Und am Anfang, da warst du... von abgemeldet (Sherlock Holmes and the Prisoners of Today (H/W)) ================================================================================ Prolog: Staub verdeckt alte Sünden ---------------------------------- Prolog Und am Anfang war das Wort, so steht es geschrieben. Doch welches Wort? Macht? Geld? Gier? Leid? Tod? Und am Anfang war die Tat, so steht es geschrieben. Doch welche Tat? Unterdrückung? Raub? Mord? Totschlag? Quälerei? Und am Anfang war Gott, so steht es geschrieben. Doch – welcher Gott? Jahwe? Allah? „Gott“? Shiva? Odin? Thor? Die Antworten können zahlreich sein, nicht aber die Lösungen. Nur eine einzige Formulierung kann Antwort, wie auch Lösung sein. Und am Anfang – war die Liebe. Mr. Lestrade war immer schon ein ehrwürdiger Mann gewesen. Klein, hager und frettchenhaft war sein Äußeres, doch mutig und Tollkühn ein innerstes. Selbst noch als pensionierter Polizeikommissar pflegte er seine dienstlichen Angewohnheiten. Noch mit ergrautem Haar trug er stolz und Ehrwürdig seine Uniform, noch immer feindete er seinen ehemaligen Kollegen Gregson an, wie ein Hund eine Katz´. So saß er nun, nach etwas mehr als zwei Jahrzehnten Ruhestand, in gewohnter Manier an seinem Kaffeetisch und sinnierte über einen Fall, der sich wie eine dunkle, mächtige Gewitterwolke über seine Gedanken legte. Einen Fall, der seit etlichen Jahren ungeklärt war. Einen Fall, der ganz London mehr in Aufruhr versetzt hatte, als die Sprengung des Kriminellenringes Dr. Mariartys. Einen Fall, der ihn, Lestrade, mehr traf als alle anderen Polizeibeamten zusammen, schließlich ging es um gute Bekannte, ja, fast schon Freunde. Und obwohl nach mehr als 20 Jahren nun langsam alles in Vergessenheit geriet, konnte, oder besser wollte Lestrade nicht ruhen, ehe dieser besondere Fall nicht würde geklärt werden können. „Ich muss es selbst tun“, sprach Lestrade, rauh und brüchig, „wenn niemand anderes dazu bereit ist.“ Und so war der Entschluß gefasst; jetzt oder nie. Er striff sich seinen alten, abgewetzten Polizeimantel über, rief seiner Frau in der Küche zu, er würde vor Früh nicht zurück sein, und humpelte aus der Haustür. Seine sehnigen, faltigen Hände stützten sich haltsuchend an das Treppengeländer, als ihr Besitzer schwer atmend und voller Anstrengung in den marineblauen Augen realisierte, welches Alter er nun tatsächlich erreicht hatte. Er ließ eine Droschke rufen und war binnen einer halben Stunde am Ziel seiner Wünsche angelangt. Als der weißhaarige, braungebrannte Mann jedoch vor dem einst so warmen, einladendem Gebäude stand, überflogen ihn Schauer des Grauens und der Aufregung. Zu tief saß noch immer die Erinnerung an vergangenes Leid. Das Dach des alten Fachwerkhauses war ungewohnt moosig und verfallen, die Ziegel der Mauern abgewetzt und schmutzig. Die – einst so schön gepflegte – Holztür war nun umrankt von wildem Efeu und von Wind und Wetter stark beschädigt. Der Rasen wucherte über die kleine Steintreppe vor der Eingangstür und auf den Fenstersimsen nisteten die Schwalben. „Die Besitzer lassen es einfach verfallen“ dachte Lestrade zermürbt. Vorsichtig hinkte er die schmale Treppe zum Hauseingang hinauf und fand den rostigen, kleinen Ersatzschlüßel wie gewohnt dort vor, wo er immer gelegen hatte. Fahrig schloß er auf und hörte das nun verrostete Schloß scharf knacken, als er die Tür aufstieß. Einige aufgeschreckte Fledermäuse flogen wild kreischend aus der Haustür und der aufgewirbelte Staub zwang Lestrade dazu, sich ein Taschentuch vor das Gesicht zu pressen. „ Hätte ich nur eine Lampe mitgenommen.