Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 42: Memorial -------------------- Ruhig einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen… Schuss. Der Pfeil schnellte von der Sehne ihres Bogens, jagte mit großer Geschwindigkeit davon und bohrte sich in den Hals des Kaninchens. Sie schulterte ihren Bogen und schwang sich in einem Anflug von Leichtsinn unter Aufbietung all ihrer Akrobatik und Agilität von Ast zu Ast herab, bis sie in einer formvollendeten Pose, kerzengerade und mit ausgestreckten Armen, ihre Schuhe auf dem Boden aufsetzte. Isharas Brust hob und senkte sich unter raschen Atemzügen, als ihr Körper mit der plötzlichen und starken Belastung aufzuholen versuchte. Niemand war hier, um sie zu sehen – das wusste sie. Dennoch schweifte ihr Blick herum, wanderte über die dunkle Sumpflandschaft, die knorrigen, uralten Bäume, die hoch aus dem weichen, feuchten Boden schossen und die zahllosen Kronen, die sich dicht an dicht zu einem fast geschlossenen Blätterdach verbanden, um die größten Teile des sternenklaren Himmels zu verdecken, der sich nur langsam heller zu färben begann. Die Dämmerung nahte. „Verdammt!“, entfuhr es der jungen Halbelbe, ehe sie sich sputete. Hastig eilte sie voran, fand ihre Beute auf dem Boden liegend und kniete sich zu dem toten Tier. Sie schloss die Augen, atmete bemüht durch, um etwas Ruhe einkehren zu lassen. „Ich bitte um Vergebung für diesen Akt der Gewalt und… u-und… danke für das Mahl, welches du bescheren wirst.“ Sie schüttelte den Kopf. Wütend war sie nicht, nur… enttäuscht. Viele der Lektionen ihres Vaters waren ihr fremd und seltsam vorgekommen. Viel zu oft hatte sie sie zu hinterfragen versucht, nur um enttäuscht und ängstlich den Blick zu senken, als er sie wissen ließ, das ihr das richtige Blut fehle, um begreifen zu können, wieso diese Traditionen waren, wie sie eben waren. Sie war ein Mischblut. Nicht vollwertig. Mit dem Makel ihrer menschlichen Hälfte gingen allerhand Schwächen einher. Sie würde niemals die Unsterblichkeit ihrer vollblütigen elbischen Verwandtschaft erlangen – und damit, so hatte er sie wissen lassen, fehlte ihr schlicht die Zeit, um das Warum so mancher Regel zu begreifen. Nein, als einziges Mischblut in ganz Esgaroth hatte sie ohnehin andere Sorgen. Sie, mehr als alle anderen, musste sich beweisen. Musste sich selbst beweisen, was sie konnte. Musste ihrem Vater beweisen, dass sie seiner Zeit würdig war, die er in ihre Lehre und Ausbildung investierte. Musste allen anderen beweisen, das ihr Vater sich nicht darin irrte, sie trotz ihrer Unvollkommenheit aufgenommen zu haben. An manchen Tagen war das schwieriger als an anderen. Die Tatsache, dass sie das kleine Gebet beim Schlagen von Wild erstmals seit Monaten wieder vergessen hatte, war ein schlechtes Zeichen für den Heutigen. Nicht etwa, das sie abergläubisch war. Aberglaube ist der Ausdruck der Unvernunft, rezitierte sie in Gedanken. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, das heute ein mieser Tag war. Und sie im Bett hätte bleiben sollen. Wäre das nur so einfach gewesen. Unter einem Seufzen zog sie den Pfeil aus der Wunde und hob das Tier hoch. Nicht viel dran – aber das musste es ja auch nicht. Ihr Vater hatte sie anfangs dafür gerügt, doch obgleich seine Abneigung bestehen blieb, hatte er irgendwann eine gewisse… Toleranz dafür entwickelt, das sie deutlich mehr Fleisch zu verspeisen neigte als jeder andere Elb in ganz Esgaroth. Eine weitere Schwäche ihrer menschlichen Seite, so vermutete sie. Es hatte ihr eine ganze Reihe unschöner Spitznamen seitens der Gleichaltrigen eingebracht. Oder der Jüngeren. Und teilweise auch der Älteren. Ein schweres Seufzen drang aus ihrer Kehle. Sie hätte sich einen Freund gewünscht. Wenigstens einen, der sie verstand. Oder zumindest nicht auf ihr herumhackte für das, was sie nunmal war. Sie bemühte sich nach Kräften, aber selbst die Erfolge, die sie verbuchen konnte, schienen einfach nie genug. Vielleicht würden sie das nie sein. Ihre Miene verlor jeglichen Ausdruck, als sie sich wieder zur Raison rief. Hier im Sumpf zu stehen und zu lamentieren verschwendete lediglich kostbare Zeit. Entsprechend setzte sie ihren Rückweg eilig fort. Sie kannte diese Bäume. Sie kannte die Gesamtheit der Sümpfe nahezu in- und auswendig. Sie wusste, wo die Schnitterdämonen ihre Nester hatten, in welchen Teilen man Menschen über den Weg laufen konnte und in welchen Tümpeln Blutegel so groß wie Spatzen hausten. Sie hatte kaum laufen können, da erkundete sie Esgaroth – die Stadt natürlich, nicht den Boden darunter. Das folgte erst zwei Jahre später. Und mit jedem weiteren Jahr, so schien es, wagte sie sich weiter hinaus. Dieser Tage unternahm sie für den Rat Spähaufträge bis an den Rand der Sümpfe, eine Reise von immerhin sechs Tagen, wenn man die Wege kannte. Diese Ehre hatte sie sich sehr zu ihrem Leidwesen nicht verdient, wie ihr Vater sie aufgeklärt hatte. An jenem Tag strahlte sie breit über das ganze Gesicht, als sie die Rolle in fein säuberlich geschriebenem Elbisch hochhielt. Sie hatte ihre Bitte ohne sein Wissen an den Rat gerichtet. Eine weitere Chance, sich als würdig und fähig zu beweisen. Er aber brach ihre unangemessene Euphorie mit knappen Worten herab. Garien hätte sie ein paar Jahre später von sich aus für Spähaufträge angemeldet – dann, wenn er glaubte, dass sie bereit war. Er war wenig erfreut gewesen, das sie solcherlei Pläne hinter seinem Rücken angestrebt hatte und letztlich war seine Stimme es gewesen, die den Rat davon überzeugt hatte, zuzustimmen. Denn was, so fuhr er sie etwas aufgebrachter an, hätte er auch sonst tun sollen? Die eigene Tochter abzulehnen oder auch nur nicht alles in seiner Macht Stehende für ihren Erfolg zu tun würde ein mehr als schlechtes Bild auf das Haus Morgenwandler im Allgemeinen… und Garien als Haupt des Hauses und Vater der Bewerberin im Speziellen werfen. Sie hatte die Schelte mit Demut und Gefügigkeit ertragen, so wie sie stets alle Zurechtweisungen aus seinem Munde aufnahm. Er bemühte sich um sie, versuchte sein Bestes, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Doch während seine strengen Lehren ihr üblicherweise dennoch irgendwie die Laune verhagelten, vermochten seine harschen Worte dies an jenem Tag nicht. Vielleicht hätte sie besser zuhören sollen. Isharas Fingerspitzen strichen über ihre Flanke. Dort war natürlich nichts. Nur dicke Leinenkleidung unter einer ebenso biegsamen wie leichten elbischen Lederrüstung. Doch vor einigen Jahren noch war dort eine große Narbe gewesen. Ihre erste Spähmission hätte sie fast das Leben gekostet. Sie erinnerte sich noch gut an sein wütendes Gesicht an jenem Tag. Mancher, sogar in Esgaroth, behauptete, das Garien nicht allzu viel Mimik hatte, doch sie wusste es besser. Man musste nur auf die kleinen Fältchen um Mund und Augen achten – und diese um der Götter Willen niemals erwähnen! -, und noch viel ausdrucksvoller waren seine Augen. Dieser ungnädig bohrende Blick jenes Tages bescherte ihr heute noch kleine Schauer. Die besten Heiler hatte er kommen lassen müssen, damit man sie wieder zusammenflickte und die Spuren ihres Versagens entfernte. Die nicht unerheblichen Kosten hatte sie abarbeiten müssen, da er sich zwar nicht weigerte, nicht öffentlich, für ihre Behandlung zu bezahlen, sie doch familienintern Schulden bei ihm damit angehäuft hatte, die es rasch zu tilgen galt. Immerhin hatte sie so einiges über die wild wachsenden Kräuter gelernt, über Salben und Pasten und deren Herstellung, das Mischen von Tränken und Tinkturen und natürlich die Heilmagie – und im Zuge Letzterer eine ganze Menge über Anatomie. Dieses Wissen wiederum hatte ihr bei ihren späteren Spähmissionen gehörig weitergeholfen. Sie hatte ihre Vergiftungen selbst kurieren, ihre Fieber selbst senken und ihre Infektionen selbst behandeln können. Ab und an musste sie ein stattliches Sümmchen ihres mühselig zusammengesparten Geldes dafür ausgeben, einen Heiler zu beauftragen, damit er die Narben entfernte, die sichtbar geworden waren. Und noch etwas extra, damit er vergaß, sie je in seinem Haus gesehen zu haben.   