Stille von GreenDarkness (Innere Zweifel) ================================================================================ Kapitel 1: Innere Zweifel ------------------------- Ich hatte eigentlich erwartet, dass mein Geburtstag einfach sang- und klanglos an der Welt vorbeiziehen würde. Eine Party hatte ich erst für die nächste Woche angesetzt. Deswegen habe ich mit meinen Geschwisterleins ein bisschen gezockt. Ist ewig her, seit wir das mal wieder gemacht haben. Vollkommen unbesorgt. Wir waren in die Zeit zurückversetzt, als meine Selbstzweifel mich nicht auffraßen, als wir einfach nur des Spielens willen geschrien und gelacht haben. Es war so schön gewesen meine Gedanken in unschuldige und kindische Bahnen zu lenken. Bloß nicht nachdenken. Einfach nur mal wieder lachen. Freudige Gedanken verfolgen. Mir fielen die vielen Geschichten ein, die ich bisher gelesen hatte und verlor prompt mein Leben in dem Spiel. Dann vibrierte mein Handy. Erschrocken zog ich es lachend aus meiner Hosentasche und übergab meinem kleinen Bruder den Controller von dem alten Supernintendo. Die alten Spiele machten mir am meisten Spaß. Die Vibration von meinem Handy erschrak mich noch immer. Nichts ahnend sprach ich erheitert in den Hörer: „Ja?“ „Hallo, Nathalie! Ich bin es, Gabi. Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag!“ Ich konnte nichts anderes außer „Aha.“ erwidern. Plötzlich war es gar nicht mehr so lustig. Meine Heiterkeit hatte sich erschrocken in die Dunkelheit begeben. Zurück blieb nur eine füllende Leere. „Der Zug kommt gleich am Bahnhof an. Ich würde dir gern dein Geschenk geben. Soll ich dann…“ „Ich komme. Du brauchst nicht hier her zu kommen, ich komme zum Bahnhof.“ Nach ihrem „Bis gleich“ legte ich auf. Die anderen wussten natürlich schon, wer dran gewesen war. Das merkte man uns immer sofort an. Ich wusste es, sie wussten es. Wie ein kleines gut gehütetes Geheimnis. „Was hat sie gesagt?“, fragte meine kleine Schwester sofort. Alle schwiegen, das Spiel war schon angehalten worden. Komisch, dass niemand mehr lachte. Es schien, als wagte es niemand mehr lustig zu sein. „Sie will mir ein Geschenk geben.“, antwortete ich ihr nur knapp und stand auf, um meine Schuhe und meine Jacke zu holen. Mein kleiner Bruder nahm das Spiel wieder auf. „Ich bin gleich wieder zurück.“ Die Stimmer meiner kleinen Schwester rief durchs Treppenhaus: „Wie, die ist hier?“ „Sie kommt zum Bahnhof.“, sagte ich während ich meine Jacke anzog. Eine grimmige Entschlossenheit wühlte sich in mein Gesicht. Die erkaltete Wut kam verblüffend klar durchdacht zurück. Dieses Mal war ich vorbereitet. Die Worte schwebten mir klar umrissen vor. Ich fühlte mich bereit. Bereit damit abzuschließen. Die Erwartung einer Erleichterung schlich sich ein. Endlich könnte ich das ein für alle Mal beenden. Nach diesem Gespräch werde ich leichten Herzens wieder zurück kommen. „In einer halben Stunde bin ich wieder da. Wenn Papa fragt, ich bin spazieren!