Lumiél von Voidwalker (Königreich der Monde) ================================================================================ Kapitel 41: Absurditäten ------------------------ „Das ist zum Haare raufen!“, jammerte die schmächtige Gestalt, während sie sich mühselig weiter voran schob. Nur ungern schien der fast kniehohe Schnee vor den schweren Wanderstiefeln und den in dick gefütterte Leinen gehüllten Schienbeinen zu weichen. Die Spuren indes waren mehr als gut zu erkennen und noch besser zu lesen. Kurz blieb der Schwarzhaarige stehen, strich sich mit der verschwitzt-feuchten Hand durch das chaotische, kurze Gestrüpp auf seinem Kopf und drehte sich halb herum. Die Spur, die er im Schnee zog, konnte er über Meilen und Meilen verfolgen. Wohl nur, weil das Wetter aufgeklart hatte – etwas, worüber er durchaus Dankbarkeit empfand. Das letzte Mal, als er im Nebel gewandert war, hatte er sich verlaufen. Glaubte er zumindest. Da war immerhin überall Nebel gewesen und er hatte keinen Schimmer mehr gehabt, wohin er eigentlich stapfte – da war es auch angemessen schwierig, zu sagen, ob man sich nun verlaufen hatte oder nicht. Das… war vor zwei Tagen gewesen. Heute, heute war gutes Wetter. Hier oben im Norden konnte sich das natürlich jederzeit ändern, in dieser hübschen, frostigen Herbstzeit schneller noch als irgendwann sonst im Jahr. Doch Alistair hatte einfach ein Gespür dafür, dass es noch eine Weile hübsch bleiben würde. Hell und klar und jenseits der schneebedeckten Nadelbaumwipfel, die sich dann und wann der kaum noch wärmenden Sonne entgegen reckten, würde ein strahlend blauer Himmel warten. Sein Blick hob sich, von seiner scheinbar endlos langen Spur im Schnee zu eben jenem hübschen Blau über ihm. Ja, vermutlich könnte alles noch deutlich schlimmer sein. Irgendwie. Aber wen interessierte das schon? Es war ein schöner Tag. „Völlig absurd“, nuschelte er leise vor sich hin, selbst unsicher, ob das nun seinem Gejammer galt oder der Tatsache, dass er nun schon seit fast vier Wochen nach Süden marschierte und irgendwie einfach nicht aus dem Schnee und Eis und Frost herauszukommen schien. So gewaltig konnte die Strecke zwischen Lairuinen – seinem fürchterlichen kleinen Heimatdorf – und dem Punkt, an dem der Schnee endlich einmal aufhörte, ja nun wirklich nicht sein… nicht wahr? Also schloss sich seine Hand wieder fester um den Wanderstab, den er bei seiner leicht überstürzten Flucht aus dem elterlichen Haushalt ausgeliehen hatte. Natürlich war das nicht das einzige Stück, das sich nicht ganz rechtmäßig in seinem Besitz befand. Vielleicht hätte er fragen sollen. Um Erlaubnis. Oder so. Irgendwen. Irgendwann. Der Form halber – nicht, das er sich wirklich dran gehalten hätte, hätte es ihm jemand zu verbieten versucht. Dann wiederum hätte man ihn möglicherweise einfach mit einer Kette an seinen Bettpfosten gebunden, hoffend, dass ihn ein solides Stahlschloss aufhalten würde. Nicht, das es das getan hätte… Doch nun, da er so darüber nachdachte, wie die Dinge gelaufen waren… verzog er säuerlich das Gesicht. Nicht nur, das er die wirklich harte Maulschelle noch immer spürte, als hätte sein Vater ihn gerade eben erst zu Boden geschickt, er war sich auch ziemlich sicher, dass sein halber Kiefer noch immer hübsch bunt war. Der Rucksack auf seinem Rücken wog dafür ein gutes Stück schwerer. Vom Gewicht der Schuld, wie er in Gedanken witzelte. Darin befand sich eigentlich nicht einmal etwas von größerem Wert, nichts, das seinen Eltern als Verlust wirklich schwer zu schaffen machen würde. Hauptsächlich Kleider, eine kleine Feldausrüstung an Werkzeugen und Besteck, ein alter Kochtopf für unterwegs, Zundersteine, eine Wolldecke – eben der übliche Krempel, den man sich flink einpackte, wenn man völlig überhastet entschied, für immer von zu Hause wegzulaufen, sich einen Namen in der Welt zu machen und irgendwann als gestandener Mann von Ruhm, Reichtum und Ehre heimzukehren und dem eigenen Vater gehörig eine zu verpassen. Mit einem Handschuh, einem Fehdehandschuh! Aus Gold! Oder… nein, nein, das war unpraktisch. Aus Seide. Aber mit Diamanten bestückt! Damit es auch richtig schön wehtat. Andererseits, wie oft nahm man sich dergleichen überhaupt vor? Gab es dafür Richtlinien, was man einzupacken hatte? Gedankenverloren strichen die Fingerspitzen des Fünfzehnjährigen über den Flachmann in einer der zahllosen kleinen Taschen seines fast knielangen Umhanges. Er war bodenlos stolz auf das Werk. Sein Vater hatte gelacht, hatte ihn beschädigt, zerrissen, wieder und wieder. Weiberarbeit, hatte er gebrüllt. Eine Tochter hätten die Götter ihm geschenkt, aber sie aus Versehen in den falschen Leib gepackt, falsch ausgestattet. Stolz war er dennoch. Es hatte ein wenig Mühe gekostet und viel mehr Geduld, als er für möglich gehalten hatte, seine Mutter davon zu überzeugen, dass sie ihm zeigte, wie man ein klein wenig Leder verarbeitete, nähte, Knoten band, die auch hielten. Aber er hatte die Schäden immer ausbessern können. Manchmal mit ihrer Hilfe. Und er hatte immer mehr Taschen daran genäht. Denn Taschen, das war ja wohl unumstößlich wahr, waren ungemein praktisch. Man konnte so viel Kleinkram darin verstauen. Und wer hatte nicht das Problem, zu viel Kleinkram zu besitzen? Außerdem war es so unauffällig. Und es machte einfach ungeheuren Spaß, in eine Tasche zu fassen und nicht recht zu wissen, was man am Ende eigentlich herausziehen würde. Problematisch wurde es nur, wenn man es eilig hatte und etwas suchte. Aber er konnte sich keine rechte Situation vorstellen, in der das wirklich nötig wäre. Der Flachmann war natürlich ein Problem, irgendwie. Den kleinen Ring, der über dem Verschluss saß, den hatte er mitgenommen, ja. Bewusst. Er hatte sich am Schmuckkästchen seiner Mutter vergriffen, ärmlich und leer wie es war, und hatte den einen Ring mitgenommen, der ihr so viel bedeutete. Er war viel schlichter als all die anderen. Keine schönen Steine. Nicht golden. Einfach nur ein dummes kleines Stahlband mit einer zugegeben sehr filigran gearbeiteten Blüte aus Silber. Es war der Ehering seiner Mutter. Genauer gesagt war es der Ring, den seine Mutter seinem Vater am Hochzeitstag an den Finger steckte, aber weil der den Schmuck bei der in Lairuinen üblichen, bitteren Kälte und seiner Arbeit nicht gebrauchen konnte, trug er ihn so gut wie nie. Im Dorf wussten ja immerhin sowieso alle, das die beiden verheiratet waren, es bestand also gar keine Notwendigkeit, das durch das Tragen des Ringes zu symbolisieren. „Notwendigkeit“, spuckte Alistair nuschelnd von sich. Seine Mutter hatte ihren Ring immer getragen. Sie hätte ihn auch getragen, wenn es Erfrierungen bedeutet hätte, da war er sich sicher! Dieser Ring aber, der war durch so viele Generationen seiner Familie gewandert… und seine Mutter liebte diesen Ring. All ihre Liebe lag darin, so schien ihm. Wann immer er ihn hervorholte und sich die fein gearbeitete, silbrige Blüte ansah, wärmte ihm der Anblick das Herz. Warum der Flachmann mit dabei war, wusste er selbst nicht recht. Das war ein dummes, schmuckloses Stück, das sich sein Vater irgendwann vom Dorfschmied hatte fertigen lassen. Obwohl er es unzählige Male mit geschmolzenem Schnee aufgefüllt und mit dem Schmelzwasser auszuwaschen versucht hatte, stank es noch immer nach dem widerlich starken Zeug, das sich die ‚gestandenen Männer‘ gelegentlich in die Kehlen kippten als sei es nur Wasser. Einmal hatte er gesehen, wie der Steuereintreiber kam und davon probiert hatte. Hätte sich fast die Lunge herausgehustet, so kam es ihm vor. Der gesunde Menschenverstand – also das, was er besaß, die Mehrheit der Bewohner Lairuinens jedoch offenkundig nicht – sagte doch eigentlich, das man solches Zeug nur zum Reinigen von Silberware nutzte… und es nicht etwa trank. Das war ja beinahe schon lebensmüde. Aber als er mit diebischeren Händen denn je in aller Eile und voller