Soldatenbraut von Vanillaspirit (Winterwichteln 09/10) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Einfach alles war falsch. Kaname hatte das Gefühl, dass irgendjemand unumstößliche Naturgesetze beiseite gewischt hatte und alles neu und sehr verkehrt angeordnet worden war. Ängstlich umklammerte sie die Waffe, ein halbautomatischen Gewehr, und starrte zur Tür. Ihr Verstand war mit der momentanen Situation mehr als überfordert, aber ihr Instinkt wusste, dass das kleinste Zeichen von Panik das Ende bedeuten würde und hatte ihre Handlungen übernommen. Ihre Wahrnehmung war eine Aneinanderreihung von Bildern, die kaum von ihrem Gehirn verarbeitet werden konnten. Sie spürte noch immer die Hitze der Explosionen, der Lärm hämmerte in ihren Ohren - gebrüllte Befehle, Gewehrfeuer, Schritte die immer näher kamen. Es war alles so wahnsinnig schnell gegangen und sie hatte sich ausgeliefert und nackt gefühlt. Zuerst war nur das laute Surren zu hören gewesen und erst als sie bereits gelandet waren, hatte Kaname registriert, dass es sich um Rotorblätter großer Kampfhubschrauber gehandelt hatte. Es waren zwei oder drei Stück gewesen, ihr Gedächtnis wollte sich nur schwer daran erinnern, und Sousuke war mit gezogener Waffe an ihr vorbeigelaufen. Die Momente danach erschienen ihr unwirklich und sie wusste nicht einmal mehr, wie sie in diesen Raum gekommen war. Ihre Finger fanden kaum Halt an dem Gewehr. Es war schwer, sperrig und durch das viele Blut rutschte sie immer wieder ab. Vorsichtig legte sie die Waffe neben sich, den Lauf an die Wand zeigend. Sie wusste nicht einmal, ob das Gewehr überhaupt entsichert war. Es war nicht ihre Aufgabe damit umgehen zu müssen, bisher war es immer Sousuke, der sie beschützte, auf andere schoss und sein Leben einsetzte, aber nun war alles völlig umgekehrt worden. Ihr Blick wanderte immer wieder von der Tür zu dem Körper vor sich. Eine Hand presste Stoff, irgendetwas, was sie unterwegs bei einigen umgekippten Spinten gefunden hatte, vermutlich ein Sportshirt, auf ein Loch im Bauchfleisch, aus dem immer wieder Blut sickerte. Das Gesicht war bleich, die schwarzen Haare klebten durch einen kalten Schweißfilm auf der Stirn und die Atmung stockte gelegentlich. Es war unwirklich und angsteinflößend Sousuke so zu sehen. Auch wenn es naiv war, hatte Kaname sich bei jeder Mission eingebildet, dass der junge Söldner unbesiegbar und unsterblich war. Sie hatte all die Narben an seinem Körper gesehen und dennoch immer wieder glauben wollen, dass ihm nichts zustoßen könne. Kaname biss sich auf die Unterlippe, unterdrückte die aufsteigenden Tränen und presste nun beide Hände auf die Wunde. Gedanklich flehte sie Sousuke an, wieder zu sich zu kommen und verfluchte ihn gleichzeitig, dass er ihr nichts beigebracht hatte. Nie hatte er ihr grundlegende Dinge über den Umgang mit Waffen oder ähnliches gezeigt. Hatte er denn nie daran gedacht, was wäre, wenn sie allein auf sich aufpassen müsste? Er war manchmal so ein Idiot. Ein Schluchzen entkam ihrer Kehle und sofort legte sich eine Hand auf ihren Mund, versuchte jedes weitere Geräusch zu ersticken. Sie durfte keinen Laut von sich geben, sonst würden sie sie finden, wenn sie nicht längst wussten, wo sie sich zu verstecken versuchte. Mit Sicherheit musste das Mädchen eine Spur hinterlassen haben, die selbst ein Blinder verfolgen könnte. Sie wusste ja