rolle gefügt, Thorin stand ihr mit Rat und Tat zur Seite und nicht zuletzt Alistair, obgleich ebenso unerfahren und zweifelnd wie sie, war stets da gewesen. Ob mit närrischen Streichen, flotten Sprüchen oder einer Umarmung, wenn sie sie am meisten brauchte. Sie hatte Hilfe gehabt. Und sie hatte sich gemausert, wie Ninafer ihr dann und wann gesagt hatte. Auch die Giftmischerin war sich anfangs nicht völlig sicher gewesen, ob die Halbelbe der Aufgabe gewachsen wäre. Doch hier saßen sie, in einer Situation, die absurder nicht hätte sein können, beruhigten ihre Sprösslinge und teilten einen Moment der Ruhe. Nicht nur wider des Lärms im sie umgebenden Schankraum, sondern der inneren Ruhe. Ninafer nickte ihr zu und Ishara errötete leicht, lächelnd. „Das ist so’n Weiberding, oder?“, platzte Alistair nach einem Moment hinein, „Dieses ganze ‚wir starren uns an und reden irgendwie, ohne wirklich zu reden‘. Weiberding, richtig?“ Ishara konnte nicht anders als leise auflachend mit den Augen zu rollen. Er hatte gewartet. Einen guten Moment abgewartet und ihnen damit Zeit gegeben, diesen Augenblick nicht nur zu erleben, sondern auch auszuschöpfen. Und als er im Begriff war, abzuklingen… machte er darauf aufmerksam, dass es ihn noch gab. „Ja, ein Weiberding“, erwiderte Ninafer mit leicht rügendem Blick, trotz ihres Lächelns, „Das war es jedenfalls, bis sich irgendein Mann eingemischt hat. Aber gut, die ruinieren oft genug so allerhand, meinst du nicht, Liebste?“ Ishara grinste Alistair schief an und nickte zustimmend. „Hey! Ich ruiniere gar nichts, wenn, dann mache ich Dinge besser. Durch meine Anwesenheit und gute Laune und meine grandiosen Witze!“, verteidigte sich der Nordmann. „Hast du nicht mal erzählt“, begann Ninafer demonstrativ an Ishara gewandt, „dass Emilia, als sie noch sehr viel kleiner war, nicht zu schreien aufhörte? Also habt ihr alles nur Erdenkliche versucht, um sie zu beruhigen. Alistair durfte sogar einen seiner Witze erzählen. Und sie schrie danach noch viel lauter…“ „Sie hat nur die Pointe nicht verstanden“, wehrte Alistair die Arme vor der Brust verschränkend ab und zog ein beleidigtes Gesicht. „Die Grimasse hatte mir Angst gemacht“, behauptete Emilia sich zu erinnern. „Oh komm schon! Verräter!“, maulte der Langfinger leise. Ein Glucksen, Grinsen und leises Lachen zog durch die Runde, den Nordmann eingeschlossen. Schließlich verstand er sich inzwischen ganz gut darauf, ein Schauspiel zu präsentieren. Und wer nicht über sich selbst lachen konnte, der brauchte seiner Ansicht nach wirklich Hilfe. Im Verlauf des Abends kehrte Thorin zu seinem Tisch zurück, um ein paar Münzen ärmer, aber dafür ließ er zumindest keinen zurück, der Grund hätte, nachtragend zu sein. Er packte einen Würfelbecher und ein paar Karten aus, die er sich geliehen hatte. „Wir sind hier, also können wir ebenso gut versuchen, uns etwas besser ins Bild zu fügen“, erklärte er. „Ins Bild fügen, hm?“, wiederholte Ninafer schmunzelnd. Das Lächeln verblasste jedoch rasch, als sie bemerkte, wie Thorin einen Moment unschlüssig, ja fast schon unsicher die Karten und Würfel anstarrte, seine Entscheidung sichtlich in Zweifel ziehend. Sie handelte rasch, legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Eine schöne Idee. Etwas Lokalkolorit kann uns sicherlich nicht schaden. Wir sind schließlich in Symmarion – wie hoch waren schon die Chancen, dass wir je hierher kämen? Ausgerechnet hierher, obendrein. Der Palast in Varnasse vielleicht, dank irgendwelcher diplomatischer Reisen, aber ein kleines Dörfchen wie dieses?“ Sie musste es verhindern, um jeden Preis. Thorin zweifelte nicht. Schon gar nicht an sich oder an seinen Entschlüssen, erst recht nicht, nachdem er diese gefasst hatte. Also mühte sie sich, den unbedacht angerichteten Schaden auch so schnell rückgängig zu machen, wie er geschlagen worden war. Der Hüne ließ sich von ihr erfolgreich aus den Gedanken ziehen und begann, die Karten zu mischen. Innerlich atmete die Giftmischerin auf und rügte sich. Im Angesicht dessen, was geschehen war, hinter ihnen lag... vielleicht noch vor ihnen lag... Es ließ sich leicht vergessen, dass diese ganze Sache Thorin vermutlich am meisten von ihnen allen zusetzte, wenn man es stets und allzeit nur mit seiner gewohnt neutralen Miene zu tun hatte – selbst wenn man ihn besser kannte. Während er also die erste Runde gab, strebte Ninafer an, auf ihrem Ansatz aufzubauen. Emilia löste sich von Ishara, ebenfalls etwas dösig, bestand aber dennoch darauf, mitzuspielen. Nathenial erwachte ebenfalls zu neuem Leben, als die kraulende Hand erst einmal aus seinem Schopf verschwand und beteiligte sich ebenfalls. „Ostlond war größer, als ich erwartet hatte“, setzte die Heilerin an und gab ihr erstes Gebot nach einem flüchtigen Blick über ihr Blatt. Der Abend ging darin auf, die Reise zu rekapitulieren. Nur setzten sie in ihren Erzählungen einen anderen Fokus. Statt der irreführenden göttlichen Weisungen sprachen sie von Sundergrads Märkten. Rätselten über magische Stürme auf See, ohne darauf einzugehen, dass dieser sie gewiss nicht zufällig genau dorthin verschlagen hatte, wo sie letztlich hatten landen sollen. Sie sprachen über ihre Eindrücke von der Stadt, wenige die da waren. Und vom Land darum herum. Schmiedeten Pläne, einen Drachen zu bauen und steigen zu lassen, schien sich die Straße zwischen Schönblick und Ostlond doch dafür anzubieten. Sie war lang, gut gepflegt, gut einsehbar und die große, relativ ebene Fläche mit zahllosen Äckern und Weiden bedeutete, dass es nur wenige Bäume gab, in denen sich die Schnur verfangen könnte. Tief in der Nacht war für die Runde dann dennoch der Schlusspunkt gekommen, als Emilia und Nathenial – die schon seit einer Weile mangels Konzentration