Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 43: Wahre Helden ------------------------ Dumpf und schwer landete ein bis zum Bersten gefüllter Lederbeutel auf der abgewetzten Tischplatte. Das Klimpern und Klirren darin ließ jenen Mann mittleren Alters, der daran bereits saß, den Kopf heben. Eine schulterlange blonde Mähne hing ihm ins Gesicht und wurde mit einem gezielten Luftstoß zur Seite befördert. Kaum, das seine Lippen sich wieder entspannten, formte sich ein Lächeln darauf. Das hübsche, markante Gesicht verlor einen Moment jede Arroganz, die sonst so beharrlich darin zu liegen schien. „Na bei so einer Begrüßung, wie sollte ich da nein sagen“, erklärte er noch immer lächelnd und bot dem Werfer des Beutels den freien Stuhl am Tisch an. Ein eindrucksvoller Hüne, der sich zu ihm setzte. Die Lederrüstung am Oberkörper schien schon weitaus bessere Zeiten gesehen zu haben, schartig, abgewetzt, schon unzählige Male ausgebessert. Wie alt mochte das Ding wohl sein? Jahrzehnte? Saeven von Askir war kein Dummkopf. Ein wenig eingebildet vielleicht, aber selbst das konnte man gut vernachlässigen – als Mitglied des Niederadels von Anadyr war er noch sehr viel gemäßigter als all die anderen. Doch diesem muskelbepackten Kahlkopf, dem hätte er ungern in dunklen Gassen begegnen wollen. Zumindest nicht als Feind – alles andere war in Ordnung. Und, so wusste er aus Erfahrung, überaus vergnüglich. Auch wenn er danach meist ein paar Tage nicht mehr völlig schmerzfrei laufen oder sitzen konnte. „Dann erzähl mal“, hob der eindeutig wohlhabendere der Beiden an und zog das prall gefüllte Säckchen zu sich herüber. Derweil wurde seinem Begleiter ein überaus reichhaltiges Abendmahl aufgetischt. Man konnte über anadyrer Küche sagen, was man wollte. Beispielsweise, das sie einfallslos war – ständig und überall gab es Fisch. Tonnen von Fisch. Aber dafür trieben sie das Wenige, von dem sie etwas verstanden, zur Spitze und Meisterschaft. Kein Schiff war so schnell, wendig oder gefährlich wie jedes Einzelne der Piratenflotte Anadyrs. Kein Fischer würde jemals so geachtet sein, wie er es in diesen Landen war. Und der Fisch, der letztlich auf dem Tisch und im Magen der Gäste landete, würde nirgendwo anders so schmecken wie hier. Die Köche behaupteten gerne, es läge an der deutlich salzhaltigeren Luft. Anadyr war ein Inselstaat und diese Inseln waren recht klein. Dicht bevölkert, aber klein. Man hatte es, egal an welcher Stelle auf welcher Insel, nie sonderlich weit bis zur nächsten Küste. Ein paar Tagesreisen, höchstens. Mit einem Schmunzeln verfolgte er, wie der Kahlkopf ihm gegenüber die Kartoffeln in sich hinein schlang, das Gemüse, die in einer fettigen, schweren und öligen Soße ertränkten Teile des Fisches. Ausgehungert war er also. Dann hatte er sich beeilt? Er hatte ein paar Tage hier warten müssen, was nicht unbedingt zu seiner guten Laune beigetragen hatte. Vielleicht lernte dieser Dickschädel ja endlich einmal etwas daraus. Er hätte helfen können. Egal, worum es gegangen war. Den Gedanken verwarf er jedoch auch zügig wieder. Thorin Eichenschild war niemand, der lernte. Nun gut, vielleicht tat er das doch – aber um so viel langsamer und widerwilliger als alle anderen Menschen, denen Saeven je begegnet war. Unter einem kurzen Seufzen, welches nicht einmal die Aufmerksamkeit seines Tischgefährten fand, ließ er das Thema gedanklich fallen und löste stattdessen die Schnürung am Beutel. In rekordverdächtiger Zeit hatte der Kahlkopf sein Essen herabgeschlungen – und jetzt, da Saeven einen Blick in den Beutel riskierte, glaubte er auch zu wissen, warum. „Aufs Zimmer, sofort!“, verlangte der Adlige und schnürte den Lederbeutel rasch wieder zu. Er blickte sich um, als hätte er gerade den Kopf eines Königs darin gefunden, säuberlich abgetrennt und noch frisch genug, dass man den Täter durch die ganze Weltgeschichte verfolgen würde. Natürlich war das nicht der Fall, dafür war der Beutel allein zu klein. Aber so viel besser als jenes Horrorszenario war die tatsächliche Begebenheit auch nicht. Und ganz wie erwartet, nickte Thorin nur, während er die letzten Brocken in seinen Mund stopfte, das Tuch neben den nunmehr leeren Teller legte und sich erhob. Kauen und Schlucken konnte er genauso gut noch, wenn er auf dem Weg nach oben war. Eine Ansicht, die beide teilten. Die Stufen hinauf sah sich Saeven immer wieder um. Ihm war einfach nicht wohl dabei. Und dieses Säckchen zu tragen… es wog plötzlich so viel mehr, schien ihm. Sie hatten die Tür ihres gemeinsamen Zimmers gerade hinter sich geschlossen, als Sierra die Illusion fallen ließ. Zum Vorschein kam eben jener kleine, zierliche Tiefling mit durchaus ansehnlichen Rundungen, mit dem Thorin schon seit Monaten reiste. Unter dem kinnlangen, braunblonden Haar lugten spitze Ohren hervor, ihrer Stirn entsprangen eindrucksvolle Hörner und die gelblichen Katzenaugen bargen, im Moment, einen ungnädig-zornigen Funken. „Was soll die Scheiße!?“, fuhr sie Thorin an und warf ihm den Ledersack entgegen. Obwohl dieser ihn schwer vor der Brust traf, fing der Hüne den Beutel doch auf, als habe er genau das von ihr erwartet. „Du sagst, wir brauchen Geld. Also hole ich mehr Geld“, erwiderte der Krieger mit einem Schulterzucken. Sierra fuhr sich unter einem gepressten, still gehaltenen Aufschrei mit den Fingern durch die Haare und zog einen Moment daran, ehe sie sich etwas beruhigte. „Wie viel ist das?“, verlangte sie zu erfahren. Der ganze Sack war voll mit- „Fünfzig Gulden.“ Fünfzig. Das war schlecht. Das war ganz fürchterlich schlecht. „Und wo kommen die bitte her? Hast du irgendwen überfallen? Müssen wir schon wieder wegrennen? Thorin, ich will hier noch nicht weg. Ich mag Anadyr. Es ist nett hier. In manchen Städten kann ich sogar ohne die ständigen Illusionen herumlaufen und niemand würdigt mich auch nur eines Blickes.“ Sie hatte selbst nicht bemerkt, wie ihre Stimme sich verändert hatte. Wie sie ihre Wut verlor und beinahe flehentlich klang. Es war so selten, dass sie sie selbst sein konnte. Aber Thorin… nun. Gab man dem Sturkopf genug Zeit, so schienen entweder Schicksal und Welt als Ganzes sich zu verschwören, um ihn in undenkbare Situationen zu bringen, oder der Dickschädel fand selbst Wege, sich in Ärger zu suhlen. Fünfzig Gulden bekam man nicht, weil man jemandem half, die Türscharniere zu ölen. Oder einen Stuhl zu reparieren. Oder ein Schwert zu schleifen. Gehofft hatte sie auf eine Gulde und einige Silber. Das hätte sie wieder ein paar Tage über die Runden gebracht. Aber nein, dieser verflixte Holzkopf musste ja ständig übertreiben! Sie hatte genau gewusst, dass es ein Fehler war, ihn allein gehen zu lassen. Sie hatte es gewusst und trotzdem zugelassen. Warum um alles in der Welt hatte sie ihn allein gehen lassen…? Schon wieder. Die Antwort war natürlich so simpel wie unerwünscht. So sehr sie den Ärger zu vermeiden versuchte, den sie unweigerlich ständig bekam, wenn sie mit ihm reiste, so wenig konnte sie sich dessen Charme entziehen. Nicht einmal unbedingt Thorins Charme, obwohl der raue Klotz solchen unzweifelhaft besaß – auch, wenn man dafür wohl einen spezielleren Geschmack brauchte… und mitunter viel Geduld, ihn unter all den Schichten aus Abwehrhaltungen, Vortäuschung und schlechten, dreckigen Witzen erst einmal zu entdecken und freizugraben. Nein, sie schätzte den Charme, den ein Leben wie das Seine ausübte. Vollkommene Freiheit. Völlig ungebunden sein. Und vielleicht wichtiger noch – sie lernte von ihm. Ein jedes Mal, wenn irgendetwas schief ging… also quasi ständig… lernte sie von ihm etwas über Kampfmanöver, über Taktiken und Strategien, über gute Planung und über die Grenzen dieser Planung, über Improvisation. Die Wahrheit war schrecklich simpel und ebenso unangenehm. All der Ärger war spannend. Mit Thorin reisen war der pure Nervenkitzel – sah man von den Tagen ab, an denen man von ihm in irgendeinem Gasthaus sitzen gelassen wurde, damit er losziehen und alleine Unheil stiften konnte. Sie hatte sich als fähig erwiesen, sich als lernwillig bewiesen. Und das hatte dafür gesorgt, dass er sie unterrichtete, ihr Dinge erklärte und sie häufig mitnahm. Das war aber eben auch das Problem. Häufig. Das hieß nicht ‚immer‘. Der Kahlkopf indes nahm seelenruhig auf seinem Bett Platz und schüttelte lächelnd den Kopf. „Kein Grund zur Sorge“, erklärte er und klopfte auf die freie Fläche neben sich. Als wäre es nur so einfach! Dennoch trat sie heran und ließ sich neben ihn sinken, wissend, dass sie sonst nie ihre Antwort bekommen würde. „Ich habe etwas verkauft“, erklärte er unter einem belustigten Schnauben, „Als Glücksbringer. Das ist das Schöne an streng eumenesgläubigem Seevolk. Wenn man ihnen etwas mit den Worten anbietet, es würde ihnen die Gunst ihrer Göttin sichern, sind sie gerne bereit, eine gute Stange Geld zu löhnen… und noch etwas oben drauf.