Und am Anfang, da warst du... von abgemeldet (Sherlock Holmes and the Prisoners of Today (H/W)) ================================================================================ Prolog: Staub verdeckt alte Sünden ---------------------------------- Prolog Und am Anfang war das Wort, so steht es geschrieben. Doch welches Wort? Macht? Geld? Gier? Leid? Tod? Und am Anfang war die Tat, so steht es geschrieben. Doch welche Tat? Unterdrückung? Raub? Mord? Totschlag? Quälerei? Und am Anfang war Gott, so steht es geschrieben. Doch – welcher Gott? Jahwe? Allah? „Gott“? Shiva? Odin? Thor? Die Antworten können zahlreich sein, nicht aber die Lösungen. Nur eine einzige Formulierung kann Antwort, wie auch Lösung sein. Und am Anfang – war die Liebe. Mr. Lestrade war immer schon ein ehrwürdiger Mann gewesen. Klein, hager und frettchenhaft war sein Äußeres, doch mutig und Tollkühn ein innerstes. Selbst noch als pensionierter Polizeikommissar pflegte er seine dienstlichen Angewohnheiten. Noch mit ergrautem Haar trug er stolz und Ehrwürdig seine Uniform, noch immer feindete er seinen ehemaligen Kollegen Gregson an, wie ein Hund eine Katz´. So saß er nun, nach etwas mehr als zwei Jahrzehnten Ruhestand, in gewohnter Manier an seinem Kaffeetisch und sinnierte über einen Fall, der sich wie eine dunkle, mächtige Gewitterwolke über seine Gedanken legte. Einen Fall, der seit etlichen Jahren ungeklärt war. Einen Fall, der ganz London mehr in Aufruhr versetzt hatte, als die Sprengung des Kriminellenringes Dr. Mariartys. Einen Fall, der ihn, Lestrade, mehr traf als alle anderen Polizeibeamten zusammen, schließlich ging es um gute Bekannte, ja, fast schon Freunde. Und obwohl nach mehr als 20 Jahren nun langsam alles in Vergessenheit geriet, konnte, oder besser wollte Lestrade nicht ruhen, ehe dieser besondere Fall nicht würde geklärt werden können. „Ich muss es selbst tun“, sprach Lestrade, rauh und brüchig, „wenn niemand anderes dazu bereit ist.“ Und so war der Entschluß gefasst; jetzt oder nie. Er striff sich seinen alten, abgewetzten Polizeimantel über, rief seiner Frau in der Küche zu, er würde vor Früh nicht zurück sein, und humpelte aus der Haustür. Seine sehnigen, faltigen Hände stützten sich haltsuchend an das Treppengeländer, als ihr Besitzer schwer atmend und voller Anstrengung in den marineblauen Augen realisierte, welches Alter er nun tatsächlich erreicht hatte. Er ließ eine Droschke rufen und war binnen einer halben Stunde am Ziel seiner Wünsche angelangt. Als der weißhaarige, braungebrannte Mann jedoch vor dem einst so warmen, einladendem Gebäude stand, überflogen ihn Schauer des Grauens und der Aufregung. Zu tief saß noch immer die Erinnerung an vergangenes Leid. Das Dach des alten Fachwerkhauses war ungewohnt moosig und verfallen, die Ziegel der Mauern abgewetzt und schmutzig. Die – einst so schön gepflegte – Holztür war nun umrankt von wildem Efeu und von Wind und Wetter stark beschädigt. Der Rasen wucherte über die kleine Steintreppe vor der Eingangstür und auf den Fenstersimsen nisteten die Schwalben. „Die Besitzer lassen es einfach verfallen“ dachte Lestrade zermürbt. Vorsichtig hinkte er die schmale Treppe zum Hauseingang hinauf und fand den rostigen, kleinen Ersatzschlüßel wie gewohnt dort vor, wo er immer gelegen hatte. Fahrig schloß er auf und hörte das nun verrostete Schloß scharf knacken, als er die Tür aufstieß. Einige aufgeschreckte Fledermäuse flogen wild kreischend aus der Haustür und der aufgewirbelte Staub zwang Lestrade dazu, sich ein Taschentuch vor das Gesicht zu pressen. „ Hätte ich nur eine Lampe mitgenommen.“ Fuhr es ihm durch den Kopf, als er die überaus morsche Wendeltreppe mit den 17 Stufen hinauf bis in das Wohnzimmer schritt. Im Zimmer angelangt stockte dem Ex-Kommissar der zittrige Atem. Obwohl in den Ecken Fledermäuse hingen, deren Vetter quiekend über den Boden rannten und eine unglaublich dicke Staubschicht alles bedeckte, schien der Raum noch genauso wie vor 20 Jahren. Das komplette Mobiliar war noch erhalten, selbst der Papierkorb war seitdem nicht ausgeleert worden. „Kein Wunder,“ Lestrade strich mit dem knochigen Finger eine Ladung Staub vom Schreibtisch in der hinteren Ecke des Raumes, „ Seit auch Sie nicht mehr ist, hat niemand mehr das Haus betreten. Und die neuen Besitzer, ihre Enkel, wollten alles so erhalten, genauso wie Sie es wollte.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ der Greis den Blick über die zwei Sessel neben dem Schreibtisch schweifen, über den alten, behaglichen Kamin, über die kaputte, steinalte Wanduhr, deren Glas gebrochen war und deren klaffender Schlund nun ein Nest von Tauben beherbergte. Lestrade schritt zitternd zum linken Nebenraum, dem Zimmer „..Wo es geschah..“ flüsterte der pensionierte heiser. Die Tür hing nur durch eine Angel gehalten im Rahmen und gab schnell den Blick auf den violetten, fleckigen Teppichboden des Zimmers preis. Hustend betrat Lestrade den Raum und versuchte, die riesigen Spinnen, die gemächlich die Wände auf und ab kletterten, zu ignorieren. Sein Blick wurde gefesselt von einer Stelle des Raumes, hinten, unter dem Fenster. Geschockt starrte Er auf den Fleck. Für einen Augenblick glaubte er, sie dort liegen zu sehen. Nebeneinander. Sherlock Holmes und Dr. John Hamish Watson. Vollkommen friedlich und bewegungslos, als würden sie schlafen. Doch sie waren tot. Vergiftet. Und die Polizei glaubte an Mord. Nur Lestrade nicht. Er wußte nicht, warum sie tot waren, ob es ein Unfall war, oder gar....etwas anderes. Doch er wußte sicher, dass dies kein Mord war, keine Tat eines dritten. Er fühlte es regelrecht. „Nun sind schon so viele Jahre vergangen,“ murmelte Lestrade aus glasigen Augen, sich an seinem Spazierstock festklammernd. „ich muss das Geheimnis um euren Tod lüften, eher kann ich nicht ruhen.“ Mit diesen Worten begann er, den Raum noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Das Fenster überhalb des Fundortes tauchte den Raum in milchig-gelbes Licht, so dreckverkrustet war es. Doch das reichte dem geübten Polizisten aus, um zu ermitteln. Sorgfältig untersuchte er das Bett, wendete die Laken- aus denen sogleich unzählige Spinnen und anderes Ungetier gekrochen kam - , untersuchte die Kissen und das Gestell. Er durchwühlte die Schränke, in denen noch immer Watsons Kleidung ordentlich aufgehängt hing. Nur ein Anzug fehlte: Sein geliebter schwarzer Samtanzug, sein bestes Kleidungsstück. Diesen hatte der Doktor angehabt, als man ihn tot neben Holmes auffand. Nach mehreren Stunden ergebnisloser Suche in der gesamten kleinen Wohnung verließ Lestrade langsam der Mut. Doch als er noch einmal in Watsons Schlafzimmer zurückkehrte, um seinen dort vergessenen Spazierstock zu holen bevor er ging, fiel ihm etwas auf: Das Bücherregal neben Watsons Bett, vollkommen unscheinbar. Er hatte es glatt übersehen. Lestrade wußte noch genau, welches Buch in welcher Reihe stand, so oft war er dieses Ding während den Ermittlungen damals durchgegangen. Der 80-jährige hockte sich vor das kleine Holzregal und zählte ab: „ Wilde, Oscar – Das Bildnis des Dorian Gray, Nr. 1. Edgar Allan Poe – gesammelte Werke, Nr. 2. Goethe – Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil, Nr. 3 Und dann -“ Erschrocken stockte der Mann mit den glasig-blauen Augen. Das konnte nicht sein. Dort, zwischen „Faust“ und „Der Schimmelreiter“ - dort stand ein weiteres Buch. Er konnte es unmöglich übersehen haben, gerade damals nicht! Es war blutrot eingebunden, es schien förmlich zu leuchten, und eine edle, goldene Lesezunge hing oben heraus. Vorsichtig zog Lestrade das Schriftstück aus der hölzernen Reihe um es genauer in Augenschein zu nehmen. Im Gegensatz zu den anderen Werken war dieses erstaunlich gut erhalten. Der Einband war merkwürdig sauber und auch die zahlreichen Seiten wiesen keinerlei Flecken oder Verschlisse auf. Schnell atmend las Kommissar Lestrade den schwarz aufgedruckten Titel in der Mitte des Einbandes. „Die- die Bibel?“ Ungläubig strich der Greis mit dem Finger über das heilige Buch. Nie hätte er erwartet, hier einmal eine Bibel vorzufinden. Holmes hatte jede Form des Glaubens aus irgendeinem Grund strikt abgelehnt und auch Watson schien nicht wirklich gläubig gewesen zu sein, also was hätten sie mit einer Bibel gewollt? Neugierig schlug Lestrade das Buch auf und bließ verärgert die Nüstern auf. „So eine Frechheit..“ murmelte der alte Herr, als er die bedruckten Seiten betrachtete. Irgendjemand hatte Teile der Schrift mit roter Tinte durchgestrichen, darunter oder darübergeschrieben, an den Rand gekritzelt oder bestimmte Worte oder Sätze markiert. Die Handschrift kam dem Komissar im Ruhestand vage bekannt vor, trotzdem maß er dem Buch weniger an Bedeutung zu und wollte es wieder an seinen angestammten Platz zurückstellen, als das Schriftstück merkwürdigerweise nicht mehr zur Gänze in die Regalreihe passen wollte. Verwundert zog der weißhaarige das religiöse Buch wieder heraus und besah sich das Regal noch einmal genauer. „Das ist ja..!“ Vor Erstaunen und erregung weiteten sich Lestrades Augen, als er stürmisch und unachtsam die anderen Bücher aus dem Regal zog und hinter sich warf, um das Innere des hölzernen Möbelstückes genauer in Augenschein nehmen zu können. „Ein Geheimfach!“ Frohlockte er, in heller Aufregung um seinen Fund. Vielleicht, so dachte er, würde sich damit der Fall ein wenig klären können. Wie Recht er doch behalten sollte. Tatsächlich war genau in der Mitte, hinten an der Holzwand des Regales eine kleine, unscheinbare Ausbuchtung, seit über 20 Jahren unentdeckt. Mit fahrigen Bewegungen öffnete Lestrade das quadratische Kämmerchen an einer rostigen Schaniere, griff herein und seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er feststellen musste, das der scheinbar ziemlich große Hohlraum eine briefpapiergroße Schachtel enthielt. Mit rasant klopfendem Herzen zog er die Box heraus und hielt sie gegen das trübe Licht. Das Schächtelchen war länglich und relativ hoch. Es war von einem seidigen Stoff umwickelt und von Royalblauer, edler Farbe. Verknotet war es durch zwei goldene Schnüre, deren rote Einflechtungen selbst im schwachen Licht edel glänzten. Vorsichtig blies Lestrade den wenigen angesammelten Staub vom Deckel der Kiste, ehe er diesen ehrfürchtig und langsam öffnete. Mit zitternden Fingern betrachtete er das Innere der Box: Eine alte, doch unwahrscheinlich gut erhaltene Taschenuhr lag in der Mitte des Gefäßes, die goldene, schwere Uhrenkette schlängelte sich wie eine Natter durch das gesamte Innenleben der Schachtel. Neben der Uhr lag eine kleine, doch wunderschöne Anstecknadel; Die Brosche aus zartem Gold hatte die Form einer Rose, deren Blätter und Blüten durchzogen waren von winzigen, blau strahlenden Saphiren. Sicher war das Schmuckstück ein Vermögen wert. Lestrade tippte darauf, dass es einst einer der beiden Ehefrauen Watsons gehört haben könnte. Die Uhr und die Brosche ruhten auf einem samtenen roten Tuch dessen Ränder mit goldfarbener Spitze verziert waren. Behutsam nahm Lestrade die Fundstücke heraus und platzierte sie auf den Laken des Bettes neben ihm. „Dieses rote Tuch,“ der Komissar murmelte in die staubige Stille „scheint um etwas gewickelt zu sein. Na dann, lass uns einmal nachsehen, was sich dahinter verbirgt.“ Mit diesen Worten hatte er das Tuch vorsichtig aus der Schachtel gelöst, um einen Blick auf das Verborgene riskieren zu können. „Papier?“ Ein wenig überrascht holte Lestrade den starken Bogen aus feinstem Briefpapier heraus und besah ihn genauer. „Fein“ war in diesem Falle wohl doch ein wenig untertrieben. Das Papier war von einer samtigen, doch reißfesten Konsistenz und wieß aufwändige Verschnörkelungen an den Rändern und spitzebesetzte Kanten vor. Sein Weiß leuchtete als wäre es frisch aus der Druckerei und auch die edle, dunkelgrüne Tinte schien kein bisschen verblasst. „ Jede dieser Seiten ist vollständig beschrieben.“ Mr. Lestrade begann wie ein kleiner Schuljunge zu jubeln, als er die feine, schöne Handschrift erkannte: „Das ist eindeutig von Dr. Watson! Es muss eine Art Testament sein! Eine Hinterlassenschaft!“ Aufgeregt faltete er den Bogen und steckte ihn zusammen mit der Schachtel, dem Tuch, der Uhr, der Brosche und der Bibel in seine Tasche, nahm sich seinen Spazierstock und hastete aus dem Haus. Er bemerkte nicht die schemenhaften Schatten, die ihn beobachteten. Lestrade beschloß, den Rückweg zu Fuß anzutreten und holte das gebundene Schreiben aus seiner Tasche hervor. Er begann zu lesen, achtete nicht auf seine Umwelt. „ AN DIE NACHWELT“ War in großen, geschwungenen Buchstaben als Überschrift der vielen Seiten zu erkennen. Der Autor begann unter der Überschrift unverzüglich mit seinem Text, oder besser gesagt, der „EINLEITUNG“. „Einleitung..? Ist das etwa kein Testament?“ Murmelte der 80-jährige stirnrunzelnd. Verwirrt las er weiter: „Ich möchte diesen Text, diese Schrift an die Nachwelt richten, an die Polizei, an die Gesellschaft. Ich möchte nicht, - wir möchten nicht – dass die Behörden unseren nun eingetretenen Tod für die Tat eines dritten halten, denn das ist er nicht. Denn, ich, John H. Watson ,und mein Komplize ,Sherlock Holmes ,setzten unseren Leben selbst ein Ende. Doch bevor Sie, als Leser, uns zu vorschnell verurteilen, möchte ich, dass Sie meine – unsere – Geschichte lesen und begreifen, was uns zu dieser Tat bewegte.“ Schockiert starrte Lestrade wärend des Laufens immer wieder auf den Satz „Denn, ich, John H. Watson, und mein Komplize ,Sherlock Holmes, setzten unseren Leben selbst ein Ende.“ Er wollte es nicht glauben, doch innerlich hatte er es länger schon geahnt. „Nur,“ fragte er sich selbst gedanklich, „was bewegt hoch angesehene Männer wie Holmes und Watson zu solch einer Tat?“ Kopfschüttelnd las er weiter. „ Zu diesem Schreiben sei gesagt, dass es Geheimnisse über mich und Holmes offenbaren wird, die die Gesellschaft, wie sie heute ist – und noch lange sein wird – erst erfahren darf, wenn wir nicht mehr sind. Dieser Text dient mir – dient uns – als Vermächtnis, als Testament und als Befreiung. Damit unsere Seelen in Frieden ruhen können, war es notwendig, alles zu offenbaren, vielleicht auch als Mahnung. Als Zeichen dafür, was geschehen kann. Und noch immer geschieht, in dieser Zeit der stillen Unterdrückung.“ Lestrade konnte gar nicht glauben was er dort lesen musste. Unterdrückung? Inwiefern waren solch großartige Personen wie Holmes und Watson unterdrückt worden? Gerade sie genossen höchsten Respekt und alle Freiheiten, die Nicht-adeligen englischen Bürgern je zustehen konnten! Inzwischen war der Pensionar daheim angelangt und entfachte sich ein warmes, großes Feuer im Kamin seines Arbeitszimmers, in dass er sich zurückgezogen hatte um diese Nacht lang dieser letzten Erzählung des großen Doktor Watson zu lauschen. Um sicher zu gehen nicht gestört zu werden, schloss Lestrade sich ein, setzte seine beste Lesebrille auf, entzündete ein helles Licht über seinem Schreibtisch und breitete die Schrift sorgfältig vor sich aus. „So, alter Junge,“ sprach Lestrade euphorisch, die schwieligen Hände reibend, „mal sehen, was du mir zu erzählen hast!“ Und das Feuer sprühte wie zur Antwort große Funken, die blutrot glühend lange, scharfe Schatten warfen. Nur das weiße, schimmernde Briefpapier schien unberührt von ihnen. Kapitel 1: Mysterium Mensch --------------------------- Kapitel 1. „Es gab in der Geschichte der Menschheit viele, unzählige Mysterien. Geheimnisse, unerklärliche Tatsachen. Dinge, die wir nicht verstehen konnten; oder wollten. Viele Wetterphänomene oder biologische Vorgänge konnten wir uns nicht erklären, sie wirkten rätselhaft und undurchdringlich. Dennoch; unser größtes, ungelöstes Mysterium sind wir selbst. Ist der „Mensch“. Jede einzelne Person ist einzigartig, ein Unikat. Doch hin und wieder geschieht es, dass eine Persönlichkeit derartig polarisiert, aneckt, aus der Masse heraussticht, dass man nicht umhin kommt; diesen Menschen als etwas „besonderes“ zu betrachten – als ein Rätsel, ein Mysterium. Und ich denke, nein, ich bin mir sicher; Sherlock Holmes war so eine Person. Sein ganzes Wesen, sein Geist und sein Charakter; ja, sogar sein reines Äußeres waren von solch eigentümlicher und charakteristischer Gestalt, dass Holmes jeden außenstehenden in seinen Bann zog, einschließlich mir. Holmes glich einer Marionette, die ihre Fäden selber zog. Einer kalten, übernatürlichen Puppe. Sein Leben war sein Stück, sein Schauspiel. Die Gesellschaft sein Publikum. Und die gesamte Welt seine Bühne. Er erschuf sich selbst immer wieder neu, erhob und erniedrigte sich, gebar und tötete sich in einem Atemzug. Manch einer hätte diese seine Selbstinszenierung für pure Provokation gehalten, für gekünsteltes Schauspiel. Doch dem war nicht so. Zumindest anfangs nicht. Zu Beginn unserer „Freundschaft“, wenn man es so nennen mag, schien Holmes tatsächlich nicht zu etwas anderem Imstande zu sein, als zu seiner kaltem, gefühllosen Art, zu seinem bitteren, grotesken Humor. An ihm schien nichts menschliches zu sein, nichts warmes. Denn auch wenn er lächelte erreichte das Lachen nie seine Augen. Diese blieben kalt und starr, wie die gläsernen Augen im Kopfe einer alten Porzelanpuppe. Doch wie genau sich dieser Umstand allmälich zu ändern begann, will ich nun erzählen. Ich beginne an einer Stelle, die allen „The Strand“-Lesern zugenüge bekannt sein wird; dem Zeitpunkt des ersten Aufeinandertreffens zwischen Holmes und mir. Allerdings verlief diese ganze Geschichte tatsächlich etwas anders als ich es in „The Strand“ beschrieben hatte: Der Afghanistan-Krieg hatte mich sehr mitgenommen. Denn obwohl mein Arm noch immer, drei Monate nach meiner abreise aus diesem Hexenkessel, steif war und mein Bein bei jedem Schritt mehr schmerzte, hatte ich mehr gegen meine seelischen, als gegen die körperlichen Wunden zu kämpfen. Der Krieg verfolgte mich bis in meine Träume, selbst am hellichten Tage schoßen mir unvermittelt grausamste Bilder durch den Kopf. Ich hatte Leid und Elend erwartet, als ich rekrutiert und verschifft wurde, doch angekommen in Afghanistan sah ich die Hölle auf Erden. Menschen, die sich gegenseitig geradezu abschlachteten. Frauen und Kinder, die nicht entkommen konnten und zwischen die Fronten gerieten, qualvoll verhungerten oder getötet wurden. Waisenkinder und Landstreicher die sich wie wilde Tiere am Fleisch der Leichen gütlich taten. Ich sah Kameraden sterben, Freunde. Und ich sah Blut. Ganze Meere dieses roten Elexiers. Die Patienten starben mir unter den Händen weg, ich konnte nichts tun. Und schließlich...diese Explosion. Ich war an diesem Morgen aus meinem Zelt gegangen, nur kurz, um mir die Beine zu vertreten. Der junge Strengton folgte mir. „Zu ihrer Sicherheit, Sir, Doktor Watson, Sir.“ Er war ein geradezu liebenswerter junger Soldat gewesen, gewitzt, fröhlich, den Kopf voller Luftschlösser. Doch er hing an mir wie an dem Vater, den er nie hatte. Also erlaubte ich ihm, mich zu begleiten. Er erzählte mir von seiner Liebsten, daheim. Wie sehr er sich darauf freute, sie wiederzusehen. Erzählte mir von seiner Mutter, die er abgöttisch liebte und beschützen wollte. „Denn seit mein Herr Vater nicht mehr ist,“ er blickte mich mit Feuer in den jungen Augen tapfer an, „hat Frau Mutter nur noch mich.“ . Ich lobte ihn, klopfte ihm aufmunternd auf die energischen Schultern. Dann geschah alles so schnell. Wilde, panische Schreie um uns herum, das schrillen dieser verfluchten Warnglocke, nie wieder werde ich diesen Ton vergessen können. Und dann das Feuer, der Rauch, die Druckwelle. Ich reagierte zu langsam. „Doktor Watson, geben sie Acht!