Amnesie von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 13: Schlaf ------------------ „Ein Bett!“ Dean strahlte übers ganze Gesicht, als er das Motelzimmer betrat und die Schlafstätte erblickte. Ohne sich im Geringsten um irgendetwas zu scheren – weder um Bobby, der auf sie zukam, noch um Sam, der immer noch etwas verloren wirkte – breitete er seine Arme aus, als wollte er das Bett in eine innige Umarmung schließen, und ließ sich erleichtert seufzend auf die weiche Matratze fallen. Es war ein wundervolles Gefühl! Dean spürte regelrecht, wie alle Knochen und Muskeln in seinem Körper aufatmeten. Glücklich darüber, die Eiseskälte hinter sich gelassen zu haben und sich endlich etwas Ruhe gönnen zu können. Nach einem Blick auf den Radiowecker bemerkte Dean, dass sie gut fünf Stunden unterwegs gewesen waren. Ihm selbst war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Nur am Rand seines Bewusstseins bekam er mit, wie Bobby sich Sam krallte und ordentlich in die Mangel nahm, da dieser es gewagt hatte, ihn niederzuschlagen. Bobby drohte mit Strafen apokalyptischen Ausmaßes und beschrieb seine Foltermethoden dermaßen bildlich, dass selbst Castiel kurz ein wenig sein Gesicht verzog. „Es tut mir ja leid“, meinte Sam in einem typischen Ich-bin-bloß-ein-unschuldiger-Junge-Tonfall. „Ich möchte es wieder gutmachen.“ „Das ist auch das mindeste“, brummte Bobby. „Zu Anfang kannst du mein Haus aufräumen, putzen und mir zwei Monate das Essen kochen.“ „Einverstanden“, erklärte sich Sam sofort ohne Umschweife bereit. Er schwieg daraufhin einen Moment und fragte schließlich: „Kann ich denn kochen?“ Ein Frage, die auch Bobby zögern ließ. „Ähm, keine Ahnung.“ Erwartungsvoll wandte er sich an Dean. „Kann er kochen?“ Dean vergrub daraufhin bloß sein Gesicht im Laken. Was sollte denn diese dämliche Frage? „Gib Sam ein Kochbuch und dann wird das schon“, nuschelte er. Er hatte im Moment wahrlich Wichtigeres zu tun, als sich über Sam Kochkünste zu unterhalten. Am liebsten hätte er geschlafen. Tief, fest und lang. Nachdem Bobby ihn um drei Uhr morgens wenig liebevoll aufgeweckt und auf den Schnee aufmerksam gemacht hatte, hatte Dean keine ruhige Minute mehr gehabt. Und allmählich rächte sich diese Fahrlässigkeit gewaltig. Er hatte den Eindruck, dass er noch niemals in seinem Leben dermaßen ausgelaugt gewesen war. Die ständige Anspannung und die stundenlangen Märsche durch den hüfthohen Schnee forderten ohne Kompromisse ihren Tribut. Nur mal kurz die Augen schließen … Mehr brauchte Dean gar nicht. Aber im Moment war unglücklicherweise einfach nicht die Zeit für etwas Schlaf. „Hast du was rausgefunden?“, fragte er stattdessen Bobby und richtete seinen Oberkörper ausgesprochen widerwillig wieder auf. Wäre er weiterhin in der Waagerechten geblieben, wäre er sicherlich eher früher als später ins Land der Träume versunken. „Ein paar interessante Dinge“, meinte Bobby, nachdem er Sam auf einen Stuhl geparkt hatte, der weit entfernt von Waffen jeglicher Art war. „Ich konnte den Weg der Kette einigermaßen zurückverfolgen. Zwar mit Miles‘ Hilfe, wie ich nur ungern zugebe, aber immerhin.“ Dean spitzte die Ohren und wartete gespannt auf die Dinge, die folgen würden. Auch Castiel wirkte aufmerksam, während er gleichzeitig die Goldkette, die auf dem Tisch neben dem Laptop lag, im Auge behielt. Beinahe so, als erwartete er, dass sie im nächsten Moment zum Leben erwachen und sie alle anfallen würde. „Miles wusste eine Menge über diesen antiken Kram“, begann Bobby. „Und er war wohl ganz froh, dass ich ihn ausfragte. Hat ihn vermutlich von der derzeitigen Situation abgelenkt. Und dieses Thema war ihm weitaus angenehmer als die Familiengeschichte der Woods‘.