“ Sierra grinste. Man traute es Thorin auf den ersten Blick nicht zu. Er war roh und rau und schien keinerlei Manieren zu besitzen, eben der klassische Muskelberg ohne Hirn, der allzeit überall gern als Grundstückspatrouille oder Leibwache angeheuert wurde. Doch dieser Mann steckte voller Überraschungen. Er war sehr viel klüger als alle Welt ihm zugestand, gerissener, als einem lieb sein konnte und besaß ein nützliches, wenn auch überschaubares schauspielerisches Können. Nur das falsche Lächeln, an dem würde er wirklich noch arbeiten müssen… Einfach nur gruselig. Ihren Gedanken nachhängend, vermochte sie seine ihren Rücken herabstreichenden Fingerspitzen eine Weile zu ignorieren, zumindest bis zu dem Punkt, als selbige ihren Steiß erreichten und über die Basis ihres Greifschwanzes strichen. Ein geradezu elektrisierendes Schaudern zog durch ihren Leib, ihre Nackenhaare stellten sich leicht auf, eine Gänsehaut formte sich auf ihren Unterarmen. Sie neigte den Kopf, sah zu ihm herüber. Ein spielerisches Lächeln lag auf den sonst so stoisch-ausdruckslosen Lippen. „Du bist furchtbar“, ließ sie ihn wissen, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Allerdings“, gab er nur zurück. Er beugte sich vor, setzte einen leichten, kaum spürbaren Kuss in ihre Halsbeuge. Das genüssliche Seufzen konnte sie noch unterdrücken – das sie die Augen schloss, nicht. „Ich sollte eigentlich einfach gehen. Als Strafe, weil du mich hast sitzen lassen. Schon wieder.“ „Solltest du“, stimmte er ihr auch noch dreist zu! Sie war kurz davor, ihm gegen die Schulter zu boxen, vielleicht sogar tatsächlich provokativ aufzustehen und ein oder zwei Schritte in Richtung Tür zu setzen, als seine andere Hand über ihre Wange heraufstrich… zu ihren Hörnern. Erneut zuckte Elektrizität durch ihren Leib und zündete ein Feuer in ihrem Unterleib. Dieser verdammte Bastard, das war einfach nicht fair! „… einfach nicht fair…“, murmelte sie völlig unbewusst, während Thorin sie langsam zurück auf die Bettdecke drückte. Gute Güte, morgen würde sie wieder dann und wann ein wenig Grund zum Jammern haben. Nicht, das es das nicht wert wäre. Doch immerhin, mit verflixten fünfzig Gulden würden sie noch einige Tage ausharren können, ehe sich die Notwendigkeit zur Weiterreise ergab oder sie sich schlicht zu langweilen begannen.   Den Sex mit Thorin hatte sie in vollen Zügen genießen können. Spät in der Nacht waren sie beide erst eingeschlafen, ein Bett ungenutzt, fein säuberlich vorbereitet für die schlafwillige Kundschaft des Hauses, das andere völlig zerwühlt. Es barg zwei verschwitzte Leiber, die sich weniger aneinander drängten, als sie vielmehr einander genossen. Obwohl der Hüne sich völlig verausgabt hatte – etwas, das Sierras Erfahrung nach überaus schwierig zu bewerkstelligen war, hielt ihre eigene Kondition doch nur selten dem stand -, strichen seine Fingerspitzen noch immer über ihre Seite. Ihr Schulterblatt herab, über ihre Flanke, ihre Hüfte, ihren Oberschenkel und in einer fast nicht zu spürenden Regung wieder die Fährte herauf. Irgendwie war sie sehr viel schläfriger als er und es dauerte nur ein paar Minuten unter dieser Behandlung, bis sie auch tatsächlich völlig zur Ruhe kam und ihr Geist in andere Gefilde entglitt. Ihre Träume dagegen waren weniger gnädig mit ihr. Sie sah Thorin einen Adligen in dessen Kutsche überfallen, wie er ihn um Geld erpresste. Sie flohen Seite an Seite, lachend – bis ein Bolzenhagel eines Hinterhaltes sie beide in Stücke riss. Sie sah Thorin einen Zwerg mit irgendeiner absurden Familiengeschichte erpressen. Alles schien gut, bis plötzlich eine belagerungsbereite zwergische Armee vor den Toren des kleinen Städtchens stand, in dem sie sich verkrochen hatten. Geschrei, Blut und Tod folgten in der Nacht darauf, sie verloren einander aus den Augen und ihre Chancen, den nächsten Morgen zu erleben, schwanden mit jeder Sekunde. Sie sah Thorin ein stattliches Sümmchen dafür annehmen, dass er einer Adligen demonstrierte, wie viel Ausdauer er besaß – auf die gleiche Weise, wie es ihr erst wenige Minuten zuvor demonstriert worden war. Alles lief gut, bis ihr Vater Zeuge dessen wurde und ihnen die geballte Macht der Armee auf den Hals hetzte. Mit allen Häfen dicht und dem Hass eines jeden Einwohners auf ihren Schultern, was blieb ihnen groß, als zu kämpfen? Selbst wenn es aussichtslos war…   Etwas unwohl rutschte Saeven von Askir auf seinem Stuhl herum. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an und auch so ziemlich jede andere Körperöffnung, ob sichtbar oder nicht, schmerzte auf irgendeine Art und Weise, so schien ihm. Doch das war nicht, was sein Unbehagen wirklich ausgelöst hatte. Das war nicht, weshalb er gedankenverloren in seinem Frühstück herumstocherte, es von einer Seite zur anderen schob, ohne wirklich etwas davon in den Mund zu nehmen… obwohl sein Magen durchaus hörbar danach verlangte. Das war nicht, weshalb der überaus schmackhafte Saft noch immer unangetastet in seinem Becher ruhte. „Gut, ich beiß an“, klang es von der anderen Tischseite. Thorin setzte die Ellbogen auf die Tischplatte, verschränkte die Hände ineinander und bettete das Kinn darauf. „Was ist los?“ „Thorin, wie hast du das Geld bekommen?“, hakte sie nach kurzem Zögern nach und hob erstmals den Blick von ihrem inzwischen fein säuberlich nach Form und Farbe sortiertem Essen. Sein Seufzen verriet ihr einiges. Dass er darüber nicht unbedingt reden wollte, aber ebenso erwartet hatte, dass das Thema auftauchen würde. Was ihr Sorgen bereitete war der Umstand, dass er sein Besteck bei Seite legte. Das tat er immer nur dann, wenn es wichtig wurde. Ernst wurde. Andernfalls würde er sich niemals in einer Mahlzeit stören lassen, er würde notfalls mit der Zunge den übergroßen Klumpen Fleisch in eine Backe schieben, was völlig lächerlich aussähe, und drumherum erzählen oder zumindest Laute von sich geben, die man mit viel Erfahrung und Übung als Satzfetzen deuten konnte. Vielleicht war es gar nicht so verkehrt gewesen, sich Sorgen zu machen. „Ich sagte doch: Ich habe etwas verkauft“, erklärte er abermals. Sie nickte verstehend… schüttelte dann aber den Kopf. „Das weiß ich. Und ich bezweifle es ja auch nicht. Aber es lässt mir einfach keine Ruhe, verstehst du? Das sind fünfzig Gulden, Thorin. Sowas fällt nicht vom Himmel. Was hast du verkauft, das so viel Geld wert war?“ Das war die eine Frage, um die es ihr tatsächlich ging. Sie sah ihm direkt in die Augen und ließ ihn wortlos genau das wissen. Sie wollte eine Antwort darauf. Sie brauchte eine Antwort darauf. Er schien einen Moment mit sich zu hadern, ehe er die Stimme hob. „Es war ein Ei, in Ordnung?