“ Michael Strengton warf sich gegen mich,doch ehe ich halb unter ihm im Staub landete, spürte ich, wie sich mir etwas brennend heiß durch meine Schulter bohrte. Sekundenbruchteile später schlug mein Kopf gegen einen Stein am Boden und ich verlor das Bewusstsein. Nach einiger Zeit der totalen Finsternis hörte ich gedämpfte, aufgeregte Stimmen. „...noch am Leben!“ Dann spürte ich das unruhige getrappel eines Stiefelpaares auf dem Boden und unvermittelt drehte mich jemand auf den Rücken. Ich sah in das strenge, kantige Gesicht unseres Offiziers. „Hey!“ Rief er laut, „Watson lebt noch! Bringt eine Trage, schnell!“ Doch bevor mich irgendein Soldat auf die kleine Sanitärstrage bugsieren konnte, blickte ich mich panisch, doch vor Schmerz in Schulter und Bein geschüttelt ,um. „Wo ist Strengton?“ Aber anstatt mir zu antworten senkte der Offizier bloß seinen herrischen Kopf und nickte stumm in Richtung eines verkrümmten Körpers etwa drei Meter von mir entfernt. Fast hätte ich dieses verformte Knäuel nicht als Menschen erkannt. Strengtons Haut war von der Hitze der Expolsion geradezu verkohlt, seine Gliedmaßen waren gebrochen und verformt .Sein Fleisch war durchsiebt von hunderten kleinen Kugeln, Metallsplittern und dergleichen mehr. Wie durch ein Wunder hatte ich die gewaltige Explosion fast unverwundet überstanden. Doch Soldat Strengton war tot. Vollkommen gelähmt vor Grauen ließ ich mich wortlos abtransportieren. „Er hat dich gerettet“, dachte ich, im Lazarett liegend, „und du bist schuld dass er tot ist. Nur du allein.“ Diese Ansicht vertrat ich auch in London noch und es machte mir, wie bereits erwähnt, stark zu schaffen. Nur langsam gelang es mir, mich von dem Dämon der Angst und Verzweiflung zu befreien, nicht schreiend aus dem Schlaf zu fahren, nicht bei jeder Sirene panisch zusammen zu zucken. Zwar hatte ich nichts meiner Geselligkeit und meiner Manieren eingebüßt, doch schon nach kurzer Zeit des zusammensitzens mit anderen Menschen wurde mir alles zuviel, ich verließ die Runde und suchte Zuflucht in der kompromisslosen Einsamkeit, suhlte mich erneuert in meiner Seelenqual um den jungen Strengton. Doch eines Tages sah ich mich gedrängt dazu, wieder ein wenig mehr unter die Leute zu gehen. Mein verschwenderischer Lebensstil hatte sich gerächt; ich war nicht weit von der Verschuldung entfernt. Teure Mahlzeiten in teuren Restaurants, gediegene Einkäufe, private Zugabteile und Droschken; dies alles konnte ich mir nicht mehr Leisten, lebte ich doch von meiner mageren Kriegsrente. Also verließ ich mein bequemes Hotelzimmer und machte mich auf die Suche nach einer günstigen Wohnung. Ich weiß nicht ob es Zufall war, dass einjede Wohnung die ich besichtigte irgendeinen starken Mangel aufwies. Die erste war zu klein, die zweite zu teuer, die dritte hatte eine Ungezieferplage und in der vierten war meine junge Dogge „Caspar“ unerwünscht. Vielleicht aber war es auch Schicksal, dass ich mich an diesem Septembermorgen entmutigt in ein kleines Straßencafe setzte, um nach diesem Desaster von einem Wohnungsbeschau einen starken Tee zu trinken und über meine ungewisse Zukunft zu sinnieren. Nur mein Hund versuchte wohl, sein Herrchen aufzumuntern. Caspar , aufgeweckt und neugierig wie er war, konnte keine Minute still zu meinen Füßen liegen und tollte um meine Beine herum, schnüffelte am Boden und bellte vorbei eilende Passanten an. Während die meisten der Herren das Gekläffe gekonnt ignorieren, Damen pikiert die Nase rümpften und spielende Kinder Caspar allesamt sehr possierlich fanden, erschrak ein Mann über das Gebell meines Rüden solcherart, dass der Herr seinen heißen Kaffee fallen ließ und rückwärts über ein Stuhlbein stolperte. Er landete unelegant auf seinem allerwertesten und wurde sogleich freudig von Caspar in Beschlag genommen, der dem Manne das kantige Gesicht ableckte. „Caspar! Pfui! Wirst du wohl aufhören!“ Schnell stand ich auf und zog meinen pelzigen Gefährten von dem Herr weg, der einen schlichten, schwarzen Trenchcoat und frisch polierte, braune Lackschuhe trug. Nachdem ich Caspar mit seiner Leine an dem Tisch befestigt hatte, an dem ich aß, half ich dem Mann hoch und entschuldigte mich vielmals bei ihm. „Es tut mir wirklich furchtbar leid, mein Herr. Der Hund ist noch sehr jung und braucht noch eine Menge Erziehung. Soetwas wird nie wieder vorkommen, Sir.“ Leicht zerzaust, doch kein bisschen wütend klopfte sich mein Gegenüber den Dreck vom Mantel und lächelte mich freundlich an. „Aber, aber. Ich habe mich zwar erschrocken, aber es ist nichts weiter passiert. Alles bestens, soetwas kann vorkommen. Sie brauchen sich wirklich nicht- Grundgütiger!“ Ich zuckte ob diesem Ausruf der Verwunderung zusammen und zog die Stirn kraus. Plötzlich erhellte sich das Gesicht des Passanten merklich und er nahm energisch meine gesunde Hand um sie freudig-erregt zu schütteln. „Watson, habe ich Recht?“ Verdattert drückte ich zaghaft seine Hand und starrte ihn verwirrt an. „Ja, der bin ich. Aber wer sind Sie, wenn ich fragen darf? Kennen wir uns?“ „Mein Name ist Wilson,“ lachte der Brünette, „Peter Wilson. Ich habe mit ihnen studiert!“ Sofort dämmerte es mir und ich erwiderte kameradschaftlich seinen Händedruck. „Ja, natürlich! Wilson! Sie habe ich ja schon eine Ewigkeit nichtmehr gesehen! Wie geht es ihnen, alter Knabe?“ Inzwischen hatten wir uns an meinen Tisch gesetzt. Caspar lag nun still zu meinen Schuhen. Schnell ersetzte ich Peter seinen Kaffee und geriet mit ihm in ein nostalgisches Gespräch um unsere gemeinsame Studienzeit. Wilson war mein Zimmermitbewohner im Studentenheim gewesen. Er war ein heller Kopf, hatte aber seit jeher nichts als Flausen im Sinn gehabt. Doch schreckhaft war Peter schon immer gewesen. „Und wissen Sie noch, damals?“ Vor Lachen schlug der ehemalige Medizinstudent auf den wackligen Holztisch. „Professor Hudgens, der aufgeblasene Gockel? Der hat sich aber umgeschaut, als er aufeinmal mit grünen Haaren dastand. Eins-zwei Tropfen Lebensmittelfarbe in sein Shampoo und – Zack!“ „Sie gerissener Teufel!“ Mit Lachtränen in den Augen krümmte ich mich auf meinem Sitz und ignorierte die gezierten Blicke der Fußgänger gekonnt. „Oder Theodor Schmitt, dieser Deutsche!“ Ich konnte mich vor Lachen kaum beherrschen, während ich erzählte, „der so versessen auf Pünktlichkeit war!“ Erinnernd schlug Wilson sich auf die drahtigen Schenkel, „Ich erinnere mich! Er prahlte stets damit, dass er noch nie zu irgendeiner Vorlesung zu spät gekommen sei!“ Ich grinste Peter bewundernd an. „Bis Sie ihm sämtliche Uhren verstellten! Sogar die in seinem Zimmer! Er kam am nächsten Morgen zu jedem Termin mindestens eine Stunde zu spät, Sie hatten den armen Kerl komplett aus der Ruhe gebracht.“ Wir beide schwatzten und lachten sehr viel gemeinsam, hatten uns gegenseitig eine Menge zu erzählen. Er selbst war inzwischen Assistenzarzt in einem kleinen londoner Hospital, hatte Frau und drei gesunde Kinder. Nachdem er meinen weiteren Lebensverlauf seit Verlassen der Universität in Erfahrung gebracht hatte, senkte er ernst den Kopf und nickte stumm. „Das tut mir furchtbar leid, Watson. Auch das mit der Wohnungssuche, ich wünschte ich könnte Ihnen helfen.“ Nachdenklich seufzte ich, während ich Caspar hinter den Ohren kraulte. „Leider Gottes ist das Leben nicht mehr so unbeschwert wie zu unserer Studienzeit, was? Könnte man doch noch einmal Student sein!“ Peter nippte an seinem Kaffee und lächelte sein schiefes, verträumtes Lächeln, welches seine humoristische Ader verriet. Doch plötzlich verhärtete sich sein Blick und er bließ verärgert die Nüstern auf. „Ich für meinen Teil bin Froh, heute nicht zu studieren. Was da für Pack an der Universität sitzt, scheußlich!“ Ich blickte verwundert auf. „Denken Sie da an jemand bestimmtes?“ Dr. Wilson verschränkte die Arme und sah mich aufmerksam an. „Ich muss genau an einen Studenten denken – wenn er überhaupt Student ist!“ Neugierig geworden beugte ich mich ein wenig weiter über den Tisch. „Was genau macht er denn?“ „Weiß der Geier was er macht! Den ganzen Tag lungert er im Laboratorium herum und experimentiert an irgendetwas.“ Ich bestellte mir noch schnell einen Pfefferminztee, ehe ich mich wieder Peter zuwandte. „Aber das hört sich doch vorbildlich an, mein Freund.“ „Pah!“ Erbost schlug Peter Wilson mit der flachen Hand auf den kleinen Tisch, funkelte mich geradezu an. „Vorbildlich! Ein solcher Mensch kann nicht vorbildlich sein! Wenn Sie mich fragen ist dieser Mann gefährlich! Ein Kerl, der die Anschauungsleichen mit einem Spazierstock verdrischt, muss geisteskrank sein!“ Entsetzt weiteten sich meine Augen und ich musste unwillkürlich schlucken. „Sicher gibt es für solch eine Tat eine ganz plausible Erklärung.“ Peter verdrehte genervt die Augen. „Er sagte irgendetwas davon, dass er auf diesem Wege herausbekommen wolle, ob auch eine Leiche noch Prellungen erleiden kann, oder soetwas in der Art. Ernsthaft, Watson, dieser Bursche ist seltsam. Er ist wie eine Maschine! Diese kalte, gefühlslose Art. Noch nicht einmal habe ich ihn lächeln sehen. Und diese Auffassungsgabe ist geradezu unheimlich. Kein Wunder das niemand sich bereit erklärt, mit ihm in diese Wohnung zu ziehen!“ Nun hatte mein alter Freund mit seinen beiläufigen Bemerkungen mächtig Öl ins Feuer gegossen – ich musste diesen Studenten kennenlernen! „Könnten Sie mir diesen Mann nicht einmal vorstellen?“ Fragte ich scheinbar nebenher, während ich mit dem Löffel in meinem Tee rührte. Sichtlich abgeneigt hob Peter eine Braue, schüttelte dann unverständlich den Kopf. „ Ich habe zwar keine Ahnung warum Sie das wollen, aber bitte, wenn Sie darauf bestehen.“ Wir unterhielten uns noch ein paar wenige Minuten lang, ehe sich Caspar lautstark zu Wort meldete: Scheinbar war ihm das lange Liegen überdrüssig geworden und ich beschloß, eine Runde mit ihm spazieren zu gehen. Peter und ich verabredeten uns für den nächsten Morgen am selben Cafe und verabschiedeten uns. Sichtlich besser gelaunt als vor meinem Zusammenstoß mit Wilson schlenderte ich bis spät abends mit Caspar durch die Londoner Straßen und Parks. Und irgendwie freute ich mich unheimlich auf mein erstes Zusammentreffen mit dem Mann, der mein gesamtes Leben verändern sollte, wenn auch nicht nur zum Guten.“ Lestrade las den Text nicht, er sah ihn, als würde er einen Film betrachten. „Es ist ganz und gar merkwürdig..“ murmelte der Greis. Er, der er für gewöhnlich nur noch mit seiner besonders starken Lesebrille lesen konnte, erschrak geradezu, als er die Dunkelheit um sich herum bemerkte. Das Kaminfeuer war zu einer lohen Glut heruntergebrannt, die helle Öllampe an seinem Schreibtisch war erloschen. Doch das samtig-weiße Briefpapier zwischen seinen Händen schien kein Licht zu benötigen, um ihm zu offenbaren, was es verborgen hielt. „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, die Seiten umgeblättert zu haben.“ Lestrades Atem zitterte. Er konnte sich generell nicht daran erinnern, was er die letzten Stunden getan hatte. In seinen Erinnerungen sah er Watson, Wilson und Caspar, sah er ein Londoner Straßencafe. „Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu.“ Doch obwohl es ihm nicht geheuer war, richtete Lestrade den trüben Blick erneuert auf das samtige Papier. Augenblicklich begann die grüne, geschwungene Schrift zu leuchten, hob sich regelrecht von den Blättern ab. Doch das bekam Lestrade nicht mehr mit. Sein Blick war starr auf den Bogen Briefpapier in seinen Händen gerichtet, seine Augen glasig und halb geschloßen. Sein Blick galt nun nichtmehr seinem Arbeitszimmer, sondern einem London von vor über 35 Jahren, erlebt und gefühlt von John Hamish Watson. Kapitel 2: Schandhaft --------------------- Hallo^^ Erstmal wollte ich allen Reviewern für ihre Kommentare herzlichst danken x3 Doch ich will noch einmal um konstruktive Kritik bitten, tut euch keinen Zwang an.^^ ( Denn nur durch Kritik lernt man ja, bekanntlich!) Also gut, nun viel Spaß noch ^o^ ********************************************************************************* „Am nächsten Morgen war ich bereits in aller Herrgottsfrühe hellwach. Caspar, dem es eigentlich streng verboten war, war auf mein Bett gesprungen und hatte mir lange und genüsslich das verschlafene Gesicht abgeleckt. Nachdem ich den Welpen unter lauten Protesten von meiner Koje geschoben hatte, begab ich mich in das kleine, enge Badezimmer meines vorrübergehendem Hotelzimmers und überprüfte meine Wunde an der Schulter. Ich biss die Zähne zusammen und tupfte mit einem Leinentuch vorsichtig Alkohol auf die gerötete, da entzündete Stelle. „Vielleicht war die letzte Zeit doch zu anstrengend für mich.“ dachte ich zerknirscht, als ich die viel zu lange Heilungszeit registrierte. Behutsam zog ich mich an und nahm ein ausgiebiges Frühstück zu mir. Dann war es an der Zeit, sich langsam auf den Weg zu machen. Kurz überlegte ich, ob es nicht vielleicht besser wäre, Caspar mitzunehmen, doch schlußendlich erschien es mir als zu unpraktisch und ich ließ den kleinen grauen Rüden in der Wohnung zurück. Es war ein kühler, doch sonniger Morgen und ich traf auf meinem Wege zum vereinbartem Treffpunkt viele frühe Spaziergänger. Vom Weiten schon sah ich meinen alten Freund Peter Wilson und winkte ihm, soweit dies mein steifer Arm erlaubte, zu. Ich will mich kurz fassen; nach einigen Minuten munteren plauderns also stiegen wir zwei gemeinsam in eine kleine Droschke richtung Universität. Die Räumlichkeiten und Gänge kannte ich, auch nach all diesen Jahren, noch wie meine Westentasche. Zielsicher und mit einem seltsam flauen Gefühl in der Magengrube betrat ich nach Peter den Chemiesaal und war überrascht, ihn scheinbar vollkommen leer vorzufinden. „Wo-“ Ich konnte meine Frage nichtmal zuende stellen, da hörte ich das erste mal in meinem Leben diese kühle, schnarrende Stimme, die mich fortan durch mein restliches Leben begleiten sollte. „Hier bin ich. Ich weiß, das Sie mich suchen, wer auch immer Sie sind, Doktor.“ Der Student, oder was auch immer er denn sein mochte, war hinter der Tür hervorgetreten und stand mir nun direkt gegenüber. In diesem kurzen Moment, der kaum länger als 3 Sekunden gedauert haben mochte, schien es mir, als würde die Welt stillstehen. Der Mann, der mir gegenüberstand, schlug mich in solcherlei Maßen in seinen Bann, dass ich alles um mich herum vergaß. Er hatte staubgraue, kurze, gepflegte Haare, sehr männliche und doch geschmeidige Züge. Lange, gepflegte Koteletten zierten sein eckiges Gesicht, er war muskulös, hatte eine sehr blasse Hautfarbe und eine markante Adlernase. Er schien wohl ein paar wenige Jahre älter zu sein als ich es war. Doch das außergewöhnlichste an diesem außergewöhnlichem Mann waren zweifelsohne seine wachen, stechenden Augen. Ihre Farbe war ein kaltes, emotionsloses Eisgrau, sie glänzten vor Scharfsinn und verrieten den unglaublichen Geist ihres Besitzers. Glücklicherweise unterbrach der Kerl selbst unseren Blickkontakt bevor ich mich noch mehr in seinen Ovalen verlieren konnte. Völlig ohne eine Miene zu verziehen streckte er mir seine mehr als große, blasse Hand entgegen. „Sherlock Holmes. Sehr erfreut.“ Ich schrak auf und griff wohl ein wenig zu überschwänglich seine Hand, denn Peter hinter mir schnaubte verächtlich. „John Watson, ebenfalls sehr erfreut.“ Holmes hob ein wenig zu geringfügig für meinen Geschmack eine Braue und musterte mich unverhohlen von Oben bis Unten. „Nun, Dr. John Hamish Watson , ich bin ein vielbeschäftigter Mann, ich will also schnell zum Punkt kommen – was genau wollen Sie von mir?“ Erstaunt riss ich die Augen auf. „Woher zum Teufel -“ Er schenkte mir einen strengen, ungeduldigen Blick. „Ich bin gekommen weil ich hörte Sie suchen einen Mitbewohner.“ Hatte zuvor noch ein leichtes, angedeutetes Lächeln seine feinen Mundwinkel umspielt, so fiel nun jede Freundlichkeit von Holmes ab. Fast schon harsch ließ er meine Hand los, drehte mir den Rücken zu und experimentierte weiter, ohne mich auch nur noch ein einziges mal anzusehen. Dennoch sprach er mit mir. „Sehen Sie, Doktor – Ich will nicht unhöflich erscheinen - doch ich denke, ein Mann meines Intellektes bedürfte eines Mitbewohners, der ja bekanntermaßen genauso Gefährte wie Freund sein kann, der, nunja, ihm in dieser Hinsicht ebenbürdig ist. Alles andere wäre reiner Verschleiß meiner gut geschulten Sinne. Sie sehen also – ich habe keinerlei Interesse.“ Damit schien für ihn das Gespräch beendet zu sein. Sprachlos konnte ich nur dastehen und den Mann, den ich noch vor zwei Minuten als absolut faszinierend empfunden hatte, mit einer Mischung aus Wut und Frustration anzustarren. Wie konnte dieser arrogante Sonderling es wagen......?! Nun schien auch Peters Geduld am Ende zu sein, ein wenig unsanft packte er mich an der Schulter und schob mich energisch richtung Tür. Dabei murmelte mein Kollege ununterbrochen halblaute, wüste Beschimpfungen, wie ich sie nie aus seinem Munde vernommen hatte. Vor der Universität und einige peinliche Schweigeminuten später rang ich mich dazu durch, meiner Entrüstung freien Lauf zu lassen. In meinem Selbstbild erschüttert sah ich Peter verzweifelt an: „Wollte er damit etwa sagen, ich sei ihm ZU DUMM?“ Zornesrot im Gesicht knirschte mein Freund mit den Zähnen. „Es scheint so.“ Sprach er äußerst gepresst. Doch länger schien sich Wilson nicht beherrschen zu können, denn als wir in einer Kutsche richtung Stadtmitte saßen, brach alles aus ihm heraus: „Pah! Wie kann er es wagen, dieser schmierige, kleine Fatzke! Und? Und? John, ich habe dir gesagt er ist ein scheußlicher Mensch! Ein arroganter Schnösel, gar ein Verrückter! Hast du den Blick in seinen Augen gesehen? Natürlich hast du, er hat dich ja auch lange genug angestarrt..!“ Und während mein Begleiter sich immer weiter in seine wüsten Beschimpfungen hineinsteigerte, überzog sich mein ganzer Körper mit einer seltsamen Gänsehaut, als ich mich an Holmes Blick zurückerinnerte. Und in der Tat schien es mir, ich müsse diesen Mann wiedersehen. Ja, etwas in mir drängte geradezu danach, Sherlock Holmes erneuert zu sehen, obwohl dieser mich so schandhaft behandelt hatte.“ Kapitel 3: Register ------------------- „ Die nächsten Wochen kam ich bei Dr. Wilson und seiner Familie unter. Um Peter und seiner liebreizenden Frau Margret meinen Dank zu zollen, vertrat ich Mr. Wilson von Zeit zu Zeit im Krankenhaus. Mit seinem Vorgesetztem ging dies in Ordnung, schließlich hatte ich als Militärsarzt eine noch höhere Stellung inne als mein guter Freund. Die Arbeit lenkte mich ab und half mir gleichzeitig, mich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Es tat gut, den Menschen endlich wieder helfen zu können. In Afghanistan hatte meine Arbeit größtenteils daraus bestanden, den Todeszeitpunkt herauszuzögern oder in einem Kampf gegen die Zeit wieder und wieder zu verlieren. Zwar schmerzte meine Schulter noch immer und mein linkes Bein würde ich wohl nie mehr wieder so bewegen können wie früher, doch abgesehen davon ging es mir in diesen Wochen so gut wie noch nie. Ich war zu Gast bei einer herzlichen, netten Familie, hatte gute, ehrliche Arbeit und auch meine finanzielle Situation wurde stetig besser. Und dennoch fühlte ich mich, als würde etwas fehlen. Da war eine undefinierbare Leere in meinem Herzen, die augenscheinlich nichts zu füllen vermochte. Eines Tages aber, betrat ein Patient meine Sprechstunde, den ich unter hunderten, gar tausenden sofort herauserkannt hätte, obgleich er mir erst einmal zuvor begegnet war. „Sie haben sich sehr verändert, Doktor Watson. Es ist geradezu offensichtlich.“ War das erste, was Sherlock Holmes zu mir sprach, während er geschmeidig durch den Raum schritt und die Tür hinter sich elegant ins Schloss fallen ließ. „So, denken Sie,Mr. Holmes?“ Ohne mir die Hand zu geben ließ er sich fast ein bisschen zu gelassen in den Behandlungsstuhl gleiten, hob eine seiner charakteristischen Brauen und zündete sich dreist eine Zigarette an. „Also erinnern Sie sich an mich?