“ Die Tür fiel ins Schloss und nun war ich mit meinen Gedanken allein. Mir fiel so viel ein, was ich ihr sagen wollte. Ich würde ihr sagen, dass sie sich gefälligst schleichen sollte. Dass ich sie nicht wieder sehen wollte, dass ich sie nicht brauchte! Ooh, ich bin schon so lange ohne dich wunderbar zurecht gekommen. Da brauch ich dich jetzt auch nicht mehr. Die Luft war kalt, aber auf meinem Weg zum zehn Minuten entfernten Bahnhof erhitzten mich meine Gedanken von innen. Die Kälte prallte auf taube Haut. Ich kam an und sah wie der Zug gerade einfuhr. Ich versuchte am Bahnsteig meine Mutter zu erkennen und fragte mich, wie viel sie sich geändert hatte. Ob ich sie überhaupt noch erkennen würde. Ob ich ihr ansehen könnte, was sie uns schon alles angetan hat. Ob man an ihrem Gesicht ihr Alter und Leiden sehen konnte. Wie bei mir, wenn ich einen Blick in den Spiegel warf. Sie kam die Treppen hoch. Ich realisierte erst, dass diese Person meine Mutter war, als sie lächelte und auf mich zukam, mit ihren Armen ausgebreitet. Beinahe hätte sie mich überrumpelt. Ich entzog mich der geplanten Umarmung. Das hatte ich nicht erwartet. Ich konnte es kaum glauben. Hier stand sie vor mir, zum ersten Mal seit zwei oder drei Jahren. Vielleicht waren es auch vier, eigentlich war mir das egal. Aber sie hatte sich seitdem verändert. Anscheinend hatte sie einen Sinn für Mode. Gehabt oder entwickelt konnte ich nicht sagen. Sie trug einen roten Mantel, ihre Haare waren sogar vernünftig gefärbt und sie… sah gut aus. Sie sah in der Art gut aus, wie Menschen es pflegten andere zu bezeichnen, wenn man ihnen nicht ansehen konnte, was alles in deren Vergangenheit passierte. Wenn man den Eindruck gewinnen konnte, die Person, die vor einem stand, war recht selbstsicher und mit sich im Reinen. Und sich keiner Schuld bewusst. Dem Anschein nach hatte sie gearbeitet, ein Studium beendet, war in eine neue Wohnung gezogen. Sie hielt eine Tüte in ihrer Hand. Ich wollte sie nicht. Ich wollte dieses Geschenk nicht. Egal, was für ein technisches Spielzeug darin auch sein mochte, ich wollte es nicht. Das hieße, dass es eine Verbindung zwischen uns geben könnte. Wenn ich das Geschenk annehmen würde, hieße es, ich hätte ihr verziehen. Und verzeihen wollte ich ihr nicht. Zumindest nicht jetzt und nicht hier. Nicht, wenn sie ungefragt einfach hier auftauchte und sich herausnahm mir ein Geschenk überreichen zu wollen. Sie hatte mir von Anfang an keine Wahl gelassen. Sie hätte, bevor sie überhaupt auf die Idee gekommen wäre hier hin zu fahren, anrufen können. Damit ich wenigstens die Wahl gehabt hätte sie abzuweisen. Aber das hat sie geflissentlich übergangen. Und in die Nähe unseres Zuhauses würde ich sie nicht lassen. Nicht näher als hier. Sie wollte unbedingt wieder Kontakt aufnehmen, hatte sie gesagt. Sie durfte ja nicht in unsere Nähe kommen, hieß es. Bloß ein Handy, mehr wollte sie nicht abgeben. Nur ein Handy, mit ihrer Nummer drin. Die Nummern meiner kleinen Schwester und meines kleinen Bruders wären auch eingetragen. Die Handys würde sie zu Weihnachten schicken. Ich sollte es ihnen aber noch nicht verraten. Was ich mir komischerweise sogar zu Herzen nahm. Ich würde ihnen nicht sofort sagen, dass sie Handys bekommen würden. Zwei Millisekunden, nachdem ich das gedacht hatte, erkannte ich meine Leichtgläubigkeit und nahm mir vor das als allererstes zu sagen. Und ich sagte endlich, dass ich es nicht haben wollte. Sollte sie meinen Geschwistern die Dinger ruhig schicken, ich wollte dieses dumme Ding nicht. Ich hatte sogar Angst, dass es mir gefallen könnte. Und dann fing sie an zu weinen. Ich dachte bloß, dass sie nicht fair spielte. Sollten normalerweise nicht die Eltern stark für ihre Kinder sein? Wie konnte sie bloß erwarten, dass ich einfach so aus dem