Als sie kurz nach Morgendämmerung ins Haus ihres Vaters einkehrte, saß der bereits am Frühstückstisch. Wie befürchtet legte sich ein ungnädiger Blick auf sie, kaum dass sie den Speisesaal betreten hatte. Doch Garien sagte nichts. Erst als sie gedankenverloren und um Eile bemüht das Kaninchen auf den Tisch legen wollte, räusperte er sich hörbar. „O-Oh, Entschuldigung“, nuschelte sie leise, doch sein Blick wurde nochmals etwas härter. Rasch entsann sie sich, dass sie gerade Fehler auf Fehler häufte. Sie wandte sich ihm zu und verneigte sich kurz. „Ich bitte um Verzeihung“, hob sie an und wagte den Kopf zu heben, um sich seiner Reaktion zu versichern. Sein Blick wurde weicher, zufriedener, ehe er schließlich nickte. Die Blutstropfen, die das Kaninchen derweil verloren hatte, hatte sie mühsam mit ihrem Schuh abfangen müssen. Es würde Stunden dauern, das Blut aus dem Leder zu waschen, aber Tage, es wieder aus der Rindenstruktur des Bodens herauszubekommen. Und sie wusste aus Erfahrung, wie ungehalten Garien darüber war, wenn man sein Haus verschandelte oder sie mit heruntergekommenen, liederlichen Kleidern herumrannte. Als Tochter des Hausherrn, des Herrn des Hauses Morgenwandler obendrein, hatte sie präsentabel auszusehen. Stets und allzeit. Andernfalls hätte sie nicht die paar für ihre Verspätung dringend benötigten Minuten investiert, um die Blätter, kleinen Äste und Spinnweben aus ihren Haaren zu fischen, die sie auf ihrer Jagd aufgelesen hatte. Wie die anderen Jäger und Späher es schafften, das zu verhindern, war ihr schleierhaft. Sie hatte einmal versucht, sie zu fragen – und bekam nur zur Antwort, dass sie jemandes anderen Zeit verschwenden solle. Dann wiederum war sie ohnehin ein Sonderfall. Die Sümpfe um Esgaroth waren gefährlich – jeder wusste das. Deshalb verließen Jäger die halbwegs sicheren Gefilde der Stadt auch immer nur in Dreiergruppen. Sie dagegen hatte niemanden, der sie begleitete. Weil die Zusammenstellung dieser Gruppen auf freiwilliger Basis erfolgte. „Konzentration“, mahnte Gariens Stimme und durchbrach ihre Gedankengänge. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie einen der Stühle anrempeln konnte, der etwas aus der Reihe gezogen an der Speisetafel stand. Sie schüttelte kurz den Kopf, bat abermals um Entschuldigung und nahm dann auf dem Stuhl Platz, um ihr eigenes Frühstück zu beginnen. Eine Weile schwiegen sie beide, aßen in Eintracht. Doch da gab es etwas, das ihr einfach keine Ruhe lassen wollte. Es waren gute Neuigkeiten, und angesichts des Umstandes, dass es solche in ihrem Leben selten zu geben schien, wünschte sie sich umso mehr, sie mit ihrem Vater zu teilen. Als sie ihr mageres Frühstück aus Grünzeug heruntergeschlungen und sich erfolgreich eingeredet hatte, das sie davon tatsächlich satt geworden war, harrte sie noch einen Moment ungeduldig aus, ehe sie anheben wollte, kaum dass sie das letzte Stück Salat in seinem Mund verschwinden sah. Jedoch stoppte Garien kurz bevor das grüne Blatt die Barriere seiner Lippen passierte. Eine Braue hob sich leicht und sein Blick begann über den Tisch hinweg in ihre Richtung zu wandern. Oh oh… Einen Moment musterte er sie, wie sie da saß, unbehaglich auf ihrem Platz herumrutschte in dem nutzlosen Versuch, sich seinem Urteil zu entwinden. Schließlich, unter einem gedehnten Seufzen, senkte er das Besteck wieder zum Teller. „Gibt es einen Grund für die Aufdringlichkeit, mit der du die Ruhe meines Frühstücks störst?“ Sie kannte den leicht enervierten Ton ihres Vaters schon zu gut – gerade im Umgang mit ihr selbst -, um sich daran noch wirklich zu stören, weshalb ein begeisterter Funke in ihre Augen trat, sie tief Luft holte und zu erklären begann. „Du kennst bestimmt Meister Lamasillin, der die besten Bögen in ganz Esgaroth herstellt! Ich habe vor zwei Jahren schon bei ihm gefragt, ob ich einen seiner Bögen haben könnte.“ Garien hob gebietend die Hand und ihr Mund schnappte beinahe reflexartig zu. „Ich erinnere mich“, erklärte er, „Ich erinnere mich auch, dass er dir absagte.“ Erst als er die Hand wieder senkte, nickte sie… schüttelte dann jedoch den Kopf, als würde sie sich selbst korrigieren. „Genau genommen sagte er, dass ich später nochmal fragen solle, wenn ich fähig sei, seine Bögen auch zu führen und sie wertschätzen könnte. Also habe ich geübt und geübt und geübt und ihn alle halbe Jahre wieder gefragt.“ Immer hektischer und euphorischer erzählte sie, die Anspannung in ihr schien zuzunehmen, fast unerträglich zu werden, als könne sie vor lauter Glück und Freude jeden Augenblick platzen. Gariens Braue wanderte noch ein klein wenig höher. „Er hat ja gesagt“, löste er das wenig fordernde Rätsel und sah sich von Isharas übereifrigem Nicken bestätigt, während er selbst keine Miene verzog. „Ich musste ihm zeigen, was ich kann und er meinte, dass er mir einen seiner Bögen sogar zur Hälfte des Üblichen geben würde!“ Es war dieser Moment, in dem Garien kurz zu erbeben schien, ehe ein Lachen aus seiner Kehle drang. Isharas Freude verflüchtigte sich rasant. Wo war der Fehler? Was hatte sie falsch gemacht? Sein Lachen, dünn, leise und allzeit irgendwie hart klingend, erscholl üblicherweise nur, wenn jemand sich dumm anstellte. Sie mochte diesen Laut nicht. Natürlich hätte sie dergleichen nie geäußert, aber es war eins von drei Dingen, die sie an ihrem Vater nicht leiden konnte. Sein Lachen. Es klang so gar nicht wie das fröhliche Gelächter, das sie dann und wann an anderen Stellen Esgaroths hörte. Als der Hausherr sich wieder beruhigt hatte, senkte er einen hintergründigen Blick auf Ishara. „Die meisten Elben führen Bögen aus seinem Handwerk. Weißt du auch, wann sie sie führen?“ Wie von ihm zweifellos erwartet, schüttelte sie den Kopf. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, das ihr die Antwort nicht gefallen würde. „Zwei oder drei Jahrhunderte, nachdem er ihnen die Erlaubnis erteilte. Dir gibt er ihn zur Hälfte, weil ich dein Vater bin – und vielleicht aus Mitleid, weil du sonst nicht viel davon haben wirst.“ Für Ishara brach eine Welt zusammen, als jene Worte erklangen. Zwei oder drei Jahrhunderte, wiederholte sie in Gedanken. Nie hatte sie sich der Hilfe ihres Vaters verwehrt. Familie gab aufeinander Acht, Familie war füreinander da. Auch wenn er, sehr zu ihrem Unbehagen, sehr viel häufiger für sie da war als umgekehrt. Das war ja eben einer der Gründe, warum sie ständig versuchte, sich nützlich zu machen und seinen Wünschen allzeit Folge zu leisten. Es war das Mindeste, was sie tun konnte. Aber Mitleid? Sie wollte kein Mitleid. Sie brauchte kein Mitleid. Sie würde sich diesen Bogen verdienen! Nun, eigentlich hatte sie geglaubt, sie hätte ihn sich bereits verdient. Aber dem war offenbar nicht so. Während Trotz sich in ihrem Geist einzunisten begann und sie fieberhaft überlegte, wie sie in den Besitz dieses Bogens kommen konnte – und zwar nicht erst in zwei oder drei Jahrhunderten, sondern in zwei oder drei Jahren, höchstens -, entging ihr völlig, wie Gariens Miene sich veränderte. Erst, als er sie ansprach, hob sie aus ihren Gedanken gerissen das Haupt – und schluckte schwer. Sie kannte diesen Blick. Diesen ungnädigen, richtenden, urteilenden Blick. Sie hatte etwas falsch gemacht. Nicht irgendeine kleine Lappalie wie das tote Kaninchen auf dem Essenstisch oder vorgestern der Grasfleck auf der Hose an ihrem Hintern. Etwas Größeres. Etwas Wichtiges. „Da wir aber gerade von Bögen sprechen“, begann der Herr des Hauses und Ishara wusste augenblicklich, worum es ging. „Das war nicht meine Schuld!