“ Spöttisch musterte Sherlock mich. Langsam wurde ich wütend. „Natürlich tue ich das, Sir. Und nun würde ich Sie gerne bitten, ihre Zigarette auszumachen. Nicht jeder Patient möchte ihren Tabak hier riechen.“ Zwar drückte der fahlgesichtige Mann seine Zigarette aus, doch sein genervter Blick sprach Bände und ließ mich vor Genugtuung lächeln. Diesmal sollte er nicht die Chance bekommen mich bloßzustellen, Oh nein, diesmal nicht. „Nun gut“, ich wischte mir mein Lächeln aus dem Gesicht und setzte meinen beruflich-wissenschaftlichen Blick auf, musterte Holmes fachmännisch. „Was genau quält uns denn?“ Sherlocks Mundwinkel zuckten leicht ob dieser Art mit ihm zu sprechen, dennoch wollte er gerade Ansetzen, als ich ihm gekonnt das Wort abschnitt. „ rauhe, trockene Haut und früh ergrautes Haar sowie brüchige Fingernägel sind klare Anzeichen von Unterernährung. Sie sollten mehr auf sich acht geben.“ Erstaunt weiteten sich die eisgrauen Augen meines Patienten und scheinbar sehr interessiert lehnte er sich weiter zu mir vor, stützte dabei sein markantes Kinn auf seine rechte Hand. „So, so. Interessante Schlußfolgerung.Sie scheinen nun doch nicht ganz so beschränkt zu sein, wie ich annahm.“ Ich ließ mich durch seine bodenlose Dreistigkeit nicht beirren, griff nach meinem Notizblock und sah mein Gegenüber streng an. „Ich wurde schon oft genug unterschätzt. Und nun, was kann ich für Sie tun? Sie müssen wissen, vor dieser Tür warten noch andere Patienten und ich würde heute gerne etwas eher gehen. Also?“ „Warum auf einmal so streng, Doktor? Man möchte meinen, ich habe Sie gekränkt. Wenn das so ist, möchte ich mich entschuldigen.“ Er sprach sehr aufrichtig, doch sein hämisches Lächeln verriet ihn. „Nun, Dr. Watson“, Holmes streckte mir überraschend offen seine linke Hand entgegen. „Was sagen Sie hierzu? Leider bin ich nicht wirklich in der Lage, mein Leiden selbst zu diagnostizieren, Ich bitte Sie also.“ Behutsam nahm ich Sherlocks mehr als große Hand in die meine und sofort überkam mich ein seltsames, recht unangenehmes Gefühl, als ich seine rauhe, trockene Haut fühlte. Holmes war wirklich ausserordentlich blass, wesegen die starke Rötung seines Handgelenkes jedem sofort ins Auge stechen musste. Leicht, fast unmerklich zuckte mein seltsamer Patient zusammen als ich meine Finger fachmännisch über die scheinbare Entzündung gleiten ließ. Sacht bewegte ich das Gelenk und vernahm fast augenblicklich das charakteristische Knirschen, welches meine diagnostischen Gedanken komplettierte. „ Sie sind Linkshänder?“ Fragte Ich Holmes ohne ihn anzusehen. „Geradezu großartig! Ja, es stimmt in der Tat, ich bin Linkshänder. Wer hätte gedacht, dass Sie in der Lage dazu sind, soetwas offensichtliches zu erkennen?“ Er schien hellauf Begeistert über meine simple Frage zu sein und langsam begann ich, mir Sorgen um seine Psyche zu machen. „Offensichtliche Dinge werden erfahrungsgemäß sehr schnell erkannt, Holmes. Sie schreiben sehr viel, nehme ich an?“ Holmes´ kaltes, trockenes Lacheln hallte kurz durch den kleinen, mehr oder minder sterilen Raum. „Ja und Nein. Ja, ich schreibe in der Tat sehr viel. So wie es aussieht, mehr als mir gut tut, nicht wahr Doktor? Und Nein, gerade das Offensichtliche ist es, was die Menschen meist vollkommen übersehen, das ist es , was meine große Erfahrung auf diesem Gebiete mir sagt.“ Der stechende, durchdringende Blick des Mannes fesselte mich von neuem. Lang und intensiv sahen wir uns in die Augen, während ich seine große, blasse Hand noch immer festhielt. Doch bevor ich mich vollkommen in diesen tiefen, mysteriösen Seen aus Feuer und Eis verlieren konnte, riß ich mich los, räusperte mich kurz und fuhr mit meiner Diagnose fort. „Mr. Holmes, ich fürchte, Sie werden die nächste Zeit nicht schreiben können. Was hier vorliegt ist eine weit fortgeschrittene Sehnenscheidenentzündung. Ich muss ihnen einen Verband anlegen, Sie dürfen ihre Hand nun eine Zeit lang nicht belasten.“ Missbilligend zischte Holmes und zog die Stirn kraus. „Es tut mir ja leid, Sie enttäuschen zu müssen, Doktor. Doch meine Berufung erlaubt es mir nicht, meine viel gebrauchte Hand nicht zu nutzen. Außerdem muss ich bis Morgen noch einen langen Aufsatz für eine renommierte Zeitung schreiben. Sie sehen also, ich bin nicht in der Lage, ihren Aufforderungen nachzugehen.“ Ich war seit jeher ein sehr einfühlsamer, verständnissvoller Mensch.Doch wenn es etwas gab, das mich regelrecht zur Weißglut treiben konnte, dann war es die Nichtachtung meiner ärztlichen Anweisungen. „Oh, doch, Holmes! Sie werden! Und wenn ich selbst dafür sorgen muss!“ Streng blaffte ich meinen Patienten an während ich seine verletzte Hand dick bandagierte. Selbiger lächelte mich überheblich an und blinzelte ungläubig. „Der Herr hat also ein Machtwort gesprochen. Und wie gedenken Sie mich aufzuhalten?“ Ich schnaubte verärgert und stemmte die Hände gebieterisch in die Hüfte. „Notfalls hindere ich Sie am schreiben, indem ich es selbst mache! Ich kann nicht verantworten, dass Sie diese Hand in den nächsten drei bis vier Wochen wieder beanspruchen. Die Folgen wären für Sie mehr als unschön.“ Unerwartet erhob sich mein Patient und schritt in seinem gewohnt eleganten Gang zur Tür, drehte sich um und grinste mich schelmisch an. „Ich nehme Sie beim Wort, Doktor! Heute Abend, 22 Uhr, Bakerstreet 221b. Wenn Sie nicht kommen, muss ich meine Hand wohl oder übel belasten – und das wollen wir doch vermeiden, nicht wahr..?“ Und noch bevor ich überhaupt den Mund aufbekam hatte der seltsame Mann die Tür hinter sich zugezogen. Erstaunt und dennoch auf gewisse Art und Weise belustigt behandelte ich meine wenigen restlichen Patienten und machte mich gegen 17 Uhr auf den Weg zur der Wohnung meines Freundes Peter Wilson, der den Tag dank meiner Hilfe sehr entspannt bei seiner Familie verbringen konnte. Gut gelaunt, nach dem Parfüm seiner Frau riechend und mit seiner jüngsten Tochter Elisabeth auf dem Arm kam mein Wirt auf mich zu. „Ah, schon wieder zurück ,Watson? Na, wie läuft das Geschäft? Simuliert der alte McFadden immer noch?“ Doch Peters Begrüßung wurde unterbrochen von der glockenhellen Stimme des kleinen Engels in seinen Armen. „Onkel John! Onkel John! Spielst du jetzt mit mir, du hast es mir versprochen?“ Verzückt nahm ich die kleine Elli in meine Arme, hatte sie doch fast augenblicklich ihre kleinen, zarten Fingerchen nach mir ausgestreckt, kaum das sie mich sah. Anstatt meinem Freund zu antworten, ließ ich mich also von Elisabeth dazu kommandieren, mit ihr und ihrer Stoffpuppe Momo Kuchen zu essen. Peter lächelte mich herzlich an, als ich mich zu seinen Kindern setzte, als sei es dass selbstverständlichste der Welt. Margret kam währenddessen mit einem Tablett Kekse und heißem Pfefferminztee in die warme, hell erleuchtete Stube und begrüßte mich herzlichst. „Oh, Dr. Watson, Sie müssen das wirklich nicht tun. Kinder, spielt doch lieber alleine, lasst Onkel John wenigstens Heute einmal zur Ruhe kommen.“ „Aber, aber, Margret. Ich tu das doch gern. Du und Peter, ihr habt mich so herzlichst aufgenommen, ich wüßte nicht, wie ich euch das jemals danken sollte. Dies ist das Mindeste, was ich tun kann und ich tu es recht gerne.“ Das stimmte in der Tat. Ich war schon immer versessen auf Kinder gewesen und wünschte mir nichts sehnlicher, als eines Tages eigene zu besitzen. Meine Jungdogge Caspar durfte ich wie selbstverständlich mit in die Wohnung der Wilsons nehmen und der ausgesprochen friedfertige Hund war alsbald der Liebling der Kinder geworden. Gerade als ich von Elisabeth das zweite Stück ihres „Kuchens“ auf meinen Holzteller geschaufelt bekam, bemerkte mich mein treuer Begleiter und stürtzte freudig auf mich zu. Als es bald schon nahe 21 Uhr ging, schrak ich regelrecht auf: Ich hatte meine Verabredung in der Bakerstreet beinahe vergessen! „Peter,“ fahrig hetzte ich zum Kleiderständer im Flur und warf mir meinen Mantel über, setzte mir meinen alten Hut auf und drehte mich noch einmal zu meinem Freund um. „ich muss nocheinmal fort. Ich weiß nicht, wie spät es wird, erwartet mich also nicht vor Früh zurück.“ Irritiert musterte mich Wilson, sich am sehnigen Kinn kratzend. „Wo willst du hin, noch zu dieser Uhrzeit?“ „In die Bakerstreet. Ich erkläre es dir wenn ich zurück bin, das kostet mich jetzt zuviel Zeit. Bis Morgen Früh!“ Und noch bevor Peter auch nur im Ansatz protestieren konnte, war ich auch schon aus der Tür. Die Nacht war zu meinem Erstaunen bitterkalt und um diese Uhrzeit in den Wohngebieten noch einen seriösen Kutscher zu finden gestaltete sich als schwieriges Unterfangen. Zumindest normalerweise. Denn diese Nacht schien irgendjemand es recht gut mit mir zu meinen, hielt doch fast direkt vor meiner frierenden Nase eine schöne, teuer aussehende Kutsche. „Zwar keine geschloßene Droschke“, dachte ich ,schon beim Gedanken an den beißenden Fahrtwind zitternd, „aber besser als nichts!“ Der Kutscher, ein großer, sehr alter Mann mit krummen Rücken und starken Runzeln im Gesicht entließ seinen Fahrgast, einen sehr dicken, wichtig aussehenden Mann mit schwarzen Haaren, und musterte mich eingehend. „Wohin soll denn die Reise gehen, mein Herr?“ „Ähm“ frierend trat ich näher an den Greis heran. Seine scharfen, wachen Augen kamen mir solcherart vertrauenswürdig vor, dass ich beschloß, bei ihm zu fahren. „Ich würde gerne in die Bakerstreet, Hausnummer 221b.“ Absolut freundlich lächelte der Alte und wies mich mit einer Hand an, ich solle in die Kutsche steigen. Die ersten Minuten der langen Fahrt vergingen geradezu ereignisslos, bis der alte Kutscher unvermittelt begann zu sprechen. „Und was genau wollen Sie in der Bakerstreet, wenn ich fragen dürfte? Wenn es wegen der letzten freien Wohnung ist – da werde ich Sie enttäuschen müssen, die wurde schon vor zwei Wochen – oder auch etwas mehr, verzeihen Sie, das Alter - von einem komischen Kauz besetzt, habe ich mir von der Haushälterin sagen lassen!“ Erstaunt musste ich lachen. „Nein, nein, ich besuche einen Patienten von mir.“ „Oh“, der alte Mann lächelte schief, „Sie müssen ein sehr umsorgender Arzt sein, der seinen Patienten um diese Uhrzeit noch Hausbesuche abstattet.“ Diese schelmische, recht zweideutige Art zu sprechen trieb mir die buchstäbliche Schamesröte in die Wangen. Verdutzt konnte ich nur stammeln: „S-So ist es nicht! E-Ein Patient von mir hat eine kranke Hand, die er unmöglich belasten darf! Ich gehe nur zu ihm um nach dem Rechten zu sehen, n-nichts weiter!“ Leicht verärgert schwieg ich mich über den Rest der Fahrt aus, den Alten schien jedoch nichts so leicht aus der Ruhe zu bringen. Mit freundlicher Stimme lud er mich in vollkommener Dunkelheit vor einer schönen Häuserreihe ab und schickte sich gerade, weiter zu fahren, als mir etwas wesentliches einfiel: „Halt! So warten Sie doch!“ Rief ich dem Kutscher hinterher, „was ist mit der Bezahlung?!“ Der Senior mit dem weißen Haar lächelte mich keck an und winkte lässig ab. „Für Sie wurde bereits gezahlt. Ein gewisser Holmes hat die Rechnung übernommen, bedanken Sie sich bei dem.“ Und fort war er. Recht verdattert und mit vor Kälte glühenden Wangen stand ich nun dort in der Dunkelheit und versuchte auf geringe Entfernung die Hausnummernschilder an den schönen Fassaden erkennen zu können. „220a, 220b, 221a....oh! Da muss es sein!“ Und schon stand ich vor dem Ziel meiner kleinen Reise. Dieses Haus strahle, obwohl ich andere Häuser dieses Straßensaumes als eindeutig schöner empfunden hatte, eine unglaubliche Aura aus. Ich wußte nicht wieso, doch dieses nicht gerade schlicht gehaltene, alte Gemäuer übte einen solchen Reiz auf mich aus, als hätte es nie ein schöneres gegeben. Plötzlich, ich war gerade drauf und dran, den kleinen Vorgarten zu betreten, entflammte im obersten Stockwerk; es waren zwei an der Zahl; ein dämmeriges, gelbes Licht, welches das Fenster und den Raum dahinter erstrahlen ließ und lange, scharfe Schatten über den Pflastersteinboden der Straße warf. Am Fenster konnte ich eine Sillouette ausmachen, deren Blick augenscheinlich genau auf mich geheftet war. Die Schattenfigur war groß und sehr gut gebaut, mit breiten Schultern und markanten Zügen. Der Schattenmann öffnete das große, blitzblank geputzte Fenster und lehnte sich heraus. „Hey, Watson! Was stehen Sie dort herum? Ich habe nicht ewig Zeit, wenn Sie verstehen. Kommen Sie rein und gehen Sie die Treppe hoch – aber bitte recht leise, die Haushälterin schläft.“ Und ohne das ich auch nur eine Silbe erwidern konnte, schloß Holmes das Fenster wieder und entfernte sich weiter in den Raum herein. Leise etwas über „Unhöflichkeit“ und „Abgefertigt sein“ meckernd öffnete ich die schwere, dunkle Eingangstür und fand mich abermals in kompletter Dunkelheit wieder. Das Licht einer Lampe flutete die kleine, enge Wendeltreppe mir gegenüber. Behutsam stieg ich die wenigen Stufen hinauf und sparte mir das Klopfen, öffnete ohne Umschweife die leichte Holztür mit einem Glaseinsatz in deren Mitte. Der Raum den ich betrat hätte etwas sehr wohnliches, familiäres haben können, mit der gemächlich tickenden Wanduhr und diesem großen Kamin, doch seine Kargheit und das Fehlen von persönlichen Stücken machte ihn ungemein kalt und trostlos. Einzig ein sehr großer, klobiger Schreibtisch stand in der hinteren linken Ecke, genau neben einer weiteren Tür. Ein scheinbar sehr neuer, nobel aussehender Ledersessel stand dort, wohl anstelle eines Schreibtischstuhles, und ein sehr unbequem anmutender Bastsessel mit verschlissener Polsterung leistete ihm Gesellschaft. Bis auf die zwei Sessel, dem Schreibtisch und einem sehr teuer aussehendem, doch in meinen Augen eher geschmacklosen Teppich war der Raum gänzlich leer. Und im selben Augenblick, wie ich die Türe hinter mir schloß, drehte sich der Mann zu mir um, der dieser Räumlichkeit wohl seine unwiderstehliche Aura aufgedrückt hatte. Holmes stand erhaben und sein gewohnt schiefes Lächeln lächelnd da, stützte sich schwer auf seinen großen Schreibtisch. Das Licht des Kamines und der warm leuchtenden Öllampe über unseren Köpfen warfen delikate Schatten auf seine fast unwirkliche Gestalt. Er war, im Gegensatz zu unseren ersten beiden Treffen, perfekt rasiert, seine Kleidung ohne eine Falte, sein Hemd von blütenreiner Weißheit. Holmes´ makellose, schneeweiße Zähne blitzten mich frech an, seine grauen Augen funkelten wie eisiges Feuer. In diesem Moment kam ich mir vor wie der Eindringling in ein fremdes, gigantisches Reich, der bezwungen und erschüttert vor dem vor Schönheit und Macht strahlendem König im Staub kriecht. Ich war von meinem Gegenüber das erste mal solcherart überwältigt, das ich, ohne den Blickkontankt abzubrechen, nervös und unsicher meine Hände aneinanderrieb. „Schön, Sie sind nun da.“ Ich nickte eingeschüchtert. „Oh, warum auf einmal so unterwürfig, mein Freund? Ich werde Sie schon nicht fressen. Kommen Sie, setzen Sie sich.“ Erleichtert lachte ich und schollt mich innerlich selbst für meine Torheit. Kaum hatte ich mich in den Ledersessel fallen lassen, den Holmes mir großzügig anbot, fiel mir allerdings etwas auf: „Moment mal! Wo ist Ihr Verband?!“ Leicht genervt schnaubte Holmes und blies die Nüstern auf. „Der war nur hinderlich. Ein Ding mehr, das es zu beseitigen gab, nicht mehr und nicht weniger. Vollkommen überflüßig.“ Ich versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren und rieb stark genervt meine Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger. „Also schön..“ ich seufzte, „was soll ich für Sie schreiben? Einen Bericht, wenn ich mich recht entsinne, nicht wahr? Meine leichteste Übung.“ „Beim Militär gab es für Sie als Militärsarzt sicher genug Schreibarbeit, was?“ „Oh, hören Sie mir auf damit! Ich kann keine Registerkarten mehr sehen, einfach furchtbar!“ Während ich mit dieser Aussage ursprünglich die angespannte Situation aufzulockern versuchte, sah mich mein Gegenüber durchdringend an und zog emotionslos an der Zigarre, die er sich kurz zuvor entzündet hatte. „So? Nun, ich glaube Ihnen gerne, dass es für Sie schönere Beschäftigungen gab als die Totenregister zu führen, nicht wahr?“ Ich musste hart schlucken. Ich wollte nicht daran erinnert werden, wie es für mich war, kalt und unpersönlich die toten Soldaten in kleine Karteikärtchen einzutragen. Durch mich waren sie zu Massenware verkommen, zu stummen, nichtssagenden Zahlen, zu leblosen Objekten, deren Angehörige durch allgemein formulierte, starre Briefe von ihrem Ableben informiert wurden. All diese Soldaten, all die Kameraden und Freunde. Auch Strengton. Die nächsten Minuten saßen Holmes und ich uns vollkommen still gegenüber. Er musterte mich eingehend und ich versuchte unangenehme Erinnerungen zu verdrängen. Bis Holmes mir urplötzlich einen Notizblock und einen sehr schönen, grünen Füller zuwarf, aufstand, zum Fenster schritt und mit tonloser Stimme zu mir zu sprechen begann. „Hören Sie, Watson... Ich weiß, ihre Zeit beim Militär nimmt Sie schwer mit, allein ihre Körperlichen Narben sind nur schwer zu übersehen, dennoch - reißen Sie sich bitte zusammen, schließlich sind Sie hier um mir zu assistieren.“ Obwohl Holmes unglaublich distanziert und kalt wirkte, seine Tonart stets zwischen anteilnahmslos und giftig pendelte und seine Wortwahl jeder Höflichkeit spottete, schaffte dieser Mann es, mich aufzumuntern. Mich auf andere Gedanken zu bringen, mich aus meiner Vergangenheit zu reißen. Ich nickte. Ich lächelte. Und während dieser rätselhafte Mann mir seinen Aufsatz diktierte, war ich mir bereits im Klaren darüber, das ich mich so schnell nicht von ihm lossagen konnte.“ Kapitel 4: Gelungener Abschluß ------------------------------ Lestrade rieb sich die alten, müden Augen, zog die Vorhänge zurück und sah aus dem Fenster: „Grundgütiger!“ Entsetzt starrte der Greis zuerst aus dem Fenster in gleißendes Sonnenlicht um sich dann ungläubig zur großen Wanduhr zu drehen, die unmissverständlich anzeigte, dass es weit nach acht Uhr frühs war. Sehr verwirrt ließ sich der ehemalige Ermittler tiefer in seinen Sessel sinken, stützte seinen schweren Kopf in seine faltigen Hände und atmete tief und zittrig ein. „Das..das kann nicht sein. I-Ich habe wirklich eine mehr als blühende Fantasie...!“ Doch er konnte seinen Worten nicht recht Glauben schenken. Er war dort gewesen, in Holmes Wohnung, in der Bakerstreet! Er hatte Watson dort sitzen sehen, er hatte Holmes reden hören. Er hatte nichts mehr von seiner eigentlichen Umgebung mitbekommen, nicht das sämtliche Lichter ausgegangen waren, noch das bereits hellichter Tag war. „Das ist absolut unmöglich. Das ganze ist mehr als 30 Jahre her, ich kann nicht dort gewesen sein! Watson hatte mir bestimmt einmal davon erzählt, von diesem Aufsatz über Religion von Holmes, gewiss hatte er.“ Nein. Hatte er nicht. Und das wußte Lestrade. Und dennoch konnte der Polizist ohne Mühe den genauen Wortlaut des Aufsatzes wiedergeben, den Holmes langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, diktiert hatte. Entsetzt starrte Lestrade auf die Seite des Briefbogens, die er „gelesen“ hatte. Sie endete mit dem Satz „Und während dieser rätselhafte Mann mir seinen Aufsatz diktierte, war ich mir bereits im Klaren darüber, das ich mich so schnell nicht von ihm lossagen konnte.“ Panisch warf der alte Mann den Stapel zurück auf seinen Schreibtisch,öffnete seine Tür und stürtzte die Treppe hinunter in die Küche. Fahrig brühte er sich einen besonders starken Kaffee auf. Langsam beruhigte er sich und versuchte, die Situation zu überdenken. „Gehen wir die Sache nocheinmal durch: Ich untersuche die Bakerstreet erneuert, finde Dinge, die dort vor 20 Jahren anscheinend noch nicht waren – unter anderem diese Papiere. Als nächstes laufe ich nachhause, setze mich hin und beginne zu lesen. Der Anfang beginnt mit..