Amnesie von Nochnoi ================================================================================ Kapitel 9: Ausgeliefert ----------------------- Barbara Woods stand reglos in der Mitte des Zimmers. Ihr Kleid zerschlissen, die Wunde an ihrem Kopf deutlich sichtbar und ihr Blick ins Nichts gerichtet. Die unangekündigten Besucher schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Intuitiv wollte Dean seine Waffe abfeuern und den Geist mit Steinsalz außer Gefecht setzen, doch Castiel legte seine Hand auf das Gewehr und gab dem Winchester zu verstehen, dass er nichts überstürzen sollte. Dean biss die Zähne zusammen und senkte die Mündung keinen Millimeter, nickte aber schließlich zustimmend. Castiel wirkte zufrieden, als er sich umwandte und näher zu Barbara trat. Intensiv musterte er sie von oben bis unten. „Mit dem Chaos in der Stadt hat sie nichts zu tun“, lautete schließlich das Ergebnis des Engels. Mit etwas anderem hatte Dean auch kaum gerechnet. Barbara Woods machte im Moment nicht gerade den Eindruck, als könnte sie es in der Wüste schneien lassen oder den Tag in Nacht verwandeln. Im Grunde wirkte sie, als wäre sie nicht mal geistig anwesend. „Sie ist verwirrt“, stellte Castiel fest. „Verwirrt?“ „Im Leben war sie krank und wurde von Illusionen und Trugbildern gequält, während ihre Erinnerungen Stück für Stück verschwanden.“ Dean war ehrlich beeindruckt. „Das kannst du alles spüren?“ „Nein, das hast du mir eben noch auf dem Weg zum Museum erzählt.“ Dean verzog grimmig das Gesicht. Himmlische und allwissende Engel – von wegen! „Sie weiß nicht, was mit ihr geschieht“, fuhr Castiel fort. „Sie hat keine Ahnung, wo sie sich befindet und wie sie überhaupt hierherkam.“ Dean runzelte die Stirn. „Sie leidet also selbst noch als Geist an der Amnesie?“ „An der partiellen Amnesie, der Paranoia, den Wahnvorstellungen.“ Castiel nickte bestätigend und trat sogar noch einen Schritt näher an Barbara heran. Dean verkrampfte sich unwillkürlich, während er automatisch seine Waffe fester umpackte. „Sie hat sich in ihrem Kopf ihre eigene Welt erschaffen und kann daraus nicht entkommen. Sie will es vermutlich nicht einmal, weil es das einzige ist, das ihr Halt gibt.“ Dean gab ein schnaubendes Geräusch von sich. „Das ist ja alles hochinteressant, Doktor Freud“, entgegnete er. „Aber ehrlich gesagt hat es für mich höhere Priorität, sie zu vernichten, und nicht, sie zu analysieren. Ehe sie uns zu sabbernden Vollidioten ohne Gedächtnis macht.“ Barbara richtete plötzlich ruckartig ihren Kopf nach oben, als hätte sie Deans Worte gehört. Doch ihre Aufmerksamkeit richtete sie wiederum nicht auf die zwei Neuankömmlinge. Stattdessen huschten ihre Augen unruhig hin und her, die Angst stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Schließlich aber verzog sie gequält ihre Miene und ließ ihren Blick wieder ins Leere wandern. Dean blinzelte daraufhin verdutzt. „Wow, das war … irgendwie seltsam.“ „Sie ist nicht ganz hier und nicht ganz dort“, meinte Castiel, während er sich sehr zu Deans Erleichterung wieder ein wenig von dem Geist entfernte. „Stattdessen ist sie gefangen. Gefangen in dieser Finsternis und den wenigen Erinnerungen, die ihr noch geblieben sind.“ Plötzlich bewegte Barbara ihre Lippen. Immer und immer wieder schien sie tonlos dasselbe Wort zu formen. „Was sagt sie?“, fragte Dean und kniff die Augen zusammen. Aufgrund des extrem spärlichen Lichts konnte er es bloß vage erkennen. „Sie sagt ‚Albert‘“, übersetzte Castiel, offenbar ohne die geringste Mühe. „Albert?“ Dean runzelte die Stirn, als in seinem Kopf die Alarmglocken schrillten. Irgendwie kam ihm dieser Name unheimlich bekannt vor … „Ihr Vater! Albert Woods!