Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 45: Alltag und Abenteuer -------------------------------- „Haltet den Dieb!“   Vhrengals Blick glitt für die Dauer eines Herzschlages zum Himmel. Gerade lang genug, dass er unbewusst ausmachen konnte, dass es ein gutes Stück nach Mittag sein musste. Später Nachmittag, vielleicht sogar schon früher Abend. Dennoch pulsierte um ihn herum das Leben in jenem Adergeflecht, das Samaras Straßen ausmachte. Natürlich nicht direkt an ihm, aber… um ihn herum. Ein Halbork war, trotz aller Geschehnisse, noch immer ein seltener Anblick. Imposant, ehrfurchtgebietend. Oder zumindest furchteinflößend – für ihn machte es letztlich keinen allzu großen Unterschied. Warum die Leute vor ihm wichen, konnte ihm gleich sein. Obwohl er sich ein wenig wünschte, einreden wollte, dass es an seiner neuen Ausstattung lag. Lohn kommt zu den Mutigen, nicht den Unvorsichtigen, pflegte Thorin zu sagen. Zugegeben, er hatte seine gute Weile gebraucht. Nicht nur, sich mit seiner neuen Rolle anzufreunden, sondern auch, auf das Wort dieses Mannes zu vertrauen, an dessen Kurs zu glauben und sich mehr zu erhoffen als nur die nächste Mahlzeit in einer billigen Holzschüssel vor die Füße geworfen zu bekommen, gepaart mit der Aufforderung, er solle sich beeilen. Einen Moment ließ er die Schulter rotieren. Blankes, im Sonnenlicht blitzendes Metall. Er konnte sich darin spiegeln. Hätte es gekonnt, doch die Position des Schulterstücks war dafür nicht unbedingt ideal. Die Armschoner waren aus Leder, gutes, derbes Leder, das wunderbar roch. Das gleiche Material wie die Stiefel, nur das er am Gewicht spüren konnte, wo die Metalleinlagerungen waren. Auf seinem Rücken wog der schwere Zweihänder, an seinem Gürtel zog zu beiden Seiten das Gewicht wunderlich geformter Wurfäxte. Ein paar Dolche hier und da. Und natürlich die Rüstung! Die Rüstung machte wirklich viel her. Er hatte noch nie etwas getragen, das extra für ihn maßgeschneidert worden war. Lohn kommt zu den Mutigen, hielt er sich immer wieder vor, doch so recht glauben konnte er es noch immer nicht. Die Rüstung saß perfekt. Sie drückte nirgendwo. Sie rutschte nicht. Keine Hohlräume, die sich mit Schlamm, kleinen Steinchen oder ähnlichem Unrat füllen könnten. Die Riemen waren einfach zu bedienen, die Rüstung leicht und zügig anzulegen, aber ohne die korrekte Kenntnis ihres Anlegens nahezu unmöglich mal eben zu entfernen. Außer man schnitt die Riemen durch. Allesamt. Damit hätte man aber wiederum auch eine ganze Weile zu tun. An sich… war es ein guter Tag. Er hatte eine prächtige neue Rüstung, er hatte ein eindrucksvolles neues Schwert. Nichts davon würde allzu lange so glänzend bleiben, so… sauber. Da war er sich ziemlich sicher. Er war nicht unbedingt in einem Feld tätigt, das Sauberkeit förderte. Aber hier und heute, in dieser Straße unter freiem Himmel stehend, da fühlte er sich wie damals, als er noch unter Reva als Leibwache und Eskorte gedient hatte… nein, nein, besser sogar. Höhergestellt. Wichtiger. Freier. Seine Laune hatte sich auf einem Höchstpunkt befunden, dem höchsten seit Tagen, Wochen, vielleicht Jahren. Und dann… hatte er diesen Ruf gehört. Mit einem Schlag zogen sich die Brauen des Halborks zusammen. Ein Dieb? Der Ruf war trotz des allseitigen Gemurmels zahlreicher Gespräche, die um ihn herum geführt wurden, laut genug gewesen, um ihn klar und deutlich zu hören. Die Szenerie musste also ganz in der Nähe sein. Doch Diebe gab es in Samara wie Sand am Meer. Wo sich so viele Menschen auf einen Berg auftürmten, da war es unvermeidlich, dass die Ärmeren, Gerisseneren oder Zwielichtigeren Chancen sahen und zu nutzen begannen. Der Trick war wohl, nie den Falschen zu bestehlen. Und woher wusste man, wer der Falsche war? Er war in der Lage, einen dabei zu erwischen. Einen zur Rechenschaft zu ziehen. Man konnte diese Dinge natürlich auch an Moralvorstellungen knüpfen: Es war sicherlich edler, den zu bestehlen, der im Überfluss schwelgte, als den, der selbst nichts hatte. Aber letztlich ging es immer nur darum, nicht erwischt zu werden. Nein, es war nicht die Botschaft des Rufes, die ihn interessierte. Auch nicht die Stimme. Wer immer da rief, schien zu glauben, er könne die ganze Stadt mit all den Ratten, Schaben und Menschen darin – offensichtlich bestand da ja kaum ein Unterschied – jederzeit nach Belieben zur Arbeit abkommandieren. Ein Adliger also vermutlich, wie es sie zuhauf gab. Aber etwas schlug an. Etwas… neckte, reizte, klingelte in den hintersten Tiefen seines Schädels, etwas, das ihm keine Ruhe ließ, ihn drängte und letztlich dazu führte, das er sich in Richtung der Quelle in Bewegung setzte, noch bevor er überhaupt realisiert hatte, wieder zu laufen. Es war etwas an dieser Art, dieser selbstgerechte Tonfall, etwas aus alten Zeiten. Er konnte nur nicht den Finger darauf legen, was. Als er am Ort des Geschehens ankam, hatte man den Dieb offenbar gefangen. Inzwischen hatte sich eine kleine Meute Schaulustiger versammelt und versperrte Weg und Sicht. Vhrengal versuchte zwar, sich durchzuquetschen, aber ausnahmsweise war ihm seine Abstammung wenig Hilfe – die Leute waren vom Schauspiel vor ihnen zu fasziniert, um danach zu schauen, wer sie weg schieben wollte. Kurz konnte er einen Blick auf die Szenerie im inneren Kreis erhaschen. Eine breitschultrige Gestalt eines Mannes, gekleidet in feine Gewänder. Er sah die Qualität sofort – Reva hätte solche Stoffe zu tragen geschätzt. Was er auch sah, war ein junger Bursche, vielleicht um die zehn Jahre. Zerschlissene, völlig verdreckte Kleider, löchrige Schuhe, das Gesicht vor Schmutz kaum erkennbar und die Haare verfilzt. Das Geräusch eines auf dem Pflaster aufschlagenden Geldbeutels war eindeutig genug, als der ehemals Bestohlene den Burschen am Hemdkragen hochhob. „Was fällt dir ein!?“, fuhr der Fremde den Jungen an. Etwas war an ihm. Etwas hatte es mit diesem Adligen auf sich. Vhrengal konnte es beinahe spüren. Als müsse er nur noch einen Meter näher ran, um herauszufinden, was ihn so beschäftigte, was ihn so… reizte. Warum war er so zornig? Warum gerade jetzt, hier? Er kannte diesen Fremden nicht, oder? Vielleicht aber ja doch. Etwas an seiner Stimme wirkte… vertraut. Aus alten Tagen vielleicht. Das Geräusch ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Der klatschende Laut einer Maulschelle war ihm bestens bekannt, er hatte oft genug Schläge aus allen nur erdenklichen Quellen und auf zahlreiche Arten bekommen. Er hörte den viel zu jungen Straßendieb wimmern. Er bettelte nicht um Gnade oder darum, losgelassen zu werden, er bat nicht um Verzeihung. Tatsächlich äußerte sich der Junge auf keinerlei Weise, abseits des Wimmerns nach dem Schlag. Kluges Kind. Er wusste offensichtlich, wann es zwecklos war, irgendetwas zu sagen. Der Drang, diesem Fremden ins Gesicht zu blicken, wurde überwältigend. Er musste es einfach wissen! Er musste irgendwie durch diese letzten Reihen Schaulustiger kommen, die ihm plötzlich wie ein Bollwerk im Weg standen. Und noch ehe er über irgendeine vernünftige Möglichkeit nachgedacht hatte… hörte er sich selbst schon sprechen. „Was für ein tapferer Mann, der einem solch offensichtlich gemeingefährlichen Monster eine Lektion erteilt!