Trotz durch das dunkle Haus geschlichen war, da hatte er den Gedanken gehabt, dass er sich an seinen Vater erinnern wollte. Nicht als den liebevollen, gewaltigen Bären, der sich schützend vor ihn stellte, ihn ermutigte, ihm vertraute. Denn das war er ja schließlich nie gewesen. Sondern als die gewalttätige Enttäuschung. So wie er ihn enttäuscht hatte, beruhte das auch auf Gegenseitigkeit. Dieses kleine Monster hatte in seiner Rolle als Vater gehörig versagt. Es ging eben nicht immer nur darum, größer zu sein als alle anderen, oder stärker. Sie im Armdrücken zu besiegen oder den Stamm schneller zu fällen. Es ging nicht darum, einen Bären mit bloßen Händen niederringen zu können. Oder mehr zu saufen als der Rest. „Geht es nicht“, knurrte Alistair seine eigenen Gedanken bestärkend. Nicht zum ersten Mal erwog er, den hübschen Trauring vom Flaschenhals zu ziehen, ihn sicher und sorgsam in einer der vielen, vielen Taschen zu verwahren und den verdammten Flachmann einfach in den Schnee zu werfen. Sollen Wind und Wetter sich doch drum kümmern! Doch er hielt jedes Mal wieder inne. Mitunter, wenn er ihn schon wurfbereit in der Hand hielt. Der Grund war simpel: Er brauchte etwas, um sich zu erinnern. Er war schusselig, da hatten seine Eltern schon Recht, alle beide. Nicht, das er aus lauter Böswilligkeit alles zu vergessen behauptete, so wie sein nichtsnutziger Vater ihm gern unterstellte. Es tat ihm ja selber leid, dass so vieles ständig seiner Aufmerksamkeit zu entgleiten schien. Aber es war wichtig, dass er sich erinnerte. Dass er nicht vergaß, warum er dieses engstirnige Nest hinter sich ließ und in die weite, schöne Welt hinausflatterte. Wie es wohl am Meer aussah? Oder darin? Darunter? Wie sich Wüsten unter den Füßen anfühlten? Er hatte so merkwürdige Dinge gehört, von so seltsamen Orten gelesen. Das Lesen, das war seinem Vater natürlich auch ein Dorn im Auge gewesen. Besseres hätte er ja zu tun gehabt. Holz fällen. Tiere jagen. Sich männlich gebärden, damit auch irgendwann mal was aus ihm wurde. Denn mit der Nase in Büchern erreichte man ja nichts. Außer, das die Augen schlecht wurden und herausfielen. Muskeln, die bekam man davon jedenfalls nicht. Eine Weile hatte er ja wirklich versucht, Muskeln aufzubauen. Es funktionierte nur irgendwie einfach nicht. Er blieb klein, schmächtig und drahtig. Er hatte es zu überspielen versucht. Und sogar seine Mutter hatte sich mit Lachtränen in den Augen aufrichtig zu entschuldigen bemüht, als sie ihn sah, wie er seine Kleider mit Socken und Unterwäsche und Hosen und Hemden auszustopfen versuchte. Immerhin hatten die als Polster ganz gut gehalten, als die anderen ihn zusammenschlugen. Als seine Mutter an jenem Abend seine Lippe und seine Braue nähte, da lachte sie nicht mehr. Sie lächelte nur. Weil er immer so seltsame Ideen hatte. Mit den Jahren hatte er sich natürlich anzupassen gewusst. Nicht, das er wie die anderen wurde. Oder so, wie man ihn gerne gehabt hätte. Aber er lernte zumindest, so zu sein, wie er nunmal war. Er war klein. Er war drahtig. Und das hieß allem voran: Er war schnell. Oh verdammt, wie schnell er doch war! Und agil! Er konnte die Schwünge austänzeln. Mochten sie doch über sein Herumgezappel lachen, wie sie wollten – ihr eigener Schwung war es, der sie Gesicht voran in die Schneewehen brachte. Und ihre bulligen, muskelbepackten Körper waren es, die schnaufend und hievend keinen Schritt mehr setzen konnten, weil sie sich völlig ausgebrannt hatten, während er nur eines machen musste: Sich um Lenikkis Willen nicht treffen lassen! Ein geradezu hämisches Lächeln zog gemächlich über seine Miene, als er in Erinnerungen schwelgte. Keine Guten, nicht im klassischen Sinne. Denn wann immer er einen Kampf gewann, sorgte man dafür, dass er ihn irgendwie doch verlor. Oder den Sieg zumindest bereute. Ihn nicht auskosten konnte. Und sein Vater, der Nichtsnutz, der half kräftig mit. „Mieser kleiner-“, setzte er bereits zur nächsten Schimpftirade an, als ihm etwas auffiel. Abrupt hielt Alistair inne und sah sich um. Die Sonne war beachtlich weiter gewandert. Oder hatte er sich gedreht? Ein Blick zurück wies ihn auf eine höhere Bodenwelle hin, die er irgendwann überschritten haben musste – er hatte keinen Schimmer, wie oder wann. Aber seine Spur lag dahinter verborgen. Natürlich könnte er jetzt zurücklaufen, den kleinen Hügelkamm nochmals erklimmen und dann einen Blick riskieren, ob seine Wanderspur irgendwann einen bemerkbaren Haken in irgendeine Richtung eingeschlagen hatte, aber… das klang so aufwendig und anstrengend. Mit den Schultern zuckend wandte er sich wieder um und stakste einfach weiter voran. Zu hoffen blieb ihm nur, dass er ein halbwegs taugliches Nachtlager fand. Ab und an hatten ihm Höhlen, kleine Felsspalten und Baumlöcher als Unterschlupf gedient, doch längst nicht an allen Abenden erwischte er auch solche. Manchmal entschied er dann, einfach die Nacht hindurch zu laufen – immer noch besser als sich in die Kälte zu legen und zu erfrieren, weil er auskühlte. An anderen Abenden riskierte er genau das. Denn die Lagerfeuer, die er entzündete, wärmten zwar – und Holz gab es trotz der eher karg gesäten Bäume schließlich reichlich -, aber der Wind hatte die unangenehme Neigung, sie einfach auszupusten, wenn er mal nicht hinsah. Was im Grunde der Fall war, sobald er einschlief. „Natürlich wäre alles viel einfacher, wenn ich nicht ständig vergessen würde, zu-“, begann er leise vor sich hin murrend, als plötzlich ein gellender, heller Schrei die scheinbar friedliche Stille zerriss. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern tat er, was seinen Vater vielleicht ausnahmsweise mal stolz gemacht hätte, etwas, worüber jeder andere mit klarem, vernünftigem Menschenverstand erst einmal gehörig den Kopf geschüttelt hätte – er hetzte auf die Quelle des Schreies zu, so rasch seine Füße ihn durch den Schnee zu tragen vermochten. Dabei wippte der Rucksack gehörig hin und her, während er mit dem Wanderstock versuchte, so viel Schnee vorab bei Seite zu schieben, wie sich machen ließ. In einiger Entfernung sah er, was jeder Nordländer von Kindesbeinen an eines Tages zu sehen fürchtete. Wendigos. Oder zumindest für den Moment: Ein Wendigo. Die Gestalt ließ sich schwer als etwas anderes interpretieren. Sie war groß gewachsen, über und über mit Fell bedeckt. Die viel zu langen Arme liefen in Klauen aus und die Kreatur, die leicht gebeugt ging, holte zu einem Schlag aus. Zwischen den Beinen hindurch sah Alistair nur dünne kleine Beinchen in einer dünnen, aber vermutlich gefütterten Hose. Zusammen mit dem Schrei gab ihm das jedoch alles Wissen, das er benötigte, um nochmals ein gutes Stück schneller voran zu preschen: Da stand ein kleines Mädchen vor der Bestie. Er hatte keine Ahnung, in was er hier hineingeraten war. Und so recht herausfinden wollte er es eigentlich auch nicht, obwohl er direkt auf das Duo zuhielt. Das würde sich bestimmt auch irgendwie vermeiden lassen, immerhin musste er sie ja nur retten und dann zügig verschwinden. Dieser Gedanke wiederum hätte deinen Vater vermutlich nicht mehr so sonderlich stolz gemacht, dachte er gallebitter. „Hey, Bettvorleger!“, brüllte er aus vollster Kehle. In den Nachwehen seines nur wenige Jahre zurückliegenden Stimmbruches kratzte sein Hals rasch und seine Stimme schwankte ein wenig, doch die Laustärke allein genügte, die Kreatur aufmerksam werden zu lassen. Statt einen tödlichen Streich auszuführen, riss sie sich halb herum und musterte die Quelle der Störung. Schwarze Augen sandten einen bohrenden, gierigen Blick aus, ein beinahe schon belustigt wirkendes Lächeln hob die viel zu weit seitlich gelegenen Mundwinkel und entblößte im Zuge dessen unangenehm viele unangenehm spitze Zähne in einem unangenehm großen und breiten Maul. Noch immer aber steuerte er mit größtmöglicher Geschwindigkeit auf die Wesenheit zu, den Wanderstock als Waffe fest umklammert. „Such dir gefälligst einen in deiner Größe!