“ Bobby verzog kurz das Gesicht. Seine Abneigung gegenüber diesem Mann hatte sich wohl trotz alledem nicht geändert. „Die Kette hat offenbar zusammen mit anderen alten Schmuckstücken eine Zeit lang in einem Museumsarchiv bei Washington gelegen, ehe sie hierher nach Willcox kam“, fuhr Bobby fort. „Zuvor jedoch war sie viele Jahrzehnte im Besitz eines Museums in Athen. Dort wurde sie ausgestellt, nachdem sie aus der privaten Sammlung eines reichen Geschäftsmannes Ende des 19. Jahrhunderts nach Griechenland überstellt worden war.“ Bobby hatte wohl seine freie Zeit ordentlich genutzt, wie Dean feststellte. Den Weg eines einzelnen Schmuckstücks zu rekonstruieren war zumindest sicherlich nicht einfach. „Und?“, hakte er hierauf nach. „Irgendwelche Besonderheiten?“ „Nichts“, meinte Bobby schulterzuckend. „Abgesehen von den ungewöhnlichen Todesfällen.“ Dean horchte auf. „Ungewöhnliche Todesfälle?“ Bobby nickte bestätigend. „Der besagte Privatsammler hatte das Stück um 1890 erworben, nachdem es kurz zuvor von Archäologen entdeckt worden war. Er fügte es voller Stolz seiner beeindruckenden Sammlung hinzu … und starb fünf Wochen später.“ Bobby schwieg einen Moment, um die Neuigkeit wirken zu lassen, ehe er hinzufügte: „Er stürzte unglücklich eine Treppe hinunter.“ Dean runzelte die Stirn. „Wow, das ist …“ Er kratzte sich am Kopf und suchte nach den richtigen Worten. „Ich gebe zu, es ist sonderbar, aber es könnte immer noch ein Zufall sein.“ Bobby schüttelte entschieden den Kopf, bevor er fortfuhr: „Der Sohn des Geschäftsmanns erbte die Sammlung … und starb einige Wochen später an Herzversagen. Ein junger, gesunder Mann. Er fiel einfach tot um.“ Dean warf einen Blick zu Castiel, der Bobbys Ausführungen konzentriert lauschte. Ebenso Sam hörte interessiert zu, auch wenn man ihm ansah, dass er sich nicht ganz sicher war, worum es eigentlich ging. „Danach wurde die Kette dem bereits erwähnten Athener Museum übergeben“, meinte Bobby. „Und dort gab es in der letzten Jahrzehnten auch einige eigenartige Todesfälle, die alle in engeren Zusammenhang mit der Kette stehen. Ebenso im Archiv in Washington starben unerwartet ein Archivar und zwei Lagerarbeiter, kurz nachdem ihnen die Kette überstellt worden war.“ Dean musste nun ehrlich zugeben, dass das viel zu gut zusammenpasste, um einfach bloß Zufall zu sein. „Die Todesarten waren ganz verschieden“, sagte Bobby. „Einer ist ertrunken, ein weiterer starb bei einem Autounfall und ein anderer erlitt einen Schlaganfall. Alles mehr oder weniger natürlich und dermaßen wahllos, dass die Verbindung bisher niemanden aufgefallen ist. Ich persönlich hätte auch nichts Übersinnliches dahinter vermutet.“ Er zuckte die Schultern. „Es gibt nur einen gemeinsamen Nenner: Die Opfer verhielten sich vor ihrem Tod ziemlich merkwürdig.“ Dean hob eine Augenbraue. „Und was heißt das?“ „Sie waren unruhig, nervös, panisch. Sie vergaßen Termine und Namen, manche schienen sich verfolgt zu fühlen. Andere behaupteten, Stimmen zu hören.