“ Natürlich war es das nicht, entsprechend seufzte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Als er die Hände über dem Bauch faltete, entspannte sich Sierra ein wenig. Diese Haltung hieß in der Regel, dass er gleich irgendetwas Längeres erzählen würde. Keine seiner übertriebenen Geschichten, hoffte sie inständig – aber etwas Längeres. Vielleicht bekam sie jetzt endlich die Erklärungen, die sie so dringend suchte, dass sie Alpträume von den Möglichkeiten bekam. „Vor einigen Tagen kamen wir an diesem Küstenstreifen vorbei, weißt du noch? Mit der Bucht?“ Sie lächelte. Ja, sie erinnerte sich gut daran. Ein reichlich steiler und schwierig zu erkletternder Pfad führte von der sonst unüberwindbaren Steilküste zu einer kleinen Bucht hinunter. Abgeschirmt vom Rest der Welt, so schien es. Sie hatten die Aussicht genossen, das Meer… und die Gesellschaft. „Mir ist dort eine der kleinen Inseln aufgefallen, die nördlicher lag. Viele umgeknickte Bäume. Als wir weiter die Küste entlang nach Norden zogen, behielt ich sie ein wenig im Auge. Es gab Spuren am Strand, die man aus der großen Entfernung sehen konnte, Wühlmuster und einen Bewegungskanal von etwas Großem.“ Das Lächeln gefror rasch und starb ebenso zügig ab. Das wiederum klang weit weniger angenehm. Nein, die Richtung, in die das ging, wollte ihr so gar nicht behagen. „Ich habe ein Boot geliehen, bin rüber gefahren und habe mich umgesehen. Ich fand ein ziemlich großes Nest mit einem halben Dutzend Eier. Selbst wenn das, was immer das Nest schuf und die Eier legte, sich für selbige noch interessieren sollte – und viele eierlegende Tiere lassen ihren Nachwuchs schlicht in Ruhe selbst ihren Weg finden -, hat es keine Möglichkeit, es zu uns zu verfolgen. Also kannst du die tiefbesorgte Miene jetzt ablegen.“ Saeven dachte nach. Er dachte lange und gründlich über das nach, was sein – offizieller – Leibwächter ihm da gerade gesagt hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich fühle mich damit nicht wohl, Thorin“, erklärte er ruhig und ernst, „Ich weiß, wie du das siehst. Es sind nur Tiere. Es gibt Räuber. Schwund ist immer. Ein Tier mehr oder weniger, das spielt keine Rolle. Wem hast du das Ei verkauft?“ Er hob natürlich fast augenblicklich an, um ihr weitere Fragen ausreden zu wollen. Er musste nicht einmal ein Wort sagen, sie sah diese Absicht in seinen Augen aufblitzen. Das Thema war ihm nicht recht und er wollte es unterbinden. An manchen Tagen ließ sie das zu. Ließ ihn gewähren. Um den Frieden zwischen ihnen und Thorins Laune zu schützen. Aber nicht heute, nicht hierbei. Das erschien ihr zu wichtig. „Wem?“, presste sie daher nach, als er seine Widerrede gerade beginnen wollte. Eine Braue leicht gehoben, musterte er sie und entschied sich, dass es weniger Aufwand wäre, zu antworten. „Einem Wanderhändler“, gab er zurück. Abermals überdachte Saeven die Situation. „Und was, wenn das Ding schlüpft? Wir sind hier in Anadyr, Thorin, wir wissen beide, was für ein Nest das war. Was, wenn die Mutter doch irgendwie das Ei findet? Was, wenn dieser Händler unseretwegen stirbt? Damit wir einen vollen Bauch und ein warmes Bett haben können? Was, wenn er es verkauft? An ein paar Fischer? Farmer? Leute, die sich nicht wehren können? Oder schlimmer noch, an ein paar Reiche, die das Geld haben, nachforschen zu lassen, woher das Ei kam, sobald es Ärger macht? Es gibt so viele Risiken, Thorin! Zu viele!“ „Du klingst wie ein Held“, spuckte er verächtlich aus. Es war nicht das erste Mal, das Thorin derartig abfällig von Helden sprach. Jedes Land hatte ihre Helden, jedes Dorf, jede Stadt, jedes einzelne, denkende, fühlende Wesen hatte vermutlich irgendwann persönliche Helden im Leben gehabt. Ihn aber hatte sie nie ein gutes Wort darüber verlieren hören. Bisher hatte sie das Thema daher stets gemieden, doch ihre Sorge um die Möglichkeiten ließ ihr einfach keine Ruhe. Was, wenn andere zu Schaden kamen? Sie konnte mit diesem Gedanken nicht leben. „Dann klinge ich eben so, und?“, warf sie trotzig zurück. „Wenn du unbedingt ein Held sein willst“, begann Thorin sich zu ereifern. Oh je – jetzt ging es also los. Saeven bemühte sich, sich gegen das Schlimmste zu wappnen, „dann schau dir vorher gut an, was mit Helden geschieht. Und ich meine nicht die niedliche Version aus deinen Geschichten und Märchenbüchern, in denen sie am Ende glücklich und zufrieden mit dem Bösen besiegt und dem Mädchen gerettet weiterleben. Ich meine die Variante, die uns begegnet, tagtäglich, und die Variante, von der wir nie hören und nie etwas sehen. Denn Helden, meine Liebe, sind Narren, allesamt! Sie verantworten den Tod anderer mit ihrem ach so großen Mut, sie riskieren leichtfertig Leben. Sie mischen sich in Dinge ein, die sie nichts angehen und die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur ohne ihre Einmischung glimpflicher ausgegangen wären, sondern obendrein vermutlich auch ihren eigenen Tod mit sich bringen. Denn wir leben nicht in einer Welt, in der der Böse so nett ist, dir seinen Plan zu verraten, nur weil er glaubt, dass seine unnötig komplizierte Falle dich irgendwann vielleicht umbringen wird. Eine Armbrust, ein Bolzen, du bist tot. Und weißt du, was das Beste ist? Sagen wir, es gelingt tatsächlich mal, irgendwen zu retten, irgendwen zu besiegen. Glaubst du, das ändert irgendwas? Dann kommt der Nächstbeste und nimmt den Platz ein, der gerade frei wurde. Vielleicht wird es besser – aber meine Erfahrung sagt, dass es in aller Regel nur schlimmer wird. Stürzt du einen Tyrannen, ohne für das Danach zu planen, kommt der nächste und setzt alles daran, zu verhindern, das ihm das Gleiche widerfährt – und in diesem Streben wird er brutaler und grausamer als sein Vorgänger werden. Und vergiss nie, dass Helden nicht aus dem Boden wachsen. Sie haben Freunde und Familien und es ist höchst selten, dass das bei tatsächlichem Erfolg lange ein Geheimnis bleibt. Was glaubst du, wer am meisten leiden wird, wenn erstmal die Runde macht, dass große Belohnungen übergeben worden sind? Oder das jemand eines bestimmten Kraftaktes fähig ist? Kann einer etwas, was ein anderer nicht kann, wird der Unfähige versuchen, den Fähigen irgendwie dazu zu bringen, dass er das für ihn macht. Ob durch Zwang oder Manipulation. Das ist die Welt, in der wir leben. Helden töten andere und sterben früh.“ Die bodenlos tiefe Verbitterung in seinen aufgewühlten, zornigen Worten war schwer zu überhören und nur ein Narr hätte glauben können, dass es angesichts dieser stetig weiter gesteigerten Rede keinerlei persönliche Hintergründe gegeben haben musste. Saeven entließ nach dem abrupten Ende einen Atemzug aus seinen Lungen, von dem er nicht einmal realisiert hatte, ihn krampfhaft gehalten zu haben. Er versteckte sein Mitgefühl nicht. Was immer Thorin getroffen hatte, musste vor langer Zeit geschehen sein – und der Kahlkopf hatte es offenkundig noch immer nicht überstanden. Würde er vielleicht auch nie. Er bedachte das, was gesagt worden war, doch die Entscheidung war eindeutig. Die Vorbehalte und Ansichten des Kriegers waren sein gutes Recht, durften einer Entscheidung jedoch nicht im Wege stehen. Schließlich schüttelte der Blonde leicht den Kopf. „Es tut mir Leid, Thorin. Das ist mein Ernst. Ich habe nicht vor, irgendwen durch mein Ansinnen zu gefährden. Ich werde das jedoch ebenso wenig immer verhindern können, schätze ich. Und wie sagtest du immer so schön? Sterben müssen wir alle irgendwann einmal. Ich konnte letzte Nacht nicht ruhig schlafen, aller Erschöpfung zum Trotz, weil diese Sache mein Gewissen belastet. Das wird sie auch weiterhin, das weiß ich nun. Ich… ich will mich zumindest versichern, dass tatsächlich kein Ärger daraus erwachsen ist. Ich breche in einer Stunde auf, du… du kannst hier solange auf mich warten. Ich würde mich freuen, falls du noch da bist, wenn ich zurückkomme.