Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 52: Die Schlangengrube von Sûr Waslin --------------------------------------------- Eine Woche war es noch. Wenn es nach Sierra ging, hätten diese sieben Tage gut und gerne schneller vorbeiziehen können, als sie es am Ende tatsächlich taten. Und wenn es nach Sierra gegangen wäre, dann hätte sie auch mit weit weniger Drama gut leben können. Mit weniger Verschwörungen und weniger Attentaten und weniger Intrigen. Dabei war diese eine Woche an Vorbereitungen noch eine recht harmlose Zeit, ein schaler Vorgeschmack auf das Kommende. Eine Woche bis Thorin Wyrmblut eintreffen würde, rechtmäßiger König von Lumiél, mit seiner Braut und seiner Tochter. Nicht eigen Fleisch und Blut, aber gewählt und vor dem Recht und Gesetz als solche akzeptiert. Eine Woche, bis auch ein Vertreter der entfernten Verwandtschaft seiner Liebsten eintreffen würde. Illias Saeryleth war ein Botschafter und kam in solcher Funktion. Gut und lange war auf diesen Zeitpunkt zugearbeitet worden. Und kritisch war er obendrein. Seit dem Sturz der Krone war nahezu allen mit genug Grips klar, dass Lumiél die Wölfe vor den Toren nicht ewig mit wildem Gefuchtel und einem beherzt ergriffenen Stock würde auf Abstand halten können. Was es brauchte, waren Verbündete. Und Ceryddwin war die unweigerliche erste Wahl. Eine Woche, bis ein brisantes Zusammenkommen in jener restaurierten Festung an der Ostküste Lumiéls stattfinden würde. Sie rechneten mit Ärger. Mit Widerstand. Mit Unterwanderung. Deshalb war das Kontingent an Soldaten so groß – um zu gewährleisten, dass immer genug Augen und Ohren da waren, um einzugreifen. Um einander auf die Finger zu schauen. Um dem Hofstaat auf die Finger zu schauen. Ihr war die Handhabe übertragen worden. Das vorläufige Kommando über Sûr Waslin. Über die Bediensteten darin. Über die ersten, eingetroffenen Gäste. Über die Soldaten. Über das Prozedere. Und damit, unweigerlich, auch über die ersten Gefangenen. Denn keine zwei Tage hatte es benötigt, bis sie eine Gruppe Zwerge aufgriffen, die sich in die Stollen unter der Feste hinein zu buddeln versucht hatte. Angeführt von zwei Männern, die bei der Restauration geholfen hatten, spien sie zwergische Flüche und Verwünschungen, predigten voller blindem Zorn von der falschen Krone und dem unweigerlichen Verrat durch schwaches Menschenvolk, von der Herrlichkeit ihrer Krone, von deren Bestand, von-… nun, noch jeder Menge anderem Unsinn. Es war der dritte Tag, früh am Morgen, als Sierra die Augen aufschlug. Sie hatte gehofft, der letzte Teil sei ein nicht völlig verwehter Fetzen aus ihren sich verflüchtigenden Träumen gewesen, doch nein – es klopfte erneut. „Ihr Götter habt Gnade mit der armen Seele, die da klopft…“, murrte sie verdrossen, schlüpfte jedoch zügig aus dem Bett und trat zur Tür. Das Schwert stand direkt daneben griffbereit. Sie wischte sich kurz über Haare und Gesicht, schüttelte den Kopf, um auch die letzten Reste der Schläfrigkeit und Benommenheit zu vertreiben, ehe sie öffnete. Es hätte schließlich wichtig sein können. Stattdessen stand dort der Bibliothekar. Und dieser Anblick entlockte ihr ein tiefes Seufzen. „Was gibt es?“ Sie stellte die Frage in dem vollen Bewusstsein, dass es eine gute Weile dauern könnte, die tatsächliche Antwort von all den irreführenden, wenn auch gutgemeinten Erklärungen zu trennen. Fehr Walther war ein Abschiedsgeschenk der zwergischen Arbeitermannschaft gewesen. Als Respektsbezeugung des zwergischen Volkes an Thorin und seine Regentschaft, möge er lange leben und weise regieren. Der Name allein war ein Witz. Und auch, wenn dieses Uhrwerk-Konstrukt einen eigenen Verstand besaß und ohne jeden Zweifel nützlich über alle Maßen war, empfand Sierra ihn als ungemein… anstrengend. Nicht nur, dass der Name ein eindeutig schlechter Witz seitens besagter Zwerge sein musste – wie sein Verstand funktionierte, war ihr obendrein ein Rätsel. Seinen Gedankengängen ließ sich schwer folgen und die Sprünge darin waren teilweise der Rede nicht wert oder größer als die Kluft zwischen Varakas und Kaderalith. Also stand sie dort und lauschte. Eine volle, geschlagene Stunde. Irgendein Problem hatte sich wohl bei der Sortierung der Bibliothek ergeben. Ein grundsätzliches Hindernis, das in Zusammenhang mit mehrsprachigen Texten stand. War Xoltans Handbuch für Edelsteine aller Art nun bei den Werken der Allgemeinsprache einzuordnen, oder genügte der immerhin neunundvierzig Prozent große Anteil an zwergischen Passagen und Zitaten, um es der zwergischen Literatur zuzuschreiben? Oder sollte man einfach eine Kreuzsektion einrichten? Die wäre dann aber bislang, mit Ausnahme dieses einen Werkes, ziemlich leer. Gäbe man dieser Sektion also ein eigenes Regal? Doch das wäre Platzverschwendung. Wieso also nicht das Regal auffüllen – aber wie dann deutlich machen, dass dieses eine Werk eine eigene Sektion darstellte? Er hätte sie vermutlich in den Wahnsinn treiben können. Und es wäre ihm vermutlich auch geglückt. Vermutlich. Glücklicherweise jedoch wurde Sierra kurz darauf gerettet. „Heinrich! Den Göttern sei Dank“, seufzte Sierra erleichtert, als sie den Mann gewohnt militärischen Stechschrittes um die Ecke biegen sah. Hier oben gab es nicht viele Räume außer ihrem und jener war der einzige, der gegenwärtig Nutzung sah. Er konnte also nur zu ihr wollen. Fehr Walther hob leicht die Braue. Ob er ihren Ton und die wenig subtile Aussage richtig deutete, überhaupt richtig deuten konnte, war ihr unklar. Sie wollte ihn auch eigentlich wirklich nicht vor den Kopf stoßen und würde sich sicherlich bei ihm entschuldigen. Irgendwann später. Aber hier und jetzt war sie einfach nur unglaublich froh, gerettet worden zu sein. Der Angesprochene dagegen trat unbeirrt näher, ein nunmehr etwas breiteres Lächeln auf den Lippen, verständig im Angesicht ihrer Gesellschaft. „Meister Walther, wie immer ein Vergnügen“, grüßte er mit tiefer Stimme seinen Konkurrenten um Sierras Aufmerksamkeit, ehe er sich ihr selbst zuwandte. „Du hast fünf Minuten, um dich fertig zu machen.“ Sierra stockte. Er war gut gelaunt. Er trug seine Plattenrüstung, wie es sich gehörte, sobald er wach war. Denn sobald er wach war, war er im Dienst. Warum aber- „Wir warten unten seit einer Weile auf dich“, schob er nach, als sich ihre Verwirrung offenbar auf ihrem Gesicht wiederspiegelte. Das war der Moment, an dem es in Sierras Kopf klickte und sie das Gesicht verzog. Ihre überaus spannende Konversation mit Fehr Walther über die zahllosen Komplikationen einer guten Bibliothekssortierung hatten sie schlicht vergessen lassen, dass es durchaus einen Tagesplan gab, der auch anderen mitgeteilt worden war und deshalb nicht die Güte besaß, ihre Ablenkung zu ignorieren oder einfach ein wenig zu warten. Illias mochte erst in vier bis fünf Tagen ankommen. Doch Thorin hatte an Stricken gezupft und Einfluss geltend gemacht, oder es zumindest versucht. Und deshalb würden die Verhandlungen in Anwesenheit eines neutralen Beobachters geführt werden. Eines Beobachters aus Ulthwe selbstredend – und zweifellos ein kluger Schachzug zur Vorbereitung auf das nächste Bündnis. Mit all den neuen Verpflichtungen, die in den letzten Wochen und Monaten auf die eingestürzt waren, hatte sie sich schlicht nicht danach erkundigen können. „Sag mir bitte, dass der Botschafter noch nicht da ist“, meinte sie leise. Sie bettelte nicht, nein. Sie war ruhig, beherrscht, gefasst. Die etwas quengeligere Tonart hob sie sich für die Privatsphäre ihres Kopfes auf, wo sie in aller Ruhe fluchen und zetern konnte, unbemerkt und ohne Schäden für ihr Ansehen. „Der Botschafter ist noch nicht da“, wiederholte Heinrich beflissentlich. Sierra atmete erleichtert auf, was ihn dazu brachte, nachzusetzen: „Alle anderen jedoch schon und der Botschafter ist mitsamt seiner Eskorte bereits gesichtet worden. Deshalb gab ich dir fünf Minuten. Jetzt hast du noch drei.