Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 55: Der Ruf ------------------- Langsam schlugen die Wogen gegen die Flanken des Schiffes. Wieder und wieder und wieder, während es mit nur leichtem Wind in den Segeln versuchte, diese gewaltige See zu durchpflügen. Fast schon unbemerkt in Relation zur Größe des Meeres. Was war das Schiff, wenn es Kreaturen in den Wassern unter ihnen gab, die es aus Versehen hätten verschlucken können? Sein Blick hing am Horizont. Nicht dem Horizont, einfach nur einem davon. Osten, Westen, Norden, Süden – es spielte keine Rolle. Überall war Wasser. Überall waren Wolken. Und überall war Himmel. Des Nachts sah er die Sterne und den Mond, am Tag die Sonne. Vögel begegneten ihnen so weit draußen keine. Gelegentlich sah er Wale, Haie, riesige Fischschwärme. Immer nur angedeutet. Silhouetten unter der Oberfläche des Meeres. Die meisten hielten sich vom Schiff fern. Und entgegen seiner früheren, ja entgegen seiner sonstigen Abenteuerlust… begeisterte ihn all das nicht im Geringsten. Es war nicht die erste Seereise, die er unternahm und er wusste ganz genau, wie bahnbrechend langweilig die erst einmal wurden, wenn man alles getan, alles belauscht und alles berührt hatte. Aber diesmal war es anders. Die Schlösser in den Eingeweiden des Schiffes, ob nun an Türen oder Ruhen, Schreibtischen oder kleinen Schmuckschatullen, hatten nichts von ihm zu befürchten. Die Reichtümer darin ebenso wenig wie die Händler, behangen mit kostbaren Ringen und feinsten Stoffen, denen sie gehörten. Ihm stand nicht der Sinn danach, die Frachtkammern und Laderäume zu durchstreifen. Lieber blieb er hier oben, im Krähennest. So weit oben wie möglich. So sicher und entfernt von Thorin, wie möglich. Dabei fürchtete er den Krieger nicht einmal. Nicht wie früher, als er sich noch tatsächlich Sorgen darum gemacht hätte, er könne ihm den Arm brechen oder einfach den Schädel einschlagen, das Genick wie dünne Äste knicken oder-… oh, nun, er hatte eine blühende, lebhafte und gelegentlich grausame Fantasie – er hatte sich viele Arten und Weisen vorstellen können und es auch getan, wie ein Thorin Königsend einem unbedeutenden kleinen Alistair das Leben schwer machte. Oder beendete. Doch Thorin Königsend war mit der Revolution verschwunden. Und Thorin Wyrmblut war aufgetaucht. Der Mann war anders, das merkte man rasch. Vor allem, wenn man Vergleiche zog. Vergleiche ziehen konnte, wenn man beide Männer kannte. Als hätte Thorin eine Metamorphose durchlaufen. Als hätte er, mal wieder, sein früheres Selbst zu Grabe getragen und nur Teile davon für die Konstruktion seines neuen Ichs benutzt. „Du brütest“, kam es von irgendwo hinter ihm. Alistair zuckte fürchterlich zusammen und spähte über seine Schulter. Ishara, seine hübsche Ishara, saß dort, die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen, das Kinn auf die Knie gebettet und ihn bohrend musternd. Sie wollte herausfinden, wie es ihm ging. Er kannte diesen Blick. Inzwischen kannte er ihn zur Genüge. „Es geht mir gut“, erwiderte er seufzend. Der Teil mit dem Seufzen war ungeplant gewesen. Und unangenehm verräterisch. „Mhm“, erwiderte sie, „Du hast mich nicht hochklettern bemerkt. Und ich sitze hier schon einen Moment.“ Er verzog leicht das Gesicht. Sie zog ihn auf, richtig? Sie musste ihn einfach aufziehen. Keine Chance, dass er so abgelenkt war… richtig? Doch in ihrem Gesicht konnte er keinerlei Amüsement lesen, keinen Scherz, den sie gleich aufdecken würde. Wie lange saß sie da schon? Sie löste sich aus ihrer Position und krabbelte zu ihm herüber. Zog ihn vom Rand des Krähennestes fort und in ihre Arme. Mit dem Rücken gegen die Reling gelehnt, damit sie den Blick vom Meer ab- und dem Himmel zuwenden konnte. Wasser, obgleich für sie im Grunde ungefährlich, bereitete ihr noch immer Unbehagen – während der Himmel dank ihrer Verwandlungen inzwischen sehr viel vertrauter geworden war. Sie zog ihn an sich, in ihre Arme, fort von seiner Wache und strich ihm durch das Haar. Den Hals herab, über Brust und Arme. „Du machst dir Vorwürfe“, benannte sie das Offensichtliche. Alistair stutzte nicht einmal mehr. Es war ein kurzer, funkenartig aufflammender Gedanke, präsent nur für ein paar Sekunden: Sie kannten einander inzwischen bemerkenswert gut. Früher hätten sie jetzt vielleicht zunächst ein klärendes Gespräch vorschalten müssen, zäh und langwierig. Weil er sich weigerte, auszusprechen, was los war. Wo das Problem tatsächlich lag. Nein, es ging nicht darum, dass er Angst vor Thorin hätte. Ihm war klar, dass der Hüne ihm nichts tun würde. Selbst jetzt nicht. Thorin gab ihm die Schuld an dem, was geschehen war, zweifellos. Er hatte schließlich sich von den Göttern manipulieren lassen. Er hatte seiner eigenen Tochter – und Thorins Sohn – diesen verdammten Schlüssel zugespielt. Er hatte in Gang gesetzt, was Thorin seit Jahren zu verhindern versucht hatte. Er war schuldig. Das konnte er akzeptieren. So wie er Thorins Groll akzeptieren konnte. Fehler waren gemacht worden. So man es denn als Fehler sah, einer Religion zugehörig zu sein. An etwas zu glauben. Zu beten. Aber ihm war auch klar, dass Thorin ihn nicht anrühren würde. Nicht nur, weil er seinen Tag damit füllte, Nathenial mit Fürsorge und Aufmerksamkeit zu überschütten. Sondern ebenso, weil Thorin allem zum Trotz auch wollte, das Ishara glücklich war. So glücklich, wie es unter den jeweils gegebenen Umständen eben möglich war. Er wollte für sie in jeder Situation das Bestmögliche. Jetzt Alistair anzufallen wie ein wildes Tier und ihn in Stücke zu reißen war kontraproduktiv – Ishara brauchte Halt ebenso wie der Rest von ihnen. Sie wäre ob dieser Zwistigkeiten traurig gewesen, gelinde gesagt. Hätte ihn vielleicht sogar gegen ihren Vater zu verteidigen versucht. Und Ninafers potenzielle Einmischung erst noch! Das hätte alles viel zu schnell aus dem Ruder laufen können, als dass der weitsichtige Thorin Wyrmblut es versucht hätte. Zumal auch Ninafer, die Ärmste, getröstet werden wollte. Die Alchemistin wirkte stets unnahbar, unangreifbar. Ihre Fassade perfekt. Aber wer sie lange genug kannte, der wusste auch die subtilen Zeichen zu lesen, mit denen sie sich zu verständigen gewohnt war. Und die waren in den letzten Tagen und Wochen eindeutig. Sie litt. So wie sie alle. Nathenial und Emilia hatten ihr Abenteuer überlebt. Was immer sie da unten alles hatten tun und leisten müssen, sie waren mit halbwegs heiler Haut davon gekommen. Nur bedeutete das nicht das Ende. Ähnlich wie Thorins Axt, die stets ihren Weg zu ihm zurück fand, wurden auch ihre Kinder nun von deren frisch errungenen Preisen verfolgt. Brecher, die Zweihandaxt des Kriegsgottes. Fang und Stich, die Dolche Lenikkis. Thorin warf sie in die Grube, in deren Nähe sie ihre Sprösslinge fanden. Tags darauf lagen sie an deren Krankenbett auf dem Nachttisch. Es war einen Versuch wert gewesen, sicherlich – nur hatte irgendwer von ihnen tatsächlich zu hoffen gewagt, es wäre so einfach? Sie waren auserkoren worden. Von den Göttern selbst. Niemand wagte wirklich zu fragen, wofür. Was immer es war, konnte nichts Gutes sein. Thorin hatte ein Abkommen gebrochen. Eines, das er direkt und unmittelbar mit einem Gott geschlossen hatte. Und mehr noch. Im Nachklang dieses Verrates hatte er gewagt, die Götter offen herauszufordern, indem er ihnen Macht und Einfluss in seinem Reich absprach. Die Säkularisierung hatte die Nation gespalten. Nicht tief, wirklich. Im Nachhall des Krieges waren die Leute des Beschwerens und Kämpfens müde geworden. Thorin führte sie und er führte sie gut. Vielleicht würden sie in ein paar Jahren oder Jahrzehnten  die Kraft haben, diese Entscheidungen zu hinterfragen und sich dagegen aufzustellen. Vielleicht hätten sie sich bis dahin aber auch bereits daran gewöhnt. So viele Unterschiede waren es ja nun wirklich nicht. Die Tempel konnten weiterhin unterrichten, wenn die Eltern das vorzogen. Aber es gab auch Schulen. In denen Religion nicht gelehrt wurde. In denen nicht die Priester es waren, die Mathematik und die Grundgesetze der Natur lehrten. Stattdessen waren es handverlesene Weise, Gelehrte und allem voran, Staatsdiener. Denn ein Staat sollte sich selbst darum scheren, ein fähiges und kluges Volk für seine eigene Zukunft heranzuzüchten. Das waren jedenfalls die ungefähren Worte gewesen, mit denen  Thorin damals seine