selbst nicht einmal, wie sie samt dem verletzten Sousuke in einen Abstellraum gekommen war. Anscheinend pumpte sich der Körper bei Gefahr mit genug Adrenalin voll, damit auch ein normales Mädchen einen schwerbewaffneten, bewusstlosen, viel größeren Idioten durch die halbe Schule tragen konnte. Wut mischte sich in Kanames Emotionscocktail. Wut auf sich, auf die Angreifer und auf Sousuke. Heute hätten sie ihr Abschlusszeugnis erhalten sollen und sich im schlimmsten Fall eine unendlich lange Rede des Direktors über ihre Zukunft und ähnliches anhören müssen, doch es kam alles anders. Sousuke war in seiner MITHRIL-Uniform aufgetaucht, redete kaum ein Wort, reagierte diesmal gar nicht auf ihre Schimpftiraden – es wirkte sogar so, als hätte er versucht ihr aus dem Weg zu gehen. Geräusche näherten sich und hastig griff Kaname nach der Waffe, hielt den Lauf Richtung Tür und versuchte das umzusetzen, was sie schon so oft bei Sousuke und in Kriegsfilmen gesehen hatte. Instinktiv zog sie den Abzug, als sie etwas direkt vor dem Versteck zu hören glaubte. Der Rückstoß der Tarvor riss das Mädchen um. Mit einem weiteren Schrei ließ sie die Waffe fallen. Ihre Salve hatte Tür und Wand durchlöchert. Flatternd ging ihr Atem und ihr Herz raste - sie hatte einen Menschen getötet. Neben dem Anblick von Blut brannte dieser Gedanke sich in ihr Hirn ein. Sie hatte nichts weiter getan als einen unscheinbaren Hebel mit ihrem Zeigefinger zu drücken und hatte ein Leben vernichtet. Dies war etwas anderes als lästige Mücken im Sommer zu erschlagen, es war viel einfacher gewesen und gleichzeitig widerlicher. Der scharfe Geruch von Schießpulver stieg ihr in die Nase, ihre Beine zitterten, als sie mit ihnen die Tür aufstieß. Sie fragte sich unwillkürlich, wie Sousuke diese Erfahrung Tag für Tag aushalten konnte. Verlor man irgendwann die Empfindungen oder erinnerte man sich an jedes einzelne Gesicht? Kaname schüttelte den Kopf, wollte die Gedanken oder wenigstens die Übelkeit vertreiben. Es brauchte, bis die Erleichterung durch ihren Körper schwamm; die Erkenntnis, dass da nichts gewesen, außer ihrer Einbildung und dennoch hatte der Schrecken sie aufgeweckt. Ihr Verstand funktionierte wieder klarer und machte ihr unmissverständlich klar, dass sie von hier verschwinden musste, denn der wirkliche Feind würde mit Sicherheit bald hier auftauchen. Müde erhob das Mädchen sich und schaffte es mit Anstrengung auch Sousuke hochzuhieven. Mühevoll hielt sie seinen Arm über der eigenen Schulter fest und schleppte ihn weiter. Wenn doch nur Kurtz und Melissa hier wären. Vielleicht lag es an der unsanften Behandlung, vielleicht auch am eigenen Willen, aber gerade, als Kaname Sousuke auf den Boden rutschen ließ, begannen bei diesem die Lider zu flattern. Sofort kniete das Mädchen neben ihm und erwartete dessen nächste Reaktion. Er keuchte leise, bevor ihn die Bewusstlosigkeit wieder übermannte. Kaname ließ sich seufzend neben ihm nieder und betrachtete ihren improvisierten Druckverband aus dem T-Shirt und der Jacke ihrer Uniform. Das Konstrukt würde nicht lange halten und das Krankenzimmer war mit Sicherheit längst besetzt und nicht gerade um die Ecke. Man könnte höchstens dorthin gelangen, wenn man wie eine Ratte durch die Luftschächte kroch, aber etwas so lächerliches funktionierte nur in Hollywood. Fast automatisch fanden ihre Finger Sousukes Kopf und