Und am Anfang, da warst du... von abgemeldet (Sherlock Holmes and the Prisoners of Today (H/W)) ================================================================================ Kapitel 10: Wie eine Spinne --------------------------- „ Das erste, was ich hörte, als ich aus meinem tiefen Schlaf erwachte, war das Singen der Vögel vor unserem Wohnzimmerfenster. Das Licht der Morgensonne fiel gleißend und majestätisch durch die hohen Bogenfenster und flutete den Raum. Ich blinzelte benommen gegen die hellen Strahlen an und setzte mich auf. Zwar schmerzte mir mein Nacken noch immer ein wenig, doch ich war sichtlich erholt und auch meine Laune war wunderbar. Genüsslich streckte ich meine Glieder und warf einen Blick auf die Wanduhr mir gegenüber – es war bereits Acht Uhr. Gähnend rappelte ich mich hoch und richtete mein weißes Hemd, welches nach der Nacht auf der Couch seltsam verrutscht war. Ein jähes Geräusch hinter mir ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich verwirrt zu den Fenstern um und erblickte etwas erstaunliches: Sherlock Holmes saß, die Violine halb von seinem Schoß gerutscht und den Bogen noch in der Hand, in seinem Sessel vor den Fenstern und hatte den Kopf gegen die kühle Glasscheibe gelehnt. Er sah vollkommen entspannt aus – und er schnarchte kaum merklich. Noch nie hatte ich den Detektiven schlafend gesehen und ich denke, ich wußte auch, warum. Seine Eitelkeit und seine gesamte Denkweise verboten es ihm, vor irgendjemandem Schwäche oder Angriffsfläche zu zeigen. Und für Holmes selber schien sein leicht geöffneter Mund oder seine kindliche Schlafhaltung bereits Angriffsfläche genug. Er wollte stets unnahbar und Perfekt vor anderen Menschen erscheinen. Ich verkniff mir ein Kichern (Eine Welt für einen Fotografen) und schlich mich in unser Badezimmer. Nachdem ich meine Morgentoilette vollzogen hatte und mich auf den Weg in die Küche machen wollte, bemerkte ich, dass mein Mitbewohner nicht mehr am Fenster saß und schlief. Ein Blick in Richtung seines Arbeitszimmers, aus dem halblautes Gemurmel und Gefluche zu vernehmen war, sagte mir, das ihm die ganze Situation nicht zu gefallen schien. Ich zuckte nur kurz mit den Achseln und lief gut gelaunt herunter in die Küche. Wider Erwarten war Mrs. Hudson nicht unten anzutreffen, ein kleiner, fein säuberlich beschriebener Zettel der auf dem Esstisch lag, gab Auskunft über ihre Abwesenheit. „Ein paar wichtige Besorgungen, hm?“ Murmelte ich, mir durch die Haare streichend, als ich meinen Blick durch die geräumige Küche schweifen ließ. Nun gut, musste eben jemand anderes für Frühstück sorgen. Und dieser Jemand würde ich sein, denn freiwillig würde ich Holmes bestimmt nicht kochen lassen. Etwa eine halbe Stunde später hatte ich unbeholfen etwas Rüherei mit Speck fertig gebracht. Gerade stellte ich für Holmes und mich den Kaffee auf den Tisch, als selbiger leichtfüßig wie immer zur Küchentür hereinkam und mich mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen im Blick ansah. „Also, Doktor, wirklich, Sie überraschen mich.“ Ohne Umschweife ließ er sich auf seinen Platz sinken und nahm einen großen Schluck des brühend heißen Kaffees. Ihn schien die Temperatur jedoch nicht zu stören. „So einen verdammt starken Kaffee kocht man wohl nur bei der Armee, schätze ich.“ Peinlich berührt lachte ich. „Nunja,er war auch wirklich notwendig,“ Der Detektiv erwiderte nichts und stocherte argwöhnisch im Ei herum. Er musste wohl meinen sauren Blick bemerkt haben, denn unvermittelt nuschelte er: „Nunja, etwas zu probieren kann ja vielleicht nicht schaden.“ Das Frühstück verlief sehr ruhig und entspannt, ich hatte die Vorkommnisse des letzten Tages beinahe komplett vergessen. Nicht aber Holmes, der die ganze Zeit angespannt war und wie auf glühenden Kohlen saß. Hastig beendete er seine Mahlzeit. Ich sah wie seine Hände vor Nervosität zu zittern schienen. „Ich möchte mich für das Essen bedanken, Watson. Nun muss ich aber los, noch einige Unternehmung müssen getätigt werden. Dieser Fall ist wirklich etwas ganz besonderes!