“, warf sie hastig ein, „Iorohm hat-“ Garien hob die Hand und sie schwieg augenblicklich. Einen Moment kämpfte Trotz mit aller Macht dagegen an, versuchte sie dazu zu überreden, notfalls dazu zu zwingen, ihre Erklärung fortzuführen. Doch am Ende schloss sie ihre Lippen und fügte sich dem Unausweichlichen. „Der junge Mann heißt Iorôhm, merke dir das endlich“, mahnte Garien zunächst. In einem letzten Aufbegehren versuchte ihr Trotz von ihr zu verlangen, dass sie ihren Vater endlich wissen ließe, was dieser gemeine Schuft alles mit ihrem Namen anstellte – doch auf diese Impulsivität zu hören brachte nur Ärger und Unmut. Das hatte sie früh und sehr nachhaltig lernen müssen, entsprechend senkte sie den Kopf für einen Augenblick. Ehe ihr einfiel, das Garien das nicht gutheißen würde – also sah sie wieder zu ihm auf und versuchte das Kommende mit Würde zu tragen, so wie von ihr verlangt wurde. „Du hast versagt“, begann er nun das eigentliche Thema anzureißen und schon jene ersten Worte schmerzten sie fürchterlich, „Ganz gleich, wie du es vor dir selbst zu rechtfertigen versuchst. Mir kam zu Ohren, was geschehen ist. Mir kam auch zu Ohren, dass niemand ihm nachweisen konnte, die Windstöße produziert zu haben, die deine Pfeile an den Rand der Zielscheibe lenkten.“ Natürlich konnte das niemand – weil’s einfach niemand wollte!, zürnte sie innerlich, blieb jedoch völlig ruhig und gefasst. „Selbst hätte Meister Lamasillin dir einen seiner Bögen schenken wollen, ich bezweifle, dass du dafür bereit gewesen wärst. Dein Versagen in diesem Wettbewerb stellt das bestens zur Schau. Du wirst am nächsten Bogenschießen nicht teilnehmen und-“ „Aber dann stehe ich da wie ein Feigling!“, fuhr sie ihrem Vater mit einem Schlag aufgewühlt dazwischen – Garien hob die Hand, doch diesmal schlossen sich ihre Lippen nicht, „Und dieser Hund glaubt, er hätte gewonnen!“ „Ishara!“, donnerte die plötzlich deutlich an Kraft und Lautstärke angeschwollene Stimme ihres Vaters durch den Speisesaal. Mit einem Schlag wurde es totenstill. Die Halbelbe war erschrocken zuammengefahren, die Lippen fest aufeinander gepresst, das sie einer weißen Linie glichen, kauerte sie nun regelrecht in ihrem Stuhl und blickte zu ihm auf. Er war vom Stuhl regelrecht aufgesprungen, die Hände auf den Tisch gestemmt, beugte er sich ein Stück vor und funkelte ihr zornig entgegen. Ihr Blick trübte sich ein, als ihr die Tränen empor stiegen, doch mit aller Willenskraft, die sie aufbieten konnte, hielt sie sie zurück, hielt sie wenigstens davon ab, sich in heißen Strömen über ihre Wangen zu ergießen. Garien bedachte sie eine Weile mit einem beinahe schon rasenden Blick, ehe er die Augen schloss, bemüht tief durchatmete, ein schweres Seufzen folgen und sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich einen Moment die Nasenwurzel, ehe er die Lider wieder öffnete. „Du wirst tun, was ich dir sage – verstanden?!“ Noch immer schwang sein Ärger in seiner Stimme mit, doch immerhin war er wieder auf die gewohnten Pegel zurückgekehrt und saß. Sie nickte beklommenen Blickes. „Gut. Das gilt insbesondere für das Nächste. Ich will von dir kein einziges Widerwort dabei hören. Iorôhm hat Interesse an dir bekundet.“ Jene Worte hatten kaum Gariens Mund verlassen, da weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Die Lippen noch immer fest aufeinander gepresst, um auch ja kein Risiko einzugehen – allmählich hatte sogar der Schmerz nachgelassen und sie spürte einfach gar nichts mehr -, drang nicht ein einziger Laut aus ihrer Kehle. Ihr Vater sprach weiter. Erklärte. Er wisse nicht, welche Art von Interesse der Elb an ihr hätte und wie ernst ihm das Ganze sei, doch für den Moment gedachte Garien alles mit der gebührenden Professionalität zu behandeln – ein Vorgehen, welches er ebenso von ihr erwartete. Das inkludierte insbesondere, dass sie nicht länger in Konkurrenz zu ihm trat oder ihm absurde Streiche zu spielen versuchte – eben nichts tat, das ihn verärgern könnte. Wie benommen nickte sie, einige Minuten später, so schätzte ihr Zeitgefühl. Oder ein paar Stunden – was machte das schon für einen Unterschied? Sie erhob sich mechanisch und tat alles richtig, wirklich alles. Sie platzierte das benutzte Besteck korrekt auf dem Teller, rückte den Stuhl millimetergenau an die richtige Stelle am Tisch heran, wünschte ihm noch einen angenehmen Vormittag und wollte den Raum verlassen. Vielleicht war ihr Schritt dabei etwas eiliger als sonst, aber abseits dessen… tat sie alles so, wie man es stets und allzeit von ihr gewünscht hatte. Sie war diesem Alptraum – denn etwas anderes konnte das hier ja nun wirklich kaum sein – fast entkommen, als Garien sie nochmals zurückhielt. „Ishara?“ Sie zuckte zusammen. Ein Teil des watteweichen Tuches ihres Schocks zerfaserte. Noch immer benommen, aber mit einem leichten Zittern wandte sie sich zu ihrem Vater um. „Caerwen Morgenwandler kommt heute Nachmittag nach Esgaroth. Sie ist für drei Tage hier zu Gast. Ich will, dass du sie im Auge behältst und mir Bericht erstattest. Versuch dabei unauffällig zu sein.“ Sie nickte ebenso stumpf und mechanisch, wie sie fast den Raum verlassen hatte, doch ehe sie die Tür endlich zuziehen konnte, erklang abermals Gariens Stimme. „Und Ishara?“ Notgedrungen schob sie die Pforte nochmals ein Stück weiter auf und blickte zu ihm. „Wechsle kein Wort mehr mit ihr als nötig.“ Als er seinen Blick von ihr löste und das Besteck wieder aufnahm, auf dem noch immer das letzte Blatt Grün wartete, war das Gespräch offenbar beendet. Sie zog sich in ihr eigenes kleines Zimmer zurück. Die Einrichtung war mehr als karg. Sie hatte ein paar Dinge mitgenommen, die sie auf ihren Späherreisen fand. Seltsam geformte Steine und dergleichen. Das meiste Getier, obgleich es ihr am Herzen lag, ließ sie lieber dort, wo es hingehörte. Ein Hund war ihr einmal nachgelaufen, als sie gut zwei Tagesreisen vom Menschendorf Ilmwacht entfernt war. Eine ihrer weitesten Reisen bis zum heutigen Tage. Das Tier hatte sich als anhänglich erwiesen, weit anhänglicher, als gut sein konnte – und das, obwohl es ausgewachsen schien. Für Ishara bewies das nur einmal mehr, wie sehr ihr Vater im Recht war, wenn er über die mangelnde Vernunft und Vorsicht der Kurzlebigen zürnte. Ein Wolf war ein stolzes und edles Tier, ein gerissener Jäger, ein Überlebenskünstler. Diese verzüchtete Version davon, die sich durch nicht mehr als treue Augen und ein unnatürlich sanftes Wesen auszeichneten, waren eigenständig nicht mehr überlebensfähig! Ishara hatte jedoch, das musste sie zumindest sich selbst eingestehen, eine Weile mit dem Gedanken gespielt, ihn mitzunehmen. Es wäre zweifellos schön gewesen, einen Gefährten zu haben. Einen Freund vielleicht. Auch, wenn der Hund sich nie über sie lustig machen könnte. Aber vielleicht war ja gerade das der Vorteil daran. Dann jedoch hatte sie sich gefragt, was wohl geschehen würde, was ihr Vater wohl denken, sagen, tun würde, wenn er davon je erführe. Also hatte sie den Hund gelassen, wo er war. Sie hatte bemerkt, dass er noch ein paar Tage versucht hatte, mit