“ Deans Blick schweifte bei dieser Beschreibung automatisch zu Sam. Auch er hatte sich in der Bücherei überaus komisch aufgeführt, Bobbys Schilderung passte wie die Faust aufs Auge. Nachdem Sam aus dem Schlaf aufgewacht war, den Castiel ihn aufgezwungen hatte, war er reumütig gewesen und hatte sich den ganzen Rückweg ohne Unterlass entschuldigt, dass es fast schon nervig gewesen war. Dauernd hatte er wiederholt, wie dumm er sich verhalten hatte, dass er sein Leben leichtsinnig aufs Spiel gesetzt hatte. Aber Dean hatte sofort erkannt, dass er nicht die Wahrheit sprach. Es war nicht so, dass Sam log. Vielmehr wusste er selbst nicht, was er denken und fühlen sollte. Ob es richtig war, seinem Bruder und dem Engel zu vertrauen oder doch lieber auf die Stimmen in seinem Kopf zu hören, die ihn offensichtlich nicht in Ruhe ließen. Er hatte zwar nicht erwähnt, dass sie ihn weiterhin traktierten, doch Dean sah es genau an seinem Blick. Er wirkte wie jemand, auf den von mehreren Seiten eingeredet wurde und der keine Ahnung hatte, wem genau er nun eigentlich lauschen sollte. Er litt. Er war verwirrt und unsicher. Und früher oder später würde er wieder ausflippen, dessen war sich Dean nur allzu bewusst. Auch wenn Sam ehrlich zerknirscht war und sich wirklich dafür schämte, was er getan hatte. Seine Zweifel konnte er trotzdem nicht abstellen. Er war eine tickende Zeitbombe. Und deswegen war Dean mehr als erpicht, rund um die Uhr ein wachsames Auge auf ihn zu haben. „Die Kette bringt den Tod“, meinte inzwischen Castiel und klang nicht sonderlich überrascht. „Etwa für jeden, der sie berührt?“, hakte Dean zögerlich nach und wurde sich plötzlich klar, dass abgesehen von ihm selbst jeder in diesem Raum die Kette angefasst hatte. Oder hatte er es vielleicht doch ebenfalls? Albert Woods hatte ihn dermaßen durch die Gegend geschleudert, dass er nicht mit absoluter Sicherheit sagen konnte, ob er sie nicht mal gestreift hatte. „Durchaus möglich“, meinte derweil Castiel und bekräftigte damit Deans Befürchtung, dass sie alle mal wieder tief im Dreck steckten. „Zumindest scheint die Kette nicht sofort zu töten“, sagte Bobby, dem es augenscheinlich ebenso nicht besonders gefiel, zum Tode verdammt zu sein. „Bis dahin müssen wir eine Lösung gefunden haben.“ Dean nickte, während seine Gedanken sich wieder im Kreis drehten. Wie waren sie nur in diesen Schlamassel herein geraten? Womit hatten sie das nur verdient? Sie hatten doch bloß die Todesfälle im Museum von Willcox untersuchen wollen … „Die Toten im Museum!“, traf Dean unvermittelt aus heiterem Himmel die Erkenntnis. „Dieser Historiker, Brandan, und die Praktikantin.“ Zunächst hatten sie gedacht, Barbara Woods hätte sie umgebracht, dann wiederum hatten sie angenommen, dass das Ganze bloß zufällig geschehen war. Und als Albert Woods aufgetaucht war, war Dean sofort davon ausgegangen, dass er was mit der Sache zu tun gehabt hatte. Nun aber erinnerte er sich wieder an die Aussagen der Angehörigen der Opfer, die Dean und Sam kurz vor ihrem ersten Besuch im Museum aufgenommen hatten. Brandan und das Mädchen waren Wochen vor ihrem Tod schreckhaft und aufgedreht gewesen und hatten sich mit Stimmen unterhalten, die niemand sonst gehört hatte. „Miles hat mir erzählt, dass Brandan und seine Praktikantin viel mit dem Schmuck gearbeitet haben“, erklärte Bobby. „Und damit haben sie wahrscheinlich ihr Schicksal besiegelt.“ Dean seufzte, während er gleichzeitig seinen Kopf schüttelte. Das konnte doch alles nicht wahr sein! „Und … was heißt das nun genau?“, fragte er nach. „Ist diese Kette … verflucht? Oder was?“ „Wahrscheinlich“, meinte Bobby zustimmend. „Jeder, der sie berührt, wird damit zum Tode verurteilt.