nicht mehr mitspielten – sich definitiv nicht mehr wachhalten konnten. Ishara und Ninafer befanden, dass es Zeit wurde, die beiden zu Bett zu bringen. Und bei der Gelegenheit auch selbst gleich selbiges aufzusuchen. Thorin und Alistair setzten zwar beide an, zu widersprechen, fügten sich aber letztlich und kehrten mit ihren Frauen in die zwei Zimmer ein. Ihnen war tiefer und fester Schlaf beschieden, trotz der relativen Lautstärke der weiterhin Feiernden und Trinkenden im Schankraum, trotz des knarrenden Holzes, wann immer jemand den Abort aufsuchte oder die Korridore entlang zu seinem eigenen Zimmer und Bett wankte. Trotz des Lärms, der auch in den Morgenstunden wieder aufkam, als die Mitglieder der Karawane von ihrer Anführerin geweckt wurden und sich abreisefertig machten. Über Spiel und Trunk hatten sie brauchbaren Ersatz für die Eskorte auftreiben können und aller Ruhe und Gelassenheit zum Trotz, gab es einen Zeitplan, den zu verschieben die Dunkelhäutige schlicht nicht einsah. Das war eine Frage des Prinzips. Also reiste ihr Tross in den frühen Morgenstunden ab – nachdem viele zwar das abendliche Spiel und Bier genossen hatten, jedoch bei weitem nicht genug Schlaf bekamen. Zumindest dem Genörgel auf den Gängen nach zu urteilen, während sie das Gasthaus nach und nach räumten. Dann wurde es still und den Schlafenden waren noch einige Stunden mehr in ungestörter Ruhe beschieden. Als sich Thorin mit seinen Begleitern beim Frühstück einfand, war der Schankraum fast leer. Es ging straff auf die Mittagszeit zu, die meisten Dörfler waren auf den Feldern oder das Vieh versorgen und die Mehrzahl der Reisenden war fort. Über Speck, Eiern, Käse und Brot – oder süßem Brei für Nathenial, Alistair und Ninafer – ließen sie sich reichlich Zeit, langsam aufzuwachen. „Wir wissen, wohin wir müssen“, erklärte Emilia dann, als sie ihre Schale fast geleert hatte. „Wohin?“, hakte Thorin nach, bevor er abermals vom Käse abbiss. „Die Straße in den Wald, nach Norden“, ergänzte Nathenial, als Emilia gerade einen Schluck Traubensaft aus ihrem Krug nahm. Thorin hätte sich nur zu gern verschluckt, gehustet, demonstriert, wie überrascht er war, doch… das war er nicht. Seid erklärt worden war, dass sie in Schönblick bleiben und der Karawane nicht weiter folgen würden, hatte er es befürchtet. Eigentlich früher schon – seid sie die Karawane nach Thethys nehmen sollten. Vielleicht sogar schon, seid das Schiff überhaupt erst nach Ostlond abdrehte. Es ging zur Spicule. Thorin wusste selbst nur wenig über die Nadel. Hatte lediglich hier und da Geschichten gehört. Eine große, unnatürlich hoch aufragende Steinformation tief im Immergrün-Wald. Angeblich das Zentrum von unvorstellbarer Macht, nutzbar von jenen, die sich als würdig erwiesen und diese Mächte an sich binden konnten. Die sogenannten Nadelmeister. Es hatte über die Jahrhunderte hinweg immer mal wieder welche gegeben. Und den Gerüchten nach… waren sie ein verkommener, von Macht korrumpierter Haufen selbstgefälliger Sadisten, denen man nicht weiter über den Weg trauen sollte, als man sie werfen konnte. Das war ein Schlag an Leuten, mit denen Thorin umzugehen wusste. Er hatte die Axt nicht aus dekorativen Gründen mit. Nein, was ihn daran besorgte, waren die Hintergründe. Die Nadelmeister waren Gottberufene. Die Nadel war angeblich ein Zentrum spiritueller, göttlicher Macht und Magie. Ob es aktuell einen amtierenden Nadelmeister gab – oder mehrere – wusste Thorin nicht zu sagen und es war ihm auch gleich. Er würde Emilia und Nathenial nicht an diese Aufgabe verlieren. Oder vielmehr, an diesen Wahnsinn. Laut dem wenigen, was er vernommen hatte, hatte es durchaus Nadelmeister gegeben, die mit guten, ehrbaren Absichten begonnen hatten. Aber früher oder später schien einfach jedem die Macht zu Kopf zu steigen. Dazu kam, dass die Nadelmeister von den Göttern berufen wurden, um deren Aufgaben zu erfüllen. Um ihre Dreckwäsche zu erledigen, gewissermaßen. Die meiste Zeit waren die Nadelmeister und ihr Handeln auf Arvum beschränkt, auch wenn die Konsequenzen ihrer Taten oftmals wie Wellen im Teich früher oder später in der ganzen Welt zu spüren waren. Er würde seinen Sohn nicht hier zurücklassen. Niemand von ihnen würde hier bleiben. Nicht, solange er ein Wörtchen mitzureden hatte und in Situationen wie diesen war es schwierig, einem Thorin Wyrmblut das Wort zu verbieten. Der Hüne nickte zunächst nur mit sich verfinsternder Miene. „Wir brechen nach dem Frühstück auf.“ Der Waldpfad nördlich des Dorfes machte einen guten, soliden Eindruck. Natürlich war der Immergrün-Wald wild und gefährlich. Wilder und gefährlicher als die meisten anderen Wälder Arvums, so sagte man. Verflucht, flüsterte man in den Dörfern entlang seiner Grenzen. Weshalb trotz der Nähe zum Wald niemand töricht genug war, sich hier als Holzfäller zu verdienen. Und selbst die Jugend sah davon ab, eine Mutprobe daraus zu machen, wer sich in den Wald wagte, wie lange oder wie tief. Doch das wild wuchernde Dickicht am Rand des Pfades schien den Pfad selbst als solchen wahrzunehmen und zu respektieren, statt ihn mit der Zeit und genug Wachstum einfach zu verschlingen. Das war schon ein erster, bedenklicher Hinweis darauf, dass selbst mit diesem Wald längst nicht alles mit rechten Dingen zuging. „Seid wachsam“, mahnte Thorin an, auch wenn es angesichts der angespannten Mienen unnötig schien. Stunde um Stunde drangen sie tiefer vor. Das Bild blieb das Gleiche. Der Wald hielt sich vom Pfad fern und der Pfad schlängelte sich dünn, aber eindeutig mit gelegentlichen, seichten Biegungen durch das dichte Grün hindurch. Sie hörten die für Wälder typischen Laute. Den Wind in den Blättern. Kleintiere im Unterholz. Balzrufe, Jagdgeschrei, das Rascheln von Vögeln und Nagern in den Ästen. Doch kaum eine Kreatur bekamen sie auch tatsächlich zu Gesicht. „Sie halten sich von uns fern“, warnte auch Ishara schon kurz nachdem sie den Wald überhaupt betreten hatten. Sie konnte ohne mit den Tieren und Pflanzen zu reden natürlich nicht erschließen, warum man sie so sehr mied. Das Tiere, die stark bejagt wurden, sich vor dem Jäger versteckten, war nachvollziehbar – aber die Bewohner in der Nähe des Waldes mieden den Immergrün-Wald. Die Tiere hätten nicht so scheu sein sollen, wie sie sich gaben. Generell bekam Thorin mit jeder Stunde mehr das Gefühl, dass sie beobachtet wurden und- „Halt!