ihr mitzuhalten, während sie sich auf den Rückweg begeben hatte. Dabei steuerte er immer tiefer in die Sümpfe hinein. Diese, so war sie sich völlig sicher, würden ihn zweifellos auf die eine oder andere Weise getötet und verschlungen haben. Ein Gedanke, der – obgleich es ein völlig natürlicher Prozess war -, ihr dennoch Unbehagen bereitete. Kummer gar. Was sie an ihrem Zimmer dagegen nicht leiden konnte, war der verdammte Kleiderschrank. Vollgestopft mit hübschen Trachten und Gewändern, die sie zu Bällen und Begrüßungen irgendwelcher Diplomaten und Gäste tragen musste. Sich fein herauszuputzen war grundsätzlich nichts, was ihr zuwider war. Sie empfand sich selbst durchaus als… nun, vielleicht nicht schön, aber zumindest, ja, ein klein wenig hübsch, wenn sie in einem der Stücke vor dem Spiegel stand. Doch auf dem sozialen Parkett war es so viel schwieriger, die Spielregeln zu kennen und zu befolgen. Je nach Situation und Anlass, ja teilweise sogar je nach Person, variierten diese Regeln ein klein wenig – was fatal war, da man es leicht übersah – oder ein gewaltiges Stück – was fatal war, da man nur sehr wenig Zeit hatte, sich in die neuen Regeln einzufinden. Und es war selten möglich, einfach mal eben jemanden zu fragen. Das Miteinander machte es so viel unangenehmer und kniffliger, sich zu beweisen, Form und Haltung zu wahren, zu demonstrieren, was sie allzeit zu zeigen versuchte: Das sie es wert war. Unter einem Ächzen ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Nach so vielen Nächten in der freien Wildnis, in der sie sich inzwischen so viel heimischer fühlte als in der Stadt selbst, so viel willkommener auch zwischen all denen, die sich nicht für ihre Gegenwart scherten, als unter jenen, die sie ablehnten, wirkte es ungewohnt weich, beinahe schon unangenehm. Sie rollte sich auf den Rücken und starrte die hölzerne Decke an, folgte mit ihrem Blick dem Verlauf einer tieferen Furche in der Rinde. Ihre Gedanken aber drifteten zu Caerwen. Ihre Tante war höchst selten in Esgaroth anzutreffen. Der Rat schien ihr Urteil hoch zu schätzen, immerhin gab man ihr ständig wieder und wieder neue Aufträge und Missionen, die sie stets weit über die Grenzen des Sumpfes hinaus trugen, zu Elben in anderen Städten, zu Elben in fernen Ländern, sogar zu den Menschen. Wie es dort wohl sein mochte? Sie kannte sie daher jedoch kaum. Immer nur ein paar flüchtige Tage war sie da, zuletzt vor ein paar Jahren. Vage Erinnerungen quollen bei dem Versuch empor, dem Namen ein Gesicht zuzuordnen. Gekicher und Gelächter, das haltlose Husten einer tiefen Männerstimme, als dessen Kiefer die in seinen Salat geschmuggelten Senfkörner zerbissen hatten. Und Gariens Blick. Dieser fürchterliche, ungnädige Blick, der sie tausendfach abstrafte und ihr noch mehr Rüge ankündigte, sollte sie auch nur ein einziges Widerwort einlegen, ehe er sich wortlos ihrer Tante zuwandte, die sie zu diesem Unsinn… nun ja, nicht einmal angestiftet hatte. Es war ja nicht so, als hätte sie irgendetwas getan. Sie war einfach nur dabei gewesen. Aber das hatte völlig ausgereicht. Diesmal, so nahm sie sich vor, würde sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Sie würde ihren Vater stolz machen, sie würde sich als fähig beweisen und sie würde seinen Auftrag perfekt ausführen, ohne in irgendwelchen Unsinn verwickelt zu werden. Und vielleicht, mit etwas Glück, würde er sich dann das… das Andere nochmal überlegen. Unter einem Frösteln und Schaudern setzte sie sich auf und begann ihre Sachen zusammen zu suchen. Innerstädtische Spähmissionen – im Grunde spionierte sie ihrer Tante nach, nicht wahr? – waren immer eine etwas anders gelagerte Herausforderung als jene in der freien Wildnis. Mehr Augen, neugierigere Ohren und unliebsame Nachfragen. Sie musste schickter sein als sie alle zusammen. Es war eine Herausforderung – und sie gedachte sie zu bestehen. Du hast versagt, klang es wie ein Echo schmerzlich in ihren Ohren nach. Oh nein, sie würde bestehen!   Caerwen Morgenwandler war leicht zu finden. Das mochte zum einen daran liegen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in Esgaroth schwarzhaarig war, während sie seltsamerweise – niemand hatte sich das je recht erklären können – komplett weißes Haar hatte, welches ihr obendrein bis zu den Kniekehlen herabreichte. Außerdem waren Teile ihrer Rüstung geschmiedet, während elbische Rüstungen üblicherweise vollständig aus Leder bestanden und nur minimale Metallteile für beispielsweise Gurte oder Schnallen hatten. Reichte das noch nicht, kam all der merkwürdige Schnickschnack dazu, den sie von ihren Reisen mittrug. Einige schwarze Ringe mit goldenen Verzierungen trug sie um den Hals, beispielsweise. Ishara erinnerte sich, dass ihre Tante ihr bei ihrem letzten Besuch erklärt hatte, dass sie das Geschenk eines Stammes waren, aus einem weit entfernten Land. Dort trugen ausschließlich die Frauen solche Ringe und deren Anzahl symbolisierte ihre Schönheit – je mehr Ringe, desto besser. Sie trug drei davon – ob das nun gut oder schlecht war, konnte Caerwen selbst nicht beantworten. Doch sie hatte herzlich gelacht, als Ishara auf ihre Frage hin, ob sie sie denn hübsch fände, errötet war. Damals, vor vier Jahren, noch zarte dreizehn Winter alt, hatte sie wenig für den Reiz eines Körpers erübrigen können. Doch nach ihren noch immer reichlich kindlichen Ansichten war Caerwen eine der schönsten Frauen, die sie je gesehen hatte. Ihr Gesicht lief spitz und scharfkantig zu, ihre langen spitzen Ohren waren mit allerhand Ringen verziert, ihre Mähne hatte sie stets mit bunten Bändern hochgebunden oder geflochten und sie schien immer dieses von Schalk und Trickserei geprägte Lächeln zu tragen, das nur von jenem vielschichtigen, lebendigen Leuchten in ihren hellgrauen Augen überstrahlt wurde. Was ihre Tante jedoch noch auffälliger machte als die Tatsache ihres Erscheinungsbildes war der schlichte Umstand: Sie war laut. Caerwen hielt nicht viel von den Traditionen des elbischen Volkes von Esgaroth. Oder des elbischen Volkes im Allgemeinen, wie Ishara im Stillen vermutete. Sie war laut, sie gab sich burschikos, wenn ihr der Sinn danach stand, sie lachte herzlich, tief und ausgelassen. Sie beschränkte sich nicht. Hielt sich nicht zurück. Nahm nur Rücksicht, wenn es um potenzielle Schäden und Verletzungen ging, nicht aber, wenn Etikette und Höflichkeit bedroht waren. Als sie an diesem Tag Esgaroth betrat, wusste das in kürzester Zeit nahezu jeder, denn der Frieden und die idyllische Ruhe der Stadt wurden nachhaltig gestört. Und für die nächsten drei Tage würde das so bleiben? Doch sie kam nicht allein. Irgendwer musste sie schließlich zum Lachen gebracht haben. Ishara hatte Position in den höchsten Wipfeln der Kronen bezogen. Hier oben war das Geäst nicht stark genug, um auch nur eine Besenkammer wachsen zu lassen. Selbst die Posten der Wachen und Patrouillenrouten waren tiefer gelegen. Das bedeutete zwar, das ihr eine Menge Holz und Blätterwerk im Weg war, aber sie konnte sich dennoch leise und rasch voran bewegen und mit einigen Sichtlücken hier und da genau das tun, was ihr aufgetragen worden war. Nach einem kleinen Positionswechsel konnte sie auch endlich Caerwens Begleitung besser betrachten. Zwei Männer… Menschen, offenbar. Einer von ihnen schien dünn und fein gekleidet. In einem seltsam gefärbten Blondton liegende, schulterlange Haare. Als er sich umsah, fing sich zudem kurz das Licht an seinem Gesicht. Sie glaubte erst, er würde ein Monokel tragen – sie hatte zumindest von diesen Dingern gehört -, und wagte sich näher heran, um