“, spuckte er regelrecht daher. Widerworte an jemanden zu richten, der feinste Seiden trug, war nie sonderlich clever. Vhrengal wusste das und dennoch… bedauerte er seine Worte nicht eine Sekunde. Das hing einerseits wohl damit zusammen, dass der Angesprochene überrascht den Knaben zurück auf den Boden setzte und sich zu ihm umwandte. Eine Gelegenheit, die der Junge sofort ergriff und rasend in einer Gasse verschwindend die Flucht ergriff. Irgendwie erfüllte es ihn mit einer grimmigen Zufriedenheit, diesem selbstgerechten Aas in die Parade gefahren zu sein. Ebenso trug vermutlich seinen Teil bei, das die Menge unter entsetzten Lauten und empörtem Luftschnappen auseinander wich, sich ihm zuwandte, ihm Aufmerksamkeit widmete, erkannte, wer und was er war – und ab dem Moment wichen sie auch alle ein gutes Stück zurück. Er war nicht mehr von allen Seiten eingekeilt. Mehr noch, er hatte endlich freie Sicht auf diesen Adelsmann. Der erste Blick verriet ihm wenig. Ein Mensch wie jeder andere. Braune Haare, dunkle Augen, blasse Haut. Für ihn sahen die Adligen alle gleich aus. Unterscheidbar nur anhand der Farben und Muster ihrer Lieblingsgewänder – und wehe, sie entschieden sich doch einmal, die Meere an Stoffen in ihren zahllosen begehbaren Kleiderschränken zu durchsuchen, um etwas anderes zu finden, womit sie sich schmücken konnten. Dennoch zog er das Schwert. Warum? Das war dumm. Einfach nur dumm. Und dieses selbstgerechte Lächeln, schmal und blutlos auf den Lippen des Adligen, verriet nur zu gut, das auch sein Gegenüber erkannte, was für einen grässlichen Fehler er hier gerade beging. „Das wagst du nicht, Missgeburt“, spottete der Adlige. Mit einem Schlag fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Oh und wie er diesen Mann kannte! Jünger nur. Sehr viel jünger. Missgeburt. Dieses Aas hatte ihn schon einmal beleidigt. „Was ist los du Missgeburt? Tut dir dein Kopf weh? Hm? Komm doch her! Dann kann ich dir helfen die Schmerzen los zu werden.“ Die Worte hallten dumpf in seinem Kopf wider. Alt, lange vergraben und hier und jetzt, so plötzlich, exhumiert. Die Stimme war heller gewesen. Das Gesicht weniger kantig. Die Haare kürzer und der Blick zorniger. Damals hatten ihn diese Worte nicht verletzt. Zu oft hatte er sie und ähnliche schon gehört, zu oft Beleidigungen anderer schlucken müssen, ohne etwas dagegen tun zu können… oder zu dürfen. Der Stein, der ihn am Kopf getroffen hatte… der hatte viel mehr Schmerzen bereitet. Was war die Welt für ein seltsamer Ort. Vielleicht war es die Vorstellung der Götter von Gerechtigkeit. Oder Ceteus führte ihn in Versuchung oder Tokhtoras Geister fanden das hier alles wirklich sehr lustig – er konnte die Gründe dafür nicht benennen. Hier und jetzt… war es ihm auch egal. Ganz gehörig egal. Dieses kleine Aas hatte damals ausgenutzt, unantastbar zu sein. Sein Vater war ein wohlhabender Mann gewesen, jemand von Rang und Namen. Hätte er dem Jungen damals ein Haar gekrümmt, es hätte ihn das Leben gekostet. Denn er war ja nur eine Zirkusattraktion gewesen. Sein Leben hatte nicht mehr Wert und Gewicht als das eines Löwen oder dressierten Affen. Er war… ersetzbar. Heute aber war er nicht mehr die Zirkusattraktion. Und mit einem Schlag bereute er sehr viel weniger, das Schwert gezogen zu haben. Der blanke Stahl glitzerte regelrecht in der Sonne. Wartend. Lauernd. Begierig auf das erste Blut, das dieses Metall nach dem Auskühlen von der Schmiede sehen würde, kosten würde. Er könnte diese Missgeburt niederstrecken. Hier und jetzt, mit nur einem Schwung. Aber der Gedanke, ihn leiden zu lassen, war so viel verlockender. Ihn zu demütigen, zu erniedrigen, ihm zurückzuzahlen, doppelt und dreifach, was er hatte durchmachen müssen. Was Thorin, Myron und Ishara davon wohl halten würden? Was Tokhtora dazu wohl sagen würde? Der Versuch, sein Temperament zu zügeln, glückte nicht. Was kümmerte ihn, was diese Leute sagten und dachten? Sie waren nie in seiner Position gewesen, hatten nie das Gleiche erdulden müssen, hatten nie in das selbstgefällige Antlitz dieses kleinen Bastards starren müssen, nur um daran zwei Dinge abzulesen: Du bist nichts wert!, und Ich bin unantastbar für dich! Der Zorn alter Tage, geschürt aus Verzweiflung, Kränkung und Hilflosigkeit, flammte mit einer für Vhrengal unerwarteten und unaufhaltsamen Wucht auf. Beide Hände packten den Griff, mit eisernen Schritten stapfte er auf den Schrecken seiner Jugendjahre zu. Er konnte es sehen. Er sah im Gesicht dieses armseligen Wurms, wie auch er dem Prozess der Erkenntnis unterlag. Wie auch er realisierte, woher er dieses Gesicht kannte – nur jünger, schmutziger. Er konnte sehen, wie ihm das Blut wich, wie er kreidebleich wurde, seine Augen sich weiteten, wie er die Hände hob, zum Schutz, zur Beschwichtigung, wie seine Lippen sich öffneten, um Gebettel vorzuquetschen oder Befehle zu blaffen, doch nicht der kleinste Laut drang über die von Panik festgefrorenen Stimmbänder hinaus. Er hob die Klinge. Ein einziger, weiter Schwung. Vielleicht würde er ihn in zwei Teile schlagen können, die Klinge war schwer und sensationell scharf. War das nicht einen Versuch wert? Die bloße Vorstellung, wie sich die Innereien auf dem Boden verteilen würden, verursachte Übelkeit, Vorfreude, Genugtuung. Er hatte die Klinge gehoben, stoppte in der Bewegung, brachte die Kraft auf, um sie umzukehren. All seinen Zorn legte er in diesen Schwung. All die Schmähungen, all die Verletzungen, all die vielen Tränen und Stunden im Gefühl der Hilflosigkeit, ein ganzes Leben voller Elend, Kummer und Verzweiflung würde auf diesen kleinen Bastard herabschmettern und- „Vhrengal, nicht!“   Die Klinge schmetterte in blankes Kopfsteinpflaster. Kleine Steinsplitter surrten vom Einschlag davon, prickelten unangenehm in seinem Gesicht. Immerhin hatte er rechtzeitig die Augen geschlossen. Die Aufforderung war nicht, was den Schlag aus der Bahn gebracht hatte. Es war, einmal mehr, die Stimme gewesen. Er kannte sie, aus alten Tagen. Nur jünger. Vielleicht nicht viel, aber… jünger, zumindest ein klein wenig. Als der Halbork sich aufrichtete, starrte er ungläubig auf die Gestalt, die sich hektisch durch die Menge quetschte und schließlich aus dem neu geschlossenen Kreis der Schaulustigen hervorbrach. „Gute Götter, bitte, bring ihn nicht um!“ Sie flehte nicht. Noch nicht. Sie bat ihn. Aber es lag ein solcher Nachdruck in ihrer Bitte, dass man es nur zu leicht hätte verwechseln können. „J-… Jenna…?“, krächzte er völlig überrumpelt einen alten, fast vergessenen Namen. Wer hätte sie sonst sein sollen. Vielleicht war er zu verdutzt und nicht nah genug, um die unterschiedlichen Augenfarben sehen zu können. Die hübschen Stiefel verdeckten auch die zwei sechsten Zehen. Aber er sah sehr wohl die sechsten Finger… an allen drei Armen. Sie trug ein dünnes Seitenoberteil mit Goldstickereien, das… auf unangenehme Weise wunderbar zu den edlen Kleidern seines Jugendschreckens passte. Den Kopf schüttelnd, verweigerte er sich der Offensichtlichkeit der Realität. Das war ausgeschlossen. Schlicht unmöglich. Dennoch verfolgte er, wie sie nicht etwa zu ihm lief, sondern zu diesem Ekel. Jetzt erst bemerkte er, dass sich dieser Bastard regelrecht zusammengekauert hatte. Er stand noch auf seinen Beinen, sicherlich – Respekt dafür! Aber er zitterte in gebeugter Haltung, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als würde der Himmel einbrechen und ihn begraben. Jenna trat zu ihm, flüsterte auf ihn ein, strich über seinen Rücken, bis er allmählich zu zittern aufhörte und sich aufrichtete. Etwas zu bemüht, um noch ernstgenommen werden zu können, richtete er seine Kleider, sah sich um und trat einen halben Schritt näher, um seinen Geldbeutel endlich aufzuheben. Keiner in der Masse der Schaulustigen wagte zu lachen oder auch nur zu kichern. Keine einzige Bemerkung erklang. Man würde sich köstlich darüber amüsieren, sich für Tage oder vielleicht sogar Wochen das Maul zerreißen. Später. Daheim. Hinter verschlossenen Türen, mit den Nachbarn, mit Freunden und Familie und jedem beliebigen Fremden, aber nicht hier und jetzt. „Willhelm, sieh mich an“, hörte er Jenna leise seinen vermeintlichen Feind ansprechen. Erst als sie ihre Aufforderung in einem etwas strafferen Ton wiederholte, gehorchte er. „Alles ist gut. In Ordnung?