“ Sie hasste Abschiede. Aber es war besser, einen zu haben, als einfach so aufzustehen und aus seinem Leben zu treten. Oder ihn aus ihrem Leben gleiten zu lassen. Inständig hoffte Sierra, dass er noch da wäre, wenn sie zurückkam, während sie ihre Rüstung anlegte. Saeven von Askir verließ das Gasthaus tatsächlich wenige Minuten mehr als eine Stunde nachdem er sich von Thorins Tisch erhoben hatte. Sein Weg führte ihn zunächst westwärts. Irgendwo in dieser Richtung, so hoffte er inständig, würde er diesen Wanderhändler finden. Er wusste nicht, wie der aussah, gewiss. Aber er konnte sich bei den Reisenden erkundigen, ob sie einem Wanderhändler begegnet waren, wann und wo und hatte er diesen erst einmal aufgespürt, konnte er Thorin beschreiben, um Informationen zu erlangen… über den Verbleib des Eies, beispielsweise.   „Du weißt ja nicht mal, wie er aussieht“, erklang aus dem Dunkel eine vertraute Stimme. Saeven lächelte. Ein so warmes und dankbares Lächeln wie schon seit Monaten nicht mehr. Langsam wandte sich der Adlige um und erspähte den kahlen Hünen, wie er die Straße entlang schritt und auf die kleine, fürs Kampieren vorgesehene Einbuchtung zuhielt. Der Krieger ließ sich kommentarlos und ohne auf eine Bitte wartend auf sein eigenes Nachtlager sinken, das er sofort nach Ankunft ausbreitete. „Ich hätte mich durchgefragt“, erwiderte Saeven, dem das Lächeln nicht von den Lippen weichen wollte. „Dann hätte ich da ja Monate warten müssen“, kam es aus Richtung des Kahlkopfes, obwohl der mit dem Rücken zu ihm lag. Versonnen lächelnd blickte der Adlige wieder zum Lagerfeuer. Mit einem Stock stocherte er etwas in der Glut herum, legte ein paar Holzscheite nach und begab sich dann selbst zur Ruhe. Sein Blick ruhte noch immer auf Thorins breitem Kreuz, als er die Augen schloss. „Danke“, du Dickkopf.   Es dauerte fast eine Woche, ehe sie den Händler wiederfanden. Während Saeven von Askir, angesehenes Mitglied des anadyrer Niederadels, Antworten von den Passanten schlicht verlangen konnte, begnügte Thorin sich damit, Fährten zu lesen und seinen Orientierungssinn zu schulen. Einen markttauglichen Handelskarren fand man leichter wieder als die Zugkarren, die Bauern und Farmer verwendeten. Ihre Räder waren breiter und da in aller Regel deutlich mehr Gewicht auf ihnen lastete, waren ihre Fahrrinnen tiefer. Der Händler wiederrum erinnerte sich noch gut an Thorin. Sie begegneten ihm kaum, da begrüßte er den Krieger herzlich und überschwänglich. Sehr zu Saevens Verwirrung, dem daraufhin erklärt wurde, wie genau dieses Geschäft zustande gekommen war. Wie hätte es auch anders sein sollen – im Suff. Der Kahlkopf war angeblich völlig betrunken gewesen, etwas, das der Adlige doch sehr bezweifelte, auch wenn er gewiss entsprechendes vorgespielt haben mochte. Ebenso betrunken – vermutlich tatsächlich betrunken – war wohl der Reisende gewesen. Sie hatten einander prächtige Geschichten erzählt, einander weitere Krüge spendiert, bis hin zu dem Punkt, dass Thorin einen Handel vorschlug. Der klang für den Händler selbst betrunken reichlich mies. Fünfzig Gulden waren ein kleines Vermögen! Doch der Kahlkopf erzählte ihm nach und nach von seiner Idee… der Idee, das Ding als einen Glücksbringer weiterzuverkaufen. Oder als Drachenei anzupreisen. Oder einfach, wenn er nicht lügen wolle, als ein Ei unbekannter Herkunft. Bei der Größe würde wohl jeder irgendetwas Absurdes darin vermuten. Und Eumenes würde ihren Segen über das Haus senken, das dieses Ei sorgfältig aufbewahrte, ganz gewiss! Es war einfach perfekt und je länger er sich das anhörte, umso besser klang die Idee. Also hatte er das Ei gekauft. Und nur fünf Tage später erfolgreich für das Doppelte weiterverkaufen können. Haslinin war ein kleines Fischerdorf an der Westküste, nahezu unbedeutend, nahm man zwei Dinge aus der Gleichung: Sie waren eines von nur vier Dörfern in ganz Anadyr, das wusste, wie man die berühmt-berüchtigte Morrag-Forelle fing. Ein Fisch, dessen Fleisch als sündhaft teure Delikatesse verkauft und fast ausschließlich in Adelskreisen verzehrt wurde und dessen Gallenblase ein Gift enthielt, das auf Pfeile aufgetragen jeden getroffenen, gestreiften oder auch nur kurz angeritzten Gegner binnen weniger Sekunden zuckend und zitternd auf die Knie gehen ließ. Die andere Sache war der leidliche Umstand, dass Haslinin ständig Probleme mit den Naga hatte. Nun, vielleicht nicht ständig, aber doch zumindest mit einer gewissen Frequenz wiederkehrend. Der Blick, den Saeven Thorin dabei zuwarf, ignorierte der Kahlkopf geflissentlich völlig. Das Dorf hatte all seine Ersparnisse und Reserven zusammengelegt und das Ei erworben, in der Hoffnung, Eumenes‘ Segen würde ihnen endlich Ruhe vor den schlangenartigen Meeresbewohnern verschaffen. Immerhin waren sie, als eine von Eumenes‘ Schöpfungen, direkt ihrem Willen unterworfen, nicht wahr? Über die Dörfler kichernd und lachend, zog der Händler weiter. Entweder hatte er die zwischen den beiden Reisenden angestaute Anspannung nicht bemerkt, oder er interessierte sich nicht dafür und hatte entschieden, sie im Interesse der eigenen guten Laune und mangelnden Beteiligung an fremden Konflikten einfach zu ignorieren. So oder so fiel kein Wort, bis der Händler außer Hörreichweite war. „Ein Fischerdorf, Thorin“, presste Saeven hervor, „Ein ganzes, gottverdammtes Dorf! Am Meer! War an den Geschichten, die du über Naga und Seeschlangen immer wieder so gern zum Besten gibst, irgendetwas Wahres dran?“ Der aufgewühlte, beinahe schon vorwurfsvolle Ton ließ den Kahlkopf schwer seufzen. Er ahnte, worauf das hier hinauslaufen würde. „Abgesehen davon, dass sie von den Naga tatsächlich als heilig angesehen werden, sie sie hüten, pflegen, füttern, ihretwegen in den Krieg ziehen würden… nein. Oh, warte – ich habe tatsächlich mal einer den Unterkiefer ausgerissen, aber die war nicht größer als ich.“ In einem Anflug hilfloser Frustration warf Saeven die Arme in die Höhe. „Aaaaah! Wie kannst du-… ahh! Thorin!“ Es dauerte einen Moment, bis der Adlige sich beruhigt hatte und sich in einer Geste, die eigentlich zum Repertoire des Kriegers gehörte, mit der Hand über das Gesicht wischte. „Wir gehen jetzt nach Haslinin und stellen das richtig, verstanden?!“ Der Kahlkopf wurde ernster und schüttelte den Kopf. „Was interessiert mich das Schicksal der Idioten? Wenn sie auf solch einen Unsinn hereinfallen, sind sie selbst schuld und haben es vielleicht auch nicht besser verdient. Wird Zeit, dass ihnen sowas passiert. Dann lernen sie wenigstens daraus.“ Saeven trat näher an den Hünen heran und hob die Hände zu seinem Hals, als wolle er ihn erwürgen, doch die krampfenden, zuckenden Finger hielten sich wenige Millimeter von der tatsächlichen Haut entfernt, während das Gesicht des Adligen noch mehr Frustration wiederspiegelte. „Wenn wir ihnen die fünfzig Gulden geben, haben sie immer noch fünfzig Gulden verloren, für nichts und wieder nichts. Das sollte Lehre genug sein, meinst du nicht? Wichtiger aber ist, dass sie daraus lernen können. Wenn sie des Eies wegen allesamt draufgehen, dann wäre das nicht sonderlich hilfreich! Du kannst ja hier bleiben, herumsitzen und so tun als ginge dich das alles nichts an. Ich gehe jetzt nach Haslinin, um dafür zu sorgen, dass dein Wunsch nach Met und einem weichen Bett nicht unzählige Leute tötet!“ Als sie abermals drauf und dran war, sich schlicht von ihm abzuwenden und loszumarschieren, warf der Krieger seinerseits machtlos die Arme in die Luft. „Fein!“, brüllte er aufgebracht, „Wunderbar, gehen wir ein paar Idioten retten“, knurrte er hinterher.   