All the Wrong Reasons von Xynn (... are they the Right Decisions?) ================================================================================ Prolog: Einleitung ------------------ Sind all die Entscheidungen, die wir aufgrund verschiedener Argumenten treffen, die Richtigen? Die Entscheidung, die wir gewählt haben, wäre diese endgültig? Ist das Leben schon in frühen Jahren genau festgelegt? Kann sich nichts Ändern? Doch, denn die Wahl begleitet uns ständig. Die Wahl etwas zu tun, was alles verändern kann, gutes wie schlechtes. Jeder hat ein Recht, ebenso wie Bedürfnisse, welche unter bestimmten Bedingungen manchmal zurück gestellt werden. Können die Bedürfnisse jedoch für immer zurück gestellt werden? Menschen sind keinesfalls Maschinen, es gibt bei Jedem einen Moment, indem er, egal welche Maske er in der Welt zeigt, er einfach nur er selbst ist, verletzlich... menschlich... Niemand bildet eine Ausnahme, ganz gleich wie perfekt die Fassade wirkt. Manchen gelingt es nicht hinter dieser Fassade zu blicken, da es makellos gespielt wird, oder ist es schlichtweg nur die Perfektion in der Unwissenheit? Naivität? Nun es ist ohne Belang, denn Gefühle besitzen wir alle, auch wenn diese tief verschlossen in uns wohnen. Zu glauben, man wäre gänzlich ohne jegliches Bedürfnis oder einer Sehnsucht, ist töricht. Welches Bedürfnis es ist, spielt keine Rolle, es könnte genauso der Wunsch nach etwas zu lesen sein, oder gar ein schlichtes Essen. Auch die Sehnsucht ergreift uns gelegentlich, sei es nur nach einem Gespräch mit jemand Anderem, einfach die Nähe zu einer weiteren Person. Das Wichtige ist, dass, egal wer es ist, er eben ein menschliches Geschöpf ist. Somit hat man immer die Wahl, ganz gleich wie hoch unser Alter schon voran geschritten ist. Doch die Frage ist; ist man bereit dazu, sein Bestreben auch weiterhin eisern zu verfolgen, wenn sich ihm die Gelegenheit nach mehr stellt? Wäre es nicht dumm abzulehnen? Oder hält man fest, an seiner Sichtweise, mit der Gewissheit, das Leben könnte erfüllender sein? Die Zeit wird es zeigen, ebenso werden es die Erlebnisse sein, die beweisen, ob es das Richtige oder Falsche ist. Nein, ob es der schwere oder leichte Weg ist, den man gewählt hat. Beide dieser Pfade bergen ihre Konsequenzen. Hier in dieser Geschichte möchte ich, die Autorin dieses kleinen Stücks, versuchen näher auf die Gefühle eines Menschen einzugehen, der mehr ist, als er vorgibt zu sein. Selbstverständlich ist nicht alles so korrekt wie es sein sollte, doch übe ich mich darin, es so echt wie möglich darzustellen. Diese Story wird viele Elemente enthalten und widme mich somit intensiv diesem Werk. Ich hoffe, ich werde L und seinen Fans gerecht. Dies war die Einleitung, nun folgt die lange beschwerliche Reise. Kapitel 1: Trauer und Abschied ------------------------------ Es brannte. Es brannte einfach nieder. Sie konnte es nicht glauben. Überall schmerzte es, dabei hatte sie das Gefühl ihr Herz zersprang in tausend Splitter. Ihr Haus stand in Flammen, unfähig etwas zutun fiel sie auf ihre Knie und vergrub ihr Gesicht in ihre Hände. Der Rasen war kalt als sie darauf zusammenbrach, währenddessen wurde alles schwarz. Hoffentlich hatte es ihre Familie geschafft. Sehr langsam öffneten sich ihre Augenlider. „Miss Suzuki...?“, kam es zögerlich von einer ihr unbekannten männlichen Stimme. Die Helligkeit war ungewohnt um sie herum, weshalb sie einige Male verwirrt blinzelte. Wo war sie? Das helle Licht blendete sie als sie versuchte in die Richtung zu sehen woher die Stimme stammte. Die Angesprochene kniff ihre Augen zu, zudem spürte sie furchtbare Kopfschmerzen. Was war nur passiert? Vor Schmerzen fasste sie sich an den Kopf, zeitgleich stöhnte sie auf. „Es freut mich, dass Sie endlich wach geworden sind, Miss Suzuki“ Es klang sehr freundlich, was sie jedoch nur weiter verwirrte. „Was... wo bin ich hier?“ Ihr Kopf fühlte sich an als ob er gleich explodieren würde, besonders als sie probierte sich zu erinnern. „Sie sind im Krankenhaus.“, hörte sie knapp diesmal. Nun schlug sie noch einmal die Augen auf, allmählich bekam alles Farbe. Sie erkannte einen Mann im Kittel; er war wohl zweifellos ein Arzt. Dieser lächelte sie überaus freundlich an. Krankenhaus? „Guten Morgen, möchte ich erst einmal zu Ihnen sagen. Sie sind hier im Merial Krankenhaus. Können Sie sich erinnern...?“, fragte er sie weiterhin freundlich. „Uh...“ Erneut versuchte sie sich zu erinnern, die Schmerzen meldeten sich. Der Arzt trat näher, dabei holte jener eine kleine Taschenlampe aus seinem Kittel heraus. Er fasste ihr unter die Augen, um sie weiter zu öffnen, und leuchtete hinein. Sie konnte sich nicht bewegen, es tat einfach alles weh. Kurze Zeit später ließ er von ihr ab. Schwach schüttelte sie ihren Kopf. Das Licht war sehr unangenehm gewesen. „Nein... ich habe keine Ahnung.“, flüsterte sie schon fast, damit diese furchtbaren Schmerzen nicht schlimmer wurden. „Was mache ich hier?“, brachte sie noch hervor. „Es tut mir Leid wenn ich es Ihnen sagen muss, aber...“ Der Arzt hörte sich sehr ernst an, auch schien er zu zögern. „Ihr Haus ist vor drei Tagen abgebrannt. Sie sind zusammengebrochen davor gefunden worden. Seitdem liegen Sie hier.“ Unverzüglich riss sie die Augen weit auf. Was?! „Geht es meinem Vater gut? Meiner Mutter? .... Meinem Bruder?“, folgten prompt die Fragen. Hellwach geworden, saß kerzengerade im Bett, dabei starrte sie den Arzt durchdringend an. Dieser senkte seinen Blick. „Ich muss Ihnen mein Bedauern aussprechen, sie sind alle im Feuer umgekommen.“ Ungläubig öffnete sich ihr Mund. Das... das konnte doch nicht wahr sein. Noch immer geschockt stierte sie den Arzt mit ihren dunkelgrünen Augen an. Nichts, gar nichts kam über ihre Lippen. Ihr Körper reagierte sofort, dieser begann stark zu zittern und schon lösten sich Tränen aus ihren Augen. Sie war alleine, ganz alleine auf dieser Welt. Niemand war mehr da, sie war jetzt eine Waise. Das war das Einzige was ihr durch den Kopf ging. Die Tage vergingen, das Zeitgefühl verschwand. Die Welt war in einem Nebel verhangen. Nichts nahm sie mehr wahr. Das leere Gefühl verstärkte sich mit jedem weiteren Tag, denn immer mehr wurde ihr bewusst, dass sie niemanden mehr hatte. Zu dieser Zeit klingelte an einem anderen Ort ein Mobiltelefon. Ein älterer Herr nahm den Anruf entgegen und schon kurz darauf weiteten sich dessen Augen ein Stück. Eine schockierende Nachricht hatte er soeben erhalten. Sofort wurde jemand im Raum aufmerksam, beobachtete still was vor sich ging, während er sich an seinem Lutscher erfreute. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Diese Annahme bestätigte sich schnell, als der alte Herr auflegte und für einen kurzen Moment inne hielt. Dieser wandte sich nun an den jungen Mann, welcher zu seiner Seite im Sessel saß – oder für die meisten Menschen, eher hockte. „Ich muss mit Ihnen etwas Wichtiges besprechen.“, begann der Grauhaarige und räusperte sich. Der Angesprochene blickte starr zu seinem Vertrauen auf, nahm den Lutscher von seiner Unterlippe. „Was gibt es?“, folgte es nach einer kleinen Pause. Offensichtlich war es eine ernste Angelegenheit, das konnte man dem alten Mann ansehen. Auch die Tonwahl ließ keinen Zweifel zu. Was alles daraufhin von seinem Vertrauten folgte, überraschte ihn. Wenn das tatsächlich der Wahrheit entsprach gab es keine Wahl – und doch musste seine Zustimmung dazu erfolgen. Es war ein gefährliches Unterfangen, doch war er dazu bereit das Risiko auf sich zu nehmen. Denn, deutlich konnte der Schwarzhaarige erkennen, dass der alte Herr ein großes Interesse daran besaß. Außerdem war es vielleicht eine nützliche Erfahrung. So war die Entscheidung gefallen. Zusammengekauert saß sie in einer Ecke, ihr Blick war ausdruckslos auf die Wand gegenüber gerichtet. Ihr Kopf ruhte auf ihren Knien, dabei fielen ihre schwarzen Haare über ihre Beine. Tränen hatte sie keine mehr und es war auch sinnlos weiter zu weinen. Sie fühlte keine Schmerzen mehr, es ließ sie alles kalt. Gedankenverloren stand sie auf, währenddessen schwankte sie bedächtig. Ihr Körper war sehr dünn geworden, denn aß sie seit Tagen nichts mehr. Sonst aß sie gerne, doch dieses Ereignis ließ ihren Appetit völlig verschwinden. Nichts brachte sie jetzt dazu etwas zu essen. Besonders da Morgen die Beerdigung ihrer Familie stattfinden sollte. Direkt musste sie sich auf ihr Bett setzen, ihr war schwindlig geworden. Wie schon oft sah sie sich um. Ein kleines Zimmer mit einem Bett. Der Ort an dem sie sich befand war ein Waisenhaus, jedoch würde sie nur kurzfristig in dieser Einrichtung wohnen, denn sie sollte abgeholt werden. Von einem Verwandten, von dem sie erst seit Gestern wusste, dass er existierte. Es machte sie wütend, einem Mann von dem sie nicht einmal wusste wie er hieß. Und die Tatsache, dass sie ab nun bei ihm Leben musste, verärgerte sie noch mehr. Da sie erst 16 Jahre alt war, musste es einen Vormund geben der auf sie aufpasste, bis sie wenigstens Volljährig war. Wo würde sie wohnen? Und würde sie sich mit ihm verstehen? Fragen über Fragen waren in ihrem Kopf. Die letzten Tage hatten sie sehr verändert. Doch war es zu erwarten gewesen. Wer blieb schon wie er war, wenn ihm alles genommen wurde? Sie wurde aus ihrer Gedankenwelt gerissen als es an ihrer Tür klopfte. Eine ältere Frau kam zum Vorschein, nachdem sich die Tür öffnete. „Shaelyn, möchtest du nicht mit zum Essen kommen?“, fragte diese sehr freundlich. Es war eine der Angestellten die in diesem Waisenhaus arbeiteten. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon Mittagszeit war. Die Schwarzhaarige seufzte. Sie wusste, die alte Dame würde nicht eher Ruhe geben, bis sie mitkam. Shaelyn hatte weder die Lust, noch die Kraft dazu, sich auf eine Diskussion mit ihr einzulassen. Sie stand vom Bett auf und ging mit der alten Frau auf den Flur. Diese lächelte sie nett an, wohl zufrieden Erfolg gehabt zu haben. Die Sonne blendete Shaelyn als sie auf den Flur getreten war, denn war sie die Dunkelheit sehr gewöhnt gewesen. Sie musste aussehen wie ein Nachtgespenst; bleiche Haut, lange schwarze Haare, spindeldürr und Augenränder, die von Schlaflosigkeit zeugten. Während sie neben der Frau herlief warf sie einen Blick in die Zimmer, deren Türen offen standen. Die Meisten waren leer, doch in einem bemerkte Shaelyn einen kleinen ungewöhnlichen Jungen. Er saß auf dem Boden und spielte mit Figuren, nichts Ungewöhnliches für sein Alter. Sie schätze ihn auf knappe zehn Jahre. Das Ungewöhnliche war seine Haarfarbe und wie er dort saß. Schnneeweiße Haare und er hatte ein Bein angewinkelt. Shaelyn schüttelte ihren Kopf, direkt danach richtete sie ihren Blick wieder nach vorn. Es wunderte sie, denn generell waren seltsame Kinder und Jugendliche in diesem Wohnheim. Zu denen sie jedoch keinen Bezug aufbauen wollte. Lange würde sie hier nicht bleiben. Endlich kamen sie am Essensaal an und sie nahm im großen Raum an einen rundlichen Tisch platz. Auf dem Stuhl neben ihr saß ein kleinerer Junge mit orangefarbenem Haar, der sich ordentlich mit Süßes vollstopfte. Shaelyn fragte sich ob er das denn überhaupt durfte, dabei fiel ihr auf, dass es nur irgendwas mit Schokolade war. Irritiert schüttelte sie erneut ihren Kopf. Wie konnte man so viel davon essen? Wurde ihm nicht schlecht? Sie sollte sich wirklich nicht mehr wundern. Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab und legte ihr Gesicht in ihre Hand. Zu viele gemischte Gefühle machten sich in ihr breit. Das verunsicherte sie stark. Mal war es unendliche Trauer, dann wieder die Wut, oder die Gleichgültigkeit. Sie wusste nichts mehr mit sich anzufangen. Ihr Leben fühlte sich geistlos an, ganz ohne Sinn. Wie oft hatte sie gelacht vor dem Unfall? Sie wusste es nicht mehr. Gab es überhaupt so eine Zeit, an dem sie soviel Spaß gehabt hatte? Sicherlich hatte sie diese gehabt. Ihr fielen all die Streitigkeiten mit ihren Eltern und ihrem Bruder ein, die nun so lächerlich waren. Warum hatte sie sich damals so aufgeregt? Tiefe Trauer erfüllte sie. Soviel Unsinn hatte sie mit ihrem, ein Jahr älterem, Bruder getrieben, oder sie spielten zusammen irgendetwas an der Konsole. Ihre Eltern hatten es häufig nicht einfach mit ihnen. Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Ja es war schön gewesen. Manchmal wünschte sie sich auch in dem Haus gewesen zu sein, dann wäre sie jetzt nicht alleine. Ruhe, es wäre die unendliche Stille gewesen. Sie begann unbewusst an ihrem Anhänger zu spielen. Diese Kette war ein Geschenk ihrer Mutter. Es war nichts so Besonderes, so wie es aussah. Es hatte aber große Bedeutung, denn sei es eine Kette von ihrer Großmutter gewesen. Ein Text war auf der Rückseite des silbernen Anhängers eingraviert. Ein langer Seufzer war zu hören. Jetzt war ohnehin alles gleich. An nichts anderes konnte sie denken, als an ihre Familie und immer wieder diese schreckliche Nacht. Das Feuer, nie wird sie vergessen wie es alles in ihrem Leben zerstört hatte. Doch würde Shaelyn so gerne all das vergessen. Es sei ein Unfall gewesen. Eine Gasleitung sei undicht gewesen, so wurde es von der Polizei in die Akten eingetragen. Es sei ein großes Glück gewesen, dass sie nicht anwesend war. Aber war es das wirklich? Das Essen ging wie jeden anderen Tag an ihr vorüber, ohne dass sie etwas zu sich genommen hatte. Gerade als sie aufstehen wollte, wurde sie am Ärmel gezupft. Ein ein fragender Blick zur Seite verriet ihr, dass es der kleine Junge neben ihr war. „Hm?“ Was wollte er? Der Kleine antwortete ihr nicht, sondern hielt ihr eine Tafel Schokolade entgegen. „Nimm schon was, oder willst du verhungern? Also an deiner Stelle würd' ich sie nehmen!“, kam es von ihm kurze Zeit später. Überrascht blinzelte sie. Er wollte doch nicht wirklich, dass sie jetzt was Schokolade aß? Er ließ sie nicht los und sah sie ernst an. Wiedereinmal seufzte sie, hatte sie denn nie ihre Ruhe? Zaghaft brach sie sich ein Stück von der Tafel ab und schob dieses kleine Stück in den Mund. „Na zufrieden? Kann ich jetzt gehen?“ Shaelyn hatte keine Lust auf eine Unterhaltung. Eigentlich war sie nicht so unfreundlich, sie war immer höflich, wenn ihr jemand etwas anbot. Aber gerade war es nur störend gewesen. „Ja!“, hörte man bestimmend von ihm, umgehend ließ er sie los. Kopfschüttelnd ging sie wieder zurück zu ihrem Zimmer, dabei ging sie an das Zimmer vorbei in dem vorher dieser andere Junge saß. Als sie rein spähte, saß er immer noch so da und spielte mit seinen Figuren. Musste er etwa nicht zum Essen wie sie? Das störte sie, wieso durfte er in seinem Zimmer bleiben? Gerade als sie sich abwenden wollte vernahm sie eine Stimme. „Was ist?