begannen durch dessen Haare zu streichen. Es beruhigte sie zu wissen, dass er noch da war, auch wenn die Sorge um ihn ihr Inneres allmählich zerfraß. Sie hatte gedacht, er würde ewig in ihrem Leben bleiben, sie den Rest davon in den Wahnsinn treiben und immer da sein, wenn sie sich umdrehen würde. Doch das war albern. Sie wusste, dass die Zeit begrenzt war und sie unmöglich nach der Schule zusammen bleiben konnten. Wie sollte das auch zu machen sein? Mit seinen schlechten Noten würde keine Universität ihn aufnehmen und auch sie musste wieder lernen ein normales Leben zu führen, weit ab von der ständigen Kontrolle MITHRILs. Automatisch hielt sie die Luft an, als sie erneut Schritte hören konnte, doch sie entfernten sich wieder. Mit klopfendem Herzen erhob Kaname sich wieder und suchte mit ihrer Last ein besseres Versteck, in der Hoffnung, dass ihre Freunde bald eintreffen würden. MITHRIL musste bereits erfahren haben, was hier vor sich ging und die Organisation würde dies niemals auf sich sitzen lassen, zumal Sousuke ein äußerst wichtiges Mitglied war. Sie gab sich nicht der Illusion hin, dass sie ihn aus menschlichen Gründen retten würden, aber er war noch immer der einzige, der Arbalest, MITHRILs Schmuckstück, steuern konnte. Noch weniger versuchte sie sich Gedanken um die Leute zu machen, die sich zur Zeit des Angriffs in der Aula befunden hatten. Es brachte nichts über irgendwelche Rettungsaktionen nachzudenken. Sie war allein, hatte die verdammte Waffe liegen lassen und sie musste versuchen Sousuke so lange zu verstecken, bis dessen Kollegen auftauchen würden. Zwei Minuten, solange dauerte eine Patrouille. Kaname hatte die Zeit bereits zum dutzendsten Mal gestoppt und sich den Soldaten mittlerweile mehr als genau angeschaut. Sein Japanisch war schlecht und er brüllte es, wenn überhaupt, nur in sein Walkie Talkie, ansonsten war er das Klischee eines Soldaten: groß, muskulös, vernarbtes Gesicht. Es war absurd, wie viele Söldner es gab, die dieser Vorstellung entsprachen. Es gab wohl ein extra Anforderungsprofil für die Art Freiberufler und Sousuke war mit Sicherheit Spitzenreiter des geistigen Tests gewesen. Kaname seufzte. Zwei Minuten waren mehr als genug allein zu fliehen, aber zu wenig, um auch den Schwerverletzten mitzunehmen. Niedergeschlagen ließ sie sich an der Wand hinab. Der Treppenaufgang bot einen relativ guten Sichtschutz, vor allem da der Hausmeister es bisher nicht geschafft hatte die Schäden von Sousukes letzter Rettungsaktion zu beseitigen und die Beleuchtung noch immer nicht funktionierte. Mit einiger Kraftanstrengung hob sie den Kopf des Verletzten an und schob ihre Beine darunter durch. Eine Nettigkeit, die er sich durchaus verdient hatte. Es war einfach nur ein dummer Streich des Schicksals, dass er diesmal das Opfer war und sein Leben nun in ihren Händen lag. Nicht die beste Wahl, wie sie selber nur zu genau wusste. In Stresssituationen zeigte sich ihre Whisperednatur und all die Stimmen im Kopf flüsterten ihr die Namen jeder Waffe, ihren Aufbau und ihre Funktionsweise zu. Sie hatte höllische Kopfschmerzen und bleierne Müdigkeit floss gemächlich durch ihren Körper. Ein gebrüllter Befehl riss das Mädchen aus ihrem traumlosen Schlaf. Verwirrt schaute sie sich um, versuchte sich so rasch wie möglich daran zu erinnern, wo sie war, warum sie hier war und blieb mit ihrem Blick an einer