Ankündigung erklärt und verteidigt hatte. Die inoffizielle Variante war natürlich weniger rosig und freundlich. Wie so oft. Politik war eine Schlangengrube und ganz gleich, ob sie fast leer war – wer eintrat, musste selbst zur Schlange werden. Schien einfach ein Naturgesetz zu sein. Eines, das Alistair ebenso betraf und ihn oft genug angewidert und ermüdet hatte. Aber nichts davon musste er aussprechen. Nichts erklären. Nicht ausholen. Stattdessen konnte er sich zurücklehnen. Isharas Fingern in seinen Haaren nachspüren. Es genießen. Diesen Moment vertrauter Zweisamkeit. Sie waren einander nahe, auf mehr als nur körperlicher Ebene und er wusste es zu schätzen. Rang sich ein erschöpftes, müdes Lächeln ab. Die letzten Nächte hatte er mies geschlafen – wenn überhaupt. So wie Thorin und Ninafer auch. So wie, den dunklen Ringen unter ihren hübschen Augen nach zu urteilen, seine Liebste auch. Er war schuldig. „Ich habe ihn nie ernst genommen“, seufzte Alistair leise. „Ich weiß“, erwiderte Ishara lediglich. Ihre Stimme war neutral. Nicht, weil sie sich darum bemühte. Er sah sie über ihre Miene huschen – die vielen verschiedenen Impulse und Empfindungen, die sie bei dieser Äußerung wie wilde Tiere anfielen. Thorin nicht zu glauben erschien ihr inzwischen vermutlich töricht. Närrisch. Dann wiederum waren das Begriffe, mit denen Alistair oft genug beschrieben worden war. Sie kannte ihn. Wusste darum. Hatte es auch damals gewusst. Und nie hatte sie versucht, ihn in der Ausübung seines Glaubens zu behindern. Nie. Wie hätte sie das auch können sollen, gerade sie, Botin des Pantheons. Sie hasste den Titel. Und wehrte sich dagegen, wo und wie und wann immer sie konnte. „Komm mit runter. Du musst was essen. Und solltest schlafen.“ Ihre Stimme nahm diesmal einen Klang an. Warm, weich. Einlullend, geradezu. Sie becircte ihn, so gut sie konnte. Lockte. Und all ihr Mühen war auch nötig – Alistairs Miene zeigte nur zu deutlich den Widerspruch, der ihm auf der Zunge lag. Er hatte geschlafen. Naja, ein wenig. Er hatte gegessen. Ein wenig. Er musste nirgendwo hin. Hier war es wirklich perfekt, alles war gut, er musste nicht gehen. „Bitte“, schob sie leise nach – und brach damit mutwillig die Widerstände. Was hätte er darauf noch sagen sollen? Er war ebenso erpicht darauf, sie nicht noch unglücklicher zu machen, als Thorin. Seufzend nickte er leicht, gab sich geschlagen. Alistair wusste genau, was folgen würde und sollte darin auch bestätigt werden. Gemeinsam erhoben sie sich nach einem weiteren Augenblick des Zögerns und Zauderns – seinerseits, hauptsächlich. Ehe sie das Krähennest schließlich hinter sich ließen, ohne wirkliche Begeisterung für die an ihnen ziehenden Winde und das Adrenalin des Herunterkletterns in der sich windenden, schwankenden Takelage ihren Weg nach unten fanden. Ehe sie über das im Wellengang schaukelnde Deck des Schiffes wankten, die Treppe hinab, die Korridore entlang. Er wurde von ihr in ihre gemeinsame Kabine gebracht. Ein einziger, großer Raum mit vier Betten, zwei kleine Schmale, zwei große Breite. Wie erwartet spannte Thorin sich direkt an, als Alistair eintrat. Warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der sich jedoch rasch zu einem Anstarren geprägt  von Erschöpfung und Niederlage wandelte. Ninafer blickte auf, bemühte sich um ein Lächeln und bot ihnen Tee an. Alistair nickte, obwohl er wirklich keinen verdammten Tee wollte. Aber abermals waren die subtilen Zeichen, die sie von sich gab, alles, was er brauchte. Wie lange mochten die beiden schon an Nathenials Bett sitzen? Sie konnte die Ablenkung gebrauchen, selbst wenn es nur ein paar wenige Minuten waren. Einen Grund, aufzustehen, sich zu bewegen, ihre Glieder zu strecken und ihren gebeugten Rücken zu entlasten. Erst nach einem flüchtigen Blick in den Raum bemerkte Alistair, das auch Emilia in Nathenials Bett lag. Beide Kinder dicht beisammen, die Decke über ihre Schultern gezogen. Sie schliefen. Und ließen sich selbst von Ninafer nicht stören, als diese ohne besondere Rücksichtnahme daran ging, Tee zu brühen. Es gab Alistair noch immer Rätsel auf. Sie hatten die Kinder dort unten wiedergefunden und sie waren ansprechbar gewesen. Emilia, zugegeben, erst nach einer vorsichtigen Ohrfeige. Aber beide hatten sich geregt. Es war dieser erste Schlaf, der irgendetwas auszulösen schien. Sie wirkten danach oftmals erschöpft, müde. Und wenn sie schliefen, dann schliefen sie lange. Tief und fest. Und träumten. Oft vergaßen sie, wovon – aber wehe, wenn sie sich erinnerten. Schlachten von epischen Ausmaßen, düstere Gassen und funkelnde Juwelen. Sie träumten thematisch. Sie träumten von Arimasper und seinen Taten – und Lenikki und dessen Taten. Natürlich jeweils zugeordnet. Emilia hatte Brecher angenommen und träumte ganz gewiss nicht von Juwelendiebstahl und Seitenstraßenraub. Während Nathenial sicherlich nicht von den Schlachtfeldern der Welt träumte. Trotz der Erschöpfung, die Alistair empfand – mit jeder Nacht ein Quäntchen mehr -, waren seiner Einschätzung nach die Ersten dennoch die Schlimmsten gewesen.  Als alles noch ungewiss war. Bis sie erstmals wirklich erwachten, nicht nur in einen Dämmerschlaf übergingen, halbwach und wie in Trance. Weder Emilia noch Nathenial hatten es wirklich begriffen. Oder wirklich begreifen können. Etwas war geschehen. Nicht nur dort unten, sondern vielmehr mit ihnen. Sie steckten beide in einer Sache, deren Dimensionen und Ausmaße weit über ihr Verständnis hinausgingen. Sie hatten Brecher, Stich und Fang gefunden. Gefunden. Und das bedeutete etwas – sie wussten nur nicht recht, was eigentlich. Knapp eine Woche hatte man ihnen geben wollen, damit sie sich unter der konstanten Aufsicht und Fürsorge ihrer Eltern erholen konnten. Aber es war nur so lange, wie man die Staatsgeschäfte pausieren konnte. Dokumentenstapel wuchsen täglich, Diplomaten wurden unruhig, Gesandte langsam verstimmt. Letztlich hatte Thorin ohnehin erwogen, Sierra für eine Weile als seine Stellvertretung einzusetzen. Tatsächlich notwendig geworden war das erst an dem Tag, als beide erwachten und ihnen die unbequemen Nachrichten mitteilten. Sie mussten ziehen. Emilia und Nathenial hatten das tiefe, drängende Bedürfnis, zu gehen. Sie konnten auf Gedeih und Verderb nicht sagen, wohin. Aber sie mussten gehen. Schnellstmöglich. Was war ihnen schon anderes zu tun geblieben? Natürlich packten sie allesamt in Windeseile ihre sieben Sachen. Als hätten sie ihre Kinder allein in die Welt hinausgelassen! Nicht in eine Welt so instabil und feindselig wie diese, nicht mit ihrer Abstammung, nicht mit diesen Waffen im Gepäck, nicht… nein, einfach ganz grundsätzlich gar nicht. Es hatte nur wenig Verabschiedung gegeben. Ein paar Glückwünsche von Sierra, ein gemaultes „Viel Erfolg“ von Garwinn, aber viele ihrer Freunde waren gar nicht im Schloss gewesen, als sie ihren Aufbruch vorbereiteten und ihre Verabschiedungen vornahmen. Sierra fiel die Bürde zu, den Rest darüber zu informieren, was geschehen war. Sicherlich auch nicht gerade eine dankbare Aufgabe. Wie Lumiél wohl darauf reagierte, einen Tiefling auf dem Thron zu haben? Selbst wenn es nur für eine kurze Zeit sein würde? Jedenfalls hofften alle, dass es nur für eine kurze Zeit wäre. Dass sie lediglich irgendwo auftauchen, etwas tun sollten und wieder heimkehren könnten. Weder Thorin, noch Ishara, Ninafer oder Alistair selbst hatten vor, ihre Kinder an ein Leben als Boten und Diener der Götter zu verlieren. Als Ninafer Alistair die Tasse in die Hand drückte, erwachte er wieder aus seiner Starre. Er ließ sich von einer besorgt dreinschauenden Ishara zum Bett ziehen. Zu Thorin und der Stelle, an der Ninafer gesessen hatte und nun auch wieder ihren Platz einnahm. „Wir übernehmen“, erklärte seine Liebste leise. Thorin blickte auf, widerwillig. Wie so oft beneidete Alistair die beiden ein klein wenig. Sie führten ganze Konversationen über simplen Blickkontakt, stritten und zankten und verhandelten und argumentierten. Er kannte seine Liebste gut, so wollte er stets behaupten. Aber nicht gut genug, um das zu vollbringen. Es schien jedoch, als wären sie gleichauf und kämen nicht recht voran. Ishara hielt seinem Blick stand und ließ sich nicht ab- oder zurückweisen. Etwas, das sie sich unweigerlich hatte angewöhnen müssen. Thorin handelte stets nach dem, was er für das Beste hielt – nur was das, was er für das Beste hielt nicht zwangsläufig das Beste. Erst Ninafers Hand auf seinem Unterarm ließ ihn den Blickkontakt brechen. „Du solltest schlafen, wenigstens ein bisschen“, mahnte die Heilerin leise. Unwillig verzog er das Gesicht, ließ seinen Blick zwischen beiden Frauen schwanken und seufzte leise. Seine Schultern sanken herab, sein Leib etwas in sich zusammen und dann erst konnte man ihm das wahre Ausmaß an Erschöpfung tatsächlich ansehen. „Fein“, quittierte er lediglich und erhob sich. Ninafer führte ihn zu ihrem gemeinsamen Bett herüber. Und die frisch geräumten Positionen wurden von Alistair und Ishara eingenommen. Erst als sie saßen bemerkte Alistair, wie ihm die Hand schmerzte – von der inzwischen bereits ein klein wenig abgekühlten Teetasse. Er nippte daran und stellte sie auf den Nachttisch, nur um in dem Moment, als er sich wieder zurückdrehte, von Ishara einen Teller in die Hand gedrückt zu bekommen. Suppe. Ein paar Streifen Trockenfleisch. Brot. Ein Stück Käse. Es war wenig, wirklich. Aber in dem Moment wurde ihm schlecht beim Gedanken daran, wie sehr sie ihn gerade zu mästen versuchte. Es war offensichtlich viel zu viel… angesichts der Umstände. Dennoch – ihr drängender Blick ließ wenig Raum für Widerspruch, also schöpfte er zunächst etwas Suppe. Die ließ sich wenigstens einfach nur schlucken. Auf dem Rest kaute er danach deutlich lustlos herum und doch, ohne es wirklich zu bemerken, weil er dem keine Aufmerksamkeit schenkte… verschwand zügiger als erwartet wirklich jeder Krümel. Währenddessen starrte er ihre Kinder an. Es hatte sie immer amüsiert, allesamt. Nathenial hatte stets versucht, Alistair zu imponieren. Ihn zu imitieren. Er hatte ihm und seinen Geschichten über Schurkenehre und den Charme der Diebe mehr gelauscht als allem anderen. Er hatte sich im Umgang mit Dolchen trainieren lassen. Hatte sich selbst angeeignet, wie man am besten herumschleichen konnte. Wie man sich versteckte. Wie man sich tarnte. Wie man unauffällig blieb. Ausgerechnet Thorins und Ninafers Sohn hatte sich bemüht, die Qualitäten und Vorzüge des Lebensstils zu adaptieren, dem sich letztlich Alistair und Ishara verschrieben hatten. Zudem hübsch geraten mit seinen kurzen, dunkelbraunen Haaren und den großen, vertrauenswürdigen braunen Augen… gab es inzwischen diverse Anfragen seitens großer Adelshäuser und ausländischer Familien mit Interesse an engeren Bindungen an das Land. Nathenial war schließlich bereits vierzehn Jahre – da konnte man ja wohl langsam darüber nachdenken, ihn zu verheiraten! Doch entgegen Tradition und Gepflogenheiten hatte Thorin vom Konzept Abstand genommen, seinem Sohn eine Gemahlin vorsetzen zu wollen – zumindest ohne dessen Mitspracherecht. Das schien nur beim Adel noch nicht recht angekommen zu sein. Und das es solch eine arrangierte, politische Ehe überhaupt geben würde, wurde zunehmend unwahrscheinlich. Emilia war erst dreizehn, aber für ihr Alter gefasst und reif. So wie Nathenial sich ausgerechnet einem zum Stil seines Vaters widersprüchlichen Pfad ausgesucht hatte, so hatte auch Emilia sich unbedingt etwas suchen müssen, das nicht widersprüchlicher zu ihren Eltern hätte sein können. Sie war begeistert, immer schon gewesen, von den heroischen Akten der Helden in den Epen und Geschichten Thorins. Von den großen Schlachten und gewaltigen Bestien der Welt. Von den Umwürfen und Revolutionen, den blutigen Kämpfen für ein besseres Morgen. Wo Nathenials gewählte Rolle leichte, flinke Füße und geschickte Finger erforderten, mehr allemal als rohe Kraft, da hatte Emilia trainiert. Mit Gewichten. Mit Hämmern. Äxten. Schwertern. Und die gleiche Affinität zu Äxten demonstriert wie Thorin. Sehr zum Verdruss aller, mit Ausnahme eben des Kriegers. Selbst Ninafer war davon wenig begeistert gewesen und hatte zusammen mit Alistair mehr als einmal versucht, das Mädchen auf eine andere Spur zu lenken. Erfolglos. Sie war stärker, als man ihr ansah und klüger, als man ihr nach dem ersten Händedruck zugestehen wollte. Doch ihre Träume zentrierten sich nicht um Schätze und Herausforderungen und Abenteuer in fallengespickten Tempeln vergangener Zeitalter. Sie wünschte sich allem voran ein Leben mit Sinn und Ziel. Etwas, auf das sie – bevorzugt für ihre Prinzipien und Ideale einstehend, kämpfend – zuarbeiten konnte. Damit war sie unweigerlich zielstrebiger als Nathenial. Eine Dynamik, die Alistair und Ishara irgendwie, irgendwoher, bereits kannten… „Wo… wo sind wir?“, krächzte Nathenial leise. Sofort waren Thorin und Ninafer wieder auf den Beinen und beim Bett, nur diesmal eben auf der anderen Seite. Auch Ishara und Alistair waren sofort alarmiert und blickten auf. Der Bursche öffnete die flatternden Augenlider und sah sich langsam um, versuchte sich vorsichtig aufzurichten. „Auf der Nachtigall“, erwiderte Alistair. Nach Nathenials verwirrtem Blick setzte er seufzend nach: „Einem Schiff.“ Nein, sie ritten nicht neuerdings Vögel… die aus Holz bestanden… Der Knabe nickte langsam. Er schrumpfte unter den vier merklich besorgten Blicken sichtbar zusammen und stupste hilfesuchend Emilia an, die sich daraufhin tatsächlich ebenfalls regte und – anders als er – sogar erst einmal streckte, ehe sie die Augen öffnete. Sie lief sofort hochrot an, als ihr klar wurde, wie nah sie bei Nathenial lag und das sie überhaupt ganz grundsätzlich das Bett mit ihm teilte. Die Scham darüber verlor sich jedoch, als ihr klar wurde, in welcher Situation sie sich befand. Wer noch anwesend war. Und welche Stimmung im Raum herrschte. Sie analysierte rasch den Raum, erschloss sich vom Wellengang, dem Salz in der Luft und der Einrichtung das Notwendige wohl selbst und wählte eine bessere erste Frage. „Die Wüste war also… kein Traum?“ Die Mehrheit der Anwesenden verzog das Gesicht. „Nein, Liebste, war es nicht“, erklärte Ninafer leise, als Einzige unbekümmert von den Erinnerungen. Nathenial und Emilia hatten sagen können, dass sie gehen mussten. Nicht aber, wozu oder wohin.iehieltdd Oder wie. Stattdessen folgten Alistair, Ishara, Thorin und Ninafer den zwei Kindern auf einem diffusen Weg, den sie eigenen Worten nach einem nicht weniger diffusen Gefühl folgend bestimmten. Dieses Gefühl führte sie zu einer Karawane, welche sie in Richtung Sundergrad mitnahm. Auf dem Weg war Emilia bei einem der Rastplätze von einem Skorpion gestochen worden. Der glücklicherweise einzige Moment der Aufregung, den sie während der Wüstenreise hatten, aber dafür umso… spannender. Sie hatte ihr Geschäft verrichten wollen und war dazu über die Düne geklettert – außer Sicht aller anderen. Sie hatte den Skorpionsstich zunächst auch nicht ernst genommen, aller Lehren dazu zum Trotz. Das hätte übel ausgehen können, hätte Nathenial sie nicht gesucht und vom Kamm der Düne aus im Sand liegen sehen. Ninafer reichte beiden Kindern kleine Tassen mit Tee, während Ishara neue Portionen Suppe, Fleisch, Käse und Brot vorbereitete. Alistair fühlte sich seltsam nutzlos und obgleich er das eigentlich hätte ändern wollen, obwohl er etwas hätte machen wollen… wusste er nicht, was, und war auch ganz grundsätzlich unfähig, sich zu rühren. Von dort fort zu bewegen. Darin wiederum schien es Thorin ähnlich zu ergehen. Die Nachtigall war ein flotter Zweimaster nach elbisch-menschlicher Hybrid-Leichtbauweise. Ein Schiffstyp, der erst mit Daeris Unterstützung und in Kooperation zwischen Lithlad und Sundergrad entwickelt worden war. Gegenwärtig galten sie als die schnellsten Schiffe auf See – zumindest ohne Eumenes‘ Einmischung oder das Zutun von Magie. Allerdings entwickelte Daeri ihre Erfindungen gelegentlich auch weiter und es hieß, sie hätte bereits ein Schiff geplant, das einfach das Meer vollständig hinter sich ließ und durch den Himmel pflügte, obendrein schneller als alles, was es bisher gab. Das Schiff sollte sie, wenn alles klappte, binnen weniger Wochen nach Ceryddwin bringen. Und wie es von dort aus weiterginge… würde sich dann wohl unweigerlich zeigen, wenn sie da wären. „Was ist die Götterdämmerung?