“ Verwundert blinzelte sie einige Male, es kam von dem Jungen aus dem Zimmer. Dieser hob nicht den Blick, hatte sie aber offensichtlich wahrgenommen. So blieb sie an der Tür stehen und schaute auf ihn. „Nichts,... ich hatte mich nur gewundert, dass du hier so alleine rumsitzt“, meinte sie ehrlich. Endlich hob der angesprochene Junge sein Gesicht. Er sah ihr in die Augen, währenddessen begann er an einer seiner Haarsträhnen zu drehen. Ein wenig verblüfft sah sie ihn an, sein Blick war auf eine gewisse weise faszinierend. Er zog sie in einen Bann und sie konnte sich nicht erklären woher es kam. Also ungewöhnlicher ging es eindeutig nicht. Shaelyn starrte auf ihn, irgendwie hatte sie das Gefühl, er würde versuchen sie mit einem einzigen Blick einzuschätzen. Es blieb still, kein weiteres Wort verließ seinen Mund. Einige Sekunden vergingen und nichts geschah, bevor er dann seinen Kopf wieder senkte und weiter mit seinen Figuren spielte. „E... entschuldige die Störung“, brachte sie stockend hervor, sich sofort danach rasch daran machend von der Tür zu gehen. Vollkommen verwirrt und auf direktem Wege, ging sie zu ihrem Zimmer weiter den Gang entlang. Wer war er gewesen? Unruhe machte sich in ihr breit. Dieser Blick von ihm, er jagte ihr einen Schauer über dem Rücken. Nicht unbedingt groß unangenehm, aber doch beunruhigend. Umso mehr freute sie sich nun endlich abgeholt zu werden. Von einem Menschen den sie noch nie zu vorher gesehen hatte. Was würde noch alles passieren? Hatte er auch Familie? Warum wusste sie erst seit kurzem von ihm? Wieso hatte man noch nie etwas von ihm erzählt? Es sollte laut Information ihr Großvater sein, dies lies sie hart schlucken. Niemand aber sagte ihr wer er hieß oder wer er denn genau war. Es war mehr als eigenartig. Der Großvater, von ihres Vaters Seite aus, war schon früh verstorben, war es also nur von ihrer Mutters Seite. Aber das Seltsamste war: Ihre Großmutter war immer alleine, hatte nie ein Wort über den mysteriösen Mann von damals erwähnt. Selbst ihre Mutter hatte nichts gewusst. Ein einziges großes Geheimnis. Endlich hatte sie ihr Zimmer erreicht. Langsam drückte sie die Türklinke herunter und betrat ihr kleines Zimmer. Die Luft lag schwer im Raum, somit entschloss sie sich das Fenster eine Weile zu öffnen. Sofort drang kühle Luft in das Zimmer, nachdem sie es aufgezogen hatte. Sie lehnte sich aus dem Fenster und sah hinaus. Der Winter war gekommen, es hatte schon längst begonnen leicht zu schneien. Normalerweise liebte sie diese Jahreszeit. Einen warmen Kamin, dieser Keksgeruch und vor allem Weihnachten. Die Zeit der Familie. Betrübt senkte sie ihren Kopf, das war wohl vorbei. Dieses Jahr würde so anders werden, völlig anders. Eine Familie hatte sie nicht mehr, zumindest eine die sie liebte. Als sie wieder ihren Blick auf die weiße Pracht richtete, musste sie an ihren Bruder denken. Erneut huschte ein kleines Lächeln über ihre Lippen. Wie oft hatte sie mit ihrem Bruder im Schnee getobt, einen Schneemann gebaut oder ihn einfach gnadenlos mit Bällen beworfen. Es war so eine glückliche Zeit. Sie hatte das Gefühl es nie wieder zu erleben. Die Leere kehrte zurück. Das Ganze war so unecht, ungewohnt, einfach komplett neu. Glücklich? Nein das würde sie wahrscheinlich nicht mehr sein. Ein kalter Windhauch wehte ihr ins Gesicht, der ihre Haare sanft aufwirbelte, dabei schloss sie ihre Augen. Ein stiller Moment, welchen sie genoss. Er wurde jäh unterbrochen als es an der Tür klopfte. Etwas gereizt, unterbrochen worden zu sein, wieder einmal, ließ sie ihren Blick zur Seite schweifen. Die Tür wurde geöffnet und vorsichtig trat ein älterer Herr herein. Überrascht sah sie ihn an, da sie ihn in diesem Haus bisher nicht gesehen hatte. Schnell wurde ihr bewusst; es konnte doch dann nur ihr Verwandter sein. Er nahm seinen Hut vom Kopf und lächelte sie überaus freundlich an. „Guten Tag, du bist Shaelyn, nicht wahr?“, fragte er ruhig, woraufhin sie stumm nickte und ihn begann zu mustern. Er betrat das Zimmer nun ganz und schloss hinter sich die Türe. Kurz darauf stellte er sich ihr gegenüber, sodass sie ihn besser sehen konnte. „Sie sind mein Großvater, oder?“ Natürlich es musste so sein, wer sollte es sonst sein. Im Waisenhaus war sonst nur ein älterer Herr und dieser leitete es. „Ich bin Quillsh Wammy, dein Großvater, ja.“, sagte dieser freundlich. Shaelyn traute ihren Ohren kaum. Wie hieß er? Bedeutete das etwa, dass ihr Großvater der Gründer dieses Hauses war? Natürlich verband sie sofort seinen Namen mit dem vom von diesem Haus. Es würde Sinn ergeben, niemand nannte ihr seinen Namen und auch sonst nichts. Aber es war doch unmöglich, oder? War ihre Großvater reich? „Nenne mich aber bitte Watari.“, erklärte er und lächelte immer noch freundlich. Er kam ihr sofort sympathisch vor, es war ein gutes Bauchgefühl. Dennoch lernte sie ihn gerade mal kennen und sie musste als erstes wissen, warum sie ihn nicht schon von Anfang an kennen gelernt hatte. Watari legte seinen Mantel über die Stuhllehne, platzierte dabei den Hut darauf und blickte sie kurz darauf wieder an. „W... warum lerne ich … Sie ... erst jetzt kennen?“ Sie war sehr unsicher in ihrer Frage, was ihre brüchige Stimme nur weiter zum Ausdruck brachte. Eine berechtige Frage, die unbedingt geklärt werden musste. „Vor kurzem habe ich selbst erst davon erfahren, dass ich eine Enkeltochter habe.“, sagte Watari ehrlich. Überrascht öffnete sie leicht ihren Mund. Er hatte es selbst nicht gewusst? Was war damals passiert? Erste einmal musste Shaelyn sich setzten. „Es ist auch sehr bedauerlich es so zu erfahren.“ Ja damit hatte er vollkommen Recht. Die Art und Weise warum, war erschreckend. Betrübt senkte sie ihren Kopf. Gespannt wartete sie seine weiteren Worte ab, denn die wichtige Frage war noch nicht geklärt. Erwartungsvoll blickte sie wieder hoch in das Gesicht ihres Großvaters. „Nun ich kann dazu nur sagen, dass ich damals in jungen Jahren eine Freundin hatte. Aus familiären Gründen durften wir uns nicht mehr treffen und habe sie somit nie wieder gesehen.“, erklärte er. Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Es schien eine schmerzliche Erinnerung zu sein. Langsam begann sie zu verstehen; natürlich das machte Sinn. Aber wie kam es dazu, dass der Familienstand erst jetzt ermittelt worden war? Irgendwo musste es eine Verbindung geben. Ihr Kopf war voll mit Fragen. Das Gefühl brachte sie fast um den Verstand, es überflutete sie. „Ich habe nicht gewusst, dass sie ein Kind erwartete.“, setzte der ältere Mann schließlich fort. „Woher.... ich meine .... ?“ Sie konnte nicht klar denken. War die Antwort vielleicht doch ganz einfach? Oder doch ein komplexes Netz? „Deine Großmutter hatte mich eintragen lassen. Es wurde nicht viel Aufsehen veranstaltet, daher habe ich nie davon erfahren. Da nun dieses Dilemma entstanden ist, wurden die alten Akten durchsucht, nach möglichen Verwandten.“ Das war die Antwort auf die sie gewartet hatte. Sie war also so einfach? Shaelyn schluckte. Und wie sollte es jetzt weiter gehen? Unfähig auch nur ein weiteres Wort über die Lippen zu bekommen, starrte sie ihn fragend an. Man sah es ihr an, all das was sie gerade fühlte. Ganz eindeutig war sie verwirrt und durcheinander. Zu viel war in der letzten Zeit passiert. Der alte Mann beließ es dabei, er wusste, dass sie gerade wenig aufnahmefähig war. Sie würde sicher in einer paar Tagen mehr wissen wollen. Die Luft schien mehr als erdrückend zu sein, selbst das offene Fenster das frische Luft herein ließ, verbesserte es nicht. „Sicher weißt du, dass du ab jetzt bei mir wohnen wirst.“, begann er behutsam. Shaelyn blickte auf und nickte schwach. Wo wird es sein? Hatte er eine andere Familie? Und würde sie dort auch aufgenommen? Großer Zweifel nagte an ihr. Es war nicht zum Aushalten. „Da du noch zur Schule gehst, wird mein Aufenthalt währenddessen in England sein.“, meinte Watari freundlich. Natürlich, daran hatte sie nicht mehr gedacht. Sie musste ja noch das restliche halbe Jahr in die letzte klasse. Was aber hatte das zu bedeuten? Aufenthalt solange in England? Wohnte er etwa in einem anderen Land? Sie schüttelte diese Gedanken ab, es würde sich alles mit der Zeit klären. Shaelyn nickte direkt zur Bestätigung. Sie hatte verstanden. Nun galt es den morgigen Tag zu überstehen. Dieser Tag brach zu schnell an und es würde ein schrecklicher werden, das wusste sie. Shaelyn stand vor ihrem Bett, das schwarze lange Kleid, was ihr Großvater ihr gekauft hatte, sollte sie nun anziehen. Es war schlicht, es bedurfte auch nicht an Verschönerungen. Warum sollte man sich auch für einen so traurigen Tag hübsch machen? Somit zog sie es sich schnell über. Nachdem sie fertig war, stellte sie sich vor dem kleinen Spiegel in ihrem Raum. Vor dem Spiegel kämmte sie sich noch ihre langen schwarzen Haare. Jene waren ein wenig brüchig geworden und längst nicht mehr so seidig wie sie es sonst waren. Die Haarfarbe war für eine Engländerin nicht normal. Sie kam mehr nach ihrem Vater, dieser stammte aus Japan. Ihre Mutter war Engländerin, ihre braunen Haare hatte ihr Bruder geerbt. Man sagte doch immer, die Mädchen kämen nach ihren Vätern und die Söhne nach ihren Müttern. Shaelyn senkte ihre Augenlider. Von allen die sie liebte heute Abschied zu nehmen, würde ihr wahrscheinlich alle Kräfte rauben. Es kostete alle Mühen nicht los zu weinen, es war grauenvoll. Hatte sie es überhaupt schon richtig begriffen? Der Abschied ihrer Familie fühlte sich unecht an. Nein so richtig hatte sie es noch nicht realisiert. Gab es etwas Schlimmeres? Nein, vermutlich nicht. Sie nahm ihren kleinen Rucksack hoch. Nur dieser war ihr geblieben, nicht mal Kleidung, oder gar Erinnerungsbilder waren vom Hausbrand übrig geblieben. Nur der Rucksack, den sie an diesem Abend trug. Die Kleidung die sie im Waisenhaus bekam durfte sie behalten, somit hatte sie diese in den Rucksack gepackt. Es war wirklich nicht viel was sie besaß. Auch wenn sie reich gewesen wäre, niemals könnte es den Schmerz lindern über den Verlust ihrer Familie. Materielles war ihr egal, sie war glücklich gewesen. Man brauchte nicht viel zum Leben, aber liebende Personen waren ihr das Wichtigste. Keinesfalls würde sie vertraute Personen hintergehen. Wenn sie jemanden in ihr Herz gelassen hatte, brauchte dieser nie fürchten je von ihr enttäuscht zu werden. Sie zog sich ihre Stiefel an, sowie einen Mantel. Ein kleinen Hut setzte sie sich noch auf, bevor sie ihr Zimmer verließ, zum letzten Mal würde sie es sehen. Direkt nach dem Abschied würde ihr Großvater sie in ihr neues Zuhause bringen. Ein letztes mal sah sie sich um, während sie den Gang entlang ging. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich aus, denn sie wusste nicht wie es weiter gehen sollte. Ein neues Leben würde für sie beginnen, mit Leuten die sie nicht einmal kannte. Kurzzeitig hielt sie in ihrer Bewegung inne. Oder war Quillsh,... nein, Watari etwa alleine? Zögerlich begann sie wieder zu laufen. Diesen Gedanken hatte sie noch gar nicht bedacht. Nein, sicherlich war Watari nicht alleine. Er sah nicht aus wie ein alter Mann der alleine lebte. Und wenn doch, war es dann nicht sogar besser? Zu viele Sachen gingen ihr durch den Kopf. Die Zeit würde es schon noch alles klären. Das Schlimmste stand nun erst einmal bevor. Als sie die Ausgangstür öffnete, kam ihr direkt ein kalter Luftzug entgegen. Die weiße Pracht wehte auch leicht in den Eingangsbereich. Es war eindeutig Dezember. Lange wäre es auch nicht mehr bis Weihnachten, ein Tag an dem die Familie gemeinsam feierte. Es versetze ihr immer wieder einen Stich ins Herz. Ihr Blick fiel sofort auf den schwarzen Wagen, der in der Auffahrt stand. Watari wartete bereits auf sie. Kurz blinzelte sie überrascht, denn der Wagen sah nicht billig aus. Wahrscheinlich sogar ein recht teures Gefährt. Langsam trat sie an den Wagen heran, sogleich kam ihr Großvater und hielt ihr die Hintertür auf, wie es ein Gentleman tat. Sein Lächeln war wie zum Tag davor auch äußerst freundlich. Nochmals musste sie ihn überrascht ansehen. Es war ihr schon zu beginn aufgefallen: Er besaß auffallend gute Manieren. War er reich? Woher sollte sonst dieses Auto kommen, natürlich musste er mehr Geld besitzen. Er hatte schließlich das Waisenhaus gegründet. „Danke sehr“, sagte sie freundlich und setzte sich auch gleich in das Auto. Er schloss die Tür und direkt wurde es angenehmer im Auto, da die Temperatur stieg. Nicht, dass sie etwas gegen die Kälte hatte, sondern im Gegenteil, sie liebte den Schnee. Bisher hatte sie jedes Jahr darauf gewartet. Watari öffnete die Fahrertür und ließ sich auf seinen Sitz nieder. Shaelyn schaute aus dem Fenster, denn es hatte erneut begonnen zu schneien. Langsam näherten sich die Flocken dem Boden, tanzten ihren letzten Tanz im Wind. Eigentlich liebte sie jede Jahreszeit, denn jede hatte seine Vorzüge. Shaelyn musste aber zugeben, das gerade der Winter etwas Magisches hatte. Allerdings nun würde diese Jahreszeit sie immer daran erinnern was passiert war. Der Motor wurde gestartet und ihr Großvater fuhr auch direkt los. Sie warf einen letzten Blick auf das Waisenhaus, das sie freundlich aufgenommen hatte. Als er vom Gelände fuhr drehte sie ihren Kopf nach vorne. Den Blick senkte sie, denn hoffte sie immer noch inständig, dass es hier alles nur ein böser Traum war. Es wäre so schön aufzuwachen und ihr Bruder würde sie ärgern. Ein kleines Lächeln machte sich auf ihren Lippen breit. Jedes mal wurde Shaelyn von Ryu geweckt, sie war eine Langschläferin, er hingegen ein Frühaufsteher. Somit machte er sich immer daraus einen großen Spaß sie zu wecken. Das Lächeln verschwand augenblicklich. Sie richtete ihren Blick aus dem Autofenster. Behutsam berührte sie mit ihren Fingern das kalte Glas. Es war alles viel zu real als das es ein schrecklicher Traum war. Die Fahrt verlief ruhig. Sie wollte nichts sagen, denn sie musste sich vorbereiten - auf das, was nun folgte. Schon erkannte sie den Friedhof, als sie sich diesem Näherten. Der Wagen wurde langsamer, da Watari auf den Parkplatz bog, der sich vor dem Friedhof befand. Zaghaft stieg sie aus dem Wagen als ihr Großvater das Auto anhielt. Der Schnee senkte sich leicht, nachdem sie einen Fuß darauf stellte. Es hinterließ ein typisches Knirschen, dieses Geräusch hatte sie immer sehr gemocht. Nur heute hörte es sich dumpf an, sodass sie es nicht richtig wahrnahm. Hinter sich schloss sie die Autotüre. Sofort war es sehr kalt, somit rieb sie ihre Hände aneinander. Ihr Großvater stellte sich neben ihr. „Wir sollten gehen, nicht wahr?