“ Er lächelte kurz angesichts dieser Offenbarung, bloß um in der nächsten Minute wieder irritiert dreinzuschauen. „Warum sollte sie ihren Vater beim Vornamen nennen? Ich meine, heute tun das die Kids öfters und halten es für cool, aber damals …?“ „Früher wurden die Söhne oft nach den Vätern benannt“, meinte Castiel. Dean blickte auf. „Der Sohn!“ Er erinnerte sich wieder an das Familienfoto. Wie Albert Woods Junior bemüht lässig in die Kamera blickte und dabei neben seinem autoritären Vater klein und unbedeutend wirkte. „Aber … ich verstehe nicht.“ Dean schaute zu Barbara, deren Lippen immer noch ohne Unterlass den Namen ihres Bruders formten. Ihr Gesicht dabei merkwürdig verzerrt. „Du sagtest, sie hätte den Freitod gewählt?“, erkundigte sich Castiel. „Was, wenn es doch kein Selbstmord war?“ Dean musterte sein Gegenüber überrascht. „Du denkst …?“ „Sie hat ganz offensichtlich Angst vor ihrem Bruder“, meinte der Engel. „Sogar regelrechte Panik.“ Dean musste zugeben, dass an seiner Theorie durchaus etwas dran war. Man sah Barbara deutlich an, dass sie mit dem Namen ihres Bruders nicht unbedingt schöne Erinnerungen von Picknicks und harmonischen Stunden vor dem Kaminfeuer verband. „Oh Mann …“, murmelte Dean und spürte, wie das Mitleid in ihm hochkam. Im Grunde war Barbara Woods wirklich nur zu bedauern. Hilflos, krank, von ihren eigenen Dämonen Tag und Nacht verfolgt und darüber hinaus auch noch zu allem Überfluss vom großen Bruder hintergangen und ermordet. Konnte es etwas Schlimmeres geben? „Ich denke, der junge Albert Woods ist ebenfalls in diesem Haus gestorben“, fuhr Castiel fort. „Selbstmord. Eine Kugel in die rechte Schläfe. Wahrscheinlich haben ihn letztendlich seine Schuldgefühle völlig aufgefressen.“ Dean musterte den Engel ungläubig. „Wow! Wie bist du denn darauf jetzt gekommen?“ „Albert Woods ist noch hier.“ Und mit diesen Worten richtete er seinen Blick auf etwas hinter Deans Rücken. Der Winchester zuckte zusammen und war im ersten Moment wie gelähmt, schließlich aber wirbelte er mit gezückter Waffe herum und feuerte sofort mehrere Schüsse ab, kaum dass er die geisterhafte Gestalt im Türrahmen erblickte. Für einen Sekundenbruchteil erkannte Dean den jungen Mann auf dem Familienfoto – zwar ein bisschen erwachsener, aufgrund seines toten Zustands etwas blasser und mit einer unansehnlichen Schusswunde an der Schläfe, aber ganz eindeutig Albert Woods Junior –, ehe dieser sich, vom Steinsalz getroffen, auflöste. Seine Augen funkelten noch wutentbrannt und hasserfüllt auf, bevor er verschwand. Ohne einen Moment zu zögern drehte Dean sich wieder zu Barbara Woods. Diese hatte ihren Mund aufgerissen, die Hände auf ihre Ohren gepresst und schüttelte immer wieder den Kopf. Als wäre das alles viel zu viel für sie. Dean war kurz davor, ein weiteres Mal abzudrücken – bloß, um sicherzugehen und sich etwas besser zu fühlen –, doch er brachte es irgendwie nicht über sich. Barbara schien alles andere als eine Bedrohung zu sein. „Allmählich bekomme ich das Gefühl, dass sie Sam gar nicht angegriffen hat“, meinte Dean. „Wenn ich’s recht bedenke, sah sie in dem Moment, als sie auf Sam zustürzte, eher so aus, als würde sie vor irgendwas fliehen.“ Dean kam sich mit einem Mal unsagbar schlecht vor. Die ganze Zeit hatte er Barbara Woods verflucht und ihr alle möglichen Dinge an den Hals gewünscht, dabei war es nicht ihre Absicht gewesen, Sam etwas anzutun. Wahrscheinlich wusste sie nicht mal, was sie überhaupt angerichtet hatte. Sie hatte bloß vor ihrem Bruder fliehen wollen. Derjenige, der wahrscheinlich bei dem nächtlichen Besuch der Winchesters, der Sam sein Gedächtnis gekostet hatte, Dean angegriffen und durch die Luft geschleudert hatte. „Sie ist kein rachsüchtiger Geist“, brachte es Castiel auf den Punkt. „Bloß eine verwirrte und angsterfüllte Seele, die von einem rachsüchtigen Geist hier festgehalten wird.