das Stück begutachten zu können. Doch zu ihrer Überraschung handelte es sich nicht um geschliffene Gläser, sondern um einen Kristall oder Edelstein… den der Kerl in der Augenhöhle trug. Ein kaltes Schaudern zog ihr durch Mark und Bein. Mit dem, so entschied sie, wollte sie lieber nichts zu tun haben. Viel zu unheimlich. Ihr Blick wanderte zu dem anderen und sie seufzte gedehnt. Mit dem, so setzte sie nach, würde sie auch wenig zu tun haben wollen. Nichts, bevorzugt. Er war so groß und breit gebaut, das sie glaubte, er könne einen der Elben einfach in der Mitte durchbrechen. Eine große Pranke fuhr über den kahlrasierten Schädel, während die Muskeln unter seinem Gelächter erzitterten. Er trug nicht mehr als einen ledernen Torsopanzer, doch auf seinem Rücken fand sich ein merkwürdig geformter Schild und eine Streitaxt. Ein Leibwächter Caerwens, vielleicht? Die Theorie wurde verworfen, als die zwei Männer die Hand zum Abschied hoben und in eine andere Richtung davon schritten als ihre Tante. Wobei davontrampeln sich bezeichnender anfühlte – die Art, wie diese Menschen sich bewegten, war einfach lächerlich. Ein Wunder, das solch ein Volk sich überhaupt jemals irgendwie an irgendwas anschleichen konnte. Wie von Garien angewiesen, folgte sie Caerwen den verbleibenden Tag lang. Sie quartierte sich in einer der vielen Anwesen des Hauses Morgenwandler ein, richtete ihr Zimmer ein, nahm ein Bad, speiste ausgiebig – mit mehr Fleisch auf dem Teller, als sie je bei einer Mahlzeit Gariens erlebt hatte. Ein Umstand, der sie durchaus zu einem Grinsen brachte. Vielleicht, so erwog sie einen Moment, wollte ihr Vater sie auch voneinander fern halten, weil sie Ähnlichkeiten hatten…? Doch wenn dem so war, dann bewies Caerwens hoch angesehene Stellung als Abgesandte des Rates eindeutig, dass sie viel erreichen, es weit bringen konnte! Selbst als Halbblut, setzte sie in einer Mischung aus Hoffnung und Bitterkeit nach.   Die Stunden krochen dahin. Es war ein unglaublich anstrengender Prozess, einfach nur eine bequeme Position auf dem Ast zu finden und so lange auszuharren, bis sie begann, unbequem zu werden, nur um dann erneut herumzurutschen. Alles, was Caerwen tat, waren Verrichtungen des Alltags. Das, was eine Reisende vermutlich eben so tat, wenn sie ihren Zielort erreicht hatte. Selbst der kleine Ausflug in die Stadt, bei dem sie sich kurz mit Freunden zu treffen schien oder die Märkte besuchte und ein paar Stände mit einigen Münzen weniger verließ, konnte Isharas unbändige Langeweile nicht mehr im Zaum halten. Als ihre Tante sich endlich, endlich, zu Bett begab, eilte die junge Halbelbe rasch heim. „Ishara?“, hörte sie die Stimme ihres Vaters aus dem Salon, gerade als sie sich in ihr Zimmer schleichen wollte. Sie war gut, wirklich gut… aber einfach nicht gut genug. Nicht, wenn ihr Vater mit lauernden Ohren in einem nahezu stillen Zimmer saß und nicht mehr tat als gelegentlich die Seiten seiner Lektüre umzublättern. Insgeheim hatte sie gehofft, sie könne sich zu Bett begeben und ihm den Bericht morgen beim Frühstück liefern. Nun jedoch gab sie sich unter einem lautlosen Seufzen geschlagen und trat in den Salon ein. Er wies ihr einen kleinen Schemel als Sitzgelegenheit und kaum, das sie Platz genommen hatte, sah er sie erwartungsvoll an. Zu diesem Moment wurde ihr erstmals klar, dass sie eigentlich gar nicht wirklich wusste, wonach sie hätte Ausschau halten sollen. Sie hatte Caerwens gesamten Tagesablauf gesehen und da war nichts, nichts, das der Erwähnung wert gewesen wäre. Oder? „Nun?“, hakte Garien mit etwas weniger Wärme in der Stimme nach, als die Ungeduld begann, ihn zu treiben. Also begann sie zu erzählen. Der Anfang schien ihn auch durchaus sehr zu interessieren, insbesondere die zwei Herrschaften, die mit ihr zusammen die Stadt betreten hatten und mehr noch, wie die drei untereinander Umgang pflegten. Kaum aber, das sie zu den Dingen kam, die sich danach zugetragen hatten, wurde er unaufmerksamer, bis er sie schließlich unterbrach – obwohl sie noch nicht einmal die Hälfte ihres Tagesablaufes wiedergegeben hatte. „Hat sie die beiden nochmal wiedergetroffen?“ Sie schüttelte ergeben den Kopf. „Nun gut“, setzte er nach einer Weile nach und verfiel abermals kurz in Schweigen, „Du kannst gehen und deine Aufgabe fortsetzen.“ Die Aufgabe… fortsetzen? Etwas irritiert starrte sie Garien an, der ihren Blick lediglich ausdruckslos erwiderte. Schließlich dämmerte ihr, worauf das hinauslief. Caerwen würde drei Tage hier sein. Das hieß, dass sie – da sie ja dem Wunsch ihres Vaters entsprechen wollte – zwei Nächte ohne Schlaf würde auskommen müssen. Offenbar. „Ist sonst noch etwas?“, erkundigte sich ihr Vater nach einem Moment. Hastig schüttelte sie den Kopf und sah zu, dass sie ihm seine Ruhe ließ. Er mochte es nicht, wenn man ihn beim Lesen unterbrach.   Wieder im Baum angelangt, starrte sie kurz in Richtung des Fensters. Caerwen schlief. Wie überraschend. Unter einem Seufzen suchte sie eine Position, die halbwegs sicher und bequem war und tat, was sie in der Wildnis auch zu tun pflegte – in Alarmbereitschaft versuchen, jede kostbare Minute Ruhe und Frieden für ein klein wenig oberflächlichen Kurzschlaf zu nutzen. Wie sehr ihr jedoch die zuvor erst abgeschlossene Jagd noch in den Knochen steckte, bemerkte sie erst, als sie Stunden später wieder aufwachte - als die Sonne hoch genug gestiegen war, damit ihre Strahlen eine Lücke im Blätterdach gerade im rechten Winkel trafen, damit ihr das Licht ins Gesicht fiel. Sie nieste – und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Hastig rappelte sie sich auf und krallte sich einen Moment lang regelrecht in den Ast unter ihr, ehe sie zu sich kam und leise aufstöhnte. Sie streckte sich ausgiebig, warf einen Blick um sich, ehe sie ihn zu jenem Fenster zu Caerwens Zimmer gleiten ließ. Sie war weg. „Verdammt!“, fluchte Ishara hastig, rappelte sich kreidebleich auf und jagte davon. Eine weißhaarige Elbe in Esgaroth mit einer partiell metallischen Rüstung, das konnte so schwer nicht zu finden sein, sie würde einfach nur schnell sein müssen, sehr, sehr schnell, ehe irgendwas passierte oder- Oh weh… Caerwen saß, wie sie nach einigen sehr abgehetzten Minuten feststellte, unweit ihrer Unterkunft auf einer kleinen Terrasse und ließ sich von den Bediensteten des Ladens einen zu ihrem süßen  Gebäck passenden Tee aufgießen. Mit am Tisch saßen die zwei Männer vom Vortag. Sie wirkten ernster als am gestrigen Nachmittag, unterhielten sich leise. Was, wenn das wichtig war? Was, wenn sie hören musste, was da vor sich ging? Was, wenn sie hier und jetzt, in diesem Moment, versagte?! Ishara schlich sich näher heran, bemüht, fast über sie zu kommen. Mit etwas Glück könnte sie dann hören, worüber gesprochen wurde und- Ein kurzer Aufschrei entglitt ihrer Kehle, als ihr Fuß ins Leere trat. Der Ast, der da hätte sein müssen und auch gerade noch gewesen war, befand sich ein paar Zentimeter weiter links. Sie spürte, dass Magie am Werk war. Jemand hatte das Geäst manipuliert. Doch ehe sie sich darüber Sorgen machen konnte, stürzte sie bereits. Hier oben… waren die Äste dünn. Schwach. Immer wieder spürte sie, wie sie gegen sie prallte, wie die Äste brachen, splitterten, sich in ihre Flanke bohrten, doch nichts schien ihren Fall aufzuhalten oder auch nur nennenswert zu bremsen – und mit dem Herumrudern ihrer Arme bekam sie auch auf Gedeih und Verderb nichts zu fassen. „Thorin!