“ Hier stockte Lestrade seine laute Überlegung. Ja, womit hatte der Text begonnen? Er wußte es nicht. Er war nicht in der Lage sich an irgendeinen Text nach der Einleitung zu erinnern. Watson sah er, Watson im Krieg, die Explosion, Watsons zusammentreffen mit Wilson im Cafe, Caspar.... „Als hätte ich daneben gestanden.“ Plötzlich betrat Lestrades Frau die Küche. „Schatz, du bist ja wieder wach. Ging es dir nicht gut? So fest geschlafen hast du schon lange nicht mehr!“ Die kleine Frau trat an ihren Ehemann heran und strich ihm zärtlich durch die noch vorhandenen, weißen Haare. „W-Wovon redest du, Isabelle?“ Sie lächelte mütterlich und sah Lestrade besorgt an. „Na, du wirst ja wohl noch wissen wie du in dein Arbeitszimmer gegangen bist? Kaum eine Stunde später bin ich rein gekommen um nach dir zu sehen – du hast tief und fest geschlafen, ich konnte dich gar nicht mehr wecken! Nagut, Spatz, ich bin erst einmal einkaufen. Ruh dich besser noch ein bisschen aus, du bist ganz schön blass.“ Kaum zwei Minuten später saß Lestrade in seinem Arbeitszimmer, betrachtete Fassungslos die Papiere vor ihm. „Kein Mensch würde mir so eine Geschichte glauben! Man wird mich für verrückt erklären“ Doch auf einmal lächelte der Greis schmerzlich. „Dennoch...ich bin dir das schuldig, Watson. Ich will sie dennoch weiter hören, deine Erzählung, die Lösung dieses Falles.“ Und während Lestrade erneuert in eine seltsame Ohnmacht verfiel und seinen Kopf auf dem Schreibtisch bettete, fuhr ein zarter, kühler Wind wie eine Danksagung durch den Raum, und durch die geschloßenen Fenster leuchtete ein gleißendes Licht. „ Ich fuhr mit meiner gesunden Hand über die Stirn. „War das der letzte Satz?“ fragte ich Holmes erschöpft, der putzmunter und in bester Laune am Fenster stand. „Ja, in der Tat, das war er. Ein gelungener Abschluß, meinen Sie nicht?“ Holmes zwinkerte mir ungewohnt freundlich zu. „Äh, ja, nun, ich denke schon. Aber ich muss zugeben, allzuviel Ahnung habe ich von religiösen Themen nicht, Sir.“ Holmes seufzte und drehte sich schnell zu mir um, ließ sich in eleganter Läßigkeit auf seinem Schreibtisch nieder und sah mich unergründlich an. „Meinen Sie nicht, diese Nacht bräuchte einen ebenso gelungenen Abschluß wie meine Schrift? Was halten Sie davon wenn wir erst einmal etwas essen gehen? Als kleine Entschädigung?“ Ich war verlegen ob dieser Einladung und kratzte mich nervös am Hinterkopf. „Nun ja, eigentlich-“ Doch wieder einmal schnitt mir Holmes das Wort ab. „Das, Doktor, war eine Aufforderung, keine Frage.“ Und ohne auf meine leisen Proteste zu reagieren packte Holmes mich an meinem gesunden Arm, hebelte mich aus dem Sessel und schob mich mit sanfter Gewalt durch die Tür. „Ich mische ihnen schon nichts ins Essen. Aber wußten Sie, das Zyankali 30 mal effektiver zum töten ist als Arsen? Da es nicht so lange zum Wirken braucht. Wie gerne würde ich den Unterschied einmal sehen!“ Und während Holmes mich in eine Droschke bugsierte, mich ständig anlächelte und gut gelaunt vor sich hin pfiff, betete ich dafür, dass er während des Essens nicht auf dumme Gedanken kommen möge.“ Kapitel 5: Abschiede -------------------- „Das Restaurant in das Holmes mich ausführte war ein etwas gehobeneres, mit edlem Ambiente und sehr gutem Service. Kaum hatte meine Begleitung den Empfangsraum betreten, kam ein alter Kellner regelrecht auf ihn zugestürzt. „Oh, Mr. Holmes! Schön Sie wieder mal hier bei uns zu sehen! Sind Sie wieder in Begleitung von..oh, nein, ich sehe gerade, es ist jemand anderes. Nun denn, soll ich Sie zu ihrem Stammtisch führen, Sir?“ Holmes gab mir bescheid, schon einmal dem Ober zu folgen, während er unsere Jacken und Hüte zur Garderobe brachte. Peinlich berührt registrierte ich die abschätzigen Blicke des Obers, als er mich mit einem „Hier entlang – Sir.“ zu unserem Tisch brachte. Ich war mir mehr als bewußt das ich, mit meinem alten Hemd und der schlichten, am Saum fleckigen Hose alles andere als geeignet für solch ein Restaurant erschien, gerade wenn man den piekfeinen Holmes neben mir zum vergleichen hatte. Zu meinen zweifelhaftem Glück musste ich das Gefühl ausgeliefert zu sein nicht lange ertragen, nach gut 3 Minuten kam Holmes mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein bewaffnet an mir vorbei um sich mir gegenüber zu setzen. Schnell durschaute er die Lage und blickte dem Ober vielsagend hinterher. „Ich hoffe doch, sie können über Kritik hinwegsehen. Naja, ganz so katastrophal wie es anmutet, siehen Sie dennoch nicht aus.“ Ich wußte nicht recht ob ich Holmes für eine solche Dreistigkeit schlagen, oder lieber in Tränen ausbrechen sollte. Also beschloß ich, ihn ungläubig anzublinzeln und unauffällig meine Frisur zu richten. Der seltsame Mann und Ich schwiegen uns über wenige Minuten unangenehm an, bis sich mein Magen lautstark zu Wort meldete. Ich hätte im Erdboden versinken können. Doch Holmes selbst sah die Dinge eher gelassen und blickte anteilnahmslos an mir vorbei. „Pünktlich aufs Stichwort, da kommt unser Essen.“ Und tatsächlich reichte mir just in diesem Moment eine junge Kellnerin mein Essen an den Tisch. „Ich wünsche ihnen einen guten Apetitt, meine Herrschaften.“ Hungrig wie ein Wolf starrte ich auf den Teller vor mir, der mit dem köstlichstem Rinderouladen beladen war, die ich je gesehen hatte. Verschüchtert sah ich mein Gegenüber an und bedankte mich kleinlaut für diese Nettigkeit. Holmes´ Mundwinkel zuckten amüsiert, als ich mich ausgehungert auf das Festmahl vor mir stürtzte. Nach ein paar Minuten angenehmen Schweigens aber räusperte sich der Charismat und begann langsam und bedächtlich zu sprechen. „Nun, wissen Sie...um auf den Punkt zu kommen... Ich habe Sie nicht ganz ohne Hintergedanken hierher ausgeführt. Sie verstehen?“ Aufmerksam sah ich auf und blinzelte Holmes verwirrt an. „Erwarten Sie etwa eine Gegenleistung?“ „Nunja, ich würde es nicht Gegenleistung nennen. Es ist etwas, das ihnen auch hilft, da bin ich mir sicher.“ Nun war ich wirklich hellhörig geworden. „Was genau meinen Sie damit, Holmes?“ „Ich will nicht wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen:“ Er sah mir durchdringend in die Augen. „Kommen Sie zu mir in die Bakerstreet.“ Meine erste Reaktion war ein heftiger Hustenanfall, da ich mich fürchterlich an einem Stück Kartoffel verschluckt hatte. Ungläubig und mit tränenden Augen vom Husten starrte ich Sherlock an. „Wie bitte? Vor ein paar Wochen noch sagten Sie mir unverblümt ins Gesicht, Ich sei Ihnen zu dumm. Woher der Sinneswandel?!“ Holmes trommelte genervt mit den Fingern auf die Tischplatte. „Nunja, Menschen irren sich, Doktor. Ich durfte diese Nacht einige ihrer Vorzüge kennenlernen.“ Ich hörte einen Mann an unserem Nebentisch husten, seine Frau kicherte nervös. Oh mein Gott! Wie musste dieser Satz für unwissende geklungen haben?! Holmes jedenfalls kümmerte sich nicht um seine Wortwahl, also versuchte ich, hochroten Kopfes, die Situation zu entschärfen. „Nur weil ich Ihnen beim Aufsatzschreiben geholfen habe..?“ Holmes zuckte unbekümmert die Schultern, lehnte sich leicht arrogant in seinem Stuhl zurück. „Nunja, selbst durch solch einfachen Aufgaben kann man dumme von intelligenten Menschen unterscheiden! Was jetzt nicht heißt, Sie wären eine wirklich sehr intelligente Person, dennoch-“ Er machte eine wichtigtuerische Pause in der ich ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre, doch meine Erziehung hatte Früchte getragen und ich hielt mich zurück. „Sie begreifen sehr schnell. Und ihre Aufzeichnungen beweisen schriftstellerisches Talent, mein Lieber.“ „Meine Aufzeichnungen...? Von was reden Sie?“ „Ich habe mir erlaubt, als Sie kurz den Raum verließen, ihr Notizbuch – oder was auch immer es denn war – zu lesen. Ich habe es aber Ordnungsgemäß in ihre Jacke zurückgetan, keine Sorge.“ Ich war fassungslos, absolut entsetzt. „SIE haben WAS??!“ Wutentbrannt sprang ich auf. Mir war es egal, ob die Leute um uns herum schauten. Ob sie tuschelten. Oder ob Holmes mich ansah, als verstünde er die ganze Aufregung nicht. „Was fällt ihnen eigentlich ein?! Glauben Sie, es macht mir nichts aus, wenn Sie in meinem Privatleben herumschnüffeln?!“ Holmes rieb sehr genervt seine fahle Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger, deutete auf meinen Stuhl. „Setzen Sie sich, bitte. Sie ziehen nur noch mehr Blicke auf sich.“ Gefrustet tat ich wie mir geheißen. „Gut. Nun, sehen Sie, ich konnte ja nicht ahnen, dass ihnen eine solche Tat so nahe geht. In diesem Buch stand ohnehin nichts von Belang – oder besser gesagt: Es enthielt nichts, was ich nicht ohnehin schon wusste.“ „Das ist doch nicht von belang, Holmes! Hören Sie, ich würde schon zu ihnen ziehen, nur solche Dinge dürfen einfach nicht passieren, haben Sie mich verstanden?“ „Ja, Ma´am.“ „Holmes, ich meine das ernst! Würde Sie das nicht stören, würde ich in ihren Unterlagen stöbern? Haben Sie nichts zu verbergen?“ Holmes rieb sich mit Daumen und Zeigefinger am Kinn, lachte kurz und leise. „Oh, ich sehe, Sie drehen den Spieß um! Nun ja, hm, in der Tat. Ich habe genug zu verbergen, um ganze Bücher damit zu füllen. Ich sehe ihren Standpunkt. Verzeihen Sie diese meine – beruflich bedingte – Neugierde. Ich musste einfach mehr über Sie erfahren, Doktor. Ja, Sie sind eine außerordentlich interessante Persönlichkeit möchte ich sagen.“ Dieses doch sehr schmeichelhafte Lob aus Holmes Munde besänftigte mich ungemein. Ich begriff, dass Holmes soetwas nicht in böser Absicht getan hätte. „Ich nehme die Entschuldigung an. Nunja, allzu schlimm erscheint mir der Vorfall nun auch nicht mehr, wenn ich ehrlich bin.“ Und so beschloßen meine Begleitung und ich , die Einzelheiten des Umzuges auf dem Fußweg zu Dr. Wilsons Wohnung zu machen. Holmes zahlte während ich schon vorraus ging, als mir während des Wartens vor dem Restaurant etwas einfiel, was ich ihn vorher schon lange fragen wollte. Sofort, war Holmes neben mich getreten, sprach ich ihn darauf an. „Mich würde ja brennend interessen, welchen Beruf Sie ausüben.“ Holmes sah mich verdutzt an und feixte in sich hinein. „Das, Doktor, werde ich Ihnen nicht verraten.“ Ich runzelte die Stirn. „Aber wieso denn nicht?“ „Weil ich wissen will, ob Sie es selbst herausfinden können. So habe ich es bei ihnen schließlich auch herausbekommen – durch schlichte Deduktion!“ „Deduktion...“ Ich versuchte mit dem langbeinigen Holmes schritt zu halten, der gemächlich aber ziemlich schnell die Straße entlangschlenderte und fragte mich immer wieder, wie er es bloß geschafft hatte bei unserem ersten Treffen herauszubekommen, dass ich Arzt war. Unterwegs unterhielten Holmes und Ich uns über die Einzelheiten meines Einzugs. „Sie haben die Wohnung ja bereits gesehen - ein wunderschönes Zimmer stünde für Sie bereit. Das Wohnzimmer werden wir selbstverständlich gemeinsam nutzen.“ „Gibt es irgendwelche Haken an der Sache?“ Argwöhnisch beäugte ich Holmes und versuchte aus seinen Gesichtszügen zu lesen. „Nunja, Watson. Das Zusammenleben mit mir liegt gewiss nicht jedem, aber ich werde mich arrangieren. Sie empfinden doch Violoinenspiel nicht als Belästigung?“ „Oh nein, ganz gewiss nicht! Hätten Sie ein Problem damit, dass ich mir eine junge Dogge als Haustier halte?“ Kurz blieb Holmes stehen und runzelte angestrengt die Stirn. „Mein Problem soll es gewiss nicht sein, Sir. Nur bedenken Sie: Ich experiementiere viel mit Teils sehr gefährlichen Stoffen, dazu kommt noch mein starker Tabakkonsum. Schlußendlich müssen Sie entscheiden, ob das Tier es woanders nicht vielleicht besser hätte.“ Nach ungefähr 20 Minuten hatten wir die kleine Wohnung meines Kollegen erreicht. Ich wollte gerade den Türklopfer betätigen, als die Tür sich von selbst auftat und ein wutentbrannter Peter vor mir stand. „So“ Er sprach leise und beherrscht, doch mit einem sehr giftigen Unterton in der Stimme. „das war also der Grund für deinen nächtlichen Ausflug.“ Dr. Wilson sah zuerst Holmes, dann mich sehr aufgebracht an. „Watson, kannst du mir verraten was hier vor sich geht?“ „Nunja, ähm..“ Aus irgendeinem Grund war ich schrecklich nervös – ganz so, wie ein Kind das Süßigkeiten gestohlen hatte und dabei erwischt worden war. „Peter, eigentlich bin ich nur gekommen um meine Habseligkeiten abzuholen. Dich wird es sicher freuen zu hören, dass ich eine eigene Bleibe gefunden habe.“ „Sicher freut es mich, John.“ Dr. Wilson seufzte und trat in der Tür einen Schritt zur Seite. „Komm rein.“ Ich verabschiedete mich also von Holmes und folgte meinem Wirt in seine Wohnung. Prompt kam Caspar auf mich zugesprungen. „Na, alter Junge?“ Ein wenig traurig wuschelte ich meinem Rüden durch das glänzende Fell. „Also?“ Ich sah auf, Dr. Wilson hatte sich vor mir aufgebaut, die Hände in den Hüften. „Was hat Holmes mit dieser Sache zu schaffen?“ Langsam wurde es mir zu bunt. „Jetzt hör mir mal zu, Wilson. Ich bin dir und deiner Frau mehr als dankbar, dass ihr mich mit offenen Armen aufgenommen habt. Ihr wisst nicht, wie Dankbar ich bin. Aber, Peter, du bist nicht meine Mutter. Ich bin ein erwachsener Mann und dir keine Rechenschaft schuldig, hörst du?“ „Und was heißt das nun?“ Ich holte langsam Luft, sah Peter dabei fest in die dunkelbraunen Augen. „Ich werde zu Holmes in die Bakerstreet ziehen.“ Mein Freund reagierte wie erwartet. „Meinst du das ernst?! Du willst zu diesem Irren ziehen?“ „Ach komm schon, Peter. Er ist nicht Irre. Ich habe ihm gestern beim Schreiben einer Kolumne assistiert, falls es dich interessiert. Und dieser Mann ist ein Genie. Du kennst ihn doch nicht!“ Erbost tigerte mein Freund vor mir durch das Zimmer und ich konnte beobachten, wie sein Gesicht eine immer rötere Färbung annahm. „Pha! Ich kenne ihn nicht! So einen Menschen muss man nicht kennen um zu sehen, wie er ist! Wir nahmen dich auf weil es dir wirklich dreckig ging. Und du dankst uns das – indem du zu diesem Geisteskranken ziehst..?“ Nun musste ich wirklich lachen. „Was?! Wilson, komm wieder runter! Ich darf doch wohl noch hinziehen wo ich möchte! Das hat mit dir und Margret absolut nichts zu tun!“ Langsam schien der Streithahn mir gegenüber wieder zur Vernunft zu kommen. Traurig sah er mich an, die Hände wieder an den Hüften. „Es tut mir Leid, mein Freund. Wir machen uns nur Sorgen um dich, das ist alles.“ Freundschaftlich legte ich Peter meine Hand auf die Schulter, lächelte ihn versöhnlich an. „Das weiß ich doch! Aber glaube mir, von Holmes geht keine Gefahr aus. Ich weiß schon was ich tue. Außerdem – ich wollte dich um einen Gefallen bitten, Peter.“ Ich hockte mich zu Caspar herunter und kraulte ihn melancholisch hinter den Ohren. „In der neuen Wohnung wäre mein Freund hier nicht so gut aufgehoben schätze ich – und ich weiß ja, wie sehr deine Kinder den Hund lieben. Würdest du ihn bei euch aufnehmen? Ich wäre dir sehr dankbar.“ Hoffnungsvoll sah ich mein Gegenüber an, der nur heftig schnaubte und erneuert die Arme verschränkte. „Ja, ja. Sicher nehme ich den Hund, er ist uns allen ja schon an das Herz gewachsen. Nur das du sogar dein treues Tier weggibst um in diese Wohnung zu ziehen ist unfassbar für mich. Wirst du bald auch deine Freunde verraten?!“ Mir kamen seine Sätze übertrieben und geradezu lächerlich vor, ihm jedoch schien jedes Wort ernst zu sein. Gekränkt und verständnisslos musterte der Brünette mich. „Und nun pack deinen Kram zusammen und verschwinde von hier.“ Eiskalt und erbarmungslos hatte er diese Worte geflüstert, als er an mir vorbei zur Haustür rauschte. Ein halb gerauntes „Leg´ die Schlüssel auf die Kommode im Flur.“ war das letzte, was ich von meinem Freund zu hören bekam, ehe er das Haus verließ. In Windeseile packte ich meine wenigen Habseligkeiten in einen kleinen Koffer und verabschiedete mich von Caspar. Obwohl ich wußte, das es ihm in dieser Familie gut gehen würde – obwohl ich wußte, Peter war mein bester Freund und ich könne ihn jederzeit besuchen – ein ungutes Gefühl , welches mir, als ich die Wohnung verließ, sogar die Tränen in die Augen trieb, blieb bestehen. Und wie so oft in meinem Leben stellte sich mein Gefühl als wahr heraus – es sollte mehr als 3 Jahre dauern, bis ich Peter das nächste mal sah.“ Kapitel 6: Prinz Eisenherz -------------------------- „ Als ich, deutlich gehemmt in meiner Fröhlichkeit und mit nichts als einem alten Aktenkoffer in der Hand, an der schweren Eingangstür der Bakerstreet 221b klopfte, überkam mich ein seltsames Gefühl. Ich begann zu realisieren; der Krieg war vorbei, ich lebte in London, in einer Stadt in der ich frei, ungebunden, ohne Existenz und Ansehen war. Meine Familie schien unerreichbar fern, mit meinem letzten verbliebenen Freund hatte ich nur Minuten zuvor gebrochen. Dies war mein Neuanfang. Die Bakerstreet mein Zuhause. Holmes meine einzige Stütze. Und als nach wenigen Minuten die Tür langsam und quietschend geöffnet wurde, besiegelte ich meinen Neubeginn mit dem Tritt über die Türschwelle. Innen angekommen begrüßte mich unsere kleine, alte Haushälterin Mrs. Hudson sehr herzlich. Ich fühlte mich an meine eigene Großmutter erinnert wenn ich in ihre grünen, klaren Augen sah. „Guten Tag, Mr. Watson! Es freut mich wirklich sehr, Sie als Mitmieter gewonnen zu haben. Mr. Holmes hat schon viel über Sie erzählt. Oh, kommen Sie – setzen Sie sich erst einmal!“ Diese runzlige, beleibte Frau drängte mich geradezu mich an ihren Küchentisch zu setzen. Ungefragt reichte Sie mir geschätzte zwei Pfund Kirschkuchen und eine Tasse ihres vermilchten Kaffees. Sie setzte sich mir gegenüber und faltete damenhaft die Hände im Schoß. „Nun, Mr. Watson. Mit der Bezahlung wäre alles geklärt – Sie und Holmes wollten sich die Kosten der Miete teilen, nicht wahr?“ Ich nickte. Er würde die eine Hälfte aus seinem Einkommen, woher auch immer er diese bezog, nehmen und ich steuerte einen Großteil meiner Kriegsrente dazu.“Schön.“ Mrs. Hudson lächelte mütterlich und ihre tiefen Gesichtsrunzeln sowie ihr langes, aschfarbenes Haar ließen Sie zart und gebrechlich erscheinen, obwohl die Dame so alt gar nicht gewesen sein konnte. „Die Küche ist, wie Sie sehen können, die einzige im ganzen Haus. Für ihr leibliches Wohl werde also ich sorgen – wenn es ihnen recht ist.“ Ich konnte nur zustimmend nicken,der köstliche Kirschkuchen in meinem Mund nahm mir jegliche Möglichkeit zu antworten. Als ich den übergroßen Bissen hinuntergewürgt hatte und gerade dazu ansetzen wollte, etwas zu sagen, hörte ich hinter mir eine altbekannte Stimme. „Oh,Doktor, wie ich sehe sind Sie ja bereits hier. Ich dachte schon Sie würden im letzten Moment einen Rückzieher machen.“ Holmes stand feixend im Türrahmen, er trug ein extravagantes, grünes Hemd und eine sehr noble, dunkelgraue Stoffhose. „Diesen Rückzieher, Mr. Holmes, könnten Sie dem jungen Mann nun wirklich nicht verübeln. Seien wir ehrlich, wirklich normal sind Sie beiweitem nicht, Sir.“ Holmes bließ verärgert die Nüstern auf. Er wirkte leicht verstimmt, sprach aber sachlich und nüchtern wie immer. „Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr. Ein kluger Satz, nicht wahr? Nun denn – Watson, ich erwarte Sie oben!“ Und mit diesen Worten machte Holmes auf dem Absatz kehrt und stolzierte die schmale Wendeltreppe nach oben zu unseren Räumlichkeiten. Mrs. Hudson schenkte mir einen vielsagenden Blick, doch ich scherte mich wenig darum. Schnell aß ich den restlichen Kuchen auf, bedankte mich herzlichst, nahm mir meinen alten Lederkoffer und folgte meinem Mitbewohner. Nur kurz zögerte ich, ehe ich die mit Milchglas verzierte, dunkle Tür aufstieß, die in unsere Wohnstube führte. Erstaunt riß ich die Augen auf. „So sieht es doch gleich viel wohnlicher aus, nicht wahr, Doktor?“ Holmes taktierte mich von seinem Schreibtisch aus, der Blick erwartungsvoll und doch selbstsicher. „Ja, in der Tat. Mir gefällt es gut.