“ Sierra nickte in Gedanken. Was musste sie noch erledigen? Sich waschen wäre ein guter Anfang. Und etwas anderes als das Nachthemd anziehen. Vielleicht auch- Abrupt stockten ihre Überlegungen, sie bekam große Augen und musterte den Soldaten. Hastig folgte ein Nicken und die Tür wurde zugeworfen. Sie hätte schwören können, ein Kichern zu hören, gedämpft durch schweres Eichenholz, aber das konnte nicht sein, musste einfach eine Einbildung sein. Heinrich war zu geradlinig, dienstbeflissentlich und generell beherrscht, um jetzt die Kontrolle zu verlieren. Und Fehr Walther wusste vermutlich nicht einmal, wozu dieses Geräusch gut sein sollte. Er hatte eine komplette Bibliothek in seinem Kopf, einen unvorstellbaren Wissensschatz, den er jederzeit zitieren konnte – aber ihm fehlte so viel Erfahrung mit Zwischenmenschlichkeit, dass es gelegentlich schmerzte, es zu bemerken. Nun angemessen vorgewarnt, jagte Sierra im Eiltempo durch ihr Zimmer. Eine Garderobe wurde in aller Windeseile zusammengestellt, indem sie farblich passend scheinende Fetzen aufs Bett warf, gleichzeitig ihre Rüstung hervor wühlte, sich die Zähne putzte und eine Schüssel mit Wasser volllaufen ließ. Katzenwäsche würde für den Moment genügen müssen. Sie schlüpfte in ihre Kleider, warf die Rüstung nur über und trat das Schwert greifend wieder an die Tür. „Fertig!“, erklärte sie stolz. Damit brachte sie Heinrich tatsächlich zum Schmunzeln. Leider nur innerlich, aber sie konnte das verräterische Zucken seiner Mundwinkel genau sehen. Nach außen nickte er ihr einfach nur zu. Der Bibliothekar zumindest war immerhin schon verschwunden. Vermutlich, nachdem man ihm erklärt hatte, weshalb Sierra schlicht keine Zeit mehr haben würde, zumindest nicht hier und jetzt oder irgendwann sonst heute. „Du hast mir das Leben gerettet“, seufzte Sierra leise auf dem Weg nach unten. „Heißt das, ich werde befördert?“, ließ Heinrich sich zu einem seltenen Scherz hinreißen. „Wenn’s nach mir geht? Klar. Lebensretter sollten belohnt werden. Aber ich fürchte, dafür steckst du im falschen Heer.“ Er seufzte theatralisch. „Ich könnte aufhören, mir die Nägel zu feilen. Dann hätte ich Klauen. Wäre das ausreichend für eine Verlegung zu deinen Truppen?“ Sie grinste schief, schüttelte aber den Kopf. Er ließ sich noch ein, zwei interessante andere Ansätze einfallen, wie ein Wechsel möglich wäre, ehe er ernster wurde, seine Haltung – wie war das überhaupt möglich?! – noch ein wenig mehr straffte und sie ernst und wichtig und ehrbar in die Halle traten, sie mit zügigem, aber nicht hastigem Schritt durchmaßen und sich dem Tor Sûr Waslins näherten. An sich, so erwog sie, wäre ein Wechsel für ihn nicht einmal unmöglich. Im Gegenteil. Sie bezweifelte, dass Thorin ihm verwehren würde, seinen Wünschen und Träumen zu folgen. Aber Heinrich war ein Mensch. Viel menschlicher konnte man nicht geraten. Er war jung, enthusiastisch, motiviert. Ungeduldig in den Augen anderer, zweifellos. Er war in kürzester Zeit durch die Ränge gestürmt. Er gab sich als ernster, pflichtbewusster Mann, solange er die Rüstung trug. Außerhalb derer war er umgänglich. Scherzte, mochte gute Musik und einen Braten so sehr wie jeder andere Soldat, saß mit ihnen beisammen und speiste, erzählte Witze und lachte über die anderer. Ein guter Mann. Gesellig. Er hätte vermutlich einige Anpassungsschwierigkeiten unter ihren Leuten. Nicht, das Harpyien nicht ebenfalls gesellig waren, nur… anders. Vor allem mit Männern. Einige der Drow würden ihm vermutlich misstrauen und auch, wenn sie das – nach ihren Maßstäben – rasch überwinden würden, wäre er dann möglicherweise schon ein Greis. Ganz zu schweigen davon, dass schwer absehbar war, was die Tieflinge davon halten würden, wenn sich nun plötzlich ein Mensch in ihre Hierarchie drängte. Sie seufzte. Es gab immer noch viel Arbeit. So viel zu tun. So viel zu überwinden. Kluften zu überbrücken. Sie hatten diese Prozesse vor Jahren begonnen – doch im Angesicht des monumentalen Werkes, das sie da zu verrichten gedachten, brauchten sie, sie alle, enorme Geduld. Solcherlei Brücken spannte man nicht in kurzer Zeit. Man ließ sie wachsen, über Jahre und Jahrzehnte, über Generationen hinweg, genährt von fortwährenden Bemühungen. Irgendwann einmal würde der Tag kommen, an dem jemand wie Heinrich völlig mühelos und ohne Bedenken – von keiner der zwei involvierten Seiten – seinen Bereich würde wechseln können. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich der Soldat an ihrer Seite. Offenbar hatte er ihr Seufzen bemerkt. Oder das Regenwetter-Gesicht. „Schon gut“, erwiderte sie. Die Eskorte war sichtbar und jetzt damit ein schlechter Zeitpunkt. Vielleicht würde sie irgendwann später mit ihm reden. Seine Meinung dazu einholen. Wie er die Dinge sah. Ändern würde das selbstverständlich nicht das Geringste, aber die Sicht von außen war dennoch wertvoll. Konnte regelrecht beruhigend wirken. Schließlich kam der Botschafter Ulthwes mitsamt seiner Eskorte vor ihnen zum Stehen. Und Sierra bemühte sich erfolgreich, ihre Überraschung zu verbergen: Sie hatten einen Tiefling geschickt. Ulthwe war bekannt dafür, mit Standards zu brechen. Sie hatten schließlich auch mit ihrer Akzeptanz für den Zirkel und dessen Praktiken gebrochen. Das erste und noch immer strahlendste Beispiel erfolgreichen Widerstandes gegen eine schier unüberwindlich wirkende Weltmacht. Die Völker Ulthwes kooperierten wie sonst kaum irgendwo auf der Welt, um ihre Nation aufrecht zu erhalten im Angesicht des Drucks, den der Zirkel auszuüben versuchte. Aber… ihr war neu gewesen, dass es einen Tiefling im Rang eines Botschafters überhaupt gab. Eben jener Mann stieg von seinem Pferd ab, nachdem er dem Rest Halt bedeutet hatte. Dass er mit seinen zwei an den individuelleren Rüstungen und der uneinheitlichen Bewaffnung leicht identifizierbaren Leibwächtern an der Spitze des Zuges ritt, war ein angenehmer Bonus für die ohnehin bislang positive Überraschung. Jemand, der sich nicht scheute, Dinge anzugehen und sich Problemen selbst zu stellen, statt sich hinter einem Schild seiner Landsleute zu verstecken. „Botschafter, es ist mir eine Ehre, euch in Sûr Waslin und, in Erweiterung, Lumiél willkommen zu heißen“, eröffnete Sierra – und stutzte, als er die Hand hob. „Sierra, nicht wahr?“, erklang die tiefe, raue Stimme. Kleine, dornartige Auswüchse – aus Knochen, vermutete sie – zogen sich als Verlängerung seines Kinns von seinem Kiefer fort. Seine Haut war von einem dunklen, rotbräunlichen Ton. Die Augen golden durch und durch, mit regelrecht leuchtend scheinenden Pupillen. Kurzes, schwarzes Haar und Hörner, die sich seinen Schädel entlang zogen und am Hinterkopf abstanden. Ein markantes Gesicht, das man so schnell nicht vergaß. Dazu eine durchaus trainierte, beeindruckende Statur – auch wenn er längst nicht der Größte war, konnte er so zweifellos dennoch Eindruck schinden. Sie nickte, wartete ab. Er hatte mit den Formalitäten gebrochen – er würde sich sicherlich etwas dabei gedacht haben. „Salcas Nephris. Aber das wusstet ihr natürlich längst, nicht wahr? Bitte, wir können uns die Titel sparen. Ich bin nicht als Botschafter hier, sondern als neutraler Beobachter. Das heißt, für mich zumindest, dass ich für die Dauer meines Aufenthaltes hier einfach nur Salcas für euch bin. Dies sind meine Leibwächter, Gerard Liranza und Marco Vannis. Der Mann dort hinten, mit der hübschen blauen Feder am Helm, ist Kommandant Blaigt.