“ Diese… irritierende Wärme kehrte in ihre Stimme zurück. Vhrengal begriff nicht, was hier vor sich ging. Es war schließlich völlig unmöglich, dass sie… sie würde niemals einfach… Als Jenna sich jedoch ihm zuwandte, lag in ihrem Blick eine kühle Härte. Er kannte diesen Ausdruck und trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Damals im Zirkus hatte er gelegentlich Unfug angestellt, rebelliert. Wenn die Prügel durch andere keinen Effekt zeigte – oder nicht zum gewünschten Effekt führte – oder ihnen mit den offensichtlich nutzlosen Belehrungen die Geduld ausging, dann schickte man meist Jenna zu ihm. Sie war immer freundlich gewesen… aber sie hatte auch immer gewusst, wann Freundlichkeit mehr schaden als helfen würde. Sie hatte diesen enttäuschten, rügenden Blick, der einem die Knochen zu Glibber werden lassen konnte. Und sehr zu seinem Verdruss hatte sie weder diesen Blick verloren, noch hatte jener seine Wirkung auf ihn eingebüßt. „Vhrengal Fledderohr!“, fuhr sie ihn leise an. Er hatte den Namen fast vergessen. Ein unschöner Zwischenfall mit einem Hund. Die Mitglieder im Zirkus fanden, er hätte so bleiben sollen. Es gäbe ihm Charakter, meinten sie – er verstand damals nicht, was das sollte und tat es noch heute nicht. Jenna hatte sich dafür eingesetzt, das man etwas Geld zusammenkratzen würde, um einen Heiler zu bezahlen. Sie bekamen die nötigen Münzen gerade rechtzeitig zusammen, bevor die Wunde zu alt wurde, um noch auf diese Weise behandelt zu werden. Sein Ohr heilte ab. Fast spurlos. Die Narbe konnte er nur bei sehr kaltem Wetter gelegentlich spüren und man sah sie nur, wenn man sehr nah heran kam. Aber der Spitzname war geblieben. Erst als er ihr Lächeln sah, bemerkte er, wie er mit Zeige- und Mittelfinger über sein linkes Ohr strich. Wann er das Schwert losgelassen hatte, war ihm nicht klar – aber seine Rechte schmerzte allmählich vom darum verkrampften Griff. Also ließ er sein Ohr los und brachte die Klinge wieder auf seinem Rücken unter. Jenna dagegen… sie trat an ihn heran. Einfach so. Völlig furchtlos. Und näher, als sich Fremde je wagen würden. Kurz unterzog sie ihn einer oberflächlichen Musterung. Es war nicht wirklich unangenehm. Sie schien nicht zu urteilen, nicht zu kritisieren, nichts zu suchen. Schließlich nickte sie. „Groß bist du geworden“, merkte sie lediglich an, ehe ihr Blick wieder etwas härter wurde, „Du kannst doch nicht einfach herumlaufen und Leute niederstrecken!“ „Er ist-“, hob der Halbork an und deutete auf Willhelm, doch was hätte er sagen sollen? Der Bastard, der mich früher mal mit Steinen beworfen hat? Welcher von den vielen, vielen, die es da gab? Jenna wusste zweifellos, worauf das alles hinaus lief. So wie sie sicherlich auch wusste, dass es genug Willhelms in seiner Jugend gegeben hatte. Haben musste. Viele davon hatte sie schließlich selbst miterlebt. Sie hatte Wunden gesäubert, manchmal auch genäht. Unsicher brach er seinen Rechtfertigungsversuch ab. Stattdessen spürte er die Wärme, die ihm in die Wangen und Ohren schoss. Seine Haut war gnädig gefärbt und versteckte Schamesröte bis zu einem gewissen Grad und falls Jenna es mitbekam, reagierte sie zumindest nicht darauf – wofür er durchaus dankbar war. Jenna hingegen seufzte. Sie blickte zu Willhelm zurück, dann wieder zu ihm. „Euch ist also beiden klar geworden, wer der jeweils andere ist, hm?“, hakte sie nach, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Abermals schwer seufzend, rieb sie sich über die Stirn. „Das ist nicht, wie ein Wiedersehen ablaufen sollte. Und auch nicht der richtige Ort dafür. Möchtest du vielleicht mit uns mitkommen? Es gibt Wachtel mit Spinatsuppe als Abendmahl.“ Die Einladung kam… nun – es unerwartet zu nennen, wäre die Untertreibung des Monats gewesen. Andererseits… vielleicht eher des Tages – seit er Alistair kannte, wusste er um ein gehöriges Maß an Untertreibungen. Sein Blick wanderte zwischen Jenna und Willhelm, der – sehr zu seiner Genugtuung – ebenso entsetzt schien, wie er sich fühlte. Die bloße Vorstellung, mit ihm, einer Missgeburt, am selben, zweifellos schicken Tisch sitzen zu müssen, während er von seinen schicken Tellern seine edlen Speisen aß… was musste das nur für ein Horror sein! Schon allein deshalb überlegte er, anzunehmen. Aber da war… mehr. Sie trug diese feinen Kleider. Und kümmerte sich um diesen Hurenbock, als hätte er das verdient! Und als wäre das alles nicht schon seltsam genug, hatte er genau gesehen, wie sich ihr dritter Arm bewegt hatte, als sie die Hände in die Hüften stemmte. Was… eigentlich völlig unmöglich war. Es hatte sich dabei nie um mehr als ein nutzloses Anhängsel gehandelt. Er wurde von niemandem zurückerwartet. Zumindest nicht heute. Und Tokhtora predigte ständig Balance und Ausgeglichenheit, Frieden mit Vergangenheit und Zukunft. Das hier… war vielleicht wirklich eine Einmischung der Geister, von denen sie ständig sprach. Vielleicht gab man ihm hier und jetzt die Chance, Frieden zu machen mit einem Kapitel, von dem er nicht wirklich gewusst hatte, dass es noch unerledigt offen lag. Allerdings war es nicht sein Wunsch nach Frieden, der ihn letztlich nicken ließ, sondern seine Neugier und der etwas gezügelte, nicht länger blutlüsterne Wunsch nach Rache. Und sei es nur, diesem Scheusal eine Mahlzeit zu verderben.   Sie legten den Weg relativ schweigsam zurück. Jenna bemühte sich dann und wann, ein Gespräch mit ihm oder Willhelm zu beginnen, doch sie waren beide viel zu sehr damit beschäftigt, einander grimmige und misstrauische Blicke zuzuwerfen, als das sie sich auf ein wenig Unterhaltung hätten einlassen können. Und irgendwann, schwer seufzend, hatte sie ihre Mühen auch schlicht aufgegeben. Wie befürchtet, führte ihr Weg sie in das südliche Stadtviertel. Hier wohnten die Adligen und Wohlhabenden. Beides musste man, wie er inzwischen wusste, säuberlich trennen. Nicht jeder Adlige war wohlhabend, längst nicht. Es war tatsächlich sogar erstaunlich, wie viel Niederadel völlig verarmte und gezwungen war, alltäglichen Arbeiten nachzugehen oder, die Götter mögen einen bewahren, ein Handwerk zu ergreifen! Ebenso erstaunlich war, wie sich kontinuierlich Händler mit guten Nasen für raffinierte Geschäfte in den Niederadel hineinkauften, ob durch den Erwerb eines Titels, eines Stück Landes oder eine geschickt arrangierte Eheschließung. Er verstand von diesem ganzen politischen und wirtschaftlichen Irrsinn nicht viel und hatte auch keinen Sinn dafür – aber er wusste, das Adlige schnell erbost reagierten, wenn man sie auf ihr Vermögen ansprach und das mancher Händler die Preise verdoppelte, wenn man auf seine soziale Stellung zu sprechen kam. Auf die letzten Meter hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, doch er konnte sich auf Gedeih und Verderb nicht mehr erinnern. Diese kleine Ratte, die nun ausgewachsen neben ihm einher lief, hatte seinen Vater gepriesen und vorgestellt. Herr von irgendwas, Dingsda von Bumsdings… er wusste es einfach nicht mehr. Titel gab sich dieser Tage ja jeder, wie er es lustig fand – aber wirklich kraft- und gewichtvolle Titel gab es nur wenige. Offiziell verliehene Ämter und Ehren. Das, was einen letztlich zum Adligen machte. Ob dieses Scheusal nun von blauem Blut war oder nicht, konnte er letztlich nicht sagen. Er wusste auch nicht einmal mehr so genau, ob es eine Rolle spielte – oder warum er sich überhaupt an diesem Gedanken so festgebissen hatte. Vielleicht einfach nur, um auf die schweigsamen Meter etwas zu haben, das ihn ablenkte. Das Starr-Duell mit Willhelm war ja nun wirklich alles andere als unterhaltsam.   