wackeligen Gestalt hängen. Sousuke hatte Mühe sich überhaupt wach zu halten. Seine Beine zitterten, als er auf ihnen kniete und mit einer Hand musste er sich abstützen. Ein dunkler Schweißfleck bedeckte seinen gesamten Rücken und dennoch hielt er eine kleine Waffe, M1911 flüsterten Kanames Stimmen – der Himmel wusste, wo er diese an seinem Körper versteckt hatte – und richtete sie lauernd in die Richtung, aus der ein Angreifer kommen musste. Eilig rutschte Kaname an den jungen Mann heran, legte ihre Hand behutsam auf seine Schulter und versuchte ihn zurück an die Wand zu drücken. „Du bist verletzt“, flüsterte sie heiser. „Diesmal kannst du nicht kämpfen.“ Sousukes Augen drehten sich ihr zu. Sein Blick war fiebrig und leicht entrückt, dennoch war die Stimme, mit der er antwortete ungewöhnlich klar. „Es ist meine Aufgabe.“ Natürlich, wie konnte sie das nur vergessen. Es war seine Aufgabe sie zu beschützen, sich niederschießen zu lassen, sie aus misslichen Situationen zu retten und wenn er sich dabei umbrachte. Eine unumstößliche Argumentation, mit nur einem kleinen Haken. „Wenn man es genau betrachtet, hast du Unrecht“, zischte sie ein wenig ungehalten. „Bis zum Abschluss, wenn ich dich daran erinnern darf.“ Hart schluckte sie den Kloß in ihrem Hals herunter und spürte, dass da schon wieder unbändige Wut auf ihn war. Er hatte ausgehandelt bis zum Schulabschluss ein relativ normales Leben führen zu dürfen, aber gleichzeitig hatte dieser Handel es unmöglich gemacht es auch wirklich haben zu können. Wie sollte man auch eine Beziehung aufbauen, wenn diese von vornherein ein Verfallsdatum hatte? Verwirrt schaute Sousuke Kaname an und ließ die Waffe etwas sinken. Sie konnte sehen, wie er verzweifelt versuchte ein logisches Argument zu finden und gleichzeitig alles Emotionale auszuschließen. „Wer sind die“, fragte sie, um ihn von seiner unlösbaren Aufgabe zu befreien. „Und was wollen die?“ Er wirkte erleichtert. Nun befand er sich wieder auf Terrain, in dem er sich auskannte. „Söldner“, erklärte er, „eine Privatarmee, die für jeden arbeitet, der bezahlt. Seit einigen Monaten sammeln sie für den russischen Geheimdienst Whispered.“ Es erklärte so einiges, sein heutiges Verhalten eingeschlossen. Früher hätte dies Kaname bis ins Mark erschreckt, mittlerweile war es Routine, sofern man sich daran gewöhnen konnte ständig als Zielscheibe zu leben. Dennoch ärgerte es sie. Monatelang hatte sie ihre Ruhe gehabt, hatte gedacht man hätte sie mittlerweile aufgegeben und nun fing alles wieder von vorn an – dabei war es nicht ihre Schuld, dass sie so war, wie sie eben war. Whispered zu sein, bedeutete für sie in erster Linie verfolgt zu werden und von Stimmen übermannt zu werden, die ihr ständig unverständliche Technik zuflüsterten. Sousuke versuchte sich zu erheben, fiel allerdings sofort unspektakulär auf seinen Hintern und musste von Kaname gestützt werden. „Dummkopf“, schimpfte diese. „Was hast du vor? Den Feind vollbluten und hoffen dass er von deiner Verletzung angewidert genug ist, um sich zurückzuziehen?“ „Das oberste Ziel ist, dich in Sicherheit zu bringen und die zivilen Geiseln zu befreien – möglichst ohne Verluste.