“ Fuhr es ihm durch den Kopf, als er die überaus morsche Wendeltreppe mit den 17 Stufen hinauf bis in das Wohnzimmer schritt. Im Zimmer angelangt stockte dem Ex-Kommissar der zittrige Atem. Obwohl in den Ecken Fledermäuse hingen, deren Vetter quiekend über den Boden rannten und eine unglaublich dicke Staubschicht alles bedeckte, schien der Raum noch genauso wie vor 20 Jahren. Das komplette Mobiliar war noch erhalten, selbst der Papierkorb war seitdem nicht ausgeleert worden. „Kein Wunder,“ Lestrade strich mit dem knochigen Finger eine Ladung Staub vom Schreibtisch in der hinteren Ecke des Raumes, „ Seit auch Sie nicht mehr ist, hat niemand mehr das Haus betreten. Und die neuen Besitzer, ihre Enkel, wollten alles so erhalten, genauso wie Sie es wollte.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ der Greis den Blick über die zwei Sessel neben dem Schreibtisch schweifen, über den alten, behaglichen Kamin, über die kaputte, steinalte Wanduhr, deren Glas gebrochen war und deren klaffender Schlund nun ein Nest von Tauben beherbergte. Lestrade schritt zitternd zum linken Nebenraum, dem Zimmer „..Wo es geschah..“ flüsterte der pensionierte heiser. Die Tür hing nur durch eine Angel gehalten im Rahmen und gab schnell den Blick auf den violetten, fleckigen Teppichboden des Zimmers preis. Hustend betrat Lestrade den Raum und versuchte, die riesigen Spinnen, die gemächlich die Wände auf und ab kletterten, zu ignorieren. Sein Blick wurde gefesselt von einer Stelle des Raumes, hinten, unter dem Fenster. Geschockt starrte Er auf den Fleck. Für einen Augenblick glaubte er, sie dort liegen zu sehen. Nebeneinander. Sherlock Holmes und Dr. John Hamish Watson. Vollkommen friedlich und bewegungslos, als würden sie schlafen. Doch sie waren tot. Vergiftet. Und die Polizei glaubte an Mord. Nur Lestrade nicht. Er wußte nicht, warum sie tot waren, ob es ein Unfall war, oder gar....etwas anderes. Doch er wußte sicher, dass dies kein Mord war, keine Tat eines dritten. Er fühlte es regelrecht. „Nun sind schon so viele Jahre vergangen,“ murmelte Lestrade aus glasigen Augen, sich an seinem Spazierstock festklammernd. „ich muss das Geheimnis um euren Tod lüften, eher kann ich nicht ruhen.“ Mit diesen Worten begann er, den Raum noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Das Fenster überhalb des Fundortes tauchte den Raum in milchig-gelbes Licht, so dreckverkrustet war es. Doch das reichte dem geübten Polizisten aus, um zu ermitteln. Sorgfältig untersuchte er das Bett, wendete die Laken- aus denen sogleich unzählige Spinnen und anderes Ungetier gekrochen kam - , untersuchte die Kissen und das Gestell. Er durchwühlte die Schränke, in denen noch immer Watsons Kleidung ordentlich aufgehängt hing. Nur ein Anzug fehlte: Sein geliebter schwarzer Samtanzug, sein bestes Kleidungsstück. Diesen hatte der Doktor angehabt, als man ihn tot neben Holmes auffand. Nach mehreren Stunden ergebnisloser Suche in der gesamten kleinen Wohnung verließ Lestrade langsam der Mut. Doch als er noch einmal in Watsons Schlafzimmer zurückkehrte, um seinen dort vergessenen Spazierstock zu holen bevor er ging, fiel ihm etwas auf: Das Bücherregal neben Watsons Bett, vollkommen unscheinbar. Er hatte es glatt übersehen. Lestrade wußte noch genau, welches Buch in welcher Reihe stand, so oft war er dieses Ding während den Ermittlungen damals durchgegangen. Der 80-jährige hockte sich vor das kleine Holzregal und zählte ab: „ Wilde, Oscar – Das Bildnis des Dorian Gray, Nr. 1. Edgar Allan Poe – gesammelte Werke, Nr. 2. Goethe – Faust, der Tragödie erster und zweiter Teil, Nr. 3 Und dann -“ Erschrocken stockte der Mann mit den glasig-blauen Augen. Das konnte nicht sein. Dort, zwischen „Faust“ und „Der Schimmelreiter“ - dort stand ein weiteres Buch. Er konnte es unmöglich übersehen haben, gerade damals nicht! Es war blutrot eingebunden, es schien förmlich zu leuchten, und eine edle, goldene Lesezunge hing oben heraus. Vorsichtig zog Lestrade das Schriftstück aus der hölzernen Reihe um es genauer in Augenschein zu nehmen. Im Gegensatz zu den anderen Werken war dieses erstaunlich gut erhalten. Der Einband war merkwürdig sauber und auch die zahlreichen Seiten wiesen keinerlei Flecken oder Verschlisse auf. Schnell atmend las Kommissar Lestrade den schwarz aufgedruckten Titel in der Mitte des Einbandes. „Die- die Bibel?