“ Emilias Frage hing einen Moment wie das drohende Beil des Henkers in der Luft – bis es hinter ihnen irgendwo schepperte. Ishara hatte aus Versehen einen der Teller fallen lassen und Alistair kam mit einem Ruck in Bewegung. Er war sofort bei ihr, ergriff ihre zitternden Hände und zog sie an sich. Sie vergrub ihr Gesicht tief in seiner Halsbeuge, legte die Arme um ihn und schien gewillt, alles Leben aus ihm herauspressen zu wollen. Er kannte diese Umarmungen inzwischen besser, als ihm lieb war. „Schhht, alles gut…“, flüsterte er ihr leise zu, während seine Hand über ihren Rücken strich. Er konnte es nun nicht mehr sehen, stand mit dem Rücken zum Bett, aber er glaubte gehört zu haben, wie auch Thorin aufgesprungen war. Der Krieger hatte einfach nur einen längeren Weg zu seiner Tochter gehabt als er selbst. „E-Entschuldigung…“, flüsterte Emilia leise, ungewohnt kleinlaut. Diese seltsam entrückte Stimme ihrer Tochter war es, die Alistair und Ishara schließlich aufweckte. Ishara hob den Kopf aus seinem Versteck. Sie kämpfte. Sie kämpfte mit aller Willenskraft, aller Gewalt, mit einfach allem, was sie aufbieten konnte und rang sich erfolgreich ein dünnes Lächeln ab. Sie riss sich zusammen und trat, unter Alistairs Führung, zum Bett herüber, um sich zu ihrer Tochter zu setzen. Ninafer hatte derweil übernommen, einen neuen Teller zu befüllen und brachte die Portionen zu den jeweiligen Nachttischen, wo sie zunächst unbeachtet liegen blieben. „Ist schon gut… schon gut“, erwiderte Ishara etwas verspätet, ergriff Emilias Hand und strich sanft darüber. Sie versuchte, ihre Tochter zu beruhigen – doch unruhig, wie sie selbst war, gelang ihr das schlecht. Und ein verzweifelter Seitenblick ging zu Thorin. Er hatte in Fällen, in denen sie nicht weiter kam, immer Rat gewusst, immer etwas zu tun gewusst, immer irgendwie handeln können. Sie brauchte ihn. Sie brauchte seine Hilfe. Hier. Jetzt. Und zuverlässig wie ein Uhrwerk nickte der Hüne ihr zu. Jahrhunderte der Selbstbeherrschung und Erfahrung zahlten sich aus, als er seine Miene etwas leerte, straffte, und die Erklärung gab, auf die trotz des versuchten Rückzugs noch immer gewartet wurde. Emilia hatte diese Frage nicht grundlos gestellt. Sie tat selten etwas grundlos. Also waren es die verdammten Träume gewesen. Was immer genau sie geträumt haben mochte, hatte mit diesem Ereignis zu tun. Also wurde es unweigerlich Zeit, das den Kindern mehr offenbart wurde – mehr darüber, was vor sich ging, um sie herum und auch mit ihnen selbst. „Es ist eine ganze Weile her, da begegnete ich dem Orakel“, erklärte er leise. Wie erwartet richtete sich Nathenial verdutzt auf, eine Geschichte witternd. Vergessen die seltsamen Träume und die Fragen und Verwirrung und Beklommenheit angesichts der Stimmung im Raum. Da war Thorin, der Geschichtenerzähler. „Du bist dem Orakel begegnet? Nicht einfach nur einem Orakel, sondern dem Orakel?“ „Dem Orakel, ja. Ich wusste es seinerzeit nur nicht. Für mich war das einfach nur ein alter Mann, der seltsame Sachen erzählte und mich vor eine Wahl stellte, die ich in ihrem Umfang nicht begriff. Seine Worte waren nachdrücklich und blieben mir lange im Gedächtnis. Lange genug, bis ich jemanden fand, der sie mir erklären konnte.“ An jenem Punkt war auch für einen etwas enttäuschten Nathenial deutlich geworden, dass Thorin keine Absicht hegte, näher auf diese Geschichte einzugehen. Zumindest nicht im Moment. Wie ihm das Orakel begegnet war, wann, wo – wer ihm geholfen hatte, seine oftmals kryptischen Weisungen zu verstehen… das waren Geschichten für einen anderen Tag. „Die Götterdämmerung bezeichnet einen Krieg der Götter. Ein Ereignis, das laut dem Orakel von Beginn der Schöpfung an unausweichlich war. Sie wird kommen – die Frage ist nicht, ob. Die Frage ist, wann. Und wenn die Götter selbst in den Krieg ziehen… dann wird eine Welt zurückbleiben – falls überhaupt etwas zurückbleibt -, die sich stark verändert haben wird. Vielleicht bis zur Unkenntlichkeit.“ Thorin sprach leise. Man wusste nie, wer zufällig im Gang gerade an der Tür des Zimmers vorbeilief. Oder dort seit einer Weile schon stand und lauschte. Die Nachtigall war schließlich, trotz allem, ein Schiff unter Shandra Dämmerlichts Flagge und damit ganz offiziell ein Piratenschiff. Den Kindern war derweil mühelos anzusehen, dass sie die Tragweite des Gesagten zwar zu begreifen versuchten, dessen aber letztlich schlicht unfähig sein würden. Niemand von ihnen war dessen fähig. Was sollte man sich vorstellen, wenn Götter in den Krieg zogen? Wie sah so etwas aus? Keiner wusste es. Nur eines war allen irgendwie klar: Das konnte nicht gut ausgehen. Für niemanden. Da würden Mächte zum Einsatz kommen… die die Welt und alles darin möglicherweise schlicht unabsichtlich zum Kollateralschaden reduzieren würden. Emilias Blick glitt durch den Raum, hinüber zu Thorins Axt, die an seinem Bett lehnte. Und der gewaltigen Zweihandaxt, die ein Stück entfernt lag. Zusammen mit einem Paar Dolche. „Wir sollen mit ihnen kämpfen, oder?“, hakte Emilia nach. „Warum kämpfen sie überhaupt?“, erkundigte sich auch Nathenial, fast zeitgleich mit Emilia. Beide stutzten und warfen einander kurz fragende Blicke zu, ehe diese sich an Thorin richteten. Der seufzte tief. Auch seine Aufmerksamkeit hatte sich kurz, Emilias Stirnrunzeln wegen, zu den Götterwaffen verschoben. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Ich kann nur vermuten. Die Götterwaffen galten allesamt als verschollen, teilweise sogar als zerstört. Aber ich vermute, Götterwaffen kann man nicht zerstören. Verlieren, ja. Und wie diese Mistdinger bei euch immer wieder demonstrieren, tauchen sie auch einfach wieder auf, wenn die Götter das wollen. Ich… ich hoffe, dass es nicht darum geht. Ihr seid deutlich zu jung, um in irgendwelchen Kriegen als Soldaten herzuhalten. Ich hoffe, den Göttern ist das klar. Falls… wenn die Götterdämmerung kommt, dann halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die Träger der Götterwaffen, zusammen mit all ihren Paladinen, Predigern, Priestern und Klerikern ins Feld gerufen werden. Dass sie unsere Welt mit ihren Stellvertreterkriegen ebenso zerreißen werden wie den Himmel selbst. Es wäre möglich. Die Götter haben in der Vergangenheit bereits demonstriert, wie wenig Verständnis sie für die Konsequenzen ihres Handelns für diese Welt, ihre Nationen und Völker haben. Oder wie gleichgültig ihnen das ist. Es gibt einen Grund, warum ich Staat und Religion zu trennen versucht habe. Damit, wenn der Tag kommt, die Tempel verwaisen und die Priester in den Krieg ziehen können, ohne dass ganz Lumiél ihnen in diesen Wahnsinn folgen muss. Wir sind nicht ihre Marionetten und Fußsoldaten, die sie nach Belieben herumschieben und opfern können.“ Bei jenen letzten Worten verzog der Hüne unweigerlich das Gesicht. Denn genau das war es doch, was gerade vor sich ging, nicht wahr? Emilia und Nathenial hatten die  Götterwaffen bekommen. Dank Alistair, der unbedingt hatte beten müssen. Etwas so Harmloses wie ein Gebet hatte gereicht. Wie viele Einwohner Lumiéls waren noch immer Anhänger des Alten Glaubens und beteten auf täglicher Basis? Baten um Segen für ihre schwangeren Weiber, um ertragreiche Ernten, baten um Regen, um Schutz, um Gnade, um Vergebung? Und nun waren die Waffen aufgetaucht und ihre Kinder folgten einem mysteriösen Drang, der sie quer durch die Welt zog. Sie wurden herumgeschoben. Wieviel fehlte, bis sie geopfert werden würden? Was, wenn die Götter eben nicht davor zurückschreckten, aus Nathenial und Emilia Kindersoldaten zu machen? Mit einem Kopfschütteln versuchte der Hüne die Gedanken los zu werden. Es gelang ihm eher schlecht als recht, aber zumindest ausreichend, um sich Nathenials Frage zu widmen. „Nach allem, was ich herausfinden konnte… und das ist wirklich nicht viel und besteht zu einem guten Teil aus vagen Schnipseln aus zwielichtigen Quellen… geht es in diesem Konflikt darum, wie sie mit ihrer Schöpfung verfahren sollten. Einige Götter sprechen sich dafür aus, sich nun, da die Schöpfung ist, da sie existiert und gedeiht, sich ein Stück weit selbst zu überlassen. Sich zurückzuziehen, zu ruhen, zu beobachten. Zu sehen, wohin das alles führen wird. Und wenn sich die Schöpfung selbst vernichtet, dann ist dem eben so – und die Götter können von vorne beginnen. Versuchen, es besser zu machen. Dem gegenüber stehen jene, die meinen, dass sie eine Verantwortung ihrer Schöpfung gegenüber haben. Dass sie sie lenken und leiten, sie führen müssen. Wie Eltern, die ihren Kindern Schutz bieten, Weisheit.