Sie passierten die Grundstücksmauern. Zwei Wachen rückten gerade und grüßten Mylady und Mylord. Vielleicht also doch Adel? Oder nur eine Vorliebe des Eigentümers? Vhrengal wunderte sich einen Moment gehörig über die Anrede für Jenna – doch er sah auch, wenn nur von der Seite, wie sie dabei ganz leicht das Gesicht verzog. Sie war es nicht gewohnt und konnte es offenbar auch nicht leiden. Gut so! Willhelm dagegen stolzierte natürlich mit stolz gerecktem Kinn voran, als wäre es sein Anrecht, als würde alles ihm gehören, worauf sein Blick fiel. Hier… mochte das vielleicht dummerweise sogar stimmen. Das Grundstück hatte einen Streifen grünen Grases um das eigentliche Gebäude. Ein gepflegter Kiesweg führte beidseitig um einen edel wirkenden Springbrunnen, ein halbes Dutzend gut abgerichteter Hunde tollte auf dem Gelände herum, verfolgt von einem Elb in Dienergewand, der vermutlich für die Fürsorge der Tiere angestellt worden war. Die Fassade war komplett weiß – es musste ein Vermögen kosten, sie in diesem Zustand zu halten. Marmorsäulen trugen ein kleines, dreieckiges Vordach, seltsame Pflanzen säumten in Töpfen stehend den Weg. Vhrengal begriff rasch, dass dies eine völlig andere Welt war. Eine, in die er nicht wirklich gehörte und von der er absolut nichts verstand. So wenig, wie Jenna seiner Meinung nach hierhin gehörte. Auch sie wirkte einen Moment verloren, als sie durch die Eingangstür – oder Tor wohl eher – in eine gewaltige Halle traten. Schicke Wandteppiche in Purpur und Läufer und weitere Marmorfliesen und jede Menge Tand und Schmuck, für den er weder Augen noch Verständnis hatte. Stattdessen kamen ihnen drei Diener entgegen. Einer nahm Willhelms Mantel entgegen, einer Jennas Einkäufe. Letzterem folgte sie in Richtung der Küche, wie sie sie noch beim Verschwinden wissen ließ. Sie hatte es sicherlich amüsant gemeint, als sie meinte, sie sollten es sich schon einmal im Esszimmer bequem machen – bevorzugt, ohne einander umzubringen. Wirklich darüber lachen konnte er jedoch nicht. Nicht mal lächeln. Stattdessen folgten Willhelm und er dem dritten Bediensteten durch ein paar Flure und Korridore, geschmückt und gesäumt mit noch mehr Wandteppichen, noch mehr Gemälden und Büsten und Skulpturen und anderem zweifellos wertvollen, aber nutzlosen Tand, bis in das, was Jenna ein Esszimmer genannt hatte. Es glich eher einem Saal. Der Tisch würde für eine Großfamilie genügen. Es gab kleine Ecken im Zimmer, die thematisch sortiert waren. In einer Ecke standen Bücherregale, ein paar sehr bequem – und sehr teuer – aussehende Sessel mit einem der drei Kamine im Raum. Der zweite Kamin befand sich in einer anderen Ecke, zusammen mit weiteren Sesseln und Vitrinen, hinter deren verglasten Metallgittern allerhand Flaschen mit farbigem Inhalt standen. Der dritte Kamin war offenbar die als solche vorgesehene Hauptquelle für Wärme und trug bereits gehörig Scheite und Feuer in sich, als sie eintraten. Ob man den Raum konsequent warm hielt oder vor ihrer Ankunft zu feuern begonnen hatte, war ihm ein Rätsel. Aber Vhrengal entging keineswegs, das hier und da immer mal wieder Bedienstete zu sehen waren, die etwas von A nach B schleppten, etwas gerade rückten, abputzten oder einen Blick in ihre Richtung warfen, als könnte ihr Überleben davon abhängen, jedes noch so banale Anliegen sofort zu erledigen. Das beinahe schon gehässige Lächeln auf Willhelms Lippen mochte wohl bedeuten, dass dieser darauf spekulierte, ihn mit Prunk und Reichtum einzuschüchtern. Falls dem tatsächlich so war… scheiterte er aber gehörig! Diese Genugtuung würde er dem kleinen Aas nicht zugestehen. Stattdessen nahmen sie am Tisch Platz, einander gegenübersitzend, und starrten sich lauernd gegenseitig an, schweigend. Einmal mehr. „So trifft man sich wieder“, begann Willhelm schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. „Hätte drauf verzichten können“, knurrte er zurück. „Hübsches Schwert“, spottete der Hausherr. „Danke“, knurrte Vhrengal zurück. „Vielleicht solltest du die Rüstung nicht unbedingt zum Essen tragen. Ich weiß, da, wo du her kommst, brachte man dir keine Manieren bei, aber-“ „Die Rüstung bleibt, wo sie ist“, schnitt der Halbork ihm den Satz ab. Einen Moment lang maßen sie einander mit Blicken. Als würden sie abschätzen wollen, wie es nun weitergehen müsse. Weitergehen könne. Schließlich ergriff Willhelm einmal mehr die Initiative. „Du solltest im Interesse aller deinen Besuch hier möglichst kurz fassen. Jenna und ich haben noch Pläne für die Nacht.“ War es nun Absicht? Vermutlich war es Absicht. Es musste einfach Absicht sein! Dieses Scheusal wusste zweifellos, wie nahe Jenna ihm gestanden hatte, es vielleicht noch immer tat, wie viel sie ihm bedeutet hatte. Diese Provokation saß genau da, wo sie vermutlich angeplant war – und er drehte die Klinge in der Wunde. Vhrengal verzog angewidert das Gesicht. „Ich bin nicht deiner Einladung wegen hier! Was macht sie überhaupt hier?!“, grollte der Halbork. Er spürte bereits, wie der Zorn neu in ihm aufzukeimen begann, wie die Flammen am Käfig empor leckten. Er wollte über den Tisch springen und ihm dieses zielsichere, selbstgefällige Grinsen aus der Visage prügeln… „Ein Leben führen, dass diese Bezeichnung auch verdient. Deinesgleichen kann sowas natürlich nicht verstehen“, schoss Willhelm die Vorlage direkt nutzend zurück. „Hat dir das auch dein Vater erzählt?“, erwiderte Vhrengal bereits deutlich die Stimme hebend. Nur noch ein paar Provokationen mehr, und bei allen Göttern, er würde diese Missgeburt durch jeden verdammten Raum prügeln, einen Zahn pro Zimmer, ehe er ihn durch das höchstgelegene Fenster schmeißen würde! Bevor Willhelm jedoch seine Erwiderung anbringen konnte – und er hatte schon dazu angesetzt – öffneten sich die Türen. Jenna kehrte zu ihnen zurück, begleitet von einer kleinen Armee Bediensteter. Er hatte völlig das Zeitgefühl verloren und wusste nicht abzuschätzen, wie lange Willhelm und er einander nur angestarrt und belauert hatten. Offenbar genug, dass man ein opulentes Mahl zubereiten konnte. Die Dienerschaft tafelte hübsches Porzellan auf, eine würzige Ingwersuppe als Vorspeise, die Spinatsuppe in einer größeren Schale als Hauptgang zusammen mit der separat angerichteten Wachtel, vorgeschnitten in mundgerechte Stücke und perfekt gebraten, und eine kleine, nicht näher für Vhrengal identifizierbare Nachspeise, die… glibberig aussah. Es roch betörend, sah wunderbar aus und ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Doch alles in allem änderte es auch wenig daran, dass er sich einmal mehr völlig deplatziert fühlte. Denn neben all den Schüsseln und Tellern, die man offenbar in einer speziellen Weise anordnete, kam auch eine kleine Heerschar an Besteck auf den Tisch. Die Dienerschaft entfernte sich eiligen Schrittes und völlig wortlos wieder, lediglich eine der Mägde wünschte einen guten Appetit. Sein Blick fiel auf drei Löffel, zwei Messer und zwei Gabeln. Er brauchte nicht einmal auf die andere Tischseite spähen, um zu wissen, dass Willhelm ihn gehässig beobachtete, wissend, dass er hiermit überfordert wäre. Er konnte seinen Blick regelrecht spüren. „Vhrengal, leg doch bitte wenigstens das Schwert weg. Es muss furchtbar unbequem sein, mit einem so großen, schweren und sperrigen Ding auf dem Rücken zu sitzen!