“ Ungläubig strich der Greis mit dem Finger über das heilige Buch. Nie hätte er erwartet, hier einmal eine Bibel vorzufinden. Holmes hatte jede Form des Glaubens aus irgendeinem Grund strikt abgelehnt und auch Watson schien nicht wirklich gläubig gewesen zu sein, also was hätten sie mit einer Bibel gewollt? Neugierig schlug Lestrade das Buch auf und bließ verärgert die Nüstern auf. „So eine Frechheit..“ murmelte der alte Herr, als er die bedruckten Seiten betrachtete. Irgendjemand hatte Teile der Schrift mit roter Tinte durchgestrichen, darunter oder darübergeschrieben, an den Rand gekritzelt oder bestimmte Worte oder Sätze markiert. Die Handschrift kam dem Komissar im Ruhestand vage bekannt vor, trotzdem maß er dem Buch weniger an Bedeutung zu und wollte es wieder an seinen angestammten Platz zurückstellen, als das Schriftstück merkwürdigerweise nicht mehr zur Gänze in die Regalreihe passen wollte. Verwundert zog der weißhaarige das religiöse Buch wieder heraus und besah sich das Regal noch einmal genauer. „Das ist ja..!“ Vor Erstaunen und erregung weiteten sich Lestrades Augen, als er stürmisch und unachtsam die anderen Bücher aus dem Regal zog und hinter sich warf, um das Innere des hölzernen Möbelstückes genauer in Augenschein nehmen zu können. „Ein Geheimfach!“ Frohlockte er, in heller Aufregung um seinen Fund. Vielleicht, so dachte er, würde sich damit der Fall ein wenig klären können. Wie Recht er doch behalten sollte. Tatsächlich war genau in der Mitte, hinten an der Holzwand des Regales eine kleine, unscheinbare Ausbuchtung, seit über 20 Jahren unentdeckt. Mit fahrigen Bewegungen öffnete Lestrade das quadratische Kämmerchen an einer rostigen Schaniere, griff herein und seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er feststellen musste, das der scheinbar ziemlich große Hohlraum eine briefpapiergroße Schachtel enthielt. Mit rasant klopfendem Herzen zog er die Box heraus und hielt sie gegen das trübe Licht. Das Schächtelchen war länglich und relativ hoch. Es war von einem seidigen Stoff umwickelt und von Royalblauer, edler Farbe. Verknotet war es durch zwei goldene Schnüre, deren rote Einflechtungen selbst im schwachen Licht edel glänzten. Vorsichtig blies Lestrade den wenigen angesammelten Staub vom Deckel der Kiste, ehe er diesen ehrfürchtig und langsam öffnete. Mit zitternden Fingern betrachtete er das Innere der Box: Eine alte, doch unwahrscheinlich gut erhaltene Taschenuhr lag in der Mitte des Gefäßes, die goldene, schwere Uhrenkette schlängelte sich wie eine Natter durch das gesamte Innenleben der Schachtel. Neben der Uhr lag eine kleine, doch wunderschöne Anstecknadel; Die Brosche aus zartem Gold hatte die Form einer Rose, deren Blätter und Blüten durchzogen waren von winzigen, blau strahlenden Saphiren. Sicher war das Schmuckstück ein Vermögen wert. Lestrade tippte darauf, dass es einst einer der beiden Ehefrauen Watsons gehört haben könnte. Die Uhr und die Brosche ruhten auf einem samtenen roten Tuch dessen Ränder mit goldfarbener Spitze verziert waren. Behutsam nahm Lestrade die Fundstücke heraus und platzierte sie auf den Laken des Bettes neben ihm. „Dieses rote Tuch,“ der Komissar murmelte in die staubige Stille „scheint um etwas gewickelt zu sein. Na dann, lass uns einmal nachsehen, was sich dahinter verbirgt.“ Mit diesen Worten hatte er das Tuch vorsichtig aus der Schachtel gelöst, um einen Blick auf das Verborgene riskieren zu können. „Papier?