“ Dean nickte, ehe er daraufhin herzhaft gähnte. Die Müdigkeit schien von Minute zu Minute stärker zu werden und ihn in die Knie zwingen zu wollen. Mehr denn je sehnte er sich nach einer ordentlichen Portion Schlaf. Sam ging es aber offensichtlich genauso. Er rieb sich verschlafen die Augen und liebäugelte bereits mit dem bequemen Bett. Selbst Bobby konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Sie alle waren wohl so langsam am Ende ihrer Kräfte angekommen. „Das erklärt aber immer noch nicht den Schnee, die Dunkelheit oder gar die Zombies“, entgegnete Dean derweil. „Oder … gehört das auch zum Fluch?“ Bobby verzog sein Gesicht. „Soweit ich das bei meinen Recherchen herausgefunden habe, nicht. Zumindest gibt es keine ungewöhnlichen Wetterphänomene, die mit der Kette im Zusammenhang stehen. Vielleicht ist das alles nur … Zufall.“ Dean schnaubte verächtlich. „Zufall? Sam verliert sein Gedächtnis, das Wetter und auch alles andere in Willcox spielt völlig verrückt und darüber hinaus taucht dann noch diese verfluchte Kette auf. Und das soll alles zufällig geschehen?“ Dean schüttelte den Kopf. Zwischen all diesen Dingen musste eine Verbindung existieren – auch wenn er nicht den blassesten Schimmer hatte, welche. Castiel jedoch meinte hierauf bloß: „Du würdest dich wundern, wie viele Ereignisse auf Zufall beruhen.“ Dean musterte ihn ungläubig, hatte aber gleichzeitig wenig Lust, großartig mit dem Engel zu diskutieren. Er war viel zu ausgelaugt, um überhaupt richtig argumentieren zu können. Inzwischen brauchte er schon fast seine ganze Kraft, um seine Augen offen zu halten und nicht ins Land der Träume abzudriften. „Ich habe noch etwas herausgefunden“, meldete sich plötzlich Bobby. Er hatte sich inzwischen ächzend auf einen Stuhl gesetzt, als wäre dies ein Kraftakt sondergleichen. „Die anderen Leute, denen ebenfalls das Gedächtnis von Barbara Woods gestohlen worden ist … sie erinnern sich wieder.“ Dean blickte auf und runzelte die Stirn. „Was?“ „Laut der Aussage des Motelbesitzers haben sie just in dem Moment ihre Amnesie überwunden, als ihr die Geister vernichtet habt“, erklärte Bobby. „Mit einem Mal war alles wieder da. Genau so, wie wir es auch von Anfang an vermutet hatten.“ Sie erinnerten sich wieder, Sam aber nicht? Deans Blick wanderte sofort zu der Kette. War es möglich, dass sein Bruder noch in diesem Zustand war, weil er dieses Ding berührt hatte? Aber was hatte die Kette nur mit ihm gemacht? Sam räusperte sich währenddessen vernehmlich, sodass alle Anwesenden ihre Aufmerksamkeit ihm zuwandten. „Ähm“, meinte er zaghaft. „Die Stimme … in meinem Kopf …“ Dean hob daraufhin sofort warnend die Hand. „Ich will von dieser verflixten Stimme nichts mehr hören!“, zischte er. „Ignorier sie einfach, verstanden? Du bildest sie dir nur ein!“ „Aber …!“ „Sammy!“, knurrte Dean drohend. „Ich bin zu müde, um mich mit diesem Mist rumzuschlagen. Lass es einfach, okay?“ Sam machte den Eindruck, als wollte er widerwillig Folge leisten, dann aber sagte er hastig, um Deans erneuten Widerspruch zuvorzukommen: „Sie meint, wir werden angegriffen.“ Dean knirschte mit den Zähnen und wollte zu einer Standpauke ansetzen, ehe aber schließlich Sams Aussage zu ihm durchsickerte. „Was?“, fragte er verwirrt. „Wovon, zur Hölle, redest du?