“ Ich gab mir große Mühe es zu verbergen, doch Holmes´ wissender Blick verriet meine Untertreibung. Es gefiel mir nicht gut – ich fand das Zimmer umwerfend, wie es nun war. Standen zunächst noch sehr wenige Möbelstücke in der großen Stube, war diese nun ausgefüllt durch viele, gut gefüllte Aktenschränke und Bücherregale, Beistelltische und sogar einer sehr schönen Zierpflanze. Vor dem schönen Kamin rechts neben der Tür lag nun ein neuer, durchaus schönerer Teppich, auf dem ein edler, dunkler Stubentisch aus schwerem Kirschholz stand, ihm zur Seite zwei große, schwarze Sofas. An den großen, hellen Erkerfenstern auf der linken Seite des Raumes hingen nun schöne, mattrote Vorhänge. „Ich habe den Raum ein wenig umgestaltet, wie Sie sehen können.“ Holmes lag eher in seinem Sessel, als dass er saß, hatte seine langen Beine auf dem Tisch liegen und rauchte eine teure Havanna. Scheinbar in Gedanken versunken starrte er in weite Ferne und sprach, ohne mich dabei auch nur anzusehen. Ich erwartete, er würde noch etwas zu dem Thema sagen und für einen Moment schien Holmes auch im Begriff zu sein zu sprechen, doch dann überlegte er es sich wohl anders und schwieg. Verwundert ging ich quer durch den rechteckigen Raum zu einer offenen Tür , die in einen kleinen Flur führte. Dieser Flur verband drei Zimmer mit der Wohnstube. Eines davon lag genau vor mir, die anderen beiden links und rechts davon. Die Zimmertür des mittleren Raumes hatte eine kleine Plakette am oberen Rand, auf der in großen Drucklettern „HOLMES“ geschrieben stand. Dies muste also das Reich meines Mitbewohners sein. Links von mir lag das große, geräumige Bad. Also musste das rechte Zimmer meines sein. Als ich die Tür öffnete, stellte ich zu meiner Freude fest, dass der mittelgroße Raum bereits komplett möbiliert und wunderbar hell und freundlich war. Die Wandfarbe war ein sanftes Blau, welches wunderbar mit dem dunklen Bodenteppich harmonierte. Das große Eichholzbett in der Raummitte war frisch bezogen und sah sehr einladend aus. Neben dem Bett stand ein kleines, unscheinbares Büherregal, dessen Abgeschrägtes Dach gerade so an die Bettpfosten reichte. An der anderen Wand, gegenüber meines Nachtlagers, stand ein großer, massiver Kleiderschrank mit einem schönen mannshohem Spiegel daran. Als ich probehalber die weiten Schranktüren aufzog, fragte ich mich unwillkürlich, wie ich dieses Monstrum je würde füllen können. Als ich den Schrank wieder schloß, blieb mein Blick an meinem Spiegelbild hängen. Traurig besah ich meinen in Mitleidenschaft gezogenen Arm. Auch wenn die Verletzung schon längst abgeheilt war, er blieb ein wenig steif und ungelenk. Dasselbe galt auch immer noch für mein Bein, dieses Humpeln wollte einfach nicht gehen. „Der Krieg hat einen langen Arm. Noch lange, nachdem er vorbei ist, holt er sich seine Opfer. Sie haben schier unfassbares Glück gehabt, Watson.“ Erschrocken drehte ich mich zu meiner rechten. In gewohnter Manier lehnte Holmes in der Tür, sein Blick kalt und emotionslos. „Sie sollten lieber Froh sein, überlebt zu haben, statt den Wunden der Vergangenheit so viel Aufmerksamkeit zu schenken.“ Ich ballte meine Fäuste. „Sie haben gut reden, Holmes. Waren Sie schon einmal im Krieg? Nein? Wie können Sie es also beurteilen, wie ich mich fühle? Nach all dem Elend dort unten? Ich musste die Hölle durchlaufen, ich brauche Sie nicht mit ihren weisen Sprüchen.“ Und ich hatte Recht. Diese Schlacht in Afghanistan hatte mich gebrochen und verletzlich gemacht. Ein paar Augenblicke rauchte Holmes still seine Zigarre, senkte unergründlich den Blick. „Warum die Hölle im Jenseits suchen? Sie ist bereits im Diesseits vorhanden, im Herzen der Bösen - Jean-Jaques Rousseau. Ich sehe ihren Standpunkt, doch ich vertrete meinen. Und nun stören Sie mich bitte weiter nicht, ich habe wichtiges zu erledigen.“ Und mit diesen reichlich kühlen Worten verließ der größere meine Räumlichkeiten, ließ mich niedergeschlagen zurück. Meinen Neubeginn hätte ich mir zu dieser Zeit sicherlich anders vorgestellt. Wesentlich anders. Ich setze nun an einem Tag an, der meinem Leben wieder mehr Sinn geben sollte. Etwas, worauf es sich aufzubauen lohnte. Es war der Tag, an dem Sherlock Holmes das erste mal seit unseres Zusammenlebens Post von Inspektor Gregson bekam. Der Inspektor hatte Holmes aufgesucht, weil er den Fall um den mysteriösen Tod Enoch J. Drebbers nicht lösen konnte und Holmes ihm soetwas wie die letzte Instanz war. Lange, sehr lange hatte Holmes damals auf eine Chance gewartet, seine Künste unter Beweis stellen zu können. Und nun schien dieser Tag zum Greifen nahe. Schon oft genug hatte Holmes mir seine Fähigkeiten – oder das, was ich von ihnen erahnen konnte – gezeigt und auch für mich schien es klar. Er war nun der einzige, der die Ermittlungen voran bringen konnte. Nur er schien anderer Meinung zu sein. Raubtierhaft und auf seltsame Weise gehetzt lief er vor mir im Wohnzimmer herum, der ich in meinem Sessel saß und ihm das Schreiben vorgelesen hatte. „Nein. Ich lasse es zurückfaxen. Das alles hat keinen Sinn.“ Kalt starrte er geradeaus, ich konnte praktisch die Maschinerie in seinem Kopf rattern hören. „Ja, aber wieso denn, Holmes? War es nicht exakt diese Chance, auf die Sie immer gewartet haben?“ Aggressiv schnaubte Holmes und warf mir genervte Blicke zu. Ich nahm es gelassen und wartete geduldig auf eine Antwort von ihm. „Sie verstehen das nicht, Watson!“ Holmes ließ sich unelegant auf einen Stuhl fallen, wippte nervös mit dem Knie, tiefe Falten zerfurchten seine blasse Stirn. „Selbst wenn ich diesen Fall lösen würde – was ich ohne Zweifel besser könnte als jeder andere - sagen Sie mir – was brächte es ein? Glauben Sie ernsthaft, Doktor, das ich auch nur in einer Zeitung erwähnt werde? Das mir auch nur ein wenig öffentliche Aufmerksamkeit zugesprochen würde? Sie kennen die Antwort. Lestrade und Gregson sind durchschnittliche Denker, sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Vor mir würde jeder dieser beiden seine Dummheit eingestehen – doch niemals vor einem dritten. Ich selbst renne bestimmt nicht zu irgendeiner Zeitung, allein mein Stolz verbietet mir es. Also würde ich den Fall lösen – und die beiden bekämen meinen Ruhm.“ Nach diesem Ausspruch schwieg Holmes eine Weile recht behaglich, rauchte mal wieder seine Lieblingspfeife. Plötzlich überkam mich ein Gedanke. „Nein.“ Holmes sah mich Müde und desinteressiert an. „Was, ´Nein´, Doktor?“ „Ich meine, Lestrade und Gregson werden Ihnen ihren Ruhm nicht stehlen, dafür kann ich sorgen, Holmes.“ Nun wurde mein Gegenüber hellhörig, er verschränkte die Hände ineinander und zog forsch eine seiner Brauen in die Höhe. „So? Und wie gedenken Sie, das zu tun?“ „Darüber rede ich mit Ihnen, wenn Sie diesen Fall gelöst haben. Und seien Sie sicher, es funktioniert. Nun kommen Sie, Inspektor Gregson erwartet uns gewiss.“ Holmes verzog keine Miene und auch ich war nicht in der Lage, seine Gefühle auch nur annähernd zu erahnen, doch ich hoffte, er würde sich freuen. Kaum zehn Minuten später saßen wir beide, Sherlock Holmes und Doktor Watson, in einer Droschke, auf dem Weg zur Brixton Road. Auch während der Fahrt schien Holmes alle Sinne zu konzentrieren, er glich einer streunenden Katze, die, einst Haustier, wieder zum Raubtier geworden und im Begriff war, sich auf einen wehrlosen Spatzen zu stürzen. In diesem Moment fragte ich mich, wie blind ich gewesen sein musste, nicht erkennen zu können, das mein Mitbewohner der Berufung eines Detektives nachging, denn als er mir die Zusammenhänge erklärte und ich seine verschiedenen Talente und Fähigkeiten dazuaddierte, erschien mir das ganze geradezu lächerlich einfach. „Gerade die einfachsten Dinge, mein Freund“ hatte Holmes einmal gesagt, „sind die, die am ehesten übersehen werden. Desto verworrener, skurriler und unerklärlicher ein Fall erscheint, umso einfacher ist in der Regel seine Lösung.“ Holmes neben mir wirkte mit jeder Minute angespannter und nervöser, das merkte ich an dem Zittern seiner großen Hände, oder der Angewohnheit, diese nervös aneinander zu reiben. Doch verzog er keine Miene. Nach ungefähr 20 Minuten waren wir in der Straße vor der Brixton Road und Holmes ließ den Droschker anhalten. Verwirrt blinzelte ich meinen Partner an. „Aber wieso halten wir? Die Straße ist doch erst dort hinten.“ Schwer genervt verdrehte Holmes die Augen und besah mich mit einem Blick, als könne er es nicht fassen, dass ich seine Gedankengänge nicht mitverfolgen könnte. Doch anstatt mir zu antworten zog er mich förmlich aus der Kutsche, warf dem Kutscher ein paar Münzen zu und lief verschwiegen die breite Straße entlang. Holmes schlenderte gedankenversunken neben mir her, schien mich nicht im geringsten zu beachten. Stattdessen taktierte er jeden Zentimeter des Straßenbelages, jede Laterne, jeden Busch mit seinem durchdringenden, eisigem Blick, der mir ein seltsames Gefühl in der Magengrube verursachte. Sein Gesichtsausdruck allerdings blieb mehr als entspannt und Holmes murmelte unverständliches Zeug in seinen nicht existenten Bart, während ich mir so Fehl am Platze vorkam wie ein Fisch auf einer Blumenwiese. Nach gefühlten weiteren zwanzig Minuten hatten wir endlich unser Ziel erreicht, doch Holmes dachte anscheinend gar nicht daran, das Haus sogleich zu betreten. Im Gegenteil. Als ich mich wie selbstverständlich über den matschigen Fußweg im Vorgarten ins Innere des Hauses begeben wollte, stieß mich der Detektiv grob zur Seite und schenkte mir einen Blick, der sich mir die Nackenhaare aufstellen ließ. Eine Entschuldigung für sein fragwürdiges Verhalten bekam ich nicht. Entrüstet trottete ich dem Schönling also hinterher, als dieser nach endlosen fünf Minuten des um das Haus herumpirschens über den Rasen schritt und auf der Türschwelle überschwänglich von einem kleinen, schwarzhaarigem Mann empfangen wurde, der sich sogleich als Tobias Gregson vorstellte. „Und Sie sind..?“ Argwöhnisch betrachtete der Inspektor mich, er war mir sofort unsympathisch. „Doktor Watson, mein Assistent in diesem Fall. Sie können ihm vertrauen.“ Holmes schien entschloßen zu haben, dass ich nicht alleine sprechen könne und übernahm diesen Part großzügigerweise für mich. Grummelnd lief ich den beiden Profis hinterher durch dieses alte, leerstehende Gebäude, bis wir in einen Raum kamen, den ich so schnell nicht mehr vergessen sollte. Die Tür stand bereits offen und einige junge Polizisten hatten sich über den leblosen Körper eines korpulenten, älteren Mannes gebeugt. Der Anblick der verkrümmten Leiche ließ mich Bilder sehen, die ich zu Verdrängen gehofft hatte, Bilder die mich würgen ließen. Zittrig und schwer atmend ging ich hinter Holmes nah an den toten Körper heran, versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Doch ein Blick in das vor Angst und Grauen zur Fratze verzogene Gesicht des Toten genügte, um mich in die Knie zu zwingen – nie werde ich diese starren, erbarmungslosen Augen vergessen. Kaum hatte ich mich also auf den Boden sinken lassen, kniete Gregson sich neben mir und drückte mitfühlend meine Schulter. „Doktor, geht es ihnen gut? Ich kann es Ihnen wirklich nicht verübeln, dieser Anblick ist auch mehr als Furchtbar..“ Unvermittelt drehte sich Gregson zu Holmes um, musterte ihn ärgerlich. „ Hätten Sie ihren Freund nicht ein wenig darauf vorbereiten können, Holmes?“ Angesprochener aber tat etwas,das mein Bild von ihm die nächste ganze Zeit prägen sollte. Sein Blick war kalt und vollkommen ohne Gefühl, als er abwehrend die Arme vor der Brust verschränkte und mich abschätzig von Oben herab betrachtete, der ich, vollkommen aufgelöst, zu seinen Füßen hockte. „Ich, Inspektor Gregson, kann nichts, aber auch gar nichts dafür, wenn gewisse Personen hier im Raum etwas zur dramatisierung neigen! Außerdem,“ Er versetzte der Leiche tatsächlich einen kleinen Tritt mit seiner Schuhspitze, mich erschauderte es regelrecht, „ist ein toter Körper nichts ungewöhnliches. Ich kann mir sehr viel schlimmeres Vorstellen. Reißen Sie sich also zusammen, Doktor.“ Vollkommen überfahren von soviel Kälte und Bitterkeit rappelte ich mich wieder auf und ließ mich von Gregson in die angrenzende Küche bugsieren, wo ich mich atemlos und geschockt an den Tisch setzte, ehe Holmes mich nach geschlagenen zwei Minuten laut und unsittlich zu sich zitierte, um etwas zu notieren. Ich führte brav Protokoll über die Ermittlungen eines Mannes, der mir vorkam wie eine Maschine, starr und bitter, erhaben und arrogant wie ein Blaublut, mit einem Herzen aus Stahl. Prinz Eisenherz. Kapitel 7: Rot -------------- „ Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut. Nicht nur wegen dieser Leiche, dieser mitleidserregenden Kreatur, deren Züge von Entsetzen und Schock verzerrt wurden. Nicht nur wegen Holmes, der keine Rücksicht auf Totenehrung nahm, nicht auf mich, nicht auf die Beamten. Ich fühlte mich unwohl, weil alles, was ich um mich herum wahrnahm, kalt war. Steril. Die Beamten sprachen sachlich, Gregson machte sich Notizen und Holmes... Sein Genie war unverkennbar, er zog Schlüße und erkannte in einer Geschwindigkeit Zusammenhänge, dass es mich fast ein wenig gruselte. Doch seine arrogante, viel zu sachliche Art , seine Gefühlskälte schien wohl der hohe Preis für seinen unermeßlichen IQ zu sein. Mein Mitbewohner, der sonst sehr penibel auf sein Äußeres achtete, ließ keinen Zentimeter, nicht ein Fleckchen der Decke und der Tapete unbeachtet, legte sich flach auf den staubigen Boden, zog sich am verußten Kaminsims empor um eine Stelle der Decke genauer in Augenschein zu nehmen. Schon nach wenigen Augenblicken war sein grauer Anzug von Staub und Ruß bedeckt, was ihm anscheinend nicht auffiel. Er war sosehr vertieft in seine Arbeit, er musste uns alle vergessen haben. Er ließ sich den Tascheninhalt des Opfers zeigen und ich machte brav meine Notizen. Warum ich dergleichen tat war sehr ersichtlich, als sein Mitbewohner hatte ich mich sogleich zu seinem Privatarzt erkoren, denn Holmes ging mehr als fahrlässig mit sich und seiner Gesundheit um. Sein Handgelenk war also weiterhin bandagiert, diese Entzündung musste unbedingt abklingen. Einen weiteren Grund, mich schreiben zu lassen, konnte ich mir selbst zusammenreimen. Holmes war Linkshänder – und diese waren nicht gern gesehen in der Gesellschaft. Ihnen wurde das Schreiben mit der linken Hand oft geradezu herausgeprügelt. Mein eigener Bruder war zu Lebzeiten Linkshänder gewesen, weswegen ich dieser Sache sehr tolerant gegenüberstand. Gregson, der neben mir stand, lächelte auf eine seltsame Art und Weise und schien zufrieden darüber, Holmes hierher zitiert zu haben. Die anderen Beamten hatten sich langsam aus dem Raum entfernt, als Holmes ihnen mit seinen Blicken unmissverständlich erklärt hatte, dass sie hier nicht länger willkommen waren. Ich staunte darüber, mit welcher Gehorsamkeit die Polizisten reagierten. Obwohl ich zugeben musste, dass Holmes Blicke mehr als furchteinflößend sein konnten. „Und – Was haben sie schon entdeckt, Holmes?“ Ich drehte mich erschrocken um. Hinter mir, in der Tür, stand ein großer, hagerer Mann mit weißblondem Haar und strengen Stirnfalten. Er stellte sich als Komissar Lestrade vor und sprach den Detektiven erneuert an. „Na, was ist, Holmes? Bereits irgendeine Spur? Habe ich etwa etwas übersehen...?“ Aus der Stimme Lestrades war die Überheblichkeit und der Spott über meinen Mitbewohner nur schwer zu überhören. Dieser drehte sich nur langsam um, zog eine Braue in die Höhe. „In der Tat, Lestrade, haben Sie UND Gregson es nicht geschafft, irgendetwas von Belang herauszufinden. Wie lange bearbeiten Sie diesen Fall schon, Sir?“ Lestrade lief rot an und knirschte mit den Zähnen. „Seit heute Morgen.“ Zischte er, angestrengt beherrscht. „Das ist schwach, Lestrade, sehr schwach. Ich bin seit genau 28 Minuten hier und habe soviel über diesen Fall herausgefunden, dass ich ihn lösen kann, nur eines, oder zwei ,wichtige Puzzleteile fehlen noch um das Bild zu komplettieren.“ Und wie um seine Überlegenheit zu demonstrieren, fuhr Holmes sich eitel durch das dichte, staubgraue Haar. Lestrade schien dem Bersten nahe. „Sie bluffen doch nur, Holmes! Was in diesem Raum könnte bitte von Bedeutung sein, abgesehen von dieser Leiche?!“ Ich hatte das Gefühl, sogleich würde der Komissar auf meinen Freund zustürtzen und ihn verprügeln, doch glücklicherweise geschah nichts dergleichen. Stattdessen ignorierte Lestrade Gregsons höhnische Blicke und stapfte aufgebracht aus dem Zimmer. Holmes schüttelte seinen großen Kopf und inspizierte weiter die unzähligen Bodendielen. Ich kam mir in dieser Situation reichlich überflüßig vor, also schritt ich behutsam durch den Raum und betrachtete die alte, verblasste Tapete. Sie war in einem einst wohl strahlendem Gelb gehalten, doch nun war sie dreckverkrustet und stark verblasst. An manchen Stellen hatten sich ganze Tapetenbahnen gelöst , die nun lose und in Fetzen gerissen am Boden hingen. Ich wäre fast über eine dieser Bahnen gestolpert, als ich mich an der bloßen Wand abstützen wollte und feststellte, dass der Tapetenkleister noch ein wenig klebrig war. Verwundert zog ich meine verklebte Handfläche von der Wand ab. Als ich dann meinen Blick ein wenig nach oben richtete, fiel mir etwas merkwürdiges auf. Eine kleine Stelle, etwas über mir, war wohl mit einer Art roter Farbe besudelt. Ich streckte mich ein wenig und konnte erkennen, das dort wohl ein Wort geschrieben stand. Alarmiert drehte ich mich zu Holmes um. „Holmes!“ Er zuckte zusammen und sah mich genervt an. Dieses mal interessierte es mich nicht. „Sehen Sie, hier. Ich denke ich habe etwas gefunden.“ Er schritt schnell auf mich zu und beugte sich über meine Schulter. Holmes war ein sehr großer Mann, weshalb er sich nicht strecken brauchte sondern den Schriftzug auf seiner Augenhöhe fand. Holmes hatte eine seiner schweren Hände auf meine schmerzende Schulter abgelegt und schien ganz in das Geschriebene versunken. „Blut..“ Flüsterte er. „Das ist Blut.“ Er sprach zunehmend lauter. Mir wurde schlecht. „Eine Nachricht in Blut geschrieben...“Rache“, hm?“ Ich schluckte und registrierte Holmes´ sehr eigentümlichen Geruch. Es war wohl eine Mischung aus Rasierwasser, starkem Tabak, Kaffee und etwas angenehm süßem. Sogleich kamen Lestrade und Gregson wie aus dem Nichts herbeigestürmt und begutachteten das Wort an der Wand. Während also Holmes die Augen geschloßen und die Stirn in tiefe Falten gelegt hatte und Lestrade, sowie Gregson ihre Theorien über die Bedeutung des Wortes zum besten gaben, fiel mir etwas ein. Holmes dachte angestrengt nach, doch schien er die Lösung nicht zu kennen. Also räusperte ich mich kurz. „Meine Herren, ich glaube nicht, das dieses Wort für „Rachel“ steht. Ich denke nämlich es ist ein Wort aus einer anderen Sprache.“ Gregson und Lestrade sahen mich ungläubig an und Lestrade lächelte höhnisch. „Mein Lieber Freund, Dr. Watson, es ist bewundernswert, dass Sie sich solcherlei Gedanken machen, aber Sie sollten die Arbeit doch den Profis-“ Aufeinmal würgte Holmes Lestrades Redeschwall mit einem vernichtendem Blick ab und wandt sich mir zu. „Beachten Sie die Komissare nicht, Watson. ihre scharfsinnige Bemerkung erstaunt mich. Fahren Sie fort.“ Er legte interessiert die Fingerkuppen aneinander und sah mir durchdringend in die Augen. Sein Lob hatte mir geschmeichelt und es gelang mir auch, die entrüsteten Blicke der Komissare zu ignorieren. „Als ich in Afghanistan war, hatte ich einen Mitstreiter. Er war ein Deutscher. Von ihm lernte ich einige Brocken dieser Sprache, wissen Sie. Ich kenne auch dieses Wort, er trug es selbst als Tättowierung auf dem Oberarm.“ Holmes schien geradezu begeistert, doch Gregson fuhr mich beleidigt an. „Ja, ja, ersparen Sie uns die Details.Was bedeutet dieser Frevel nun, Doktor?