“ Sierra nickte und musterte die angesprochenen und angedeuteten Männer. Zum Zwecke der Verhandlungen hatte Thorin eine kleinere Garnison an Männern abgestellt, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Dieser Umstand war einem Zugeständnis an Ceryddwin und Ulthwe geschuldet – jeder von ihnen brachte eine eigene Schar Soldaten mit, um die Wehrmauern zu besetzen. Ein Zeichen des Vertrauens und der Kooperation. Drei Nationen, deren Soldaten sich das Feuer und die Betten teilten. Etwas, das Heinrich die ganze Zeit nervös gemacht hatte und es noch immer tat, auch wenn er sich das natürlich nach Vermögen nicht anmerken ließ. Sierra erwog einen Moment ihre Optionen. Dieser Mann wollte auf Formalitäten verzichten? Er wollte als Salcas Nephris, Bürger Ulthwes, behandelt werden? Ihr war das nur allzu recht. „Das ist Kommandant Floranson“, erwiderte sie zunächst, reihte sich derweil neben Salcas ein und setzte sich in Bewegung. Sehr zu Heinrichs Horror. Das war gegen das Protokoll, das war… schwierig zu überwachen und schwierig zu händeln. Was galt es für ihn nun zu tun? Sich einfach ebenfalls neben ihr einreihen und den Soldaten Ulthwes den Rücken zudrehen? Er misstraute ja nicht einmal Ulthwes Absichten generell. Er war für die Sicherheit der Festung verantwortlich, von innen und außen. Es hatte bereits Übergriffe gegeben. Und es brauchte nur einen Mann in Botschafter Nephris‘ Gefolge, um die Verhandlungen schnell in eine blutigere Richtung laufen zu lassen… „Es ist in Ordnung“, durchbrach Sierras mahnende Stimme seine Gedanken, „Wir bringen das Willkommen noch zu Ende und dann werde ich Bo-… Salcas erst einmal sein Zimmer zeigen.“ Heinrich verzog das Gesicht nur minimal, nickte jedoch. Sierra war letztlich trotz allem seine Vorgesetzte. Ihr Wort galt und es oblag ihrer Verantwortung, solche Entscheidungen zu treffen. Auch wenn er Bauchschmerzen angesichts der Möglichkeiten hatte, wie all das schief gehen könnte. Die Eskorte setzte sich daraufhin mit Sierra und Salcas an der Spitze im Schritttempo wieder in Bewegung. Sie passierten die Brücke und das Tor. Wie zuvor angeordnet, hatten die Bediensteten im Hof Aufstellung bezogen. Einschließlich der bisher eingetroffenen Gäste. Das Küchenpersonal, der Stallbursche, die Mägde, ein Alchemist, ein Barde, ein Bibliothekar und eine Reihe Soldaten. Die Männer Ulthwes entfernten ihre Helme, damit beide Seiten einander ebenwürdig waren, sahen, sich einprägen konnten. „Kommandant Floranson?“ Der Angesprochene stand direkt noch ein klein wenig strammer als ohnehin schon. Das tat er immer, wenn er mit vollem Titel angesprochen wurde. Ein üblicherweise amüsanter Effekt, den sie gelegentlich nutzte, ihn ein klein wenig aufzuziehen. Diesmal war dafür jedoch kein Raum. „Sprecht euch mit Kommandant Blaigt ab. Erklärt ihm den Aufbau, führt ihn herum, besprecht die Unterbringung und Wachroutine. Ich erwarte, dass binnen einer Stunde alle Posten wieder besetzt sind und es keinerlei Zwischenfälle gibt.“ „Jawohl“, schoss der prompt zurück und trat in Richtung des Zuges ab. „Ein guter Mann“, kommentierte Salcas ernst. „Einer unserer Besten“, erwiderte Sierra durchaus mit einem gewissen Stolz. Als Heinrich erstmals seinen Willen verkündet hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, hatte man ihn scherzhaft damit aufgezogen, dass der aktuelle Regent doch eigentlich gar nicht so übel sei und man keine neue Revolution brauche. Ein deutlich jüngerer Heinrich, ernster und ungestümer, hatte getobt und gewütet und geschrien. Dass das keine witzige Sache sei. Dass das Land verletzlich sei. Ob er überhaupt gewusst, überhaupt wirklich begriffen hatte, was er da um sich warf? Dieser Tage tat er das zweifellos und sah die Dinge in einem anderen Licht, auch wenn sich an seiner Entschlossenheit nichts geändert hatte. Er trug die Rüstung mit Stolz und demonstrierte, wozu Lumiéls Volk fähig war. Was für gute, große Männer es hervorbringen konnte. Zumindest befand Sierra das.   Die Führung begann natürlich im Innenhof. Ein kleiner Durchgang, überwuchert mit Beerengestrüpp, in direkter Nähe zu Stall und Hühnerverschlag. Ein Teich, unmittelbar neben dem Brunnen, überschattet von einem riesigen Apfelbaum. Die Soldaten machten sich einen Spaß daraus, abends am Lagerfeuer zu prüfen, wer sich die beste Geschichte dazu ausdenken konnte, wie dieser Baum wohl entstanden sei. Sierra tippte zwar nach wie vor darauf, dass irgendeine Räuberbande sich zwischenzeitlich hier eingenistet hatte, wie es bei den anderen großen Festungen Lumiéls auch früher oder später der Fall gewesen war, doch sie hatte selbstverständlich auch weit bessere Geschichten auf Lager als das. Bis hin zu göttlicher Einmischung Phylias. Die hatten die Männer durchaus gemocht… Sie führte Salcas zunächst durch die Anlage, zeigte ihm den Küchentrakt, die Unterkünfte, Wehrgänge und Waffenkammern. Die kleine Rundschau endete schließlich im Hauptgebäude auf der zweithöchsten Ebene. „Hinter dieser Tür befindet sich das Quartier für Botschafter Saeryleth und seine Assistenz. Seine Leibgarde schläft hier im Vorraum. Die Tür dort drüben führt in euer Gemach. Es ist ein Raum angeschlossen, den wir als Kammer für eure Leibwache hergerichtet haben. Ich hoffe, das ist euch genehm?“ „Eine beeindruckende Burg“, erwiderte Salcas zunächst der Frage ausweichend, „Man sieht hier und da noch die Spuren des Alters, aber ihr habt sie gut und zügig wieder auf Vordermann gebracht. Ich frage mich, ob das nur für diesen Anlass geschehen sein mag, oder ob es noch andere Beweggründe dafür gibt.“ Sierra zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, dazu werdet ihr meinen König befragen müssen, sobald er eintrifft. Ich habe eine Menge eigener Aufgaben und das zählt zu den Details, die mich angesichts derer nicht übermäßig interessiert haben.“ Er nickte. „Selbstredend. Und macht euch der Unterkünfte wegen keine Sorge, ich habe schon weit schlimmer hausiert.“ „Gut. Dann gebe ich euch eine Weile, euch einzufinden. Ich lasse euch dann zum Abendmahl abholen“, erwiderte sie und ging in Gedanken bereits durch, was es noch alles zu erledigen galt. „Mittagessen“, erwiderte er unbeeindruckt. „Wie bitte?“ Verdutzt sah sie auf, ihre Gedanken ins Chaos gestürzt. „Ich würde vorziehen, zunächst nur meine Sachen abzulegen und mich freuen, falls ihr mir weiterhin Gesellschaft leisten könntet. Falls eure Verpflichtungen in der Feste das verhindern, kann ich das selbstverständlich verstehen. Wir könnten zu Mittag essen.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen und spiegelte sich nach kurzer Weile auf ihren. Nochmals prüfte sie in Gedanken ihren Tagesplan und all die Dinge, die darauf warteten, erledigt zu werden. Nichts davon war tatsächlich dringlich und sie hieß die Gelegenheit stets willkommen, mit einem der Ihren zu reden. Erst recht, wenn er es irgendwie auf mysteriöse Weise geschafft hatte, sich nicht nur ihrer Kenntnis zu entziehen, sondern auch in einem von Krieg gebeutelten Land sich eine Führungsposition zu erarbeiten. „Sehr gern.“   Eine Stunde später saßen sie tatsächlich im Speisesaal beisammen. In der oberen Ebene davon, die seltener von den Soldaten genutzt wurde. Die zwei Leibwächter Salcas‘ hielten sich an einem anderen Tisch etwas auf Abstand, während Sierra schlicht auf Leibgarde verzichtete. Sie war mehr als fähig, sich ihrer Haut zu erwehren und dies war noch immer der Grund und Boden Lumiéls. Hier, in der eigenen Festung, mit Garde zu laufen hätte das falsche Signal senden können. „Sierra.“ Es klang, als würde er den Namen in Gedanken in verschiedenen Betonungen durchgehen, als würde er ihn kosten wie einen guten Wein. „Kein Nachname?“ „Keiner, den ich gegenwärtig zu teilen wünsche, mit Verlaub“, erwiderte sie mit einem Lächeln. Er nickte und nahm ihre diesbezügliche Zurückhaltung hin. „Natürlich. Ich habe selbst eine Weile gebraucht, mit mir und meinem Namen ins Reine zu kommen. Aber wenn man Ämter wie das meine ansteuert ist es schwieriger, sich ohne einen Familiennamen durchschlagen zu wollen.“ „Dahingehend sind Revolutionen vermutlich praktisch. So viel weniger Formalitäten“, erwiderte sie den Grund und Boden prüfend, auf dem sie stand. Und  tatsächlich schmunzelte er, sehr zu ihrer Erleichterung. Ein ernster und respektabler Mann war eine Sache. Aber die nächsten Tage hätten sehr viel anstrengender werden können, hätte er nicht wenigstens ein Grundmaß an Humor besessen. „Zweifellos. Obwohl man aus Ulthwes Richtung sicherlich mehrheitlich von Krieg und Kampf hört, ist das Land doch stabiler, als man angesichts jener Neuigkeiten denken mag. Stabiler allemal, als der Zirkel es gern hätte. Und mit dieser Stabilität geht der Wunsch nach noch mehr Sicherheit einher, was aus irgendwelchen mir völlig unbegreiflichen Gründen mit gewaltigen Bergen an Papierarbeit einhergeht. Wenn es rechtskräftig wäre, hätte ich mir längst einen Stempel mit meinem Namen zugelegt…!