“ Jennas Aufforderung riss ihn aus seinen sich verdüsternden Gedanken. Er hatte sich nicht angelehnt, das war soweit korrekt, und die Position dauerhaft aufrecht zu erhalten, war anstrengend. Aber er kannte es nicht anders. Die Waffe abzulegen war nur in zwei Fällen klug: Wenn man schlafen ging – und dann sollte man sie in Griffreichweite haben – und wenn man unter Freunden war. Beider Gegebenheiten sollte man sich nie zu sicher sein. Wachsamkeit war immer angebracht. Immer. Dennoch… konnte er ihr schwerlich widersprechen. Er hob den schweren Zweihänder von seinem Rücken und legte ihn auf den Stuhl neben sich. „Einer der Knechte soll das Ding-“, hob Willhelm bereits an, der offenbar darauf gelauert hatte, doch Jenna widersprach ihm noch vor dem Ende seiner Erklärung. „Es wird genügen“, ließ sie ihn lediglich wissen und lächelte ihm zu. Dem… gab sich der Hausherr offenbar geschlagen. Er zögerte einen Moment, blickte nochmals flüchtig zu Vhrengal herüber… nickte dann aber. „Vhrengal? Die Rüstung?“ „Bleibt, wo sie ist“, gab der zurück. Allmählich genügte es aber! Es war schon schlimm genug, dass er nicht in seiner Rüstung schlafen konnte. Das war unbequem. Aber er würde sie ganz sicher nicht ablegen. Nicht hier. Die Messer hatten rein zufällig eine perfekte Gewichtsverteilung, um im Notfall als Wurfmesser herhalten zu können. Nein… nein, sowas würde er gar nicht erst riskieren! Was sollte Jenna schon machen, wenn er ihn plötzlich umbrachte? Sie war das Weib im Haus. Das Weib, das aus dem Nichts kam. Ein Niemand. Vielleicht war sie für Willhelm eine Art Trophäe? Oder er hatte noch weit düsterere Pläne mit ihr. Jenna war nicht hübsch, nie gewesen. Ihr Gesicht war ein wenig asymmetrisch. Der dritte Arm störte natürlich viele. Ihre Züge waren etwas markanter, als üblich. Die Hüfte schmal, die Brust flach. Kein Mann, so hatte sie einmal gescherzt, will jemanden in seinem Bett haben, den er mit einem jungen Burschen verwechseln könnte… Je länger er darüber nachdachte, umso sicherer wurde er sich, dass hier etwas faul war. Einfach etwas faul sein musste. Vielleicht war üble Magie am Werk. Wäre nicht das erste Mal, dass sie über sowas stolperten. Diesmal hätte es nur zufällig jemanden getroffen, den er kannte. Er würde gewiss nicht zulassen, dass Willhelm seine finsteren Pläne in die Tat umsetzen würde. Was immer hier vor sich ging, konnte wohl kaum zu Jennas Wohl sein. Und sie schien völlig arglos. Die Täuschung, die der Hausherr angewandt hatte, musste also geschickt gewesen sein. Sicherlich auch langfristig geplant. Dem beizukommen, ohne die, die er retten wollte, auch noch zum Ziel zu machen, würde schwierig werden. Aber er hatte schon ganz andere Herausforderungen gemeistert! Außerdem hatte er von den Besten gelernt, sich ein paar Tricks abgeschaut. „Willst du denn gar nicht wissen, wie es mir ergangen ist?“, hakte Jenna nach. Aus seinen Überlegungen aufschreckend, packte Vhrengal eher reflexartig einen der Löffel und begann die Vorspeise zu leeren, nickte jedoch. Oh und wie ihn das interessierte! Vielleicht würden sich ein paar Hinweise ergeben, was hier wirklich vor sich ging. Und wie er diesem Übel den Garaus machen könnte. Entsprechend aufmerksam bemühte er sich, zuzuhören, während es ihm ein klein wenig Genugtuung verschaffte, Willhelm bei gelegentlichen Seitenblicken dabei zu bemerken, wie er das Gesicht verzog, weil Vhrengal offenbar… das falsche Besteck benutzte. „Nachdem du fort warst, wurde alles ein wenig trister, muss ich zugeben. Wir zogen weiter, hatten weiter unsere Vorstellungen, aber… ich hatte nie wieder einen Freund wie dich, weißt du?“ Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen. In ihren Augen lag der Schimmer von Hoffnung. Sie bat wortlos darum, diese Freundschaft vielleicht, irgendwie, wiederbeleben zu können. „Mein ganzes Leben lang habe ich jede Münze gespart, jede einzelne habe ich zusammengekratzt-“ „Wegen des Arms“, fiel Vhrengal ihr diesmal ins Wort. Er erinnerte sich noch gut daran. Der Arm war, was ihr die Normalität versperrt hatte. Der Grund, warum sie im Zirkus gelandet war. Sechs Finger und Zehen zu haben, konnte unpraktisch sein. Konnte aber auch praktisch sein. Die Glieder waren beweglich, hatten Gefühl in sich. Die unterschiedlichen Augenfarben waren nie ein Problem gewesen. Vielmehr schien es die Besucher des Zirkus zu faszinieren. Aber der Arm… der Arm war immer schwierig gewesen. Sie hatte sich irgendwann damit abgefunden, hatte sie früher immer erzählt. Vermutlich mehr, um sich selbst etwas einzureden. Denn sie hatte auch stets erzählt, wie sie sparte. Jede Münze. Wo und wie immer sie konnte. Denn irgendwann würde sie einen Heiler aufsuchen, sie würde ihn bitten, das nutzlose Ding zu entfernen und dann… dann könnte sie den Zirkus verlassen. Sich Arbeit suchen. Vielleicht eine Familie gründen. Ein normales Leben führen. Mit dem Beigeschmack schaler Bitterkeit sah sich Vhrengal einmal mehr um. Der opulente Raum  war überladen mit Schmuck, Prunk und Dekor. Nun… sie hatte einen Mann. Ein herzloses Monster, das Übles im Schilde führte, aber sie hatte einen Mann. War es das wert gewesen? Er verkniff sich die Frage zu äußern. „Irgendwann war es nicht mehr viel, das fehlte und wir lagerten in der Nähe eines reisenden Heilers. Sie… sie haben gesammelt, Vhrengal. Bibi, Hedewig, Allart, Mausi, alle. Den Erlös eines ganzen Abends haben sie mir geschenkt, damit… damit ich ihn aufsuchen kann. Ich war so voller Hoffnung, als ich zu ihm ging. Das Vermögen meines ganzen Lebens schleppte ich zu diesem Magier. Weißt du, was er gesagt hat?“ Vhrengal blickte Jenna an. Sie lächelte warm. Strahlte diese eigenwillige, fast schon ansteckende Lebendigkeit aus. Diese Energie, diese… Lust am Leben. Dennoch war da der dritte Arm an ihrer Seite. „Hat nicht geklappt“, erklärte er das Offensichtliche. Jennas Lächeln hingegen wurde ein wenig breiter – obwohl sie ihm mit einem Nicken zustimmte. „Er hat mich untersucht. Es dauerte Stunden und immer wieder ermahnte er mich, ich solle doch endlich stillhalten. Aber ich war so aufgeregt…! Am Ende sagte er mir, das Problem sei sehr… kompliziert. Er zählte die Münzen durch und erklärte mir, er bräuchte das Doppelte, um den Arm gefahrlos entfernen zu können. Ich… ich war fassungslos. Das Ersparte meines ganzen Lebens, plus die Sammlung meiner Freunde, des ganzen Zirkus – und er brauchte das Doppelte?! Ich glaubte erst, er wolle mich über den Tisch ziehen. Du weißt, wie ich sein kann, wenn ich glaube, jemand veräppelt mich.“ Grinsend nickte der Halbork. Oh er erinnerte sich da nur zu gut…! „Aber… dem war nicht so. Er rechnete es mir vor. Reisekosten, Materialbeschaffung, Durchführung. Er nahm so gut wie nichts ein. Was er mit dem Geld, das ich hatte, letztlich anstellen konnte, war etwas anderes. Er meinte, der Effekt sei nicht von Dauer. Er könne das Wachstum von Nerven und Gefäßen anregen. Ich… ich verstand damals nicht wirklich, wovon er sprach, gebe ich zu. Ich lächelte ziemlich bedrückt, vermute ich mal, und nickte artig. Über die Jahre, so erklärte er, würden diese aber wieder degerieren.