“ Sam rieb sich wieder die Augen, als würde allein das ihn davon abhalten, an Ort und Stelle einzuschlafen. „Wir werden angegriffen“, wiederholte er murmelnd. Dean legte inzwischen seine Stirn in Falten. Was sollte das bedeuten? „Er hat Recht“, meinte Castiel unvermittelt. Verwundert wandte sich Dean dem Engel zu. Dieser hatte sich derweil eine hohe Kommode als Stütze ausgesucht und machte den Eindruck, als würde er ohne das Möbelstück zusammensacken. „Was heißt das: Er hat Recht?“ Dean war über alle Maßen irritiert. „Ich sehe keine Angreifer oder etwas in der Art. Ich kann zumindest nicht –“ Er verstummte abrupt, als er aufstehen wollte und feststellen musste, dass es nicht funktionierte. Seine Beine, sein ganzer Körper war schwer wie Blei. Er vermochte sich kaum noch zu bewegen. Stattdessen war der Drang, sich hinzulegen und etwas zu schlafen, unglaublich übermächtig. Und da war er nicht der einzige. Sam hatte bereits seinen Kopf auf den Schreibtisch gebettet. Seine Lider waren geschlossen, aber seine Augen darunter zuckten noch. Beinahe so, als würde er sich wehren. Ebenso Bobby war in seinem Stuhl zusammengesunken und musste augenscheinlich alle Kräfte mobilisieren, um wach zu bleiben. Keine allzu leichte Aufgabe, wenn man bedachte, unter welch enormen Anspannung sie den ganzen Tag gestanden hatten. Selbst Castiel blieb offenbar nicht verschont. Er stand zwar noch aufrecht, doch seine Augenlider flatterten bereits. Mit aller Macht krallte er sich an der Kommode fest, um weiterhin auf den Beinen bleiben zu können. „Was …?“ Dean schaffte es kaum, seinen Satz zu beenden. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, sackte er wieder auf die Matratze zurück. Er spürte den weichen Bettbezug und atmete gegen seinen Willen erleichtert auf. Er war zu schwach und zu ausgelaugt, um dagegen anzukämpfen. Und er war auch viel zu müde, um sich überhaupt zu fragen, was eigentlich los war. * * * * * Erstaunt beobachtete Mica durch das vordere Fenster, wie die Jäger allmählich vom Schlaf übermannt wurden. Wie schlaffe Puppen sackten sie einer nach dem anderen zusammen. „Es funktioniert wirklich“, raunte sie. Nie im Leben hätte sie vermutet, dass Cormin noch weitere Qualitäten besaß als rohe Kraft. Aber anscheinend war er tatsächlich dazu in der Lage, seinen Verstand zu benutzen. Sie warf einen Blick auf ihren Partner. Dieser hockte vor der Eingangstür und hielt das Hexensäckchen an den unteren Türschlitz, sodass sich die Wirkung des Zaubers im ganzen Raum verteilen konnte. Währenddessen kauten sie beide ihre Kaugummis, um immun zu bleiben. „Ich sage es echt ungern, Cormin, aber du kannst offenbar ein richtiges Genie sein“, meinte Mica grinsend. Der Dämon nahm das Kompliment äußerst befriedigt zur Kenntnis, ehe er aufstand und sich am Türschloss zu schaffen machte. Ohne seine übernatürlichen Kräfte dauerte das Ganze jedoch wesentlich länger als üblich, sodass er schon bald seine Geduld verlor. Wenig elegant trat er daraufhin mehrere Male gegen die dünne Holztür, bevor sie schließlich nachgab und aufsprang. Nun war der Weg frei. Zumindest fast. „Hast du auch eine Idee, wie wir das überwinden?“, hakte Mica nach und deutete auf die breite Salzlinie vor ihren Füßen, die jeden Dämon daran hindern sollte, das Zimmer zu betreten. Eine Vorsichtsmaßnahme, die die meisten Jäger ergriffen, um nicht unerwartet von irgendwelchen übermenschlichen Besuchern überrascht zu werden. „Das ist ganz einfach“, sagte Cormin abwinkend. Mica schnaubte. „Und wie? Warten wir auf die nächste Windböe?