“ Dean nickte, während er wieder sein Handy hervorkramte und auf die Wahlwiederholung drückte. Sein Blick wanderte dabei unentwegt durch den Raum, in Erwartung, dass Woods in der nächsten Sekunde wieder irgendwo auftauchen könnte. Auch Barbara behielt er im Auge. Sie mochte vielleicht nicht unbedingt die Absicht haben, jemanden zu verletzen, aber immerhin war sie noch dazu fähig, Erinnerungen auszulöschen. Und das nur durch eine Berührung. Dean legte es nicht darauf an, wie Sam lächelnd Bilder zu zeichnen und strahlend auf Dämonen zuzugehen. „Dean?“, meldete sich Bobby. Die Leitung knisterte und knackte. Offenbar würde sie nicht mehr lange halten. „Bobby, bitte bitte sag mir, dass Albert Woods nicht eingeäschert wurde“, fiel Dean sofort ohne eine Begrüßung mit der Tür ins Haus. „Dass er hier schön in einem Sarg auf dem Friedhof vergammelt. Ich will diesen Bastard unbedingt ausbuddeln und ihn verbrennen!“ Zwar würde er, sollte sich Albert Woods auf dem Friedhof in Willcox befinden, auch noch eine ordentliche Lage Schnee zur Seite räumen müssen, aber das war ihm inzwischen völlig gleichgültig. Immer noch besser, als verzweifelt in diesem Haus nach irgendeinem Haarbüschel oder etwas in der Art zu suchen, das vor hundert Jahren in eine verborgene Ritze gerutscht war. „Albert Woods?“, fragte Bobby, eindeutig verwirrt. „Der Vater?“ „Nein, der Sohn“, korrigierte ihn Dean. „Der Bruder von Barbara Woods.“ „Was hat der denn mit der ganzen Sache zu tun?“ „Er ist hier“, setzte ihn Dean ins Bild. „Er hält seine Schwester hier fest. Und ist er erst mal aus dem Verkehr gezogen, ist Barbara wieder frei und damit hoffentlich auch Sam.“ Er holte einmal tief Luft. „Also bitte sag mir, dass Woods‘ Leiche in einem netten Sarg liegt. Bitte!“ Dean hörte das Rascheln von Papier, als Bobby die Unterlagen durchwühlte. „Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen“, meinte dieser schließlich. „Alle Woods‘ wurden eingeäschert. Wohl eine Art Familientradition. Na ja, ist ja auch billiger und platzsparender …“ „Bobby!“ „Ja, ja, schon gut.“ Bobby schnaubte. „Ich hab den Namen des Sohnes im Register des hiesigen Friedhofs gesehen. Offenbar wurde er in einer unbedeutenden Ecke begraben. Ich weiß noch, wie mich das gewundert hat, immerhin wurde der Rest der Woods‘ in der Familiengruft bei Phoenix beigesetzt. Offenbar hat er etwas sehr Verwerfliches angestellt, um selbst im Tod von seiner Familie getrennt zu werden.“ „Ja, zum Beispiel seine Schwester ermordet und sich danach selbst umgebracht.“ Bobby schwieg einen Augenblick. „Ja …“, meinte er zögerlich. „An so was in der Art hatte ich dabei gedacht. Na ja, vielleicht nicht ganz so dramatisch … Ich hatte eher angenommen, er hätte ein Mädchen aus dem falschen Stand geheiratet. Oder seinen Vater tödlich beleidigt.“ Dean derweil seufzte. „Dieses Haus ist riesig. Wie sollen wir das finden, das Albert Woods hier hält?“ „Du sagst, er hat Selbstmord begangen?“ „Ja.“ „Erschossen?“ „Ja.“ „Vielleicht ist noch was Blut übrig.“ Dean schaute sich in dem renovierten Ausstellungsraum um und konnte bloß den Kopf schütteln. „Hier wurde alles gestriegelt und geputzt. Hier findest du bestimmt keinen Tropfen Blut.