“ „Degenerieren“, warf Willhelm plötzlich ein. Erst da wurde Vhrengal bewusst, wie still der Hausherr plötzlich geworden war, wie aufmerksam er Jennas Geschichte folgte. Suchte vielleicht auch er nach Schwachstellen? Um seine Kontrolle auszuweiten? Oder beobachtete er ihn, um seine Gedanken erahnen, sein geplantes Vorgehen vorhersehen zu können? „Genau. Danke“, richtete Jenna kurz an ihn, ehe sie sich wieder ihrem Gast zuwandte, „Die Nerven würden wieder kaputt gehen. Aber es gäbe mir einige Jahre, um… naja, um mehr Geld zu beschaffen. Ein dritter Arm könne dabei sicherlich praktisch sein, meinte er. Ich… ich wusste nicht ganz, was ich machen sollte. Mir war zum Heulen zumute. Also gab ich ihm das ganze verdammte Geld und… ließ ihn machen. Es wurde, nach und nach. Der Prozess war teilweise schmerzhaft, unangenehm.“ Etwas bemüht verzog Jenna das Gesicht, als sie plötzlich die Hände hob und winkte – mit allen dreien. Rasch jedoch wurde die Anstrengung sichtbar und sie ließ den dritten Arm wieder sinken. „Damit umgehen zu lernen war… schwierig. Es dauerte eine Weile und ich fürchte, diese paar Jahre neigen sich dem Ende. Es wird immer schwerer, ihn zu kontrollieren. Aber… aber eine Zeit lang war es richtig gut! Ich konnte bei den Jongleuren mitmachen! Ich war beim Feuertanz dabei! Die Leute haben gejubelt und die Bezahlung war so viel besser. Natürlich längst nicht genug, als das ich jemals ausreichend Geld zusammenbekommen hätte. Irgendwann waren wir dann wieder in der Nähe Samaras und… Willhelm kam zu Besuch.“ Fast hätte er einschreiten wollen, als sie ihre Hand über die des Hausherrn legte. Es war vermutlich nicht klug, dass sie ihn berührte. Vielleicht agierte seine Magie auf Basis von Kontakt? Falls Magie involviert war – aber Vorsicht schadete ja nicht. „Er war… aufgewühlt. Zornig. Er geriet in Streit mit ein paar Schaustellern, eine Prügelei brach los. Seine sogenannten Freunde flohen rasch. Ich fand ihn zusammengeschlagen im Gras hinter einem unserer Wägen und erkannte ihn zunächst nicht. Ich versorgte seine Wunden… aus Gewohnheit, schätze ich. Als er erwachte, war er schweigsam. Er hatte mich natürlich sofort erkannt. Willhelm hatte sich beim Sturz durch den letzten Faustschlag den Kopf am Wagenrad angeschlagen, und das recht kräftig. Wir kamen nach und nach ins Gespräch und ich erfuhr, dass sein Vater wenige Tage zuvor verstorben war – es gab also niemanden, der ihn abholen würde, niemand, der ihn zurück erwartete. Er blieb ein paar Tage in meiner Obhut, bis wir uns bereit machten, weiterzuziehen. Als der Tag gekommen war…“ Es war befremdlich, Röte in Jennas Wangen ziehen zu sehen. Wie war schlagfertig gewesen, gewitzt. Weil sie es hatte sein müssen. Weil sie hatte lernen müssen, mit dem Hohn und Spott umzugehen. Aber beschämt? Verlegen? Schüchtern? Das hatte sie nie nach außen getragen. „Er erklärte mir, dass er studiere. Sein Vater sei ein Medicus gewesen. Ein… ein Gelehrter der Medizin. In diesen Breiten kein sehr angesehener Fachstand, deshalb habe er viel Zeit mit Reisen verbracht, um Werke und Wissen aus aller Welt zusammenzutragen. Willhelm teilte die Faszination seines Vaters für die Vorgänge in unseren Körpern und für deren Aufbau. Mit seines Vaters Tod hatte er dessen Besitz und Vermögen geerbt, er… er bot mit an, bei ihm zu bleiben. Er bot mir an, nach einem Weg zu suchen, wie er mir helfen könne. Ich vermute, ich muss in den Tagen, die ich mich um ihn kümmerte und mit ihm sprach, dann und wann erwähnt haben, was mit dem Magier geschehen war. Willhelm meinte, dass Magie praktisch sei – für jene, die sie haben. Für alle anderen sei sie hauptsächlich teuer und beängstigend, mitunter völlig zu Recht. Ich… ich willigte ein. Viel Zeit zum Überlegen hatte ich ja nicht. Und der Zirkus zog ohne mich weiter. Ich gebe zu, am Anfang war es schwierig. Die Leute gafften und starrten. Es war wie damals in meinem Heimatdorf. All das, was mir damals einen Grund gab, überhaupt erst zum Zirkus zu gehen, kam hier wieder auf. Aber diesmal… hatte ich ihn. Ich war nicht mehr als ein fremdes Weib, das in einem Haus wohnte – und dennoch stellte er sich vor mich. Er schützte mich. Geld und Ansehen können Gerüchte und Geschnatter nicht verstummen lassen – aber sie können die Lautstärke derer beträchtlich drücken. Mit den Jahren wurde mehr daraus. Er trieb seine Studien voran und ich… ich empfand irgendwann mehr als nur Dankbarkeit für seine Mühen. Und vor zwei Wochen…“ Jenna hob ihre linke Hand und deutete auf ihren Ringfinger. Dem Namen gebührend, saß daran ein fein gearbeitetes Silberband. Vhrengal jedoch wusste damit nichts anzufangen. Einen Moment wankte Jennas Lächeln, ehe sie schmunzelnd den Kopf schüttelte. „Du bist so ein Banause, Fledderohr! Das ist ein Verlobungsring! Am Ringfinger der linken Hand trägt man den Verlobungsring und am Ringfinger der rechten Hand den Ehering. Er hat mir einen Antrag gemacht, er… er hat mir ein Eheversprechen gegeben!“ Die Tragweite dieses funkelnden kleinen Schmuckstücks wurde ihm erst nach und nach bewusst. Wie es schien… stand alles noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Es ging nicht um Magie. Vermutlich. Nur, weil Willhelm offiziell eine anti-magische Haltung vertrat, konnte er nicht dennoch ein Hexer oder Teufelspaktierer oder sowas sein? Oder magische Artefakte benutzen? Für den Moment wahrscheinlicher erschien ihm jedoch tatsächlich, das es alles übler war: Alchemie! Er hatte gehört, was Ninafer alles in ihren Regalen stehen hatte. Was sie zu mischen fähig war. Es war beängstigend. Wenn Willhelm nur einen Bruchteil dessen konnte, was man sich über Ninafer so erzählte… dann könnte er Jenna mühelos manipulieren. Sogar ohne ihr Wissen. Selbst ohne die Macht der Alchemie könnte er sie einfach um den Finger gewickelt haben. Vielleicht nicht unbedingt mit seinem unbestechlichen Charme – denn der existierte nicht -, aber Jenna war… ein gutes Mädchen. Sie hatte ein offenes, großes Herz, voller Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Dolche Dinge waren Schwachstellen, die jemand mit genug Geschick und Intelligenz auszunutzen wusste. Jemand mit genug Durchtriebenheit. Unweigerlich rutschte Vhrengals Blick zu Willhelm herüber. Der hatte inzwischen seine Nachspeise geleert und legte das Besteck bei Seite. „Das war vorzüglich“, wandte er sich an seine Verlobte, „Ich… fürchte, ich werde mich vorzeitig entschuldigen müssen. Ich habe noch… noch etwas zu erledigen. Ich sehe dich dann später?“ Bevor sie wirklich zu einer Widerrede ansetzen konnte, drückte er ihr einen Handkuss auf und erhob sich. Noch bevor er den Raum verlassen hatte, war eine Schar Bediensteter herbei und räumte das Geschirr ab – Vhrengal wusste nicht einmal zu sagen, woher die plötzlich gekommen waren. Jenna hingegen sah Willhelm seufzend nach, widmete sich dann jedoch wieder ihm und ihrem inzwischen nur noch lauwarmen Essen. „Wie ist es dir ergangen?