“ Und mit diesen Worten hatte er sich auch schon seine Jacke gegriffen und war aus der Tür. Ein Blick auf seinen Teller verriet mir, dass er so gut wie nichts gegessen hatte. Etwas gekränkt über diese Abfertigung räumte ich den Tisch ab und überlegte mir, was ich nun mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte. Mal ein wenig durch die Stadt zu gehen erschien mir eine gute Option. Eine halbe Stunde später also fand ich mich im Getümmel des Londoner Stadtlebens wieder. Entspannt bummelte ich durch die Geschäftsstraßen und trank schließlich in dem Café meinen Tee, in dem ich vor einiger Zeit Peter Wilson wiedergetroffen hatte. Das alles schien mir nun so unwirklich, so weit entfernt, Obwohl es kaum acht Wochen her sein konnte. Mein gesamtes vorheriges Leben kam mir vor wie ein Schauspiel, das Leben eines Fremdens, das ich zwar erlebt, aber nie gefühlt hatte. Mein Fokus war verrutscht, verändert. Vor meinem Unfall in Afghanistan war ich mir sicher gewesen, mein Leben würde geradlinig verlaufen. Normal. Ich würde, geehrt und geschätzt ob meiner Arbeit, aus dem Kriege in die Heimat zurückkehren, dort eine Praxis eröffnen, ein hübsches Mädchen heiraten und so eine Familie gründen. Es würde alles in Ordnung sein, durchschnittlich, normal. So hatte ich es mir ausgemalt, damals. Heute, noch nicht einmal ein halbes Jahr später aber, schien mir all dies nicht nachvollziehbar, in weite, weite Ferne gerutscht. Anstatt einer Praxis, war ich nun Assistent – oder als was auch immer man mich bezeichnet haben möge – eines selbsternannten Detektives, mit dem ich gewisse Räumlichkeiten teilte. Und anstatt wie eine gespannte Schnur gerade und korrekt zu verlaufen, war mein Leben momentan eine einzige Berg-und Talfahrt, auf schwindelerregende Höhen folgten Momente der teuflischen Depression, auf Enthusiasmus folgte unsägliche Trägheit. Der einzige, feste Dreh und Angelpunkt meines turbulenten Lebens schien mir die 221b der Bakerstreet zu sein. Nicht allein ihre schützenden, festen Mauern und Räume, nein, auch ihre bemerkenswerten Bewohner, Mrs. Hudson und Mr. Sherlock Holmes, erschienen mir als einzigstes beständig, fest, wie ein Grundstein für ein neues Leben. Über solche und ähnlich schwermütige Dinge philosophierend, schlenderte ich noch einige Zeit durch die belebte, bunte Stadt mit ihrer hypnotisierenden Fülle an absonderlichen Gestalten, Paradiesvögeln, Armen und Reichen, Kindern, Greisen und Tieren. Nichts auf der Welt schien es hier nicht zu geben. Und gerade deshalb bezeichnete Holmes London mehr als einmal als Sammelbecken aller menschlichen Laster, als Sog aller Schandtaten und Verbrechen unseres Landes. Er sagte es nicht mit Abscheu oder Entrüstung. Sein Ausdruck war beim Sprechen solcher und ähnlicher Sätze stets erfüllt mit dieser seiner seltsamen Melancholie, die mir ein gewisses unbehagliches Gefühl verschaffte. In solchen Momenten fragte ich mich oft, ob dieser große, blasse Mann mit den ausdrucksstarken Augen eines Raubtieres auf der Pirsch wohl etwas zu verbergen hatte. Meine, meist sehr zuverlässige Intuition, sagte mir, dass es Dinge über Holmes zu erfahren gäbe, die er mir mit voller Absicht verschwiegen hatte, Dinge, die ich nicht erfahren sollte. Andererseits wusste ich zu diesem Zeitpunkt beim besten Willen nicht, was diese Geheimnisse hätten sein sollen. Denn auf mich wirkte Holmes stets wie ein ordentlicher, Gesetzestreuer – wenn auch etwas verschrobener – Gentleman, der im Großen und Ganzen keine schwerwiegenden Laster vorzuweisen hatte. Mein Spaziergang führte mich durch unzählige belebte Gassen, Parkanlagen