“ „Damals waren die Putzmittel bei weitem nicht so ausgereift wie heute“, erwiderte Bobby. „Und gerade Blut ist schwer zu entfernen. Wenn man es also damals bloß halbherzig weggewischt und vielleicht anschließend neues Parkett darüber gelegt hat, könnte noch was da sein. Besonders dann, wenn kein Sauerstoff drankam.“ Dean ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. An seiner Theorie war tatsächlich was dran. Und dennoch gab es einen entscheidenden Haken. „Wir wissen aber nicht, wo er sich getötet hat. Und wir können doch nicht im ganzen Haus den Boden aufreißen.“ „Vielleicht sollte ich nochmal mit diesem Miles reden“, schlug Bobby vor. „Er …ine Menge Ah… ben …“ Mit einem Mal knisterte die Telefonverbindung dermaßen heftig, dass Dean das Handy ein Stück von seinem Ohr entfernen musste, um nicht einen Gehörsturz zu bekommen. Und schließlich brach sie komplett zusammen. Dean hörte bloß das altbekannte Freizeichen. „Gottverdammt“, fluchte er und kümmerte sich dabei in keinster Weise, dass er diese Worte in Gegenwart eines Engels benutzte. Stattdessen klappte er zähneknirschend sein Handy wieder zu. „Das ist wieder mal sowas von typisch!“, zischte er. „Warum auch sollten wir mal Glück haben? Warum sollte einmal im Leben etwas glatt laufen?“ Castiel machte tatsächlich Anstalten, auf diese Frage zu antworten – wahrscheinlich wollte er eine Predigt über das Schicksal und Gottes Wege halten –, doch nachdem Dean ihm einen düsteren Blick zuwarf, sah er darüber hinweg. „Also entweder hauen wir ab und informieren und erst einmal richtig oder aber wir bleiben hier und reißen alles auf.“ Dean stöhnte angesichts dieser Optionen. Keine von beiden gefiel ihm. „Es gibt noch eine dritte Möglichkeit“, entgegnete der Engel. „Und welche?“ „Wir fragen sie.“ Und damit deutete er auf Barbara Woods. Diese hatte sich immer noch keinen Zentimeter vom Fleck bewegt. Verloren stand sie in der Mitte des Raumes und starrte ins Nichts. Oder … doch nicht? Dean folgte ihrem Blick und erkannte, dass sie auf eine bestimmte Stelle am Boden sah. Direkt vor einer Vitrine mit antiken Münzen. Dort? Dean genehmigte sich ein knappes Lächeln, das aber sofort wieder verschwand, als die eh schon bescheidene Temperatur in dem Zimmer plötzlich drastisch fiel. Dean hatte für einen Moment das Gefühl, das Blut in seinen Adern würde gefrieren. Und in der nächsten Sekunde erschütterte eine lautstarke Explosion den Raum. Alles, was aus Glas bestand, zersplitterte unvermittelt in tausend kleine Stücke. Das Fenster detonierte regelrecht und schoss unzählige messerscharfe Scherben ins Zimmer, sodass Dean hastig seine Arme schützend vor sein Gesicht halten musste. Und auch die Schaukästen, die überall verteilt aufgestellt worden waren, blieben nicht verschont. Das Glas verteilte sich wie gefährliche Geschosse durch den ganzen Raum. Dean spürte, wie seine Hose an einigen Stellen aufgeschlitzt wurde, ebenso wie seine Jacke. Verletzungen blieben jedoch aus, da er sich angesichts der kalten Temperaturen dermaßen in mehrere Kleidungsschichten eingewickelt hatte, dass so ein paar einfache Scherben nicht seine Haut erreichten. Bei Castiel sah dies hingegen anders aus. Er trug bloß seinen typischen Anzug samt Trenchcoat – fühlten Engel überhaupt Kälte? – und war dementsprechend weniger geschützt. Aber offenbar konnte er noch einen Teil seines Mojos benutzen, um sich selbst vor größeren Schaden zu bewahren. Bloß seine rechte Hand und ein Stück seines Armes wurden übel zerkratzt und bluteten heftig, der Rest seines Körpers blieb verhältnismäßig unverletzt. „Cas!“, brüllte Dean, als der tosende Lärm mit einem Mal aufhörte. „Alles in Ordnung?