“, fuhr er die Kreatur an und jagte weiter vor. Der Wendigo wandte sich nun gänzlich zu ihm um und holte, zu einem Sprung gebeugt, mit einer Kralle aus. Als er nah genug war, wich Alistair geschickt dem Schlag aus und setzte mit dem Stab nach vorne. Die knollige Verdickung am oberen Ende rammte er mit so viel Wucht wie er angesichts der Umstände aufbringen konnte zwischen die Beine des Wesens, hoffend, das etwas, das männlich aussah, darunter schrecklich leiden würde – oder, falls die Geschichten über die Entstehung der Wendigos der Wahrheit entsprachen, er sich wenigstens an die grässlichen Schmerzen erinnern würde, die das normalerweise zu bedeuten hatte. Als das Monster jedoch nur knackend und krächzend zu kichern begann, hebelte er dem Ungetüm stattdessen das Bein weg und brachte es damit rücklings zu Fall. „Hab nicht gesagt, dass ich in deiner Größe wäre!“, kicherte er schmächtige Heimflüchtling und hastete an der fauchenden Kreatur vorbei, die auf unheimliche Weise beinahe so klang, als würde sie Fluchworte ausstoßen wollen. Etwas drang aus dieser Kehle und es klang vage nach Worten – so genau jedoch, das entschied der Schwarzhaarige rasch, wollte er das auch eigentlich gar nicht wissen. „Die Höhle, schnell!“, wies er stattdessen dem Mädchen an, das noch immer wie schockstarr ein kleines Stück entfernt ausharrte und ihr Stofftier festhielt. Der Anweisung folgend setzte sie sich rasch in Bewegung, doch Alistair konnte sehen, dass sie humpelte und versuchte, ein Bein nicht zu belasten. „Spring auf!“, warf er ihr hastig zu, als er gerade auf ihre Höhe aufschloss. Mit viel Mühe sprang sie zu ihm herüber, hängte sich mit all ihrem Körpergewicht an den Rucksack. Dabei verlor sie ihr seltsames kleines Tier, nach dem sie fast sofort die Hand ausstrecken wollte. Alistair aber strauchelte gehörig und wurde von dem unerwartet großen Zusatzgewicht zur Seite weggerissen – gerade rechtzeitig, damit der anspringende Wendigo sein Gesicht an der Rinde des Baumstammes platzierte, an dem Alistair eigentlich hatte knapp vorbeiziehen wollen… und rechtzeitig, damit der Dieb selbst das Stofftier schnappen konnte. Ein Wolf, wie er glaubte, unterzog es jedoch keiner näheren Untersuchung. Die Bestie stieß ein furchterregendes Geheul aus – und noch viel schlimmer waren die anderen Rufe, die aus verschiedenen Richtungen antworteten. „Wir versuchen das nochmal: Zur Höhle, schnell!“, wies er das Mädchen an. Sie ließ den Rucksack los und hastete vorwärts, so gut sie nur konnte. Rasch verschwand sie im dunklen Inneren. Alistair folgte ihr dichtauf. Als er etwas im Inneren funkeln und glänzen sah, breitete sich ein spielerisches Grinsen auf seinen Lippen aus. Das war eine Einladung, der er einfach nicht widerstehen konnte. Er löste die Schnur, schleuderte mit reichlich Mühe und vor Anstrengung schnaufend den Rucksack voraus und warf sich mit dem Hintern voran in den Höhleneingang. Die spiegelglatte Eisbahn musste entstanden sein, als es die letzten Tage geregnet hatte. Sie trug ihn schlitternd und rutschend tief und tiefer in die Höhle, vorbei an dem jungen Mädchen, bis er mit einem „Uff!“ ächzend gegen die rückseitige Wand donnerte. Mit seinem Rucksack in den Händen kam sie nach. „Sind wir sicher?“, piepste eine junge, ängstliche Stimme. „Den Eingang kann ich eine Weile  verteidigen. Es ist ein Dorf in der Nähe, oder? Eine Stadt? Irgendwas?“ Kaum, das sie nickte, lächelte er, tätschelte ihr den Kopf und erhob sich. Er wollte zum Eingang zurück, als er das Geräusch hörte. Ein Knirschen, ein Rauschen – und Sekunden später begann Schnee vor dem Eingang herabzurieseln. Zumindest war es ein Rieseln, bevor die kleine Lawine kam und den Eingang völlig zuschüttete. „Ooooder… wir sichern den Eingang, indem wir ihn versperren. Das ist sogar noch besser. War natürlich von Anfang an mein Plan.“ Er starrte sie an. Wirklich überzeugt wirkte sie nicht. Erst, als seine Augen ihre Dienstleistung ob der völligen Finsternis einstellten und sein Gehör sich genug schärfte, ihren Atem an völlig anderer Stelle zu vernehmen, wurde er sich darüber klar, warum sie so wenig überzeugt wirkte. Sie stand ja auch völlig wo anders. „Gut, also… komm mal her. Folge einfach meiner Stimme und gib mir den Rucksack. Das haben wir gleich, hörst du? Nur mit der Ruhe, hier drinnen sind wir völlig sicher.“ Zumindest, bis uns die Luft ausgeht. Wie viel davon wohl hier drinnen sein mag? Als er seinen Rucksack etwas umständlich im Dunkel herumgreifend zu fassen bekam, waren es nur noch wenige sichere Handgriffe und er hatte die Zundersteine gefunden. „Gut, Schritt zwei: Wir merken uns, wo wir sind. Erledigt. Schritt drei: Feuerholz. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich welches gesehen habe, als ich hier reingeschlittert bin. Da war sogar eine Feuerstelle und alles. Muss schon häufiger benutzt worden sein.“ „Ja“, hörte er die dünne Stimme des Mädchens wieder in der Finsternis, „Von denen“, schob sie eine Weile später nach. „Oh.“ Er ließ die neue Information sinken. Doch die Tatsache, dass er bisher nicht gefressen worden war, beruhigte ihn weit genug, das er entscheiden konnte, das ihm eigentlich egal war, wessen Höhle sie hier gerade besetzt hielten. Dann mussten die Wendigos eben draußen im Kalten schlafen. Tat ihnen vielleicht ganz gut. „Wenn wir ihren Unterschlupf haben, dann suchen sie sich vielleicht einen Neuen. Oder jagen etwas anderes. Oder verschwinden einfach so“, erklärte er halb, um sich selbst aufzumuntern und halb, um die Kleine zu beruhigen. „Das passt aber nicht zu den Geschichten, die meine Mammi erzählt“, gab das Mädchen zurück. Schwer seufzend nickte er und murmelte leise „Ja, zu denen meiner Mutter auch nicht“ und unterschätzte dabei deutlich, dass es in der Höhle still genug war, damit sie jedes Wort hören konnte. Er brauchte noch einige weitere Minuten, ehe er die Feuerstelle gefunden hatte. Trockenes Holz lag in ausreichender Menge bereit, nicht nur darin, sondern auch ein kleiner Stapel daneben. Und kaum hatte er die Lagerstelle mit ein wenig Licht und Wärme versorgt, fiel sein Blick auf noch mehr Ausrüstung. Offenbar hatten die Wendigos hier eine kleine Reisegruppe erwischt. Oder überrascht. Oder sie waren die Reisegruppe – schließlich gab es keine Kampfspuren, kein Blut, keine Leichen. Nur Vorräte. Zusammengelegte Zelte. Brennholz. Ein Kanister mit Wasser. Trockenbrot. Eigentlich eine hübsche Ausstattung und er zögerte nach den langen Tagen seiner Wanderschaft nicht, diese Vorräte einfach mit den reichlich erschöpften Eigenen zu kombinieren. Als sich das kleine Mädchen schüchtern zu ihm begab, konnte er erstmals einen halbwegs brauchbaren Blick auf sie werfen. Sie mochte vielleicht sieben oder acht Jahre alt sein. Dann aber bemerkte er ihre leicht spitz zulaufenden Ohren und korrigierte seine Schätzung. Elben, so erinnerte er sich vage an eines der Bücher, wuchsen schneller und höher. Vielleicht war sie fünf? Sechs? Das Stofftier indes schien tatsächlich ein Hund oder Wolf. Aus vielen kleinen Fellen zusammengebastelt, meinte er zu erkennen, als sie es fester an sich drückte. Er klopfte auf den leeren Platz neben sich. „Einer hat dich verletzt, nicht? Lass mal sehen.“ Sie setzte sich nur zögerlich, doch als er ihr weiterhin warm und freundlich zulächelte, verlor sie langsam ihre Scheu. Die Wunde… sah nicht gut aus. „Kennst du dich mit sowas aus?“, hakte er überfordert nach. Es war nicht so, dass er ein Problem damit hatte, Blut zu sehen. Aber er wusste nichts darüber. Das man Wunden ausspülen musste, gut – das schon. Damit wusste er schon mal genau eine Sache über Wundversorgung. Aber er konnte nicht nähen. Musste das genäht werden? Als sie leicht nickte, fiel ihm regelrecht ein Stein vom Herzen. „Gut, wunderbar – ich nämlich nicht. Kannst du mir sagen, was ich tun muss?