“ Nun war es an Sierra, zu schmunzeln. „Bürokratie ist der Tod jeglichen Vergnügens. Ein alter Freund kann davon neuerdings auch Lieder singen. Nicht, das man ihn ganz grundsätzlich singen hören wollen würde. Dann wiederum, ein anderer Freund hat ein verdächtiges Maß an Freude an dieser Papierarbeit.“ „Nun, so sehr ich auch geneigt bin, nach der Devise zu handeln, dass jeder tun und lassen können sollte, was immer er will, solange er damit sein Umfeld nicht negativ beeinflusst… diesem Mann sollte eindeutig geholfen werden. Solch eine Verbindung zu Papier kann einfach nicht gesund sein“, bekräftigte Salcas ernst nickend. „Die ganzen Krämpfe im Handgelenk…“, begann sie neu. „Und die Verschwendung von Tinte!“ „Das Leiden der ihrer Federn beraubten Vögel…“ „All die Papierschnitte, vergossenes Blut der stillen und heimlichen Helden eines jeden Staates…“ An jener Stelle musste sie doch auflachen. Sie hätte nie in Zweifel gezogen, dass Myron ein Held war. Ein stiller und heimlicher Held möglicherweise obendrein. Selbst heute noch – zu wem rannten die meisten in Horror, wenn ihnen irgendwelche Verträge oder Vorschläge oder komplex formulierten Dokumente über den Kopf wuchsen? Doch in ihrem Schädel manifestierte sich das Bild Myrons an seinem Schreibtisch unten in den Kanälen, wo er schon seit Jahren nicht mehr stand, wie er sich an einem Stück Papier schnitt, den Finger fasziniert beobachtete und sein schweres Opfer mit Stolz trug, mit der Tugend der Bescheidenheit, wiedergegeben in so vielen Legenden. Es war absurd, wirklich. „Ich bin zugegeben erleichtert, euch kennenzulernen, Sierra.“ Jener Satz ließ sie dann jedoch auch wieder nüchterner werden. Das Grinsen schmälerte sich zu einem Lächeln. Er hatte nichts gesagt, das inhärent verdächtig wäre, doch… sie wusste genug um Verschwörungen auf politischer Ebene, um nochmals ein gutes Stück vorsichtiger geworden zu sein. Dennoch: Salcas war ihr sympathisch. Und es würde gewiss nicht schaden, sich darauf einzulassen – und sei es nur, um seine tatsächlichen Motive aufzudecken, sollte er verschleierte Beweggründe haben. „Nun, das Kompliment darf ich zurückgeben.“ „Demnach habt ihr mit etwas Schlimmerem gerechnet, als nun vor euch sitzt?“, erkundigte Salcas sich mit einem herausfordernden Lächeln. „Habt ihr denn?“, schoss Sierra amüsiert zurück. „Definitiv. Bevor ich aufbrach, ließ ich Merle – meine Vertraute daheim – alles über Lumiél zusammenstellen, was sie finden konnte. Je aktueller, desto besser. Ich hatte immerhin eine ansehnliche Seereise vor mir. Und ich muss zugeben, ich befürchtete hier oben jemanden vorzufinden, der sehr viel verstockter sei, verschlossener und misstrauischer“, gestand Salcas ein. „Wer sagt, dass ich euch traue?“, erwiderte sie schmunzelnd. „Niemand. Aber es besteht ein Unterschied zwischen Misstrauen und vernünftiger Vorsicht.“ Nun gut – dem konnte sie schwerlich widersprechen. „Was ist mit euch?“ „Was meint ihr?“ „Was habt ihr erwartet?“ Sierra erwog einen Moment, ihm die Antwort schuldig zu bleiben. Doch das wäre alles andere als gerecht gewesen und bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich tadellos verhalten. Leicht seufzend lehnte sie sich ein Stück zurück. „Im Grunde? Das Gleiche. Nur umgedreht. Irgendeinen hochrangigen Diplomaten, der alles sehr ernst nimmt. Der am besten noch versucht, mich und meine Leute herumzukommandieren, denn er ist ja der Beobachter, der neutrale Gast und Vermittler, das zweifellos wichtigste Zahnrad der Maschine. Ohne ihn kann nichts gelingen.“ Salcas lachte auf. „Einen klassischen Adligen also, verstehe. Nun ich fürchte, da werde ich enttäuschen müssen. Ich stamme ursprünglich aus der Gosse.“ Es war nicht nur Sierra, die an dieser Stelle stutzte, aufhorchte. Auch seine Leibwachen – bei ihrem Rang möglicherweise selbst Mitglieder des Niederadels – horchten auf. „Ich sehe die Verwunderung in euren Augen, nicht aber Empörung. Freut mich.“ Salcas setzte eine Pause, lehnte sich nun ebenfalls ein wenig zurück und lächelte einen Moment lediglich versonnen vor sich hin, ehe er erneut ansetzte. „Ich war ein Straßenkind in der Hauptstadt. Und eines Tages, ich war mit ein paar Datteln auf der Flucht, rannte ich in eine Meute hinein, die auf einer großen Hauptstraße einfach herumstand. Ich hatte eigentlich vorgehabt, in der Menge zu verschwinden. Stattdessen fing man mich ein und ich gab die Datteln zurück. Jede einzelne. Das rettete mir zwar die Hand, hieß aber auch, dass ich weiterhin ziemlichen Hunger hatte. Ich war nicht sonderlich klug und versuchte es immer im gleichen Viertel bei den gleichen Händlern. Die sich natürlich irgendwann an meine Gegenwart und meine Taktiken anpassten. Glücklicherweise nahmen sie’s mir auch selten wirklich übel. Ich war also für den Tag wieder am Anfang und dachte mir: Wenn so viele Leute einfach gaffend herumstehen… dann musste es nicht nur was zu sehen geben. Dann waren sie auch abgelenkt! Also bemühte ich mich ein wenig im Beutelschneiden. Funktionierte soweit auch ganz gut. Ich hatte mich etwas durch die Menge gequetscht und den dritten Geldsack in der Hand, als ich zwischen den Leuten hindurch das Spektakel sehen konnte. Unsere großartige Königin Ibadah, wie sie an der Spitze eines Festzuges durch die Straßen schritt. Dumm wie ich war, sah ich nur jemanden, der sehr reich schien und eine Horde gaffender Leute, die mir die Flucht erleichtern würden, weil sie im Weg standen. Also probierte ich mich an einem Klassiker. Reinlaufen, anrempeln, entschuldigen, wegrennen. Mit der Beute, selbstredend. Sie hatte zwar keinen Geldbeutel am Gürtel, aber dafür einen Dolch, der mit Juwelen verziert war. Jeder einzelne Stein hätte mich über Monate bringen können, dachte ich mir so. Also jage ich aus der Menge vor und… komme keine zwei Meter weit. Ihre Wachen sind trainiert, jederzeit mit einem Angriff durch Magier oder Hexer zu rechnen. Natürlich kommt ein halbgarer Straßenjunge da nicht mal ansatzweise in Reichweite. Die Wachen hätten mir dort etwas antun können. Immerhin, das ich auf sie zu rannte hätte auch ein Anschlag sein können. Und ich Dummkopf hielt natürlich noch immer das Messer vom Beutelschneiden gezogen. Heute bin ich mir darüber im Klaren, dass es ein gut kalkulierter und rasch überdachter Schachzug von ihrer Seite war und keine Geste aus Nächstenliebe und Freundlichkeit. Aber an jenem Tag verschonte sie mich und, vor aller Leute Augen, sprach mit mir. Sie fragte mich nach meinem Leben, meinem Namen, meinem Tag. Warum ich sie angegriffen hätte. Nicht das hellste Licht, erwiderte ich natürlich prompt, dass ich überhaupt niemanden angegriffen hätte, sondern nur den verdammten Dolch wollte. Sie meinte, ich könne ihn haben, wenn ich ihn mir verdiene. Ich war skeptisch und wollte wissen, was sie dafür verlangte. Sie rechnete mir dann kurz vor, was der Dolch wert war. Was ein gewöhnlicher Bediensteter an Lohn für seine Arbeit erhielt. Und wie lange es dauern würde, diese Schuld abzutragen. Ich war… natürlich nicht sonderlich angetan. Die nächsten Jahrzehnte in irgendjemandes Dienst stehen? Wozu? Das änderte sich schlagartig, als sie mir erzählte, dass sie natürlich nicht riskieren könne, dass einer ihrer Bediensteten an einer Lungenentzündung sterben würde. Also würde sie wohl oder übel eine Unterkunft für mich bereitstellen müssen. Und ihre Bediensteten mussten bei Kräften sein, um ihre Arbeiten verrichten zu können. Also würde ich wohl etwas essen können müssen. Sie hatte sicherlich noch ein paar andere gute Köder auf Lager – aber da in dem Moment mein geretteter Hals und etwas im Magen alles war, was mich interessierte, sagte ich sofort zu. Sie nickte einem ihrer Wächter zu, der mich am Arm packte und voraus schleifte, während sie ihren Zug durch die Stadt