Haslinin lag drei Tage westlich. Als sie das Dorf erreichten, sahen sie rasch, dass sich alle scheinbar bereits in Alarmbereitschaft befanden. Seit ein paar Tagen kamen die Naga jede Nacht ins Dorf. Sie schlichen um die Hütten herum, zischelten vor sich hin. Wirkliche Schäden gab es bisher keine – doch die wenigen Narren, die sich ihnen in den Weg stellten, verschwanden in der Regel. Die Blutspuren, die man fand, wiesen zwar auf Kämpfe hin, waren jedoch zu klein, um bereits alle Hoffnung aufzugeben. Thorin hingegen wechselte bei dieser Stelle der Erzählungen bedeutungsschwere Blicke mit Saeven. Er wusste es besser, kannte die Naga besser. Vermutlich wussten auch die Fischer es, immerhin lebten sie schon lange an der Küste und damit schon lange in ständigem Zwist mit den Naga. Gefangene wurden verschleppt. Und da sich die Lungen von Menschen und anderen Landgängern nur selten mit Salzwasser vertrugen, war so gut wie nie Grund zur Hoffnung gegeben. Viel interessanter war der Umstand, dass tatsächlich alle, ein jeder, den sie fragten, sich über das Verhalten der Naga zwar wunderte – sonst kamen sie in großen Gruppen ins Dorf, überfielen es in einer Nacht, verschwanden und kehrten daraufhin Wochen, Monate, teilweise Jahre nicht zurück -, doch niemand schien das absonderliche Verhalten der Meeresbewohner mit dem neulich erworbenen Ei in Zusammenhang zu bringen. Und um die ganze Angelegenheit ein wenig schwieriger zu machen, behaupteten zahllose Fischer, das ihre Fänge tatsächlich besser geworden seien, seit sie das verdammte Ding gekauft hatten. Das Dorf glaubte also an seinen Glücksbringer. Das senkte die Chance, dass man es herausrücken wollen würde. Und bisher waren auch nur wenige Bewohner entführt worden – was hieß, das es noch nicht genug Hinterbliebene und Hoffende gab, die für eine Herausgabe des verflixten Eies plädieren würden. „Siehst du, was du angerichtet hast?!“, fauchte Sierra ihn am Abend in der Schenke zu. Sie hatten sich in einem der wenigen Gästezimmer einquartiert und überlegten, wie sie nun weiter vorgehen sollten. Die Naga wussten offensichtlich bereits, das etwas hier im Dorf war. Ob sie schon wussten, dass es ein Seeschlangenei war oder ob sie wussten, dass es dieses Seeschlangenei war, konnte sich nicht mit Gewissheit sagen lassen. Die Tatsache, dass sie zumindest im Moment noch vorsichtig vorgingen, ohne größere Verwüstungen anzuzetteln, ließ darauf schließen, dass sie auch noch nicht hatten herausfinden können, wo es sich befand. Aber das war wiederum nur eine Frage der Zeit. An Land waren ihre Sinne deutlich eingeschränkt, deshalb schlängelten sie bei Nacht um all die Häuser herum. Sie nahmen Witterung auf. Und hätten sie erst einmal das Gebäude an der hintersten Rückseite des Dorfes erreicht – das Haus des Dorfvorstehers -, dann hätten sie ihr Ziel gefunden. Sie würden einbrechen, jeden töten, das Ei nehmen und verschwinden. Um dann mit einer Streitmacht zurückzukehren und als Sühne für diesen Frevel das ganze Dorf auszuradieren. Thorin konnte nicht leugnen, dass die Dinge hier schlecht standen. Und nun, da Sierra und er hier waren… war es eine ihrer üblichen Routinen. Sie waren vor Ort, Ärger kam auf… sie mischten sich ein. Ob freiwillig oder nicht. Natürlich hätte er Haslinin verlassen können. Doch Sierra wäre nicht mit ihm gekommen, sie hätte diese Leute nicht einfach ihrem Schicksal überlassen können. Und er redete sich erfolgreich ein, dass das der einzige Grund war, warum er blieb. „Also gut, wir machen es so: Wir  gehen zum Dorfvorsteher. Wir versuchen ihn zu überreden, uns das Ei zu geben. Du bietest es den Naga an und sagst ihnen, dass es über Umwege in dieses Dorf gelangte und das Dorf sich dessen Bedeutung nicht bewusst war. Falls du eine Lady erwischst, die vernünftig ist und einen guten Tag hatte, könnte das klappen.“ Thorin wirkte selbst nur bedingt von seinem Plan überzeugt. Dafür gab es gute Gründe, wie Sierra wusste. Naga waren die Zwerge der Meere. Stur und von ihrem unfehlbaren Ehrglauben getrieben. Zumindest glaubten sie ihn unfehlbar, so unfehlbar wie ihre Überzeugungen, dass alle Landbewohner gleich waren – mieser, niedriger Abschaum, der keinen Respekt vor dem Leben oder der Umwelt hatte. Das reduzierte ihre Chancen auf Erfolg gehörig. „Und falls nicht?“, hakte sie daher nach. Thorin tätschelte kommentarlos die Axt. Natürlich. „Hey warte mal – wieso überhaupt ich?! Wäre es nicht sinnvoller, wenn du das regelst? Es ist nicht nur dein Mist, du kennst dich mit denen auch besser aus.“ „Ich habe einen Schwanz“, erklärte er völlig ernst und nüchtern. Irritiert hob der Tiefling ihren Schwanz hoch genug, dass dessen Spitze über ihre Schulter lugen konnte. „Ich auch. Wenn das hier ein Längenvergleich werden soll oder du versuchst, auf das Vorrecht der Männer zu plädieren, dann-“ „Sie hassen alles Männliche“, schnitt Thorin ihr dazwischen, „Ihre ganze Kultur ist matriarchal aufgebaut. Die Männer sind eine dienende Sklavenrasse. Fußsoldaten, Kanonenfutter, gelegentlich zur Paarung nötig. Der Dreck unter deinen Schuhsohlen ist mehr wert als ich, zumindest in ihren Augen.“ „… oh.“ Das wiederum erklärte natürlich diesen Aspekt des Plans.   Als es an der Tür klopfte, öffnete ihnen ein hoch gewachsener Mann mittleren Alters, dessen Statur sich durchaus mit der Thorins messen konnte. Es widersprach so völlig Saevens Vorstellungen eines Dorfvorstehers, die hatten doch eigentlich alte, ergraute Zausel mit weisem, klugem Blick zu sein, oder nicht? Aber dieser hier, der überragte sogar noch Thorin um ein paar wenige Zentimeter. Im Hintergrund sah sie obendrein dessen Weib und seine Tochter, wie sie neugierig aus einem Zimmer herauslugten, das Saeven angesichts der späten Uhrzeit entweder als Wohnstube oder als Speisezimmer vermutete. Die Sonne war bereits nahe des Horizontes, als der Kahlkopf klopfte. Nun, da ihm dieser schwarzhaarige Schrank gegenüber stand, setzte der Kahlkopf sogar so etwas wie ein Lächeln auf. Gruselig. „Wir brauchen das-“ „Guten Abend“, fiel Saeven Thorin abrupt ins Wort. Der Sturkopf sah jemanden, der ihm ähnlich schien und ging natürlich sofort davon aus, dass es klüger wäre, mit der Tür ins Haus zu brechen. Sie sah das anders. Thorins Pläne, obgleich durchaus gut und brauchbar, gingen nicht immer wie geplant auf. Manchmal auch aufgrund falscher Annahmen wie dieser. Und ein klein wenig Höflichkeit und Freundlichkeit hatte nun wirklich noch nie irgendwem geschadet! „Ich hoffe, wir stören nicht zu dieser späten Stunde.“ „Ihr gehört nicht zu meiner Gemeinde. Reisende also. Was wollt ihr?“, hakte der Vorsteher nach. „Das ist völlig korrekt“, erwiderte Saeven und kam Thorin abermals zuvor, „Mein Name ist Saeven von Askir, ihr habt vielleicht von mir gehört? Nicht? Nun einerlei, dies ist Thorin Eichenschild, mein Leibwächter. Uns kam zu Ohren, das ihr in den letzten Tagen einige Unannehmlichkeiten mit den Naga habt und wir wünschen zur Lösung dieses Problems beizutragen.“ Der Riese hob skeptisch eine Braue, musterte ihn abermals von oben bis unten, ehe er seine Haltung etwas entspannte. „Wir haben erst vermutet, dass sie angefressen wegen der Balliste sind. Ist schließlich aufs Meer ausgerichtet, auch wenn man das Ding ein wenig drehen kann. Wir haben dann und wann Besuch von Orcas. Als letztes Jahr ein Junge gefressen wurde, naja… da bestanden alle darauf, dass wir uns das verflixte Ding zulegen. Steht jetzt aufm Dach vom alten Hedeweig und fängt Staub und Rost. Aber gut, die Leute sind beruhigt. Vor zwei Nächten waren diese verdammten Riesenschlangen beim Hedeweig am Haus, haben’s aber in Ruhe gelassen. Die Balliste ist‘s also nicht, was sie suchen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und die Augen verengten sich etwas. „Was soll uns eure Hilfe denn kosten, hm?“ Beschwichtigend hob der Blonde die Hände. „Mitnichten, guter Mann. Wir sind nicht aus so kleinlichen Motiven wie Geldgier hier, ganz im Gegenteil. Wir haben bereits erste Erkundigungen eingeholt und ich glaube genau zu wissen, wo euer Problem liegt. Dieser angebliche Glücksbringer, den ihr erworben habt, dieses Ei – die Naga suchen danach. Ich bin bereit, euch mit fünfzig Gulden aus meiner eigenen Reisekasse für die entstandenen Mühen zu entschädigen. Ihr werdet mir das Ei geben und ich kläre für euch diese leidige Geschichte mit den Naga.