“ Ein wenig überrascht holte Lestrade den starken Bogen aus feinstem Briefpapier heraus und besah ihn genauer. „Fein“ war in diesem Falle wohl doch ein wenig untertrieben. Das Papier war von einer samtigen, doch reißfesten Konsistenz und wieß aufwändige Verschnörkelungen an den Rändern und spitzebesetzte Kanten vor. Sein Weiß leuchtete als wäre es frisch aus der Druckerei und auch die edle, dunkelgrüne Tinte schien kein bisschen verblasst. „ Jede dieser Seiten ist vollständig beschrieben.“ Mr. Lestrade begann wie ein kleiner Schuljunge zu jubeln, als er die feine, schöne Handschrift erkannte: „Das ist eindeutig von Dr. Watson! Es muss eine Art Testament sein! Eine Hinterlassenschaft!“ Aufgeregt faltete er den Bogen und steckte ihn zusammen mit der Schachtel, dem Tuch, der Uhr, der Brosche und der Bibel in seine Tasche, nahm sich seinen Spazierstock und hastete aus dem Haus. Er bemerkte nicht die schemenhaften Schatten, die ihn beobachteten. Lestrade beschloß, den Rückweg zu Fuß anzutreten und holte das gebundene Schreiben aus seiner Tasche hervor. Er begann zu lesen, achtete nicht auf seine Umwelt. „ AN DIE NACHWELT“ War in großen, geschwungenen Buchstaben als Überschrift der vielen Seiten zu erkennen. Der Autor begann unter der Überschrift unverzüglich mit seinem Text, oder besser gesagt, der „EINLEITUNG“. „Einleitung..? Ist das etwa kein Testament?“ Murmelte der 80-jährige stirnrunzelnd. Verwirrt las er weiter: „Ich möchte diesen Text, diese Schrift an die Nachwelt richten, an die Polizei, an die Gesellschaft. Ich möchte nicht, - wir möchten nicht – dass die Behörden unseren nun eingetretenen Tod für die Tat eines dritten halten, denn das ist er nicht. Denn, ich, John H. Watson ,und mein Komplize ,Sherlock Holmes ,setzten unseren Leben selbst ein Ende. Doch bevor Sie, als Leser, uns zu vorschnell verurteilen, möchte ich, dass Sie meine – unsere – Geschichte lesen und begreifen, was uns zu dieser Tat bewegte.“ Schockiert starrte Lestrade wärend des Laufens immer wieder auf den Satz „Denn, ich, John H. Watson, und mein Komplize ,Sherlock Holmes, setzten unseren Leben selbst ein Ende.“ Er wollte es nicht glauben, doch innerlich hatte er es länger schon geahnt. „Nur,“ fragte er sich selbst gedanklich, „was bewegt hoch angesehene Männer wie Holmes und Watson zu solch einer Tat?“ Kopfschüttelnd las er weiter. „ Zu diesem Schreiben sei gesagt, dass es Geheimnisse über mich und Holmes offenbaren wird, die die Gesellschaft, wie sie heute ist – und noch lange sein wird – erst erfahren darf, wenn wir nicht mehr sind. Dieser Text dient mir – dient uns – als Vermächtnis, als Testament und als Befreiung. Damit unsere Seelen in Frieden ruhen können, war es notwendig, alles zu offenbaren, vielleicht auch als Mahnung. Als Zeichen dafür, was geschehen kann. Und noch immer geschieht, in dieser Zeit der stillen Unterdrückung.“ Lestrade konnte gar nicht glauben was er dort lesen musste. Unterdrückung? Inwiefern waren solch großartige Personen wie Holmes und Watson unterdrückt worden? Gerade sie genossen höchsten Respekt und alle Freiheiten, die Nicht-adeligen englischen Bürgern je zustehen konnten! Inzwischen war der Pensionar daheim angelangt und entfachte sich ein warmes, großes Feuer im Kamin seines Arbeitszimmers, in dass er sich zurückgezogen hatte um diese Nacht lang dieser letzten Erzählung des großen Doktor Watson zu lauschen. Um sicher zu gehen nicht gestört zu werden, schloss Lestrade sich ein, setzte seine beste Lesebrille auf, entzündete ein helles Licht über seinem Schreibtisch und breitete die Schrift sorgfältig vor sich aus. „So, alter Junge,“ sprach Lestrade euphorisch, die schwieligen Hände reibend, „mal sehen, was du mir zu erzählen hast!“ Und das Feuer sprühte wie zur Antwort große Funken, die blutrot glühend lange, scharfe Schatten warfen. Nur das weiße, schimmernde Briefpapier schien unberührt von ihnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)