“ Castiel betrachtete seinen verwundeten Arm und wirkte wenig erfreut, aber ein Zeichen von unerträglichem Schmerz zeigte er nicht. „Alles in Ordnung“, bestätigte er nickend. „Dann sollten wir –“ Dean wurde abrupt unterbrochen, als eine unsichtbare Macht ihn packte und von den Füßen riss. Ohne dass er irgendetwas dagegen hätte unternehmen können, krachte er mit dem Rücken gegen eine der Vitrinen, die bei dem heftigen Aufprall aus ihrer Verankerung gerissen wurde und zusammen mit dem Winchester zu Boden stürzte. Am Rande seines Bewusstseins hörte Dean, wie die Vasen, die zweitausend Jahre überlebt hatten, auf der Erde zerschellten. Die Museumskuratoren würden gar nicht begeistert sein. Dean jedoch hatte wenig Zeit, sich um das Kulturerbe Sorgen zu machen. Denn bereits im nächsten Moment bemerkte er die Gestalt am Türrahmen. Albert Woods wirkte wenig angetan, dass Dean ihn vor wenigen Minuten angegriffen hatte. Es schien ihn regelrecht eine kalte Aura zu umgeben, während er die Hände zu Fäusten ballte und sich ganz offensichtlich auf einen Angriff vorbereitete. Barbara schreckte das Auftauchen ihres Bruders ungemein auf. Sie zuckte zusammen und riss ihren Mund zu einem lautlosen Schrei auf, ehe sie sich umwandte und zu entkommen versuchte. Sie stürzte davon und kam dabei Castiel gefährlich nahe. Dieser jedoch reagierte sofort und sprang hastig zur Seite, um nicht von ihr gestreift zu werden. Barbara hingegen nahm dies gar nicht wahr, sie bewegte sich in typischer Geistermanier durch die Wand und verschwand. Albert Woods würdigte sie nicht eines Blickes. Seine Aufmerksamkeit war ganz und gar auf die unerwünschten Eindringlinge gerichtet. „Cas, kümmer dich um das Blut!“, rief Dean dem Engel zu. „Ich werde diesen verfluchten Geist ablenken.“ „Dean …“ Aber der Winchester wollte nicht mit sich diskutieren lassen. Er holte die Packung Salz, die er vorsorglich eingepackt hatte, und sein Feuerzeug hervor und warf sie Castiel zu. Dieser fing sie mit übernatürlicher Leichtigkeit auf. „Und beeil dich, hast du gehört?“ Mit diesen Worten rappelte sich Dean wieder vollends auf. Er visierte seine Waffe an, die bei der Geisterattacke aus seiner Hand gerutscht war und nun einige Schritte entfernt auf dem Boden lag. Ohne zu zögern stürzte er darauf zu und wollte sie packen, doch Woods war schneller. Das Gewehr schlitterte über das Parkett in die andere Ecke des Raums. Dean stieß einen Fluch aus, hielt sich aber nicht länger als nötig damit auf. Stattdessen griff er die Eisenstange an seinem Gürtel, wirbelte herum und holte weit aus. Woods, der gerade seinen Arm nach dem Winchester ausgestreckt hatte, wirkte einen Augenblick ehrlich überrascht, ehe er sich aufgrund des Eisens in Luft auflöste. Dean erlaubte sich einen tiefen Atemzug, ehe er einen Blick auf Castiel warf. Dieser befand sich an jener Stelle, auf die Barbara Woods zuvor so intensiv gestarrt hatte, und war dazu übergegangen, mit seiner Brechstange das Parkett aufzureißen. Man sah ihm an, dass ihm diese Tätigkeit mehr als ungewohnt war, doch mangels himmlischer Kräfte war er dazu gezwungen, es auf die altmodisch menschliche Art zu versuchen. „Hier ist tatsächlich Blut“, stellte er fest, als er eines der ersten Bretter mühevoll ein wenig angehoben hatte. Dean atmete bei dieser Aussage erleichtert auf. Vielleicht war ihnen das Glück dieses Mal doch endlich hold. Kaum aber schoss ihm dieser Gedanke durch den Kopf, tauchte Woods wie aus dem Nichts wieder auf. Seine Augen funkelten zornig, während er Dean musterte, als wollte er ihn mit seinem Blick töten. Dean spürte, wie ihm plötzlich die Luft wegblieb. Als hätte der Geist die Hände um seinen Hals gelegt und würde mit aller Kraft zudrücken. Dean