“ Es war perfekt. Innerlich ein wenig zittrig vor Nervosität, weil sie Saeven nie zuvor in einer solch umfassenden Situation hatte ausspielen müssen, war ihre Illusion absolut perfekt und gab völlig makellos wieder, wie sich nicht nur ein Adliger niederen Standes oder ein Adliger Anadyrs aufführen würde, nein, es gab Saeven von Askir perfekt wieder! Das Problem war – den mochte man hier offenbar nicht. Die Muskeln an den Armen des Vorstehers spannten sich ein wenig stärker, als er sich ein gutes Stück zu Saeven vorbeugte. „Müssen wir das, hm?“, echote der Riese und seine Brauen zogen sich in langsam aufquellender Wut zusammen. „Ach jetzt reicht es aber!“, erklang es ungeduldig von Thorins Seite. Im nächsten Moment landete dessen geballte Faust mit voller Wucht im Gesicht des Dorfführers. Dessen Schädel ruckte herum, wurde gegen den Türrahmen gedonnert und kurz darauf sank die riesige Gestalt wie ein Sack Mehl in der Türschwelle zusammen. „Thorin!“ Unter Saevens fassungslosem und empörtem Protest stieg der Krieger einfach über den Niedergeschlagenen hinweg. „Der wacht bald wieder auf und wird höchstens Kopfschmerzen haben, keine Sorge“, ließ er die Dame des Hauses und deren Tochter im Vorbeigehen wissen. Er warf einen kurzen Blick in jeden Raum, verschwand schließlich in einem davon und kehrte mit dem Ei zurück. „Ich leih mir das kurz aus und sorge dafür, dass euer Dorf wieder sicher wird, wenn’s Recht ist.“ Seite an Seite ließen sie das Haus des Mannes hinter sich, der nur noch dann und wann ein leises Ächzen von sich gab. Kaum hatten sie einige Meter zurückgelegt, stürzte dessen Weib vor, um sich um ihren Gatten zu kümmern. „Das war absolut unnötig!“, rügte der Blonde seinen Begleiter, „Wenn du das Verhandeln nennst, ist es kein Wunder, das wir ständig in irgendwelche Dörfer und Städte kommen, in denen bereits irgendwer ist, der dich nicht leiden kann!“ „Pff, liegt am Gesicht!“, gab der Kahlkopf lediglich halbernst zurück. Die Tatsache, dass sie das Dorf bis zur Küstenlinie durchqueren konnten, sagte viel darüber aus, wie hart der Krieger zugeschlagen hatte. Die Tatsache, dass sie kurz darauf von gut zwei Dutzend Bewohnern Haslinins umstellt wurden, die mit allen möglichen Arbeits- und Haushaltsgegenständen bewaffnet waren, sagte wiederum aus, das er trotz allem offenbar nicht hart genug zugeschlagen hatte. „Ach verdammte Scheiße, kommt schon Leute, was soll das?! Wir versuchen euch hier zu helfen!“, brüllte der Kahlkopf entnervt in die Runde der wenig amüsiert aussehenden Gesichter. „Indem ihr uns angreift?“, kam es aus einer Richtung. „Uns bestehlt?“, kam es aus einer zweiten. „Oder uns beraubt?“, aus einer dritten. „Das ist das Gleiche!“, meinte ein Vierter. „Heißt es nicht ‚das Selbe‘?“, rätselte ein Fünfter. „Und uns dumm dastehen lasst ihr auch!“, warf ein Sechster vor. „Als wenn ihr dazu noch meine Hilfe gebraucht hättet“, grummelte Thorin glücklicherweise leise genug, das die Dörfler es nicht vernahmen. Man drohte ihnen mit Gefangennahme. Ein Brief sei bereits aufgesetzt worden, an den Grafen in Sturmwind. Eine Abteilung der dortigen Wache würde kommen und sie in die Stadt mitnehmen, wo man ihnen Gerechtigkeit vor Gericht angedeihen lassen würde. Das klang, alles in allem, wenig verlockend – nicht zuletzt, weil Sturmwind sieben Tagesreisen in südlicher Richtung lag. Also eine gute Weile die falsche Richtung. Und Wachen? Vor Gericht stehen? Nein. Nein, ganz sicher nicht. „Mach jetzt nichts Dummes“, bat Saeven an seiner Seite leise und vorsichtig, als er bemerkte, wie die Hände des Kahlkopfes sich zu Fäusten ballten. In all dem Trubel und all dem gereizten Durcheinander entging ihnen ein wundervoller Anblick: Wie die Sonne im Westen versank, wie der Himmel sich purpur färbte und das Meer für einen kurzen Moment wie Blut schien, wie die Grenze zwischen Himmel und Ozean verschwamm und alles ineinander überzugehen schien. Ein wahrlich magischer Augenblick, eine atemberaubend schöne Szenerie… und völlig verschwendet. Stattdessen erklang kurz darauf mit der einbrechenden Dunkelheit ein Schrei aus den hinteren Reihen der Dörfler, die den Kreis deutlich um sie geschlossen und zugezogen hatten, bereits angespannt und bereit, gleich auf sie zu springen und sie unter allen Umständen gefangen zu nehmen. Der Schrei wiederum war ein einzelnes Wort, das auch alle anderen Anwesenden rasch aufschrecken ließ: „Naga!“ Tatsächlich konnte man selbst in der einbrechenden Finsternis der Nacht die dunklen Schemen sehen, die knapp unter der Wasseroberfläche aus einiger Entfernung allmählich heran kamen. Wie von einem Wespenschwarm überrascht, stob die Meute der Dorfbewohner auseinander und jagte in alle Richtungen davon, um sich so rasch wie irgend möglich in ihren Häusern zu verbarrikadieren. „Ich werde ganz in der Nähe sein!“, ermahnte Thorin seinen Kameraden, drückte ihm das Ei in die Hand und flüchtete ebenfalls. Saeven blieb allein am Strand zurück. Er schluckte schwer im Angesicht dessen, was da auf ihn zukam. Noch nie zuvor hatte er mit Naga geredet. Sie waren die Zwerge des Ozeans. Von Ehre getrieben. Von unerschütterlichem Glauben. Sie hassen alles Männliche. Oh verflixt! Rasch ließ Sierra die Illusion zerfallen. Es war ohnehin niemand mehr hier, der sich dafür interessiert hätte. Kurz warf sie einen Blick hinter sich, sah die Hütten, wie die Lichter darin hastig gelöscht wurden. Keine Beobachter, sie konnte nicht einmal Umrisse oder neugierige Augen ausmachen. Auch Thorin schien gänzlich verschwunden. Als ihr Blick sich wieder nach vorne wandte, erhoben sich die Naga gerade aus dem Meer. Sechs Männer, erkennbar an den Muschelpanzern, den wuchtigen Speeren mit Korallenklingen und ihrem allgemein muskulöseren Bau, angeführt von einer einzelnen weiblichen Naga. Die vielen Ketten um Hals, Arme und Handgelenke, die Ringe, der aufwendige Kopfschmuck, alles schien sie als eine Lady auszuweisen – und damit das, was in deren Volk als ranghoch und adlig galt. Die kleine Abteilung von sieben Wesen hielt direkt auf sie zu. Als die Eskorte zum Stillstand kam, hatten sich längst ihre Speere auf sie gerichtet. Sierra hielt still, bis sich die Lady hervorschob. Nur ein Meter trennte sie voneinander. „Mutig“, erklärte sie. Es klang wie eine absonderliche Mischung aus dem Zischeln einer Schlange und dem Rauschen der Wellen in starker Brandung. Eine Stimme, wie sie sie so noch nie gehört hatte und, was sie mehr noch überraschte, gesprochen in der Zunge der Menschen. Naga hatten zweifellos ihre eigene Sprache, aber da sie so häufig die Küsten besuchten – oder heimsuchten -, waren sie wohl vertraut mit den Sprachen anderer Völker. „Ich grüße euch in Demut, ehrwürdige Lady der Naga“, begann Sierra. Sie senkte sich mit einem Bein auf ihr Knie und präsentierte das Ei in beiden Händen emporgereicht. „Ich vermute, ihr wart auf der Suche hiernach. Ich bitte um die Gelegenheit, zu Gunsten dieser Menschen eine Erklärung abgeben zu dürfen.“ Sie hob den Kopf, als man ihr das Ei abnahm. Einer der Männer barg es an sich und trat einen gehörigen Schritt zurück. Oder eher wohl… schlängelte ein gutes Stück abseits. Der Brustkorb der Lady hob sich unter einem tiefen Atemzug, ehe sie ihr anwies, aufzustehen. „Meinetwegen. Sprich frei.“ „Die Bewohner dieses Dorfes sind unschuldig“, wollte sie beginnen, doch das verächtliche Schnauben der Lady wies sie darauf hin, dass sie eine unglückliche Wortwahl getroffen hatte, „Sie wussten nicht, um was für ein Ei es sich handelte“, fuhr sie nichtsdestotrotz fort, „Sie kauften es von einem Reisenden, in dem guten Glauben, es sei ein Ziergegenstand.“ „Dann sind es Narren“, zischelte die Naga. „Dem widerspreche ich nicht. Doch ein Narr zu sein, das allein sollte nicht den Tod verdienen, oder?