“ hörte sie eine Stimme unter sich. Als ihr klar wurde, dass nichts ihren Aufschlag bremsen oder dämpfen würde, kniff sie die Augen zusammen und versuchte sich gegen das Schlimmste zu wappnen. Sie spürte zwar, dass sich Magie sammelte, aber was sollte da schon noch geschehen? Dann jedoch drückte etwas mit ungeheurer Kraft gegen ihren Rücken, ihre Beine, Arme, ihren Kopf. Ein wildes Fauchen toste in ihren Ohren, als mächtige Winde ihre Haare wild herumflattern ließen. Geistesgegenwärtig klammerte sie sich an ihren Köcher, ehe der enorme Windstoß die Geschosse nach oben befördern konnte. Unter sich hörte sie, welches Chaos der Windzauber verursachen musste. Tische wurden umgeworfen, Stühle zerschlagen und alles, was kleiner als ein Kopf und leichter als ein Stein dieser Größe war, wurde herumgewirbelt oder hob sogar völlig ab. „In Position“, blaffte eine tiefe, raue Männerstimme. Der Wind verebbte schlagartig, das Scheppern und Klirren unter ihr wurde einen Moment lauter, sie spürte, wie sie wieder stürzte… und dann, wie sie gefangen wurde. Als sie die Augen wieder zu öffnen wagte, standen eben jene drei, von denen sie sich eigentlich hatte fernhalten sollen, um sie herum. Der kahlköpfige Hüne ließ sie von seinen Armen herab. „Hübsche Flugeinlage“, merkte er grinsend an. Caerwen lachte kurz auf und trat an sie heran. „Hey Liebes! Alles in Ordnung? Uh, das sieht fies aus“, meinte sie mit einem Nicken auf die zahlreichen Splitter, die sich an unzähligen Stellen in ihre Haut gebohrt hatten, „Aber nichts allzu Übles. Dann wohl erstmal zum Förmlichen, hm? Mortimer, Thorin, darf ich vorstellen, meine Nichte Is-“ „Ich muss weg!“, platzte Ishara abrupt heraus, als sie realisierte, was für ein Chaos um sie herum herrschte, wie übel der Baum von ihrem Sturz zugerichtet worden war – und das es nicht lange dauern konnte, bis die ersten Wachen und Schaulustigen vor Ort wären. Panisch stürzte sie davon und verschwand so schnell sie konnte von dieser Ebene der Stadt. Sie sprang aus vollem Lauf einfach herab, fing sich an einer Kletterranke und schwang damit bis zur nächsten Plattform, auf der sie um die erste Häuserecke verschwand, die sie finden konnte.   Erstaunt blickte Thorin dem jungen Mädchen hinterher. „Eindrucksvoll“, meinte er und wandte sich mit einem breiten Grinsen Caerwen zu, „Wäre praktisch gewesen, wenn sie das ein paar Sekunden vorher gekonnt hätte, hm?“ Mortimer grinste und auch die Botschafterin des Hauses Morgenwandler lächelte verschmitzt, ehe sich alle drei wieder an dem frisch aufgerichteten Tisch niederließen. „Was hat sie da oben überhaupt gemacht?“, hakte der Hüne nach und hob den Kopf in den Nacken. Caerwen zuckte mit den Schultern. „Wenn du mich so fragst? Keine Ahnung. Aber ich vermute, ihr Vater hat was damit zu schaffen. Würde zu ihm passen.“ Als der Krieger das Haupt wieder senkte, wirkte er ernster. Die beinahe schon steinerne Miene schien ausdruckslos, doch in seinen Augen lag ein schwer zu deutender Funke. „Nettes Mädchen“, lautete sein abschließendes Urteil, „Wird sie ein Problem sein?“ Die Elbe schüttelte den Kopf, noch immer milde Lächelnd. „Sie ist ein gutes Kind, soweit ich sie kenne zumindest. Steht unter einer fiesen Fuchtel, aber hat das Herz am rechten Fleck. Sie ist harmlos, mach dir keine Sorgen.“ Als dieser Punkt zur allseitigen Zufriedenheit geklärt schien, mischte sich Mortimer ein. „Also dann – wann wollen wir loslegen?“ Caerwen brachte eine kleine Schriftrolle zum Vorschein. Sie hatte sie zwischen Rüstung und Kleidern verwahrt, weshalb das Stück ziemlich mitgenommen und zerknittert aussah – doch ihr ging es nicht um die Form, sondern um das, was darauf geschrieben stand. Kurz sah sie sich um, ehe sie das Stück Pergament in Mortimers Hände legte. „Seid vorsichtig“, mahnte die Elbe, „Und denkt an unsere Abmachung. Ich schätze, es wäre das Beste, wenn wir das so schnell wie möglich hinter uns bringen. Heute Abend sollte ein guter Zeitpunkt dafür sein. Trefft mich nach Sonnenuntergang hier.“   Worüber sie wohl reden mochten? Ishara zog sich unter zusammengepressten Zähnen den nächsten, etwas widerspenstigeren Splitter aus dem Unterarm. Eine ganze Reihe derer hatte sie sich nun schon entfernt. Ihr Herz schlug noch immer wild flatternd im Käfig ihres Brustkorbs herum, doch es war schwierig gewesen, von dort unten zwei Ebenen nach oben zu kommen, in eine schwer einzusehende Position, die ihr dennoch erlaubte, ihr Ziel weiter zu beobachten. Nochmals beging sie nicht den Fehler, sich zu nah an die Dreiergruppe heranzuwagen. Ganz gleich, was dort unten gesprochen wurde – es war nicht wert, dass sie ihr Leben dafür riskierte. Vielleicht hatte Caerwen sie bemerkt und selbst den Ast bewegt. Oder Iorohm, dieses Spatzenhirn, hatte sich irgendwo versteckt gehalten oder sie vielleicht auch nur schlicht zufällig erspäht. Es spielte keine Rolle. Sie war hier, um eine Aufgabe zu erfüllen und genau das würde sie auch tun! Neugierig verfolgte sie, wie eine Schriftrolle den Besitzer wechselte. Der Kerl mit dem Stein im Kopf las sie, dann noch einmal, ehe er sie dem grobschlächtigeren Kerl weiterreichte. Thorin, wie sie sich ermahnte. Sie kannte einen der zwei Namen. Das war wichtig für ihren Bericht heute Abend. Auch dieser Thorin las die Rolle zweimal, ehe er sie an einer frisch auf den Tisch gebrachten und neu entzündeten Kerze verbrannte. Verdammt! Damit war wohl die Chance dahin, als kleinen Ausgleich für ihr Missgeschick die Rolle selbst abliefern zu können. Ohnehin fanden sich allmählich ganz wie erwartet Schaulustige und Wächter ein. Sie verstand kein Wort von dem, was gesagt wurde, dafür war sie viel zu weit weg… doch sie erkannte die Gestik der Wachen, sie begriff, was dort vor sich ging… und ein warmes, aufrichtiges Lächeln zog über ihre Lippen. Caerwen lud die Schuld auf sich. Sie war in zwei Tagen wieder fort und ganz gleich, wie sehr man ihr dieses Chaos übelnahm – sie ließ die grummelnden und murrenden Leute einfach hier zurück, bis Gras über die Sache gewachsen war. Besser noch: Aufgrund ihrer Position würde man sicher nicht einmal wagen, das Wort gegen sie zu erheben! Als sie auf Thorin und den anderen deutete, wurde ihr zudem klar, dass die offenbar als Teil ihrer Lüge eingespannt wurden… und einfach so mitspielten. Um die Schuld von jemandem zu heben, der in ihren Augen zwar schuldig sein musste – auch, wenn sie es tatsächlich besser wusste -, den sie jedoch schlicht nicht kannten. Warum taten sie das? Es wollte ihr einfach nicht recht einleuchten. Versprachen sie sich etwas davon? Falls ja… was? Darüber zu sinnieren war natürlich müßig. Also verfolgte sie stattdessen, wie man Caerwen, Thorin und Rubinauge – so taufte sie den Dritten nun, da sie sich der Farbe seines Steins im Auge erinnerte – des Platzes verwies. Das Trio verabschiedete sich einmal mehr und damit begann für Ishara schon wieder der langwierige und kräftezehrende Teil, Caerwen auf der Spur zu bleiben, zugleich aber dafür zu sorgen, dass sie sich nicht aus Versehen die Splitter noch weiter ins Fleisch trieb. Als ihre Tante sich an diesem Abend kurz vor Sonnenuntergang zur Ruhe legte, atmete Ishara erleichtert auf. Sie hatte alle Splitter entfernen können, doch das hatte Spuren hinterlassen. Um die würde sie sich kümmern können, sobald Zeit dafür war – wichtiger war jetzt erst einmal, dass sie das ganze Blut loswurde. Da es jedoch teilweise bereits ihre Kleidung durchtränkt hatte und nicht jeder Fetzen zu retten war, abgesehen davon, dass es Stunden, vielleicht sogar Tage dauern würde… stand wohl nur die Chance, ein neues Set zu verwenden und die Alten möglichst unbemerkt zu vernichten. Sie würde mit einem Paar weniger Wechselkleidung auskommen müssen – doch