“ Beide dachten eine Weile über das Gesagte nach, ehe Emilia sich als Erste entschied. „Sie sollten sich raushalten. Klar, wenn wir Mist bauen und es versauen, dann ist das wirklich mies. Da sind dann keine Götter mehr, die wir um Hilfe bitten können oder die notfalls von sich aus eingreifen, um uns zu helfen. Aber dafür sind wir selbst-… selbstbe-…stimmt! Selbstbestimmt! Wir können uns frei entscheiden. Wenn's schief geht, dann waren wir’s wenigstens selbst. Niemand hat uns zu irgendwas gezwungen. Es ist furchtbar, bevormundet zu werden.“ Es ging um die Götterdämmerung. Richtig? Unabhängig davon konnten Ishara und Alistair sich nicht dagegen wehren, kurz das Gesicht zu verziehen. Das klang doch ziemlich… nun, nach Kritik an ihren Erziehungsmethoden. Natürlich beschwerte sich ein Kind darüber, das ihm vorgeschrieben wurde, wann es zu essen hatte, wann es genug gegessen hatte, wann es Nachtisch gab, wann es schlafen sollte. Aber Kinder brauchten Führung. Ordnung. Anleitung. Regelmäßigkeit. Alistair stutzte. Und fluchte innerlich. „So einfach ist das nicht“, erwiderte Nathenial schließlich leise und wandte sich Emilia zu. Die Nähe zu ihr realisierend, wurde er zwar rot, wich aber auch nicht zurück. „Klar, ständig alles vorgeschrieben zu bekommen ist blöd. Und die Götter greifen ja ohnehin ziemlich selten ein. Aber wenn sie’s mal tun, dann kommt dabei ja schon häufig was Sinnvolles heraus. Diese Geschichten über große Stürme, die Eumenes zerstreut, ehe sie das Land treffen. Oder die Inseln, die sie hebt, damit man sie besiedeln kann. Die Götter verhindern, dass alles ins Chaos stürzt.“ „Du bist für die Götter?“, wunderte sich Emilia. „Nein“, erwiderte er sofort, ehe er leicht das Gesicht verzog, „Naja. Nicht direkt. Ich bin nicht für sie. Aber ich bin auch nicht gegen sie. Dieser ganze Krieg ist dämlich. So, wie die Dinge liegen, liegen sie doch gut. Warum können sie’s nicht einfach beibehalten, wie’s ist? Es mag ja nicht perfekt sein. Aber muss es das denn? Hauptsache ist doch, es funktioniert, oder nicht?“ Und an diesem Punkt nickte Thorin geistesabwesend. Mit wenigen Worten hatte Nathenial nicht nur den Kern des Problems erfasst, sondern ihn sogar auf sehr simple Formulierungen heruntergebrochen. Die Götter hatten ein fast schon philosophisches Problem. Eines, das sich auf eine Eltern-Kinder-Beziehung herunterbrechen ließ. Kontrollierte man jede Bewegung der Kinder, schrieb ihnen wirklich jedes Detail vor und formte sie so präzise wie möglich nach den eigenen Vorstellungen, oder überließ man sie einfach sich selbst und der sie umgebenden Welt und sah zu, was dabei herauskommen würde? Beide Ansätze waren idiotisch. Es gab einen Mittelweg. Es musste kein Extrem sein. Nein, vielmehr durfte es kein Extrem sein. Kinder brauchten Führung, ja – und sie brauchten ebenso Freiraum, sich zu entfalten. Sie brauchten die Weisheit und Erfahrung derer, die vor ihnen kamen und es besser wissen, wie auch die Möglichkeit, die Welt selbst zu entdecken, eigene Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen. So, wie die Dinge lagen, erweckte es den Eindruck, als seien die Götter Eltern, die das erste Mal mit den Herausforderungen der Elternschaft konfrontiert wurden und von manchen Entscheidungen schlicht überfordert waren. Wie erzog man Kinder? Mit Mäßigung und Kompromissen. Doch die Götter waren die  Götter. Und das Orakel, jene fremdartige Entität, geschaffen von Kaleran dem Sehenden – einem Chronisten, dessen Art und Rasse nachweislich von den Göttern unabhängig außerhalb der Zeit existierte -, unfehlbar in seinen bisher getroffenen Aussagen… hatte die Unausweichlichkeit dieses Konflikts prophezeit. Es legte nahe, dass die Götter niemandem zuhören würden, niemandem Mitspracherecht zugestehen würden. Dass sie in ihren Rollen und Ansichten einfach zu festgefahren waren. Sie konnten sich nicht von ihren Standpunkten lösen, sie waren mit einem einzigen, kritischen Makel behaftet, der hier und jetzt relevant wurde: Der schieren Unfähigkeit, Kompromisse einzugehen. Die Götterdämmerung würde kommen. Sie würde, sehr wahrscheinlich, verheerend für die Welt sein. Vielleicht für die Existenz als Ganzes. Wer konnte schon mit Gewissheit sagen, was von den Völkern und Nationen zurückblieb, wenn erst einmal göttliche Mächte entfesselt waren – parallel zu denen all der Götterdiener, die auf dieser Welt mit einem winzigen Bruchteil ihrer Macht herumliefen und dennoch fähig waren, halbe Inseln aus dem Boden zu reißen und auf ihre Gegner zu schleudern? Thorin hatte es gesehen. Lumiél war zart und unschuldig, was Magie anbelangte. Das Herz des Drachenvolkes lag hier, die Wiege ihrer Geburt. Sie hatten Magiertürme und Hexerzirkel und dennoch war die Magie in Lumiél so schwach vertreten wie kaum andernorts. Er hatte gesehen, wozu Magie fähig war. Insbesondere jene, die sie bewusst und gezielt als Waffe benutzten. Und göttliche Magie… kannte kaum Grenzen. Eine ganze Welt, die im Krieg religiösen Eifers brannte. Sie vor Fanatismus verbrannte. Weil Mütter und Väter sich nicht darüber hatten einigen können, wie man die Kinder erziehen sollte. „Demnach, was ich herausfand“, setzte Thorin neu an, um die aufkommende Kabbelei zwischen Nathenial und Emilia zu umgehen, „wird der Tag kommen. Unausweichlich. Er hätte schon mehrere Male da sein sollen. Aber immer kam irgendetwas dazwischen. Entschärfte irgendwer den sich aufbauenden Konflikt. Es ist wie eine… Uhr. Wenn es zwölf schlägt, dann ist der Tag da, komme was da wolle – aber immer wieder findet sich irgendwer, der zufällig davon erfährt und Großes leistet, um die Uhr auf eins zurückzusetzen. Oder andere Ereignisse, die nicht einmal beabsichtigt waren, tun genau das. Ich habe meinen Teil beigetragen, um die Zeiger bestmöglich zurückzudrängen. Aber nichts wird dieses Uhrwerk vom Ticken abhalten. Wir können nur stets aufs Neue versuchen, es zu verzögern.“ Emilia hatte aufgehört, Nathenial giftig anzustarren und war tief in Gedanken versunken. Der Knabe selbst war unter ihrem Blick regelrecht dahingewittert, raffte sich dann aber und begnügte sich zunächst damit, einfach in ihrer unmittelbaren Nähe zu sitzen und still zu sein. Schließlich nickte das Mädchen. „Ich erinnere mich nicht mehr wirklich gut an den Traum. Ich glaube, ich war in einer großen Schlacht. Schon wieder. Und da war Arimasper, denke ich. Entweder das, oder Trolle tragen neuerdings riesige schwarze Rüstungen und haben große Zweihandäxte.“ Thorin verzog leicht das Gesicht. Trolle waren nicht dumm – nicht so dumm jedenfalls, wie leichtsinnige Abenteurer ihnen gern unterstellten. Oftmals mit reichlich ungesunden Konsequenzen. Doch sie waren auch gewiss keine zivilisierten, philosophisch bewanderten Kreaturen, die des Schmiedehandwerks fähig waren. Natürlich war es möglich, das Orks, Zwerge oder andere Völker in ihrer Verzweiflung Trolle in vorgefertigte Rüstungen gesteckt hatten und ihnen zeigten, wie man die für sie geschmiedeten, überdimensionierten Waffen führte. Doch das hielt er nicht für sonderlich… wahrscheinlich. „Er hat gegen Mermerus gekämpft, denke ich? Jedes Mal, wenn die Axt auf diesen großen Schild niederging, blitzte alles auf und wurde ganz hell und blendend. Und ich war auch am Kämpfen, aber… aber dann zogen sich alle von mir zurück. Ignorierten mich, als wäre ich gar nicht mehr da. Und neben mir stand dieser Mann. Er war… nicht sehr alt. Dürr und schlaksig. Ein bisschen wie du.“ Sie stieß Nathenial leicht gegen die Schulter und bemühte sich um ein Lächeln, doch dem Burschen war angesichts des Themas nicht nach Lächeln zumute. „Nur hatte er blonde Haare, Kinnlänge. Und eine knolligere Nase. Er stand da in völlig normaler Kleidung. Keine Rüstung, keine Waffen, nichts. Er meinte, er hieße Möbius. Und dass das, was ich sehen könne, die Götterdämmerung sei. Ich… ich glaube, er hat mir danach noch mehr gezeigt, aber… ich erinnere mich nicht.“ Als der Name fiel, verspannte sich Thorin. Sein Blick ging unweigerlich zu Ishara, die ihrerseits ebenfalls erstarrt war und deutlich an Farbe verloren hatte. Alistair hielt ihre Hand, spürte das Zittern darin. Glücklicherweise bekamen die Kinder davon nicht viel mit. Emilia war zu beschäftigt damit, sich erinnern zu wollen und Nathenial schien an ihrer Seite halb eingedöst. „Das ist in Ordnung“, übernahm Ninafer für einen Moment die Gesprächsführung. „Wir hoffen schließlich immer noch darauf, dass das nur Träume sind und keine Visionen und falls dem so ist, dann ist auch nicht weiter wichtig, was darin noch vorkam.