und über Plätze, deren Namen ich mir alle nicht sonderlich gut zu merken wusste. Anders als Holmes, hatte ich nicht den gesamten Londoner Stadtplan im Kopf. Geographie zählte zu einer der Stärken meines Mitbewohners. Der aufmerksame Leser wird sich sicherlich noch an meine Schilderungen erinnern, in denen ich die Liste erwähnte, die ich zu Anfang über Holmes´ Talente führte. Tatsächlich gab es diese Liste, aber in Wirklichkeit hatte es mir einige Mühe bereitet, sie zu vervollständigen. Neben seiner natürlichen Gabe der Deduktion und seinem geradezu dramatischen Hang zur Teathralik war Holmes nicht nur ein Meister der Schauspielerei und der Tarnung, er pflegte auch sehr penibel die Angewohnheit, so wenig wie nur möglich seines Privatlebens gegenüber anderen preiszugeben. Bis auf sein Violinenspiel, welches er zu meiner Freude fast ausschließlich im Wohnzimmer anstimmte, verschloß er beinahe alle seine Habseligkeiten zunächst in seinem Zimmer. Zu mancher Zeit quoll Rauch oder merkwürdiger Dampf unter seiner Zimmertür hervor und ich wußte, er experimentierte erneuert mit seinen unzähligen Chemikalien, aber andere Hobbys konnte ich zunächst nicht oder nur schwer erkennen. Er war ohne Zweifel ein sehr belesener Mensch, was ich auch daraus schließen konnte, das er ständig und manche Tage nur in Zitaten sprach, seien sie nun Philosophischer, humoristischer oder biblischer Natur. Seine Akten und Bücher – so wußte ich – waren außerdem im Aktenschrank unserer Wohnstube eingeschloßen, auf den auch ich Zugriff hatte; vorrausgesetzt, Holmes gab mir den Schlüßel. Ab und an nahm er eines der gebundenen Stücke heraus und verbrachte die nächste Zeit damit, versunken in seinem Lehnstuhl, ein Buch nach dem anderen zu lesen, ja, geradezu zu verschlingen. Oft waren es Sachbücher oder Berichterstattungen, manchmal aber auch komplizierte philosophische Werke oder Romane, wobei er öfters betonte, dass er von letzteren nur bedingt etwas hielt. Das einzige Buch, welches ich nie bei ihm gesehen hatte, war die heilige Schrift – und das, obwohl Holmes wohl das gesamte Werk Gottes auswendig aufzusagen wußte. So wirkte Holmes auf mich die erste Zeit wie ein purer Denker, ein Kopfmensch, der nicht allzu viel von körperlicher Betätigung hielt. Ich muss gestehen das ich selbst stets zu dieser Sorte Mensch gehörte. Aber sein ungewöhnlich drahtiger, doch gut trainierter Körperbau verriet mir, das meine Erkenntnis nur die halbe Wahrheit war. Und um meine – mir angeborene, fast unersättliche – Neugierde zu stillen, begann ich, ihm dann und wann auf seinen geliebten Spaziergängen nachzuschleichen. Holmes tat für gewöhnlich einen langen, ausgedehnten Spaziergang am Abend, von dem er stets in bester Laune und neuer Tatkraft zurückkehrte. Ihm bei diesem Spaziergang zu verfolgen aber widerstrebte mir. Mein Anstand und meine Manieren verbaten es mir, da ich vermutete, Holmes würde sich während seiner Gänge mit einer Frau treffen. Also folgte ich Holmes so unauffällig wie nur möglich , wenn er dann und wann Mittags das Haus verließ, um sich in der Stadt die Zeit zu vertreiben. Oft trug er zu diesen Ausgängen eine schwarze, längliche Tasche bei sich, die meine Neugierde nur noch mehr anstachelte. Eines Tages also, als ich Holmes in sicherer Entfernung, mit tief in das Gesicht gezogenem Hut und hochgeschlagenem Kragen, folgte, sah ich wie er mit seiner Tasche in ein kleines, mir unbekanntes Gebäude abbog. Fast am zerbersten vor Erwartung schlich ich meinem Mitbewohner durch die vielen, dunklen Gänge nach, bis ich ihn schließlich aus den Augen verlor. Enttäuscht wollte ich mich damals schon auf den Rückweg begeben, als ich seine Stimme aus einem der Räume hören konnte, gefolgt von einem Klirren wie von Metall. Zu meinem Glück war die Tür zu der kleinen Halle nur angelehnt und es gelang mir, sie