fortsetzte. Der Kerl knurrte mir leise zu, dass das der glücklichste Tag meines Lebens sei. Was soll ich sagen? Er war ein Bastard. Lehrte mich später Selbstverteidigung, mit Faust und Schwert. Wir konnten einander nie leiden und er war hart im Austeilen. Trotzdem… hatte er Recht. Adira setzte mich in ihren Palast. Natürlich unter ständiger Aufsicht. Aber im Grunde gab sie mir alles, was ich mir hätte wünschen können, und mehr. Was sie mir nicht gab, war eine Richtung. Sie sagte nicht, dass ich der Wache beitreten solle – obwohl ich mit dem Schwert durchaus geschickt war. Sie sagte mir auch nicht, dass ich den Gelehrten beitreten solle, obwohl ich mich ziemlich gut auf Sternenkarten verstand. Selbst eine Richtung zu finden war… schwierig. Da half es, sich immer mal rauszuschleichen und die alte Gegend zu besuchen. Zu sehen, wie die Dinge sich veränderten. Neue Häuser entstanden, die Märkte wanderten, die Waren sich wandelten. Die Händler erkannten mich. Manche nahmen mir das Glück übel, dass ich hatte. Andere zeigten Humor und schenkten mir Datteln. Meine Königin unternahm diese Züge durch die Stadt, um das Volk zu sehen. Es kennenzulernen. Sich zu zeigen. Sie konnte sich natürlich schlecht einfach rausschleichen und unerkannt in eine Taverne setzen oder wie jeder andere auch gewöhnlich auf dem Markt einkaufen gehen. Das war ihre Möglichkeit, dem Volk nahe zu bleiben. Also entschied ich mich, ihr dabei zu helfen. Zwischen ihr und den Leuten zu vermitteln. Ich war sehr viel öfter draußen. Sah mir Schäden an Häusern an. Hörte mir die Probleme der Leute an. Schlechtes Pflaster hier, fast leere Schutzrunen dort, ein grantiger Zwerg, der die Preise immer höher trieb da. Und gab es an sie weiter. Sie handelte nicht immer. Aber ich glaube, sie wusste zu schätzen, was ich versuchte. Denn diese Züge durch die Straßen? Sie gab sie zwar nie auf, hatte sie aber auch nur ein oder zwei Mal im Jahr machen können. Und nachdem das mit dem Vermitteln so gut zu klappen schien, dachte ich mir, erweitere ich meinen Horizont mal ein wenig und vermittle auf größerer Ebene weiter. Das hing mit ein paar diplomatischen Zwischenfällen zusammen, selbstredend. Mir war mit all der Bildung, die ich erfuhr, durchaus klar, dass Ulthwe allein Bestand hatte. Unsere Wirtschaft ist autark. Aber wir haben inländische Verbindungswege, die störanfällig sind. Wichtige Lieferungen können ausbleiben. Das Problem wäre weniger dramatisch, wenn das Handelsembargo des Zirkels aufgehoben werden würde. Ich bemühte mich Jahre darum, mit Magiern zu reden. Ziemlich stures Volk. Also suchte ich mir später einfach einen anderen Ansatz. Wenn die das Embargo nicht aufheben wollten – dann musste man sich eben Leute suchen, denen das Embargo einfach nichts bedeutete. Oder die den Mut hatten, es zu brechen. Das machte mich dann wohl zum Botschafter und nun bin ich hier in erlesener Gesellschaft und gebe meine heroische Geschichte wieder, wie ein Knabe aus niederster Abstammung in die höchsten Kreise aufstieg.“ Salcas grinste schief und nahm einen Schluck aus seinem Becher. „Und wieviel davon ist wahr?“, erwiderte Sierra schmunzelnd. Sie war durchaus neugierig. Die Geschichte hatte er fesselnd genug erzählt. Es gab noch so viele offene Stellen und Fragen und nur zu gerne hätte sie dem Drang nachgegeben und diese Lücken gefüllt – doch es gab, zumindest für den Moment, Dringlicheres. „Wahr? Oh, wahr ist alles. Es ist ein Zeugnis schlechter Manieren, sich beim Lügen erwischen zu lassen, gerade in politischen Kreisen. Und dieses Treffen hier ist höchst politisch, nicht?“, erwiderte er schmunzelnd. Sie sah kurz auf ihren Krug herab, sah sich in der schmucklosen, bis auf sie vier leeren Speisehalle um. Höchst politisch. „Ich habe euch also beim Lügen erwischt?“, gab sie dem einen neuen Versuch. Salcas hingegen lachte auf. „Keineswegs, Sierra. Aber wer lügt, wird immer erwischt. Früher oder später. Also ist man besser dran, sich gar nicht erst etwas zu Schulden kommen zu lassen. Die für euch zweifellos interessantere Frage ist: Was hat er nicht erzählt?“ Schmunzelnd hob sie eine Braue. „Und? Was hat er nicht erzählt?“ „Ich denke… das ist etwas, das wir heute Abend bei einem Glas Wein unter vier Augen bereden können.“ Eine Braue gehoben, musterte sie Salcas. Er war charmant und gutaussehend, aber er konnte unmöglich glauben, dass das allein ausreichend wäre, damit sie irgendwelche Verwicklungen und Zwischenfälle riskieren würde. „Sind wir immer noch in der Politik?“, erkundigte sie sich als subtilen Hinweis, doch entgegen ihrer Erwartungen nickte er. „Aber auf jeden Fall“, kam zurück. Nun – sie hatte Verhandlungen auch schon an weit seltsameren Orten und unter deutlich verfänglicheren Bedingungen geführt. Wie schlimm konnte eine Einladung zu Wein also werden? „Dann treffen wir uns offenbar zu einem späteren Zeitpunkt wieder hier?“, erkundigte sie sich neugierig. Wie hatte er sich das alles wohl vorgestellt? „Nun, ich werde euch ja wohl schlecht den ganzen Tag von der Arbeit abhalten können. Aber nein, nicht hier. Ich werde mich ein wenig umschauen und euch dann Bescheid geben lassen, wo wir uns treffen.“ Salcas wirkte entspannt, erfreut sogar. Sie nickte ihm zu, erhob sich und lud ihn nochmals ein, sich ganz wie zuhause zu fühlen – auch wenn Sûr Waslin ein schwacher Ersatz für den Palast in Zivah Elmas sein musste. Dennoch ging sie in Gedanken bereits durch, was sie in Vorbereitung auf dieses Treffen noch tun musste. Sicherstellen, dass Heinrich Bescheid wusste, natürlich. Und ihn instruieren, sich trotzdem erst einmal rauszuhalten. Die Wachen mussten alarmiert und auf Posten sein, allesamt. Sie würde gewiss nicht unbewaffnet dort auftauchen. Auch wenn Sierra sich nicht vorstellen konnte, dass Salcas ein Attentat beabsichtigte – sie konnte es sich nicht leisten, nicht mit einem zu rechnen. Hinzu kam, dass sie vorsichtig sein musste, wo sie sich trafen. Ihr Zimmer – oder seines – war völlig ausgeschlossen. Nicht nur, aber auch,  des unweigerlichen Getratsches unter der Dienerschaft wegen.   Stunden zogen dahin. Sie verrichtete sehr viel weniger Arbeit als ihr lieb war und ihre Konzentration erwies sich als ein launisches Biest an jenem Tag. Immer wieder drifteten ihre Gedanken ab. Zu Salcas und dem Treffen. Sie spürte, dass da mehr war und wünschte sich sehr, er hätte wenigstens irgendwelche Andeutungen bezüglich der Thematiken gemacht, die er anzusprechen wünschte. Es gab sogar den Moment, in dem sie sich wünschte, dass er sich an einem Attentat versuchen würde. Das war wenigstens simpel und unkompliziert. Gegen späten Abend kam ein junger Bursche und erklärte, der Herr Botschafter hätte darum gebeten, ihr auszurichten, dass sie sich auf dem Dach des Haupthauses treffen würden. Mit einer Decke, einer Flasche Wein und der Bereitschaft, ihm Lumiéls Sternenhimmel nahezubringen. Sierra war ein wenig irritiert. Warum hatte er sich nicht selbst zu ihr bemüht? Oder einen seiner Leibwächter geschickt? Das Gesicht des Burschen war ihr fremd, also musste er mit seinen Männern gekommen sein. Aber hatte sie ihn dort gesehen? Was ihre Bedenken zumindest für den Moment wieder zerstreute war die Nachricht selbst. Denn das klang sehr wohl nach Salcas, zumindest so, wie sie ihn bisher kennengelernt hatte. Also zog sie sich in ihr Zimmer zurück und stellte sich der nächsten Herausforderung. Kleidung zu finden, die zu diesem Anlass passte. Eine wirklich schwierige Aufgabe, da der Anlass recht… unklar war. Letztlich befand sie, dass sie einfach etwas Bequemes tragen würde, verschwand das doch sowieso unter ihrer Rüstung. Nur zur Sicherheit würde sie jedoch auch einfach ein paar Minuten in die Tasche springen können. Sie tauchte auf dem Dach auf und war zunächst allein. Vielleicht war sie ein kleines bisschen zu eifrig gewesen, ein kleines bisschen zu schnell. Sie wollte diese Sache endlich hinter sich haben, sie geklärt wissen. Egal, in welche Richtung das nun laufen würde. Also wanderte sie zunächst ein wenig auf dem Dach herum, sah sich um, kontrollierte die Ballisten auf ihre Funktionalität. „Ich muss zugeben, ich hatte nicht so viel Initiative erwartet, sondern etwas mehr… Nervosität? Zurückhaltung?