“ „Und falls es Visionen sind?“, erkundigte sich Emilia unsicher. „In dem Fall“, erklärte die Alchemistin mit einem munteren und überzeugenden Lächeln, während sie Emilia auf die Nasenspitze tippte, „Sollten die Götter vielleicht lernen, wie man Briefe schreibt oder sich deutlicher und eindeutiger ausdrückt. Wirklich, sie sollten die Fähigkeiten und Limitationen ihrer Schöpfungen wohl am besten kennen, nicht wahr? Wenn sie dir also prophetische Träume schicken, von denen du die Hälfte vergisst, dann wohl doch auch nur, weil das die Hälfte war, die du vergessen solltest oder kannst. Was für einen Sinn würde das sonst machen? Alles andere wäre recht kurzsichtig und dumm von ihnen, meinst du nicht?“ Emilia stutzte. Wirklich überzeugt wirkte sie nicht – und zufrieden noch viel weniger. Aber sie ließ sich von Ninafer zumindest genug einwickeln, schwach zu nicken und es dabei zumindest vorläufig zu belassen. „Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte sich Nathenial dann leise, offenbar vom Schweigen im Raum zu neuem Leben erweckt. „Wir wechseln den Kurs“, flüsterte Ishara leise. „Was?“, hakte Thorin sofort nach, sichtlich irritiert. „Wir wechseln Kurs“, wiederholte die Halbelbe stirnrunzelnd und sah zum Fenster des Raums auf. Alistair löste sich ungern von ihr, tat es jedoch zögerlich und trat an das Fenster hinüber. Er sah den Wellengang – der deutlich zugenommen hatte. Was er ebenfalls sah, war die schier gewaltige Sturmfront in einiger Entfernung, die es völlig unmöglich machte, zu sagen, wo der Übergang vom pechschwarzen Himmel in das Meer darunter war. „Sturm… großer, böser, schwerer, finsterer Sturm…“, erklärte Alistair leise, noch immer dem Fenster zugewandt. „Er… er zieht schnell“, ergänzte Ishara leise, in sich hinein spürend. Dann riss sie abrupt die Augen auf, geradezu schreckstarr. „Er ist hinter uns her!“ Mit einem Satz war sie auf den Beinen und zur Tür hinaus. Völlig überrumpelt starrte Alistair von der aufgeworfenen Tür zu Thorin. „Ihr nach!“, wies der an und machte selbst keine Anstalten. Jemand musste hier bleiben. Jemand musste Emilia und Nathenial beruhigen. Und auf sie aufpassen. Also jagte Alistair ihm zunickend zur Tür, die Korridore entlang und aufs Oberdeck. Ein wuchtiger Wind mit reichlich salzhaltiger Gischt empfing ihn, den man unter Deck nicht hatte spüren oder hören können. Ishara war dabei, den Seemännern zu helfen, die Taue festzubinden. „Die Segel einholen, jetzt!“, rief sie hinauf. Sofort setzten sich mehrere Leute in Bewegung, die Takelage hinauf zu klettern. „Und das Krähennest räumen!“ Ishara hatte keine Ahnung von der Seefahrt. Natürlich wusste sie, wozu das Krähennest  gut war. Und wie Segel funktionierten. Das konnte sich jeder mit etwas Verstand erschließen. Aber in diesem Moment war sie voll und ganz in ihrem göttlichen Modus, wie Alistair es gemeinhin nannte. Sie spürte etwas. Nicht unähnlich dem wirr drängenden Gefühl, das Emilia und Nathenial beschrieben. Nur das Ishara mit diesen Impulsen schon seit geraumer Zeit umgehen musste und eben diesen Umgang auch gelernt hatte, gemeistert hatte. Sie verstand, was von ihr verlangt oder was ihr angewiesen, vorgeschlagen, nahegelegt wurde. In diesem Moment sah sie sich um, erfasste Probleme und wies Lösungen an die Mannschaft an. Und niemand hier wagte, zu widersprechen. Alle wussten, wer sie war. Wer sie alle vier waren. Dazu kam, dass den Seeleuten selbst der Hintern auf Grundeis ging beim Anblick dessen, was da kam. Die schier gewaltige Sturmfront fraß einen Großteil des Himmels. Darunter war es pechschwarz, als würde das Meer dort einfach nicht mehr existieren, nur noch die gähnende, verzehrende Dunkelheit selbst. Keine Blitze zuckten, um das Nichts zu erhellen. Und die Front schien gegen den Wind zu ziehen. Sie wurden also möglicherweise tatsächlich gejagt. Und mit den neuen Informationen zusammen… machte das sogar irgendwie Sinn, auf unangenehme Art und Weise. Es gab immer ein paar wenige Irre, die den Untergang der Welt herbeiführen oder beschleunigen wollten, nach deren Meinung und Geschmack der Untergang wirklich einfach nicht früh genug kommen konnte. Falls die ebenfalls irgendwelche Hinweise aus obskuren Quellen bekommen hatten, waren möglicherweise andere Fraktionen daran interessiert, sie hier auf See umzubringen. Wo war es leichter als dort. Und Eumenes hatte schließlich ihre Augen und Ohren nicht allzeit überall… „Wie kann ich helfen?“, rief Alistair über den ohrenbetäubend laut heulenden Wind seiner Liebsten zu, die ihn jedoch nicht gehört zu haben schien. Er trat an sie heran, berührte sie an der Schulter. „Was kann ich tun?“, erkundigte er sich, nochmals laut gegen den Wind anrufend. Als sie sich umwandte, wäre er fast einen Satz zurückgesprungen. „Mir nicht im Weg stehen“, erwiderte sie. Licht drang in kaltem Eisblau aus ihren Augen. Er sah sie so nicht zum ersten Mal, doch jedes Mal wieder schmerzte es ihm. Es war das deutlichste Zeichen des göttlichen Einflusses, dem sie unterlag. Das dort… war nicht länger Ishara, seine Liebste, seine Gemahlin, Mutter seiner Tochter. Das war Ishara, die Götterdienerin, die Botin des Pantheons. Alistair hätte nicht seiner kleinlichen Sturheit wegen ihrer aller Überleben riskiert. Doch direkt nachdem sie das gesagt und ihn bei Seite geschoben hatte, tat Ishara auch nichts anderes, als verschiedene Positionen an Deck einnehmen und die Vorgänge genau im Blick behalten. Diese Seeleute jedoch wussten, was sie taten und begegneten schweren Stürmen nicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Mehr noch – vermutlich waren sie sogar schon magischen Stürmen begegnet. Das gab ihm die Möglichkeit, etwas auszutesten, an dem er eine ganze Weile gefeilt hatte. Eine Geheimwaffe gegen die Götter, sozusagen, die ihm gelegentlich und zumindest dem Gefühl nach immer häufiger die Liebste ausspannten. Also wagte er abermals, an sie heranzutreten. „Was kann ich tun?“, rief er wieder gegen den Sturm an. „Mir nicht im Weg stehen!“, blaffte sie zurück und machte Anstalten, ihn erneut aus ihrer Bahn zu schieben. Stattdessen trat er bei Seite. „Wie ihr wünscht, Botin des Pantheons.“ Ein Ruck ging durch sie durch. Ishara blieb stehen, wandte ihm das Haupt zu. Blinzelte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch kein Laut drang hervor. Stattdessen dimmte das Leuchten ab, bis Ishara dort stand. Sie wirkte entkräftet, erschöpft. Und er wollte nicht wissen, nicht sofort jedenfalls, ob er den Regen nur nicht einzusetzen bemerkt hatte oder das Tränen waren. Also zog er sie direkt an sich, in seine Arme. Auch wenn sie auf Deck inzwischen alles andere als sicheren, soliden Stand hatten. Ohne weitere Kommentare überließ er das Ringen mit dem Sturm denen, die ihr Leben der See gewidmet hatten und brachte sein Weib unter Deck, zurück zu ihrem Vater und ihrer Tochter. Ishara hielt erst direkt vor der Tür zur Kabine inne, wandte sich ihm zu und umarmte ihn nochmals. „Danke“, flüsterte sie leise und drückte ihm einen innigen Kuss auf die Lippen. Alistair schmolz regelrecht dahin. Getrübt wurde der Moment nur vom Geschmack von Salz und dem Schwanken des Schiffes. Zumindest erlaubte Letzteres ihm, sie umso fester an sich zu drücken. Es hatte funktioniert. Er hatte erfolgreich eine Geheimwaffe, um seine Liebste zurückzuholen, wann immer er es für gut und richtig befand. Natürlich würde das noch zu anderen Gelegenheiten getestet werden müssen, doch… vielleicht konnten sie so den Göttern etwas Kontrolle über ihre Leben entreißen, die sie ihnen unverfroren abgenommen hatten. „Wie sieht’s aus?“, erkundigte sich Thorin, als sie wieder in die Kabine traten. „Finster. Stürmisch“, erwiderte Alistair in einem kurzen Anflug seines einstmals sonnigen Gemütes. Thorins Blick wechselte daraufhin ohne jede Regung zu Ishara. „Er zieht nicht gegen den Wind, die oberen Windschichten kommen tatsächlich in unsere Richtung. Aber jemand hält die Windschichten separiert und treibt den Sturm an, füttert ihn mit mehr Kraft als er ohnehin hätte. Der Sturm jagt uns – im Auftrag von irgendwem. Ich denke nicht, das wir dem entkommen werden.