“, fragte er sachte. Sie schaute daraufhin in seine Augen, sein Blick war warmherzig. Zögerlich nickte sie. Watari ging vor und sie folgte ihm still. Je mehr Gräber sie sah, desto mehr verschleierte sich ihr Blick. Normalerweise hätte sie dieser schöne Anblick den Atem geraubt. Es sah zum Träumen aus, denn der Schnee, die Lichter, die auf den Gräbern waren, sowie auch die großen alten Bäume, ließen einen an ein wunderschönes Gemälde denken. Es sah einfach perfekt aus, dennoch bekam sie davon nicht viel mit. Sie war nur eine Hülle, die durch die Wege ihr Ziel fand und das nur, weil ihr Großvater den Weg vor ihr entlang schritt. Ein paar Leute hatten sich vor den drei Gräbern versammelt. Es waren Freunde ihrer Eltern, die ihr auch sogleich ihr Beileid mitteilten. Aber all das, nahm sie nicht wahr. Nicht einmal die Worte, die der Pastor von sich gab. Sie starrte unentwegt auf die Gräber. Die das Datum trugen, an dem alles endete: Der 05.12.2002. Die Zeremonie ging vorüber, ohne dass sie auch nur eine Träne vergossen hatte. Es war einfach nicht wahr, nichts konnte wahr sein. Still ging sie zurück zum Wagen. Ihre Gefühle hatten sie verlassen. Es war einfach eine Leere da. Die wohl nicht mehr gefüllt werden konnte. Nachdem Watari sich wieder in den Wagen setzte, richtete er den Blick in den Rückspiegel. Er sah ihr Gesicht, welches einfach nichts ausdrückte. Jeglicher Ausdruck war verschwunden. „Ich werde dich jetzt in dein neues Zuhause bringen, vorübergehend. Eine Wohnung wird schon bald für dich geräumt sein, es grenzt an die jetzige Wohnung an. Es werden jetzt ein paar Stunden Autofahrt vergehen, es ist nicht direkt in der Nähe.“, erklärte er in einem ruhigen Ton. Sein Blick war immer noch auf sie gerichtet, wartend auf eine Reaktion. Shaelyn hob ihren Kopf, da sie ihren Großvater gehört hatte. Kurz musste sie nachdenken. Eine eigene Wohnung? Sie hatte doch eigentlich gedacht sie wohnte bei ihm in einer. Aber direkt eine eigene? War seine Wohnung vielleicht einfach nur zu voll? Zögerlich öffnete sie ihren trockenen Mund. „Wohnen Sie alleine?“ Diese Frage wollte sie schon lange gestellt haben, jetzt schien der richtige Moment zu sein. Er begann zu lächeln, ließ dann den Motor an. „Nein, du wirst ihn kennen lernen. Mit ihm wirst du auch die ersten Tage in einer Wohnung leben. Aber keine Sorge, er verhält sich still und wird dich auch sonst nicht stören.“ Seine Stimmlage war wie immer freundlich. Er richtete seinen Blick nach vorne und fuhr los. Kurz blinzelte sie überrascht. Mit ihm? Was bedeutete das? Wer war das? Mit einem Unbekannten in einer Wohnung leben? Auch wenn das nur vorübergehend war, es machte ihr Sorgen. Nun gut, Watari war auch kein Bekannter, aber von ihm wusste sie ja, dass er ihr Großvater war. Dies jedoch war ein Außenstehender. Oder hatte sie möglicherweise noch einen Verwandten? Nein, sonst hätte es ihr Großvater wahrscheinlich schon längst gesagt. Solange er sich fern halten würde und auch die Wohnung groß genug war, wäre das wohl im Rahmen des Möglichen. Denn nichts lieber als Ruhe würde sie nun haben wollen, vor allem vor Fremden. Erneut schaute sie aus dem Fenster neben sich. Ein paar Stunden? Wie weit es wohl entfernt war. Es lösten sich Tränen, völlig unbewusst, da die Gedanken an ihre Familie auf kamen. Still weinte sie, die ganze Fahrt über. Denn erst jetzt war es wie ein Losriss. Shaelyn begann langsam zu begreifen. Kapitel 2: Zusammentreffen zweier Ansichten ------------------------------------------- Der Wagen wurde langsamer und Shaelyn sah sich aufmerksam um. Riesige Gebäude säumten sich in die Höhe. Es war ein Apartmentblock. Diese Tatsache machte sie mehr als stutzig. Denn hatte sie mit einem großen Haus, ja schon einer Villa, gerechnet. Oder einem großen luxuriösem Hochhaus, in denen sich riesige Eigentumswohnungen befanden. Das was sie allerdings erblickte war mehr als kläglich. Man sah ihr ihre Verblüffung genau an, weshalb sie aus der Fensterscheibe starrte. Bizarr, was sich gerade abspielte. Es passte einfach nicht, alleine der Vergleich mit diesem teuren Auto. Sie wollte sich nicht beklagen, nur schien es so absurd. Viele Fragen rauschten augenblicklich durch ihren Kopf. Watari stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Nur um danach seiner Enkelin die Autotür zu öffnen. Man sah ihr an, dass sie verwirrt war. Dies alles würde aber bald geklärt sein, zumindest ein Teil. Er hielt ihr beim Aufstellen der Tür freundlich die Hand entgegen, welche sie ergriff. Die Hand von ihrem Großvater war warm, was sehr angenehm war, denn kalt war ihr schon die ganze Zeit gewesen. Im Auto hatte eigentlich eine gute Temperatur geherrscht, es hätte aber auch der höchste Sommer sein können und doch würde sie frieren. Der Körperkontakt allerdings war ein wohliges Gefühl. Es lag einfach daran, dass ihr Herz so schmerzte. Sie stieg aus dem Wagen und zog dabei ihren kleinen Rucksack mit. Der winzige Rest den sie besaß. Watari schloss die Türe und wandte sich an sie. Es war trotz dem schwachen Abendlichts sein freundliches Gesicht zu erkennen. Denn die Laternen der Straßen hatten bereits schon begonnen zu leuchten, wodurch der Schnee, welcher auf den Straßen lag, leicht funkelte. „Ich werde eben den Wagen wegfahren, bitte warte hier. Wir werden dann gemeinsam hinauf gehen.“ Seine Worte waren ruhig und man sah wie die kalte Luft sofort auf seinen warmen Atem traf. Shaelyn nickte still. Es brachte sie zum Nachdenken. Er parkte den Wagen also nicht vor dem Gebäude. Wollte er den offensichtlichen Reichtum verbergen? Wahrscheinlich, so musste es sein. Watari wandte sich um und stieg in den Wagen. Kurz darauf fuhr er schon in eine kleine Seitengasse. Indessen ließ Shaelyn ihren Blick durch die Gegend schweifen. Es sah ziemlich ärmlich aus; überall säumten sich größere Gebäude, die eindeutig nur für den Zweck gebaut wurden um darin sein tristes Leben zu führen. Sie bemerkte wie eine Schneeflocke sich auf ihrer kleinen Nase niederließ. Ein Blick, in den immer dunkel werdenden Himmel, verriet ihr, dass es erneut begonnen hatte zu schneien. Langsam hob sie ihre Hand an und öffnete diese. Die weiße Pracht traf auf ihre Haut, woraufhin die kleinen Eiskristalle schmolzen. Still betrachtete sie die Flocken. In ihrem Kopf herrschte eine Leere. Krampfhaft versuchte sie an einige schöne Erinnerungen festzuhalten. Leider brachte es kaum etwas. Die wunderbaren Momente wurden allerdings zurück gedrängt. Die Unsicherheit wog über, wusste sie einfach nicht was nun folgen würde. Wer war dieser Unbekannte? Da sie nun den Apartmentblock gesehen hatte, glaubte sie nicht daran, dass sich viel Platz darin befand. Somit müsste sie sich doch mit diesem Fremden auseinander setzten. Was dachte sich ihr Großvater dabei? War dieser Fremde wirklich ungefährlich? Sie hoffte inständig, dass dieser wenigstens normal wäre. Oder ebenso freundlich wie ihr Großvater. Vielleicht war es auch jemand aus dem Waisenhaus? Sie blickte zum Gebäude hinauf. Wenn es jemand aus dem Waisenhaus war, dann war dieser jemand sicher nicht normal. Ein Schauder fuhr ihr durch den Körper, umgehend musste sie an diesen kleinen Jungen denken, mit diesen weißen Haaren. Er war wirklich nicht normal gewesen, ziemlich unheimlich sogar. Der Blick war starr gewesen und dieser abschätzende Blick, dann diese Sitzposition. Sie wollte nicht weiter nachdenken. Noch hatte sie keinen blassen Schimmer auf was sie wirklich stoßen würde... Mit sehr viel Spannung wartete sie auf Watari. Der auch endlich aus der Seitengasse heraus kam, mit einem Handy an seinem Ohr. Mit wem telefonierte er denn jetzt? Ihr Großvater kam zu ihr und legte währenddessen auf, sodass sie nichts von allem mitgehört hatte. Neugierig wie sie war, konnte sie es nicht für sich belassen: „Darf ich fragen... wer das war?“ Ein Lächeln legte sich auf die Lippen des Alten. „Ich habe uns angekündigt.“, folgte es nett, woraufhin sie überrascht die Augenbrauen hob. Ankündigen?War das nötig? Der Grauhaarige nickte ihr zu. Es war wohl ein Zeichen zu folgen, das tat sie auch, wenn auch mit einer verwirrten Mine. Mit sehr gemischten Gefühlen betrat sie den Eingangsbereich. Die Stille war nun fast unerträglich, so fand sie. Eindeutig war es bedrückend. Und die Anspannung stieg weiter. Shaelyn konnte schon ihr Herz laut klopfen hören. Als ob gleich etwas folgen würde, was das zu Recht verursachen sollte. Konnte man das Vorahnung nennen? Es würde sich heraus stellen, ob diese Ahnung recht behielt. „Die Wohnung befindet sich im elften Stock, leider gibt es hier keinen Aufzug. Daher müssen wir also die Treppen benutzen. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.“ Seine Stimme brach das Schweigen. Ihr kurzes Kopfschütteln zeigte Watari, dass sie wohl nichts dagegen hatte. Sogleich machten sie sich auf den Weg die unzähligen Treppen hinauf. Während sie ihm die Treppen hinauf folgte, sah sie sich dabei genau um. Es war doch recht schmutzig, viel geputzt wurde schon mal im Treppenhaus nicht. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor als sie endlich im richtigen Stockwerk ankamen, was zugleich auch in diesem Gebäude das Letzte war. Kurz musste sie jedoch schnaufen. So viele Treppen war sie nicht unbedingt gewohnt, allerdings schien es für ihren Großvater alltäglich. Erstaunlich, wie fit er für sein Alter anscheinend noch war. Er war wohl viel unterwegs. Watari blieb vor einer unscheinbaren Tür stehen, worauf er einen Schlüssel aus der Hosentasche zog. Das Schloss klackte, woraufhin er auch schon eintrat. Ein seltsames Gefühl in ihrer Magengegend machte sich breit. Die Aufregung stand ihr buchstäblich im Gesicht geschrieben: Immerhin würde sie in dieser Wohnung ein paar Tage schlafen, bis sie eine eigene bekam, noch dazu mit einem Fremden. Erneut kamen Fragen auf. Wie alt wäre dieser denn? Die Neugierde packte sie erneut. Es war alles so neu, das es einfach nicht zu glauben war. In den letzten Tagen hatte sich soviel verändert. Eine Nacht über diese Eindrücke schlafen würde mit Sicherheit gut tun. Als sie in den Flur trat war niemand zu sehen. Sofort glitt ihr Blick auf die Möbelstücke, wenn denn wenigstens welche da gewesen wären. Es war doch recht spärlich, nur ein kleiner Ständer, woran man seine Jacke hängen konnte. Sie hoffte, dass nur der Flur so wenig möbliert war. Watari nahm seinen Hut ab und zog seinen Mantel aus, unterdessen schloss Shaelyn die Türe leise hinter sich. Als sie sich umdrehte stand ihr Großvater vor ihr. „Darf ich dir deinen Mantel abnehmen?“ Wieder einmal überrascht zog sie eine Augenbraue hoch. Er hatte wirklich sehr gute Manieren. Sogleich nickte sie schwach. Als er den Mantel aufgehangen hatte wandte er sich erneut an sie. „Ich zeige dir nun dein Zimmer für die nächsten Tage.“ Das freundliche Lächeln war einfach immer da. Shaelyn nickte schwach auf seine Worte hin. Direkt ging Watari den Flur hinunter und sie folgte still. Mit sehr viel Interesse betrachtete die junge Frau alles. Dann liefen sie an einer offenstehenden Tür vorbei, wo die Schwarzhaarige direkt hindurch blickte. Leider konnte man in diesem Raum nichts erkennen. Es war praktisch stockfinster. Da die Sonne bereits ganz untergegangen war und darin kein Licht brannte. Plötzlich setzte ihr Herz einen Moment aus, überschlug sich schon im nächsten Augenblick. Ganz klar, da hatte sich etwas bewegt! Das war ihr absolut nicht geheuer. Automatisch beschleunigten sich ihre Schritte. Es war ihr, als ob sie beobachtet wurde. Eine Gänsehaut jagte ihr augenblicklich über dem Rücken. Ein sehr beklemmendes Gefühl beschlich sie. Und eine böse Vorahnung. Endlich, so fand sie, blieb Watari stehen. Shaelyn schaute auf die Tür, die sogleich geöffnet wurde. Watari schaltete das Licht ein und trat zur Seite, allerdings ehe sie in das Zimmer ging, blickte sie nochmal über ihre Schulter. „Keine Angst.“ Die sanften Worte Wataris ließen sie wieder nach Vorn blicken. „Hier gibt es nichts wovor du dich fürchten musst.“ Nicht ganz überzeugt, bildeten sich tiefe Falten auf ihrer Stirn. Ganz sicher war sie sich da nicht. Und schon jetzt schien es so, als würden ihre schlimmen Befürchtungen wahr werden. Wer hockte schon in kompletter Finsternis und beobachtete im Stillen was vor sich ging? Es konnte ja nur der Fremde sein. „Sieh dich ruhig um,...“ Der alte Mann deutete mit einer kleinen Handbewegung in ihr Zimmer, sodass sie aus Reflex dem folgte. „allerdings musst du entschuldigen, dass sich so wenig darin befindet.“ Er hatte Recht. Viel war darin nicht und man nahm den Geruch frischer Möbel wahr. „Ich hoffe es genügt so. Leider muss ich mich nun um einige andere Dinge kümmern.“ Shaelyn nickte ihm zu, dieser machte eine kleine Verbeugung und ging den Gang hinunter. Sie sah wie er in den dunklen Raum trat, der ihr vorher sehr unangenehme Gedanken beschert hatte. Schnell trat sie ein und schloss die Tür, da das unangenehme Gefühl stieg weiter an. Ein Seufzer entfuhr ihrer Kehle. Es fing ja alles schon einmal gut an. Würde sie hier in Ruhe schlafen können? Die Erinnerung an den seltsamen Jungen kam wieder. Umgehend erstarrte sie. Wenn er genauso war? Und hatte er denn einen Grund um sich versteckt zu halten? Abstruse Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Was wenn er allen Grund hatte sein Äußeres zu verbergen? Shaelyn verzog ihr Gesicht und biss sich auf ihre Unterlippe. Eigentlich verunsicherte sie wenig. Aber das gerade eben war klar ein Fall für sich. Natürlich war die Angst da. Wer verhielt sich schon so und so jemanden hatte sie in ihrer Nähe. Ihr Großvater war zwar sehr nett, dennoch half es ihr wenig. Shaelyn ließ ihre Schultern hängen und setzte sich auf ihr Doppelbett, dabei legte sie ihren Rucksack neben sich. Scharf sog sie die Luft ein und atmete ruhig aus. Es half ein wenig sich zu beruhigen. Dies ließ sie müde werden. Der ganze Tag hatte an ihren Kräften gezerrt. Es war noch sehr früh, doch trotzdem war sie erschöpft. Sie legte sich einfach auf das Bett und schloss ihre Augen. Nichts, an gar nichts wollte sie denken. Es war ihr egal ob das Licht noch an war, oder ob sie ihr schwarzes Kleid noch trug. Hauptsache sie würde sich erholen, oder endlich aus diesem grausamen Traum erwachen. Langsam driftete Shaelyn in einen unruhigen Schlaf. Durch ein Klopfen an der Tür wurde sie langsam wach. Konfus blinzelte sie einige Male. Den Raum kannte sie gar nicht. Wo war sie hier? Außerdem, warum war das Licht an? Dann aber fiel es ihr wieder ein. Es war wie ein harter Schlag in die Magengrube. Das war das vorübergehende Zimmer in dem sie wohnen würde. Offensichtlich war sie auf dem weichen Bett eingeschlafen. Wie viel Zeit war vergangen? Erneut war das Klopfen zu hören, was sie nun veranlasste sich aufzurichten. Es war bitter kalt im Raum, weshalb sie sich an den Oberarmen fasste und diese rieb. „...Ja?!