“ Ein amüsiertes Funkeln trat in die Augen der Lady, als sie sich ein Stück näher an Sierra heranlehnte. „Mich erstaunt, wie viel ein Landbewohner über unsere Kultur weiß.“ Sie entfernte sich wieder ein Stück und schwieg einen Moment, ehe sie sich wieder Sierra zuwandte. „Ich sehe den Eifer in deinen Augen, Kind, und ich begrüße den Respekt, den du mir erwiesen hast – ich wäre geneigt gewesen, deinem Gebettel stattzugeben. Doch leider irrst du dich. Diese Narren sind alles andere als unschuldig. Ob sie nun Diebe sind oder nicht, was spielt es für eine Rolle? Dies ist nur das letzte Ärgernis in einer ganzen Reihe von Verfehlungen. Wir sind nicht länger gewillt, Geduld und Nachsicht walten zu lassen. Das endet heute Nacht.“ „Bitte, ich-“, setzte Sierra hastig an, doch ein lautes, gereiztes Zischeln der Lady ließ sie schweigen. „Bis jetzt mag die Mutter Nachsicht für dein Flehen gehabt haben, ändere ihre Meinung nicht leichtfertig, indem du dich selbst demütigst! Trage dein Schicksal mit dem, was an Ehrgefühl dir verblieben ist!“ Mit jenen Worten wandte sich die Naga ab und wollte bereits mit ihrer Eskorte ins Meer zurückkehren, als Sierra eingriff. Sie wusste, wie das hier enden würde. Diese paar würden zurückkehren, heim. Sie würden das Ei in Sicherheit bringen. Und dann mit einer Armee auftauchen, um das Dorf zu vernichten, ein für alle mal. Sie sah vor ihrem geistigen Auge bereits die Toten, die zerstörten Heime, die verlorenen Jahre an Leben. Das konnte sie einfach nicht zulassen. „Thorin!“, rief Sierra und stürmte vorwärts. Den ersten Naga konnte sie noch recht leicht mit ihrem Schwert niederstrecken, immerhin war die Gruppe unvorbereitet. Der Zweite konnte immerhin die erste Attacke parieren, ehe sie ihn erwischte. Der Dritte… war leider bereits gut vorbereitet. Mit einem wuchtigen und rasanten Schwanzschlag peitschte er sie regelrecht von den Füßen. Unsanft landete sie im Sand des Ufers. Die Tatsache, dass der Vierte ihr nicht sofort den Gnadenstoß gab, war einer simplen Tatsache geschuldet: Licht. Der Himmel strahlte und funkelte von wundervollen und vor allem zahlreichen Sternen… und direkt zwischen ihnen prangerte der Vollmond. Für eine Invasion hatten sich die extrem lichtempfindlichen Naga die schlechteste Zeit überhaupt ausgesucht. Entsprechend blinzelte der Angreifer mehrfach, bevor er mit seinem Speer zustieß. Sie spürte den Schmerz. Wer hätte gedacht, dass Korallen so scharf sein konnten? Die Klinge des Speeres riss ihre Rüstung auf, ihre Haut, ihr Fleisch – an der Hüfte. Ärgerlich, aber nicht lebensbedrohlich, ja nicht einmal eine allzu große Einschränkung im Kampf. Ihr Schwertstich nach oben traf den Dritten, sie ließ die Klinge los. Das plötzliche, zusätzliche Gewicht des Schwertes ließ die Kreatur umkippen. Im Sterben wandte er sich, rang mit der Klinge in seiner Brust, während der Tiefling den Speer des Vierten umfasste. „Thorin!“, brüllte sie abermals aus vollster Kehle, während sie den Angreifer davon abhielt, seine Waffe zurückzuziehen für den nächsten Stoß. Mühsam gelang es ihr, sich auf die Beine empor zu kämpfen. In einer geschickten Drehung wich sie dem zweiten Speerstoß aus, packte ihr Schwert, welches sofort wieder federleicht wurde und zog die Klinge in einer hübschen Diagonale einmal von unten nach oben über den Leib des Schlangenwesens. Aufkreischend zuckte es zurück – sie setzte mit einem Stoß nach. Just als der Leib des Aggressors umkippte, sah sie sich der Lady gegenüber. Magie knisterte um sie herum, irgendein Zauber wurde von ihr geladen. Sie wollte fliehen, wollte in ihre Taschendimension springen, in Sicherheit vor dem, was immer da kommen mochte. Nie zuvor hatte sie Angst wie solche verspürt, als sie feststellen musste, dass sie es nicht konnte. Was immer diese Schlange dort tat, es verhinderte es irgendwie. Sie konnte, sie durfte nicht springen. Fassungslos und erstarrt sah sie, wie sich die Energie manifestierte. Das war das Ende. „Thorin…?“, hauchte sie atemlos und fast unhörbar leise. „Runter!“, donnerte die wohlvertraute Stimme plötzlich hinter ihr. Gerade noch rechtzeitig ließ sie sich fallen – ein Korallenspeer jagte über sie hinweg. Die Waffe bohrte sich präzise in die Brust der weiblichen Naga. Was immer für einen Zauber sie vorbereitet hatte, er zerfaserte, die Energie entlud sich als statische Spannung, als die Kreatur zuckend und unter Ächzen und Stöhnen ins flache Wasser stürzte und selbiges mit ihrem Blut einfärbte. „Unten bleiben!“, brüllte der Kahlkopf erneut. Das nächste, was über ihren Kopf hinweg segelte, war seine Streitaxt. Nicht unbedingt eine Fernwaffe und ganz sicher nicht allzu präzise. Er hatte das Ding einem der zwei flüchtenden Naga ins Kreuz geschleudert. Sie sprang auf, kaum dass die Waffe über sie hinweg gesaust war, griff sich im Voranstürmen ihr Schwert und beendete, was die Axt begonnen hatte, mit einem gut gezielten Stich ins Genick. All die Präzision verhinderte jedoch nicht, dass der Letzte sich mit dem Ei in die Fluten stürzte. „Verdammt!“, fluchte Sierra leise und wandte sich zu Thorin um. Der hob gerade seine Axt aus dem flachen Wasser und sah sie mit einem schiefen Lächeln an, ehe etwas seine Aufmerksamkeit fing – irgendetwas hinter ihr. „Runter!“, befahl er erneut. Sie duckte sich. Nicht etwa aber die Axt war es, die über sie hinwegflog. Irgendetwas katapultierte sich hinter ihr aus dem Wasser. Sie spürte es an ihrem Rücken, es streifte sie, warf sie um. Erst als sie sich Sand, Salz und Wasser aus dem Gesicht gewischt hatte, konnte sie riskieren, aufzusehen. Was sich ihr zeigte, war ein völlig absonderliches Bild. Thorin rang mit einer Seeschlange. Sie war alles andere als ausgewachsen. Große Seeschlangen konnten ganze Schiffe versenken, wenn sie sich Mühe gaben. Die hier hingegen hätte ihn zumindest der Länge nach am Stück verschlingen können. Offenbar etwas, das sie aktuell zu tun versuchte, da der Krieger die Hände zwischen ihre vier Kiefer gepresst versuchte, sie eben davon abzuhalten, während er die Beine um den sich windenden Leib gelegt alle Mühe hatte, das Tier irgendwie annähernd still zu halten. Ein Vorhaben, an dem er auf Dauer ebenso scheiterte wie die Schlange an dem Streben, ihn zu beißen. „Hilfe wäre total praktisch!“, schnauzte der Hüne sie keuchend vor Anstrengung an. Die Schlange musste gewaltige Kräfte haben, um ihn so schnell aus der Puste zu bringen. Des Versuchs halber schlug sie mit ihrem Schwert auf das Tier ein – doch ein massiv dichtes Schuppenkleid verhinderte, dass die Klinge auch nur die obersten Schichten durchdrang. Also versuchte sie, mit der Spitze unter die Schuppen zu hebeln – doch das Tier war noch zu jung, als das die Schuppen bereits dafür stark genug ausgeprägt gewesen wären. Wann immer sie aber versuchte, in den Schlund zu stechen, ruckte der Kopf herum und die Kiefer schlossen sich für einen Moment. Das Vieh konnte das Schwert kommen sehen, gänzlich hirnlos war es also nicht. „Wenn ich es sage“, begann sie einer Idee folgend ihren Mitstreiter zu instruieren, „reißt du dem Ding die Kiefer auf und drückst es ein Stück hoch!“ Mit jenen Worten ließ sie ihr Schwert in den Sand fallen und rannte davon, so schnell ihre Beine sie trugen. Sie klopfte wild an der Tür eines Hauses, doch niemand ließ sie ein – also trat sie dagegen. „Geht weg!“, verlangte jemand im Inneren. „Lasst uns in Ruhe!