“ Während Alistair sich ans Fenster begab, um das gewaltige, massive Schwarz am Himmel verfolgen zu können, hatte sich Ishara zurück zum Bett begeben. Emilia, obgleich sonst so tapfer und mutig, drängte sich an sie. Während Nathenial in Ninafers Arm bereits wieder eingeschlafen war. „Dann hoffen wir mal, das Daeri gute Arbeit leistete und dieses Hybrid-Ding sein Geld wert war“, raunte Thorin unbegeistert. Die Nachtigall war schnell. Eins der schnellsten Schiffe der neuen Flotte, die man großzügig Shandras Kommando unterstellt hatte, obwohl sie trotzdem stolz das Wappen des Reiches trug. Es war eine Kooperation zwischen Regierung und Piraten – angelehnt an ähnliche Vorgänge in Nervaal, nur weniger chaotisch und blutrünstig. Eine Weile versuchten sie auch tatsächlich erfolgreich, dem Sturm auszuweichen. Doch die Front wuchs stetig weiter und machte es schlicht unmöglich, den Kurs nicht massiv zu ändern – also entschied der Kapitän, die Defensivmechanismen des Schiffes einer Feuerprobe zu unterziehen. Statt den Kurs noch weiter zu korrigieren, steuerte er direkt in die Front hinein mit dem simplen Ziel, auf kürzestem Weg mittendurch zu fahren. Wer immer ihnen die Front auf den Hals gehetzt hatte, würde gehörig Kraft und Arbeit investieren müssen, um sie über ihnen zu halten. Windrichtungen in dieser Höhe und diesem Ausmaß zu manipulieren war alles andere als ein Kinderspiel. „Das Schauspiel beginnt“, verkündete Alistair, als sie in den Sturm lenkten. Eine bläulich schimmernde Kugel umgab das Schiff, als jetzt – ganz plötzlich – massiver, trommelartiger Hagel einsetzte und die ersten, seltsam fokussierten Blitze zuckten. Alles konzentrierte sich auf das Schiff und seinen Schild. Die Körner waren groß genug, einem Mann bei dieser Geschwindigkeit den Schädel einzuschlagen und das bekamen die Reserven des Schildes auch rasch zu spüren. Der Kapitän – wie alle der Flotte von Shandra handverlesen – speiste die Mechanik mit seiner eigenen Magie und als es notwendig wurde, auch der Magie seiner Mannschaft. Natürlich nur so viel, wie jeder geben konnte, ohne entkräftet zu werden. Doch wenn der Schild brach… dann nützte ihnen Muskelkraft oder die Macht, mit Tieren zu sprechen, auch nichts mehr. Angespannte Stille fiel über die Kabine, gebrochen nur vom Trommelfeuer des Hagels und der Kanonenschläge des Donners. Selbst die Blitze konnten die sie umgebende Finsternis nur bedingt aufhellen und eben dieser Anblick, dieses Schwarz dort draußen und die gewaltigen Wogen, die sich gegen den Schild warfen, ließen Alistair richtige, ernstzunehmende Seeübelkeit verspüren. Entsprechend zog er sich auf das Bett zurück, bequemte sich zwischen die Kinder und zog Emilia ein Stück an sich. Ishara war so frei, ihnen beiden beruhigend über die Haare zu streichen und das… das funktionierte so gut wie eh und je. Immerhin etwas, auf das immer Verlass zu sein schien, komme was da wolle. Dem flauen Gefühl in Alistairs Magen nach zu urteilen hätten es durchaus Tage sein können, die sie so zubrachten. Tatsächlich jedoch war es gerade einmal eine Stunde. Eine Stunde, bis – von den einzigen Passagieren der Nachtigall unbemerkt – ihre Situation sich veränderte. Es war die Steuerbordseite, an der sich nach und nach ein immer größerer Wasserwirbel in die Luft schraubte. Die Matrosen hatten zunächst das Schlimmste befürchtet. Dieser Wirbel war der letzte Versuch, sie und ihr Schiff in die Knie zu zwingen, er würde den Schild samt Schiff zermalmen oder unter Wasser ziehen oder sie auf Position halten – doch nichts davon traf zu oder ein. Stattdessen wuchs der Wirbel einfach weiter und weiter, bewegte sich mit ihnen mit, ohne ihren Kurs auch nur im Geringsten zu beeinflussen. Und das wiederum ließ sich nur auf eine einzige Kraft zurückführen: Eumenes selbst. Die Herrin der Meere, so entschieden die Seeleute zu glauben, war mit ihnen. Vielleicht sogar wortwörtlich bei ihnen. Und wenn einem das nicht Mut machte – was dann? Der gewaltige Wasserwirbel schien passiv das Schiff zu begleiten, einfach nur zu wachsen und sonst nicht viel zu tun – bis er sich abrupt in die Höhe schraubte, all die gewonnenen, rotierenden Wassermassen auftürmte, in der Breite schrumpfte. Irgendetwas wurde im Inneren des Wirbels hinaufbefördert, hoch in die Wolken – und kaum war es, wo es sein sollte, brach der Wasserwirbel in sich zusammen und verschwand. So wie auch der Sturm wenig später. Er löste sich keineswegs auf. Doch die unnatürlich dichte Dunkelheit darin legte sich und die Schwärze wich in ein dunkles Grau auf, die Blitze zuckten nun ohne Fokus und der Hagel ging in dichten, dicken Regen über. Aus dem wütenden, zielgerichteten Sturm des Jahrzehnts wurde ein ganz gewöhnlicher Sturm, gefährlich und beeindruckend, aber nicht anders als andere Stürme auf See auch. Und auf Deck nahmen sich Kapitän und Mannschaft die wenigen Minuten, um niederzuknien und Eumenes anzubeten, um ihr für ihre Hilfe und Gnade zu danken. Vielleicht war es besser, dass unter Deck niemand davon erfuhr. Aus ihrer Warte hatten sie lediglich mit dem Plan Erfolg gehabt, den Sturm zu durchfahren. Was sich jedoch nicht vermeiden ließ, waren Planänderungen. Die Nachtigall hatte ursprünglich Ceryddwin ansteuern sollen, doch der Einsatz des Schildes über eine so lange Zeit und unter so intensivem Beschuss hatte die gesamte Mannschaft stark erschöpft. Sie hatten für solche Fälle Vorräte, natürlich. Aber auch wenn die großzügig geplant waren, war das nicht genug, damit umzugehen. Jeder von ihnen hatte mehrere Tage an Kraft und Energie verloren, war geplagt von brennendem Durst und Hunger und obgleich der Kapitän sich bemühte, das zu regulieren, das Aufzehren der Vorräte und Nachfüllen ihrer Reserven kontrolliert ablaufen zu lassen, konnte er doch auch verstehen, wieso dennoch alles so hastig und drängend ablief und letztlich weit mehr verspeist wurde, als notwendig gewesen wäre. Er stoppte sie nicht. Wozu auch – es war nicht notwendig. Selbst nach dem Festmahl hatten sie noch mehr als genug. Nicht für die Reise nach Ceryddwin, aber für einen kurzen Zwischenstopp in einem Hafen, der auf der Route lag. Thorin und seine Begleiter wurden am Abend vom Kapitän darüber informiert, als er sich persönlich dem Küchenjungen anschloss, der auch sonst immer die Gerichte zur Kabine brachte. Er hielt es knapp und sachlich und sah davon ab, irgendwelche Fragen zu stellen – auch wenn sie ihm zahlreich unter den Fingernägeln brannten. Er beförderte hier schließlich seinen König, seine Königin, Prinzen und Prinzessinnen. Das war kein alltägliches Geschäft. „Wir haben den Sturm hinter uns lassen können, Eumenes sei Dank, und sind wieder auf Kurs. Aber es wird eine Planänderung geben müssen. Der Einsatz der Mechanik hat uns einiges gekostet. Die Männer haben sich zwar erholt, aber wir haben ein unerwartet großes Loch in unseren Vorräten. Wir werden die aufstocken, wenn wir einen kurzen Stopp einlegen. Keine Sorge, die Reise wird zügig fortgesetzt werden – wir legen lediglich an, stocken auf und ziehen weiter. Eine Nacht würde ich den Männern gerne an Land zugestehen, ein paar Tavernen besuchen, in richtigen Betten schlafen, ein klein wenig Luxus, so ihr diesbezüglich keine Einwände hegt.“ Thorin musterte den Elb kritisch. Das Spitzohr hatte eine Braue leicht gehoben,  als der Hüne während des Dankes an Eumenes das Gesicht minimal verzog. Er war jemand, der subtilste Zeichen sah und verstand. Gleichzeitig aber hatte er nichts dazu gesagt und schien es auch ganz grundsätzlich zu übergehen gewillt. Vielleicht war an dem Mann ein fähiger Diplomat verloren gegangen – etwas, das sich durchaus bei ihrer Rückkehr korrigieren ließe. Es wäre nicht das erste Mal, dass Thorin Shandra Personal mit lukrativeren Aussichten abjagte. Die Piratenfürstin war davon zwar selten wirklich begeistert, doch der gegenseitige Nutzen ihrer Abkommen war zu groß, um wirklich enthusiastisch zu protestieren oder gar irgendetwas zu unternehmen. Und mehr Diplomaten konnte Lumiél immer gebrauchen. Dann musste er sich da im Idealfall weniger selbst einmischen. „Keine Einwände. Wo wird der Zwischenhalt liegen?“, erkundigte sich Thorin. Die Männer hatten sicherlich ihren Schrecken weg – so wie alle anderen auch. Sie hatten zudem tapfer ihren Dienst verrichtet, ohne zu wissen, ob sie die nächsten Minuten überhaupt überleben würden… sie hatten sich diese Nacht in den Hurenhäusern und Tavernen mehr als verdient. „Ich prüfe die Karten noch, aber vermutlich werden wir-“, setzte der Kapitän an, um jäh unterbrochen zu werden. „Ostlond. Wir laufen Ostlond an“, erklärte Emilia leise. Sie wirkte schläfrig, nur vor sich hin dämmernd. Dennoch vernahm jeder ihr plötzlich bemerkenswert dünnes Stimmchen. Der Kapitän stutzte. „Ja. Ostlond liegt auf der Route und ich hatte es in Betracht gezogen“, gestand er ein. Thorin seufzte. „Dann steuert Ostlond an. Vergesst die anderen Häfen.