“, rief sie zögerlich. Shaelyn blickte auf die Tür und sah kurz darauf wie die Türklinke herunter gedrückt wurde. Sofort spannte sich ihr gesamter Körper an. War es ihr Großvater, oder doch der Fremde, der sich nun Vorstellen wollte? Unbewusst hielt sie ihren Atem an. Die Türe schwang gemächlich auf und zum Vorschein kam ihr Großvater. Augenblicklich atmete sie erleichtert aus. Er sah sie freundlich an und trat einen Schritt in das Zimmer. Ihr Blick war fragend. Was wollte er denn? „Ich habe Essen angerichtet. Möchtest du nicht etwas zu dir nehmen?“ Die Stimme war sehr angenehm, sie strahlte eine gewisse Wärme aus. Shaelyn sah ihrem Großvater in die Augen, schien sie zu überlegen. Hunger hatte sie eigentlich nicht, das hatte sich nicht geändert. „Außerdem möchte ich dir bei diesem Anlass den jungen Herren Vorstellen.“ Sie sah Watari erstaunt an. In diesem Falle würde sie nicht Ablehnen. Schließlich wollte sie wissen mit wem sie die nächste Zeit verbringen würde. Sagte er aber junger Herr? Bedeutete das, dass er vielleicht in dem selben Alter wie sie war? Dies war nur verwirrender. Warum sollte so ein junger Mann bei ihm wohnen, wenn er nicht Verwandt wäre. Oder steckte hinter der ganzen Sache mehr als vermutet? Die Sache wurde irgendwie immer Mysteriöser. Shaelyn war neugierig, eindeutig, und es war zweifelsfrei eine schlechte Eigenschaft. Sie wollte es wissen, daher nickte sie schwach. Ablenkung war gut zu gebrauchen, nichts wollte sie lieber als alles vergessen. Das Bett gab leicht nach als sie aufstand, anschließend ging sie zur Tür. Augenblicklich erfasste sie eine Aufregung. Hoffentlich war er wenigstens nett. Sie strich sich ihr Kleid gerade und folgte ihrem Großvater den Gang hinunter. In das Zimmer, das vorher dunkel war, war es nun erhellt. Der Weg führte sie klar in diesen Raum. Auf wen würde sie treffen? Watari betrat das Zimmer als erstes, kurz darauf bog auch Shaelyn durch die Tür. Starkes Herzklopfen machte sich bemerkbar; diese Aufregung brachte sie ganz durcheinander. War es normal? Wahrscheinlich, denn sie würde ja zwangsweise mit diesem Menschen Zeit verbringen. Außerdem machte alles den Anschein als würde es geheim wirken, dies trug nur weiter dazu bei. Shaelyn war wissbegierig darauf wer es denn so wichtiges war. Sie hob ihren Blick, nachdem sie durch die Tür ging. Sie konnte niemanden ausmachen, jedoch als sie sich weiter umsah, erblickte sie jemanden - oder doch besser etwas, auf einem Stuhl hocken. Sofort verkrampfte sie sich. Ihr Herz war ihr augenblicklich in die Hose gerutscht. Ihr blieb buchstäblich die Spucke weg. Große runde Augen starrten sie an, die fast schwarz erschienen. Ein stechender Blick, der ihre Gedanken davon fegte und sie es ein wenig mit der Angst zu tun bekam. Sein rabenschwarzes Haar stand wirr in alle Richtungen vom Kopf ab, hing ihm auch in Strähnen vor dem Gesicht, welches leichenblass war. Die düstere Erscheinung wurde von seinen dunklen Rändern unter den Augen weiter untermalt. Und das Nächste was sich in ihren Kopf brannte war seine Sitzhaltung. Er hockte mehr auf dem Stuhl, als das er sitzen würde, zudem mit nackten Füßen. Der erste Gedanke der ihr durch den Kopf schoss war, wie verwahrlost er doch aussah, denn seine Kleidung sah nicht sehr gepflegt aus, da überall Fransen zu sehen waren und auch ein paar Einrisse. Trug er eine weite Jeans, die einen verwaschenen Eindruck machte, und in das weiße Longshirt hätte er mit Sicherheit zwei Mal hinein gepasst. Der starre Blick mit dem er sie ansah, verursachte einen heftigen Schauder. Und sie dachte schon der Junge, den sie im Waisenhaus gesehen hatte, war seltsam. Doch der sich dort erhob vom Stuhl war das Schlimmste was sie sich hatte Vorgestellt, nein, nicht einmal so hatte sie sich das Schlimmste ausgemalt. Mit einem ausdruckslosem Gesicht kam er ihr immer näher, dabei legte er seinen Zeigefinger an seine Unterlippe. Es wirkte als ob er sie genau mit seinem leeren schwarzen Augen musterte. Ein abschätzender Blick. Shaelyn wagte es nicht einmal laut zu atmen. War das von ihrem Großvater wirklich ernst gemeint? Sollte sie tatsächlich mit diesem Kerl zusammen wohnen? Der sah nicht sehr vertrauenswürdig aus, geschweige denn nett. Sie verkrampfte sich immer mehr als er auf sie zu kam. Jetzt bemerkte sie auch seine kuriose Körperhaltung. Er ging gebückt und mit seinem durchdringenden Blick auf sie zu. Sie war unfähig etwas zu sagen, es machte sie sprachlos. Hastig schnappte sie nach Luft. Hatte sie aufgehört zu atmen? War es die Angst? Sollte sie denn Angst vor ihm haben? Watari hatte ihr gesagt er würde sich still verhalten. So sah er auch aus, sein Gesichtsausdruck war immer noch völlig ausdruckslos gleichsam er knapp vor ihr zum Halt kam. Ihr Herz raste förmlich, dieser Kerl machte ihr eindeutig Angst. Seine ganze Aura schien unheimlich zu sein, dazu diese nichts sagende Mimik. „Ich bin Rue Ryuzaki. Aber nenne mich doch bitte Ryuzaki.“ Eine dunkle Stimme kam über seine fahlen Lippen, die jedoch ruhig klang und ehe er im gleichen nüchternen Tonfall fortfuhr, nahm er den Finger von seiner Unterlippe: „Deine Wohnung wird in wenigen Tagen bezugsfertig sein, bis dahin, werden wir uns diese Wohnung teilen müssen.“ Sie blinzelte nur einige Male und nickte daraufhin rasch. Allerdings fiel ihr gleich weiteres auf: Hatte er sie auch schon geduzt? Nun, sie war noch nicht einmal 17 Jahre alt und sie würde hier zusammen mit ihm wohnen, also war es keine schlechte Idee. Außerdem schien er auch nicht viel älter als sie zu sein, vermutlich vier Jahre oder sogar nur drei Jahre älter. „Nimm doch bitte Platz ... und iss etwas.“ Er zeigte mit seiner Hand eine einladende Geste, damit machte er klar, dass sie sich setzen sollte. Vielleicht war er doch nicht so schlimm wie sie zuerst dachte. Das hoffte sie zumindest inständig. Shaelyn schluckte und nickte abermals. Irgendwie waren ihre Worte im Hals stecken geblieben. Die Höflichkeit aber zwang sie dazu wenigstens ihm ihren Namen zu nennen. Obwohl sie sich bereits denken konnte, dass ihr Großvater ihm diesen mitgeteilt hatte. „Ich bin Shaelyn Suzuki.“, kam es doch sehr spärlich von ihr, dabei wich sie seinem Blick aus, der nun leicht skeptisch wirkte. Selbstverständlich wusste er bereits ihren Namen. Watari hatte die Güte besessen ihm den Namen der Person zu nennen, die bald mit ihm in einer Wohnung lebte. Weiterhin versuchte er sie mit seinem Blick einzuschätzen. Ihm war sofort aufgefallen, das sie verängstigt schien und ihm offensichtlich nicht zugetan war. Was ihn allerdings nicht weiter kümmerte. Solange sie ihn nicht störte, gab es keinen Grund sich weiter mit ihr zu befassen. Es war das Beste, sie in Ruhe zu lassen. Somit drehte er sich in einer Bewegung um und setzte sich in gewohnter Haltung auf den Stuhl, dabei beobachtete er genau was sie tat. Zögerlich nahm sie auf dem Stuhl gegenüber platz. Ihr Blick huschte über den angerichteten Tisch. Dieser war mit zahlreichen Süßigkeiten sowie auch einigen normalen Gerichten gedeckt. Er konnte deutlich die Neugierde wahrnehmen, dennoch schien sie sich sehr zurück zu halten. Doch entging seinen dunklen Augen nicht, dass ihr Blick für einen Augenblick auf den Keksen fixiert war. Nachdem sie wohl genügend das Gebäck betrachtet hatte, richtete sie ihren scheuen Blick auf ihn, woraufhin sich ihre Blicke kreuzten. Ihre Anspannung stieg spürbar. Unbekümmert hob er von seiner Knie eine Hand um sich kurz darauf am Essen zu bedienen. Unbedingt gewohnt war er es nicht an einem Tisch zu sitzen, alleine für den Zweck um etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Doch Watari hatte ihn darum gebeten, damit er Shaelyn Kennenlernen würde. Selten gab es solche Momente, in denen Watari ihn um einen Gefallen gebeten hatte. Es war nichts großartiges, somit willigte er schlussendlich ein. Jedoch musste er sich eingestehen, dass es sehr unhöflich gewesen wäre, dies nicht zu tun. Einen weiteren Grund gab es auch, denn die Neugierde siegte. Ryuzaki musste wissen mit wem er die nächste Zeit verbringen würde und sei es nur ein flüchtiger Kontakt. Es war wichtig sie kennenzulernen, da sie sich in seiner Nähe aufhielt. Es würde sich also noch zeigen, ob man ihr vertrauen konnte, war es von einer großen Bedeutung. Nun, ohnehin würde er ihr nicht mitteilen was für einer Tätigkeit er nach kam, dennoch brachte sie eine Gefahr mit. Die Gefahr seiner Enttarnung. Wäre die Wahrscheinlichkeit zu groß gewesen, hätte er es Watari nicht erlaubt. Somit befand sich alles im normalen Rahmen. Die dunklen großen Augen irritierten sie, denn sie waren immer noch auf sie gerichtet. Ununterbrochen stierte er zu ihr, machte es ihm anscheinend rein gar nichts aus sie so zu verunsichern. Leicht begann ihr Körper zu zittern, was signalisierte, wie unheimlich ihr das alles war. Auch als er sich einen Donut nahm, wandte er sich nicht ab. Es sah so aus als lauerte er. Auf was? Sie versuchte Körperbeherrschung zu zeigen und riss sich zusammen, denn diesen Kerl würde sie das nächste Jahr sehen. Außerdem bestand doch nicht wirklich Grund zur Sorge, oder doch? Unweigerlich musste sie schlucken. Aber sie würde sich nicht geschlagen geben, eindeutig nicht! Die Stimme ihres Großvaters riss sie aus den Gedanken und auch der Blickkontakt mit Ryuzaki brach ab, diesem sie standgehalten hatte. „Möchtest du nichts essen? Oder hast du einen bestimmen Wunsch?“ Watari war neben ihr getreten und lächelte freundlich. Einige Sekunden vergingen bevor sie langsam begann den Kopf zu schütteln. „Du kannst dich ruhig an den Keksen bedienen.“, mischte sich umgehend Ryuzaki ein. Shaelyn zuckte zusammen und erstarrte direkt danach. Er hatte den Blick auf den Keksen bemerkt? Dabei war es mehr als nur kurzzeitig. Er schien ihr immer gruseliger zu werden. Die Tatsache, sie wurde so genau beobachtet war ihr unangenehm, gerade so wie ein Verbrecher, der jeden Moment zuschlagen könnte. Das war alarmierend. Sie blickte vor sich auf den leeren Teller, um ihre Aufregung zu lindern. Unangenehm war nicht mehr im geringsten das richtige Wort für das was sie gerade empfand. War das auch wirklich alles real? Das konnte es doch nicht sein, nein, es war garantiert nicht echt, was sich hier alles abspielte. Noch immer spürte sie den durchdringenden Blick auf sich. Heute Nacht würde sie eindeutig die Tür abschließen. Denn ihr, sozusagen, Mitbewohner war ihr absolut nicht sympathisch, gerade zu erschreckend. Bestimmt war er auch ein Perverser, so wie er aussah. Würde das Wort Freak auch passen? Ja mit Sicherheit, den durfte man wirklich nicht auf die Öffentlichkeit loslassen. Schon jetzt war ihm gegenüber eine große Abneigung. „Ich bin müde, darf ich in mein Zimmer?“ Die Stimme war unsicher und leise, sie hatte sich zu Watari gewandt. Dieser blickte sie besorgt an. „Du hast doch noch nichts gegessen.“, offenbarte er umgehend. „Ich habe keinen Hunger, danke.“, erwiderte sie sofort matt, gleichsam sie aufstand und der Stuhl geräuschvoll über dem Boden rutschte. Sie musste einfach aus diesem Raum. Sie fühlte sich schon mies genug, da musste der komische Freak nicht noch mehr dafür sorgen, dass es ihr noch schlechter ging. Ihr Großvater allerdings war wirklich sehr nett, außerdem sah sie die Besorgnis in seinen Augen. Bevor sie den Raum verließ, legte sich ein sehr kleines Lächeln auf ihre Lippen und drehte ihren Kopf zu ihm. „Vielen dank trotz allem wegen der Mühe, Großvater.“ Mit diesen Worten verließ sie fast fluchtartig den Raum. Ryuzakis schwarze Pupillen verfolgten sie genau, dabei bewegte er verstärkt seine Zehen. Nun neigte er den Kopf etwas zur Seite, woraufhin er den alten Herren anblickte. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah, jedoch legte er seinen Kopf ein wenig schief. Es war eindeutig nicht so verlaufen, wie es ursprünglich geplant war. Offensichtlich war sie aufgrund seiner Anwesenheit sehr beunruhigt gewesen. Ryuzaki führte seinen rechten Daumen an die Unterlippe, an dem er gleich kaute. Ihm stellte sich eine Frage: Hatte er sie so verschreckt? Es war nicht wichtig, daher verwarf er diesen Gedanken schnell wieder. Sein Vertrauter schien aber nicht sehr glücklich zu sein, die Sorge stand ihm offensichtlich im Gesicht geschrieben. Warum sorgte er sich so stark um sie? Sie schien geistig klar zu sein, nun das sie dünn war, fiel ihm natürlich auf, jedoch noch nicht so stark, dass es besorgniserregend war. Zumindest für seine Ansicht. „Um was sorgen Sie sich, Watari?“, fragte auch gleich der Schwarzhaarige, der sich nun ganz dem gedeckten Tisch widmete. „Sie hatte seit mehr als fünf Tagen nichts mehr an Essen zu sich genommen.“ Der alte Mann trat an den Tisch heran, währenddessen griff Ryuzaki zu der Schale mit Keksen, um einige der Leckereien heraus zu nehmen. Die er auch gleich darauf vergnüglich verspeiste. „Hm...“, folgte es nachdenklich von ihm, als er weiter Kekse an einem Keks knabberte. Das war allerdings besorgniserregend, dabei starrte er auf das Gebäck, welches sie kurzzeitig angesehen hatte. Grauenhaft! Es war einfach grauenhaft. Mit diesem komischen Kerl wollte sie nicht einmal 24 Stunden unter einem Dach leben. Geschweige denn in einer Wohnung. Sie schloss die Tür, noch immer sichtlich erschrocken, hinter sich als sie das Zimmer betreten hatte. Sofort lehnte sie sich an die Tür, dabei biss sie sich auf die Unterlippe. Wohl fühlte sie sich überhaupt nicht. Ein paar Mal holte sie tief Luft, wiederholte das Ganze eine Zeitlang, bevor sie sich auf ihr Bett setzte. Was sollte sie nun tun? Weglaufen wäre eine schlechte Idee, wo sollte sie schon hin? Sie hatte nur ihren Großvater und dieser lebte anscheinend mit diesem seltsamen Typen zusammen. Ein lauter Seufzer erfüllte den Raum. Das Bett knarrte leise als sie sich mit dem Rücken darauf fallen ließ. Wie spät war es eigentlich? Dunkel war es schon als sie hier ankam. Dies sagte aber nichts aus, denn es war immerhin schon Dezember. Der Blick glitt durchs Zimmer während sie sich aufsetzte. Nirgendwo war eine Uhr zu finden, allgemein war der Raum sehr dürftig eingerichtet. Lediglich das Bett, einen kleinen Schrank und ein kleiner Schreibtisch mit einem Stuhl davor. Die Einrichtung reichte vollkommen aus, nur das keine Uhr zu finden war, die ihr verriet wie spät es denn nun sei, verärgerte sie leicht. Raus gehen würde sie mit Sicherheit nicht mehr, so wenig wie möglich wollte sie ihrem Mitbewohner begegnen. Also beschloss sie, sich wieder schlafen zu legen. Was anderes konnte sie auch nicht machen, sie hatte nichts dabei und das Zimmer zu verlassen kam nun mal nicht in Frage. So zog sie sich ihr Kleid aus, kramte aus ihrer Tasche ihr Nachthemd, zog dieses kurzerhand über und schaltete das Licht aus. Gerade nachdem sie das Licht ausschaltete hörte sie im Gang eine Bewegung, sofort schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Wer war das? Es war ohnehin egal, denn abgeschlossen war es sowieso und der Schlüssel steckte im Schloss. Die Schritte machten vor ihrem Zimmer halt. Unbewusst hielt sie den Atem an. Shaelyn schreckte hoch, auch wenn es schon längst klar war, dass ein Klopfen folgen würde. „Ja,...?