“, rief es vor ihnen. Es waren die frühen Abendstunden, als sich aus den seitlich gelegenen Böschungen Gestalten erhoben. Geladene Armbrüste zielten auf sie, ein Sammelsurium aus Schwertern, Dolchen und kleinen Handbeilen hing an diversen Laschen und Gürteln, die Kleidung oftmals geflickt, verdreckt, zerschlissen, die Rüstungen bedurften einer Ausbesserung. Diese Leute waren Räuber. Drei schnitten ihnen den Weg nach vorne ab, fünf den Weg nach hinten. Thorin warf Ishara einen kurzen Blick zu, die Axt kampfbereit gezogen. Die Halbelbe hatte ihrerseits bereits den Bogen in der Hand und den Pfeil auf der Sehne liegend. „Es gibt hier zu viel Leben, ich bin fast blind“, verteidigte sie sich. Thorin schüttelte den Kopf. „Schon gut.“ Niemand hatte den Hinterhalt bemerkt. Nicht einmal Alistair. Diese Leute wussten trotz ihres wenig bedrohlich wirkenden Auftretens also, was sie taten und taten das möglicherweise schon eine ganze Weile. Nur… wozu? Thorin konnte sich nicht vorstellen, dass es hier draußen, so tief im Wald, allzu viel gab, das man überfallen konnte. Oder wollte. Würden sie sich auch einem randalierenden Bären in den Weg stellen und Wegzoll aus ihm herauspressen wollen? Und überhaupt… dafür, dass der Wald angeblich so gefürchtet war, schien sich diese Bande ziemlich tief hinein gewagt zu haben. Zeigte nur wieder, wieviel man letztlich auf das Geschwätz der Dörfler geben sollte. Ein Mensch im mittleren Alter trat vor, die schwarzen Haare länger als im direkten Nahkampf gut für ihn sein konnte und dennoch trug er ein Rapier. „Erlaubt mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Francis und ich-“ „Interessiert mich einen Scheiß“, fuhr Thorin ihm dazwischen, „Ihr legt euch mit den Falschen an. Diesen Kampf könnt ihr nicht gewinnen. Was ihr dagegen könnt ist, hier viel Blut zu vergießen und Leben zu verlieren. Wenn euch eure Männer irgendwas bedeuten – oder eure Leben -, dann zieht ab.“ Der Schwarzhaarige stutzte verdutzt. „Nun, so wird man selten begrüßt. Nichts für ungut, aber ihr seid deutlich in der Unterzahl und auch, wenn ich euch Kampfvermögen gewiss nicht abspreche und diese Axt wirklich beeindruckend aussieht – ich habe ein paar brauchbare Schützen auf meiner Seite. Und ich würde wirklich vorziehen, wenn wir das Ganze ohne Gewalt und Blutvergießen regeln könnten.“ „Können wir. Ich sagte auch schon, wie. Ihr hört nur nicht besonders gut zu“, schoss Thorin prompt zurück. Francis seufzte. Einer der Schützen zu seiner Linken hob den Blick zu seinem Anführer, dann zu jener Gruppe Reisender zurück. „Die lernen es einfach nie, Boss. Wir sollten es ihnen demonstrieren.“ „Kein voreiliges Handeln, Naolas“, mahnte Francis seinen Kameraden, „Wir wollen nicht, dass irgendwer verletzt wird.“ Er wandte sich wieder Thorin zu. „Es ist nicht so, als würden wir euch all eure Habe abnehmen. Euch wird nichts geschehen, den Frauen nicht, den Kindern nicht. Wir haben kein Interesse an euren schicken Rüstungen und Waffen. Wir nehmen das Geld und gehen unserer Wege.“ Der Hüne dagegen schüttelte den Kopf. „Ihr geht eurer Wege. Punkt. Jetzt.“ „Thorin, vielleicht sollten wir es einfach lassen…?“ hakte Ishara nach. Ein paar Münzen waren den Streit nicht wert. Das Problem war natürlich weitreichender als das. Es ging nicht um die Münzen – auch wenn sie die für ihre Rückfahrt nach Sundergrad gut gebrauchen konnten. Sie würden vermutlich nach Varnasse ziehen und sich vom dortigen König eine Überfahrt besorgen lassen können, das sollte ein interessanter diplomatischer Ausflug werden, aber nichts allzu Kompliziertes. Nein, es ging um die Sicherheit der Gruppe, jedes Einzelnen darin. Behaupten konnten diese Leute viel. Und Thorin hatte sich in der Weltgeschichte genug herumgetrieben, war hinreichend Leuten begegnet, das er wusste, wie sehr man sich irren konnte – und wie fatal das werden könnte. Die Dinge eskalierten nur wenige Augenblicke später. Francis stemmte die freie Hand in die Hüfte, die Stirn kraus gezogen. Er erwog sichtlich, was er noch sagen konnte, ehe er dazu übergehen musste, etwas zu tun – was immer das dann auch wäre. Einer seiner Handlanger entschied jedoch offenbar, dass die Eingekesselten einen Schubs Motivation in die richtige Richtung benötigten – und drückte ab. „Nein!