“, kam Salcas‘ Stimme von der anderen Seite. Einen Moment glaubte Sierra, sie hätte beinahe aus ihrer eigenen Haut springen müssen. Äußerlich jedoch beherrschte sie sich, fasste sich nach einem Moment, atmete tief durch und wandte sich ihm zu. „Ich bin üblicherweise kein leichtes Opfer für Nervosität. Und… ich bin einfach nur ein wenig früh dran. Offenbar habe ich mich in der Zeit verschätzt. Ich erwartete eigentlich, dass ihr ein Treffen im Innenhof vorziehen würdet, aber von hier hat man die bessere Aussicht, das ist wahr.“ Sierra lächelte. Für einen Moment noch etwas bemüht, aber sie lächelte. Und sie war sich sicher, dass das Lächeln auch gleich echter werden würde, ihr leichter fallen würde… oder hätte werden können. Als sie jedoch sah, wie seine Miene ernst wurde und seine Hand langsam zum Rapier wanderte, fand sie auch binnen Sekundenschnelle ihre eigene Klinge gezogen. „Der Vorschlag, uns hier zu treffen, kam von euch, überbracht von einem Botenjungen“, erwiderte Salcas. Sierra fluchte innerlich wie ein Rohrspatz. Sie hatte ein seltsames Gefühl bei diesem Burschen gehabt! Warum hatte sie nicht darauf gehört?! „Kurzes braunes Haar, grüne Augen, blass, ein Muttermal am linken Ohrläppchen?“ Er nickte. Beide sahen sich wachsam um, rückten ein ganzes Stück näher zueinander. „Woher soll ich wissen, dass das nicht alles deine Idee war?“, brach Salcas schließlich restlos mit den Formalitäten. „Woher soll ich wissen, dass es nicht deine war?“, schoss sie zurück. „So amüsant die Vorstellung auch ist“, erhob sich eine dritte Stimme aus Richtung des einzigen Treppenaufgangs, „einfach zuzuschauen, wie ihr barbarischen Kreaturen euch gegenseitig in eurem angeborenen Misstrauen abschlachtet, so fürchte ich doch, haben wir nicht die Zeit für euer Geplänkel. Und ich bin nicht gewillt, auf eure diesbezügliche Kompetenz zu vertrauen.“ Der angebliche Botenjunge trat hervor und ließ die Maskerade fallen. Er wirkte… älter als zuvor. „Ihr werdet scheitern, hier und jetzt.“ Sierra ergriff Salcas‘ Schulter mit einem hastigen „Wehr‘ dich nicht.“ Es war alles, was sie ihm an Vorwarnung geben konnte. Doch just die Sekunde, als sie mit ihm in die Tasche springen wollte, wurde sie selbst von etwas in den Rücken getroffen. Keuchend taumelte sie einen halben Schritt vor. Salcas fing sie ab und half ihr auf. Eine weitere Gestalt schwebte jenseits der Burgmauer. Mehrere kamen hervor, bis sie von einem Dutzend eingekreist waren. „Ihr begeht einen gewaltigen Fehler“, mahnte Sierra, „Ich gebe euch jetzt noch eine Chance: Gebt auf und fügt euch, dann wird euch ein gerechter Prozess widerfahren. Ein Ruf und meine Männer sind hier!“ „Eure Männer schlafen, allesamt. Alle schlafen. Und mit euch werden wir fertig werden“, gab er zurück. Sein Blick wanderte zu seinen Untergebenen. „Tötet die Brüter!“ Sierra wusste, dass sie nicht springen konnte. Über den ersten Schwerthieb hinweg mühelos, aber definitiv nicht in ihre Tasche. Sie hatte dieses Gefühl schon früher verspürt. Alandor hatte mit ihr trainiert. Wie sie sich schneller von solchen Effekten erholte. Sie hatte seine Abwehrtechniken nicht lernen können, aber zumindest begriffen, wie sie den Nebenwirkungen besser entgegenwirken konnte. Als also ein Dutzend Feinde auf sie beide einstürzte und zumindest deren Worten nach deutlich gemacht worden war, dass sie Salcas ebenso tot sehen wollten wie sie, standen sie rasch Rücken an Rücken und erwehrten sich ihrer Haut. Natürlich hätte das noch immer eine clevere Scharade sein können. Die meisterliche Irreführung eines Tieflings. Doch diese Schwerter waren echt, sie waren scharf und die Schläge, die in Salcas‘ Richtung gingen, sahen durchaus präzise geführt aus, mit Tötungsabsicht. Also spielte er verdammt gut, falls er denn spielte. Die ersten, kostbaren Sekunden hatten sie schwer zu tun. Für fünfzehn Personen war es auf dem Dach ein wenig eng. Erst recht, als Salcas und Sierra ihre Position zwischen die Ballisten verlagerten. Sie parierten, wichen aus, umtänzelten so gut sie konnten, doch das zehrte an ihren Kräften. Dann jedoch… veränderte sich etwas. Salcas hatte die Zeit genug, Sierras Bewegungsabläufe ein wenig zu beobachten, zu studieren – sofern das Vordringen des Gegners ihm diese kostbaren Sekundenbruchteile hier und da ließ. Ebenso hatte Sierra ihrerseits natürlich ihn nicht aus den Augen zu lassen versucht, der ganzen Rücken-an-Rücken-Kiste zum Trotz, immerhin war der Herr Botschafter trotz allem ein Fremder und ganz gewiss kein Thorin. Die gegenseitige Beobachtung brachte jedoch Erkenntnisse. Ihre Kampfart war einander ähnlich. Also spiegelte Salcas seinen Rhythmus. Das Vordringen, Abwehren, Zurückfallen, es wurde zu einem Tanz, den sie gemeinsam bestritten. Sie fanden einen Einklang, der ihnen nicht nur mehr Raum zum Atmen verschaffte. Zwischen den Ballisten… wurde es sogar spürbar leichter, sich der eigenen Haut zu erwehren. Raum für Fehler war weiterhin keine, aber das hieß zumindest- „Gut, das ist nicht ganz der Verlauf, den ich mir für unser Treffen erwünscht hätte, aber da die Herrschaften so freundlich waren, dafür Sorge zu tragen, das wirklich nichts und niemand mithört, bietet sich diese Gelegenheit dennoch an und ich gedenke sie beim Schopf zu ergreifen!“, verkündete Salcas. Er verschwendete kostbaren Atem, wie Sierra befand, doch… ein Blick über die Schulter, dieses selbstsichere Lächeln, wie er einen Gegner umtänzelte… es war schwer, es ihm in diesem Moment vorzuwerfen. Auch wenn ihr Blick zweifellos ein hell leuchtendes ‚Jetzt?! Ernsthaft?!‘ in seine Richtung warf. „Fein!“, fluchte sie und duckte sich unter einem Schwerthieb hinfort, „Wovon reden die? Warum bin ich neuerdings ein Brüter?“ „Schweigt still, Missgeburten!“, mischte sich der vermeintliche Botenjunge ein, wurde jedoch großzügig ignoriert. „Nun“, begann Salcas, einen gewagten Stich nach vorne setzend. Er traf den Gegner punktgenau, sodass der verwundet sich zunächst zurückzog, um einem Mitstreiter das Feld und seinen Platz zu überlassen. Während er sich heilte. Sichtbar. Er legte sich selbst die glühende Hand auf und die Wunde wurde geschlossen. „Adira sandte mich nicht einfach willkürlich. Wir wussten zwar nicht, dass du hier sein würdest, aber wir hofften es. Andernfalls hätten wir uns von König Wyrmblut eine Audienz mit dir erbeten.“ „Ich hab‘ gerade Zeit – Audienz gewährt!“, warf Sierra zurück. Ihr nächster Streich zog eine lange, blutige Schneise über den Arm des Angreifers, der so fahrlässig seine Deckung vernachlässigt hatte. „Nun, wie sicherlich bekannt, ist Ulthwe nicht grundlos als Beobachter für diese Verhandlungen gewählt worden. Die Gespräche mit König Wyrmblut über eine mögliche Allianz dauern nun schon eine Weile an. Wenn das hier gut läuft, dann- woah!“ Salcas duckte sich unter einem deutlich wuchtigeren Hieb hinweg, setzte nach vorne und stach dem Gegner direkt in den Bauch – der darauf den Fehler beging, die Klinge mit bloßer Hand zu umgreifen, woraufhin er sie mit einem Ruck auch wieder hervor riss, „Wenn das hier gut läuft, dann werden die Tore für Verhandlungen zwischen unseren Ländern offen stehen. Und so wie’s aussieht, gehe ich davon aus, dass es gut laufen wird. Lumiél hat eine wirklich fähige Botschafterin abgestellt, und Ulthwe ebenso – was soll schon schief gehen…!“ Er manövrierte einen weiteren Vorstoß des Gegners aus, der sehr zum eigenen Entsetzen seine Offensive damit direkt auf einen seiner Kameraden niedergehen ließ. „Du meinst, abgesehen von nächtlichen Überfällen auf dem Dach, während der Rest eingeschläfert wurde?“, erwiderte Sierra und zog mit dem Schwanz einem unvorsichtig nahe gekommenen Gegner das Bein weg. Ihre Klinge beendete sein Leben. „Details und Kleinigkeiten, Sierra, Details und Kleinigkeiten – du musst den großen Rahmen sehen!