“ Die Nervosität war nicht zu überhören und ihr Herz pochte wild. Immerhin stand sie im Nachthemd im Zimmer, das sie so jemand sah gefiel ihr überhaupt nicht, vor allem wenn es dieser Ryuzaki war. Die Klinke wurde hinunter gedrückt, was sie hören konnte. Es war dunkel im Zimmer, somit konnte man nichts sehen. Nichts Geschah, für einen Moment. „Bitte schließe die Tür auf, ich möchte dir noch etwas mit in das Zimmer geben.“ Es war die Stimme ihres Großvaters. Eine Erleichterung machte sich augenblicklich in ihr breit. Sogleich schloss sie die Tür auf, die auch sofort knarrte als sie diese aufzog. Kurz war sie geblendet vom Licht, welches aus dem Flur in ihren Raum fiel. Die Augen gewöhnten sich schnell an die Helligkeit und vor ihr stand, wie erwartet, ihr Großvater, allerdings mit einer Schale in der Hand. Shaelyn staunte nicht schlecht, die Schale war gefüllt mit Keksen. Gebannt starrte sie auf das Gebäck. „Du solltest etwas essen Shaelyn. Ich lasse sie dir hier, bediene dich daran, wenn du Hunger bekommst.“ Sie wusste nicht warum aber diese Geste von ihrem Großvater war mehr als fürsorglich. Ein Lächeln schlich sich sofort auf ihre Lippen. Natürlich würde sie die Schale entgegennehmen. „Vielen Dank,...“ Das war das Einzige was sie heraus brachte und auch die Schale in die Hände nahm. „Ich werde morgen wieder an deine Tür klopfen, wenn es Zeit ist für die Schule.“ Shaelyn nickte nur schwach zur Bestätigung. „Gut, dann wünsche ich dir eine gute Nacht.“ „Dir auch eine gute Nacht“, erwiderte sie sofort, was das Lächeln in dem Gesicht ihres Großvaters nur freundlicher werden ließ, wenn dies überhaupt möglich war. Shaelyn zog hinter sich die Türe zu, diese sie auch wieder verschloss. Für einen Moment lehnte sie sich an ihre Türe. Es war erneut dunkel im Raum aber den Geruch vom Gebäck war deutlich zu riechen. Zimt, Schokolade sogar ein wenig Lebkuchen lag in der Luft. Umgehend knurrte ihr Magen laut. Sie machte sich, mit der Schale in den Händen, auf den Weg zum Bett. Das sie auch ohne Probleme fand, aber es gab sowieso nicht viel woran man sich hätte stoßen können. Als sie sich auf ihr Bett gesetzt hatte, nahm sie auch gleich den ersten Keks und aß ihn. Er schmeckte köstlich, somit war kein Seufzer zu unterdrücken. Die Schale leerte sich erstaunlicherweise sehr schnell. Dennoch geisterte ein Gedanke die ganze Zeit in ihrem Kopf herum. Hatte Watari die Idee dazu ihr die Kekse zu bringen? Was wäre wenn es Ryuzaki war. Immerhin war ihm aufgefallen, dass sie die Kekse so angesehen hatte. Schätzte sie ihn falsch ein? Sie schob schnell den Gedanken von sich. Unsinn! Ihr Großvater hatte es doch, nachdem Ryuzaki es angesprochen hatte, auch bemerkt, dass sie das Gebäck ansprechend fand. Dieser Freak hatte mit Sicherheit nichts damit zu tun, denn im Gegensatz zu ihm, war Watari sehr nett und höflich. Es lag also auf der Hand, dass es ihr Großvater war. Sie stellte die leere Schale vorsichtig auf den Boden und legte sich auf ihr Bett. Sogleich kuschelte sie sich in die großen Decken. Es war kühl, auch wenn das Fenster geschlossen war. Die Wärme breitete sich schnell unter den Decken aus. Die Müdigkeit nahm immer mehr die Oberhand. Doch trotz allem, ein eigenartiges Gefühl befiel sie. Sie fühlte sich unsicher, denn die Zukunft versprach ihr nicht viel. Es war soviel passiert, was ihr komplettes Leben verändert hatte. Konnte es noch eine schöne Zukunft geben? Diese Hoffnung hatte sie aufgegeben. Und dann wurde ihr auch noch übel. Süßes auf einen lauen Magen bekam ihr wohl nicht. So setzte der Schlaf erst langsam ein. Kapitel 3: Süße Verlockungen - Nein danke! ------------------------------------------ Langsam driftete Shaelyn aus ihrem Schlaf, da ein lautes Geräusch an ihre Ohren drang. Es dauerte nicht lange und erneut war dieser Lärm zu hören, was sich nun als Klopfen identifizieren ließ, jedoch waren ihre Sinne noch immer in der Traumwelt. War es echt? Shaelyn schlug ihre Augen auf und sah nichts, nur die Schwärze, was sie vollkommen verwirrte. Wo war sie? Die Gedanken gerieten durcheinander. „Shaelyn ist alles in Ordnung?“ Die Stimme kannte sie doch. Aber natürlich es war die Stimme ihres Großvaters. „Ähm, ja, es ist alles okay ich stehe auf.“, rief sie direkt in die Dunkelheit, mit leicht angekratzter Stimme. Am Morgen war sie immer sehr zerstreut, das hatte sich nicht geändert. Ein Moment der Ruhe kehrte ein und sie hörte wie Watari sich von der Tür entfernte. Die Müdigkeit war noch immer da und es kostete viel Überwindung sich trotzdem aufzurichten. Nun würde der erste Tag in ihrem neuen Leben beginnen. Gut fühlte sie sich nicht besonders, was aber konnte sie schon daran ändern. Sie nahm es wie es kam, oder viel mehr musste es so nehmen wie es war. Es wäre sinnlos versuchen sich zu wehren und auch sich ganz zurück zu ziehen. Das hätten weder ihre Eltern noch ihr Bruder gewollt. Mit einem kleinen Seufzer begleitet stand sie auf. Heute würde sie ihre neue Schule kennenlernen, das allerdings war nicht das beunruhigende, nein es war; wie reagierten die Mitschüler. Würde sie Anschluss finden? Besonders da es doch nur für ein halbes Jahr galt. Sollte sie sich wirklich so große Gedanken darum machen? Wahrscheinlich nicht. Mit diesen Gedanken tapste sie, sehr langsam, auf den Lichtschalter zu, den sie auch gleich berührte, woraufhin sie kurz geblendet war. Ein Schauder fuhr ihr durch den Körper. Es war eine unangenehme Kühle im Raum, jedoch machte ihr ihre Schlaftrunkenheit mehr zu schaffen. Shaelyn rieb sich die Augen, während sie zu ihrem Rucksack ging, jener war schnell geöffnet und die Sachen heraus gelegt. Gerade als sie fertig war mit dem umziehen, klopfte es erneut, was sie augenblicklich zusammen zucken ließ. Schließlich wandte sie mit kurzem zögern ihren Kopf in Richtung der Tür. „Ja?“ Statt einer Antwort sah sie, wie die Türklinke hinunter gedrückt wurde. Natürlich passierte nichts, denn noch immer war die Tür verschlossen. „Öffne bitte die Tür, ich habe noch etwas Wichtiges für dich.“ Die Stimme ihres Großvaters war zu hören. Ohne ein Wort zu sagen ging sie unverzüglich auf die Tür zu und öffnete sie. Watari stand vor ihr und hatte eine größere Schachtel in der Hand, die von ihr ausgiebig gemustert wurde. „Deine Schuluniform, die du ab heute tragen wirst, darin befindet sich auch passendes für dieses Wetter.“ Erklärte er freundlich und hielt ihr die Schachtel entgegen, die sie auch entgegen nahm, mit sichtlicher Verwunderung. Eine Schuluniform? Auf was für eine Schule ging sie ab jetzt? Doch nicht etwa eine Private. Lohnte das überhaupt? Außerdem, war es nicht viel zu teuer? „Danke sehr ...“ Ihr Großvater lächelte sie nochmals freundlich an, was sie milder stimmte. „Ich warte dann im Flur auf dich.“ Er nickte ihr zu und verschwand von der Tür, die er natürlich so freundlich wie er war, für sie schloss. Shaelyn sah auf das Paket in ihren Händen, dabei stieß sie einen Seufzer aus. Wo sollte das alles enden? Somit packte sie schnell den Inhalt aus: Einen langen dunkelgrünen Rock, dazu ein weißes langes Hemd und eine passende grüne Überjacke, das ein Symbol der Schule auf der Vorderseite trug. Sie schnalzte direkt unzufrieden. Die Farbe fand sie schrecklich, denn grün zählte sie eindeutig nicht zu ihren Lieblingsfarben, obwohl es ihre eigene Augenfarbe war. Als sie die Jacke heraus nahm, befand sich darunter noch eine kleine weiße Tüte, die sie schnell heraus nahm. Es ließ sich eine dicke weiße Strumpfhose in der Tüte finden. Das sollte für den Winter reichen? Alleine im Schnee versank sie schon ganz mit ihren Schuhen, wie also um alles in dieser Welt sollte das reichen? Es half aber nicht weiter sich darüber den Kopf zu zerbrechen, dennoch war sie leicht verärgert, weshalb sie sich doch recht missmutig anzog. Es fehlte nur noch die Strumpfhose, jedoch schien diese nicht so zu wollen wie sie, weshalb sie sich einen kleinen Kampf mit ihr lieferte. Plötzlich wurde die Tür aufgezogen, was sie erschreckte und dazu veranlasste sofort den Kopf zur Tür herum zu reißen. Und umgehend hatte sie das Gefühl ihr Blut gefror. Dort stand dieser seltsame Typ mit dem sie zusammen wohnen musste und starrte nun recht überrascht. Was allerdings kein Wunder war, denn immerhin stand sie mit einem Bein auf dem Bett und zog die Strumpfhose nach oben, weshalb der Rock nach oben geschoben war. Sofort verfinsterte sich ihr Gesicht, seines hingegen jedoch schien recht interessiert zu wirken, was durch den Finger an seinem Mund die fehlende Note gab. „Hast du schon mal was von Anklopfen gehört? Das macht man normalerweise, wenn man ein fremdes Zimmer betreten will!“ Der Ärger war deutlich in ihrer Stimme zu hören. Nein, einschüchtern lassen würde sie sich nicht mehr, vor allem da es Morgen war, da durfte sie schon einmal keiner ansprechen, den sie nicht leiden konnte, ganz zu schweigen davon, dass sie diesem Typen gerade fast ihre Unterwäsche präsentierte. „Ist das so?“ Shaelyn stutzte sofort und blinzelte einige Male. Der Kerl war unglaublich dreist und dazu hatte er nicht einmal genug Benehmen seinen Blick von ihr zu nehmen. „Ja, das ist so!“ Er legte den Kopf etwas schief, dabei setzte er ein ziemlich unschuldig scheinenden Gesichtsausdruck auf. „Ich wollte nur nur vorbei sehen, um mich zu vergewissern, dass du langsam bereit bist.“ Die Schuldzuweisung in diesem Satz war nicht zu überhören, was nicht sonderlich dazu beitrug ihre Laune zu heben. „... Ja, das bin ich bald, wie du siehst aber ziehe ich mich gerade noch an, wenn du also wenigstens soviel Anstand hättest mich jetzt in Ruhe zu lassen, damit ich mich anziehen kann,... halt, warum fragst du das eigentlich?“ „Ich fahre mit.“, antwortete er prompt unbekümmert. „Deshalb solltest du dich langsam fertig anziehen.“, setzte er monoton nach, während sein Gesicht zur Ausdruckslosigkeit zurückkehrte. Shaelyn öffnete vor Verblüffung ihren Mund und starrte den mageren jungen Mann, der gekrümmt an der Tür stand, an. Sie kämpfte mit sich, um nicht zu explodieren. Gleich auch probierte sie seine provozierenden Worte zu ignorieren, was sie ein paar Wutfalten auf der Stirn einbrachte. Wieso mitfahren? Seine Kleidung ließ nicht gerade darauf schließen, dass er ebenfalls wie sie auf diese Schule gehen würde, außerdem schien er schon etwas älter zu sein. Jedenfalls glaubte sie das. „Aha... und wieso?“, fragte sie bissig nach und biss sich gleich auf die Unterlippe, um weitere Worte zu unterdrücken. „Oh ich muss nur einige wichtige Angelegenheiten auf den Grund gehen.“ So so,... ein paar wichtige Angelegenheiten und wie sie sich denken konnte, würde er ihr dann auch sicher nicht sagen um was es sich handelte. Zudem war das ohnehin egal. Es war besser nichts mit ihm zu tun zu haben. Und je schneller er weg war, desto besser. Irgendwie wurde ihre Stimmung nicht besser, alleine das er einfach so taktlos war und die Tür ohne Erlaubnis öffnete, machte sie schon wütend genug. „Schön, dann wünsche ich trotzdem, dass du jetzt die Tür schließt, damit wir ja zügig los können, richtig?“, verließ es zuckersüß ihren Mund und versuchte so scheinheilig wie möglich zu klingen. „Richtig.“ Mit diesem unbeeindruckten Wort ging er tatsächlich, was sie doch sehr erstaunte. Sie hatte irgendwie mehr erwartet, besonders, da ihn ihre Worte kalt ließen. Nachdem die Tür auch schon geschlossen war, musste sie genervt aufstöhnen, was daran lag, dass sie ihn jetzt sogar gleich noch sehen musste. Der Gedanke daran, sie müsse in seiner Nähe sitzen, gefiel ihr überhaupt nicht, aber auch hier ließ es sich nicht vermeiden. Die lästige Strumpfhose war dann schnell angezogen und so machte sie sich auf den Weg in den Flur, wo zum Verwundern nur Ryuzaki stand, der auch gleich zu ihr hinüber sah, mit einem nichtssagendem Gesicht. Zögerlich setzte sie ihren Weg zum Kleiderständer fort, begleitet mit seinem durchdringenden Blick, woraufhin sie leicht mit den Zähnen knirschte. Ryuzaki war wirklich unangenehm. Musste er immer so gaffen? Während sie zu ihm gelaufen kam, beobachtete er sie haargenau. Heute schien sie nicht so ängstlich zu sein, was alleine schon an ihren vorherigen Aussagen anzunehmen war. Anscheinend war sie doch nicht so schüchtern, wie er sie zu beginn eingeschätzt hatte. Nun, er hatte sie auch gestern das erste Mal gesehen und das nur kurz, noch dazu lag es auch nicht in seiner Absicht sie weiter kennenzulernen. Ihre Augen suchen offensichtlich nach Watari, zugleich war sie verwundert ihn nicht zu sehen. „Watari holt bereits den Wagen, wenn du nun bitte deinen Mantel anziehen würdest.“ Seine Stimme war ruhig und er beobachtete sie weiterhin aufmerksam wie sie sich vorsichtig näherte. „Er hatte doch gesagt er würde hier warten?“ Ihr Gesichtsausdruck nahm an Verwirrung zu, genauso klang die Frage auch. Er zog eine Augenbraue nach oben, dabei nahm er seinen Finger von seiner Unterlippe. „Da du so lange mit Ankleiden beschäftigt warst, habe ich ihm gesagt, er sollte schon einmal den Wagen vorfahren.“ Er erntete sofort einen bösen Blick von ihr, was ihn allerdings unberührt ließ. Ryuzaki drehte sich herum ohne weiter auf sie zu achten, nahm von dem Kleiderständer ebenfalls wie sie etwas zum Überziehen und öffnete die Wohnungstür. Nachdem sie ihre Schuhe angezogen hatte folgte sie ihm Still, auch während er die Treppen hinunter ging blieb sie ruhig. Eine trügerische Ruhe, das wusste er, denn ihm war nicht entgangen wie wenig sie ihn schätzte, was ihn aber nicht sonderlich störte. Die Meinung anderer war ihm schon immer gleich, ihr Urteil bildete keine Ausnahme. Skeptisch blickte Shaelyn ihn an, während sie ihm hinunter folgte, aber immer darauf bedacht einen gewissen Abstand zu ihm zu halten. Dieser Kerl war wirklich beängstigend. Würde das Treppenhaus nicht beleuchtet werden, würde man ihn nicht hören, so leise wie er ging, auch die dunkle Erscheinung die er nun hatte, durch die schwarze Jacke, würde man ihn nicht sehen. Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. Die Schwarzhaarige war wirklich froh, wenn sie nicht mehr in seiner Nähe sein musste, was jedoch erst in ein paar Tagen so sein würde. Die Gedanken an eine eigene Wohnung ließen sie nun aber ein wenig traurig werden, alleine wäre sie in der Wohnung. Natürlich Watari, ihr Großvater, war da, aber es war nicht dasselbe, vor allem jemanden in ihrem alter vermisste sie, aber vielleicht würde sich auf der Schule einer finden lassen. Shaelyn hatte sich fest vorgenommen nicht wieder in eine depressive Phase zu fallen. Ein kalter Luftzug riss sie aus ihren Gedanken, sofort fing ihr Körper an leicht zu zittern. Ryuzaki hatte die Eingangstür aufgezogen und trat bereits hinaus auf die verschneite Straße. Noch immer war es dunkel, jedoch die Laternen an der Straße erhellten den Weg und ließen den Schnee glitzern. Es war wirklich sehr kalt, weshalb sie ihre Hände an ihre Arme legte und auch gleich hinaus ging, um schnell an Ryuzaki vorbei zu laufen. Dieser blickte sie etwas schräg an als sie an ihm vorbei eilte damit sie sich rasch ins Auto setzen konnte. Watari stand schon bereits an der Hintertür des Wagens um ihr diese zu öffnen, auch gleich setzte sie sich hinein und die Tür wurde geschlossen. Ihr Großvater lief um den Wagen, um auch dem jungen Mann die Türe zu öffnen, woraufhin dieser auch einstieg und neben ihr platz nahm. Shaelyn beäugte diese Situation genau, auch fiel sofort auf, dass er sich wieder so seltsam hinsetzte, nun ja mehr hin hockte,... mit nackten Füßen auf dem Sitz, da er selbstverständlich vorher die lockeren Schuhe auszog. Saß er wirklich immer so? Zweifellos war er seltsam, was nur mehr Fragen aufwarf. Warum nahm ihr Großvater ihn wohl auf? Alt genug war er doch für ein eigenständiges Leben. Sie müsste Watari unbedingt mal danach fragen, was dieser mit ihm Zutun hatte. Der Wagen hatte sich schon in Bewegung gesetzt, während Shaelyn noch weiter über Ryuzaki nachdachte, dieser wie ein Mysterium für sie war. Er schien sie nicht zu beachten und schenkte lieber der Schneelandschaft, die an dem Fenster vorbeizog, Aufmerksamkeit. Nach einiger Zeit nahm sie den kritischen Blick von ihm. Wie würde es jetzt eigentlich ablaufen? Würde etwa Watari sie jeden Tag hinbringen und auch wieder abholen? Sie musste ihn im laufe des Tages fragen wie es denn nun alles von statten gehen sollte. Es wurde nach einer Weile warm im Auto, was sie entspannen ließ, endlich war es nicht mehr so kühl. Dann bemerkte sie etwas in ihrem Blickwinkel, weshalb sie sofort zu ihrer Seite blickte. Ryuzaki hatte begonnen sich ein wenig vor und zurück zu lehnen. Wippte er da nun tatsächlich?! Verständnislos sah sie sich das Spielchen an. Wie alt war er denn? Machten Kinder so etwas nicht normalerweise? Irgendwie wurde er wirklich immer unheimlicher. „Ähm,... ich will ja nichts sagen, aber wieso wippst du so, Ryuzaki?“ Verwirrt blinzelte sie nur weiter. Der Angesprochene drehte seinen Kopf ungesund zu ihr, daraufhin fragte sich Shaelyn warum sie ihn das gefragt hatte, denn sein Blick war zum Angst einjagen, da er schon wieder so starrte mit seinen riesigen Augen. „Spricht etwas dagegen?“ Eine kleine Pause trat ein, in der sie ihn nur irritiert ansah. „Es ist nur komisch. Außerdem ist das ziemlich kindisch.“ „Ich habe nie behauptet es nicht zu sein.“ Die Antwort folgte prompt von ihm und sie war sprachlos. Hielt er sie jetzt zum Narren? Oder meinte er das ernst? Irgendwie wusste die Schwarzhaarige nicht woran sie bei ihm war. Sie schüttelte leicht ihren Kopf und winkte mit ihrer Hand ab. „Schon gut. Ich sag einfach nichts mehr dazu.“ Es war viel zu absurd sich noch weiter mit ihm zu unterhalten, zudem wenn sie auch ehrlich zu sich selbst war, wollte sie auch gar nicht weiter mit ihm reden. Somit drehte sie ihren Kopf wieder zum Autofenster. Das Gefühl beobachtet zu werden ließ nicht nach, während der ganzen Fahrt. Sie war sich sicher, er hatte sie ununterbrochen angesehen, was ihr nicht gerade behagte, dennoch konnte sie nichts tun. Es machte sie aber sehr nervös, sodass sie leicht ihre Finger aneinander rieb und diese ansah. Eins hatte sie gelernt, ihn nicht auf sich aufmerksam machen, denn hätte sie nichts gesagt wäre ihr das sicherlich erspart geblieben. Der Wagen wurde langsamer, was Shaelyn gleich bemerkte und nun neugierig aus dem Autofenster blickte. Die Sonne war noch immer nicht aufgegangen, aber die unzähligen Laternen die sich auf dem Gelände verteilten, brachten Licht ins Dunkel. Auch das große Schulgebäude an sich war erhellt, man konnte in den einzelnen großen Fenstern hinein sehen und auch schon Schüler hinter den Fenstern ausmachen. Aufregung ergriff sie erneut, denn schien alles auf diesem Gelände auch recht teuer zu sein, viele Statuen waren zu sehen und auch sah alles sehr altmodisch aus. Es war eindeutig eine Privatschule. Hoffentlich wurde sie den hohen Erwartungen gerecht. Watari hielt den Wagen an und stieg aus, um ihr die Türe zu öffnen. Nachdem diese aufgezogen wurde, trat sie auf den Weg. Es war noch immer unbegreiflich für sie, was sich auch gut an ihrem vor Verblüffung geöffneten Mund zeigte. Wo war sie nur gelandet? Luxus war sie nicht wirklich gewöhnt und war dem auch eher abgeneigt, da Geld meist die Menschen verfälschte. „Sind wir hier wirklich richtig?“ Die Frage klang unsicher, dabei blickte sie zu ihrem Großvater auf. „Ja, hier sind wir richtig. Der Direktor der Schule erwartet dich in seinem Büro, er wird dir weiteres erklären. Wenn der Unterricht beendet ist, werde ich hier auf dich warten.“, erklärte er gleich auch schon. Shaelyn nickte nur leicht, woraufhin er sich herum drehte um in den Wagen zu steigen. Sie trat vom Auto weg und sah gebannt auf das große Gebäude vor sich. War es denn wirklich nötig sie auf diese Schule zu schicken? Das alles musste doch sicher ein Vermögen kosten, das wäre nicht nötig. Eine normale Schule hätte auch seinen Zweck erfüllt. Das Auto fuhr vom Gelände und sie ging zögernd auf den Eingang des Gebäudes zu, wo schon viele Schüler hindurch gingen. Auch sie betrat die Schule schnell, denn die Kälte war wirklich nicht lange zum Aushalten. Direkt als sie hinein ging, wurde es wärmer. Verunsichert schaute sie sich um, ein paar Schüler hatten sie bereits gemustert, das erkannte sie an den Blicken die sie ihr zuwarfen. Verzweifelnd suchte sie einen Anhaltspunkt der ihr die Richtung des Büros zeigen würde. Leider ließ sich keiner finden, somit musste sie wohl notgedrungen jemanden fragen. Shaelyn schritt auf einen Schüler zu, der wohl gerade mit seinem Buch beschäftigt und stehen geblieben war. „Entschuldige bitte.“, begann sie auch schon, als sie neben ihm stehen blieb. Der Angesprochene hob seinen Kopf und rückte seine Brille zurecht, dabei musterte er die Schwarzhaarige vor sich. „Ja?“ „Ich suche das Büro des Direktors, kannst du mir vielleicht sagen wo das ist?“, fuhr sie fort, direkt hob er eine Augenbraue. „Sicher,“ der Brillenträger hob seine Hand und deutete auf einen Gang der sich neben ihr befand, sie folgte seiner Geste. „diesen Gang gehst du bis zum Ende. Du kannst es gar nicht verfehlen.“ Shaelyn wurde leicht rot im Gesicht. Das war ihr nun etwas peinlich, so einfach war es also und dabei sah die Tür am Ende des Ganges sogar wirklich sehr vielversprechend aus. „Ähm, Danke sehr.“ „Keine Ursache.“ Somit machte sie sich auf den Weg den Flur hinunter. An der beschriebenen Tür blieb sie stehen und klopfte zaghaft an dieser. Ein Moment passierte nichts, bis sie ein: „Herein.“ hörte. Die Tür schwang mit einem kleinen Knarren auf, hinter der sie sofort einen älteren Herren ausmachen konnte, der an seinem Schreibtisch saß und sie nun musterte. „Ah, Sie müssen Miss Suzuki sein. Setzen Sie sich doch bitte.“ Verwundert blinzelte sie ein paar Mal, bevor sie seiner Bitte nach kam. Hatte er sie wirklich gesietzt? Irgendwie fühlte sie sich jetzt wirklich sehr eigenartig, denn gesietzt würde man doch erst nachdem man Volljährig war. Es war wohl normal, in den höheren Kreisen. Anders konnte sie es sich nicht vorstellen. „Ich möchte Sie erst einmal Herzlich Willkommen heißen an dieser Schule. Nennen Sie mich doch bitte Direktor Fuller. Schade, dass Sie nur ein halbes Jahr hier verbringen werden. Ich hoffe also umso mehr, dass Sie sich in dieser Zeit hier gut einfinden werden.“ Ein Lächeln zierte sein Gesicht und seine Stimme war recht angenehm. „Guten Morgen Direktor Fuller.“ Bei diesen Worten wurde sein Lächeln freundlicher und sie fühlte sich gleich nicht mehr so verloren. „Sie werden die letzte Klasse besuchen. Aber ich habe Ihnen alles auf dieses Blatt hier vermerkt, dort stehen alle wichtigen Informationen für Sie.“ Er hob ein Blatt von seinem Schreibtisch hoch und gab es ihr, was sie aufmerksam betrachtete. Der Direktor stand auf und ging auf einen Schrank zu, den er kurz darauf öffnete, was Shaelyn nun zum Aufsehen verleitete. „Ich habe noch ein Geschenk der Schule für Sie, was jeder der Schüler bekommen hat.“ Während er ein Paket aus dem Schrank holte, wurde sie neugieriger. Der ältere Herr trat auf sie zu und reichte ihr dieses Paket, was sie an sich nahm. Erwartungsvoll sah er sie an, was wohl bedeutete sie sollte es direkt öffnen. Das tat sie und holte eine schwarze Umhängetasche aus dem Paket, dies ließ sie erneut verwundert aussehen. Eine Umhängetasche? „Wissen Sie, die Schulleitung wollte etwas Zeitgerechter sein, daher entschieden wir uns für eine solche Tasche. Wenn Sie die Tasche auf ihre Vorderseite drehen, werden Sie das Symbol der Schule darauf erkennen.“ Das kam nun ein wenig Stolz von ihm und sie wendete die Tasche. Ja, das Symbol war nicht zu übersehen. Eindeutig war er begeistert von seiner Schule. „Nun aber genug, gehen Sie doch bitte in den Unterricht, er beginnt in wenigen Minuten und Ihr Lehrer wartet sicher schon auf Sie.“ Shaelyn nickte unsicher, dabei stand sie auf und legte sich die Tasche um. Mit dem Blatt in der Hand verließ sie das Büro eilig. Sie las das Blatt zu ende, auf dem ihr alles wichtige erklärt wurde: Wo sich die Räume befanden, den Unterrichtsplan sowie die Wahlfächer die sie nehmen konnte. Mit den Wahlfächern würde sie sich später noch weiter auseinandersetzen, erst galt es ihren Klassenraum zu finden, was irgendwie nicht so leicht war, denn dieses Gebäude hatte wirklich viele Flure. Nachdem sie endlich an der richtigen Tür ankam, nahm sie noch einmal einen tiefen Luftzug, bevor sie das Klassenzimmer betrat. Shaelyn verließ das Gebäude und seufzte einmal auf. Der Unterricht an diesen Tag war nicht so gut verlaufen; erst musste sie sich einfinden und dann waren die Klassenkameraden nicht gerade sehr nett. Nun, viel mehr hatte sie auch nicht erwartet. Sie blickte in den Himmel, als sie versuchte ihren Kopf frei zu bekommen. Keine einzige Wolke war zu sehen und die Sonne stand schon recht hoch, die allerdings wenig Wärme von sich gab. Im Winter eben nichts Besonderes. Dann senkte sie den Kopf wieder und sah vor sich. Es war nicht leicht sofort den Wagen ihres Großvaters zu erkennen, da viele andere Autos ebenfalls dort standen. Nachdem sie ihn ausmachen konnte, sah sie auch direkt ihren Großvater der sie, wie immer, freundlich ansah. Sie wollte gerade auf ihn zulaufen, doch dann kam ihr ein Gedanke. Sofort sah sie genauer in den Wagen, in der sich allerdings niemand befand, was sie aufatmen ließ. Der seltsame Typ war nicht im Auto, das erleichterte sie, somit ging sie mit einem Lächeln auf ihren Großvater zu. „Und wie war dein erster Tag?“ Watari fragte direkt und schien interessiert zu sein. „Es geht. Der Unterricht ist anders als in meiner alten Schule, da muss ich mich erst mal zurecht finden, aber das bekomme ich schon hin.“ Sie versuchte recht gelassen zu wirken, war jedoch ein wenig angespannt. Der Unterrichtsstoff war alles andere als leicht. Shaelyn war eben keine Intelligenzbestie. Sie war eher Durchschnitt, daher fiel es ihr schwieriger dem allem nachzukommen. Ihr Großvater öffnete ihr die Tür wieder und sie setzte sich hinein, dabei legte sie ihre Tasche neben sich. Es gab eine Menge zum Nachholen, das hieße sie habe die nächste Zeit wenigstens einiges Zutun und musste wenig an ihre Familie denken. Ihre Familie... die Erinnerungen holten sie ein, denn immer wenn sie etwas in der Schule nicht verstand ging sie zu ihrem Bruder, der ihr so gut er konnte alles beibrachte, was gar nicht so leicht war, da sie manchmal sehr schwer von Begriff war. Doch hatte Ryu nur selten die Geduld verloren und schaffte es ihr was einzuprägen, wofür sie ihm immer sehr dankbar war. Nur am Rande bekam sie mit, wie ihr Großvater den Wagen startete und bereits los fuhr. Der Blick von ihr war leer, dabei starr nach vorn gerichtet, doch ein kleines Lächeln breitete sich nun auf ihrem Gesicht aus. Die Gedanken hingen an ihrem Bruder, mit dem sie soviel Spaß gehabt hatte. Sie waren unzertrennlich gewesen und sie ähnelte ihm sehr, weshalb sie fast alles gemeinsam mit ihm gemacht hatte. Auch wenn sie fast 17 war, so schlief sie manchmal bei ihm im Bett, was ihn auch nie gestört hatte. Nein, es hatte sogar Spaß gemacht, da sie oft heimlich Nachts noch etwas am kleinen Fernseher gespielt hatten. Leider blieb das nicht immer unentdeckt, denn es wurde häufig gelacht, somit kamen ihre Eltern ins Zimmer und hielten eine lange Strafrede, wie sie denn an der Konsole hängen konnten. Es kam ihr nun alles wie ein Alptraum vor, es war einfach verkehrt, das hier gerade sollte nicht passieren. Vorher war ihr nie bewusst was für ein schönes Leben sie doch gehabt hatte, nun wo sie für jeden Moment dankbar war, konnte sie es nicht ihrer Familie sagen. Shaelyn schüttelte leicht ihren Kopf, sie musste diese Gedanken los werden, denn sie stand schon wieder kurz davor zu weinen. Die Fahrt verlief still, was sie allerdings sehr seltsam fand, denn Watari sah eher danach aus als wolle er nach mehr Fragen, unterließ es aber. Ob er es bemerkt hatte, dass sie solchen Gedanken nach hing? War es so offensichtlich gewesen? Anscheinend, somit brach sie die Stille. „Bringst du mich eigentlich jetzt immer zur Schule und holst mich ab?“ Diese Fragen wollte sie ja schon eher gestellt haben, es schien jetzt auch der richtige Augenblick zu sein. Watari sah in den Rückspiegel um sie anzusehen. „Ja, es sei denn du möchtest die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen.“ „Nein, ist schon in Ordnung so, wollte nur nachfragen wie das so in Zukunft aussieht.