“ Fünf Worte. Das genügte für den Moment völlig. Es brachte ihn ins Stocken. Wollte er Jenna wirklich erzählen, wie viele Dienstherren er als Sklave durchlaufen hatte? Dass er nochmals in einem Zirkus gelandet war, in dem es jedoch sehr viel unangenehmer zuging? Wollte er ihr, die für den Moment glücklich schien, wirklich seine finsteren Verdächtigungen präsentieren? Sie vor einer Gefahr warnen, die sie vermutlich gar nicht wahrhaben wollen würde? Wollte er ihr erzählen, was er im Moment tat? Und für wen er es tat? „Gut“, hörte er sich selbst erwidern, bevor er sich für irgendeine Antwort entschieden hatte. Er sah Jennas Braue dabei zu, wie sie höher und höher kletterte, der Löffel mitten in der Bewegung auf halber Strecke eingefroren, bis sie plötzlich herzhaft zu lachen begann. Gut?, rügte der Halbork sich selbst. Das war lächerlich. Es war dämlich. Er war kein Genie im Lügen, aber das war sogar für ihn eine miserable Leistung gewesen! Was hatte er sich dabei nur gedacht?! Nun… offensichtlich nichts, ja. Statt weiter nachzubohren, begnügte sie sich damit, kleine Anekdoten aus der alten Zeit mit ihm auszutauschen. Eine Weile lief das gut, aber in Vhrengal wuchs die Unruhe. Warum hatte sich Willhelm vorzeitig verabschiedet? Und vor allem: Wohin war er verschwunden? Was tat er, jetzt, in diesem Moment? Was, wenn er seinen Untergang vorbereitete? Oder Jennas Untergang? Oder ihrer aller Untergang? Er musste gestoppt werden. Nicht irgendwann. Nicht heute Nacht, nicht nach dem Essen. Jetzt. „Ich… bin gleich wieder da. Das Klo ist… wo?“, entschuldigte er sich und stand auf. Jenna beschrieb ihm den Weg, rief ihn jedoch beim Namen, als er die ersten Schritte trat. Abrupt hielt er inne und sah zu ihr zurück. „Fledderohr, du bist hier nicht in der Wildnis. Kein Bär wird sich anschleichen und dir ein Stück Bäckchen aus dem Allerwertesten beißen, während du unachtsam bist.“ Über die Rüge irritiert, starrte er sie lediglich an – bis sie seufzend den Blick senkte. Ihrem Beispiel folgend, starrte er schließlich auch auf den Zweihänder, den er mit sich genommen hatte. „Den wirst du auf dem Klo nicht brauchen. Und niemand wird ihn dir stehlen. Versprochen.“ Aber natürlich. Seine Ausrede war lausig gewesen. Schon wieder. Nur was sonst hätte er vorbringen sollen, um sich sofort zu entfernen und seine Waffe behalten zu können? Seine Waffe? Vhrengal wurde sich des nicht unerheblichen Gewichtes bewusst, einmal mehr, das er tagtäglich mit sich trug. Lächelnd und eine Entschuldigung nuschelnd legte er den Zweihänder wieder auf den Stuhl und folgte zunächst der Wegbeschreibung – denn noch immer hatte er diverse Dolche dabei, zwei Wurfäxte am Gürtel hängen und steckte in seiner neuen Rüstung. Auch im waffenlosen Nahkampf war er noch immer recht gut, falls es darauf ankam. Und sollte Willhelm wirklich mit Alchemie arbeiten… dann war ‚Luft anhalten‘ vermutlich sowieso seine beste Taktik. Magie dagegen… Magie war immer problematisch. Magie war billig. Schummeln. Magie machte einen Kampf unfair. Deshalb bedienten sich so viele so gern ihrer. Warum sollte man fair kämpfen und Ehre beweisen, wenn man stattdessen einfach gewinnen könnte? Denn wie sagte der Volksmund so schön: Sieger schrieben die Geschichte.   Es dauerte einen Moment, aber er fand, was er suchte. Irre Magier waren so berechenbar. Genau wie irre Alchemisten oder gewöhnliche Irre. Wenn es nicht der Dachboden war – und das Haus hatte von außen nicht gewirkt, als gäbe es einen angemessen gruseligen Dachboden -, dann waren es die Keller. Es hatte tatsächlich mehrere Türen gegeben, die zu Treppengängen nach unten führten. Aber nur eine dieser Türen war mit drei Schlössern gesichert und abgesperrt. Vhrengal betrachtete die Tür sehr eindringlich. Sie wirkte gut gezimmert. hübsch verziert, wie alles im Haus. Vermutlich bestand sie aus edlem Holz. War mehr wert als er in seinem ganzen Leben je an Geld gesehen hatte. Aber was interessierte ihn das Holz oder die Verzierungen?! Wie kam er hindurch – das war die Frage! Hätte er bei Alistair nur besser aufgepasst. Aber dieses enervierende kleine Plappermaul teilte seine Kenntnisse und Tricks nur ungern. Er quasselte viel. Sehr viel. Ununterbrochen, teilweise. Und die Hälfte davon war nutzloser Blödsinn. Und wann immer es um Demonstrationen ging, stand, hockte, kniete, saß oder lag er meist zufällig so, das ein oder zwei nicht ganz unerhebliche Details verdeckt blieben. Er gab genug Wissen weiter, dass man die Grundlagen erlernen könnte, aber nie genug, dass man ihm tatsächlich Konkurrenz machen könnte. Eigentlich gar nicht blöd… Nun, Alistair hatte er nicht dabei und die Schlösser sahen nicht nur ziemlich solide aus, sondern auch sehr kompliziert. Also versuchte Vhrengal es mit einer Taktik, die ihm sehr viel eher lag. Eine, die Thorin mal empfohlen hatte. Wann immer ihr mal keinen selbsternannten Meisterdieb parat habt und es schnell gehen muss. Er holte kräftig Schwung und ließ den mit Einlagen beschwerten Stiefel wuchtig gegen die Tür hämmern. Die ersten zwei Schlösser sprangen aus der Fassung, Metall verzog sich. Unter dem zweiten Tritt sprang die Tür auf, kleine Holzteile barsten aus Tür und Rahmen, eine Schraube flog einen halben Meter weit und landete fast geräuschlos auf dem Teppich. Das… würde nicht lange unbemerkt bleiben, das war dem Halbork natürlich völlig klar. Eilig trat er die beleuchteten Stufen herab in einen isolierten Kellerraum. Ein Vorraum, so schien ihm. Kisten standen herum und Fässer, Regale voller Schübe. Es roch nach Chemikalien, ganz wie in Ninafers Arbeitsstube. Wie er es befürchtet hatte! Er riss die Tür zum nächsten Raum auf, auf das Schlimmste vorbereitet, die zwei Wurfäxte in den Händen und bereit, jede Monstrosität zu bekämpfen, vor geworfenen Bomben wegzurollen oder in den Kampf mit Willhelm zu springen. Nur gab es davon nichts. Gar nichts. Keine Monster. Auch keine Bomben, Nebel oder kampfbereite Feinde. Stattdessen schrak Willhelm zusammen und ließ fluchend ein dünnes Glasröhrchen fallen. Es zerschellte am Boden – kein Säuredampf stieg auf, kein merkwürdiger Nebel, einfach nur eine Flüssigkeit zwischen Glasscherben. Der Hausbesitzer hingegen wirbelte herum und fixierte ihn erbost, währen Vhrengal sich im Raum umsah. Viele Tische. Viele Regale, Schränke, Schübe. Noch mehr Fässer und Kisten. Der chemische Geruch war durchdringend. Überall Glaskolben. Röhrchen. Seltsame Apparaturen. Ein Tisch mit eingetrockneten Blutresten. Ein Tischmopp im Eimer in einer Raumecke. Er war eindeutig in das Laboratorium eines Wahnsinnigen gestolpert! Was mochte dieses kranke Schwein hier unten wohl treiben? Wollte er wirklich wissen, wessen Blut da am Tisch klebte? Oder von wie vielen Opfern sich hier noch Blutspuren finden lassen würden? „Bist du völlig verrückt geworden?“, fauchte Willhelm ihn an, „Du kannst doch nicht einfach hier einbrechen! Sieh nur, was du getan hast, du nutzlose Missgeburt!“ Zornig fluchend und Verwünschungen speiend… ging der Hausherr nicht etwa auf ihn los, sondern suchte Tücher zusammen, um den gefliesten Boden von Scherben und Flüssigkeitsresten zu befreien. „Deinetwegen muss ich jetzt von vorne anfangen, das wirf mich um zwei Wochen zurück!“ Noch immer kampfbereit in der aufgerissenen Tür stehend, begriff Vhrengal nicht recht, was hier vor sich ging. Sollte… Willhelm ihn jetzt nicht eigentlich angreifen? „Huch…? Was ist denn hier passiert?!“, hörte er obendrein Jennas Stimme von oben und, rasch darauf, ihre Schritte auf der Treppe. Seine Entschlossenheit zusammenkratzend, trat er in den Raum und etwas zur Seite, damit auch sie Einlass in dieses geheime Laboratorium finden würde. „Deine Tage sind gezählt“, zischte er Willhelm zu, „Du wirst ihr nichts antun.“ „Antun? Was… wovon sprichst du über-“ „Nanu?“, erklang da schon Jennas Stimme in der Tür. Verwundert trat sie ein und wandte sich an Vhrengal, „Was machst du in Willhelms Arbeitszimmer?“ „Ich fand sein Versteck und-… Arbeitszimmer?