“, schrie Francis auf, als er bemerkte, was geschah – doch zu spät. Der Bolzen löste sich und jagte voran. Nicht mehr als ein Warnschuss, der direkt vor den Füßen Thorins einschlug… doch was spielte das für eine Rolle? Ishara bemerkte nur den Schuss, hörte den Einschlag, sah sich bedroht, sich, Thorin, ihre Tochter, sie alle. Die Halbelbe zog den Bogen herum und ließ den Pfeil los, dessen Spitze sich punktgenau ins Auge des Schützen fraß. Während der erste Tote im Begriff war, umzukippen, kam Leben in den Rest. Der Schütze neben Francis löste seine Armbrust aus und der Bolzen riss Emilia von den Füßen. Thorins Blick folgte dem Projektil, folgte ihm zum Einschlagspunkt. Irgendwo im Hinterkopf war ihm klar, dass dieser Schuss Emilia nicht getötet hatte. Der Bolzen schlug in ihre Schulter ein. Das konnte übel sein, konnte aber auch relativ harmlos sein. Doch der bloße Anblick, wie das Mädchen von der Wucht des Einschlags zu Boden geworfen wurde, war genug. Der Hüne packte die Axt mit der zweiten Hand, wirbelte wieder nach vorne und schleuderte die Waffe mit aller Kraft. Er verfehlte den Schützen. Weil er den Schützen nicht anvisiert hatte. Stattdessen riss die Klinge sich tief in seinen Brustkorb fressend Francis von den Beinen, schleuderte ihn einen guten Meter zurück, wo er tot im Staub der Straße aufschlug. Thorin dagegen war vorgeprescht, riss dem Schützen die Armbrust aus der Hand und benutzt sei als Knüppel. Er schlug dem Mann einmal kräftig gegen die Nase, woraufhin der ächzend zu Boden ging. Doch Thorin war nicht fertig mit ihm. Er hielt die Armbrust weiterhin, kniete sich auf die Brust des Schützen und schlug ihm mit der Schulterstütze der Armbrust das Gesicht ein. Der Rest der Bande war regelrecht schockstarr. Nach dem ersten Schuss und Gegenschuss hatte keiner von ihnen sich zu rühren gewagt – insbesondere mit Ishara, die den nächsten Pfeil auf der Sehne liegen hatte und Ninafer, die inzwischen ein Blasrohr hielt. Alistair mit seinen Dolchen und selbst Nathenial mit Stich und Fang. Doch als Thorin entfesselt wurde, da veränderte sich die Situation wieder. Die Starre der Leute löste sich, langsam. Ishara rief nach ihrer Tochter, hielt jedoch zunächst Bogen und Position weiterhin, während Nathenial seine Waffen fallen ließ und zu Emilia eilte. Die Reste der Räuberbande flohen rasch zurück in den Wald. Da erst ließ auch der Rest die Waffen sinken und eilte zu dem Mädchen. „Die Wunde ist nicht tief und nicht gefährlich“, erklärte Ninafer nach kurzer Untersuchung, „Aber wir werden Probleme haben, den Bolzen herauszulösen.“ „Ich kann es heilen“, erklärte Ishara entschlossen. „Es tut weh…“, krächzte Emilia leise, blass, zittrig, Tränen rannen über ihr Gesicht, sammelten sich an Schläfen und Ohren. „Schhht, ich weiß… ich weiß… das haben wir gleich“, bemühte sich Ishara hektisch, ihre Tochter zu beruhigen. Angesichts der eigenen, fehlenden Ruhe wenig erfolgreich. „Thorin! Er ist tot, verdammt nochmal! Komm her und mach dich nützlich!“, blaffte Ninafer in die generelle Richtung des Hünen, der den Schädel des Schützen inzwischen in eine klebrige, breiige Masse verwandelt hatte, die bröckchenweise an der Armbrust klebte. Er richtete sich auf, warf die Waffe weg und eilte zurück. „Haltet sie ruhig“, wies Ninafer den Kahlkopf und Alistair an. Beide nickten und begaben sich in Position. „Liebes, das wird jetzt wehtun. Sehr.“ Ninafer reichte Emilia nach deren zittrigen Nicken einen Stock zwischen die Zähne, nahm den Bolzen und zog ihn heraus. Glücklicherweise war die Kappe simpel gehalten, keine Widerhaken oder ähnliche Katastrophen, weshalb es Ishara auch weniger Kraft kostete als die befürchtet hatte, die Wunde vollständig zu schließen. „Wir sollten hier weg“, erklärte Thorin, nachdem er Emilia auf die wackeligen Beine half. Er überließ Nathenial, sie zu stützen und sammelte derweil Stich und Fang ein, die er zunächst Alistair anvertraute. Ebenso, wie er Brecher an sich nahm. Sein Weg führte ihn daraufhin zunächst zu Francis‘ Leiche. Einen Moment blickte er auf hin herab. „Du hast dir die falschen Gefolgsleute ausgesucht“, erklärte er dem Toten. Er packte seine Axt, riss sie aus dem Brustkorb hervor und wischte das Blut nur oberflächlich ab. Sie sollten nicht mehr Zeit als notwendig hier vergeuden. Es gab diesen Abend keine Rast und keinen Schlaf. Stattdessen gingen sie tief in der Nacht dazu über, dass Thorin Emilia trug und Alistair, sich mit Ishara abwechselnd, Nathenial, während Ninafer mit der Lampe den Weg wies. Auf diese Weise konnten sie ein Stück Weg in ansehnlichem Tempo zurücklegen und einen guten Vorsprung zu eventuellen, rachsüchtigen Verfolgern aufbauen. Auch am Tag danach rasteten sie nur ein einziges Mal für wenige Minuten, ehe Thorin die Gruppe zur Weiterreise antrieb. Er hatte nicht vor, in diesem Wald zu schlafen oder übermäßig lange darin zu verweilen. Sie waren dem Ziel nahe – je schneller es nun vorwärts ging, umso besser. Als sie die Spicule erreichten, war Thorin wenig überrascht, dort bereits jemanden vorzufinden. Dem Erscheinungsbild allein nach handelte es sich um einen Menschen, alt und greis. Das Haupt kahl, ein schneeweißer langer Bart, gepflegt, ein sonniges Lächeln und von dünner, ausgemergelter Statur. Der Alte erhob sich langsam, als sie näher traten und verneigte sich, als sie in gebührendem Sicherheitsabstand stehen blieben. In unmittelbarer Nähe war der Eingang zur gewaltig aufragenden Spicule – verschlossen von irgendeiner Art von seltsamem Lichtfeld. „Und du bist?“, erkundigte sich Thorin schmucklos. „Man nennt mich Mikael“, erklärte der Alte weiterhin freundlich lächelnd. Thorin nickte. „Bist du Magier, Mikael?“, hakte er unumwunden nach. Der Alte bedachte sich einen Moment, ehe er den Kopf schüttelte. „Wenn ich es wäre – würde ich euch das dann sagen? Gerade in der Art und Weise, wie ihr diese Frage stellt? Und wäre ich es wiederum nicht, würdet ihr mir dann glauben? Die Antwort, die ich geben kann, spielt also keine Rolle. Was heißt, das ihr die falsche Frage stellt. Ob nun absichtlich oder nicht.“ Thorin verzog das Gesicht und warf einen kurzen Blick zu Ninafer zurück. Sie war seine beste Option, mit solchen Leuten fertig zu werden, ohne die Geduld zu verlieren… aber noch er war nicht bereit, aufzugeben. „Gut, fein. Warum bist du hier, Mikael?“ „Ich betrachte mich selbst eher als… als einen Wanderscholar“, erwiderte Mikael zunächst. „Ein… was?“, mischte sich Nathenial ein und schrumpfte ein bisschen, als Thorin ihm einen mahnenden Blick zukommen ließ. Der Alte schien sich nicht gestört zu sehen, im Gegenteil. Er lächelte dem Burschen kurz freundlich zu. „Ich reise umher, erlebe, entdecke, lerne – und reise weiter, um überall dort, wohin ich komme, das Wissen zu verbreiten, das ich bis dahin sammelte.