versuchte, zu atmen, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen verschwamm bereits seine Sicht, während er nach hinten torkelte und gegen eine der glaslosen Vitrinen stieß. Er hörte, wie erneut einige antike Kostbarkeiten zu Boden stürzten. Doch es war ihm gleich. Er rang bloß nach Luft, während er gleichzeitig in Albert Woods‘ eiskalte Augen starrte. Der Geist wollte ihn tot sehen. Und wenn nicht schnell etwas passierte, würde sich dieser Wunsch auf jeden Fall erfüllen. * * * * * Bryan Tucker starrte aus dem Fenster und konnte nur den Kopf schütteln. Schnee! Und finstere Nacht! Das war wirklich mehr als verrückt. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erlebt. Schon als sein Nachbar Stewart um vier Uhr morgens in der Früh lautstark gegen seine Haustür gehämmert hatte, um ihn aus dem Bett zu werfen und ihn auf die merkwürdige Situation in Willcox aufmerksam zu machen, war Bryan die Kinnlade nach unten geklappt und über eine halbe Stunde war es ihm nicht möglich gewesen, seinen vor Erstaunen geöffneten Mund wieder zu schließen. Was auch immer in der Stadt passierte, es ging nicht mit rechten Dingen zu. Bryan hatte nie an paranormale Dinge geglaubt. Im Grunde hatte er es sogar stets strikt abgelehnt. Er hatte Physik und Mathematik an einem renommierten College studiert und unterrichtete nun seit knapp dreißig Jahren als Lehrer. Und in all dieser Zeit hatte er sich immer auf die wissenschaftliche Beweisführung verlassen. Stets eine rationale und logische Antwort gesucht. Nun aber fiel ihm nicht mal annähernd eine Erklärung ein. Zumindest keine, die er auch selbst geglaubt hätte. Unwillkürlich musste er dabei an seinen großen Bruder Ted denken. Dieser war immer offen für das Übernatürliche gewesen, wahrscheinlich würde ihn die derzeitige Situation in Willcox sogar unglaublich begeistern. Seitdem er als junger Teenager angeblich einen Geist gesehen hatte, faszinierte ihn diese unerklärliche Welt. Bryan hingegen hatte Teds Worten nie geglaubt und ihn als verrückt und leichtgläubig beschrieben. Nun aber bereute er es, dermaßen hart zu seinem Bruder gewesen zu sein. Denn ganz offensichtlich hatte Ted nicht vollkommen falsch gelegen. Bryan seufzte, während er sich durch das inzwischen schüttere Haar fuhr. Normalerweise hätte er um diese Uhrzeit bereits wissbegierige Schüler unterrichtet, aber nun war er in seinem Haus gefangen. Dort draußen gab es kein Vorwärtskommen. Zumindest keines, wenn man Wert auf trockene Kleidung und eine einigermaßen annehmbare Temperatur legte. Bryan zumindest hatte keine Lust, sich auf die Straßen zu wagen. Er lebte bereits sein ganzes Leben in Willcox und hatte auch trotz seines Studiums Arizona nicht verlassen. Hohe Gradzahlen war er mehr als gewöhnt. Aber Schnee und eisige Kälte …? Das war einfach zu viel! Er hatte überhaupt schon auf eine wahre Odyssee gehen müssen, um wärmende Kleidung in seinem Schrank zu finden. Mühevoll hatte er alles durchforstet und schließlich mehrere Schichten übergestreift, die einigermaßen warm hielten. Wenigstens hatte er nicht mehr das Gefühl, dass seine Gliedmaßen taub würden und jede Minute abfielen. Und nun hockte er hier in seinem Haus und wusste nicht, wann er jemals wieder herauskam. Normalerweise hatte er dermaßen viel zu tun, dass ihn dieser Umstand nicht sonderlich störte, aber nun schienen ihn die leeren Räume förmlich anzuspringen. Niemand war im Haus. Seine jüngste Tochter war vor gut einem Jahr ausgezogen, seine zwei Jungs schon früher. Bryan hatte versucht, es positiv zu sehen, und sich natürlich gefreut, dass seine Kinder ihre eigenen Wege gingen. Doch