“ „Ich habe mir etwas Zeit genommen und würde gerne mit dir noch Kleidung kaufen gehen, da du nichts zum Wechseln hast.“ Shaelyn blickte ihren Großvater mit großen Augen an. Er wollte mit ihr Einkaufen gehen? Es war wirklich keine schlechte Idee, aber dann wäre er noch mehr Geld los, das wollte sie nicht, dennoch blieb ihr keine Wahl, denn Kleidung brauchte sie. „... Okay. Aber keine teuren Läden, bitte...“ Einkaufen war sie nie gerne gegangen, besonders wenn es sich um Schuhe handelte, somit sollte es eigentlich nicht lange dauern ein paar Sachen zu finden. Oft wurde sie deshalb ausgegrenzt, da sie einfach keine Mitläuferin war und sich nicht ständig etwas Neues kaufte, um dann anschließend damit anzugeben. Diese Leute waren ihr zuwider, sie mochte lieber ehrliche Menschen, die zu sich selbst standen und natürlich waren, leider gab es viel zu wenige von diesen Menschen. Die Gebäude wurden immer mehr und auch höher. Ohne Zweifel steuerte Watari auf die Innenstadt zu. Ihr Großvater bog in eine Seitenstraße ein, um gleich darauf in ein Parkhaus zu fahren. Direkt stieg sie aus dem Wagen nachdem er gehalten hatte, sie musste wirklich nicht immer darauf warten, dass Watari ihr die Tür öffnete. Shaelyn legte sich die Tasche um und wartete auf ihren Großvater, der auch schon zu ihr ging. „Was kaufen wir denn jetzt genau alles ein?“ Bei ihrer Frage sah sie auf zu ihm, während sie ihm folgte. „Alles was du benötigst.“ „...“ Das wäre aber eine Menge, da sie so gut wie nichts besaß. „Wird das nicht ein wenig teuer? Ich meine, ich habe ja so gut wie nichts.“ Es war mehr als unangenehm dies zu fragen. „Suche dir aus was du möchtest, der Preis ist unwichtig. Mache dir darum also keine Gedanken, Shaelyn.“ Da war es wieder, er lächelte sie so freundlich an und sie bemerkte erneut wie nett ihr Großvater war, was sie selbst ein wenig lächeln ließ, sie mochte ihn bis jetzt schon sehr. Auch wenn sich in ihrem Hinterkopf die Frage immer weiter in den Vordergrund drängte, wie viel Geld er eigentlich besaß. Er musste auf jeden Fall einen gut bezahlten Job haben... Den Nachmittag verbrachte Shaelyn mit ihrem Großvater, um ein paar Kleidungsstücke zusammen zu tragen, was auch schnell gelang, da sie nicht wirklich wählerisch war, bei den Schuhen allerdings tat sie sich schwer. Nach einiger Zeit war sie doch schon sehr geschafft. Sie hatte bisher nichts gegessen und auch wenig getrunken, jetzt war sie sich sicher, sie würde wenn sie wieder in der Wohnung war etwas essen. So konnte es schließlich nicht weiter gehen. Die Kekse am Vortag waren zwar wirklich lecker, reichten aber bei weitem nicht aus. Nachdem Watari wohl genug Taschen zum Tragen hatte und sie selbst welche trug, wollte sie wirklich nach Hause um sich auszuruhen, somit machten sie sich an die Heimreise. Als sie endlich vor dem Wohngebäude Halt machten, erklärte Watari ihr noch sie solle schon einmal vor gehen, er würde mit den Taschen folgen. Shaelyn nickte ihm zu und stieg schon einmal aus dem Wagen und stapfte in den Schnee. Der Blick an den Horizont verriet ihr, dass es schon anfing zu dämmern. Nicht mehr lange und die Sonne würde für den Mond platz machen. War es wirklich schon so spät? Irgendwie war das Zeitgefühl verschwunden, denn es hatte doch ein wenig Spaß gemacht mit ihrem Großvater durch die Stadt zu ziehen. Sie hatte ihn besser kennengelernt und somit vieles um sich herum vergessen. Sie ging zur Tür des Gebäudes und wartete auf Watari, der auch gleich darauf in ihr Sichtfeld kam, mit einer menge Gepäck. Bei diesem Anblick musste sie leicht schmunzeln, ohne weiter darüber zu grübeln wie lustig das aussah, lief sie zu ihm und nahm ihm ein paar Tüten ab. Die Haustür war schnell geöffnet und die Treppen bezwungen, was für sie nicht gerade einfach war mit den unhandlichen Taschen. Etwas außer Atem kam sie an der Wohnungstür an. Eindeutig war sie nicht so fit. In Zukunft sollte sie vielleicht mehr Sport treiben. Das war eine gute Überlegung und sie würde sich demnächst mal nach einer Sportart umsehen die ihr gefiel. Watari schloss die Tür auf, dabei machte er eine Geste sie sollte als erstes die Wohnung betreten, sie folgte daraufhin direkt seiner Höflichkeit. Shaelyn stellte ihre Taschen auf den Boden um sich erst einmal von ihrem Mantel und ihrer Mütze zu trennen, anschließend brachte sie die Taschen mit Watari in ihr Zimmer. Die Tüten legte sie auf ihr Bett und atmete dann erleichtert auf. Nun meldete sich ihr Magen lautstark, weshalb sie sich an den Bauch fasste. „Soll ich etwas Essen zubereiten?“ Watari fragte sofort, da er das offensichtliche Knurren vernommen hatte. Shaelyn drehte ihren Kopf zu ihm und sah ihn leicht schüchtern an, dabei nickte sie zögerlich. Er verließ ihr Zimmer rasch, währenddessen schaute sie ihm hinterher. Die Gedanken an den vorigen Abend kamen wieder. Wie gefüllt der Tisch war, mit allerlei leckeren Dingen. Vielleicht gab es noch ein paar Süßigkeiten in der Wohnung, somit beschloss sie sich ein bisschen umzusehen. Doch stoppte sie vor ihrer Zimmertür: Sie hatte jemanden völlig vergessen... ihren komischen Mitbewohner. Der Magen machte sich erneut bemerkbar und sie sprach sich Mut zu. Was sollte er schon dagegen sagen? Schließlich wohnte sie auch hier, es sollte also keine Probleme geben sich ein paar Leckereien zu nehmen. Shaelyn verließ ebenfalls den Raum, um kurz darauf ins Wohnzimmer zu gehen. Sofort sah sie sich aufmerksam um. Wie erwartet saß Ryuzaki in diesem Raum, allerdings diesmal auf einem Sessel mit dem Rücken zu ihr gewandt, dabei stierte er auf den Laptop vor sich. Hatte er sie überhaupt bemerkt? Er schien nicht den Eindruck zu machen, da er sich weder umdrehte noch etwas sagte. Shaelyn versuchte ihr Glück und schlich sich nun ins Zimmer. Als sie schließlich auf den Esstisch sah, erblickte sie sofort die Süßigkeiten, die in verschiedenen Schalen lagen. Sie biss sich leicht auf ihre Zunge, dabei versuchte sie, so leise sie konnte, einen Schritt vor den anderen zu machen. Immer näher kam sie ihrem Ziel, wobei ihr Puls immer mehr in die Höhe schnellte. Shaelyn wollte ihn bloß nicht auf sich aufmerksam machen. Schon hörte sie, wie er begann die Tasten auf der Tastatur zu drücken, was sie erleichterte, jedoch gleichzeitig schockte – denn langsam tippte er sicherlich nicht. Ihre Augen wurden allerdings immer größer, denn in einer Schüssel lag doch tatsächlich ihre Lieblingssüßigkeit – Schaumzucker Erdbeeren. Der Blick war fixiert auf den Inhalt der Schale gerichtet. Begierig darauf sie zu schmecken, streckte sie ihre Hand aus und nahm eine Zuckererdbeere zwischen den Fingern hoch, gleich darauf führte sie diese zum Mund und, …. „Gute Wahl.“ Shaelyn fuhr zusammen, dabei ließ sie aus Schock ihre Erdbeere fallen und zog hastig die Luft ein, gleich darauf fasste sie sich an den Oberkörper. Sofort wandte sie sich in seine Richtung. Er hatte sich in seinem Sessel herum gedreht, lugte mit dem Kopf über die Lehne und blickte sie mit seinen großen dunklen Augen an. „... musst du mich so erschrecken?!“ Ihre Atmung war immer noch stoß weise und ihr Puls raste. „Würdest du nicht versuchen herum zu schleichen, wäre die Wahrscheinlich sehr hoch, dass du dich nicht erschreckt hättest.“ Natürlich hatte er sie bemerkt als sie das Zimmer betrat, auch schon vorher konnte er ihre Schritte im Flur schwach hören. Demnach war es ein kleiner Spaß mit an zu sehen, wie sie versuchte unbemerkt durch den Raum zu gehen. Ihr Gesichtsausdruck zeigte nun deutlichen Ärger. Es passte ihr definitiv nicht, dass sie bemerkt wurde und seine Worte verstimmten sie nur mehr. Seine Worte waren logisch, sie wusste auch schon vorher, wenn sie nicht versucht hätte unbemerkt zu bleiben, hätte sie sich nicht so erschrocken. Musste er aber direkt darauf herumreiten? „Du bist echt unmöglich.“ Er zog seine Augenbraue in die Höhe, unterdessen erhob er sich von seinem Sessel. „So, bin ich das?“ „Ja!“ Der Trotz in ihrer Stimme war nicht zu überhören und erneut machte sich ihr kindisches Benehmen bemerkbar, was ihn schwach grinsen ließ. Ryuzaki ging das Ganze recht gelassen an, weshalb er ruhig auf sie zu ging und dabei beobachten konnte wie sie sich weiter verspannte. Kurz vor ihr stoppte er und hob die Erdbeere vom Boden auf, die er ihr auch direkt vor die Nase hielt und begann fasziniert zu lächeln. „Willst du sie nicht mehr?“ „Nein danke, jetzt nicht mehr!“ Ryuzaki zog daraufhin ein gespielt enttäuschtes Gesicht. „Schade, wenn du sie nicht willst, esse ich sie eben.“ Gleich darauf ließ er die Süßigkeit in seinem Mund verschwinden und der süße fruchtige Geschmack breitete sich sofort in seinem Mund aus. Verarschte er sie gerade? Was sollte das denn jetzt? Als ob Shaelyn die Beere noch essen würde, wenn er sie angefasst hatte. Wer wusste schon, wo er mit den Fingern schon überall dran war. Bei der Vorstellung wurde ihr übel. Sie verzog ihren Mund, während sie zusah wie er auf ihrer Zuckererdbeere herum kaute. Schleunigst trat sie einen Schritt zurück. Ein kleiner Schauder fuhr ihr durch den Körper, wenn sie jemanden nicht mochte, dann mit Sicherheit ihn. Er schien wohl auf den Geschmack gekommen zu sein, weswegen er sich der Schüssel widmete und sich eine Schaumzucker Erdbeere nach der anderen nahm. Sie aß die Süßigkeit ja wirklich am Liebsten, aber bei dieser Anzahl, die gerade Ryuzaki verdrückte, wurde ihr nur noch übler. Hatte er nicht mal genug davon? Fassungslos sah sie weiter zu wie er naschte, mit einem Gesichtsausdruck der ihr irgendwie angst machte, doch hielt er inne, woraufhin er seinen Kopf zu ihr drehte. „Sicher das du keine willst? Du starrst die ganze Zeit.“ Sie schüttelte entschieden ihren Kopf. „Also ehrlich gesagt, bin ich eher entsetzt darüber wie viel du dir davon rein stopfst, ohne das dir schlecht wird.“ Shaelyn blieb ehrlich, dabei sah sie ihn perplex an. „Ich habe keine Beschwerden, wenn du dir Gedanken darum machst.“ Ihr Mund öffnete sich leicht, sie musste stutzen. Sie machte sich sicher keine Gedanken um seine Gesundheit, sollte er doch soviel davon verschlingen wie er wollte, nur war das nicht normal. Ach was dachte sie da überhaupt, der ganze Kerl war absolut nicht normal. „Weißt du was, wir beenden dieses sinnlose Gespräch. Ich geh wieder.“ „Wie du meinst.“ Somit machte er sich weiter über die Süßigkeiten her, dabei erntete er noch weitere konfuse Blicke, bevor sie den Raum verließ. Wollte sie wirklich noch mal aus ihrem Zimmer kommen? Der Abend war noch lange nicht vorbei und je mehr sie über ihn wusste, desto schlimmer wurde er, aber der Hunger wurde immer stärker. Kapitel 4: Feiertage; Weißer Nebel und dessen Folgen ---------------------------------------------------- Ein Klopfen riss Shaelyn aus ihren Gedanken. Augenblicklich sah sie auf die Tür in ihrem Zimmer. „Shaelyn, das Essen ist fertig“, rief eine bekannte Stimme. „Ich komme sofort Großvater!“, rief sie ihm entgegen und stand von ihrem Stuhl auf. Während ihr Großvater damit beschäftigt gewesen war das Essen vorzubereiten, hatte sie die Zeit dazu genutzt Ordnung in ihrem Zimmer wieder herzustellen. Die Kleidung wurde eingeordnet und nun saß sie bereits an den Schulvorbereitungen, wodurch sie erfolgreich das vorher passierte verdrängte. Da sie nun aber wieder in den Raum zurückkehren würde, kamen die Gedanken erneut auf. Mit einem mulmigen Gefühl ging sie zum Essen, dass allerdings reibungslos verlief, denn hatte ihr Mitbewohner keinerlei Interesse an dem Essen. Somit blieb er auf seinem Sessel, futterte seelenruhig Süßigkeiten und meldete sich nicht zu Wort - ganz zu ihrer Erleichterung. Auch die nächsten Tage verliefen ohne Probleme, wenn man davon absah, dass sie ihren Mitbewohner immer mysteriöser fand. Immer mehr Fragen über ihn kamen auf, aber jedes mal wenn sie Watari gefragt hatte, was Ryuzaki überhaupt mit ihm verband, blockte er ab und tat es als Arbeitsbeziehung ab. Shaelyn ließ nicht schnell locker, jedoch merkte sie schnell, dass es äußerst ernst war, was sie im Endeffekt nur weiter verwirrte. Die Schule erwies sich schwieriger als gedacht und das Freunde finden war problematisch, da sie ohnehin nicht mehr lange auf diese Schule ging. Alles in einem, es war kein schönes Leben, was sich bei ihr abspielte. Kein Vergleich zu dem was sie noch vor einem Monat gelebt hatte. „Hier, das ist der Schlüssel für deine Wohnung, direkt neben dieser hier.“, sagte ihr Großvater freundlich, dabei reichte er ihr den Schlüssel. Ein Moment verging, indem sie nur auf diesen starrte. Heute war also der Tag, an dem sie in eine eigene Wohnung zog. Dabei war sie erst 16. Eine Eigene wäre gar nicht mehr nötig gewesen. Sie hatte sich eingelebt in dieser Wohnung, auch wenn Ryuzaki kein angenehmer Zeitgenosse war und sie es manchmal wirklich mit der Angst zu tun bekam. Shaelyn nahm den Schlüssel in die Hand und sah auf zu ihrem Großvater. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Hier wäre es auch gegangen...“ „Nein, es war nötig, Shaelyn. Es ist wichtig, dass du dich wohl fühlst.“ Überrascht zog sie beide Augenbraue in die Höhe. Es war nicht schwer zu begreifen, dass sie den komischen Typen nicht mochte, aber hatte sie doch meist ihre Ruhe. Sie konnte auf seine Worte nur nicken, denn im Grunde hatte ihr Großvater recht. Somit packte Shaelyn ihre Sachen zusammen und trug diese in ihr eigenes Heim, wobei Watari ihr gerne half. Ihre Wohnung war schon mit sämtlichen Möbeln eingerichtet. Alles was sie brauchte war bereits da, sodass sie wirklich nur noch ihre Kleidung einräumen musste. Als sie gerade fertig war ihre Sachen in den Schrank zu packen, wandte sich Watari an sie. „Hast du einen bestimmten Wunsch zu Heilig Abend?“ Shaelyn blinzelte ein paar mal irritiert. Wie konnte sie diesen Tag in ihrem Leben vergessen? Viele Gedanken sie sich nicht, da sie eh viel Lernen musste. Dabei war der 24te schon am nächsten Tag. Sie hatte das Gefühl die Tage verschwammen ineinander. Ein Augenblick der Stille kehrte ein, indem ihr Großvater sie geduldig ansah. Shaelyn kam ins Grübeln. Was könnte sie sich wünschen? Kurz darauf sah sie ihn schon freudig an. „Also ja ich hätte einen Wunsch. Ich würde gerne Plätzchen backen.