das war durchaus im Bereich des Möglichen. Dann würde sie eben ein wenig sparen und sich neues zulegen müssen. Als sie diesmal heimkam, gelang es ihr, sich über den Hintereingang direkt ins Badezimmer zu schleichen. Sie wusch sich grob, zog ein langärmeliges Oberteil an und wappnete sich gedanklich. Sie verließ das Haus über denselben Schleichweg, umrundete es in großzügigem Bogen und trat dann wieder durch die Vordertür ein. Wie erwartet, lauerte ihr Vater auch diesmal wieder auf sie. Also setzte sie sich auf den Schemel und berichtete ihm alles, was sie gesehen hatte. Abzüglich des gesamten Debakels mit ihrem Sturz. Er fragte tatsächlich auch nicht danach, obwohl er zweifellos von der Begebenheit längst gehört hatte und die Ärmel ihres Oberteiles einen Moment musterte. Sie folgte seinem Blick, vermutete bereits Blutflecken irgendwo, doch alles war sauber. Vielleicht reimte er sich auch einfach gerade eine eigene Theorie zusammen. Die möglicherweise… schlicht der Wahrheit entsprach. Sie wusste es nicht und wollte es auch nicht herausfinden – sie war schlicht froh, dass dieses Thema nicht zur Sprache kam. Wieder interessierte er sich insbesondere sehr dafür, wie die Drei miteinander umgingen – und besonders hellhörig wurde er, als sie die Rolle erwähnte. Er wirkte ein wenig… enttäuscht, als sie deren Verbleib erläuterte und einräumte, das sie nicht nah genug herangekommen war, um selbst einen Blick auf den Text geworfen zu haben. Zumindest schien er jedoch einmal mehr im Groben und Ganzen mit ihrer Leistung zufrieden, weshalb sie sich sparte, den langweiligen und alltäglichen Restverlauf von Caerwens Tag zu erläutern und sich mit seinem Segen zurückzog. Um die Aufgabe fortzuführen, erscholl die Anweisung in ihren Gedanken und entlockte ihr ein leises Seufzen, als sie die Tür zum Salon geschlossen hatte und ich im kalten, dunklen Flur der Ausgangstür zuwandte.   „Denkt daran“, flüsterte Caerwen leise, „Unterschätzt ihn nicht. Er ist gerissen, sonst wäre er niemals so weit gekommen und würde noch immer die Positionen innehalten, die ihm gehören.“ Thorin und Mortimer kauerten dicht neben ihr in nahezu perfekter Dunkelheit und nickten. Das schwache Restlicht der Nacht genügte, damit die Elbe ihre Umrisse sehen und die Reaktion wahrnehmen konnte. Sie war nervös. Sie war fürchterlich nervös. Nervöser als damals, vor ihrem ersten Zauber, der ein Blatt hätte bewegen sollen. Zugegeben, stattdessen hatte sie ein Instrument spielen lassen, ihr überdurchschnittliches Talent offenbart und alles war damit besser ausgegangen als befürchtet – aber hier, heute Nacht, garantierte nichts ihnen, das es nochmal so glimpflich ausgehen würde. Zu dritt schlichen sie sich in das große, üppige und ausladende Anwesen des Hausherrn Morgenwandler. Es gab Wachen. Die lagen inzwischen sorgfältig verschnürt und geknebelt in einem dichten Geäst voller tarnender Blätter ein paar Stockwerke tiefer. Als Caerwen also an der Tür zum Salon klopfte, war sie sich recht sicher, das Garien niemand anderen als eine Bedienstete vermuten musste. „Herein“, erklang es ungehalten aus dem Inneren. „Wollen wir mal“, flüsterte die Elbe leise, atmete ein letztes Mal tief durch und drückte die Tür auf. In Begleitung Mortimers und Thorins trat sie ein und blieb erst stehen, als sie ein Drittel des Raumes bereits durchschritten hatte. Garien hatte sich aus seinem Sessel erhoben, das Buch bei Seite gelegt und funkelte ihr boshaft entgegen. „Gerne würde ich behaupten, wie überrascht ich über deinen Besuch bin, Schwester“, zischte er zornig, „Oder über den nach wie vor fragwürdigen Geschmack bei der Auswahl deiner Begleiter und Gespielen“, schob er mit einem verachtenden Blick auf die zwei Menschen nach, „Also – hier stehe ich. Fang an.“ Die Elbe schluckte schwer. Sie war nicht unbedingt ein großer Bewunderer ihres Bruders. Vermutlich war das niemand. Außer seiner Tochter, vielleicht. Doch was jetzt folgte, was einfach folgen musste, das wünschte sie niemandem. „Wir wissen beide, dass der Rat Esgaroths eine Farce ist. Nicht der Rat ist es, der die Geschicke dieser Stadt führt und ihr Schicksal bestimmt. Seit jeher hatte das Haus Morgenwandler einen immensen Einfluss auf alle getroffenen Entscheidungen, seien sie sozialer, politischer oder militärischer Natur. Du hast uns geführt, uns alle. Ich konnte damit leben, dass du mich von Ishara fernhalten wolltest und mich dazu ständig durch die Weltgeschichte geschickt hast. Ich konnte damit leben, dass du die Hilferufe und angetragenen Handelsabkommen aus Ilmwacht ignoriert hast. Viel zu lange konnte ich mit viel zu vielem dessen leben, was dir in den Sinn kam. Ich bitte dich, Bruder – hier und jetzt ein letztes Mal -, hab Einsicht. Versteh doch endlich, dass du-“ „Ich?“, zischte Garien ihr gebieterisch dazwischen, „Ich soll verstehen? Und was ist es, liebste Schwester, das ich verstehen soll? Das du deine von menschlicher Gier befleckten Hände nach Macht ausstreckst, wie es die Seuche ihres Volkes ist?“ „Bei den Göttern, komm zur Vernunft!“, ereiferte sich nun auch Caerwen, „Mir geht es nicht um die Macht, ging es nie! Wenn ich nicht müsste, würde ich das hier niemals tun, aber du zwingst mich mit deiner Verblendung und Engstirnigkeit zum Handeln! Du lässt zu, dass kleinliche Zwistigkeiten dein Urteil trüben! Dein Zorn allein ist kurz davor, unser gesamtes Volk zugrunde zu richten, erkennst du das denn nicht?!“ Die in ihrer Stimme so offensichtliche Hektik und Verzweiflung schienen eher zu Gariens Belustigung beizutragen. Verächtlich schnaubte der schwarzhaarige Elb und schüttelte mit einem hämischen Lächeln den Kopf. „Oh ich erkenne mehr als dir lieb ist. Ungeziefer wie den da“, begann er und nickte in Thorins Richtung, „schleppst du mir in mein Haus. Feinde Esgaroths, des ganzen Elbenvolkes allerorten, die bereits mein Leben bedrohten – und du schleppst sie in mein Haus! Du wagst es, mich in meinem Haus zu bedrohen! Und was jetzt? Deine Bitte ist hiermit abgelehnt. Zeig, wozu du fähig bist, Schwesterchen. Zeig es mir und ganz Esgaroth! Wirst du deinen Bruder erschlagen?“ „Ich vielleicht schon“, maulte Thorin und ballte die Fäuste. „Mund halten, nicht hilfreich!“, zischte Caerwen den Kahlkopf an. Sie seufzte schwer. Mortimer hatte, ganz wie abgesprochen, sich ein klein wenig von der Gruppe abgesetzt, Garien ein Stück weit umrundet und war näher an ihn herangetreten. Natürlich wusste die Elbe, dass der Hausherr sich der Position jedes einzelnen im Raum nur zu deutlich bewusst war. Auf einen Überraschungseffekt zu hoffen hieß nicht, dass man dumm genug war, ihn einzurechnen. Mortimer würde die Fluchtwege durch die Fenster blockieren und Garien etwas zu tun geben, bis der deutlich bedrohlichere Thorin heran wäre – mit dem Garien auch weit mehr Zwist in der Vergangenheit erlebt hatte. „Niemand hat vor, dich zu töten“, versicherte sie zunächst schweren Herzens, „Aber du kannst nicht bleiben, wer und wo du bist. Thorin wird dich mitnehmen. Du bleibst als Gast des Untergrundes in Samara, als Botschafter, Diplomat, Vermittler – wenn du es so sehen willst. Ich verbleibe hier in Esgaroth und werde deine Abreise eben damit erklären. Und deine Geschäfte hier übernehmen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass das Elbenvolk in diesem kommenden Konflikt auf der richtigen Seite steht und das unser Volk vor allem einsieht, das wir uns aus diesem Konflikt weder heraushalten können, noch es überhaupt sollten. Sobald die Rebellion Erfolg hatte, steht es dir selbstverständlich frei, heimzukehren. Und ich werde Esgaroth verlassen und nicht zurückkehren.