“ Irritiert starrte er Jenna an. Nein. Nein, das… das durfte nicht sein. Wusste sie hiervon? Hatte er sich verschätzt? Alles falsch eingeschätzt? Götter, steht mir bei…! Hatte er sich von seiner Nostalgie blenden lassen, von der alten Freundschaft, an die er sich zu erinnern glaubte? War sie beteiligt an diesem Treiben? Etwas blasser werdend, rückte der Halbork von seiner vermeintlichen Freundin ab, die Waffen wieder ein wenig hebend. Jenna hingegen hob ihrerseits beschwichtigend die Hände. „Vhrengal, leg die Äxte weg, bitte.“ „Nein… nein, das… das darf nicht sein… du… ihr macht das gemeinsam… ihr steckt da beide drin…!“, krächzte der Krieger ungläubig. Seine Stimme schien ihm den Dienst zu versagen, während ihm der Kummer die Kehle zuschnürte. Wie hatte er sich so irren können? Wie hatte er diesem Unsinn aufsitzen können? War es nicht offensichtlich gewesen? Die Kleider, das Benehmen, einfach alles? Was, wenn man ihn hierher gelockt hatte? Was, wenn nichts davon wirklich Zufall gewesen war? „Vhrengal, ich kann dir alles erklären, aber bitte leg die Äxte weg!“ „Nein!“, brüllte er zurück, die Waffen drohend erhoben. Sein Blick verschwamm leicht. Er… er konnte doch nicht einfach Jenna erschlagen. Willhelm, sicherlich. Problemlos und ohne mit der Wimper zu zucken. Aber nicht sie. Gute Götter, doch nicht sie! „Vhrengal Fledderohr, du wirst sofort die Äxte weglegen!“, fuhr Jenna ihn sichtlich erbost an. Der Krieger zuckte zusammen, als sei er einmal mehr geschlagen worden. Und war dem nicht auch so? Er war geschlagen. Sprichwörtlich. Der Feind hatte gewonnen. Er hatte ihm einen Gegner entgegen geschleudert, den er nicht bezwingen konnte – einfach nur, weil er es nicht wollte. Entmutigt ließ er die Äxte sinken. Jenna trat näher an ihn heran und Vhrengal… fügte sich dem Unausweichlichen. Zunächst nahm sie ihm nur die Waffen ab, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Schlimmeres folgen würde. „Du… du hast mein Mitgefühl, Fledderohr“, erklärte sie leise. Er wagte nicht aufzusehen. Hörte nur, wie Willhelm näher kam. Zu Jenna trat. „Sieh mich an, Vhrengal. Bitte.“ Nur langsam hob er den Blick. Es machte ihn fast krank, was er sah. Der Arm dieses Scheusals lag um ihre Schultern. Sie lehnte leicht gegen ihn… und lächelte dabei. Tief seufzend setzte sie neu an. „Das hier ist Willhelms Arbeitszimmer. Ich sagte dir doch: Er interessiert sich für Medizin. Er forscht hier unten. Viele der Mittel, die er benutzt, sind giftig. wir haben eine Schar Hunde, ein paar Katzen und irgendwann sicherlich auch Kinder. Niemand sollte aus Versehen Schaden nehmen. Deshalb ist die Tür immer zu und abgeschlossen.“ Es war dieser Moment, an dem sich auch Willhelm einmischte. „Ich versprach Jenna, das ich ihr einen Antrag mache, sobald ich einen Weg gefunden habe, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. Vor einigen Wochen gelang mir der Durchbruch. Ich habe jetzt eine Formel, mit der ich eine Lösung herstellen kann, die mir ermöglichen wird, ihren dritten Arm gefahrlos zu amputieren. Die Lösung hätte nur noch vier Tage ruhen müssen…“ Zorn mischte sich letztlich wieder in Willhelms Stimme, als er zu seinen Apparaturen zurück blickte, „Sie wäre zu ihrem Geburtstag fertig gewesen. Jetzt muss ich von vorne anfangen!“ Jenna legte ihre Hand auf die Seine. „Schhht. Schon gut. Ein paar Tage Warten bringt mich nach all den Jahren nicht um. Er meinte es gut, da bin ich mir sicher.“ Wieder blickte sie zu ihrem Jugendfreund. „Das ist, wovon ich schon immer geträumt habe, Vhrengal. Die Chance auf ein normales Leben. Du siehst in ihm den Jungen, der Steine nach dir warf. Vielleicht siehst du sogar all jene in ihm, die Steine nach dir warfen. Aber er war damals jung. Er machte Fehler. Und er wurde klüger, als er aufwuchs. So wie wir alle. Was… was ich sagte, meine ich auch so. Du hast mein Mitgefühl, Vhrengal. Weißt du noch, wie es war? Damals im Zirkus? Wir wachten auf und fragten uns, was es wohl zum Abendessen geben würde. Wir fegten die Käfige, räumten den Mist weg. Stickten Kleider, wuschen Tiere, reparierten die Wägen. Erinnerst du dich noch, wie es ist, ein alltägliches Leben zu führen? Wie es ist, dir diese Fragen zu stellen? Was es zum Abendessen wohl geben wird? Und wann man am besten welchen Käfig fegt?“ „Ich habe nicht gescherzt“, mischte sich Willhelm erneut ein, „Es ist ein schönes Schwert. Und eine schöne Rüstung. Ich erkenne Qualität, wenn ich sie sehe. Und ich will nicht, dass du Teil unseres Lebens wirst. Oder wieder Teil von Jennas Leben wirst, wenn ich offen bin. Entweder stehst du in Diensten von jemandem, der dich in bestmöglicher Ausrüstung braucht, oder du bist für Leute unterwegs, die dir ein kleines Vermögen für deine Dienste zahlen. Beides bringt eine Art von Chaos mit sich, die ich nicht in unserem Leben haben will. Du würdest sie nur in Gefahr bringen, über kurz oder lang. Ob du das willst oder nicht. Leute wie du haben Feinde und diese Feinde sind immer auf der Suche nach Schwachstellen, die man ausnutzen kann.“ Als hätte Willhelm sich gar nicht eingemischt, fuhr Jenna direkt darauf fort. „Welche Fragen, muss ich mich wundern, stellst du dir dieser Tage, Fledderohr? Welches Monster du heute erschlagen gehst? Wie viele Räuber und Banditen sich dir diesmal in den Weg stellen werden? Wie viele Wachen du morgen bekämpfen wirst? Erinnerst du dich überhaupt noch daran, wie viele Tote du zurückgelassen hast? Wie viele Leben du beendet hast? An ihre Gesichter? Kanntest du überhaupt ihre Namen? Beschäftigt dich, ob sie Familie hatten? Ob daheim nun Frauen um ihre Männer trauern? Oder dumme, zornige Söhne Rache schwören? Ob du einer alten Mutter das Herz brichst? Erinnerst du dich an den Zirkus, als wir im Gras lagen, zu den Wolken aufsahen und überlegt haben, was wir später einmal werden wollen? Wie wir uns unsere Zukunft ausgemalt haben? Ich… ich wünsche dir von ganzem Herzen, das du findest, was du suchst. Ebenso, wie ich mir selbst von ganzem Herzen wünsche… das es kein Weg voller Tod, Blut und Gewalt ist. Wer sich mit Toten umgibt, hat mein Vater immer gesagt-“ „-wird sich ihnen schneller anschließen als alle anderen“, beendete Vhrengal mit belegter Stimme. Er kannte die Weisheit. Früher, im Zirkus, hatte Jenna nur selten Notwendigkeit gehabt, sie zu zitieren. Meist, wenn einer der Schausteller auf die glorreiche Idee kam, als Abenteurer auszuziehen, immerhin hatte er seine Ersparnisse erfolgreich für ein schartiges Schwert ausgeben können. Es war… schmerzhaft. Mehr als er in Worte zu fassen wusste. War dies, was es hieß, sich mit seiner Vergangenheit zu befassen? War dies der Moment, die ihm dargebotene Chance, um damit Frieden zu schließen? Falls dem so war: Wie, bei allen Göttern und Geistern, konnte Tokhtora mit diesen Schmerzen leben…?   Als Vhrengal wenig später das Anwesen verließ, trugen seine Schritte ihn beinahe mechanisch nordwärts, tiefer in den Stadtkern Samaras hinein. Er fühlte sich seltsam betäubt. Eine nagende Leere schien ihn in rasantem Tempo auszuhöhlen. Mit sich trug er ein neues Schwert. Aber es hatte deutlich an Glanz verloren. Und die neue Rüstung wog seltsam schwer auf seinen Schultern.   Welche Fragen, muss ich mich wundern, stellst du dir dieser Tage, Fledderohr? Welches Monster du heute erschlagen gehst? Wie viele Räuber und Banditen sich dir diesmal in den Weg stellen werden? Wie viele Wachen du morgen bekämpfen wirst? Erinnerst du dich überhaupt noch daran, wie viele Tote du zurückgelassen hast? Wie viele Leben du beendet hast? An ihre Gesichter? Kanntest du überhaupt ihre Namen? Beschäftigt dich, ob sie Familie hatten? Ob daheim nun Frauen um ihre Männer trauern? 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