“ Das Mädchen schmolz fast dahin bei seiner nüchternen Erklärung der Sachlage und den Wunschträumen. Aus einem reinen Reflex heraus verpasste sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, der noch viel schmerzhafter ausgefallen wäre, hätte sie ihren Fächer bei sich gehabt. Der Typ war einfach nicht ganz richtig. Es war ihr klar, dass die anderen Leute gerettet werden mussten, immerhin waren die meisten davon mit ihr befreundet, aber ein dumm daherredender Fasttoter, dessen Magen beinahe freigelegt worden war, war mit sehr großer Garantie mehr Hindernis als Retter in der Not. Genervt massierte sie sich die Nasenwurzel. „Du bist verletzt und bisher war ich es, die dich gerettet hat“, fasste sie die Lage zusammen. Etwas huschte über sein Gesicht, dass Kaname nur schwer einordnen konnte. War es Scham? Sie wusste, dass er in militärischer Hinsicht ein Perfektionist war. Er konnte gar nicht anders, es wurde ihm ins Blut eingeprügelt, wie so vielen anderen Kindersoldaten vorher auch. Er würde wohl niemals in der Lage sein dieses Verhalten abzulegen. „Danke“, murmelte er leise, „aber es ist meine Aufgabe, solange die Ablösung nicht gekommen ist.“ Kaname fragte sich, ob diese Ablösung ein Student sein würde, der ihr auf Schritt und Tritt folgen würde und was wäre, wenn sie mit dem Studium fertig war, ob es dann ein Ehemann sein würde oder man sie einfach nur in einen Bunker sperren würde. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Tessa, Sousukes Vorgesetzte und ebenfalls eine Whispered, hatte ihr einmal Geschichten über andere ihrer Art erzählt, die verrückt geworden sind oder die zu menschlichen Laborratten wurden. Der Gedanke, dass ihr ein ähnliches Schicksal blühen könnte, war etwas, dass sie bis in ihre Träume verfolgte. Erneut versuchte Sousuke sich zu erheben und presste diesmal seine Hand auf die stillgelegte Wunde, um den Schmerz erträglicher zu machen. „Sousuke, lass den Blödsinn!“ Kaname versuchte erneut an seinen Verstand zu appellieren – ohne Erfolg. „Sousuke!“ Ihre Stimme wurde schriller und sie musste sich beherrschen nicht laut zu brüllen. „Sergeant Sagara!“ Ein wenig verwirrt drehte er sich zu ihr. Es war ungewöhnlich, dass sie ihn bei seinem Rang rief, bisher hatte sie immer versucht zu vermeiden MITHRIL in ihre normale Welt hereinkommen zu lassen. Es war reine Verdrängung, der Wunsch, dass wenn sie nicht daran dachte, es auch nicht wahr sein würde, aber es war nun einmal die Realität. Der Krieg, der Terror, die Tatsache, dass einer von ihnen beiden jederzeit sterben könnte, wenn er, Sousuke, seine Arbeit nicht richtig machen würde. Er schaffte es nicht mehr, die übliche Diskussion über das was er sollte und was sie nicht wollte zu führen. Der laute, gleichmäßige Lärm von Maschinengewehren war zu hören. Es gab einige Erschütterungen, lautes Surren, Schreie, Schritte, der Geruch von Rauch. Ohne Zögern ergriff Sousuke Kanames Hand und zerrte sie weiter. Der Befreiungsschlag hatte begonnen und mit Mühe stolperte er durch den Schulflur, um einen Platz zu finden, in dem er besser verteidigen konnte, wenn der aufgeschaute Feind in einer Panikaktion alles über den Haufen schoss, das sich bewegte. Sie kamen nicht sehr weit. Kaname hatte Mühe gehabt den Soldaten rechtzeitig aufzufangen, als dessen Körper endgültig nachgab. Seine fiebrigen Augen drehten sich in alle Richtungen und er hielt seine Pistole fest umschlossen, immer bereit zu schießen, wenn jemand zu nahe kam, auch wenn er nicht einmal mehr genau zielen konnte. Das Mädchen blieb an seiner Seite, stützte ihn soweit es ging und wartete mit ihm an der Wand gelehnt auf Feind oder Freund. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, näherten sich Gestalten. Kaname war müde und in ihr Schicksal ergeben. Erst, als jemand sie direkt ansprach, blickte sie auf und die Tränen suchten sich ihren Weg. Sie hatte selber das Gefühl ein absolutes Klischee zu erfüllen, als sie neben dem Krankenbett saß und kleine Häschen aus Apfelstücken zauberte. Immerhin aß er auch alle artig auf, nicht dass er viel Wahl nach Melissas Befehl gehabt hatte. Diese war der Meinung, dass jemand, dem soviel Metall aus dem Körper entfernt worden war, gefälligst jedes kleinste Vitamin aufzunehmen hatte, was in seine Reichweite kam. „Die Ärzte haben gesagt, dass es noch eine Weile dauern wird, bis du wieder einsatzfähig bist“, erklärte Kaname und hielt dem Patienten ein weiteres Apfelstück auf einem Zahnstocher hin. Nahezu teilnahmslos schob er sich dieses in den Mund und kaute mit monotonen Kieferbewegungen. „Du hattest Glück, aber Melissa hat gemeint, dass MITHRIL sich gut um seine Leute kümmert und du weiterhin im Feld eingesetzt werden kannst.“ Ihre fröhliche Stimme machte alles so absurd und Sousuke fragte sich, ob sie die geringste Ahnung hatte, was dies bedeuten würde. Mit Gewalt schluckte er den Apfel herunter. „Wir dürfen keinen engen Kontakt zu Zivilisten haben“, erklärte er schließlich und sah ihr ins Gesicht. Sein Blick musterte sie sehr genau, damit kein Muskelzucken ihm entging und gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Kurz versteifte sie sich, bevor sie das Schneiden und Schälen wieder aufnahm. „Melissa hat mich bereits darauf angesprochen.“ Es war nicht ganz korrekt. Melissa hatte ihr ins Gewissen geredet und ihr erklärt, was dieser Angriff für ihre Zukunft bedeutet würde. Chidori Kaname würde verschwinden und man ließ ihr die Wahl zu entscheiden auf welche Weise. Der Angriff hatte einigen der versammelten Schüler das Leben gekostet und MITHRIL würde dafür sorgen, dass Kaname sich offiziell unter ihnen befand. „Sie hat gesagt, dass man mich nicht so ohne weiteres herumlaufen lassen kann.“ Mao Melissa war in vielen Dingen äußerst nüchtern und trug ihr Herz auf der Zunge. Sie hielt nichts davon Leute zu belügen und erklärte Kaname, dass ihre Optionen nicht sehr vielseitig waren. Keine Whispered war derartig bekannt, man musste ihre Adresse nicht einmal mehr auf dem Schwarzmarkt kaufen und einige Terrorgruppen hatten bereits eine eigene Fanseite gegründet mit regelmäßigen Fotouploads. Kaname musste verschwinden, denn auf keinen Fall dürfte sie dem Feind in die Hände fallen. So oder so würde es einen Totenschein für Chidori Kaname geben, ob sie danach wirklich tot war, versteckt irgendwo lebte oder in die Eingeweide des MITHRIL-Hauptquartiers gesteckt wurde, blieb der Toten selber überlassen. Was kaum etwas daran änderte, dass die meisten Szenarien dafür sorgen würden, dass sie sich für immer von Sousuke verabschieden würde müssen. „Es wäre mit Sicherheit das Beste“, erklärte er fast leichtfertig. Ihr falsches Lachen, welches sie immer dann einsetzte, wenn die eigene Verlegenheit sie zu übermannen drohte, erfüllte den Raum. „Ja, nicht wahr? Dann müsste ich mich auch nicht mehr über dich ärgern.“ Es klang so falsch und verlogen in ihren Ohren. Im Moment wusste sie nicht, wenn sie schlagen sollte, Sousuke, weil ihm gar nichts ausmachte oder sich selber, weil sie sich darauf einließ. „War es so unangenehm?