Blauen ihr Geschenk annehmen und künftig Kontakt mit ihr halten würde? Wo war sie in ihrer Kalkulation in die Traumwelt abgerutscht? Sie hörte nicht auf. Um der lieben Ruhe willen habe ich das Geschenk doch tatsächlich angenommen. Ich kann es noch heute nicht fassen. Die Tränen dieser Frau haben mich so schuldig fühlen lassen. Ich hatte es geschafft sie zum Weinen zu bringen. Als die Tüte nun endlich ihren Besitzer gewechselt hatte, beruhigte sie sich unglaublich schnell. Sie hatte damals keine andere Möglichkeit gesehen. Sie hatte viel mit ihren Freundinnen darüber diskutiert und einfach keinen Ausweg gesehen. Ein kleiner Schluchzer sprang noch dazwischen. Sie entschuldigte sich. Sie war schon verzweifelt gewesen. Und dann hätte ich den Ausschlag gegeben. „Du hast mir gesagt, dass du sterben wolltest. Verstehst du? Ich konnte dich doch nicht da lassen!“ Mir lief nicht der literarisch bekannte kalte Schauer über den Rücken. Ich erstarrte nicht zu Stein, eiskalt war mir auch nicht. Ich konnte nicht einmal mein Herz pochen hören, geschweige denn fühlen. Ich konnte nur immer und immer gedanklich wiederholen „Du wolltest sterben. Ich hatte keine Wahl. Du wolltest sterben. Ich hatte keine Wahl. Du wolltest sterben. Du wolltest sterben. Sterben.“ Kannst du dir das vorstellen? Du warst so klein, gerade mal vier oder fünf Jahre alt, und du wolltest sterben. Natürlich sorgt sich da jede Mutter zu Tode! Ich konnte doch nichts anderes tun, als dich und deine Geschwister zu nehmen und ihn zu verlassen! Ich habe es für dich getan! Und damit hat sie gleichzeitig alle Schuld auf mich abgeladen. Also war es mein Verschulden, das sie endgültig dazu motiviert hat uns fünfzig Kilometer zu entfernen, von unserem zu Hause zu verschleppen, uns von unserer Herkunft abzuschneiden, uns fortzubringen? Was hat sie bei dieser ganzen Sache beigetragen? „Dein Vater ist kein so netter Mensch, wie du glaubst. Aber das will ich dir nicht erzählen. Ich will dich gar nicht damit belasten. Aber du glaubst nicht, was er für ein Mensch ist, was er von mir verlangt.“ Natürlich hatte ich gefragt. Wer fragt nicht, was der geliebte Vater von der Mutter verlangt? Wen würde diese kleine Affäre nicht interessieren? „Er verlangt, dass ich bezahle. Er schickt mir ständig Rechnungen, die so hoch sind, die kann ich gar nicht bezahlen! Und das werde ich auch nicht. Ich werde nicht bezahlen. Aber das hätte ich dir gar nicht sagen sollen.“ Wenn es ihr Ziel gewesen war mich gegen meinen Vater aufzubringen, dann ist sie da ganz schön schief gewickelt worden. Es hat mich in meiner Annahme bestätigt, dass sie sich nicht um uns kümmern will, solange es mit so viel Verantwortung verbunden ist. Und trotzdem war ich verunsichert. Ich hatte geglaubt, dass überhaupt kein Kontakt mehr mit ihr bestünde. Da keines der Kinder Kontakt zu ihr aufnahm, hatte selbstverständlich der Vater, logischerweise, auch keinen Kontakt zu ihr. An dem Zeitpunkt merkte ich, wie naiv ich gewesen war. So naiv tatsächlich geglaubt zu haben, dass keine Bande mehr vorhanden waren. Und ich merkte, dass ich nicht vorbereitet war. Dass ich nicht bereit war das schon jetzt und heute zu beenden. Heute würde es einfach nicht mehr beendet werden. Und dann verließ ich den Bahnhof. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie mich begleitete oder sonst noch hier herumlaufen würde, deswegen habe ich gewartet, bis der nächste Zug zurück kommt. Sie sollte nicht denken, dass sie ein Recht habe hier zu sein, bloß weil sie es geschafft hatte mir diese dumme Tüte anzudrehen. Und jetzt spürte ich die Kälte. Mir war so kalt, dass ich das Gefühl hatte meine Finger würden gleich erstarren. Ich biss mir heftig auf die Zähne, weil mein Körper so zitterte. Die Tüte schien so schwer. Ich war versucht sie irgendwo hinzuschmeißen, gegen diese Hauswand oder dieses Tor zu schmettern, aber ich wollte mir nicht nehmen lassen das Handy meiner kleinen Schwester oder meinem kleinen Bruder zu schenken. Eine kleine Rebellion, um zu zeigen, dass ich das Geschenk letzten Endes nicht angenommen hatte. Nicht mit dem Herzen. Ich hatte ihr nicht verziehen. Zu Hause angekommen kamen wider Erwarten nur wenige Fragen. „Was wollte sie? Wie sieht sie aus? Was hat sie dir geschenkt?“ Ich war entnervt. Ich wollte keine dieser Fragen beantworten und antwortete doch, weil ich wusste, dass ich das meinen kleinen Geschwistern schuldig war. Ich versuchte meinen Ärger nicht an ihnen auszulassen. Sie konnten schließlich gar nichts dafür. Sie waren schließlich nicht diejenigen, die hatten sterben wollen. Meine gute Laune von vorhin wollte sich nicht mehr einstellen. Obwohl ich versuchte so normal und lustig wie zuvor zu sein, merkte ich, dass der Tag vorbei war. Versaut. Die Sorglosigkeit würde mir heute ihr Gesicht nicht mehr zeigen. Nach außen mag ich vielleicht wieder wie vorher gewirkt haben, aber die Bilder auf dem Bildschirm erheiterten mich nicht mehr. Ich wollte nicht, dass ich ausgerechnet wegen ihr so war. Das war doch nicht fair. Jahrelang keinen Kontakt und die Einzige, die so aus der Bahn geworfen wird, war mal wieder ich. Sie schien so gut in ihrem Leben zurecht zu kommen. Bei ihr war scheinbar alles in Ordnung. Am Ende des Tages saß ich in meinem Zimmer und dachte über das Sterben nach. Und dann kam mir der Gedanke, dass meine Mutter mich belogen haben könnte. Ich war vier oder vielleicht schon fünf Jahre alt gewesen. Wir hatten keine Haustiere. Meine Opas waren gestorben, bevor ich geboren gewesen war. Ich hatte keine Ahnung von Tod. Wie konnte ich dann sterben wollen? Ich fragte mich wieder einmal, was genau meine Mutter dazu veranlasst haben könnte uns unserem Leben zu berauben. Was hat sie dazu gebracht uns in einer Wohnung verwahrlosen zu lassen? Die einzige Antwort, die mir plausibel genug erschien, war, dass sie tatsächlich psychisch gestört gewesen war, wie Papa das immer und immer wieder versuchte uns klar und deutlich zu erklären. Und vielleicht auch heute noch ist. Und mir machte der Gedanke Angst, dass ich ihre Tochter war. Ich habe ihre Gene. Ich könnte genauso verrückt werden. Es besteht eine 15-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ich ihre Krankheit geerbt habe. Ich musste gezwungenermaßen an meine zahllosen Therapiestunden denken und vergrub mich in meiner Bettdecke. Ich wollte nur noch aufhören zu denken. An etwas anderes denken ist besser. Denk an die vielen Geschichten, die du bisher gelesen hast. Denk daran, wie sie dich zu Tränen gerührt oder zum Lachen oder beides gleichzeitig gebracht haben. Denk an was anderes. So ist es gut. Morgen kannst du ja wieder ein bisschen an dem alten Nintendo spielen. Ein bisschen Spaß muss schließlich sein. 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