“ Die nächsten ein oder zwei Stunden, so schätzte er, verbrachten sie damit, ihre Wunde zu reinigen und mit einem möglichst sauberen Verband aus frisch in Fetzen geschnittenen Kleidungsstücken zu verbinden. Die ganze Zeit war ihr knopfäugiger Begleiter fest in ihrem Griff, treu an ihrer Seite. Dennoch würde sie rasch zu jemandem gebracht werden müssen, der sich das genauer ansah und versorgte. Sie hatten hier nicht, was nötig war, um das richtig zu machen – so viel hatte sie ihn wissen lassen. Aber das war alles kein Problem, davon war Alistair fest überzeugt. Ganz in der Nähe musste eine Siedlung sein. Sie hätte sich wohl kaum eigenständig so weit hinausgewagt. Und wenn ein junges Kind verloren ging, gerade so ein hübsches junges Ding, so wohlerzogen und freundlich, dann dauerte es meist nicht lange, bis das gesamte Dorf bewaffnet auf den Beinen stand und Suchtrupps in alle Richtungen aussandte. Und das war etwas, wovor selbst Wendigos sich zu fürchten hatten, da war er sich absolut sicher. „Also dann“, meinte er nach einer gefühlten Ewigkeit. Hier unten verlor man aber auch erstaunlich schnell jegliches Zeitgefühl! „Was treibt dich denn in den Wald, hm?“ Sie hatte sich bestmöglich klein gemacht, seitlich liegend eingerollt und starrte ins Feuer, während sie immer mal wieder ein wenig zu zittern schien. Er zögerte nicht lange, erhob sich und breitete eine der Decken über ihr aus. Kurz schaute sie ihn an, als wolle sie ihn darauf hinweisen, dass das ja gar nicht ihr gehöre – aber er lächelte und das schien sie irgendwie aus der Bahn zu werfen. „Ich… ich habe Nüsse gesammelt.“ Nüsse, hm? Vielleicht doch ein Stück weiter vom Dorf. „Und du?“ Er grinste breit. „Ich“, begann er stolz die Brust herausreckend, „Bin frisch gebackener Abenteurer!“ Kaum hatte er das ausgesprochen, begannen ihre Augen größer zu werden und ein neugieriges Funkeln glomm darin auf. „Bin vor ein paar Wochen erst von daheim losgezogen. Seither geht’s immer weiter südwärts, bis ich durch das Grünland und die Wüste bin und am großen Meer stehe! Und naja, meine ersten Monster hab ich ja auch schon besiegt, was?“, witzelte er und tätschelte dabei seinen Wanderstab. Sie kicherte leise. Dabei fielen ihr ein paar helle Haare ins Gesicht. Draußen hatte er geglaubt, sie würden leicht silbrig aussehen, aber hier, im orangefarbenen Schein des Feuers, wirkten sie wie flüssiges Gold. Sie würde irgendwann einmal zu einer atemberaubenden Schönheit heranwachsen, da war er sich sicher. Vermutlich nichts, was dein Vater als ausreichend angesehen hätte. Der kurze, bittere Gedanke veranlasste ihn jedoch lediglich zu einem Schulterzucken. Was scherte ihn das schon noch? Zumal er das Mädchen ja sowieso nie wiedersehen würde. „Und wie bist du beim Nüssesammeln ausgerechnet an einen Wendigo geraten?“, hakte er nach. Eine leichte Röte schien sich in ihre Wangen zu schleichen. „Da hatte jemand um Hilfe gerufen“, erklärte sie mit schwacher Stimme. Ja – das wiederum passte ganz wunderbar zu den Geschichten, die sie beide über diese Monster zu kennen schienen. Einen Moment schwiegen sie, ehe die Kleine wieder anhob. „Du bist kein sehr guter Abenteurer, oder?“ Jetzt war es an ihm, die Stirn zu runzeln. „Wie kommst du darauf?“ „Du läufst nach Westen.“ Der Satz hing eine ganze Weile bedeutungsschwer im Raum, doch Alistair tat sich schwer damit, ihn zu begreifen. Westen… huh… das erklärt natürlich Einiges... aber sagt man nicht immer ‚der Sonne hinterher‘? „Das ist alles Teil meines Plans“, gab er breit lächelnd zurück, „Ich sah mir so die Gegend an und dachte mir, dass der Morgennebel irgendwie nach Gefahr schmeckte. Eine kleine Prise ‚viel zu kluges junges Hübschlein in Not‘ – da konnte ich ja schlecht untätig einfach weiter südwärts marschieren!“ Wieder dieses glockenhelle Kichern. Es war ein angenehmes Geräusch. Der Norden, so sehr er ihm auch entkommen wollte, hatte auch ein paar wenige schöne Dinge zu bieten. Irgendwie fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, dass das Kichern und Lachen der jungen Mädchen im Süden genauso schön und hell klingen würde. Das lag am Schnee in ihrem Blut, wie seine Mutter mal in einem ähnlichen Zusammenhang gesagt hatte. „Erzähl mir eines deiner Abenteuer!“, bat die kleine Elbe ihn nach einer Weile der Stille. Dass sie überhaupt noch wach war, überraschte Alistair. Er zerzauste sich das ohnehin wirsche Haar und betrachtete sie kurz, ehe sich ein Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete. „Einmal“, setzte er an wie ein professioneller Skalde, „Da habe ich einen gefährlichen Bären mit bloßen Händen niedergerungen, um die schönste Frau der Stadt zu retten!“ Natürlich war das ein wenig… übertrieben. Besagter Bär war lediglich sein Vater gewesen, sturzbetrunken nach einem Gelage mit den anderen in der Taverne. Die schönste Frau der Stadt war dabei nicht erfunden, zumindest nicht in seinen Augen. Obwohl er sich seit gut zwei, drei Jahren in der Phase befand, da die Reize von jungen Mädchen immer präsenter in seinem Kopf wurden und er ihnen immer öfter hinterher starrte, war die schönste Frau Lairuinens nach wie vor seine Mutter und keine, absolut keine, konnte ihr das Wasser reichen. Zumindest nicht in seinen Augen. Während er seine Geschichte des tapferen Bärenringers wiedergab und jede Begebenheit im Verlaufe der eigentlich traurigen Konfrontation auf etwas Passendes ummünzte, achtete er sehr genau auf das kleine Mädchen, das sich nun indirekt in seiner Obhut befand. Selbst unter der Decke zitterte sie dann und wann ein klein wenig, wie es schien, und der farbige Schimmer des Feuers konnte nicht verbergen, das sie noch immer recht blass war. „Hey, sag mal, wie heißt du überhaupt?“, erkundigte er sich eine Weile, nachdem er seine Geschichte beendet hatte. Oder eher, die Geschichte nach der Geschichte nach der Geschichte. Die Ausdauer des Kindes, sobald es um das Zuhören bei Abenteuererzählungen ging, war schier erstaunlich. Und clever war sie obendrein. Im Kampf mit dem Vaterbären hatte er sein Bratpfannenschwert verloren – ein notwendiger Nachtrag, nachdem sie anmerkte, dass er ja gar kein Schwert mit sich führte. Also erzählte er aus einer Laune heraus eine zweite Geschichte, nämlich die, wie er sein Schwert verlor. Doch die kleine Ungereimtheit darin entging ihr wiederum ebenfalls nicht, was zur dritten Geschichte führte. Obwohl er durchaus gern eine Antwort gehört hätte, war er zugleich doch irgendwie erleichtert und froh, als sie keine gab. Das hieß immerhin, dass sie endlich eingeschlafen war. Alistair hob daraufhin so behutsam wie ihm möglich war – und er galt immerhin als einer der Geschicktesten im ganzen Dorf -, die Decke an und spähte nach der Wunde. Sie hatte sich kränklich verfärbt, die Bandage war mit Blut gefärbt worden. „Verdammt…“, flüsterte er leise gepresst hervor. Er holte eine zweite Decke und legte sie über das gelegentlich zitternde Bündel, griff sich dann wagemutig einen der brennenden Scheite aus der Feuerstelle und begann die Höhle sorgsam zu erkunden. Dass sie noch nicht erstickt waren, musste etwas bedeuten. Er hatte keine Ahnung, wie schnell man die Luft in solch einer Höhle aufbrauchen würde, aber er fühlte sich… gut. Und das kam sogar ihm seltsam vor. Es dauerte eine Weile, doch er fand eine ganze Reihe kleinerer Tunnel, wie Miniaturausgaben dessen, der hier herabgeführt hatte. An den gerade einmal faustgroßen Öffnungen schien ein stetiger Luftaustausch stattzufinden. Immerhin stand ihnen also kein Erstickungstod bevor. Sein Blick jedoch schwenkte sorgenvoll zu der Kleinen zurück. So wirklich freuen konnte er sich über die guten Nachrichten nicht. Brot, Trockenobst, Wasser, Decken, Feuerholz – gerne hätte er sich der Hoffnung hingegeben, dem Gedanken, dass sie hier einige Tage würden aushalten können, falls nötig. Fakt war: Sie würden das nicht können. Er konnte. Die Kleine