“ Cormin lächelte sie zuversichtlich an, ehe er sich abwandte und zur nächsten Zimmertür spazierte. Ungeniert hämmerte er dagegen, bis letztlich ein dicker Mann in dreckiger Kleidung äußerst übellaunig die Tür aufriss und Cormin gleich mit einer Flut von Schimpfwörtern überrollte. Der Dämon kümmerte sich jedoch nicht darum, sondern packte den Kerl am Arm und zog ihn zum Raum der Winchesters. Anschließend kramte er in seiner Tasche herum, holte etwas heraus und hielt es dem Mann hin. „Ich gebe Ihnen diese hundert Dollar, wenn Sie diese Salzlinie dort zerstören, ohne irgendwelche dummen Fragen zu stellen.“ Der Angesprochene runzelte die Stirn und wunderte sich offensichtlich, was das Ganze zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich hatte man ihn noch nie um etwas Vergleichbares gebeten. Auch schaute er skeptisch in den Raum hinein und fragte sich vermutlich, was mit den dort Anwesenden los war. Schließlich aber siegte seine Gier. „Kein Problem“, sagte er. Grinsend schnappte er sich den dargebotenen Schein, verwischte mit seinem Fuß die Linie aus Salz und trottete glücklich davon. Mica schaute ihm hinterher, wie er wieder in seinem Zimmer verschwand. „Cormin?“, meinte sie schließlich. „Ja?“ „Du bist wirklich ein Genie!“ Cormin hob bescheiden die Schultern. „Das war nicht allzu schwer. Man muss sich nur das zunutze machen, was gerade greifbar ist. Und zwei Dinge sind gewiss: Menschen haben keine Angst vor Salz und sind unglaublich geldgierig.“ Mica nickte, während sie gleichzeitig beeindruckt war, wie weit man doch kam, wenn man über den Tellerrand hinausblickte. Die meisten Dämonen waren viel zu sehr in ihren altehrwürdigen Verhaltensmustern gefangen, um auch nur darüber nachzudenken, sich der Hilfe von Hexen und Menschen zu bedienen. Mica schmunzelte, während sie zusammen mit Cormin unbehelligt das Motelzimmer betrat. Das erste, was ihr sofort auffiel, war, dass die Menschen beileibe nicht so tief und fest schliefen, wie es der Zauber eigentlich versprach. Sam hatte zwar die Lider geschlossen, schien aber noch nicht völlig im Reich der Träume versunken zu sein. Und die anderen hatten ihre Augen sogar noch offen. Sie wirkten zwar betäubt und bewegungsunfähig, starrten die Dämonen jedoch an. Zwar durch sehr trübe Augen, dennoch lief Mica unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. „Das sind die Zutaten aus dem Supermarkt“, erklärte Cormin, anscheinend in keinster Weise überrascht. „Die Menschen verdünnen und strecken gerne ihre Lebensmittel, ebenso wie sie noch weitere Zusatzstoffe dazugeben. Darum ist der Schlafzauber auch nicht hundertprozentig wirksam. Ein hübscher, natürlicher Kräutergarten wäre sehr viel effektiver gewesen.“ Er zuckte die Achseln. „Aber was soll’s? Im Grunde ist es nur gut, dass sie noch etwas bei Bewusstsein sind. Sonst würden sie ja gar nichts mitkriegen und das Ganze würde keinen richtigen Spaß machen.“ Sadistisch grinsend trat er auf Dean zu, der ausgestreckt auf dem Bett lag, und wuschelte dem Winchester durch die Haare. „Na, wie fühlt sich das an?“, fragte er amüsiert. „Ganz schön nervig, nicht wahr?“ In Deans Augen war ein kurzes Funkeln zu erkennen. Er war ausgesprochen wütend, hatte aber keine Chance, seinem Ärger Luft zu machen. „Ihr kleinen, dummen Jäger“, meinte derweil Cormin theatralisch seufzend. Er stellte sich neben Sam und tätschelte ihm den Kopf. „Wir könnten jetzt alles Mögliche mit euch anstellen und es würde niemand kommen, um euch zu retten.“ Mica bemerkte, wie Deans Finger kurz zuckten. Es machte den Anschein, als würde er mit aller Macht versuchen, seine Hände zu Fäusten zu ballen. Ein Unterfangen, das sich letztlich als sinnlos erwies. „Ihr kleinen Winchester-Jungs … so überheblich und arrogant.