“ „Das klingt nach Spaß“, meinte Emilia und selbst Thorin hatte seine Schwierigkeiten, abzuschätzen, wie ernst es ihr damit war. Mikael dagegen nickte. „Es ist die Aufgabe, die ich mir selbst aussuchte und ich finde viel Genugtuung darin. Doch nun stehe ich hier vor der Spicule, einem Ort der Macht, an dem viel Wissen gesammelt worden ist und ich muss feststellen, dass sich Probleme ergeben haben. In meiner Reise quer durch diesen Kontinent habe ich viel über die Spicule lernen können, über die Legenden und ihre tatsächliche Geschichte. Ich kam hierher, weil sich im Inneren eine wahrlich beeindruckende Bibliothek befinden soll. Doch von der Welt unbemerkt, hat sich jemand hineingeschlichen und den Titel als Nadelmeister für sich erworben. Ein Drakoide, dessen Verstand schon lange in Scherben lag, bevor er überhaupt hierher kam. Und ich fürchte, die Macht, die dieser Titel mit sich bringt, bekam ihm ganz und gar nicht gut. Er und sein Schüler treiben gefährlichen Unfug dort drinnen. Als ich ankam, empfing er mich als einen Gast, so glaubte ich. Tatsächlich aber wollte er nur wissen, wie nützlich ich ihm in seinen Machenschaften sein könnte. Von der Bibliothek sah ich nicht viel, bevor er entschied, mich hinauszuwerfen. Meine Habe ist noch immer in seinem Besitz. Ein Buch mit dem Symbol von Sonne, Mond und Sternen darauf und ein Wanderstab aus Steineiche.“ „Wenn ich das richtig verstehe“, mischte sich Thorin an jener Stelle unterbrechend ein, „dann wollt ihr, dass wir uns mit diesem Nadelmeister anlegen, damit wir euch euren Krempel zurückholen?“ „Ich weiß nicht, wie vertraut ihr mit den Geschichten über die Nadelmeister seid. Aber ein Wahnsinniger mit solcher Macht ausgestattet, das kann zu großen Schäden führen. Nicht nur in Arvum, sondern auch anderen Teilen der Welt – möglicherweise selbst dort, woher ihr kommt“, erwiderte Mikael sichtlich besorgt. Der Alte nahm langsam wieder im Schneidersitz Platz, bot ihnen ebenfalls an, sich zu setzen. Natürlich folgte keiner der Einladung. Stattdessen wurde er regelrecht von skeptischen Blicken durchbohrt. „Eure Hautfarbe und euer Dialekt“, erklärte er nachträglich, „Ihr stammt nicht von hier. Aus dem hohen Norden, würde ich sagen.“ „Gut, fein – sagen wir mal für einen Moment, ich würde euch glauben. Dann… was könnt ihr uns erzählen und wie geht es weiter?“, prüfte Thorin. Er glaubte Mikael soweit kein Wort, wenn er nicht musste – aber das hielt ihn nicht davon ab, sich noch etwas mehr erzählen zu lassen. Falls das hier eine Hinhaltetaktik war, ein Ablenkungsmanöver, um sie in Sicherheit zu wiegen… dann war es schlecht konstruiert und damit zum Scheitern verdammt. „Wenn ihr diese Barriere durchschreitet, dann fordert ihr den amtierenden Nadelmeister heraus. Er wird wissen, dass ihr eingedrungen seid und nach euch suchen. Ich weiß nicht, in welchem Zustand sich sein Verstand inzwischen befindet – rausgeworfen hat er mich vor nunmehr vier Tagen. Ich bestehe nicht länger darauf, die Bibliothek sehen zu wollen. Aber ich hätte mein Buch gerne zurück, und meinen Stab. Es sind Stücke aus meiner Heimat, auf die ich ungern verzichten würde.“ Mikael spielte ein wenig mit seinem Bart, während er seine nächsten Worte bedachte. „Die Kinder sollten sich bei den Händen halten und zuerst hineingehen.“ Bei jenen Worten stockte jeder in ihrer Gruppe und Thorin, obgleich nicht bedroht, hatte sofort die Axt zur Hand. „Wieso?“ Mikael reagierte auf die Veränderung in der Stimmung nicht im Geringsten, zuckte lediglich mit den Schultern. „Ihr werdet den Nadelmeister herausfordern müssen, um einzutreten. Die Götter wählen die Nadelmeister, um in ihrem Namen zu handeln und Aufgaben zu verrichten. Manche Personen und Charaktere sind für diese Aufgaben mehr geeignet als andere, aber viel hat mit Kämpfen und politischen Intrigen zu tun. Ich bezweifle, dass die Götter es als weise Entscheidung erachten würden, diese Position zwei Kindern zu überlassen. Treten sie zuerst ein, sind sie die Herausforderer. Haben sie gewonnen, sind sie die neuen Nadelmeister. Und werden sehr wahrscheinlich schlicht gehen können, unbehelligt und ungehindert, sollten sie das wünschen. Niemand wird darauf bestehen, das zwei Kinder solche Aufgaben übernehmen.“ „Ihr bezweifelt es? Ihr spekuliert hier mit den Leben meiner Familie!“, zürnte der Krieger. „Ich weiß. Und ich entschuldige mich aufrichtig, sollte ich euch damit gekränkt haben. Doch als Gelehrter kann ich nicht mit Gewissheit sagen, was ich nicht mit Gewissheit weiß“, gab Mikael ruhig und freundlich zurück. Es war eben diese unbezwingbare, unerschütterliche Freundlichkeit, die Thorin reizte. Bis Ninafer neben ihn trat und ihm die Hand auf den Unterarm legte. „Wir danken euch vielmals für die Informationen und werden uns nun zurückziehen, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen“, erklärte sie Mikael zugewandt und zog Thorin mit sich fort. Ein Stück abseits schlugen sie ihr eigenes kleines Lager auf. „Wir müssen dort hinein“, erklärte Emilia ernst. Ninafer dagegen war damit beschäftigt, Isharas Wunden, die nach der Heilung ihrer Tochter entstanden waren, zu versorgen. Die Erstversorgung lag ein gutes Stück zurück und der Heilungsprozess hatte eingesetzt, aber eine er oberflächlichen Verletzungen schien sich möglicherweise zu entzünden und musste gut kontrolliert werden. „Müsst ihr nicht“, schoss Thorin prompt zurück. Nicht, weil er überzeugt davon war oder auch nur über seine Antwort nachgedacht hatte, sondern schlicht als Verweigerung, als Trotz gegenüber der Manipulation, der sie bis zu diesem Punkt unterlagen. „Thorin“, mahnte Ninafer ihn, während sie weiter konzentriert die Naht prüfte, „Stell dich nicht stur. Wir haben uns bis hierher bringen lassen, ziehen regelrecht. Und offenkundig ist die Lösung des Problems in diesem Bau. Du weißt, dass es nicht besser werden wird, nur weil – halt bitte still, Liebes – nur weil du es dir anders wünschen würdest. Es scheint der letzte Schritt dieser Reise, bevor wir hoffentlich alle heimkehren können. Also lass uns kurz hier rasten und diesen Schritt dann so zügig wie möglich angehen, so wie wir das bisher auch getan haben.