“ Erst als Ninafer ihm einen mahnenden Blick zuwarf, besann sich der Kahlkopf und schob ein leises „Bitte“ nach. Der Kapitän nickte. „Selbstverständlich, eure Majestät. Ostlond erreichen wir dann voraussichtlich morgen Abend.“ „Nein“, kam es da postwendend und recht entschieden zurück. Das Spitzohr verzog kurz leicht das Gesicht, nickte jedoch rasch. „Natürlich, verzeiht. Keine Titel, falls nicht unbedingt nötig oder in offizieller Angelegenheit“, gab er die Regelung wieder, die sie zu Beginn der Seereise getroffen hatten. Er machte Anstalten, sich zu entfernen, hielt jedoch an der Kabinentür inne, die Hand bereits auf der Klinke. „Dürfte ich eine Frage stellen?“ Sein Blick wanderte zurück zu den Versammelten. Sie wirkten… erschöpft, angespannt, übermüdet, allesamt. Dennoch nickten sein König und seine Königin. „Was ist der Zweck dieser Reise? Ich meine… ich weiß, was der Zweck unserer Reise ist. Wir holen einen der Diplomaten in Ceryddwin ab und liefern eine Fuhre Waffen und Runen. Aber weshalb haben wir plötzlich Passagiere auf der Hinfahrt? Das war nicht geplant, bis zuletzt nicht und um ehrlich zu sein, Shandra kam noch nie persönlich vorbei, um mir Gäste aufs Auge zu drücken. Versteht mich nicht falsch, ich habe keinerlei Einwände – sonst hätte ich sie geäußert. Ich… wundere mich nur. Ihr lasst das Reich zurück. Ihr alle.“ Mit der Mehrheit der Äußerungen hätte Thorin sich anfreunden können – nicht aber mit dem Klang, der die letzten Worte begleitete. „Ich ließ das Reich nicht zurück, ich übertrug es vorübergehend in die überaus fähigen Hände einer guten alten Freundin, die ihr Können und Geschick bereits oft genug bewiesen hat, um auch euer Vertrauen zu verdienen.“ Wie ein gescholtener Bursche stieg eine schwache Röte in die Wangen des Elben, der den Blick niederschlug und nickte. „Natürlich“, erklärte er leise. Thorin dagegen seufzte. „Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass das keine persönliche Angelegenheit sei. Aber es ist mehr als das. Es geht hierbei nicht nur um die Familie. Es geht auch um die Sicherheit des Reiches. Lumiél stehen noch viele Gefahren entgegen, unsere Zukunft ist alles andere als gesichert. Obgleich mancher glauben mag, das friedliche, ruhige Zeiten des Wohlstands und Wiederaufbaus vor uns liegen: Ich weiß es besser. Die Wölfe vor unserer Haustür mögen wir erstmal vertrieben haben, aber es gibt immer mehr von ihnen. Und es gibt Gefahren, die schwerer greifbar, schwerer vorstellbar sind. Von deren Existenz mancher nicht einmal weiß und, wirklich, weder wissen wollen würde noch wissen sollte. Eben eine dieser Mächte ist dabei, zu erstarken. Und wir sind hier, um zu gewährleisten, dass rechtzeitig die nötigen Schritte unternommen werden, um auch im Angesicht dieser Veränderung weiterhin Lumiéls Sicherheit und die Sicherheit seines Volkes zu wahren.“ Die Stirn leicht in Falten gelegt, durchdachte der Kapitän das Gesagte und nickte schließlich mit ernster, entschlossener Miene. „Ich verstehe. Ich danke für die Auskunft und… wenn ihr erlaubt, dass ich so frei bin: Es ist mir eine Ehre.“ Thorin nickte lediglich und wartete, bis der Elb sich aus der Kabine zurückgezogen hatte und die Tür mit hörbarem Rasten ins Schloss gefallen war. Er atmete aus und sank wieder ein Stück zusammen, während Ninafer ihm die Hand an die Wange legte, ihm einen langen Kuss gab und ihre Hand danach auf seiner Schulter zur Ruhe brachte. „Ich bin stolz auf dich. Gesprochen wie ein wahrer König“, erklärte sie lächelnd. Nicht die Art von Kompliment, die Thorin gerne hörte. Könige waren per Definition trotz allem Politiker und letztlich hatte er gerade genau das getan, was er an Politikern hasste – viel sagen, ohne etwas zu sagen und mit all den Worten jemanden irreführen, um die eigenen Zwecke zu verheimlichen und dennoch zu bekommen, was man will. Es war ein unbestreitbar nützliches Können – aber keines, das zu besitzen oder auszuüben ihn je mit Freude oder Stolz erfüllen würde. „Ich vermute, wir sollten anfangen zu packen“, meinte Thorin seufzend, „Mich beschleicht das seltsame Gefühl, das wir morgen Abend mit der Mannschaft von Bord gehen werden – nur dass wir nicht an Bord zurückkehren, wenn die Nachtigall wieder ablegt.“ Ninafer nickte. Alistair nickte. Ishara nickte. Emilia nickte.   Ostlond war die größte Hafenstadt Symmarions, die zweitgrößte Stadt des Landes und hatte generell ein paar interessante Parallelen zu Sundergrad. Ein paar Gesetze Symmarions waren dort explizit anders geregelt als im restlichen Land und die Märkte waren voll von allem: Exotische Waren, inländische Waren, Taschendiebe. Die Stadt pulsierte regelrecht vor Leben, doch die allgemeine Hektik, das Geschrei der ihre Waren anpreisenden Verkäufer, nichts davon wusste so recht auf die kleine Gruppe abzufärben, die sich einfach nur durch alles hindurch schob. Sie hatten sich beim Einlaufen und Anlegen vom Kapitän verabschiedet und es so eindeutig gemacht, wie sie konnten: Sie wussten schlicht selbst nicht, ob sie zum Schiff zurückkehren würden oder nicht. Aber es machte für die Nachtigall keinen Sinn, auf sie zu warten – wer konnte schon sagen, wie lange sie dann hier vor Anker liegen mochte? Also schied man voneinander und Thorin suchte sich in altgewohnter Abenteurermanier in akzeptables Quartier in mittlerer Preisklasse am Rande der Stadt. Man zahlte gut genug, das man keine totgekochten Schuhsohlen auf seinem Teller fand, aber nicht gut genug, dass der Wirt eine zwielichtige Kooperation mit den hiesigen Diebesgilden eingehen würde. Er hatte den Großteil seines Lebens so zugebracht. Und obgleich er das stets zu schätzen gewusst hatte, hatten die Jahre mit Ninafer ihn doch auch verändert. Die Rückkehr auf den Thron, die Verantwortung für die Geschicke und den Wohlstand einer Nation, seines Volkes… er hatte Wurzeln geschlagen. Er wusste es und er mochte es. Diese plötzliche Rückkehr in das alte Leben fühlte sich falsch an und war ihm zuwider. Er konnte es alles noch, wusste es alles noch. Wie man Fallen für die Jagd baute, wie man mit der Axt und dem Panzer kämpfte, wie man Wolken auslas, um das Wetter vorherzusagen und wo man sein Zelt besser nicht aufstellen sollte. Und doch… hatte er irgendwo, irgendwie, insgeheim gehofft, er hätte diesen Teil seines Lebens hinter sich lassen können. Neu anfangen können. Natürlich kam es ihnen zugute, dass er all diese Kenntnisse und Fertigkeiten hatte. Aber es zeigte ihm allzu deutlich auf, dass die Vergangenheit nie aufhörte, einen zu jagen und zu verfolgen und – beinahe schon regelmäßig – auch einzuholen. Ishara wusste und konnte all das ebenso gut. Sie wären nicht darauf angewiesen gewesen, auf seine Führung zu vertrauen. Sie hätte es ebenso gut machen können. Stattdessen jedoch war auch das ein Teil, in den er mit inzwischen unerwünschter Gewohnheit zurückschlüpfte. Das Leiten und Führen einer Gruppe. „Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte er sich leise, als sie allesamt im Gasthaus ihrer Wahl – zum Glücklichen Eber – beim Abendmahl zusammen am Tisch im Schankraum saßen. Sein Blick wandte sich dabei an Nathenial und Emilia, die scheinbar zu neuem Leben erwacht deutlich vitaler und energiegeladener wirkten und mit dem Hunger einer kleinen Kompanie Portion nach Portion vernichteten. „Westen“, nuschelte Emilia zwischen einem Stück Kartoffel hervor und spähte fragend zu Nathenial. Der nickte. „Karawane“, meinte der vor einer Gabel Bohnen, „Startet vom Marktplatz im Süden der Stadt nach Thethys. Mitfahren ist ziemlich teuer, deshalb gibt es kaum Passagiere. Aber wenn ihr euch als Eskorten anbietet, könnt ihr kostenlos mit und uns würden sie dann auch kostenlos mitnehmen… denke ich?“ Sein fragender Blick wich zu Emilia zurück, die nickend bestätigte. Thorin dagegen verzog das Gesicht. Sehr. Thethys. Die Hauptstadt Akkaras. Das Land des Ordus Haereticus. Die Magierhochburg überhaupt. „… Magier…“, fluchte der Krieger leise. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)