nun fühlte er sich mit einem Mal unglaublich einsam. Er war allein, abgesehen von einigen Kerzen und einer Taschenlampe war es stockdunkel und er hatte auch keinen Strom, um mal eben den Fernseher oder das Radio einzuschalten und somit seine Einsamkeit zu überspielen. Als es schließlich an der Haustür klopfte, freute sich Bryan schon richtiggehend, endlich etwas Gesellschaft zu bekommen. Und wenn es auch nur der Nachbar war, der sich ein paar Kerzen borgen wollte. Bryan schnappte sich seine Taschenlampe, setzte sich in Bewegung und öffnete die Tür. Und sein Lächeln gefror zu Eis. „Hallo, Schatz“, sagte die Gestalt an der Haustür. Sie schmunzelte sogar, als wäre nichts gewesen. Als wäre es das Natürlichste der Welt. Bryan hingegen klappte an diesem Tag erneut seine Kinnlade nach unten. Das war unmöglich! Einfach … nicht wahr! „Jocelyn …“, stammelte er entsetzt. Ein Teil von ihm wollte seine Arme ausbreiten und sie in eine feste Umarmung ziehen, doch sein rationaler Verstand gewann schnell die Oberhand. Stattdessen strauchelte er einige Schritte zurück und starrte die Frau an der Tür geschockt an. Er musste träumen! Anders konnte er es sich nicht erklären. Jocelyn störte sich offensichtlich nicht an seiner fassungslosen Miene. Unbekümmert trat sie ins Innere und ließ ihren Blick schweifen. „Du hast neue Gardinen“, stellte sie fest. „Sie sehen wirklich schön aus. Auch wenn ich persönlich eine etwas kräftigere Farbe gewählt hätte.“ Bryan konnte es einfach nicht fassen. Er stand hier tatsächlich mit Jocelyn und unterhielt sich über Gardinen! „Jo …“, begann er stotternd. „Du … du bist doch tot!“ Und das schon seit sechs Jahren. Sechs grauenvolle Jahre. Es war für ihn das schlimmste auf der Welt gewesen, seine geliebte Frau zu Grabe zu tragen. Er hatte geweint wie ein Baby, als Jocelyn damals ihrem Krebsleiden erlegen war. Und er hatte lange gebraucht, um sich wieder einigermaßen zu fassen. Er hatte versucht sich einzureden, dass sie nun an einem besseren Ort war. Dass ihre Qualen ein Ende hatten. Dass sie zwar nie wieder zurückkehren würde, er aber für die gemeinsame Zeit dankbar sein sollte, anstatt ihr Fehlen zu betrauern. Und nun stand sie hier! Im Hausflur. Und es war ganz eindeutig Jocelyn. Er erkannte das Kleid, das sie damals zu ihrer Beerdigung getragen hatte. Es war zwar inzwischen ziemlich ausgebleicht und allgemein in einem schlechteren Zustand, aber es war ohne Zweifel ihr Kleid. Und Jocelyn … er sah ihre hohen Wangenknochen, ihr neugierigen Augen und ihre kleine Stupsnase. Auch wenn sie nun anders aussah. Ihre Haut war blass – leichenblass, um genau zu sein –, ihre Augen blutunterlaufen, ihre Lippen blau und ihre Haare struppig. Außerdem war sie bis zur Hüfte nass, was vermutlich am hohen Schnee lag, und über und über mit Erde verdreckt, als hätte sie sich aus ihrem eigenen Grab freigeschaufelt. Bryan schluckte schwer. Das war einfach nicht möglich! Jocelyn kam derweil immer näher auf ihn zu. „Du brauchst wirklich keine Angst zu haben“, meinte sie lachend. Früher hatte sie ein glockenhelles und wunderbares Lachen gehabt, nun aber klang es kratzig und irgendwie unheimlich. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und Bryan konnte sich nicht dagegen wehren. Er ließ es einfach geschehen und spürte, wie ihre kalten Finger über seine Wange strichen. „Es wird alles gut“, versprach sie flüsternd. „Wir werden wieder zusammen sein. Und das für immer.“ _____________________________________________ An dieser Stelle nochmal ein dickes Dankeschön mit drei Sternchen für eure Kommentare! ^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)