nicht. Als er sich zu ihr zurückbegab, legte er noch eine dritte Decke über sie – die Letzte aus dem fremden Lager. Zumindest ihr Zittern schien damit beendet zu sein. Er selbst machte sich auf der einen, deutlich kleineren Decke ein Lager, die er aus seinem Rucksack hervorwühlte und nutzte selbigen als Kopfkissen. Das Frühstück am nächsten Morgen bestand aus den Vorräten, die er eigentlich für seine Weiterreise hatte nutzen wollen. Dennoch bot er ihr alles an, reichlich davon. Sehr zu seinem Verdruss aß sie wenig und erklärte frühzeitig, sie habe keinen Hunger mehr. Er konnte sie überreden, noch ein klein wenig mehr zu essen, doch ein schwerer Hustenanfall schüttelte den ohnehin zerbrechlich wirkenden kleinen Leib durch. Fast ein ganzer Schlauch Wasser verschwand in ihrer Kehle. Als er ihn wegpackte – in sein Reisegepäck – prüfte er ganz zufällig ihre Stirn. Sie begann zu fiebern. Ginge es in diesem Tempo weiter mit ihr bergab, würde sie vielleicht noch einen oder zwei Tage durchhalten. Er hatte soetwas noch nie selbst gesehen, geschweige denn behandelt. Aber er hatte davon gehört. Wenn am Tisch beim Abendmahl geschwiegen wurde, dann war immer irgendetwas geschehen. Manchmal erzählte man ihm davon. Von Äxten, die schlecht geschwunden worden waren. Bäume, die Beine beim Kippen zerquetscht hatten. Oder unachtsamen Säufern, die sich grässliche Erfrierungen geholt hatten, wenn sie draußen in einer Schneewehe einschliefen. Sie ist noch viel zu jung, um so elend zu verrecken, beriet sich der schmächtige Nordländer mit sich selbst. Aber du bist auch nicht Damaste, mein Freund. Du kannst sie nicht retten! Du weißt ja nicht mal, was du tun musst. Er schnaubte verächtlich. Nein, vielleicht nicht. Aber andere wissen’s. Ich könnte das Dorf suchen. Er rollte mit den Augen. Ja, natürlich, geh und such das Dorf. Ich sage nur eins, mein Freund: Westen. Langsam sackten seine Schultern geschlagen herab. „I-Ist… alles in Ordnung?“, presste die Kleine mühselig hervor, ehe ein weiterer Husten sie schüttelte. Alistair atmete tief durch, seufzte. „Ich musste an zuhause denken“, gab er die halbe Wahrheit preis und zog den Flachmann mit dem Ring hervor, „Ich bin kein Abenteurer, weißt du? Tatsächlich bin ich erst vor ein paar Wochen weggelaufen.“ Die Vorstellung, jemand könne freiwillig davonlaufen, schien ihr nicht einzuleuchten. Sie runzelte ihre junge kleine Stirn und sah ihn aus großen, überraschten Augen an. Vermutlich war sie nicht einmal gewohnt, dass man sie belog. „Der Bär, den ich niedergerungen habe? Ich verpasste meinem Vater eine mit der Bratpfanne. Weil er meine Mutter geschlagen hatte. Er hatte getrunken, viel zu viel. Passiert ab und zu. Und dann gibt er ihr immer die Schuld, dass ich so missraten bin. Und der Rest des Dorfes ist kein Deut besser. Ich hielt es da einfach nicht mehr aus. Ich bin sowieso rastlos. Ständig sehe ich in die Ferne und wünschte mir, ich könnte es sehen. All das, wovon ich gelesen habe. Die weiten Äcker im Grünland. Die endlose Wüste. Das tiefe Meer. Das hier, das ist alles, was ich von ihnen habe.“ Er reichte den Flachmann an die Kleine weiter, die mit zittrigen Händen das Gefäß entgegen nahm. Zunächst bestaunte sie nur den Ring, der um den Verschluss saß, ehe sie ihn öffnete. Sie machte den Fehler, die Nase über die Öffnung zu halten, als sie daran roch. Das Gesicht grässlich verzogen, drückte sie den Flachmann rasch von sich und schraubte ihn soweit fort wie möglich wieder zu. Alistair lächelte leicht und nahm ihn wieder an sich. „Ja, stinkt bestialisch, nicht? Das Zeug hat ihm den Kopf verdreht. Tut es immer wieder. Tut’s bei allen, die’s trinken.“ Wieder ließ er die Schultern hängen. Was machte er sich hier eigentlich vor? Er war kein Held, kein Ausreißer, kein Abenteurer. Er war Alistair. Er war ein Niemand. Und er würde immer ein Niemand bleiben. Sein Vater hatte letztendlich auch einfach Recht, nicht wahr? „Du bist ein Abenteurer“, erklärte die Kleine plötzlich. Ihre Stimme riss ihn aus seinen immer düstereren Gedanken hervor. Ruckartig hob er das Haupt und starrte sie irritiert an. Irritiert, und leicht zornig. Was wusste sie schon davon? Sie war viel zu jung. Viel zu jung, um überhaupt irgendwas zu wissen! Und wäre er nicht in ihre verdammte Misere hineingeraten, dann würde er jetzt nicht hier sitzen müssen, bis ihm die Decke auf den Kopf fiel. Er würde sich nicht darüber den Schädel zerbrechen müssen. Er würde weiterziehen können, einfach immer weiter, und sich glauben machen können, das der Himmel blau und der Tag schön war! Immer mehr redete er sich gedanklich in Rage, doch einmal mehr zerrte ihre piepsige, schwache Stimme ihn aus seiner Bahn fort. „Du hast ein Monster besiegt. Und du erkundest Höhlen. Findest Schätze.“ Sie klopfte demonstrativ auf die Decken, die über ihr lagen, deutete auf seinen Wanderstab und ihre Umgebung. Vielleicht wusste sie doch irgendwas. Er grinste, zunehmend breiter. „Und rette die holde Maid in Nöten, hm?“, ergänzte er und lachte herzlich, als sie den Blick niederschlug. Für sie musste das alles noch furchtbar peinlich sein. Jungs waren irgendwie komisch und was die Frauen mit den Männern taten, war seltsam und eklig und genauer wollte man es auch irgendwie gar nicht wissen – er erinnerte sich noch gut genug an diese Zeit. Zeiten änderten sich, das wusste er ebenso. Und irgendwann, so vermerkte er stolz in Gedanken, würde sich eine bildhübsche junge Frau mit einer zarten Röte in den Wangen daran erinnern, dass in einer hässlichen Situation ein frecher kleiner Rotzlöffel ihr ihr erstes Kompliment gemacht hatte. Natürlich ohne jede Bedeutung. Außerdem konnte er nicht sicher sein, ob er wirklich der Erste war, der ihr etwas in der Richtung gesagt hatte. Dennoch ließ ihn das Bild einen Moment lächeln, ehe er sich wieder der Kleinen zuwandte. „Kennst du Lieder?“ Es dauerte nur ein paar Minuten – gefühlt -, ehe sie eines gefunden hatten, das beide kannten. Er stimmte es an, in einem völlig übertriebenen Tenor, den er auch gar nicht halten konnte. Schauspielerisch völlig überdramatisiert und theatralisch, schmetterte er seinen Gesang gegen die Höhlenwände und brachte sie mehrfach zum Kichern, ehe sie noch einen Schluck aus einem weiteren Trinkschlauch nahm und einstimmte. Ihr Gesang ließ ihn einen Moment still werden. Er war bezaubernd, so wie ihr Kichern. Hell und klar wie Eis. Etwas, dem man gerne lauschte. Natürlich würde sich ein Abenteurer seines Kalibers davon nicht einschüchtern lassen! Also hob er mit neuer Euphorie an, stimmte nun seinerseits ein und ergänzte ihre zerbrechliche, aber schöne Gesangsstimme durch sein schiefes und krummes Gejaule. Mit sich selbst war er dennoch zufrieden. Zumindest, bis es für sie zu anstrengend wurde. Neue Hustenanfälle schüttelten ihren zarten Leib, er rutschte zu ihr herüber, hielt sie fest, wiegte sie leicht hin und her. Wie lange er das tat, wusste er nicht. Er erinnerte sich nur an die Panik, die er dabei hatte. Was sollte er tun? Was wäre jetzt richtig? Konnte er überhaupt etwas tun? Was, wenn gleich kleine Bröckchen von irgendwas aus ihrem Mund geflogen kämen, die eigentlich besser drin geblieben wären? Was, wenn sie hier starb? Während er einfach tatenlos daneben saß? Als sie in seinen Armen eingeschlafen war, prüfte er alle paar Minuten, ob sie noch atmete. Es mochte später Abend sein… oder Morgen? Nacht? Mittag? Er wusste nicht mehr, wann es war. Was es war. Aber er erwachte von einem Geräusch. Seine Unterschenkel waren völlig gefühllos und taub, weil er kniend eingeschlafen war, die Kleine irgendwie noch immer in ihre drei Decken geschlungen im Arm haltend. Da war es wieder. Er legte ein wenig Holz im fast erloschenen Feuer nach, wartete, bis der Lichtkegel sich mit den neuen Flammen wieder etwas vergrößerte und suchte nach der Quelle des Lautes. Erst, als er sich absolut sicher war, bemühte er sich, die Kleine zu wecken. Sie fieberte, glühte förmlich. „Sie sind da!