“ Stille breitete sich im Raum aus. „Das kann nicht dein Ernst sein“, zischte Garien gepresst, bemüht, die Beherrschung nicht sofort vollständig zu verlieren. Wieder Stille. Und es war eben jener Moment, als Caerwen hörte, was sie befürchtet hatte. Nein… bitte, bitte nicht. Geh einfach weiter. Sie blickte über ihre Schulter zur Tür des Salons. Schnell hatte alles gehen sollen. Niemand hatte daran gedacht, das verdammte Ding zu schließen. Und jetzt, jetzt stand sie in der Tür. Gariens Tochter hielt ihren Bogen fest in den Händen, der Pfeil auf der Sehne angelegt.   Was hier geschah, war einfach nur Wahnsinn. Ishara begriff nicht, was Caerwen hier tat. Dazu hätte sie sie vielleicht früher wiederfinden, mehr von diesem Gespräch hören müssen. Doch was sie sah, war eindeutig… oder nicht? Da standen die zwei Fremden, mitten im Salon ihres Vaters, zusammen mit ihrer Tante. Vielleicht zwangen die zwei Männer sie hierzu? Spielte es eine Rolle? „Liebes, bitte-“ hob ihre Tante an und wandte sich halb zu ihr um. „Stopp!“, befahl Ishara und spannte den Pfeil noch etwas straffer. Dabei zielte sie nicht einmal auf ihre Tante. Bei allem, was ihr heilig war, das wagte sie einfach nicht. Sie hätte unter anderen Umständen vielleicht auf den großen, bulligen Kahlkopf gezielt, doch der stand völlig entspannt im Raum herum, ein gutes Stück von ihrem Vater weg. Er hatte noch nicht einmal Schild oder Axt gezogen und verfolgte einfach nur, wie sich die Dinge entwickelten. So schien es zumindest. Nein, sie zielte auf Rubinauge. Er stand ihrem Vater recht nahe und hatte sich obendrein von hinten anzuschleichen versucht. Sich an einen Elb anschleichen, an ihren Vater obendrein – lächerlich! „Überleg dir gut, was du tust, Kleine“, raunte der Kahlkopf und hob die Hände, wie um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. „Du hast keinen Schimmer, was hier vor sich geht.“ Was sollte sie nun tun? Verzweiflung packte sie. Das hier, das war falsch, alles so furchtbar falsch! Warum konnten die Dinge nicht nur ein einziges Mal einfach sein? Und auch bleiben? Sie starrte ihre Tante an, noch immer entsetzt. Sie hatte nicht bemerkt, wie Tränen ihre Sicht zu verschleiern begonnen hatten, bis sie sie fortzublinzeln versuchte und spürte, wie sie über ihre Wangen rannen. „Schieß“, erklang plötzlich die Anweisung. Ihr Blick wandte sich ihrem Vater zu. Weiß lodernder Zorn stand ihm in den Augen, ein uralter, bodenloser Hass, während eine Hand langsam hinter seinem Rücken verschwand. „Bist du bescheuert?!“, fuhr ihn der Kahlkopf an. „Was?“, fauchte auch Caerwen fast zeitgleich. Ich will niemanden verletzen!, flehte sie ihren Vater an. Tu, was ich dir sage!, kam von dessen gnadenlosen, kalten Augen zurück. Die Anspannung im Raum stieg mit jedem weiteren Herzschlag. Der gespannte Pfeil wurde immer mehr zur Belastung für ihre Arme. Sie spürte, wie sie vor Anspannung und Verzweiflung zu zittern begann. „Jetzt!“, donnerte Gariens Stimme. Es war dieser Moment, in dem alles aus den Fugen geriet. Hätte er sie abermals aufgefordert, zu schießen, sie hätte es wohl nicht getan. Es nicht gekonnt. Doch die pure Lautstärke, die schiere Gewalt seiner Stimme überraschte sie. Erschreckte sie. Zu sehr, als das sie den Pfeil hätte halten können. Rubinauge sprang auf ihren Vater zu, Thorin kam auf sie zugerannt wie ein wütender Bär. Jede Sekunde, da war sie sich sicher, würde sie den Aufprall spüren. Er würde sie einfach umrennen. Vielleicht niedertrampeln. Ihr alle Rippen brechen, wenn er sie gegen die Wand schleuderte. „Thorin!“, drang dumpf Caerwens Warnruf an ihre Ohren. Alles wurde langsam und stetig langsamer. Sie sah, wie ihr Pfeil Rubinauge erwischte. Einschlagswinkel, Geschwindigkeit… wenn die Anatomie von Menschen denen der Elben auch nur annähernd ähnlich war, dann würde er daran sterben. Er würde verbluten, bevor ein Heiler hier wäre, um zu helfen. Sie wollte seufzen, tief und schwer seufzen. Doch die Zeit verstrich zu langsam und ihr Körper gehorchte nicht. All das hier hatte sie nie gewollt. Nichts von alledem. Schon gar nicht, irgendwem den Tod zu bringen. Diese beiden hatten für sie gelogen, oder etwa nicht? Vielleicht waren sie ja eigentlich ganz nette Männer gewesen. Sie sah das schimmernde Wurfmesser in der Hand ihres Vaters. Sie sah, wie die Wurfbahn beeinflusst wurde, als der tödlich getroffene Rubinauge gegen ihren Vater rempelte und ihn mit bloßem Körpergewicht zu Boden warf. Sie sah, wie Thorin sich halb umwandte. Wie er die Hand hob. Wie er versuchte, das Wurfmesser, welches für ihn oder Caerwen gedacht gewesen war – vermutlich für ihn, immerhin hatte Garien ihn die ganze Zeit hasserfüllt niederstarren wollen – abzufangen versuchte. Warum? Warum tat er das? Er griff danach, war aber zu langsam. Caerwen vollführte ihre Gesten, um einen Windzauber zu wirken. Zu langsam. Sie waren alle zu langsam, begriffen sie das denn nicht? Obwohl sie die Klinge direkt auf sich zufliegen sah, verspürte sie keine Angst. Nur ein Gefühl von… Leere. Und Erschöpfung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie versucht, die an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Und zu übertreffen. Sie hatte sich um Anschluss bemüht. Sie hatte dazugehören wollen. Sie hatte einfach nur irgendwo dazugehören wollen. Als die Klinge Kontakt mit ihrer Haut herstellte, sprang die Zeit vorwärts. Mit einem Ruck lief alles wieder normal – und die volle Wucht der Waffe riss sie herum. Sie stürzte, fiel auf den Boden, trieb beim Sturz die Klinge noch tiefer hinein. Tödlich. Alles hier schien plötzlich tödlich. Ihr Pfeil hatte getötet. Dieses Messer würde sie töten. Sie spürte, wie die Kälte kam. Es kostete sie alle Kraft, den Kopf zu drehen. In den Salon zu blicken, aus dem ihr Sturz sie herausbefördert hatte. Der Kahlkopf war rasch bei ihr. „Kannst du ihr helfen?“, fuhr er Caerwen an, „Kannst du?!“ schnauzte er laut, als sie nicht reagierte. Ihre Tante zuckte zusammen, reagierte steif, mechanisch, benommen. Sie hatten so viele Ähnlichkeiten. In diesem Moment hatte sie mehr Mitleid mit ihrer Tante als irgendwem sonst in diesem Raum. Sie glaubte erahnen zu können, was für fürchterliche Tage auf sie zukämen. „Es ist zu spät“, hörte sie ihre Stimme gedämpft. Sie vernahm das Zittern darin. Diesen Ton der ihr so vertrauten Verzweiflung und des bodenlos tiefen Kummers. „Es ist zu spät“, wiederholte sie fast tonlos. Die Kälte kam. Betäubte ihre Finger, Unterarme, Schultern. Von den Beinen her kroch sie ebenso herauf. Packte ihren Kopf in Watte. Sie spürte, dass dort etwas war. Etwas, das wartete. Bis auch der letzte Funke aus ihren Augen gewichen war. Noch immer, so wunderte sich Ishara, verspürte sie keinen Schmerz. Keine Angst. Nur Kummer und Bedauern. Da gab es noch so vieles, was sie hatte tun wollen. So vieles, das sie hatte sehen wollen. „Wie war ihr Name?“, tönte eine tiefe Stimme. Sie klang belegt. Schwerfällig. Es war absonderlich, nicht? Vom ersten Moment an, da sie diese beiden Männer gesehen hatte, glaubte sie sich ihnen irgendwie verbunden. Als hätte sie sie schon einmal getroffen. Und nun, da sich die Dinge entwickelt hatten, wie es unumstößlich der Fall war… da verspürte sie den meisten Kummer über etwas, für das sie keinen Namen hatte. Als wäre da etwas gewesen. Oder vielmehr, als hätte da etwas sein können. Eine Chance. Eine verpasste Gelegenheit. Irgendetwas. „Ishara“, hörte sie kaum noch durch den dumpfen Schleier der Schwärze, der sich über sie legte, „Ihr Name war Ishara.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)