“ Der Hüne war unbegeistert. Mehr als das. Aber ebenso wenig konnte er Ninafer widersprechen. „Heißt nicht, dass es mir gefallen muss“, maulte er leise. „Oh natürlich muss es das nicht. Glaubst du, irgendeinem von uns gefällt das hier? Aber wir tun alle unser Möglichstes, um es irgendwie zu überstehen und es einander nicht noch unnötig schwer zu machen. Sie müssen dort hinein – also müssen sie dort hinein. Wir sollten nicht überlegen, ob, sondern wie.“ Der Hüne setzte sich und zog die Stirn in Falten. Im Verlauf der nächsten Stunde wälzte er einiges an Ideen – was bis zu dem Punkt reichte, an dem er irgendwo auf den Märkten in Thethys raue Mengen Schwarzpulver stehen wollte, um der Nadel im Zweifelsfall einfach einen zweiten Eingang zu verpassen. Doch letztlich war es nicht Schwarzpulver, mit dem Thorin vor der Lichtbarriere stand, sondern Emilia und Nathenial, die er jeweils an den Händen hielt. „Haltet ihr das für klug? Nur der Tod eines Nadelmeisters oder seine Entbindung durch die Götter können eine Erwählung aufheben…“, merkte Mikael an. „Für jemanden, der wenig weiß, wisst ihr ziemlich viel und gebt es zu seltsamen Momenten preis“, erwiderte Thorin mit einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, das er Mikael nach wie vor nicht ein Wort seiner Geschichte abkaufte. Nicht zuletzt deshalb hatten sie auch vorher mit einem Zweig getestet, was die Lichtbarriere tatsächlich mit etwas tat, das sie zu passieren versuchte. Thorin machte sich keine Illusionen darüber, dass die Götter ihn schon entbinden würden, wenn es so weit käme. Er hatte da ein gewisses Verhandlungsgeschick. Oder die Fähigkeit, selbst Göttern auf die Nerven zu gehen. Emilia trug Brecher bei sich, Nathenial trug Stich und Fang und Thorin seine Axt. Schließlich liefen sie potenziell in Kämpfe hinein. Zudem hatte der Krieger Emilia den Drachenschuppenschild gegeben und Nathenial seinen Brustpanzer – damit beide etwas hatten, das sie zusätzlich schützen würde, sollten sie direkt in einen Hinterhalt hineinlaufen. Laut dem, was Mikael ihnen während ihrer Überlegungen zum weiteren Vorgehen noch mitgeteilt hatte, befand sich direkt hinter der Barriere ein kleines schmales Stück Korridor, das in eine größere Eingangshalle mündete. Ein weiterer Gang führte dann in einen zentralen Zylinder. Irgendeine magische Plattform hob und senkte Besucher dort auf die verschiedenen Stockwerke. Eine Schmiede und Ställe zweigten wohl von dort ab. Die Bibliothek und die Unterkünfte lagen weiter oben. Ishara, Ninafer und Alistair standen, bewaffnet, gerüstet und bereit, als zweite Welle direkt hinter ihnen. Ein letztes Mal sah Thorin sich um. „Alle bereit?“ Und trat dem allgemeinen Nicken folgend mit den beiden Kindern durch die Barriere. „Jetzzzt!“, zischte eine Stimme im Dunkel und ein Hagel aus Bolzen prasselte gegen die Lichtbarriere in ihrem Rücken. Thorin war mehr als froh, den Kindern Rüstzeug gegeben zu haben. „Deckung!“, rief er und stieß beide zu den Seiten davon. Er selbst war bereits getroffen worden, mehrfach. Oberschenkel, Bauch, Brust, Schulter. Ishara und Ninafer würden zweifellos unbegeistert sein. Die zweite Welle wiederum, in der eben jene waren… scheiterte an der Lichtbarriere. Die Herausforderung war gestellt, die Nadel abgeschottet, bis ein neuer Meister gekürt wäre – und Mikael war sichtlich überrascht von der plötzlichen Undurchlässigkeit der Schranke. „Ich… es tut mir leid, aufrichtig leid, davon wusste ich nichts!“ Natürlich glaubte ihm das zu diesem Zeitpunkt niemand mehr. Doch änderte auch alles Fluchen nichts und egal, wieviel Energie Ishara in das Feld zu pressen versuchte – es zeigte sich nicht einmal ein noch so winziger Riss darin. Im Inneren dagegen wütete der Kampf um die Meisterschaft, auch wenn es einer der kürzesten Machtkämpfe in der Geschichte Arvums werden sollte. Thorin stürmte den Verletzungen zum Trotz voran und konnte schon nach kurzem zwei Gestalten erkennen, die vor dem Teleporter standen. Anders als Thorin es sich vorgestellt hatte, waren die Stockwerke im Teleporterraum keineswegs geschlossen, sondern offene Löcher in Boden und Decke, durch die man mittels der Plattformen offenbar hindurchgehoben wurde. Was auch erlaubte, jemanden durch das Loch zu stoßen. Schulter voran rammte er von den beiden dort stehenden Drakoiden den mit der Robe, der seine Armbrust gesenkt hatte, um mit der Klaue seltsame Gesten zu vollführen. Thorin hatte Zauberwirker oft genug gesehen, um zu wissen, was das bedeutete und was es vor allem potenziell für Emilia und Nathenial bedeutete. Damit war der Zauberer das größere und akutere Problem und wurde von dem Hünen mit aller Wucht gerammt. Er verlor unweigerlich das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe davon, während Thorin taumelnd zur Seite abzudrehen versuchte. Von den Drakoiden und dem heranstürmenden Krieger unbemerkt hatte jedoch eine weitere Partei ihren Zug gesetzt. Rasska, ihres Zeichens eine Naga, lebte schon seit einer Weile im Kellergewölbe der Spicule und dem dichten, wilden Dschungel voll gefräßiger Kreaturen, der dort unten wucherte und irgendwie auf merkwürdige Weise trotzdem in Balance zu bleiben schien. Der neuste Nadelmeister und sein Schüler dagegen waren ihr ein gehöriger Dorn im Auge – und lange hatte sie nach einer Möglichkeit gesucht, sich beider zu entledigen. Während der Schüler an ihr vorbei in die Tiefe stürzte und sehr wahrscheinlich von den Raubtieren dort unten binnen Sekunden in Stücke gerissen werden würde, sofern der Aufschlag ihn nicht schon tötete, kümmerte Rasska sich um den selbsternannten Nadelmeister persönlich. Mit dem Speer bewaffnet, brachte die Plattform sie nach oben – just rechtzeitig, um Thorin zur Seite straucheln zu sehen und ihre Chance wahrzunehmen. Ein wuchtiger, kräftiger Stoß und sie durchbohrte den Drakoiden im Rücken, bis die Klinge an Knochen vorbeischabend auf seiner Vorderseite hervorbrach. „Ich sssagte ja: Dreht mir nicht den Rücken zzzu!