“ Ich starrte Nachdenklich auf den klobigen Schriftzug. „Es heißt „Revenge“.“ Meine Stimme hatte ich zu einem Flüstern gesenkt. Den beiden Komissaren schien ein Kloß im Hals zu stecken, denn schlagartig wurden auch sie still. Unvermittelt klatschte Holmes seine Hände aufeinander und schien um einiges weniger genervt als zuvor. „So! Großartige Arbeit, Watson! Ich wußte, es würde etwas bringen, Sie bei mir zu haben!“ Ich fühlte, wie mir das Blut in den Wangen zirkulierte, als Holmes mir Stolz auf die gesunde Schulter schlug. Ich war Lob, und gerade wenn es aus seinem Munde kam, alles andere als gewöhnt und war dementsprechend gerührt. „Naja, im Prinzip hätte jeder darauf kommen können..“ Winkte ich ab. Gregson und Lestrade warfen mir noch einen kurzen Blick zu, ehe sie Holmes erneuert in ein Gespräch um gewisse Details verwickelten. Die restliche Zeit schien mein Gefährte mich nichtmehr zu benötigen und ich suchte schnellstmöglichst die Flucht aus dem Raum, in der die Leiche lag. Ich setzte mich erneuert in die angrenzende Küche und nahm zerknirscht wahr, dass mein Kriegsbein unangenehm schmerzte und mein Blut diese Wellen des Schmerzes im Takt meines Pulses durch das Fleisch jagte. Ein Polizeibeamter brachte mir eine beruhigende Tasse Tee, während drei weitere begannen, den leblosen Körper Drebbers aus dem Nebenraum zu hieven. Ich versuchte, das Schauspiel vor meiner Nase auszublenden und schlürfte meinen Kamilletee, als ich plötzlich einen Blick im Nacken spürte. Obwohl es nicht den Anschein hatte, waren meine Sinne durch den Krieg ein wenig geschärft worden und es war schwer, sich vor mir zu verbergen, oder mich zu verfolgen. Langsam drehte ich also meinen Torso nach hinten, um zu sehen, das Holmes im Türrahmen hinter mir stand und mich stumm ansah. Er sagte nicht ein Wort, kein Muskel rührte sich. Er sah mich einfach nur an, scheinbar wie weggetreten. Er schien sehr in Gedanken versunken, denn seine Lippen bewegten sich stumm. Erst als ein Polizist ihn zaghaft ansprach um nach etwas zu fragen, löste Holmes sich blitzschnell aus seiner Starre und stand Rede und Antwort. Ich zog die Stirn kraus und wunderte mich sehr über solch ein Verhalten, doch schlußendlich zuckte ich nur mit den Schultern und stürtzte den Rest meines inzwischen kalten Tees. Einige Minuten später tastete ich gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht mein verwundetes Bein ab, als hinter mir eine tiefe, schnarrende Stimme erklang. „Watson, wir sind hier fertig. Gehen wir.“ Ohne auf eine Antwort zu warten packte er mich in gewohnter Manier am Oberarm und schleifte mich geradezu hinter sich her. Es war unglaublich was für einen festen Griff mein Mitbewohner hatte, ich konnte meinen Arm keinen Millimeter aus seiner Umklammerung lösen. Erst, als wir im Begriff waren, in eine wartende Kutsche zu steigen, ließ er mich los und setzte sich seelenruhig auf seinen Platz. Wütend rieb ich meinen schmerzenden Oberarm. „Als würde der Schmerz im Bein nicht auch schon reichen. War es nötig, mich so zu ziehen?“ Holmes ignorierte meinen Zorn und sah träumerisch aus dem Fenster der Droschke. Ich seufzte ergeben. „Wo fahren wir eigentlich hin, Holmes?“ Erkundigte ich mich verunsichert. Holmes feixte mich schelmisch an. „Das, Watson, ist ein Geheimniss.“ Nicht ein weiteres Wort entkam seinen Lippen. Und ich saß dort in dieser Droschke, neben mir Sherlock Holmes, und fragte mich, was mich mit diesem Mann wohl noch alles erwarten würde.“ Kapitel 8: Ein halber Sovereign ------------------------------- „Nach einigen Minuten der stillen Fahrt verging jedoch meine strapazierfähige Geduld und ich sprach meinen Beifahrer erneuert an. „Wollen Sie mir nicht erzählen, wo unsere Fahrt endet, oder können Sie nicht?“ „Ich habe ein Telegramm aufgegeben, als sie in der Küche waren. Ich schickte einen dieser Polizeibeamten.“ Holmes drehte seinen klugen Kopf ein wenig und sah mich an. „Wir fahren zu einem Verhör.“ Ich war erstaunt. „Ja, aber-“ Holmes gebot mir mit einer unmissverständlichen Handgeste zu schweigen und sprach weiter. „Ein Polzist fand die Leiche Drebbers, sein Name ist ist John Rance, ansässig in Audley Court 46, Kenington Park Gate. Zu ihm fahren wir, auch wenn ich denke, er wird uns nicht viel über den Täter sagen können.“ Ich schwieg und senkte betrübt den Blick. Holmes neben mir erschien mir hingegen wie ein junger Student auf dem Weg zu einem Klassenausflug, entspannt und ohne ein Fünkchen Trübsal. „Aber,“ Holmes hatte unvermittelt weitergesprochen, ich hob interessiert den Kopf, „ es wäre nicht weiter schlimm. Ich weiß so ziemlich genau, wie der Täter ausgesehen haben muss, will ich meinen. Es war ein sehr großer Mann, sicher mehr als sechs Fuß hoch.Eher jung als alt, hatte kleine Füße für seine Größe, rauchte eine teure Trichinopoly und war in grobe, eckige Stiefel gekleidet. Er kam zeitgleich mit dem Opfer in das leerstehende Haus, höchstwahrscheinlich fuhren sie in einer vierrädrigen Droschke, die von einem Pferd mit drei alten und einem neuen Hufeisen gezogen wurde. Die Fingernägel seiner rechten Hand waren auffallend lang und sein Gesicht höchstwahrscheinlich gerötet.“ Sherlock Holmes trug all diese Informationen vor, als sei es das normalste der Welt, scheinbar aus dem Nichts heraus, waghalsigste Behauptungen und Vermutungen aufzustellen. Zumindest dachte ich zu jener Zeit noch, Holmes wolle mich auf den Arm nehmen, und fragte verunsichert nach. „Ist das Ihr ernst?“ „Mein Vollkommener.“ „Und hätten Sie die Güte, mir die Zusammenhänge zu erklären?“ Holmes schnaubte und verdrehte genervt die grauen Augen, doch ich wußte, er liebte es, Leuten seine Methoden zu erklären. Also drehte er sich in der ratternden Droschke ganz zu mir um und fing mit seiner , zugegebenermaßen sehr einleuchtenden, Erklärung an: „Beginnen wir mit der Droschke. Es war ein brillianter Einfall von mir, bereits eine Straße vor dem Ort des Verbrechens auszusteigen – sicher können Sie sich denken, warum! Nicht nur der direkte Ort der Gräueltat birgt Spuren und mehr oder minder versteckte Hinweise, nein, auch alles darum enthält diese. Sollte unser Täter nicht zum Schauplatz geflogen sein“ Kurz zwinkerte Holmes mir schelmisch zu .„müssten seine Spuren auch auf dem gesamten Wege bis hin zu diesem Zimmer zu finden sein. Und, wie sooft, konnte ich recht behalten. Zunächst bemerkte ich auf der Straße vor dem Gebäude , dass die Räder einer Droschke zwei Furchen in den weichen Boden nahe dem Bordstein geschlagen hatten. Wir hatten bis auf letzte Nacht seit einer Woche nun keinen Regen mehr, also musste die Droschke, die solch starke Spuren hinterlassen hatte, letzte Nacht dort gewesen sein. Auch die Hufabdrücke des Gauls war gut erkennbar, doch ein Abdruck war weitaus besser zu sehen als die anderen; das heißt, besagter Huf musste neu beschlagen sein. Die Droschke war also dort, nachdem der Regen einsetzte – und sie war zu keiner Zeit des Vormittages dort, dazu habe ich Gregsons Aussage. Daraus schließe ich, dass sie während der Nacht dort gewesen war und jene zwei Personen zum Haus der Tat gebracht hatte.“ Erstaunt saß ich auf meinem Sitz und lauschte Holmes´ Genie. Seine Schlußfolgerungen klangen in der Tat sehr flüßig und widerspruchslos, doch so ganz wagte ich es nicht, ihm Glauben zu schenken. „Das klingt recht einfach. Doch wie steht es mit der Körpergröße des Täters?“ Mein Beifahrer schien amüsiert über meine – scheinbar recht einfältige – Frage und legte mir eine seiner Hände auf mein verletztes Knie. „Watson, Watson. Ich denke, Sie müssen noch eine ganze Menge lernen. Aber nun gut, ich will es ihnen erklären: Die Größe eines Mannes kann man in neun von zehn Fällen anhand seiner Schrittlänge ermessen. Zahlen langweilen nur, ich erspare ihnen die genaue Berechnung, auch wenn sie simpler nicht sein könnte. Ich hatte die Schrittlänge des Täters draußen auf dem Lehm und drinnen auf dem Staub. Und Sie, Doktor, gaben mir durch ihre grandiose Entdeckung an der Zimmerwand die Möglichkeit, meine Berechnung zu überprüfen; denn, wenn ein Mensch an eine Wand schreibt, tut er dies unwillkürlich in der direkten Nähe seiner Augenhöhe – jene Schrift befand sich sechs Fuß über dem Erdboden. Alles in allem ein wahres Kinderspiel.“ „Und sein Alter?“ Fragte ich. Das alte Kopfsteinpflaster der Straße die wir befuhren schüttelte den Innenraum der Droschke. „Viereinhalb Fuß. Das war die exakte Länge der großen Wasserpfütze auf dem Gartenwege des Hauses. Der Täter war eindeutig in einem einzigen Schritt drüberhinweg gestiegen, was seine eckigen Fußabdrücke mir verrieten. Das spricht nicht unbedingt für einen Mann im Herbst des Lebens.“ Ich erinnerte mich willkürlich daran, wie grob Holmes mich auf dem Gartenweg beiseite gestoßen hatte, doch nun verstand ich es. Meine Fußabdrücke hätten womöglich seine Nachforschungen stark gefährdet. Peinlich berührt kratzte ich mich am Hinterkopf. Holmes aber klopfte mir kameradschaftlich auf den Rücken. „Machen Sie sich nichts daraus, Doktor. Ich sollte mich bei Ihnen entschuldigen für meine absolut untragbare Grobheit. Hätte ich gewußt, welch Geist in Ihnen schlummert, nie hätte ich Ihnen dergleichen getan.“ Ich war nicht einmal darüber erstaunt, dass er meine Gedankengänge perfekt rekontruiert hatte, so über alle Maßen geehrt fühlte ich mich durch sein Lob. In solch einem Ausmaß sogar, das mir das Blut in die Wangen schoss und mein Herz ein wenig schneller noch als sonst schlug. Es war mir unangenehm, weshalb ich schnell versuchte seinen grauen Blick von meinen Wangen zu lösen. „U-und die Fingernägel? Die Trichinopoly?“ Sofort schien Holmes einmal mehr in seinem Element zu sein, und erzählte mir, wie anhand einiger Kratzer an der Wand um das Wort „Rache“ auf die langen Nägel zu schließen war, und dass eine Ascheprobe vom Fußboden des Zimmers die Zigarre bewies. „Ich habe einmal eigens eine Untersuchung über Zigarrenaschen angestellt, eine Einzeldarstellung darüber verfasst. Ich darf kühn von mir behaupten, dass ich in der Lage dazu bin, jede Asche jeder bekannten Zigarren und Tabaksorte auseinanderzuhalten.“ Hätte ein anderer Mensch mir solch ein „Können“ aufgetischt, ich hätte ihn als dreisten Lügner abgetan und stumm belächelt. Doch Holmes glaubte ich es beinahe bedenkenlos. Ich begann, den Unterschied zwischen ihm und Gregson oder Lestrade zu begreifen. „Doch ein Indiz gibt mir zu denken und noch vermag ich nicht zu sagen, wo ich es einordnen soll.“ Ich hob erstaunt meine dichten Brauen, als ich in Holmes´ angestrengtes Gesicht sah. Ohne ein Wort der Bemerkung abzuwarten, fasste er mit einer seiner Hände unter seinen Mantel und zog einen schmalen, hübschen Goldring hervor. Erstaunt beugte ich mich vornüber und begutachtete das Schmuckstück. „Das sieht mir aus wie der Trauring einer Frau.“, mutmaßte ich. Holmes nickte und verstaute das Fundstück wieder vorsichtig in der Innentasche seines Filzmantels. „Eindeutig der einer Frau. Er lag neben Drebber auf dem Boden, ich fand ihn, als man seinen Körper abtransportierte. Mir schwebt eine Theorie vor, doch ich behalte sie für mich, bis ich sie untermauern kann.“ Plötzlich ruckte unsere Droschke und Holmes schickte sich an, auszusteigen. Etwas zerknautscht von der langen Fahrt trottete ich ihm hinterher und fand mich augenblicklich in einer der schmutzigsten und düstersten Straßen, die ich je sehen musste, wieder. Ich erschauderte über die klagenden Häuserruinen und den schmierigen, schwarzem Schmutz der Fassaden, doch Holmes zu meiner Rechten brannte sich seelenruhig eine Zigarette an und sprach mir aufmunternd zu. „So. Nun denn, das Horn der Arbeit ruft. Doch wir müssen uns beeilen, ich möchte noch heute Nachmittag in die Konzerthalle, Norman Nerude hören!“ Somit schritt er schnell und leichtfüßig an mir vorbei in Richtung eines schmalen Durchgangs, der zum Audley Court führen sollte. Ich schüttelte den Kopf und lächelte ungläubig. Holmes war ein wahres Paradoxon. Im einem Moment ein Arbeitstier, versessen auf den Fall und ohne einen privaten Gedanken auch nur zulassend - Und im nächsten Augenblick voller Vorfreude auf irgendein Konzert, Schauspiel oder eine dieser skurillen Kunstausstellungen, die er so liebte. Der Name „Audley Court“ mochte schön geklungen haben, doch der eigentliche Platz, wenn man ihn denn so nennen mochte, war mehr als ernüchternd. Wir befanden uns auf einem rechteckigem Hof, der mit Steinplatten gepflastert und umsäumt war von engen, schäbigen Wohnhäusern. Zielstrebig gingen Holmes und ich zwischen Gruppen schmutziger, spielender Kinder und an einigen Wäscheleinen behangen mit vergilbter Bettwäsche vorbei, geradewegs zur Hausnummer 46, an deren kleiner Tür ein rostiges Messingschild mit der Gravur „Rance“ prangte. Das Hausmädchen erzählte uns, der gute Mann schliefe. Wir wurden also in ein enges, kleines Wohnzimmer bugsiert – wo wir auf einem alten, abgenutzten Sofa Platz nahmen - und waren angehalten, dort auf Herrn Rance zu warten. Kurze Zeit später erschien der Polizist auch schon, sichtlich genervt und ungesund blass. „Ich habe meinen Polizeibericht abgegeben.“ Schnauzte er in meine Richtung, vermutlich weil ich nicht so bedrohlich wirkte wie mein Gefährte, der immerhin gut zwei Köpfe größer war als Rance. Holmes aber ließ sich nicht beirren und holte langsam und spielerisch einen halben Sovereign aus seiner Hosentasche, rieb ihn nachdenklich zwischen Daumen und Mittelfinger, sah den Polizisten mit einer Unschuldsmiene von unten herab an. Das Gezetere Rance´s erstarb sofort. „Ich wollte es noch einmal von Ihnen persönlich hören, wenn es keine Umstände macht..?“ Sofort hellte sich die Miene des Polizisten auf und er rieb geschäftstüchtig seine Hände aneinander. „Aber, nein! Nein! Natürlich macht das keine Umstände! Keine Umstände!“ Ich war ein wenig davon angeekelt, mit welch unverhohlener Gier der Mann das goldene Plättchen in Holmes Händen anstierte, als er sich Holmes Gegenüber auf das Roßhaarsofa niederließ. „Sehr schön. Erzählen Sie mir einfach mit Ihren Worten, wie sich alles abgespielt hat.“ Rance holte tief Luft und sah angestrengt aus, als würde er um keinen Preis ein Detail vergessen wollen. „Ich erzähle es Ihnen von Anfang an. Wie Sie vielleicht schon wissen, dauert meine Dienstzeit von zehn Uhr Nachts bis circa sechs Uhr Morgens. Um elf gab es da diese Schlägerei im White Hart, doch ansonsten war die Schicht ruhig verlaufen. Um ein Uhr morgens setzte dieser verdammte Regen ein und ich schwatzte eine Weile mit Harry Murcher, der das Holland Grove-Revier hat, an der Ecke zur Henrietta Street. Ungefähr um zwei beschloß ich, einmal in der Brixton Road nach dem Rechten zu sehen. Die Straße war dunkel und schlammig, weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Ich bummelte also recht langsam die Straße entlang, als mir plötzlich ein heller Lichtschein ins Auge fiel. Und da ich nun wußte, dass besagtes Haus schon seit mehreren Monaten leersteht, war ich augenblicklich dazu alarmiert, einmal nach dem Rechten zu schauen. An der Haustür angekommen-“ „Sie sind zum Gartentor zurückgelaufen, ich weiß. Warum taten Sie das?“ Rance sprang von dem Sofa auf, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen, sein Gesicht war noch weißer als zuvor, er starrte Holmes argwöhnisch an. Dieser war vollkommen gefasst und blickte gelassen und emotionslos drein. Rance beruhigte sich wieder und ließ sich behutsam auf die Sofakante sinken. „Ja, ja genau, das tat ich. Nur Gott weiß, woher Sie das wissen. Sehen Sie, als ich dort stand, vor diesem einsamen Haus, dachte ich, es könne nicht schaden, jemanden bei mir zu haben. Ich kann von mir behaupten, nichts irdisches zu fürchten, doch mein angsterfüllter Gedanke, es könne dieser Kerl sein, der an Thypus gestorben war und nun die Senkgruben untersuchte, die ihn umgebracht hatten, ergriff so von mir besitz, das ich an den Gartenzaun stürzte um zu schauen, ob Murchers Lampe irgendwo in Sicht war. Doch niemand war zu sehen, nicht eine Menschenseele.“ Holmes rieb gemächlich die Hände. „Wirklich? Die Straße war leer?“ Rance blinzelte ihn an. „Ja, ja, Sir. Nicht einmal ein Hund oder eine Katze war zu sehen.“ Der Blick des Detektivs schien ein wenig verstimmt, er sagte jedoch nichts. „Ich ging also zum Haus zurück und stieß die Türe auf. Es war ruhig im ganzen Gemäuer, also lief ich in das beleuchtete Zimmer. Ich sah-“ Holmes unterbrach Rance´ Ausführung mit einem ungeduldigem Knurren. „Mir ist bewußt, was Sie taten. Sie gingen mehrmals im Zimmer auf und ab, knieten sich neben den Leichnam, stürzten hinaus, versuchten die Küchentür zu öffnen und dann-“ „Himmel, Herr Gott!“ Rance war abermals aufgesprungen, diesmal aber solcherart heftig, das unsere Teetassen auf dem Tische einen Hüpfer taten. Der Polizist griff sich theatralisch an die Brust und musterte Holmes geradezu angsterfüllt. „Wo zum Teufel waren Sie versteckt, dass Sie all das wissen?!“ Er schrie Holmes an. „Mir scheint es, Sie wüßten einiges mehr, als Sie sollten!“ Holmes aber lachte rauh und warf Rance über den Tisch hinweg seine Visitenkarte zu. „Hier! Damit Sie mich am Ende nicht noch verhaften wollen! Ich bin einer der Bluthunde, nicht der Wolf, wenn Sie verstehen. Mr. Gregson und Mr. Lestrade können Sie über mich aufklären.“ Ich machte mir ernsthafte Sorgen um den Polizisten, der leichenblass und schwitzend wieder Platz nahm. Holmes forderte ihn auf, weiterzuerzählen und überraschenderweise tat er dies auch sofort. „Ich ging – oder besser, ich stürzte - zurück zum Gartentor und betätigte augenblicklich meine Trillerpfeife. Sofort kamen Murcher und zwei andere Kollegen herbeigeeilt.“ Holmes nippte elegant an seinem Tee. „War die Straße noch immer leer?“ Rance schnaubte missbilligend. „Nunja, zumindest von solchen, die halbwegs gerade gehen konnten!“ Ich bemerkte sofort die Wichtigkeit dieses Satzes, denn Holmes´ Augen weiteten sich kaum merklich und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Rance grinste ob seiner Erinnerung. „Ich habe in meiner Laufbahn manchen Betrunkenen gesehen, doch nie war einer so sternhagelvoll gewesen wie dieser Bursche, sage ich ihnen. Er lehnte an der Gartentür, er hing geradezu über ihr und sang in den höchsten Tönen von Columbines auffallend rotem Banner oder so etwas. Dieser Kerl konnte weder richtig stehen noch uns in irgendeiner Weise behilflich sein.“ Holmes gestikulierte wild mit den Händen und schien geradezu euphorisch. „Was für eine Art Mann war das?“ Rance runzelte die Stirn. „Eine außerordentlich betrunkene Art Mann. Normalerweise hätte er mit der Wache Bekanntschaft gemacht, wäre für uns nicht so viel zu tun gewe-“ „Sein Gesicht – Seine Kleidung – Haben Sie sich das nicht gemerkt?“ Holmes unterbrach unseren Informanten ungeduldig und grob. „Natürlich habe ich mir das gemerkt! Bei der Mühe, die Murcher und ich hatten, den langen Kerl aufrecht hinzustellen. Sein Gesicht war seltsam gerötet und mit einem Schal umwickelt.“ Holmes knirschte mit den Zähnen. „Was ist aus ihm geworden?“ Rance schien genervt. „Hören Sie, Mr. Holmes, ich habe wirklich besseres zu tun als Ihnen zu erzählen, was aus irgendwelchen Trunkenbolden geworden ist. Es gibt Wichtigeres-“ Unvermittelt schlug mein Gefährte mit seiner großen Faust hart auf den Stubentisch und beugte sich fast schon drohend zu Rance und mir herüber. Eine Tasse sprang von der Tischkante und zerschellte auf dem Holzboden. „Sie haben nicht zu entscheiden, was für MEINE Ermittlungen wichtig ist und was nicht! Also reden Sie, Kerl, oder ich werde einmal ein Wort mit ihren Vorgesetzten reden müssen!“ Holmes hatte nicht geschrieen oder eine sonstige Drohgebärde angewandt, doch Rance zog dennoch eingeschüchtert seinen hageren Kopf zwischen die Schultern. Selbst ich erschrak nicht wenig über diesen plötzlichen Ausbruch Holmes´. „I-Ich weiß nicht, was mit ihm geschah, Sir.