unauffällig einen Spalt breitzu öffnen, um hinein zu linsen. Drinnen sah ich Holmes, der, nun nur noch in Hemd und Hose gekleidet, gerade einen jungen Mann mit dem Florett in die Mangel nahm. Ohne eine Miene zu verziehen schlug der Detektiv dem jungen Adelsmann seinen Degen innerhalb ein paar weniger Sekunden aus der Hand und lächelte ihm süffisant entgegen. Der junge Blondschopf trug seine Niederlage mit Fassung, schritt auf Holmes zu und drückte ihm gönnerisch die große Hand. „Sie haben sich dieses mal besser geschlagen, Mr.Warrold. Achten Sie aber auf ihre Deckung, Sie sind zu offensiv.“ Holmes sprach zu dem Jüngling wie zu einem Schüler. Ich konnte nur schwer glauben, was ich dort sah. Das Gebäude, in dem ich mich befand, war allem Anschein nach eine kleine Fechtschule – und Holmes schien den rund zehn Schülern, die im hinteren Teil der Halle standen, zweifelsohne Unterricht zu geben. Ich beobachtete daraufhin, wie Holmes zwei weitere Männer um den Sieg brachte und war erstaunt über die Wendigkeit und Kraft meines Mitbewohners. Unter seinem noblen Hemd zeichnete sich ein Muskelspiel ab, welches wohl jeden Mann hätte grün vor Neid werden lassen und unwillkürlich fragte ich mich, ob Holmes wohl viele Verehrerinnen hatte. Nur noch ein paar wenige Minuten war ich dort gestanden, ehe ich ging um vor Holmes wieder in unserer Wohnung zu sein. Dieses Ereignis hatte mir gezeigt, das Holmes sowohl Intelligent, wie Belesen und Sportlich zugleich war. Und – wie hätte es anders sein können – blieb Holmes meine Spionage nicht unbemerkt. Kaum einen Tag später sprach er mich tatsächlich darauf an, ob ich das nächste mal nicht in die Halle kommen wolle, im Flur der Schule sei es immer so schrecklich kalt. In diesem Moment war mir tatsächlich alles aus dem Gesicht gefallen und Holmes musste ob meinem Schames nur müde lächeln. „Sie wissen, ich mag es nicht, wenn mir nachspioniert wird.“, Hatte er gesagt. „Aber ich will ihnen verzeihen – schließlich wollten sie nur ihre nette kleine Liste über meine Talente und Fähigkeiten vervollständigen, nicht wahr?“ Woher er von meiner Liste wußte, kann ich bis heute nicht recht sagen. Ich weiß nur, das diese ganze Situation mich sehr beschämte, also nickte ich schlicht und wich seinem brennenden Blicken aus. „Dann lassen Sie mich sehen, was sie da haben, mein bester.“ Und ohne ein Wort meinerseits abzuwarten, schnappte er mir mein Notizbuch aus der Hand und blätterte zielstrebig die Auflistung seiner Talente auf. Ein paar Momente las er meine Beobachtungen mit gerunzelter Stirn, ehe er beschwichtigend nickte, nach seiner Feder griff und begann, etwas zu meinem Schreiben zu ergänzen. Feixend reichte er mir mein Büchlein wieder. „Damit ich das nächste mal ohne Sie im Nacken zu haben ausgehen kann.“ Und so kam es, das ich viele seiner Begabungen und Fähigkeiten doch aus erster Hand erfahren durfte. Verblüfft sah ich aus meinen Grübeleien auf und fand mich vor dem Eingang unserer Wohnung wieder, ich musste wohl, ohne es zu merken, zurück gelaufen sein. Da es nun auch schon später Nachmittag war und ich ja sonst nichts mit mir anzufangen wusste, ging ich zurück in das alte Gemäuer, wo ich von Mrs. Hudson herzlichst mit einer köstlichen Suppe empfangen wurde. „Ist Holmes noch nicht zurück, Ma´am?“ Unsere Haushälterin sah mich warmherzig an. „Doch, doch. Er ist oben, aber er war in ganz sonderbarer Stimmung, als er wiederkam, Doktor. Manchmal sorge ich mich wirklich.“ Ihre Mundwinkel zuckten resigniert. Ich tätschelte mitfühlend ihren Arm. „Er muss Ihnen wirklich ans Herz gewachsen sein, nicht?“ Die ältere Dame schien einen Moment zu überlegen. „Nun, ich fürchte, Mr. Holmes hat nicht viele Leute, die sich um ihn sorgen, Doktor.“ Sie sprach leise, wisperte fast, erfüllt von einer merkwürdigen Traurigkeit, die ich nicht benennen konnte. „Und auch ich habe nicht viel..