“ Mit einer gekonnten Handbewegung schnappte er sich die Mütze des älteren Jägers und setzte sie sich selbst auf den Kopf. Der Mann hatte keine Chance, sich dagegen in irgendeiner Weise zu wehren. „Und nun liegt ihr hier. Uns hilflos ausgeliefert. Und es stehen uns so viele Möglichkeiten offen.“ Er lachte auf. „Wir könnten euch die Schädel glattrasieren. Oder euch jeden Fingernagel einzeln rausreißen. Oder euch in den tiefen Schnee werfen und dabei zusehen, wie ihr langsam aber sicher erfriert.“ Mica schüttelte automatisch den Kopf. So betäubt die Jäger auch im Moment waren, konnte sich das jederzeit ändern. Die Winchester waren dafür berühmt, dass sie sich in letzter Sekunde aus jeder noch so heiklen Situation befreien konnten. Und würde Cormin nun ein großes Theater aus dieser Angelegenheit machen, würde nur unnötig Zeit verschwendet und damit dem Schicksal die Möglichkeit gegeben, diese Menschen irgendwie zu retten. „Cormin, ramm ihnen einfach ein Messer ins Herz und das war’s“, zischte Mica. „Je mehr Zeit wir vertrödeln, desto mehr kann schiefgehen.“ Cormin warf ihr einen schnellen Blick. „Lass mich doch nur fünf Minuten Spaß haben. Was soll schon großartig passieren?“ Mica wollte gerade mit ihrer Aufzählung beginnen, als plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter landete. Erschrocken zuckte sie zusammen, sprang hastig zur Seite und wirbelte herum, nur um sich dem Mann im Trenchcoat gegenüberzusehen. Er schien bei weitem nicht so angeschlagen zu sein wie die anderen Jäger. Er wirkte zwar auch etwas benommen, stand aber wenigstens noch auf seinen eigenen Füßen und konnte sich darüber hinaus auch bewegen. Mica runzelte die Stirn, während sie sich fragte, warum der Schlafzauber bei diesem Kerl offenbar nicht so recht wirkte. „Geht!“, zischte er derweil drohend mit seiner tiefen Stimme, die Mica unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. „Geht … und ihr kommt mit dem Leben davon.“ Mica hätte am liebsten spöttisch aufgelacht, doch es blieb ihr im Halse stecken. Stattdessen starrte sie in die durchdringenden Augen dieses Mannes und spürte plötzlich das unbändige Verlangen, sofort zu verschwinden. Nicht mit diesem Mensch – mit diesem Wesen – in einem Raum zu sein. Cormin war inzwischen an ihre Seite getreten und musterte den Mann argwöhnisch. „Wie kommt’s, dass du noch stehen kannst?“ Er untersuchte sein Gegenüber noch eine Weile genauer, ehe er schließlich meinte: „Du bist ein Engel, nicht wahr?“ Mica fuhr bei diesen Worten zusammen. Er – ein Engel? Liebend gern hätte sie den Kopf geschüttelt und das alles geleugnet, doch sie brauchte nur in die intensiven Augen dieses Mannes zu blicken, um zu wissen, dass es wahr war. „Cormin …“, flüsterte sie. „Keine Angst“, meinte dieser beschwichtigend. „Er hat seine Kräfte ebenso verloren wie wir. Ansonsten hätte der Schlafzauber nicht die geringste Auswirkung auf ihn. Und im Moment stellt er keine Bedrohung für uns dar.“ Mica fand das trotzdem nicht besonders beruhigend. Dämonen sollten nicht in der Nähe von Engeln weilen, wenn ihnen ihr Leben lieb war! Cormin jedoch schien das Ganze unheimlich unterhaltsam zu finden. Er grinste breit, während er sich zu dem Engel hinüberbeugte und wisperte: „Du kannst jetzt dabei zusehen, wie wir deine Schützlinge umbringen, Engelchen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)