“ Seine Frage ließ das Mädchen zusammenzucken. Es lag so viel Unsicherheit darin, dass es ihr für einen Moment die Sprache verschlug. Ihr Blick wanderte im Krankenzimmer umher, suchte irgendwo Halt und wenn möglich auch eine Antwort. Ihre Finger krallten sich in ihren kurzen Jeansrock. „Nein“, murmelte sie ungewöhnlich ruhig, „nein, eigentlich nicht.“ Wäre sie etwas mutiger, würde sie ihm sagen, dass er ihr alles bedeutete und sie alles was sie besaß dafür geben würde, nur um bei ihm bleiben zu können. Ihr Verstand wand sich hin und her, ließ ihren Körper verkrampfen, bis die ersten Tränen unbemerkt tropften. Die Wärme von Sousukes Hand legt sich über ihre. Mit einer fließenden Bewegung entzog er ihr das Schälmesser, bevor sie sich noch verletzte und legte es auf den Nachttisch. Hastig wischte sie sich über die Augen. „Bist du verrückt? Du sollst dich nicht so viel bewegen“, schimpfte sie ihn halbherzig aus. „Chidori? Danke.“ Sein unpassender Satz, verwirrte sie. Aus geröteten Augen blickte sie ihn fragend an. „Du hast mir das Leben gerettet“, erklärte er helfend und bemerkte irritiert, wie sich ihre Wangen röteten. Verlegen lachte sie laut auf und winkte enthusiastisch ab. Als sie bemerkte, dass sein durchdringender Blick noch immer auf ihr lag, begann sie nervös auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Er wirkte wieder so ernst. „Chidori?“ „Ja?“, platzte es aus ihr heraus und erwartungsvoll sah sie ihn an. Ihr Herz klopfte laut und sie hielt sich selber für dumm in solchen Momenten zu einer albernen Pute zu werden. Er würde sie ja doch wieder enttäuschen und statt etwas Romantischem würde etwas bodenlos Nüchternes kommen. In dieser Hinsicht war Sousuke ein Spezialist. Statt eines Urlaubs zu zweit, schenkte er einem ein Untertauchen in MITHRILs Hauptquartier, statt Schmuck, sammelten sich in ihrem Nachtschrank Spionageutensilien und statt eines Kusses erwartete einen eine Rauchbombe, Stinkbombe oder ähnliches mit –bombe. Sousuke räusperte sich. „Ich habe dich das schon einmal gefragt, aber würde es dich sehr stören, wenn ich weiterhin in deiner Nähe wäre?“ Erneut war dieses entsetzlich künstliche Lachen in Kanames Kehle. Wovon redete er da nur? „Ich dachte keinen Kontakt zu Zivilisten oder willst du mich einsperren?“ Sie konnte sehen, wie sich sein Ausdruck änderte. Seine Stirn legte sich in Falten und sein Blick ruhte nachdenklich auf ihr. Er wirkte angespannt und machte den Eindruck personifizierter Ruhe vor dem Sturm. „Laut Paragraph Dreizehn des Handbuches gibt es Ausnahmen. Mit Familienangehörigen darf weiterhin Umgang gepflegt werden“, erklärte er fachmännisch und ließ ihr fast das das Herz still stehen. Es wäre eine Lüge gewesen zu behaupten, dass sie nie daran gedacht hätte. Wenn es um den soldatischen Spinner ging, wurde sie schnell zu einem kichernden Teenager, der sich heimlich ausmalte wie Sagara Kaname klang – natürlich nur ganz geheim und sogar vor sich selber versteckt. Ein anderer Teil, der sich durchaus offene Gefühle erlaubte, suchte bereits nach dem Fächer um sich für diesen Antrag gebührend zu bedanken. Der größte Teil jedoch, wischte sich die Tränen ab, schluckte den Ärger hinunter und suchte die Kraft, die es brauchte um eine Soldatenbraut zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)