“, flüsterte er ihr freudig zu, „Die Leute aus deinem Dorf, sie sind da!“ Dass sie den Kopf schüttelte, realisierte er erst, als selbiger sich wieder und wieder von einer Seite zur anderen warf. Sie tat nicht einmal die Augen richtig auf, stattdessen nuschelte sie etwas aus offenstehenden, spröden Lippen hervor, dass er sich tief herabbeugen und sein Ohr fast dagegen pressen musste. „Die mögen uns nicht“, flüsterte sie, „Werfen Steine… schimpfen…“ Wieder und wieder das Gleiche. Steine. Sie werfen Steine. Solche Leute suchten nicht. Solche Leute interessierte nicht, was mit denen geschah, die sie nicht leiden konnten. Doch das warf eine noch viel, viel unangenehmere Frage auf. Wer grub sich da durch den Schnee? Alistair bettete das Mädchen so gut er konnte auf den Boden und hastete zur Front, zum Eingang der Höhle. Was er hörte, war nicht das Stoßen von Spaten und das Schippen von Schaufeln. Was er hörte, war ein rasches, fast unablässiges Scharren, kaum dass er das Ohr gegen das dicht zugeschüttete Eis presste. Mochten es Bären, Wölfe oder Wendigos sein, das spielte keine Rolle – was immer da kam, war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ihr Freund. Ein Plan musste her – und das rasch! Der Stock! Sein Blick blieb an dem Wanderstab hängen. Er konnte ihn schwingen. Von links nach rechts und zurück, von oben nach unten und zurück, er konnte ihn sogar vorwerfen und damit stoßen. Aber das war kein Waffenumgang, wirklich nicht. Und war der Feind schnell, klein, wenig, agil – oder schlimmer noch, bewaffnet, intelligent… dann wäre er verloren. Und was wird aus der Kleinen? Sein Blick glitt weiter, hektisch. Sie würde niemals lebend diese Höhle verlassen, sollte er sich entscheiden, hier zu kämpfen. Kämpfen, er! Er hatte noch nie gekämpft! Seine Gegner ausmanövriert, umtänzelt, gegen sich selbst ausgespielt, das hatte er. Aber nie wirklich und tatsächlich gekämpft. „Du hast immer so verrückte Ideen“, erscholl plötzlich die Stimme seiner Mutter wie aus dem Nichts in seinem Kopf und brachte ihn dazu, innezuhalten. Er glaubte ihre Lippen auf seiner Stirn zu spüren, ihre Finger, die durch sein Haar fuhren. Er schloss die Augen, genoss, spürte dem Gefühl nach. Er liebte es, liebte es so sehr, wenn sie ihre Hand durch seinen chaotischen Schopf gleiten ließ. Einmal, da hatte er seinem Vater die Brauen abgefackelt. Mit einer Flasche Schnaps und einer Kerze! Das ist es! Hastig jagte Alistair zurück zu ihrem Lager. „Hey, aufwachen! Komm schon, aufwachen, wir verschwinden von hier!“, erklärte er hastig und ohne jede Rücksicht auf Lautstärke. Er rüttelte die Kleine und es kam auch durchaus Bewegung in den zierlichen Leib, aber so recht ließ sie sich nicht von seiner Energie anstecken. „Behalt die Decken um dich, wir werden ein gehöriges Stück rennen müssen und ich habe wirklich keine Ahnung, wie weit oder wie kalt es draußen ist.“ Sie nickte, wenn auch nur schwach. Schließlich schulterte er den Rucksack, schob den Wanderstock irgendwo dazwischen und füllte die Inhalte seiner vielen Taschen so um, dass er den Flachmann bequem in eine davon würde stecken können. „Also gut, hör zu. Hey, konzentrier dich bitte! Bitte, bitte, bitte, hör mir zu. Das ist wichtig und ich will dich hier rausbringen, ja?“ Sie nickte vage, leicht abwesend wirkend. „Wenn ich fertig bin, gebe ich dir den hier“, erklärte er und zeigte ihr den Flachmann, „Steck den in die Tasche“, setzte er fort und deutete auf die frisch freigeräumte Tasche an seiner Weste, „Danach musst du nur die Fackel und deinen kleinen Wolf halten, ja? Die Decken und dich halte ich!“ „Silberauge“, gab sie kaum hörbar von sich. Alistair nickte verstehend. „Silberauge, sorg dafür, dass sie die Fackel festhält, fest und schön hoch, ja?“ Die Kleine drückte ein wenig fester in den Bauch ihres Tieres, das es den Eindruck erweckte, es würde nicken. Er lächelte, strich dem Mädchen über den Kopf, wie seine Mutter es sonst immer bei ihm getan hatte. „Wir kommen hier raus, vertrau mir!“ Als alles bereit war, positionierte er sich am Eingang. Er konnte bereits die großen Schemen jenseits sehen. Keine Bären, keine Wölfe. Nur geduldig auf die Schwächung ihrer Beute lauernde Wendigos. Na wenn’s weiter nichts ist. Mit einem tiefen Zug leerte er den gesamten Inhalt des Flachmannes in seine Backen, ohne auch nur einen Tropfen des widerlich stinkenden, brennenden Zeugs herabzuschlucken. Wäre das geschehen, so mahnte er sich selbst fortwährend, er hätte sich verschluckt, mehr davon herabgewürgt oder schlimmer noch, eingeatmet. Stattdessen jedoch hob er als Nächstes die Kleine empor. Sie stopfte den Flachmann in eine Tasche. Eine. Nicht die Tasche. Er sah, wie das Ding samt Ring in ihrem Stofftier verschwand – aber gut, vorläufig wäre es da wohl so sicher wie überall sonst. Sie nahm das brennende Holzscheit, das er ihr in die Hand drückte und hielt es fest umklammert. Er richtete es aus, ein wenig höher, ein wenig weiter links. Als sie soweit vorbereitet waren, wie sie sich eben vorbereiten konnten, holte er tief Luft – was sich angesichts seines brennenden, gefüllten Mundraumes als umständlich erwies – und stürmte vorwärts. Die Krallen brachen durch und rissen nun komplette zu Eisplatten erstarrte Schneeformationen heraus, als er auf einen Meter an den Ausgang herankam. Als sich die ersten Köpfe und Beine ins Innere wagten, presste er die Lippen mit aller Kraft zusammen und drückte die Wangen heran. So fein wie er es nur konnte, blies er einen enorm hochprozentigen Alkoholnebel auf die völlig überrumpelten Monster. Auf die völlig überrumpelten, über und über befellten Monster. Ein paar davon, vielleicht drei, vielleicht vier, gingen fast augenblicklich lichterloh in Flammen auf und schreckten zurück. Sie gaben dabei den Eingang frei, zu dem Alistair nun mit dem Rucksack am Rücken und dem Mädchen fest in seinen Armen an der Brust herausschoss. „Welche Richtung?!“, plärrte er hektisch über das zornige Geheule der Wendigos hinweg, während er sich bemühte, das panisch schreiende Mädchen zu beruhigen und die kleinen Flammen in ihren Haaren zu löschen. Immerhin war sie geistesgegenwärtig, einen Arm zu heben – hoffentlich, um ihm die Richtung zu weisen. Er steuerte wie angewiesen, entging durch den abrupten Wechsel einmal mehr einem Ansprung einer Kreatur, die, schon wieder, direkt gegen einen Baum sprang. Drei andere versuchten ihm den Weg abzuschneiden und brachen dabei in eine Gletscherspalte ein. Ein weiterer Wendigo, der ihnen rasant nahe gekommen war, stolperte schlicht über einen unter der Schneedecke fast unsichtbar gewesenen Stein und rollte einem zweiten, der fast aufgeschlossen hatte, direkt in die Beine hinein. Als die Siedlung in Sicht kam, holte Alistair alles aus sich heraus, was er noch finden konnte. Schließlich warf er sich einmal mehr mit dem Hosenboden voran auf einen Hang, drückte das Mädchen dicht an sich und schlitterte teilweise reichlich schmerzhaft über Stein und Eis und gefrorene Erde auf einer stetig dünner werdenden Schutzschicht aus Schnee herab. Die letzten Meter zur Dorfgrenze passierte er noch immer in jenem Tempo, als wären die Monster weiterhin auf seinen Fersen, bis er mit Schwung und einem wuchtigen Tritt das schloss einer Tür brach und hereinplatzte. Das Haus wirkte groß genug, um ein Rathaus zu sein, eine Versammlungshalle, ein Vorratsspeicher, irgendetwas von Wert. Es erwies sich als Taverne. Einer der letzten Orte, an denen er hätte landen wollen – doch er brauchte dringend Hilfe und war nicht zimperlich. „Hey da, die Tür reparierst du mir!“, fauchte der Betreiber erbost, als er aus der Küche um die Ecke geschossen kam und den leidigen Zustand seiner Eingangstür sah, „Oder zahlst zumindest dafür“, korrigierte er beim Anblick des schmächtigen Nordländers. „Hilfe, bitte! Schnell, sie braucht Hilfe!