“, schoss er zurück. Mit beherztem Vorstoß schlug er einem Gegner das frisch parierte Schwert fort und setzte zum Vorstoß an. Die Klinge drang durch das Auge in den Schädel und ließ den Unglücklichen daraufhin zusammensinken. „Natürlich hätte jeder diese Verhandlungen beobachten und die Nachfolgenden führen können. Aber man hoffte auf dich und sandte deshalb mich. Ulthwe hat eine eigene Tieflingsgemeinde, weißt du? Und sie haben ihre eigenen Hoffnungen und Traditionen. Wir haben von deinem kleinen Inselreich gehört. Davon, dass es wächst und gedeiht. Anerkannt wird. Sogar halbwegs sicher ist, wehrhaft genug allemal. Du wirst von vielen als Wegbereiter für ein neues Zeitalter gesehen, nicht nur in Lumiél.“ „Kommt jetzt die Stelle mit ‚aber wir können es besser, lass uns dir helfen‘? Falls ja – nicht interessiert!“ Ein Schrei drang aus ihrer Kehle, als sie selbst kurz im Versuch eines Vorstoßes gegen einen Gegner die Offensive des anderen übersehen hatte. Der Schnitt war nicht tief und nicht gefährlich – er kam nur überraschend. Kurz hielt sie sich unweigerlich die Flanke, trat einen Schritt zurück, als der Gegner die Schwäche nutzend vorrückte. Mit einem beherzten, kräftigen Schwung hielt sie sie dann auf Abstand. „Keineswegs, keineswegs!“, erklärte Salcas, der seinerseits nach einem leichten Treffer sich bemühte, das linke Bein nicht zu stark zu belasten, „Wir wollen dich nicht ablösen. Wir wollen dich unterstützen. Das zwergische Volk hat bewiesen, dass es in Lumiél möglich ist, seine Souveränität zu wahren und dennoch Teil einer größeren Nation zu sein. Zwei Könige unter einem Banner.“ „Was schlägst du also vor?“ Sierra ließ sich unter einem Hieb hindurchfallen, rollte sich ein Stück auf den Gegner zu, die Klinge an sich gepresst. Als sie zum Stillstand kam, stach sie rasch nach oben, während die Stöße des Gegners nach unten sie knapp verfehlten. Zwei weitere konnte sie damit schwer verletzen – einer starb, bevor er seine Wunde zu heilen fähig war. „Eine Heirat natürlich!“ „Nein!“, brauste der Anführer der Gegner auf und setzte umso bemühter Salcas zu, bis der sich ein Stück weit in Sierras Bereich zurückziehen musste. „Ich soll dich heiraten?“, stutzte Sierra verwundert, „Das ist ein Antrag? Hier? Jetzt?“ „Ja!“, kam es von Salcas unmittelbar darauf. „Nein!“, schrie ihr Feind dagegen dazwischen. „Klappe!“, brausten beide auf und wagten einen Vorstoß in Richtung des feindlichen Anführers. Von der plötzlichen Koordination etwas überrumpelt, zog er sich tatsächlich zurück und überließ zunächst wieder seinen Kameraden das Feld. „Es wäre perfekt! Wir würden das Bündnis mit Lumiél stärken. Wir würden etwas für unser eigenes Volk tun. Wir würden deinem Vorhaben einen guten Erben bieten. Und damit auch die Möglichkeit, sich mehr Souveränität zu erarbeiten.“ Ein neuer Vorstoß des Gegners wurde von beiden in Kooperation ausgenutzt. Salcas raubte beiden mit einem kurzen Beinfeger und einer Parade das Gleichgewicht – und sie stolperten regelrecht in Sierras Klinge und Faust hinein. Mit mehr als der Hälfte der Feinde außer Gefecht wurde der Kampf allmählich auch noch leichter, auch wenn ihre zunehmende Erschöpfung dem entgegenzuwirken versuchte. „Kommandant, wir müssen uns zurückziehen!“, meinte einer der Angreifer. „Nein! Wir werden die Brüter nicht verschonen!“ „Ich hasse diesen Begriff!“, fluchte Sierra, packte eine der Klingen eines Gegners und übte sich an einem Trick, den sie von Thorin gelernt hatte. Der Mann hatte ihr endlose Geschichten davon erzählt und darauf geschworen, dass es möglich sei. Er habe seine Axt tatsächlich geworfen. Dutzende Male, hunderte Male. Sie sei nicht so präzise wie Wurfäxte, die dafür gefertigt worden waren, aber allemal gut genug, um ein nahes Ziel zu treffen. Und wenn man die Kraft hatte, war die Wucht dahinter nicht ohne. Sierra hatte ganz gewiss nicht ansatzweise Thorins Kraft. Aber sie wollte auch keine verdammte Streitaxt werfen, sondern ein Kurzschwert. Dafür wiederum reichte es. Der Kommandant, den sie anvisiert hatte, bekam die Klinge jedoch nicht ab, weil einer seiner Männer sich in den Weg stellte. Regelrecht hinein warf. Das hieß auch, dass er leider nicht die Klinge abbekam, sondern den Knauf. Der dumpfe Schlag gegen die Stirn ließ ihn dennoch bewusstlos zu Boden brechen. Ahnend, womit sie es zu tun hatten, veränderten beide ihre Taktik ein wenig. Einen Gegner nur zu verwunden war nicht genug – er würde sich kurz aus dem Kampf zurückziehen, heilen und zurückkehren. Doch mit ihrer nunmehr wie geölt laufenden Maschinerie aus gegenseitiger Verteidigung und gemeinsamen Vorstößen gelang es ihnen, mehr und mehr Gegner auszuschalten. Bis, mit einem letzten Vorstoß und zwei Klingen in seiner Brust, auch der Anführer vor ihnen auf die Knie brach und sich nach hinten gegen die Mauer von den Schwertern rutschen ließ. „Ich habe euch einen gerechten Prozess angeboten. Ihr hättet euch erklären können. Aasimare leben lange, länger als Menschen – nach deren Gesetz ihr be- und verurteilt worden wärt. Was wären die paar Jahre Gefängnis für euch gewesen? Stattdessen habt ihr hier eure Männer geopfert, allesamt. Zwei von ihnen sind ohnmächtig. Mit etwas Glück werden sie mehr Einsicht haben als ihr. Ihnen steht noch ein Leben bevor, das sie – so sie hieraus lernen – in Frieden zubringen können. Ich bin dieses Blutvergießens leid. Könnt ihr nicht einfach-“ „Ave Sol Invictus…!“, krächzte der Aasimar mit seinem letzten Atem. Seine Haut begann zu glühen, seine Augen leuchteten in schwachem Schein auf, während das Leben aus ihnen wich. „Nicht wehren!“, meinte Salcas hinter ihr und griff ihr Handgelenk. Binnen eines Herzschlages standen sie im Innenhof Sûr Waslins – und irgendwo dort oben war das Geräusch einer Detonation zu hören. „Du kannst teleportieren?!“, zischte sie ihn zunächst an, während sie mit Schwindel und Übelkeit rang. „Nun… ja. Was wäre dir lieber gewesen? Dich selbst mit ihnen zu befassen, oder es mit einer Geiselnahme zu tun zu haben? Er hätte jeden aus der Festung verschleppen können. Er hätte einigen, noch während sie schlafen, die Kehlen öffnen können. Zu Zwecken der Demonstration seiner Entschlossenheit. Es mag sein, dass ich mich nach diesen wenigen Stunden unseres Kennenlernens verschätzt habe, aber wäre dir das lieber gewesen? Und ehe du mir vorwirfst, das ich etwas hätte sagen müssen: sie haben demonstriert, dass sie nur darauf lauerten, dass du zu springen versuchst. Sie wussten, was du kannst. Sie wussten möglicherweise auch, was ich kann. Sie hatten das Gleiche möglicherweise auch für mich vorbereitet. Falls ja, war es klug, es nicht einzusetzen. Falls nein, war es klug, es nicht zu erwähnen – damit sie es nicht einsetzen.“ Sierra stutzte und besah sich ihre eigenen Hände. Der schwache, grünliche Schimmer war verschwunden. „Wann…?“ „Der Zauber lief von ihnen ebenfalls unbemerkt aus, als noch drei von ihnen standen. Ebenso wie die Wirkung der Tränke, die ihnen das Fliegen erlaubten.“ Sie nickte schwach, sah bemüht zum Dach empor. „Wir müssen wieder da hoch.“ „Natürlich. Ich schlage nur vor… das wir die Treppen nehmen.