“ Rance hatte nun kleinlaut und leise angefangen zu sprechen, Holmes verschränkte die Arme und taktierte ihn streng. „Er wird seinen Weg nach Hause gefunden haben, nehme ich an.“ „Wie war er gekleidet?“ Fragte der Detektiv, sich die Schläfen reibend. „Brauner Überzieher, Sir.“ „Und hatte er eine Peitsche in der Hand?“ Mr. Rance hob verwirrt eine Braue. „Eine Peitsche? Nein, hatte er nicht.“ Holmes grummelte etwas unverständliches, schien sich gedanklich Notizen zu machen. „Sie haben nachher keine Droschke gesehen und gehört?“ „Nein, Sir.“ Plötzlich stand Holmes auf, rieb sich erneuert die Schläfen und bließ verärgert durch die Nüstern, ehe er dem zusammengekauertem Rance den halben Sovereign zuwarf. Er griff nach seinem Hut und nickte mir zu, es war wohl Zeit zu gehen. In der Tür drehte Holmes sich noch einmal zu Mr. Rance ,dem Polizisten des Scotland Yard ,um. „Ich fürchte, Sie werden es nie weit bringen, Rance. Ihr Kopf ist für Denkarbeit ungefähr so nützlich wie diese Vase dort im Fenster. Hätten Sie auch nur eins und eins zusammenzählen können letzte Nacht, hätten sie heute schon ihren Sergeantstreifen. Der Mann, den Sie gestern in Händen hatten, ist der Schlüssel zu diesem Fall. Ihn suchen wir. Es hat keinen Zweck, Ihnen diese Tatsache genau zu erklären, ich sage ihnen nur, dass es so ist.“ Und damit schritt Sherlock Holmes würdevoll und ernst aus der kleinen Wohnung, ich folgte ihm staunend. Nie hatte ich etwas faszinierenderes gesehen als Holmes bei diesem Verhör. Seine Autorität imponierte mir und gleichzeitig fühlte ich mich unwohl neben ihm. Die Droschke wartete bereits auf uns und schweigend stiegen wir ein. Holmes setzte sich mir gegenüber und zündete sich eine starke Pfeife an, die mich leicht husten ließ. Das Gefährt ruckelte Leicht, als es zur Fahrt ansetzte und ich vermied es, in Holmes´ graue Augen zu sehen.“ Kapitel 9: Müde --------------- „ Die erste halbe Minute schwieg Holmes sich aus und versuchte, seine Unmut dadurch zu verbergen, dass er ungewöhnlich fest in den Hals seiner teuren Zederholzpfeife biss. Seine markanten Kieferknochen stachen hervor und seine hohe Stirn war in zornige Falten gelegt, während er mich glimpflich ignorierte um böse aus dem Fenster unserer Droschke zu starren. Er schwieg genau bis zu dem Zeitpunkt, in dem unser Gefährt in ein großes Schlagloch gelenkt wurde und Holmes´ Pfeife ihm aus der Hand und zu seinen Füßen hin fiel. Während er sich genervt nach ihr bückte, stieß er einen rüden Fluch aus und kaum saß er wieder aufrecht, begann er, ohne Punkt und Komma über unseren Informanten zu schimpfen. „Pah! Solchen Versagern gehört die Zulassung entzogen! Polizisten-Pack! Noch nie taugte auch nur einer von denen etwas! Stümpernder Narr! Man stelle sich vor dieser Mann stünde vor einem Fluß; was würde er nach Wasser schreien und schlußendlich verdursten!“ Ich empfand sein Geschimpfe als unflätig und keinesweges berechtigt, doch ich behielt einen kühlen Kopf und versuchte den Detektiven durch die Fragen, die mir auf der Zunge brannten, davon abzuhalten, sich in vollkommene Raserei zu reden. „Ich tappe in Dunkelheit, Holmes. Zwar passt die Beschreibung die Rance uns von dem Trunkenbold gab genau auf Ihre Mutmaßungen hinsichtlich des Täter – dennoch: Warum sollte ein Mörder an den Ort des Verbrechens zurückkehren – unmittelbar nach der Tat? Oder mag es daran gelegen haben, dass der Mann vollkommen schwachsinnig vor Rausch war?“ Holmes blinzelte mich zunächst ungläubig an, ehe sich seine Miene ein wenig aufhellte. Nur kurz lachte er über meine Theorie, ehe er mir Klarheit einschenken wollte. Immerhin etwas, dachte ich mir. „Nein, nein, Watson. Der Ring! Denken sie an den Trauring. Nur wegen ihm kam er zurück.“ Kaum hatte er das Schmuckstück erwähnt, hielt er es bereits wie ein Heiligtum zwischen seinen langen Fingern und sah es ehrfürchtig an. Ich fragte mich willkürlich, ob Holmes wohl schoneinmal verheiratet gewesen war? Ich wollte ihn später danach befragen. „Dieser Ring“, Holmes hielt ihn mir direkt vor mein Gesicht, „ist unser Köder; damit schnappen wir den Kerl. Ich kriege ihn, ich wette zwei zu eins darauf, dass ich ihn kriege.“ Für eine Sekunde sah ich ein solches Feuer in Holmes´ sonst so emotionsarmen Augen aufflammen, dass ich nicht anders konnte, als ihn für diesen Moment des Ehrgeizes die Hand zu schütteln und meine Unterstützung anzubieten. Holmes lachte und klopfte mir mit den Fingerkuppen leicht auf die Schulter. „Sehr gut, Watson. Einen Arzt an der Seite zu haben ist immer vom Vorteil. Außerdem muss ich mich bei Ihnen bedanken – ohne Sie hätte ich den Fall vielleicht nie angenommen und ich hätte die bisher schönste Studie meines Lebens wohl verpaßt. Eine ganz und gar schöne Studie, ja. Eine Studie in Scharlachrot, nicht wahr? Ausdrücke aus der bildenden Kunst eignen sich herrvoragend für solcherlei Dinge, nicht wahr? Da ist der scharlachrote Faden des Verbrechens, der sich durch die graue Strähne des Lebens spinnt – und meine – unsere! - Aufgabe ist es, ihn zu finden, aus dem Geflecht zu lösen und Zoll um Zoll aufzudecken. Aber jetzt erst einmal das Essen und dann zu Norman Neruda!“ Ich konnte nicht anders, als über diesen seltsamen Sinneswandel meines Gegenüber zu lächeln. Er erzählte mir viel über Norman Neruda, über ihre Bogenführung beim Violinenspiel, über ein Stück von Chopin, was sie ganz vorzüglich zu spielen schien, er sang es mir geradezu vor. Sein Redefluß stoppte nicht ein einziges mal und endete erst, als wir gemeinsam die Küche der Bakerstreet betraten, in der Mrs. Hudson bereits ihres Amtes waltete und wie ein Wirbelwind das Essen anrichtete. „Mr. Holmes, Mr. Watson! Sie beide sind genau rechtzeitig hier!“ Und damit tischte mir unsere Haushälterin einen großen, üppig gefüllten Suppenteller auf, für den ich mich überschwänglich bedankte, schließlich hatte ich an diesem Tage noch so gut wie nichts zu mir genommen. Holmes, der soetwas wie ein Hungergefühl gar nicht erst zu verspüren schien, betrachtete argwöhnisch die Suppe und stocherte mit seinem Löffel lustlos darin herum. Mrs. Hudson saß ihm gegenüber und beobachtete sein kindliches Verhalten mit Argusaugen. Mir hatte sie ein paar Tage zuvor erzählt, sie mache sich schreckliche Sorgen um Holmes, da dieser zu wenig und zu unregelmäßig esse, was ich so unterschreiben konnte. Seine Hauptnahrungsmittel waren unweigerlich Tabak, Kaffee und gelegentlicher Alkohol. „Nun kommen Sie Holmes, ein wenig müssen Sie einfach essen. Schauen Sie, Mr. Watson nimmt sich nun schon zum dritten mal Nachschlag!“ Peinlich berührt registrierte ich Holmes´ musternde Blicke von der Seite und lief rot wie eine Tomate an. „Das sieht man.“ Sagte Holmes trocken. Er hatte in der Tat einen mehr als wunden Punkt getroffen und ich blaffte ihn gekränkt an. „Wenigstens sehe ICH nicht aus wie eine zu dünne Kalkwand mit brüchigen Fingernägeln und grauem Haar!“ Wütend verschränkte ich die Arme vor der Brust und erwartete das Schlimmste. Ich wußte, Holmes war eitel, sehr sogar. Während ich allmorgendlich noch im Bett lag und nichteinmal daran dachte, aufzustehen, stand der Detektiv bereits im Bad und bereitete sich darauf vor, mich vollkommen perfekt hergerichtet am Frühstückstisch zu begrüßen. Der erwartete Ausbruch kam nicht, stattdessen griff Holmes wortlos zu seinem Löffel und aß seinen Teller leer, bis auf den letzten Tropfen, ohne jegliche Widerworte. „Na also, geht doch.“ Lobte ich mich innerlich selbst. Mrs. Hudson strahlte mich geradezu an und fragte Holmes zuckersüß danach, ob er nicht vielleicht einen Nachschlag wünsche, welchen er dankend ablehnte. Ich musste schmunzeln darüber, wie mütterlich Elisabeth Hudson meinen Mitbewohner behandelte. Und noch viel erstaunlicher war, dass Holmes dies geradezu unkommentiert zuließ. Kopfschüttelnd reichte ich Mrs. Hudson meinen Teller und humpelte müde die Wendeltreppe zu unserem Wohnzimmer hinauf. In mein Schlafzimmer schaffte ich es nichtmehr, ich ließ mich ausgelaugt auf das große, schwarze Sofa neben dem Kamin fallen. Dieser Vormittag war unweigerlich der zermürbenste der sämtlichen letzten Monate gewesen, soviel stand fest. Noch immer spukten die Bilder des toten Drebbers vor meinem inneren Auge umher und ich versuchte krampfhaft, auf andere Gedanken zu kommen. Dass Holmes das Wohnzimmer betrat und sich eine Zigarette anzündete, bekam ich nur am Rande mit. Nach ein paar Minuten verfiel ich in einen albtraumgeplagten, ruhelosen Schlaf, aus dem ich schlußendlich schwer atmend und schweißgebadet erwachte. Ein desorientierter Blick zum Fenster sagte mir, es musste bereits spät am Abend sein. Mein Nacken war steif und mein Bein brannte wie Feuer. Stöhnend rieb ich mein Gesicht zwischen den verschwitzten Handflächen. „Hatten sie schlimme Albträume, Doktor?“ Erschrocken fuhr ich zusammen und realisierte, das Mrs.Hudson die gesamte Zeit über neben dem Sofa gesessen und mich beobachtet hatte. Ihr Gesicht wirkte warmherzig und mütterlich durch die dunklen, weichen Schatten, die das Kaminfeuer auf es legte. „Nunja, ich hatte schon schlimmere, alles in Ordnung.“ Beschwichtigend drückte ich die zarte, runzlige Hand, die Mrs. Hudson auf mein Knie gelegt hatte. Sie lächelte sanft und reichte mir eine Tasse starken, süßen Tee . „Wissen Sie, Mr. Holmes machte sich Sorgen um ihr Befinden. Deshalb bat er mich, ein wenig über sie zu wachen, während sie schlafen. Doch das hätte er mir nicht sagen müssen, hätte ich ohnehin getan.“ Ich schlürfte vorsichtig das heiße Getränk und blinzelte die Greisin ungläubig an. „Sorgen machte er sich? Das kann ich mir schlecht vorstellen, um die Wahrheit zu sprechen.“ Mrs. Hudson lachte leise und stand auf, schickte sich, zu gehen. In der Tür noch drehte sie sich zu mir um. „Er mag es vielleicht nicht sagen, aber ich spüre, dass er sich sorgt. Holmes erscheint mir manchmal ein wenig wie mein Sohn, vielleicht habe ich ihn deshalb so gern hier.“ Und damit schloß Elisabeth Hudson die leichte Tür hinter sich und überließ mich meinen Gedanken. Ich kratzte mich ungläubig am Kopf und stand auf um mir die Müdigkeit aus den Beinen zu laufen. Am Abend war unser Wohnzimmer in der Tat sehr heimelig und ruhig, weshalb wir uns zu später Stunde fast außschließlich hier aufhielten. Humpelnd schritt ich zu dem Schreibtisch am hinterem Ende des Raumes, um mich in meinen gemütlichen Ledersessel fallen zu lassen. Pure Gewohnheit. Die große Wanduhr hinter mir schlug die zehnte Stunde und langam begann ich mich zu fragen, wo Holmes steckte. Fast wie aufs Stichwort bemerkte ich den Zettel auf dem – ungewöhnlich sauberen – Tisch und griff ungeniert danach, stand doch mein Name darauf. Tatsächlich war es eine an mich gerichtete Notiz von Holmes, in seiner ihm typischen, krakeligen Schrift gehalten. „Lieber Doktor“, schrieb er. „Ich habe Sie schlafen lassen und bin alleine zu Norman Neruda. Es könnte spät werden, räumen Sie doch bitte die Akten zurück in den Schrank. Holmes“ Kopfschüttelnd tat ich wie mir geheißen und stopfte unter Kraftanstrengung den unordentlichen Ordner voller Akten zurück in den haltlos überfüllten Schrank. Ich würde nocheinmal mit Holmes über seinen Sinn für Ordnung sprechen müssen. Während ich die Glastüren des klobigen Aktenschrankes wieder schloß, fiel mir ein Gegenstand auf dem Regalbrett des Schrankes ins Auge. Es war ohne Zweifel der Ring eines Mannes. Er schien Holmes zu gehören, schließlich liebte dieser extravagante Dinge und seine Vorlieben machten auch nicht vor Schmuck halt. Ohne auf mein beißendes Gewissen zu achten, hob ich das schwere Stück vorsichtig zwischen zwei Fingern näher zu meinen Augen und besah es genau. Es war ein silbener, klobiger Siegelring, der eindeutig schon einiges durchlebt hatte. Das – einst wohl sehr wertvolle – Silber war ein wenig speckig und die Farbe des Siegels blätterte ein wenig ab. Es war ein ,in einen Kreis gefaßtes ,großes „H“, welches umrandet war von einer dunkelgrünen und einer blutroten Kreishälfte, den Rand des Kreises bildete der eingravierte Satz: „ per crucem ad lucem“ „Durch das Kreuz ans Licht..“ flüsterte ich. Was mochte dieser Ring bedeuten. War er etwa-? „Ein Familienwappen, ganz genau.“ Mein schwaches Herz setzte für einen Moment aus , als ich mich ruckartig zu Holmes umdrehte. Vor Schreck ließ ich den Ring auf den Boden fallen, direkt vor Holmes´ Füße. Ertappt stammelte ich Entschuldigungen und Erklärungsversuche vor mich hin, mein Gesicht – einmal wieder – vor Scham gerötet. Holmes bückte sich langsam und hob den Ring weniger vorsichtig auf, als ich es mit einem Wappenring meiner Familie je getan hätte. Unachtsam warf Holmes das Erbstück auf das Regal zurück und sah mich emotionslos an. „Das muss ihnen nicht peinlich sein, Doktor. Es währe wesentlich schlimmer gewesen, hätten sie ohne meine Befugniss die Akten durchblättert. Der Ring ist mir nichts wert, weshalb ich ihn auch nicht trage.“ Ich hatte mich indessen wieder einigermaßen beruhigt und saß nun wieder in meinem Sessel. Mir war diese Situation recht unangenehm. Holmes schien ungewöhnlich fröhlich zu sein, geradezu ausgelassen. Sein Kragen war locker aufgeknöpft und seine weiße Satin-Fliege hing ihm Locker um den Nacken. Er ließ sich auf der anderen Seite des Schreibtisches sinken und zündete sich – wie gewohnt – eine seiner Pfeifen an. „Das Konzert war großartig, ein wahres Meisterstück.“ Paffte er, die alte Pfeife zwischen den Lippen. „ Vielleicht ist es doch so, wie Darwin sagte: Er behauptet, dass die Fähigkeit, Musik hervorzubringen und Gefallen an ihr zu finden, bei der Spezies Mensch längst vorhanden war, bevor die Fähigkeit zur Sprache erreicht wurde. Interessanter Gedanke, meine ich. Interessant und einleuchtend. Vielleicht werden wir deshalb von ihr so tief im Unterbewußtsein beeinflusst. Als wären dort in unseren Seelen undeutliche Erinnerungen an Melodien, die die Luft erfüllten, als unsere Welt noch in ihren Anfängen war. So oder so ähnlich.“ Holmes sah mich nach dieser – für ihn überraschend emotionalen – Rede stillschweigend an und sog den Tabakrauch genüsslich in sich ein. Ich registrierte einen süßlichen Geruch um ihn herum, den ich so noch nie wahrgenommen hatte, doch ich fragte nicht danach. „Ein..ein recht weitreichender Gedanke.“ durchbrach ich die seltsam unangenehme Stille. „Die Gedanken, die man hat, müssen so weit reichen wie die Natur, wenn man sie die Natur deuten sollen.“ Antwortete Holmes nicht weniger rätselhaft. Dann blinzelte er mich seltsam an. „Sie sehen immer noch sehr unerholt aus. Setzt ihnen das Ganze wirklich solcherart zu?“ Ich nickte bedrückt. „Verstehen Sie das nicht falsch, Holmes. Ich wünsche nichts mehr als ihnen bei diesem Fall helfen zu können, doch ich muss gestehen, das alles nimmt mich wirklich ziemlich mit.“ Mein nervöses Lachen hallte durch die gemütliche Stille unserer Wohnung. „Dabei müsste ich abgehärteter sein. Ich habe gesehen, wie meine Kameraden und Freunde zerfetzt wurden oder unter meinen Händen wegstarben – und ich habe dennoch nicht den Verstand verloren.“ Holmes seufzte wissend und klopfte mit dem Pfeifenkopf auf den hölzernen Schreibtisch. „An dieser Studie ist etwas rätselhaftes, etwas, das sie zum phantasieren bringt. Das ist vollkommen logisch und menschlich. Dort wo wo es nichts zum phantasieren gibt, gibt es auch kein Grausen.“ Das leuchtete mir ein und ich nickte zustimmend. Holmes lächelte kurz; das hieß, er zog einen Mundwinkel in die Höhe. Dann stand er auf, schritt zum Fenster und blickte auf die leere, finstere Bakerstreet. Sein Rücken strahlte eine ungeheure Energie aus und ich konnte diese eigentümliche, süße Duftnote bis zu mir wahrnehmen. Irgendwie machte sie mich noch schläfriger. „Legen Sie sich auf das Sofa, Watson.“ Ich sah auf. „Was? Wozu?“ Holmes blickte mich feixend über seine Schulter hinweg an. „Selbst ein Blinder könnte sehen, wie müde Sie sind. Legen Sie sich hin, ich spiele ihnen etwas vor.“ Etwas verdutzt fügte ich mich seinem Willen und ließ mich einmal mehr auf das – eigentlich sehr bequeme – Sofa nieder. Kaum hatte ich mich gelegt und meine braunen Augen geschloßen, ertönte auch schon der Klang von Holmes´ Violine und erfüllte den gesamten Raum. Er spielte eine langsame, einschläfernde Melodie, welche ich noch nie gehört hatte, doch sie war wunderschön. Ich wußte, dass Holmes ein Virtuos des Geigenspiels war, also improvisierte er höchstwahrscheinlich. Der emotionale, langsame Gesang der Violine vermischte sich mit dem gemächlichen Ticken unserer großen Wanduhr und ließ mich zunehmend benommener werden. Nach einiger Zeit, in der Holmes unablässlich für mich gespielt hatte, glitt ich endlich in einen tiefen, festen Schlaf. Und diese Nacht plagten mich keine Albträume. Kapitel 10: Wie eine Spinne --------------------------- „ Das erste, was ich hörte, als ich aus meinem tiefen Schlaf erwachte, war das Singen der Vögel vor unserem Wohnzimmerfenster. Das Licht der Morgensonne fiel gleißend und majestätisch durch die hohen Bogenfenster und flutete den Raum. Ich blinzelte benommen gegen die hellen Strahlen an und setzte mich auf. Zwar schmerzte mir mein Nacken noch immer ein wenig, doch ich war sichtlich erholt und auch meine Laune war wunderbar. Genüsslich streckte ich meine Glieder und warf einen Blick auf die Wanduhr mir gegenüber – es war bereits Acht Uhr. Gähnend rappelte ich mich hoch und richtete mein weißes Hemd, welches nach der Nacht auf der Couch seltsam verrutscht war. Ein jähes Geräusch hinter mir ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich verwirrt zu den Fenstern um und erblickte etwas erstaunliches: Sherlock Holmes saß, die Violine halb von seinem Schoß gerutscht und den Bogen noch in der Hand, in seinem Sessel vor den Fenstern und hatte den Kopf gegen die kühle Glasscheibe gelehnt. Er sah vollkommen entspannt aus – und er schnarchte kaum merklich. Noch nie hatte ich den Detektiven schlafend gesehen und ich denke, ich wußte auch, warum. Seine Eitelkeit und seine gesamte Denkweise verboten es ihm, vor irgendjemandem Schwäche oder Angriffsfläche zu zeigen. Und für Holmes selber schien sein leicht geöffneter Mund oder seine kindliche Schlafhaltung bereits Angriffsfläche genug. Er wollte stets unnahbar und Perfekt vor anderen Menschen erscheinen. Ich verkniff mir ein Kichern (Eine Welt für einen Fotografen) und schlich mich in unser Badezimmer. Nachdem ich meine Morgentoilette vollzogen hatte und mich auf den Weg in die Küche machen wollte, bemerkte ich, dass mein Mitbewohner nicht mehr am Fenster saß und schlief. Ein Blick in Richtung seines Arbeitszimmers, aus dem halblautes Gemurmel und Gefluche zu vernehmen war, sagte mir, das ihm die ganze Situation nicht zu gefallen schien. Ich zuckte nur kurz mit den Achseln und lief gut gelaunt herunter in die Küche. Wider Erwarten war Mrs. Hudson nicht unten anzutreffen, ein kleiner, fein säuberlich beschriebener Zettel der auf dem Esstisch lag, gab Auskunft über ihre Abwesenheit. „Ein paar wichtige Besorgungen, hm?“ Murmelte ich, mir durch die Haare streichend, als ich meinen Blick durch die geräumige Küche schweifen ließ. Nun gut, musste eben jemand anderes für Frühstück sorgen. Und dieser Jemand würde ich sein, denn freiwillig würde ich Holmes bestimmt nicht kochen lassen. Etwa eine halbe Stunde später hatte ich unbeholfen etwas Rüherei mit Speck fertig gebracht. Gerade stellte ich für Holmes und mich den Kaffee auf den Tisch, als selbiger leichtfüßig wie immer zur Küchentür hereinkam und mich mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen im Blick ansah. „Also, Doktor, wirklich, Sie überraschen mich.“ Ohne Umschweife ließ er sich auf seinen Platz sinken und nahm einen großen Schluck des brühend heißen Kaffees. Ihn schien die Temperatur jedoch nicht zu stören. „So einen verdammt starken Kaffee kocht man wohl nur bei der Armee, schätze ich.