“, zischte Rasska ihrem Opfer leise ins Ohr. Mit einem ebenso wuchtigen Zug riss sie den Speer wieder aus seinem Körper heraus und beförderte den Sterbenden mit einem Schlag ihres Schwanzes zur Seite. Blitzschnell wirbelte sie herum und erfasste Thorin. Der Mensch war kräftig gebaut und damit gefährlich. Verwundet von mehreren Bolzen – aber verwundete Tiere sollte man erst recht nicht unterschätzen. Etwas, das die Naga schon vor langer Zeit gut verinnerlicht hatte. „Wir sind nicht eure Feinde“, erklärte Thorin, die Axt zwar kampfbereit und sich halbwegs aufrichtend, aber doch zu deutlich geschwächt. „Dasss issst völlig egal“, erwiderte Rasska. „Nein!“, rief Emilia verzweifelt auf die Naga zustürmend, Brecher zum Kampf erhoben, als diese mit dem Speer einen Schlag in Thorins Richtung andeutete. Wie erwartet bemühte sich der Krieger, zu parieren – und schlug ins Leere, während der tatsächliche Stoß zwischen seinen Rippen hindurch glitt. Mit der unmittelbaren Notwendigkeit, sich gegen ein Kind mit einer Axt zu verteidigen und ohne die Zeit, den Speer vorher zu befreien, schlug Rasska mit dem Schwanz nach Emilia. Die wich nicht zurück, sondern erwiderte mit dem Versuch, den Schwanz während des Hiebes mit ihrer Axt zu treffen. Das gelang ihr zwar nicht, aber es schuf für Nathenial eine Lücke, damit er an Rasska vorbeijagen und von der Rückseite auf sie draufspringen konnte. Aufzischend, als Stich ihre Schulter entlangschnitt, packte sie hinter sich, bekam den Burschen zu fassen und schleuderte ihn gegen Emilia. Beide gingen zu Boden, ächzend, während ein paar Meter weiter Thorin aufhörte, sich zu regen. Die Naga kroch näher an die Kinder heran und besah sich beide. „Ihr seid schwach“, bemühte sie sich, das Zischeln aus ihrer Stimme zu nehmen, „Dürr und klein, jung und dumm… ihr seid keine Nadelmeister.“ „Wollen wir auch gar nicht sein!“, rief Emilia erbost zurück. Rasska musterte beide noch einen Moment, ehe sie sich abwandte. Sie kehrte zu Thorin zurück, riss den Speer aus seiner Brust und verschwand ohne ein weiteres Wort in die Tiefe zurück. Es gab noch einen Schüler, dessen Ableben sie sicherstellen wollte. Emilia und Nathenial hingegen stürzten zu Thorin hinüber. Laut um Hilfe rufend versuchten sie, herauszufinden, ob der Krieger überhaupt noch lebte und ihre Hilferufe wurden umso panischer, als sie keinen Herzschlag und keine Atmung fanden. Wenige Augenblicke, nachdem der amtierende Nadelmeister verstarb, brach auch die Lichtbarriere am Eingang zusammen. Die Meisterschaft war geklärt worden – und die drei Wartenden stürmten den panischen Hilferufen ihrer Sprösslinge entgegen. Einen Augenblick nur brauchten sie, sich die Situation zu vergegenwärtigen, ehe Ishara sich neben Thorin niederließ. Sie bemühte sich nicht, die Tränen zurückzuhalten. Alistair und Emilia dicht bei sich haltend, sah sie zu, wie Thorins Wunden sich langsam schlossen. Er hatte offenbar immer noch genug Jahre in sich. Aber sie hatte versagt, oder nicht? Darin, ihn zu beschützen. Ihn vom Sterben abzuhalten. Einmal mehr. Sie hatte sich geschworen, dass das nie wieder passieren würde. Aber hier waren sie. Ninafer setzte sich dazu, zog Thorin ein wenig herum und bettete seinen Kopf auf ihrem Schoß. Keine Stunde verging, da tat Thorin den ersten, gierigen Atemzug seines neu regenerierten Lebens. Ishara zuckte fürchterlich zusammen, war dann jedoch rasch bei ihm. Blinzelnd und träge sah Thorin sich um. „Dieses verdammte Miststück… ich habe ihr gesagt, dass wir nicht ihre Feinde sind…“, krächzte er bemüht und richtete sich mit Ninafers Hilfe langsam auf. Kaum hatte er sich aufgesetzt, fiel ihm Ishara um den Hals. „Ich hatte solche Angst…“, flüsterte sie leise. Was, wenn seine Kräfte nicht für eine volle Regeneration ausreichen würden? Was, wenn Wunden zurückblieben? Keiner von ihnen wusste, wie es wirklich aussehen würde, wenn seine Zeit aufgebraucht war. Und in kürzester Zeit fanden sich auch Emilia und Nathenial bei ihm ein. Thorin umarmte sie, drückte sie an sich und sog die Luft tief in seine Lungen, kämpfte selbst darum, Fassung zu wahren. Es roch nach abgestandener Luft, muffig und staubig, aber es roch auch nach der Lederpolitur auf dem Panzer, nach den Ölen, die Ninafer für ihre Haare verwendete und der Seife, die sie ständig Ishara und Emilia andrehte. Es roch nach dem schlecht zusammengemischten Juckpulver, das Nathenial mit sich herumschleppte und das kaum Wirkung zeigte. Er schloss die Augen und drückte sie noch etwas fester. „Können wir heim? Bitte?“, fragte Nathenial leise. Thorin öffnete die Augen wieder und sah sich um. Sie waren in der Spicule. Der Nadelmeister war tot. Emilia und Nathenial waren, offenbar, nicht berufen worden und er hatte sehr zum Leidwesen aller seine eventuelle Berufung durch sein Versterben negiert, mindestens. Was blieb also? „Können wir denn?