“ Sie senkte ihren Blick und sprach so leise, das ich es beinahe nicht gehört hätte. Ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten, lief sie aus der Küche und begann, die Schränke ihres Wohnzimmers zu entstauben. Nachdenklich blickte ich ihr hinterher, bis ich mich schlußendlich erhob und die schmale Wendeltreppe zu unseren Räumlichkeiten hinaufstieg. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer und erblickte Holmes, wie er, die Knie angezogen und mit einer kalten Pfeife im Mundwinkel, in seinem Sessel kauerte. Regungslos, unbeweglich, geduldig wie eine schlanke, schwarze Spinne schien er im Zentrum eines Netzes zu sitzen, dessen Größe ich nur erahnen konnte. Langsam drehte er seinen Habichtskopf in meine Richtung und sah mich unergründlich an, fast so, als störte ich ihn in seiner Melancholie. „Ah, Watson. Ich habe Sie erwartet. Wie war Ihr Lammragout im Knife&Fork? Nunja, sechs Schilling kann man entbehren. Viel kann man entbehren...“ Gedankenverloren fixierte er wieder die Wand ihm gegenüber, als hinge dort ein Bild, welches nur er zu sehen vermochte. „Zu viel kann man entbehren..“ flüsterte er, ehe er sich vornüberbeugte und fürchterlich hustete. Ein trockener, kratziger Husten. Er rauchte entschieden zu viel. „Holmes,“ Ich ging einen Schritt auf ihn zu, konnte meine ärztliche Sorge kaum unterdrücken. „Sie sind fürchterlich blass! Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“ „ Gestern Mittag, Sie erinnern sich?“ Ich stemmte säuerlich die Hände in die Hüften. „Ab jetzt werde ich besser auf Ihre Gesundheit acht geben, Holmes. Es geht so nicht. Sie werden nicht sehr alt werden, wenn Sie so weiterleben.“ Langsam, ganz langsam richtete Holmes seinen eisgrauen Blick wieder auf mich, der Glanz in seinen Augen war bitter und sein gesamter Ausdruck, als hätte er zu einer grausamen Erkentnis gefunden. „Und wenn schon, Watson?“ Er richtete den Blick wieder gen Wand, schlang seine zitternden Arme um seine Knie. „Vielleicht will ich auch gar nicht alt werden.“ Vollkommen bestürzt über solche Worte ging ich an dem Detektiven vorbei, ohne ihn anzusehen und zündete mir eine Zigarette an. Still rauchend stand ich am Fenster, welches ich leicht angekippt hatte und fragte mich, mit was für einem Menschen ich nun eigentlich zusammengezogen war. Ich weiß nicht, ob nur Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergingen, wie ich dort stand, wenn ich traute mich nicht recht, mich umzudrehen, zu große Furcht hatte ich davor, wieder in diese fürchterlichen, seltsam sehnsüchtigen Augen zu sehen. Nach einer Weile jedoch, brach Holmes das Schweigen. Er hatte hinter mir Licht entzündet und der Kamin brannte. Seine Stimme klang wieder klar und bestimmt, als wäre die Szenerie einige Augenblicke davor schlicht eine seiner kleinen Launen gewesen. „Nun, Watson.“ Begann er. „Mein Tag war gewiss nicht unnütz! Hier, nehmen Sie!“ Damit warf er mir unvermittelt den schmalen Goldring zu, den er gestern am Tatort vorgefunden hatte. Ich hatte ihn beinahe vergessen. „Und was soll ich damit, Holmes?“ Verduzt sah ich ihn an, der er vor mir stand und ungeduldig mit der Zunge schnalzte. „Sie behalten ihn und geben ihn unserem Besucher, der -“ Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Taschenuhr - „-in genau 15 Minuten hier eintreffen sollte.“ Dann lächelte er mich freundlich an und setzte sich erneuert in seinen ledernen Sessel. „Ja, aber was...? Holmes, wen erwarten wir denn? Und warum sollte ich den Ring hergeben?