“, erklang es zum zweiten Tritt. Der Dritte sprengte das Schloss aus dem Rahmen. Sierra verschwand im Inneren und ein paar wenige Minuten verausgabte sich Thorin am Strand liegend völlig, um diesen verflixten Riesenwurm annähernd an Position zu halten, ohne dabei von ihm gefressen zu werden oder ganz zufällig ein paar Finger an die scharfen Zähne an den Innenseiten zu verlieren. Was genau Sierra plante, darüber wagte er nicht zu spekulieren – aber er vertraute ihr genug, sich an ihre Anweisungen zu halten. Als das erhoffte Kommando kam, presste er mit aller verbliebenen Kraft das Mistvieh in die Höhe und drückte seine Kiefer so weit auseinander, wie er bewerkstelligen konnte. Nach ein paar Sekunden glaubte er, etwas habe nicht funktioniert, er wollte bereits nach ihr rufen, als es plötzlich einen gewaltigen Ruck gab und der Leib auf ihm schlaff wurde. Nur langsam realisierte der Kahlkopf, was sich ereignet hatte: Sierra hatte die Balliste auf dem Hausdach beladen. Und einen armdicken Bolzen abgefeuert. Auf ihn. Oder genauer gesagt, auf den Schlund der Kreatur, die er hochgedrückt hielt. Und eben dieser Bolzen hatte das Tier durchbohrt, innerlich zerrissen, durchschlagen und sich dann wenige Zentimeter jenseits seiner Lendengegend zwischen seinen Beinen in den sandigen Boden gefressen. Die Wucht hinter dem Schuss musste groß gewesen sein – statt den Bolzen einfach wegdrücken zu können, musste er umständlich rückwärts unter dem Geschoss und der davon aufgespießten Seeschlange hervorkriechen. „Bist du irre?!“, plärrte er Sierra an, die mit einem zufriedenen und wissenden Grinsen zu ihm zurückkehrte, „Nur ein paar Zentimeter und-“ „Ja, das wäre ein Verlust gewesen“, fiel sie ihm ins Wort und zwinkerte ihm zu, „Deshalb habe ich mir ein wenig mehr Zeit beim Zielen gelassen.“ Der Kahlkopf benötigte einen Moment, um das Geschehen zu verdauen, ehe er tief durchatmete und seine Axt vom Boden hob. Auch Sierra sammelte ihre Waffe ein und sie trafen sich bei der Leiche der Kreatur wieder. „Wir müssen hier weg, schnellstmöglich“, begann der Krieger. „Sowas hier“, setzte er an und stieß mit dem Fuß gegen die tote Seeschlange, „rennt in der Größenordnung niemals allein in der Gegend herum. Außerdem ist einer der Naga entkommen, er wird mit Verstärkung zurückkehren. Ich übernehme die Nordseite, du die Südseite, los!“ „Und was soll ich denen sagen?! Wir haben gerade noch einen Mob am Hals gehabt, weil wir ihren kostbaren Glücksbringer geklaut haben!“, wandte sie durchaus berechtigt ein. Thorin hingegen schüttelte den Kopf und trat nochmals näher. Mit finsterer Miene gab er ihr Antwort. „Frag sie einfach, was sie lieber wollen: Leben oder sterben?“ Jeder von ihnen zog in der nächsten Stunde herum, von Haus zu Haus, von Tür zu Tür. Sie klopften, mahnten, Thorin brüllte, Sierra bat. Als sie sich in der Dorfmitte wieder trafen, wirkten beide auf ihre Weise niedergeschlagen. Der Hüne schnaubte frustriert und Sierra konnte ihre Schultern nicht vom Herabhängen abhalten. „Erfolg?“, hakte der Krieger nach. „Wenig“, gab sie zurück, „Ein paar packen, ein paar sind aufgebrochen. Die Meisten weigern sich. Manche weigern sich sogar, einfach nur zuzuhören.“ „Bei mir das Gleiche“, erwiderte der Kahlkopf, „Vielleicht könnten wir noch-“ Thorin brach ab, als es lauter wurde. Das Rauschen des Meeres, so schien es zunächst. Eines recht aufgewühlten Meeres, wurde rasch klar. Und das ohne Sturmwolken oder hohe Wellen. Sie traten zwischen einigen Häusern hindurch, um einen Blick auf die Küste zu bekommen. „Das ist ein Scherz, oder…?“, murmelte der Krieger vor sich hin, als sich an der Küste ein Ungetüm gewaltigen Ausmaßes aufbäumte. Diese Seeschlange musste sich keine Mühe geben, um ein Schiff zu versenken. Eumenes allein mochte wissen, wie alt dieses Monstrum war. Ein im Mondlicht dunkel funkelndes Schuppenkleid, von dem das Meerwasser tropfte, hausgroße Kiefer, die sich in schwindelerregender Höhe öffneten. Irgendwie erwartete Sierra ein animalisches Röhren, Kreischen, Schreien, irgendeine Form von Laut. Aber natürlich war nichts zu hören. Als das Tiere erstmals auf den Boden niederstieß, erzitterte die Erde unter ihren Füßen. Ein ganzes Haus verschwand unter dem gewaltigen Schlund, das Bersten von Holz wurde laut, Geschrei, das schmerzlich rasch verklang. Erst dieser Akt abrupt beendeten Lebens, einer kompletten Familie, ausgelöscht binnen eines Wimpernschlages, schien den Rest von Haslinin wachzurütteln. Als das zweite Haus vernichtet wurde, das Dritte, da schienen die Leute zu begreifen. Ein paar wenige Narren zündeten Lichter an, bemühten sich, ihre Habe zu packen – und jedes leuchtende Haus war eine Zielscheibe für die rasende Kreatur. „Schnell!“, rief Sierra ihrem Begleiter zu. Abermals stürmten sie zwischen die Häuser, versuchten den Leuten zu helfen. Immer wieder erzitterte die Erde unter den Niederstößen. Viele flohen ohne mehr als die Kleider am Leib, vertrauten darauf, das Mondlicht ihnen genügen würde, um aus der Bucht zu entkommen. Als wäre eine gewaltige, rasende Seeschlange nicht genug gewesen, kamen die Naga hinzu. Ein Viertel oder Drittel des Dorfes mochte bereits in Schutt und Asche liegen, als die ersten Speere mit Korallenklingen flogen. Sierra und Thorin wagten sich weiter zur Küstenlinie vor, um die Angreifer so lange wie möglich zum Narren zu halten, beschäftigt zu halten, abzulenken… doch zwei allein gegen die Hundertschar, die hier aufmarschierte, war einfach zwecklos. Ehe sie überrannt wurden, ließen sie sich zurückfallen und versuchten das Schlachtfest zu ignorieren, das in den Häusern der Unglücklichen vor sich ging, die bisher nicht der Seeschlange zum Opfer gefallen waren, sich jedoch auch nicht zur Flucht aufgemacht hatten. Immer weiter zogen sie sich zurück, halfen Stürzenden auf, deckten die Flucht der Dörfler. Mehrere weibliche Naga mussten unter den Angreifern sein. Das wurde ihnen klar, als der Ozean kam. Tief im Dorfzentrum schwappte Seewasser plötzlich über ihre Schuhe hinweg – und stieg rasch an. „Lauft! Lauft, schneller!“ brüllte Thorin dutzende Meter nördlich. Sierra tat es ihm gleich. Mit dem steigenden Wasser kamen Seeschlangen. Nicht die gewaltigen Monstrositäten, nein. Die Hochgiftigen, die man kaum sehen konnte, so klein und flink waren sie mitunter. Keiner von ihnen wusste, wie viele in jener Nacht den Schlangen, der gewaltigen Seeschlange oder den Speeren der Naga zum Opfer fielen. Sie alle, so hatte Thorin stets aufs Neue betont, hatten ihre Entscheidung getroffen. Sie alle hatten mehr als eine Wahl gehabt. Sierra suchte Zuflucht in diesem Wissen. Sie alle hatten selbst entschieden. Und die Konsequenzen dessen tragen müssen. Als sie mit dem Kahlkopf am Morgen an den Klippen stand, die die Bucht des Dorfes umgaben, war von Haslinin nicht mehr geblieben als eine überschwemmte Ruin voller Giftschlangen, Trümmer und Leichen. All das wurde nach und nach vom abfließenden Wasser ins Meer hinausgezogen. Binnen weniger Tage, vielleicht sogar nur Stunden, würde nichts davon übrig sein und nichts mehr darauf hindeuten, dass es hier je Zivilisation gegeben hatte. Wie viele mochten sie gerettet haben? Zwei Drittel? Die Hälfte? Als sie zu helfen versucht hatten, hatte man sie bedroht, sie gefangen nehmen wollen. Andererseits, ohne sie wäre das alles auch überhaupt nie erst geschehen. Was war also davon zu halten, als die Überlebenden jener Nacht sie beide als Helden bezeichneten? „Helden töten andere und sterben früh.“ Seit ihrer Unterredung im Gasthaus, was nun eine Ewigkeit zurückzuliegen schien, wollte ihr dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf weichen. Es waren Menschen gestorben. Und wenn man das so sehen wollte, dann waren diese ihretwegen gestorben. Doch es war ebenso leicht, es anders zu sehen. Sie hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um zu helfen. Und um Leben zu retten. Außerdem leben wir. Sie blickte zu Thorin herüber, der gerade mit dem ehemaligen Dorfvorsteher Haslinins darüber feilschte, ob diese ganze Unternehmung und ihre Hilfe nicht eigentlich eine Belohnung wert wäre, während besagter Vorsteher die fünfzig Gulden in dem prallen Ledersäckchen in seiner Hand wog und von der Idee, davon etwas abzugeben, wenig begeistert schien. Noch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)