“, tönte Alistair den Einwurf ignorierend. Sofort sprang mehr als ein Dutzend der anwesenden Männer auf, fast alle, die da waren. Ein junger Bursche trat ernsten, sorgenvollen Blickes heran und zog dem Bündel Decken selbige vom Gesicht weg. Kaum erkannte er, um wen es sich handelte, verzog er das Gesicht und trat zurück. „‘S ist nur das Balg der Schlampe“, ließ er die anderen mit einem Schulterzucken wissen und setzte sich wieder. Unter Alistairs völlig entsetztem Blick hob er seinen Krug und trank einen Schluck, ehe er wieder zu ihm aufblickte. „Mach die Tür zu, ‘s zieht. Und das da solltest du wegwerfen, bevor’s dich mit irgendwas ansteckt.“ „Soll Lenikki euch ins Bier pissen, ihr miesen Ratten!“, schimpfte der Schwarzhaarige. „Ich denke, du wolltest grad gehen, Kurzer“, tönte es da vom Wirt, der sich demonstrativ auf einen an der Wand aufgehängten, mit Nägeln bestückten Knüppel lehnte – offenbar überschätzte er jedoch die eigene, nicht mehr ganz so jugendliche Figur und das damit einhergehende, zusätzliche Gewicht war kein Teil der Kalkulation. Unter einem Bersten gab die Halterung des Nagelknüppels nach und beides ging zu Boden. Der Wirt gab ein fürchterliches Aufjaulen des Schmerzes von sich, als er mit dem Unterarm in die Nagelkeule fiel. Wieder waren rasch einige auf den Beinen, um dem armen Kerl zu helfen, während andere sich eher darüber amüsierten und vor sich hin glucksten. Sie alle aber ignorierten das erbärmlich zitternde, bleiche und von kaltem Schweiß betroffene Bündel in Alistairs Armen. Das überhaupt jemand da gewesen war, das kam den meisten erst wieder in den Sinn, als sie einen neuen Schluck von ihrem Krug nahmen – und das Gebräu darin gar fürchterlich schmeckte. Auf die Tische und den Boden spuckten sie es aus und viele erinnerten sich der Worte des vorlauten fremden Halbstarken – und beschlossen, dem Knaben eine Lehre zu erteilen. Alistair dagegen war längst wieder aus dem Dorf verschwunden. „Norden“, hatte die Kleine ihm leise von zitternden Lippen zugeflüstert. Also eilte er schnellstmöglich nach Norden, aus dem Dorf heraus. Er fand eine einsame Hütte, nicht weit entfernt, und nahm sich abermals keine Zeit, anzuklopfen. Als er die Tür auftrat und das Mädchen hereinschleppte, kam ihm hastig eine Frau entgegengestürzt. „Oh Götter, nein!“, entfuhr es ihr, kaum dass er sie einen Blick auf das Gesicht des Mädchens werfen ließ. Eilig ließ er sich von ihr in ein kleines Zimmer führen, kaum größer als eine etwas opulentere Abstellkammer. Die junge Elbe wurde auf ihr Bett gelegt. Selbst jetzt noch hielt sie Silberauge fest umklammert. „Im Nebenraum steht ein Schrank, linke Tür, zweites Fach von unten, darin sind Umschläge! Rasch!“, wies ihn die Herrin des Hauses an. In aller Hast und Eile stürmte Alistair ins Nebenzimmer, verschwendete keinen Blick an das ohnehin karge und schmucklose Interieur, sondern kehrte so zügig wie möglich mit dem Erbetenen zurück. Er beobachtete, wie sie sich die nächsten Minuten rührend um die Kleine kümmerte und fand darin die Sorgsamkeit und Liebe einer Mutter wieder. Es ließ ihn für einen Moment vergessen, dass er flüchtig war, dass er fortgelaufen war. Es ließ ihn sich an daheim erinnern. An seine eigene Mutter. Und deren Fürsorge, wann immer er sich auch nur das Knie aufgeschrammt hatte. Immer wieder schickte sie ihn los, mit direkten, schmucklosen Beschreibungen, um dies und jenes zu holen. Die Wunde sah furchtbar aus und verursachte Übelkeit in ihm, doch er riss sich zusammen. „Kommt sie durch?“, wollte er wissen, als sie eine ganze Weile schon nichts mehr verlangt und nichts mehr getan hatte, außer an ihrem Bett zu sitzen und der Kleinen immer wieder über das Haar zu streicheln, während ihr schwacher Atem die schwere Bettdecke kaum hob. Dicke Tränen rannen ihr heiß brennend die Wangen herab. „Ich… ich weiß es nicht“, erwiderte sie heiser und mit belegter Stimme. „Mammi…?“, ächzte das Mädchen fast unhörbar und wälzte sich einen Moment herum, „Erzähl… mir eine…“ Sie verlor sich in unzusammenhängendem Gebrabbel und Fiebererzählungen. Alistair wollte bereits sein Beileid aussprechen – er wusste, was es bedeutete, wenn die Mütter nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu tun wussten, als ihren Kindern so viel Ruhe und Liebe mit auf den Weg zu geben wie ihnen möglich war. Doch just als er den Mund öffnete, ertönte ein seltsamer Laut. Ein leiser, gedämpfter Knall, so schien ihm. „Oh nicht jetzt, nicht schon wieder…“, flüsterte die Hausherrin und senkte den Blick. Alistair dagegen neigte sich leicht in den Rücken und spähte in den Nebenraum. … da stand jemand. Ein alter Zausel, so schien ihm. Ein hübscher, weißer Bart, sehr gepflegt, eine lange, edel wirkende Robe. Er hatte einen dick ausgebeulten Rucksack auf dem Rücken und einen Stab in der Hand, an dessen Ende ein kleiner Kristall in einer Metallfassung schimmerte. „Das kann doch einfach nicht wahr sein, nicht schon wieder“, nuschelte der Alte und zog sich den Spitzhut vom Kopf, „Das ergibt doch einfach keinen Sinn!“ Während die leisen Verwünschungen und das Geschimpfe aus dem Nebenraum nicht mehr wirklich abzureißen schienen, begradigte Alistair seine Position wieder und blickte die um ihr Kind bangende Mutter an. „Wer… wer ist das?“, hakte er vorsichtig nach, unsicher, ob ihm das zu fragen überhaupt zustand. Es war seines Wissens nach nicht unbedingt sonderlich… gewöhnlich… das fremde Männer in den Wohnstuben offenbar alleinwohnender Weiber auftauchten. „Ich weiß es nicht“, erklärte sie leise, ohne den Blick von ihrer Tochter zu heben, „Seit fast einer Woche taucht er einmal am Tag auf. Anfangs war es noch außerhalb der Hütte, aber mit jedem Tag kam er näher heran. Das ist das erste Mal, dass er im Haus ist.“ „Ihr… habt ihn nie gefragt?“, hakte Alistair irritiert nach. Sie schüttelte den Kopf. „Sieh dir doch die Robe an, Junge. Das ist ein Magier des Zirkels. Mächtige und gefährliche Leute. Mit denen lässt man sich nicht ein, wenn man nicht muss. Sowas endet selten gut.“ Nur zu gerne hätte Alistair behauptet, dass er das natürlich wusste. Tatsächlich jedoch hörte er zum ersten Mal etwas von Magiern. Natürlich wusste er, was Magie war. Falsch und unnatürlich, soweit zumindest die in Lairuinen verbreitete Meinung. Was er sich aus den Erzählungen immer mitgenommen hatte, ging eher in Richtung: Man konnte damit alles machen, was man sich nur vorstellen kann. Das klang in seinem Kopf nicht nur fantastisch, es klang einfach wundervoll! Doch an ihrer Erklärung blieb noch etwas anderes dran, das in seinem Kopf haftete und leuchtete und Glocken läutete: Magier des Zirkels waren mächtige Leute. Mächtig. Man ließ sich nur mit ihnen ein, wenn man musste. Sein Blick fiel wieder auf das Mädchen. Sie zitterte. Trotz allem, was ihre Mutter geleistet hatte, wurde sie blasser, schwächer. Man konnte ihr regelrecht beim Sterben zusehen. Und der Anblick drehte ihm fast den Magen um. Entschlossen und von der Hausherrin ignoriert trat er in die Wohnstube herüber. „Guten Tag, der Herr!“, begrüßte er den Eindringling. Der schreckte zunächst aus seiner kleinen Litanei auf und musterte den Halbstarken von Kopf bis Fuß und zurück. „Ein Bursche mit Manieren, hm? Einen guten Tag auch, junger Mann!“, erwiderte der Alte und positionierte sich offenbar sehr genau im Raum. „Gibt es ein Problem, das ihr tagtäglich hierher zurückkehrt? Mögt ihr meiner Mutter vielleicht eure Aufwartung machen?“ Der Alte lachte kurz. Heiter, freundlich und allem voran, ehrlich. Es gab an ihm nichts, absolut gar nichts, das Alistair als bedrohlich empfand. „Nein, nein, mein Junge, das wirst du auf einen besseren Galan warten müssen. Einen Jüngeren allem voran, mag ich meinen. Es ist nur so, dass ich nun schon seit einer Woche versuche, mittels meiner Teleportrunen zum Symposium in Ordewey zu kommen, um meine neuste alchemistische Kreation mit ihren regenerativen kombinatorischen Effekten zu präsentieren, aber wann immer ich den Zauber wirke, lande ich in dieser verflixten Hütte!