“, hakte er nach. Emilia und Nathenial zuckten unsicher mit den Schultern. „Ich werde mich vorher noch etwas umsehen“, meinte ausgerechnet Ninafer. Thorin wollte bereits widersprechen, hielt dann jedoch inne. Er kannte diesen Ton. Es war ein Gefährlicher. Einer, der üblicherweise mit jemandes Tod und zumindest immensem Unbehagen einherging. Und obendrein ein gutes Signal, eine Warnung, ihr nicht in die Quere zu kommen. Wie Thorin zu wenigen Gelegenheiten hatte feststellen müssen, gab es dabei auch keinerlei Ausnahmen. Selbst für ihn nicht. „Wieviel Zeit brauchst du?“ „Kann ich nicht sagen. Wartet draußen.“ Er nickte und richtete sich mit Isharas Hilfe langsam auf. Ein kurzer Blick und ein Nicken und Alistair heftete sich als Assistenz, falls nötig, an Ninafers Fersen. Ishara stützte Thorin, obwohl unnötig, auf dem Weg nach draußen. Beide hielten Nathenial und Emilia jeweils an der Hand wie Thorin es bei Betreten der Spicule getan hatte. Als sie nach draußen traten, warf Thorin einen Blick zur Seite. Er war nicht allzu überrascht, Mikael nicht mehr dort sitzen zu sehen. Stattdessen steuerten sie ihr Lager an und rasteten in relativer Schweigsamkeit, dicht beisammen, für mehrere Stunden. Als Ninafer wieder zu ihnen stieß, von Alistair weiterhin begleitet, wirkte zumindest die Giftmischerin zufrieden. Lächelte sogar wieder. Während Alistair sichtlich unwohl immer wieder zum Eingang zurückblickte. „Was ist passiert?“, erkundigte sich Thorin. Schlicht, weil es weniger anklagend klang als ‚Was hast du getan?‘ „Es gab keine weiteren Probleme. Die alchemischen Vorräte sind aufgebraucht. In der Bibliothek hängt eine dichte, dicke Wolke aus Giftgas, die sich nach und nach in alles hineinsetzen sollte. Das Holz der Tische und Stühle, die Regale, die Bücher – jede Seite davon. Die Zusammensetzung gewährleistet, dass es mehrere Jahrzehnte potent bleibt, während die Wolke selbst zumindest die nächsten Tage noch überdauern sollte“, erklärte sie im sonnigsten Tonfall und mit dem zufriedenen Lächeln einer völlig Wahnsinnigen. Thorin konnte und wollte jedoch nichts dagegen sagen. Nicht nach dem, was geschehen war. Falls die Nadelmeister in irgendeinem Zusammenhang zur Götterdämmerung standen… dann war es besser, wenn es für ein paar Jahrzehnte einfach keine Nadelmeister mehr gäbe. Und für die Zeit danach… würde man Lösungen finden können, wenn es soweit war. Thorin nickte und erhob sich. „Gut. Zusammenräumen und weg hier. Ich vermisse unser kühleres Klima.“ Niemand widersprach ihm. Stattdessen waren in Windeseile alle Sachen gepackt und die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Niemand weinte der Spicule, Schönblick, Ostlond oder Arvum als Ganzem auch nur eine Träne nach. Es würde nicht ihr letzter Besuch in Arvum sein und nicht ihr letztes Zusammentreffen mit Nadelmeistern, doch für den Moment befanden sie genug davon erlebt und erfahren zu haben. Es reichte. Brecher, Stich und Fang waren in den Gängen des Erdgeschosses liegen gelassen worden. Unbeachtet, unerwünscht. Erst als die Gruppe abreiste, die unmittelbare Nähe zur Spicule verlassen hatte, beugte sich Mikael herab und hob die zwei Dolche und die Axt auf. Seufzend betrachtete er die Stücke. „So etwas lässt man doch nicht einfach herumliegen“, maßregelte er, ohne es an irgendwen zu richten, es an irgendwen richten zu können. Außer ihm war niemand mehr da. Mit den Waffen auf dem Arm trat er in den Teleporterkreis und die leuchtende Scheibe aus Kraftmagie erschien unter ihm, manifestierte sich und trug hin hinauf. Zum Gasthaus, zu den Zimmern, schließlich zur höchsten Ebene der Spicule – der Bibliothek. Und dann noch ein Stockwerk höher.   Wenige Tage später stolperte eine verhärmte, ausgezehrt wirkende Gestalt den Weg entlang. Sie kam abrupt zum Stehen, als sich die Baumkronen öffneten und erstmals einen Blick auf die beeindruckenden, gewaltigen Ausmaße der Spicule eröffneten. Die Figur senkte ihren Blick wieder zu jenem schwarz und düster klaffenden Eingang und stützte sich mit aller Kraft auf den Stab, den sie führte. Ein Stab aus Knochen, an dessen Ende eine Klinge aus geschliffenem Knochen prangerte. „Wer… w-wer seid ihr?!“, zischte die Gestalt entkräftet einer zweiten Figur entgegen, die ruhig im Schneidersitz unmittelbar neben dem Zugang saß. Jener Fremde öffnete die Augen, lächelte warm, freundlich und einladend. „Bitte, fürchtet mich nicht. Ich bin hier, um zu helfen. Mein Name ist Mikael. Und wenn ich mich nicht irre… dann ist das Styx?“ „Ich… w-was?“ „Die Sense“, führte Mikael weiter aus und deutete darauf. Es war ziemlich offensichtlich, dass sein neuster Besucher sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Hunger und Erschöpfung, Müdigkeit und Durst, die Laster des Lebens zehrten an seinem Leib. „W-weiß nicht… ihr kennt sie? Wollt ihr sie? Bitte… b-bitte, nehmt sie! Nehmt sie mir ab! B-bitte!“ Allzu rasch schlich sich ein flehender Ton in die Worte, humpelte die Gestalt hastig auf den fremden Alten zu und bot ihm die Gehstütze dar. Mikael richtete sich langsam auf. Er bemühte sich, das Mitleid aus seinen Augen zu verbannen, als er sich des wahren Zustandes seines Besuchers aus der Nähe vergewissern konnte. Langsam hob er eine Hand auf die Schulter des Besuchers. „Ich bin hier um zu helfen. Bitte, nehmt Platz. Esst mit mir, trinkt. Schlaft, wenn ihr wollt.“ Mit völliger Selbstverständlichkeit nahm Mikael Styx entgegen. „Ich kümmere mich darum.“ Er verschwand im Inneren der Spicule, während sein Besucher erleichtert aufatmete, von einem unsäglichen Gewicht befreit am Lagerfeuer niedersank und mit dem Hunger von Tagen und Wochen die Vorräte vertilgte. Er hatte eine lange und beschwerliche Reise hinter sich, voller Prüfungen und Entbehrungen. Wie sie alle vor ihm. Wie die, die noch kommen würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)