“ Sierra nickte abermals, spürte eine neue Welle der Übelkeit bei der bloßen Vorstellung eines weiteren Teleports. Wenn das war, wie es sich anfühlte, Gast im Teleport eines anderen zu sein, dann würde sie nie wieder Witze über Thorins grünes Gesicht machen…! Gemeinsam bewegten sie sich langsam durch den Innenhof. Der Stallbursche lag bei den Pferden im Stall zusammengesunken. Sie beschnupperten ihn, ließen ihn sonst aber in Ruhe. Der Gärtner lag am Teichufer. „Warte. Wir sollten erst schauen, dass es allen gut geht“, besann sie sich. Was, wenn jemand in der Badewanne eingeschlafen war? Um Ertrinkende zu retten, war es jetzt natürlich zu spät. Aber vielleicht konnten sich andere Dinge noch richten lassen? Die Kontrolle der Festung dauerte eine knappe halbe Stunde. Die Soldaten auf ihren Wachposten, die meisten Bediensteten in ihren Betten – selbst das Vieh war mehrheitlich eingeschlafen. Warum ausgerechnet die Pferde noch wach waren, nicht eins von ihnen betroffen, war ihnen beiden ein Rätsel. Dann erst, nachdem sichergestellt worden war, dass es allen soweit gut ging und sich keine Verluste ergeben hatten, wagten sie den Aufstieg aufs Dach. Das Ausmaß der Verwüstung wurde schon im Treppenaufgang darunter deutlich. Die Stufen waren seltsam rutschig und die Luft deutlich kühler. Eine Eisschicht zog sich die Wände und Decke entlang, die dicker wurde, je höher sie kamen. Durch den Durchgang aufs Dach mussten sie sich regelrecht hindurch quetschen. Dort oben herrschte Winter. Die Ballisten waren völlig überfroren, die Gefallenen eingefroren in eisigen Särgen. Scharfkantige Splitter und Dornen erhoben sich, alle vom Zentrum der Detonation fortgerichtet. Kleinste Eiskristalle wanderten wie Schnee durch die Luft. Diese Explosion konnte keiner der beiden Bewusstlosen überlebt haben. Und tatsächlich fanden sie sie unter einer dicken Eisschicht begraben wie die anderen auch. „So viel zu dem Versuch, ein paar Antworten zu bekommen“, seufzte Sierra frustriert. „Wir haben in Zivah Elmas ein paar Seher. Sie sind nicht vergleichbar mit denen des Zirkels, aber vielleicht kommt ja etwas dabei heraus. Es wird natürlich eine ganze Weile dauern, ehe ich wieder dort bin, ehe sie Informationen haben und ehe diese dann euch hier erreichen. Aber ich werde sehen, was ich herausfinden kann.“ Salcas legte ihr die Hand auf die Schulter und es fühlte sich… seltsam tröstlich an. „Danke. Ich werde hier auch ein paar unserer Spürhunde darauf ansetzen. Sie müssen von irgendwo gekommen sein. Irgendein Hafen. Die Tränke müssen irgendwoher gestammt haben. Und diese Farben und Stoffe sind definitiv von hier. Irgendwer wird irgendwas wissen. Irgendwie, irgendwann.“ Nach einem Moment erhob sie sich. Es war dennoch… bedauerlich. Diese zwei hätten nicht sterben müssen. Keiner von denen hätte sterben müssen. Es machte ihr nur einmal mehr deutlich, wofür sie diesen Kampf führte. Damit es Momente wie diesen nicht mehr geben musste. „Der Antrag war also dein Ernst, hm?“, meinte sie leise, als sie sich von dem Desaster abwandte. „Voll und ganz. Ich denke, wir schlagen damit drei Fliegen mit einer Klappe.“ „Waren es in der Geschichte nicht sieben?“, gab sie um ein Lächeln bemüht zurück. An Salcas Seite wandte sie sich ab. Solange das Eis so dick war und sie nur zu zweit, ließ sich hier nichts machen. Und bei der erstbesten Gelegenheit fanden sie auch rasch heraus, dass sich dieser magische Schlafeffekt nicht einfach so mühelos durchbrechen ließ. Sie würden abwarten müssen, bis der Effekt nachließ. „Nun, wir arbeiten uns langsam vor. Jeder fängt mal klein an, nicht?“ Schmunzelnd nickte sie ihm zu. „Ich denke, ich kann dich ganz gut leiden, Salcas Nephris, Gossenbotschafter aus Ulthwe.“ Er… legte den Arm um sie. Und obgleich da noch immer Vorsicht war und Alarmglocken schrillen ließ, war da auch ein Teil, der schlicht… dankbar war und es genoss. Auskostete. Selten genug hatte sie Momente wie diesen, die sie einfach nur genießen konnte. Selten genug hatte sie sich Augenblicke eingestanden, in denen sie zu hoffen wagte. Glaubte, dass sie so etwas würde haben können. Nun schien das nicht nur in greifbarer Reichweite, sogar etwas… Positives. Förderliches. Nützliches. Eine gute Ausrede, die Gelegenheit zu ergreifen, nicht wahr? Die Chance zu nutzen. „Ist das also ein ‚ja‘?“, hakte er ein, während sie sich im Innenhof ein kleines Stück abseits des bewusstlosen Gärtners an den Teich setzten. „Es ist kein ‚nein‘. Ich erwäge es zumindest.“ Er nickte und blieb für einige Minuten still. Während ihr Blick zum Wasser wanderte, der durch den Schatten des Baumes fast schwarzen Oberfläche, wanderte seiner nach oben zu den Sternen Lumiéls. „Irgendetwas, das ich vor unserer gewaltigen und zweifellos beeindruckenden Hochzeit wissen sollte?“ Sierra schmunzelte. Er war hartnäckig. Und ein wenig frech. „Ich habe gern Recht. Und du?“ „Ich habe Angst vor Tauben.“ Verdutzt schaute sie auf. Beide maßen einander kurz mit Blicken, ehe sie zu lachen begannen. Leicht, leise, aber unverkennbar da. „Das sind wirklich hübsche Sterne, die ihr hier habt“, fuhr er nach einer Weile fort. Sierras Blick folgte seinem empor. Lächelnd strich sie sich über den Arm und stutzte. Er war feucht. Und die Berührung schmerzte dumpf. Ihr Blick wanderte herab und sie stockte. „Wir… wir sollten uns vermutlich um unsere Wunden kümmern…“ Etwas irritiert stand sie auf, half ihm hoch. Sie hatte sein Humpeln nicht bemerkt – jetzt aber war es prägnant. Wie lange war es her, dass sie eine Verletzung vergessen hatte? Als Marco und Gerard aus ihrer Kammer gestürzt kamen, fanden sie Salcas auf seinem Bett sitzend vor, die Beinkleider neben sich, Sierra auf den Knien vor ihm und… sie nähte eine Schnittwunde. „Ausgeschlafen?“, brach der Botschafter den ersten Moment peinlich berührter Verwirrung. Beide nickten dumpf. „Gut. Dann macht eine Runde. Informiert Kommandant Blaigt und Kommandant Floranson, das wir überfallen worden sind. Es kam niemand sonst zu Schaden, unsere Verletzungen werden versorgt, sind nicht kritisch und die Angreifer sind restlos ausgeschaltet worden, keine Überlebenden. Oh und… jemand soll eine Gruppe der Bediensteten zum Putzen an den Treppengang des Hauptgebäudes stellen. Da wird demnächst  vermutlich sehr viel Schmelzwasser durchkommen.“ Gerard überblickte die Situation nochmals kurz, nickte dann und trat ab. Marco dagegen blieb stehen und starrte noch einen Moment. „Herr? Ist alles in Ordnung?“ Sichtlich etwas beklommen angesichts seines offenkundigen Versagens, senkte er betreten den Blick. Salcas hingegen seufzte. „Zerbrich dir nicht den Kopf, Marco. Ich habe eine Naht am Bein, auf die ich wirklich gut und gerne verzichten könnte. Und noch ein paar kleine Schnitte und Prellungen hier und da. Aber wir leben und sonst ist noch alles dran, was wichtig wäre. Kümmer‘ dich um die anderen – sie dürften ebenfalls allmählich aufwachen und werden vermutlich verwirrt sein, wenn nicht sogar panisch.“ Er zögerte einen Moment, nickte dann jedoch und trat ab, um die Befehle auszuführen. „Jetzt schubst du ja doch meine Leute herum“, wandte Sierra konzentriert, aber lächelnd ein, während sie die Naht allmählich beendete. „Nun… nein. Ich schicke Leute, die deine Leute herumschubsen. Völlig andere Sache. Aber wenn wir schon bei unterhaltsamen Abenden sind: Respekt für das eindrucksvolle Abendprogramm, du hast dich wirklich ins Zeug gelegt.“ Sierra schüttelte leicht den Kopf. „Ja, alles nur für den Herrn Botschafter. Mir tut’s nur um den Wein leid. War ein guter Jahrgang und ich bezweifle, dass er es sonderlich gut überlebt haben wird, schockgefroren zu werden.“ „Nun, das war hoffentlich nicht die letzte Flasche. Oder der letzte unterhaltsame Abend. Und nachdem du meine ganze Lebensgeschichte kennst, steht mir das Gleiche zu, wie ich finde.“ „Findest du, hm? Dabei hat deine Geschichte noch Löcher so groß, dass ich meine darin versenken könnte und niemand würde es bemerken.“ Dennoch. Als sie mit der Naht fertig war, setzte sie sich auf. Sie war erschöpft. Müde. Fertig. Und trotzdem begann sie zu erzählen. Marco und Gernard würden eine Weile unterwegs sein. Es gab wahrlich genug, das jetzt getan werden wollte. Und Heinrich, so gerne er sicherlich sich mit eigenen Augen Sierras Unversehrtheit überzeugt hätte, hatte ebenfalls zu tun. Ihm und Kommandant Blaigt oblag die Sicherheit der Feste. Also galt es, Wachposten aufzustellen, den Hofstaat zu beruhigen, Schäden zu sichten. Maßnahmen zu ergreifen, um zur Normalität zurückzufinden. Das ließ ihnen noch genug Zeit, sich ein wenig auszutauschen und fürwahr: Es gab noch vier weitere Tage bis zu Thorins und Illias‘ Ankunft. Die ersten drei Tage und sie hatten einen zwergischen Tunnel voller Sprengstoff und verkleidete Aasimare mit Eisbomben. Falls man daraus eine Prognose ziehen wollte… so sprach diese in der Tat für noch einige interessante Abende… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)