“ Peinlich berührt lachte ich. „Nunja,er war auch wirklich notwendig,“ Der Detektiv erwiderte nichts und stocherte argwöhnisch im Ei herum. Er musste wohl meinen sauren Blick bemerkt haben, denn unvermittelt nuschelte er: „Nunja, etwas zu probieren kann ja vielleicht nicht schaden.“ Das Frühstück verlief sehr ruhig und entspannt, ich hatte die Vorkommnisse des letzten Tages beinahe komplett vergessen. Nicht aber Holmes, der die ganze Zeit angespannt war und wie auf glühenden Kohlen saß. Hastig beendete er seine Mahlzeit. Ich sah wie seine Hände vor Nervosität zu zittern schienen. „Ich möchte mich für das Essen bedanken, Watson. Nun muss ich aber los, noch einige Unternehmung müssen getätigt werden. Dieser Fall ist wirklich etwas ganz besonderes!“ Und mit diesen Worten hatte er sich auch schon seine Jacke gegriffen und war aus der Tür. Ein Blick auf seinen Teller verriet mir, dass er so gut wie nichts gegessen hatte. Etwas gekränkt über diese Abfertigung räumte ich den Tisch ab und überlegte mir, was ich nun mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte. Mal ein wenig durch die Stadt zu gehen erschien mir eine gute Option. Eine halbe Stunde später also fand ich mich im Getümmel des Londoner Stadtlebens wieder. Entspannt bummelte ich durch die Geschäftsstraßen und trank schließlich in dem Café meinen Tee, in dem ich vor einiger Zeit Peter Wilson wiedergetroffen hatte. Das alles schien mir nun so unwirklich, so weit entfernt, Obwohl es kaum acht Wochen her sein konnte. Mein gesamtes vorheriges Leben kam mir vor wie ein Schauspiel, das Leben eines Fremdens, das ich zwar erlebt, aber nie gefühlt hatte. Mein Fokus war verrutscht, verändert. Vor meinem Unfall in Afghanistan war ich mir sicher gewesen, mein Leben würde geradlinig verlaufen. Normal. Ich würde, geehrt und geschätzt ob meiner Arbeit, aus dem Kriege in die Heimat zurückkehren, dort eine Praxis eröffnen, ein hübsches Mädchen heiraten und so eine Familie gründen. Es würde alles in Ordnung sein, durchschnittlich, normal. So hatte ich es mir ausgemalt, damals. Heute, noch nicht einmal ein halbes Jahr später aber, schien mir all dies nicht nachvollziehbar, in weite, weite Ferne gerutscht. Anstatt einer Praxis, war ich nun Assistent – oder als was auch immer man mich bezeichnet haben möge – eines selbsternannten Detektives, mit dem ich gewisse Räumlichkeiten teilte. Und anstatt wie eine gespannte Schnur gerade und korrekt zu verlaufen, war mein Leben momentan eine einzige Berg-und Talfahrt, auf schwindelerregende Höhen folgten Momente der teuflischen Depression, auf Enthusiasmus folgte unsägliche Trägheit. Der einzige, feste Dreh und Angelpunkt meines turbulenten Lebens schien mir die 221b der Bakerstreet zu sein. Nicht allein ihre schützenden, festen Mauern und Räume, nein, auch ihre bemerkenswerten Bewohner, Mrs. Hudson und Mr. Sherlock Holmes, erschienen mir als einzigstes beständig, fest, wie ein Grundstein für ein neues Leben. Über solche und ähnlich schwermütige Dinge philosophierend, schlenderte ich noch einige Zeit durch die belebte, bunte Stadt mit ihrer hypnotisierenden Fülle an absonderlichen Gestalten, Paradiesvögeln, Armen und Reichen, Kindern, Greisen und Tieren. Nichts auf der Welt schien es hier nicht zu geben. Und gerade deshalb bezeichnete Holmes London mehr als einmal als Sammelbecken aller menschlichen Laster, als Sog aller Schandtaten und Verbrechen unseres Landes. Er sagte es nicht mit Abscheu oder Entrüstung. Sein Ausdruck war beim Sprechen solcher und ähnlicher Sätze stets erfüllt mit dieser seiner seltsamen Melancholie, die mir ein gewisses unbehagliches Gefühl verschaffte. In solchen Momenten fragte ich mich oft, ob dieser große, blasse Mann mit den ausdrucksstarken Augen eines Raubtieres auf der Pirsch wohl etwas zu verbergen hatte. Meine, meist sehr zuverlässige Intuition, sagte mir, dass es Dinge über Holmes zu erfahren gäbe, die er mir mit voller Absicht verschwiegen hatte, Dinge, die ich nicht erfahren sollte. Andererseits wusste ich zu diesem Zeitpunkt beim besten Willen nicht, was diese Geheimnisse hätten sein sollen. Denn auf mich wirkte Holmes stets wie ein ordentlicher, Gesetzestreuer – wenn auch etwas verschrobener – Gentleman, der im Großen und Ganzen keine schwerwiegenden Laster vorzuweisen hatte. Mein Spaziergang führte mich durch unzählige belebte Gassen, Parkanlagen und über Plätze, deren Namen ich mir alle nicht sonderlich gut zu merken wusste. Anders als Holmes, hatte ich nicht den gesamten Londoner Stadtplan im Kopf. Geographie zählte zu einer der Stärken meines Mitbewohners. Der aufmerksame Leser wird sich sicherlich noch an meine Schilderungen erinnern, in denen ich die Liste erwähnte, die ich zu Anfang über Holmes´ Talente führte. Tatsächlich gab es diese Liste, aber in Wirklichkeit hatte es mir einige Mühe bereitet, sie zu vervollständigen. Neben seiner natürlichen Gabe der Deduktion und seinem geradezu dramatischen Hang zur Teathralik war Holmes nicht nur ein Meister der Schauspielerei und der Tarnung, er pflegte auch sehr penibel die Angewohnheit, so wenig wie nur möglich seines Privatlebens gegenüber anderen preiszugeben. Bis auf sein Violinenspiel, welches er zu meiner Freude fast ausschließlich im Wohnzimmer anstimmte, verschloß er beinahe alle seine Habseligkeiten zunächst in seinem Zimmer. Zu mancher Zeit quoll Rauch oder merkwürdiger Dampf unter seiner Zimmertür hervor und ich wußte, er experimentierte erneuert mit seinen unzähligen Chemikalien, aber andere Hobbys konnte ich zunächst nicht oder nur schwer erkennen. Er war ohne Zweifel ein sehr belesener Mensch, was ich auch daraus schließen konnte, das er ständig und manche Tage nur in Zitaten sprach, seien sie nun Philosophischer, humoristischer oder biblischer Natur. Seine Akten und Bücher – so wußte ich – waren außerdem im Aktenschrank unserer Wohnstube eingeschloßen, auf den auch ich Zugriff hatte; vorrausgesetzt, Holmes gab mir den Schlüßel. Ab und an nahm er eines der gebundenen Stücke heraus und verbrachte die nächste Zeit damit, versunken in seinem Lehnstuhl, ein Buch nach dem anderen zu lesen, ja, geradezu zu verschlingen. Oft waren es Sachbücher oder Berichterstattungen, manchmal aber auch komplizierte philosophische Werke oder Romane, wobei er öfters betonte, dass er von letzteren nur bedingt etwas hielt. Das einzige Buch, welches ich nie bei ihm gesehen hatte, war die heilige Schrift – und das, obwohl Holmes wohl das gesamte Werk Gottes auswendig aufzusagen wußte. So wirkte Holmes auf mich die erste Zeit wie ein purer Denker, ein Kopfmensch, der nicht allzu viel von körperlicher Betätigung hielt. Ich muss gestehen das ich selbst stets zu dieser Sorte Mensch gehörte. Aber sein ungewöhnlich drahtiger, doch gut trainierter Körperbau verriet mir, das meine Erkenntnis nur die halbe Wahrheit war. Und um meine – mir angeborene, fast unersättliche – Neugierde zu stillen, begann ich, ihm dann und wann auf seinen geliebten Spaziergängen nachzuschleichen. Holmes tat für gewöhnlich einen langen, ausgedehnten Spaziergang am Abend, von dem er stets in bester Laune und neuer Tatkraft zurückkehrte. Ihm bei diesem Spaziergang zu verfolgen aber widerstrebte mir. Mein Anstand und meine Manieren verbaten es mir, da ich vermutete, Holmes würde sich während seiner Gänge mit einer Frau treffen. Also folgte ich Holmes so unauffällig wie nur möglich , wenn er dann und wann Mittags das Haus verließ, um sich in der Stadt die Zeit zu vertreiben. Oft trug er zu diesen Ausgängen eine schwarze, längliche Tasche bei sich, die meine Neugierde nur noch mehr anstachelte. Eines Tages also, als ich Holmes in sicherer Entfernung, mit tief in das Gesicht gezogenem Hut und hochgeschlagenem Kragen, folgte, sah ich wie er mit seiner Tasche in ein kleines, mir unbekanntes Gebäude abbog. Fast am zerbersten vor Erwartung schlich ich meinem Mitbewohner durch die vielen, dunklen Gänge nach, bis ich ihn schließlich aus den Augen verlor. Enttäuscht wollte ich mich damals schon auf den Rückweg begeben, als ich seine Stimme aus einem der Räume hören konnte, gefolgt von einem Klirren wie von Metall. Zu meinem Glück war die Tür zu der kleinen Halle nur angelehnt und es gelang mir, sie unauffällig einen Spalt breitzu öffnen, um hinein zu linsen. Drinnen sah ich Holmes, der, nun nur noch in Hemd und Hose gekleidet, gerade einen jungen Mann mit dem Florett in die Mangel nahm. Ohne eine Miene zu verziehen schlug der Detektiv dem jungen Adelsmann seinen Degen innerhalb ein paar weniger Sekunden aus der Hand und lächelte ihm süffisant entgegen. Der junge Blondschopf trug seine Niederlage mit Fassung, schritt auf Holmes zu und drückte ihm gönnerisch die große Hand. „Sie haben sich dieses mal besser geschlagen, Mr.Warrold. Achten Sie aber auf ihre Deckung, Sie sind zu offensiv.“ Holmes sprach zu dem Jüngling wie zu einem Schüler. Ich konnte nur schwer glauben, was ich dort sah. Das Gebäude, in dem ich mich befand, war allem Anschein nach eine kleine Fechtschule – und Holmes schien den rund zehn Schülern, die im hinteren Teil der Halle standen, zweifelsohne Unterricht zu geben. Ich beobachtete daraufhin, wie Holmes zwei weitere Männer um den Sieg brachte und war erstaunt über die Wendigkeit und Kraft meines Mitbewohners. Unter seinem noblen Hemd zeichnete sich ein Muskelspiel ab, welches wohl jeden Mann hätte grün vor Neid werden lassen und unwillkürlich fragte ich mich, ob Holmes wohl viele Verehrerinnen hatte. Nur noch ein paar wenige Minuten war ich dort gestanden, ehe ich ging um vor Holmes wieder in unserer Wohnung zu sein. Dieses Ereignis hatte mir gezeigt, das Holmes sowohl Intelligent, wie Belesen und Sportlich zugleich war. Und – wie hätte es anders sein können – blieb Holmes meine Spionage nicht unbemerkt. Kaum einen Tag später sprach er mich tatsächlich darauf an, ob ich das nächste mal nicht in die Halle kommen wolle, im Flur der Schule sei es immer so schrecklich kalt. In diesem Moment war mir tatsächlich alles aus dem Gesicht gefallen und Holmes musste ob meinem Schames nur müde lächeln. „Sie wissen, ich mag es nicht, wenn mir nachspioniert wird.“, Hatte er gesagt. „Aber ich will ihnen verzeihen – schließlich wollten sie nur ihre nette kleine Liste über meine Talente und Fähigkeiten vervollständigen, nicht wahr?“ Woher er von meiner Liste wußte, kann ich bis heute nicht recht sagen. Ich weiß nur, das diese ganze Situation mich sehr beschämte, also nickte ich schlicht und wich seinem brennenden Blicken aus. „Dann lassen Sie mich sehen, was sie da haben, mein bester.“ Und ohne ein Wort meinerseits abzuwarten, schnappte er mir mein Notizbuch aus der Hand und blätterte zielstrebig die Auflistung seiner Talente auf. Ein paar Momente las er meine Beobachtungen mit gerunzelter Stirn, ehe er beschwichtigend nickte, nach seiner Feder griff und begann, etwas zu meinem Schreiben zu ergänzen. Feixend reichte er mir mein Büchlein wieder. „Damit ich das nächste mal ohne Sie im Nacken zu haben ausgehen kann.“ Und so kam es, das ich viele seiner Begabungen und Fähigkeiten doch aus erster Hand erfahren durfte. Verblüfft sah ich aus meinen Grübeleien auf und fand mich vor dem Eingang unserer Wohnung wieder, ich musste wohl, ohne es zu merken, zurück gelaufen sein. Da es nun auch schon später Nachmittag war und ich ja sonst nichts mit mir anzufangen wusste, ging ich zurück in das alte Gemäuer, wo ich von Mrs. Hudson herzlichst mit einer köstlichen Suppe empfangen wurde. „Ist Holmes noch nicht zurück, Ma´am?“ Unsere Haushälterin sah mich warmherzig an. „Doch, doch. Er ist oben, aber er war in ganz sonderbarer Stimmung, als er wiederkam, Doktor. Manchmal sorge ich mich wirklich.“ Ihre Mundwinkel zuckten resigniert. Ich tätschelte mitfühlend ihren Arm. „Er muss Ihnen wirklich ans Herz gewachsen sein, nicht?“ Die ältere Dame schien einen Moment zu überlegen. „Nun, ich fürchte, Mr. Holmes hat nicht viele Leute, die sich um ihn sorgen, Doktor.“ Sie sprach leise, wisperte fast, erfüllt von einer merkwürdigen Traurigkeit, die ich nicht benennen konnte. „Und auch ich habe nicht viel..“ Sie senkte ihren Blick und sprach so leise, das ich es beinahe nicht gehört hätte. Ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten, lief sie aus der Küche und begann, die Schränke ihres Wohnzimmers zu entstauben. Nachdenklich blickte ich ihr hinterher, bis ich mich schlußendlich erhob und die schmale Wendeltreppe zu unseren Räumlichkeiten hinaufstieg. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer und erblickte Holmes, wie er, die Knie angezogen und mit einer kalten Pfeife im Mundwinkel, in seinem Sessel kauerte. Regungslos, unbeweglich, geduldig wie eine schlanke, schwarze Spinne schien er im Zentrum eines Netzes zu sitzen, dessen Größe ich nur erahnen konnte. Langsam drehte er seinen Habichtskopf in meine Richtung und sah mich unergründlich an, fast so, als störte ich ihn in seiner Melancholie. „Ah, Watson. Ich habe Sie erwartet. Wie war Ihr Lammragout im Knife&Fork? Nunja, sechs Schilling kann man entbehren. Viel kann man entbehren...“ Gedankenverloren fixierte er wieder die Wand ihm gegenüber, als hinge dort ein Bild, welches nur er zu sehen vermochte. „Zu viel kann man entbehren..“ flüsterte er, ehe er sich vornüberbeugte und fürchterlich hustete. Ein trockener, kratziger Husten. Er rauchte entschieden zu viel. „Holmes,“ Ich ging einen Schritt auf ihn zu, konnte meine ärztliche Sorge kaum unterdrücken. „Sie sind fürchterlich blass! Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“ „ Gestern Mittag, Sie erinnern sich?“ Ich stemmte säuerlich die Hände in die Hüften. „Ab jetzt werde ich besser auf Ihre Gesundheit acht geben, Holmes. Es geht so nicht. Sie werden nicht sehr alt werden, wenn Sie so weiterleben.“ Langsam, ganz langsam richtete Holmes seinen eisgrauen Blick wieder auf mich, der Glanz in seinen Augen war bitter und sein gesamter Ausdruck, als hätte er zu einer grausamen Erkentnis gefunden. „Und wenn schon, Watson?“ Er richtete den Blick wieder gen Wand, schlang seine zitternden Arme um seine Knie. „Vielleicht will ich auch gar nicht alt werden.“ Vollkommen bestürzt über solche Worte ging ich an dem Detektiven vorbei, ohne ihn anzusehen und zündete mir eine Zigarette an. Still rauchend stand ich am Fenster, welches ich leicht angekippt hatte und fragte mich, mit was für einem Menschen ich nun eigentlich zusammengezogen war. Ich weiß nicht, ob nur Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergingen, wie ich dort stand, wenn ich traute mich nicht recht, mich umzudrehen, zu große Furcht hatte ich davor, wieder in diese fürchterlichen, seltsam sehnsüchtigen Augen zu sehen. Nach einer Weile jedoch, brach Holmes das Schweigen. Er hatte hinter mir Licht entzündet und der Kamin brannte. Seine Stimme klang wieder klar und bestimmt, als wäre die Szenerie einige Augenblicke davor schlicht eine seiner kleinen Launen gewesen. „Nun, Watson.“ Begann er. „Mein Tag war gewiss nicht unnütz! Hier, nehmen Sie!“ Damit warf er mir unvermittelt den schmalen Goldring zu, den er gestern am Tatort vorgefunden hatte. Ich hatte ihn beinahe vergessen. „Und was soll ich damit, Holmes?“ Verduzt sah ich ihn an, der er vor mir stand und ungeduldig mit der Zunge schnalzte. „Sie behalten ihn und geben ihn unserem Besucher, der -“ Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Taschenuhr - „-in genau 15 Minuten hier eintreffen sollte.“ Dann lächelte er mich freundlich an und setzte sich erneuert in seinen ledernen Sessel. „Ja, aber was...? Holmes, wen erwarten wir denn? Und warum sollte ich den Ring hergeben?“ Eine direkte Antwort erhielt ich nicht, stattdessen war ein genervter Laut von Holmes zu hören, ehe er mir lustlos und unverschämt die Tageszeitung zuwarf. Bemüht, nicht aus der Haut zu fahren ob der seltsamen Stimmungsschwankungen meines Mitbewohners, sah ich mir die aufgeschlagene Seite – die Kleinanzeigen – genauestens an. Holmes hatte doch tatsächlich eine Anzeige unter meinem Namen verfasst in der der kostbare Ring als gefunden vermeldet war. Eigentlich wollte ich Holmes noch weiter zu seiner Tat befragen, doch ein Blick auf seine blasse, leicht zittrige Gestalt mit den glasigen Augen sagte mir, ich sollte es lieber darauf beruhen lassen. „Nehmen Sie ihre Dienstwaffe, Doktor,“ Der Detektiv hatte sich erneuert in seinem Sitz zusammengekauert und rieb mit seinen langen Fingern über seine geschwungenen, staubgrauen Brauen. Ohne Widerworte ging ich in mein Schlafzimmer und tat wie mir geheißen. „Der liebe Herr wird schon wissen, warum.“ Dachte ich nur bei mir. Ein paar Minuten später, genau wie es Holmes gesagt hatte, öffnete Mrs. Hudson unsere Wohnungstür und verkündete, ein Gast wäre für und eingetroffen und wünschte, mich zu sprechen. Schon wollte ich mich herunter in den Hausflur begeben, da gebot mir Holmes mit einer eleganten Handbewegung, mich nicht vom Fleck zu rühren. „Sagen Sie ihm, er soll doch bitte hier hoch kommen.“ Sprach Holmes an unsere Haushälterin gewandt. Sie nickte kurz und ich hörte nur noch ihre zarten, trippelnden Schritte auf der alten Holztreppe,, die sie wieder herunter zu unserem Gast brachten. Nervös und aufgeregt über das Unbekannte zupfte ich an meinen Manschetten herum und erntete spöttische Blicke seitens Holmes. Kaum ein paar Augenblicke später hörte ich erneuerte Schritte auf der Treppe, auch sie waren schwach und unregelmäßig. Und als die leichte Holztür zu unseren Räumlichkeiten sich öffnete, war ich wenig überrascht, einer kleinen, sehr alten Dame mit gekrümmten Rücken gegenüberzustehen, die mich großmütterlich anlächelte. Ich runzelte leicht die Stirn als ich Holmes´ vollkommen entgleißte Gesichtszüge wahrnahm. Er schien geradezu außer sich vor Erstaunen über diese alte Lady. „Sind Sie Doktor Watson, mein Herr?“ Die Stimme der Alten war kratzig und dünn, aber von unbestimmter Gutmütigkeit. „Ja, der bin ich, Ma´am.“ Geistesgegenwärtig nahm ich den feinen Ring aus meiner Brusttasche. „Und dieser hier ist Ihrer?“ Als die Greisin den goldenen Schmuck in meiner Hand sah, klatschte sie vor Freude ihre zarten, faltigen Hände aneinander und trippelte freundlich auf mich zu. „Ja, Sir, ja, gewiss. Wissen Sie, er gehört meiner lieben Tochter. Ihr Mann – oh er ist ein schrecklicher Bursche! Wenn er nur wüßte, dass sie ihren Ring verloren hatte – Gott wäre ihr gnädig! Sie sind auch erst seit kurzem verheiratet, er arbeitet bei der Marine, müssen Sie wissen – ein regelrechter Raufbold, nur Fusel und Weiber im Kopf-“ "Jetzt nehmen Sie den Ring und gehen!“ Erschrocken blickte ich auf. Holmes war von seinem Platz aufgesprungen und funkelte die alte Dame geradezu bösartig an. „Es tut mir leid, Ihre Anekdote unterbrechen zu müssen, Madame. Aber meine Zeit und die des Doktors ist wichtig und mir wäre es lieb, Sie nähmen jetzt dieses bezaubernde Ding -“ Er schritt leichtfüßig zur Tür und hielt Sie in einer spöttelnden Geste auf. „ - und verlassen dieses Haus. Ich danke Ihnen.“ Offensichtlich eingeschüchtert nickte die alte Frau mir ein letztes mal zu, ehe Sie – den Ring fest umklammert haltend, so schnell Sie konnte die kleine Treppe hinab und aus dem Haus stürzte. Ich drehte mich fassungslos zu Holmes um. „Was ist nur in Sie gefahren?! Haben Sie eine Ahnung, wie absolut unmanierlich Ihr Betragen gerade war?“ Doch scheinbar waren dem Angesprochenem alle Gardinenpredigten egal, er schnappte sich nur schnell seinen Mantel und einen Hut, warf mir ein kurzes „Bis später!“ zu und war aus der Tür. Resigniert schüttelte ich den Kopf, ehe ich mir eine starke Zigarre anzündete und begann, auf die Rückkehr des Mannes zu warten, der mir ein ewiges Mysterium bleiben sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)