“ Wow. Ich habe so gut wie nichts begriffen. Angesichts der durchschnittlichen Intelligenz und Belesenheit in Lairuinen… fühlte sich Alistair wirklich selten ungebildet oder dumm. Aber hier, im Gespräch mit einem echten, einem waschechten Magier? Kann man Magier eigentlich waschen? Macht das einen Unterschied? Er schüttelte kurz den Kopf. Immerhin etwas hatte er herausgehört: Regenerativ. Das hieß so viel wie Heilung, nicht? „Ihr habt einen Heiltrank dabei?“, platzte er hoffnungsvoll heraus. Sofort hielt der Magier inne und musterte ihn abermals, doch weitaus intensiver, misstrauischer, kritischer. „Bist du für die Störung meiner Zauber verantwortlich, mein Junge?“, erkundigte sich der alte Zausel argwöhnisch, „Ist das hier ein Raub?“ Hastig hob Alistair die Hände, als immer mehr und immer horrendere Vermutungen die Lippen des Alten verließen. „Nicht doch, nein! Bitte, hört mir zu, im Zimmer nebenan liegt ein kleines Mädchen und sie stirbt!“ Er sah zurück zum Bett der Kleinen, sah, wie ihre Mutter den Kopf hob, wie ihr Blick, wütend und ungnädig und so voller bodenlosem Kummer ihn für eine Sekunde traf, ehe sie sich wieder ihrer Tochter widmete. Der Magier dagegen runzelte die Stirn und zog überlegend die Brauen zusammen. „Ein sterbendes Mädchen, sagst du?“ Vorsichtig und Alistair keine Sekunde aus den Augen lassend, beugte er sich vor und spähte in das Zimmer hinein. „Ach du gute Güte, Jebis hilf!“, platzte es da aus dem Alten heraus und hastig schob er Alistair aus dem Weg, um überraschend eilig in das Zimmer zu schreiten. „Zur Seite, gute Frau, ich bin Heiler! Und nichts für ungut, aber bei dem armen Ding kann eure magere Kräuterkunde auch nichts mehr richten.“ Er ließ den Rucksack behutsam von seinem Rücken gleiten und zog einen gewaltigen Glaskolben daraus hervor. „Ich muss euch warnen, Teuerste – das ist eine experimentelle Rezeptur, ich habe sie noch nicht erprobt und kann euch über die Nebeneffekte noch nichts sagen.“ „Wird sie es überleben?“, war das Einzige, was die Hausherrin wissen wollte. „Das ganz gewiss, so wahr ich hier stehe!“, erklärte er mit tiefer Ernsthaftigkeit, ehe ihm seine Position bewusst wurde und er leicht verlegen nachsetzte „Äh, sitze.“ Alistair dagegen hatte tausende Fragen. Sicherlich, sie hatte die einzig Wichtige gestellt. Aber es gab so viel anderes zu erfahren. Würde die Kleine grün werden? Wuchs ihr ein drittes Auge auf der Stirn? Könnte sie plötzlich fliegen? Oder mit Tieren sprechen? „He da!“, brüllte plötzlich eine kräftige Stimme von draußen, „Wir wissen, dass der Halbstarke da drin ist! Bring‘ ihn raus, dann müssen wir nicht rein kommen!“ Alistair erkannte die Stimme. Unangenehmerweise schien ihm der junge Mann aus der Taverne gefolgt zu sein – und dem zustimmenden Gemurmel nach zu urteilen war er auch nicht allein gekommen. Der alte Magier hatte dem Mädchen gerade einen guten Schluck aus seinem überdimensionierten Kolben eingeflößt, als er zu Alistair herüber blickte und eine der buschigen weißen Brauen hob. „Freunde von dir, hm?“ Unsicher tippelte Alistair von einem Fuß auf den anderen und sah sich nach möglichen Fluchtrouten um. „Würde ich so nicht sagen“, gab er gedankenverloren von sich. „In der Küche ist eine Hintertür“, erklärte die Hausherrin hastig und wies ihm die Richtung. „Ich befasse mich mal mit den Herrschaften da draußen“, gab der Magier zu verstehen und hievte sich unter einem Ächzen wieder auf die Beine. „Danke. Danke, danke, danke!“, platzte Alistair heraus, fiel zuerst dem deutlich überraschten Magier um den Hals, der ihn nach einem Moment der Verzögerung jedoch tatsächlich in die Arme schloss und ihm auf die Schultern klopfte, ehe er Richtung Vordertür davon schlurfte, danach… trat er an das Bett heran. Das junge Ding sah jetzt schon so viel besser aus als vorher. Dieser Anblick entlockte ihm ein zufriedenes Lächeln. „Ich wüsste so gerne, was dort draußen geschehen ist, ich war krank vor Sorge“, erklärte die Mutter ihm, als sie sich erhob und ihr Kleid glatt strich. Dann jedoch nahm sie ihn bei den Schultern und sah ihm tief in die Augen. „Ganz gleich, was war. Du hast mir mein Kind zurückgebracht und sein Leben gerettet. Ich… ich kann dir dafür nicht genug danken.“ Sie zog ihn an sich und Alistair hätte sich so gerne geborgen gefühlt, er hätte sich so gerne sicher gefühlt, so gerne an Zuhause erinnert gefühlt. Tatsache war jedoch: Er war tatsächlich ein Halbstarker. Er war in einer schwierigen Phase. Und er spürte, wie ihm das Blut in gegenwärtig völlig unerwünschte Regionen abhandenkam, als sein Hirn erst einmal realisiert, wie weich und angenehm üppig ihre Brust war, die von nicht mehr als einem für die Witterungsverhältnisse erstaunlich dünnem Kleid im Zaum gehalten wurde. Mit den Gedanken in alle Himmelsrichtungen verstreut, riss er sich von ihr frei. „I-Ich, uh, m-muss los!“, presste er nervös stammelnd hervor. Erst eilte er in die Wohnstube und hätte sich fast zu Boden geworfen, als er einige Leute mit dem Magier sprechend direkt vor der Vordertür sah. Dann hastete er zurück, nahm den von der lächelnden Hausherrin gewiesenen zweiten Ausgang des Zimmers und wäre bereits um Haaresbreite zur Hintertür herausgestolpert, als er nochmals in das Zimmer des kleinen Mädchens zurückschoss. „T’schuldigung!“, nuschelte er hastig, packte Silberauge und fischte in der Öffnung herum, die die Kleine verwendet hatte, um den Flachmann und den Ring sicher zu verstauen. Als er die Flasche ertastete, zog er daran und rupfte ein wenig, als sich etwas Widerstand auftat. Hastig und ohne einen zweiten Blick stopfte er das Ding unter dem nunmehr verwirrten Blick der Mutter in seine Tasche. „Lange Geschichte, kann sie dir später erzählen! Danke und, uh, schönen Tag noch!“ Eilig stürmte er zur Hintertür heraus und sah zu, das er so schnell so weit wie möglich fort kam. Wendigos? Pff! Lieber legte er sich doch nochmal mit einem Dutzend von denen an, als der angefressenen Meute aus der Taverne zu begegnen. Wie die drauf sein konnten, das wusste er nur zu gut. Und wie er schon früher festgestellt hatte: Wendigos sollten zornige Dörfler in Rotten fürchten. Und wenn die Wendigos das schon fürchten sollten, dann galt das für ihn doppelt und dreifach! Er rannte. Rannte so weit und so lange, bis ihm die Puste ausging und seine Muskeln allesamt kreischend und brennend nach Pause verlangten. Mit den Händen auf die Oberschenkel gestürzt, blickte er sich um und lächelte zufrieden, sehr zufrieden. Keine Hütte und kein Dorf weit und breit. „So. Dann tun wir jetzt so, als wäre das alles nie passiert und laufen weiter nach Sü-… hm. Wo wohl Süden ist?“   Vierzehn Jahre später. „Ishara, das ist Alistair. Alistair, Ishara. Ihr werdet euren nächsten Einsatz miteinander bestreiten und versuchen, euch in-“ Jaja. Blah, blah, blah. Hmmm. Irgendwie kommt mir ihr Gesicht bekannt vor. Habe… habe ich sie nicht schon einma- Jeder, der Alistair auch nur ein klein wenig kannte, fürchtete dieses manische Funkeln, wann immer es in seine Augen trat. Ishara dagegen konnte das noch nicht von sich behaupten. Diese Ohrringe vermisst sie nie im Leben! Uh schau nur wie sie glänzen!   Viele Jahre war es her, das Alistair den Flachmann für ein paar Kupfer verkauft hatte. Er brauchte kein Relikt alter Tage, um sich daran zu erinnern, warum er Lairuinen verlassen hatte. Sein Lebensstil erinnerte ihn tagtäglich daran. Und der Schnee in seinem Blut. Den Ring seiner Mutter aber, den vermisste er gelegentlich. Er wusste nicht recht, wie, wann oder wo er ihn verloren hatte. Aber verloren hatte er ihn – und bei einem so bedeutenden Stück wie diesem zählte dieser Verlust zu den wenigen Dingen, die er weder vergessen, noch sich verzeihen konnte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)