“ Eine direkte Antwort erhielt ich nicht, stattdessen war ein genervter Laut von Holmes zu hören, ehe er mir lustlos und unverschämt die Tageszeitung zuwarf. Bemüht, nicht aus der Haut zu fahren ob der seltsamen Stimmungsschwankungen meines Mitbewohners, sah ich mir die aufgeschlagene Seite – die Kleinanzeigen – genauestens an. Holmes hatte doch tatsächlich eine Anzeige unter meinem Namen verfasst in der der kostbare Ring als gefunden vermeldet war. Eigentlich wollte ich Holmes noch weiter zu seiner Tat befragen, doch ein Blick auf seine blasse, leicht zittrige Gestalt mit den glasigen Augen sagte mir, ich sollte es lieber darauf beruhen lassen. „Nehmen Sie ihre Dienstwaffe, Doktor,“ Der Detektiv hatte sich erneuert in seinem Sitz zusammengekauert und rieb mit seinen langen Fingern über seine geschwungenen, staubgrauen Brauen. Ohne Widerworte ging ich in mein Schlafzimmer und tat wie mir geheißen. „Der liebe Herr wird schon wissen, warum.“ Dachte ich nur bei mir. Ein paar Minuten später, genau wie es Holmes gesagt hatte, öffnete Mrs. Hudson unsere Wohnungstür und verkündete, ein Gast wäre für und eingetroffen und wünschte, mich zu sprechen. Schon wollte ich mich herunter in den Hausflur begeben, da gebot mir Holmes mit einer eleganten Handbewegung, mich nicht vom Fleck zu rühren. „Sagen Sie ihm, er soll doch bitte hier hoch kommen.“ Sprach Holmes an unsere Haushälterin gewandt. Sie nickte kurz und ich hörte nur noch ihre zarten, trippelnden Schritte auf der alten Holztreppe,, die sie wieder herunter zu unserem Gast brachten. Nervös und aufgeregt über das Unbekannte zupfte ich an meinen Manschetten herum und erntete spöttische Blicke seitens Holmes. Kaum ein paar Augenblicke später hörte ich erneuerte Schritte auf der Treppe, auch sie waren schwach und unregelmäßig. Und als die leichte Holztür zu unseren Räumlichkeiten sich öffnete, war ich wenig überrascht, einer kleinen, sehr alten Dame mit gekrümmten Rücken gegenüberzustehen, die mich großmütterlich anlächelte. Ich runzelte leicht die Stirn als ich Holmes´ vollkommen entgleißte Gesichtszüge wahrnahm. Er schien geradezu außer sich vor Erstaunen über diese alte Lady. „Sind Sie Doktor Watson, mein Herr?“ Die Stimme der Alten war kratzig und dünn, aber von unbestimmter Gutmütigkeit. „Ja, der bin ich, Ma´am.“ Geistesgegenwärtig nahm ich den feinen Ring aus meiner Brusttasche. „Und dieser hier ist Ihrer?“ Als die Greisin den goldenen Schmuck in meiner Hand sah, klatschte sie vor Freude ihre zarten, faltigen Hände aneinander und trippelte freundlich auf mich zu. „Ja, Sir, ja, gewiss. Wissen Sie, er gehört meiner lieben Tochter. Ihr Mann – oh er ist ein schrecklicher Bursche! Wenn er nur wüßte, dass sie ihren Ring verloren hatte – Gott wäre ihr gnädig! Sie sind auch erst seit kurzem verheiratet, er arbeitet bei der Marine, müssen Sie wissen – ein regelrechter Raufbold, nur Fusel und Weiber im Kopf-“ "Jetzt nehmen Sie den Ring und gehen!“ Erschrocken blickte ich auf. Holmes war von seinem Platz aufgesprungen und funkelte die alte Dame geradezu bösartig an. „Es tut mir leid, Ihre Anekdote unterbrechen zu müssen, Madame. Aber meine Zeit und die des Doktors ist wichtig und mir wäre es lieb, Sie nähmen jetzt dieses bezaubernde Ding -“ Er schritt leichtfüßig zur Tür und hielt Sie in einer spöttelnden Geste auf. „ - und verlassen dieses Haus. Ich danke Ihnen.“ Offensichtlich eingeschüchtert nickte die alte Frau mir ein letztes mal zu, ehe Sie – den Ring fest umklammert haltend, so schnell Sie konnte die kleine Treppe hinab und aus dem Haus stürzte. Ich drehte mich fassungslos zu Holmes um. „Was ist nur in Sie gefahren?! Haben Sie eine Ahnung, wie absolut unmanierlich Ihr Betragen gerade war?“ Doch scheinbar waren dem Angesprochenem alle Gardinenpredigten egal, er schnappte sich nur schnell seinen Mantel und einen Hut, warf mir ein kurzes „Bis später!“ zu und war aus der Tür. Resigniert schüttelte ich den Kopf, ehe ich mir eine starke Zigarre anzündete und begann, auf die Rückkehr des Mannes zu warten, der mir ein ewiges Mysterium bleiben sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)