“ Sie war begeistert. Dies hatte sie bisher immer getan und dieses Weihnachten sollte es keine Ausnahme werden. Dieses Mal wollte sie Watari ein paar backen, alleine zum Dank, was er alles für sie tat. Watari gab ihr Geld, denn es kam für sie nicht in Frage ihn los zu schicken. Sie wollte alles alleine einkaufen, was sie auch tat. Kekse gebacken hatte sie bisher jedes Jahr, aber immer zu den verschiedensten Anlässen. Ihre ganze Familie erfreute sich an diesem Gebäck, denn immer hatte sie ihre Künste verbessert. Gut kochen konnte Shaelyn nicht, aber dafür umso besser Backen. Nachdem sie vom Einkaufen am Abend zurückgekehrt war, stand sie nun voller Tatendrang in ihrer Küche und öffnete einen Schrank um daraus die nötigen Utensilien zu holen. Fehlanzeige, dass was sie brauchte war nicht da. Sie musste seufzen. Hieße das nun sie müsse in die andere Wohnung? Da würde sich sicherlich alles finden lassen. Sichtlich verärgert über diesem Umstand, klingelte sie an der Tür zu ihrem Großvater. Es verging eine Weile und es passierte immer noch nichts. Was war da los? Sonst war Watari immer da. So beschloss sie doch wieder in ihre Wohnung zu gehen. Jedoch als sie gerade an ihrer Wohnungstür stand, hörte sie wie das Schloss nebenan geöffnet wurde. Shaelyn lächelte breit. Ihr Großvater war also doch da. Allerdings starb ihr Lächeln als Ryuzaki um den Türrahmen lugte und sie direkt ansah. Sie hielt den Atem an. Ihn wollte sie bestimmt nicht sprechen. Was machte er überhaupt an der Türe? Sonst bewegte er sich kein Stück, wenn es nicht etwas mit Süßigkeiten zu tun hatte. „Ja?“, fragte er recht interessiert. Sie musterte ihn genau – auch wenn man nicht mehr als seinen Kopf sah. Er hatte zweifellos wieder eine seltsame Haltung. „Schon gut, ich wollte nur zu meinem Großvater.“ Ein aufgesetztes Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. „Oh. Da muss ich dir leider sagen, dass er zurzeit nicht da ist.“ Schlaumeier, das wusste sie bereits auch, nachdem er die Tür nicht geöffnet hatte. „Ja,... macht nichts. Ich probiers einfach später noch einmal.“ „Es spricht nichts dagegen, dass du bei mir auf ihn wartest.“ Begann er tatsächlich gerade ein Gespräch mit ihr auf dem Hausflur? Und noch dazu: War das sein ernst? Und wie lange konnte er noch seinen Hals so hervor schieben, gerade so wie eine Schildkröte. „Nein danke, ich verzichte.“ „Warum?“ Die Frage kam prompt und sie war sich sicher, er wusste es bereits, aber scheinbar konnte er es nicht sein lassen nach zu bohren. Sollte sie es ihm direkt ins Gesicht sagen, dass sie ihn absolut nicht mochte? „Um ehrlich zu sein, ich...“, begann sie und sah ihm in die großen runden Augen, die in dem Moment so unschuldig aussahen, dass sie Zweifel bekam. Es war kurz vor Weihnachten. Dabei war sie doch nie so unfreundlich gewesen und er war meist alleine. „Ja?“ Ruhig blickte er sie an, sichtlich auf ihre Antwort wartend. Es regte sie auf. Ihr gutes Herz appellierte an sie. Es war doch nur schlichtes Warten in der Wohnung. Warum sollte sie ablehnen? Er fraß sie schon nicht gleich auf. Ein amüsanter Gedanke kam auf. Nein damit er sie fressen würde, müsste sie aus purem Zucker bestehen. „... Ja du hast Recht, warum sollte ich nicht bei dir auf ihn warten.“ Diese Antwort schien ihn leicht zu verwundern, weshalb für einen kurzen Augenblick seine Augenbraue nach oben zuckte. Sie hatte gelernt, dass er aufmerksam war und meist durchschaute was sie vor hatte, dennoch schien sie ihn gerade erwischt zu haben. Ryuzaki beachtete sie nicht weiter und zog seinen Kopf zurück, dabei ließ er die Tür auf. Direkt betrat sie die Wohnung, schloss die Wohnungstür und blieb im Flur stehen. Sollte sie die Sachen vielleicht einfach mit nach drüben nehmen? Ihr Großvater hatte bestimmt nichts dagegen. Zumal er nicht einmal da war. Demnach brauchte er es auch nicht. Aber bei dem Gedanken war ihr nicht wohl. Sie wollte nicht einfach etwas mit sich nehmen was ihr nicht gehörte. Wann kam Watari eigentlich wieder? Sie beschloss erst einmal zu warten, oder zumindest nachzusehen ob die benötigten Dinge überhaupt vorhanden waren. Shaelyn betrat das Wohnzimmer und sah sich vorsichtig um. Ryuzaki hatte sich schon längst wieder auf seinen Sessel gehockt. Es kam ihr suspekt vor, denn er sagte nichts, stattdessen hob er nun seine Tasse und schlürfte den Kaffee, den sie deutlich roch. Sie verzog ihren Mund. Sie hatte einmal einen Kaffee, aus reiner Freundlichkeit, von ihm angenommen. Nie wieder schwor sie sich! Denn es war Zucker mit etwas Kaffee als anders herum. Diesen Zuckerschlamm in ihrem Mund würde sie nie vergessen. Kurz schüttelte sie sich angeekelt, riss sich dann jedoch zusammen. Das Wohnzimmer war schnell durchquert und die Küche erreicht. Sofort öffnete sie ein paar Schränke. Ihr Gesicht hellte sich auf. Hier war alles zu finden was sie brauchte. Ein Gedanke kam auf. Vielleicht sollte sie direkt hier Backen? Dann müsste sie zumindest nicht nachfragen und konnte ihren Großvater mit ihrem Gebackenem überraschen. Ja, die Idee war nicht schlecht, nur stellte sich die Frage, wie lange blieb er denn weg? Die Zeit würde schon reichen. So lange dauerte es schließlich nicht. Fest entschlossen verließ sie die Küche, um durch das Wohnzimmer zu laufen. Begleitet wurde sie von den wachsamen Augen Ryuzaki's, der sich sicherlich fragte was sie denn nun vor hatte. Shaelyn ließ die Haustür auf, ging den Einkauf holen und betrat anschließend voll beladen die Wohnstube. Ein Blick zu dem Schwarzhaarigen verriet ihr, dass er doch sehr erstaunt und gleichermaßen neugierig aussah. Ohne ihn aber Fragen stellen zu lassen, schlenderte sie Richtung Küche, da alles doch sehr schwer war. Erleichtert seufzte sie auf, während sie auf dem Tresen alles abstellte. Eigentlich hatte Shaelyn damit gerechnet ein paar Sachen zu verlieren und ihr war von vornherein klar, dass Ryuzaki keinen Finger krümmen würde um ihr zu helfen. Sondern eher anfangen würde zu diskutieren und Fragen zu stellen was das alles sollte, gleichzeitig sie natürlich alles trug. Sie schob die Gedanken von sich und bereitete alles vor. Es war ein einfaches aber sehr leckeres Rezept und passend für die Weihnachtszeit. Meist waren die simplen Dinge die besten. Somit begann sie den Mehlbeutel zu öffnen. Voller Eifer schüttete sie das Mehl in eine kleine Waagschale, gerade als sie den Behälter abstellen wollte und zur Seite schaute, blickte sie in zwei fast schwarze Augen, die sie interessiert musterten. Voller Schreck verkrampfte sie sich, was zur Folge hatte, dass sich das Mehl verteilte. Die Luft war nun erfüllt mit einem weißen Nebel, der sich überall verteilte. Direkt musste sie etwas husten und ihr Störenfried sah sie ungerührt an, jedoch verengte er ein wenig die Augen. „Sag mal, geht’s noch?!“, rief sie empört, versuchend dabei mit ihren Händen den Nebel zu lichten. „Hättest du nicht etwas sagen können? Jetzt ist hier total die Sauerei!“ Shaelyn war sauer, doch schien Ryuzaki davon nicht recht beeindruckt zu sein. „Ich dachte, ich störe dich nicht bei dem was du vorhast, da du sehr konzentriert gewirkt hast.“ Na klasse. Hätte er sich aber wenigstens zu Wort gemeldet, wäre das Dilemma sicher nicht entstanden und sie würde nicht aussehen als ob sie in einen Puderbehälter gefallen wäre. Nun ja, ein kleiner Trost war vorhanden. Ryuzaki sah sicherlich ebenso aus wie sie. Seine schwarzen Haare waren mit einem weißen Film bedeckt, wie auch der Rest um sie herum. Shaelyn stöhnte entnervt auf. Dieser Kerl war unerträglich. „Was wird das?“, kam es auch gleich Neugierig von ihm, dabei studierte er die Zutaten. Anscheinend ignorierte er einfach, dass er unerwünscht war. „Sieht man doch!“ Shaelyn antwortete gereizt. Es ging ihr gehörig gegen den Strich. Vor allem konnte sie gleich alles alleine Saubermachen, weil der Herr nicht genug Anstand hatte um mit zu helfen. „Ja, ich sehe es. Aufgrund der Zutaten erkennt man deutlich, dass du etwas backst, jedoch wüsste ich nicht was du backst. Was auch meine ursprüngliche Frage war.“ Er trug es in einem nüchternen Tonfall vor, dabei machte er aber keinen Hehl daraus, darauf zu verweisen, dass man sehen konnte was sie vorhatte. Seine Aussage hob nicht sonderlich ihre Stimmung. Nein, sie verschlechterte sich nur weiter. Dieser komische Kerl trieb sie in den Wahnsinn! Aufgrund ihrem Gesichtsausdrucks konnte er deutlich wahrnehmen, dass er sie gerade in Rage brachte - was ihn nicht wirklich kümmerte. Er wollte nur wissen was sie Backen wollte, da es doch sehr interessant aussah. „Wirst du sehen. Außerdem wüsste ich nicht was dich das angeht.“ Ryuzaki hob eine Augenbraue. Sie war wirklich angriffslustig und natürlich ging es ihn etwas an. Immerhin war sie in seiner Wohnung und die Tatsache, sie machte etwas Süßes, konnte er aus Prinzip nicht ignorieren. „Wie du bestimmt schon bemerkt hast, ist diese Küche auch ein Teil meiner Wohnung. Daher würde ich schon sagen, dass es mich etwas angeht.“, erklärte er ihr sachlich, während er seinen Daumen an den Mundwinkel drückte. Er ließ einfach nicht nach, egal was sie versuchen würde. Ein Moment verging, in dem sie ihm nur in die Augen starrte - dabei konnte man genau sehen wie sie mit sich kämpfte. Schließlich wandte sie ihren Kopf, schloss die Augen und atmete tief ein. „Ich verstehe dein Problem nicht, Shaelyn. Ich -“ „Du verstehst mein Problem nicht? Und ich dachte schon dir entgeht nichts. Es ist doch offensichtlich, daher verstehe ich dein Problem nicht. Was ist so schwer daran zu verstehen, dass deine Anwesenheit mich extrem nervt? Vor allem wenn du so rumschleichst und mich beobachtest als sei ich jemand potenziell Gefährliches.“, unterbrach sie ihn, währenddessen sah sie ihm wieder in die dunklen Augen. Ryuzaki starrte sie weiterhin an und überdachte einmal gründlich die vergangenen Tage. Vielleicht war wirklich eine Entschuldigung angebracht, denn sie hatte Recht. Von ihr ging die geringste Gefahr aus. Sie wusste weder wer er war, noch welcher Arbeit er nach kam. Außerdem wäre es vorteilhafter für ihn sich bei ihr herauszureden, da schlechte Atmosphäre nicht sehr angenehm wäre. Zudem vergrößerten sich die Chancen, er würde ein wenig von dem was sie vorhatte abbekommen. Er wollte bei ihr nicht noch weiter in Ungnade fallen um es zu riskieren. Wenn er es also alles in Betracht zog, wieso sollte er nicht einfach ein paar entschuldigende Worte aussprechen. „Du hast Recht, Shaelyn. Bitte verzeih mein misstrauisches Verhalten dir gegenüber, dafür gibt es keinen Anlass.“, gab er ruhig von sich und kaute an seinem Daumen. Völlig überrascht sah Shaelyn ihn an. Damit hatte sie nicht gerechnet, eher mit einer weiteren frechen Aussage, oder dergleichen. Stattdessen entschuldigte er sich. Verwirrung machte sich in ihr breit. Diese Seite kannte sie nicht. Plötzlich fühlte sie sich mies, dass sie ihn so wütend angefaucht hatte. Er war nur neugierig gewesen. Daher hätte sie doch damit rechnen müssen, dass er nachsehen würde. „Also was wird das denn nun Feines?“, fragte er auch gleich darauf, so als ob es seine Entschuldigung nie gegeben hätte. Irritiert blinzelte sie ihn an. Er hatte wieder ein fasziniertes Lächeln auf den Zügen, als wenn er auf etwas Süßes sah. Shaelyn räusperte sich und begann ihre Kleidung abzuklopfen, statt ihm eine Antwort zu geben. Seine Entschuldigung hatte seinen Zweck nicht verfehlt. Ihre Laune und Zugänglichkeit besserte sich ein wenig. Wenigstens konnte er solche Worte in den Mund nehmen, auch wenn man sich hier fragte, ob er sie auch ernst meinte. Mit einem Seufzen sah sie auf zu ihm. Noch immer wartete er auf eine Antwort und noch immer hatte er sich nicht von dem Mehl befreit. „Machen wir einen Deal, Ryuzaki.“, begann sie mit einem süßen Lächeln, was ihn misstrauisch werden ließ. „Der da wäre?“ „Ich verrate dir was es wird und du hilfst mir erst mal hier wieder alles sauber zu bekommen.“ Kurze Pause machte sich bemerkbar, dann fing er zu grinsen an und hob seinen Zeigefinger: „Bessere Idee. Du sagst mir was es wird und gibst mir später etwas davon ab.“ Schon wollte sie nicken, als ihr auffiel was er eigentlich gesagt hatte. „Oh,... du...“ Sie verengte ihre Augen bedrohlich. Und sie hatte schon gedacht er wäre mal nett! Weit gefehlt. „Du mieser Kerl! So bestimmt nicht.“, brachte sie verärgert hervor. „War aber klar, dass du natürlich keinen Finger krumm machst. Wieso auch? Dann klopf wenigstens das Mehl ab.“ Schließlich sollte die restliche Küche sauber bleiben und die Wohnung erst recht. „Wieso?“ Sie hätte sich nun am liebsten die Haare gerauft. Der Typ war doch nicht zum Aushalten! „Na fein! Wenn du es nicht machst, dann mach ich es halt! Und dann raus hier!“, meckerte Shaelyn und trat auf Ryuzaki zu, der nun recht entsetzt blickte. „Was -“ Ryuzaki wurde jäh unterbrochen, da sie mit ihren Händen in seine wirre Haare griff und diese ordentlich durchwühlte. Er verspannte sich sichtlich und riss seine Augen noch weiter auf. Das Mehl wirbelte auf und begab sich in Richtung Küchenboden. Zufrieden ließ sie von seinem Haar ab, das nun mehr oder weniger noch zerzauster aussah. Vollkommen erschüttert stierte er sie an und wich zurück, dabei ergriff er ihre Handgelenke als sich diese wohl seinen Schultern zuwenden wollten. „Was soll das werden?“ Dieses mal konnte man Anhand seiner Stimme sogar schwachen Unmut heraus hören. „Na hab ich doch gesagt. Du verteilst das ganze Zeug noch in der Wohnung, muss nicht sein, wenn du dir halt dazu zu fein bist, klopf ich dir das Mehl ab.“ Während sie sprach versuchte sie sich von seinem Griff zu lösen - beim Versuch blieb es auch, denn er packte ziemlich fest zu. „Wenn ich dich los lasse, wirst du dann aufhören?“ Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. Es wäre ja nicht so als ob sie all das gerne tun würde. „Ich könnte mir auch durchaus Schöneres vorstellen, als an dir herum zu fummeln. Damit das mal ganz klar ist. Wenn du dich aber dazu entschließt mir beim Saubermachen zu helfen, würde ich aufhören, ja.“ Augenblicklich ließ er seinen Griff locker, woraufhin sie sich schnell von ihm entfernte. Sie musste nicht unbedingt länger nah bei ihm stehen. Außerdem taten ihre Handgelenke etwas weh, weshalb sie sich diese kurz rieb. Er war ziemlich grob zu einer Frau. „Gute Entscheidung.“, sagte sie schließlich halb zufrieden. Anschließend ging sie zur Spüle und befeuchtete zwei Lappen. Nachdem sie sich ihm wieder zu wandte, sah sie, wie Ryuzaki sich von dem letzten Rest auf seinen Schultern befreite. Umgehend drückte sie ihm einen Lappen in die Hand. „Einfach aufwischen, solltest selbst du hin bekommen.... und starr nicht so auf den Lappen, der tut dir nichts. Ach ja... ich hätte da mal eine Frage an dich.“, sagte sie während sie sich schon dem Tresen widmete. „Welche?“, kam es doch schon ein wenig angespannt von ihm. Eindeutig war ihm die Situation unangenehm. Dann hatten sie endlich einmal etwas gemeinsam. Shaelyn musste sich nun ein Lachen verkneifen. Hatte sie es mal zur Abwechslung geschafft Ryuzaki zu ärgern? Er zeigte an diesem Abend schon reichlich Emotionen. Höchst ungewöhnlich für ihn, denn sonst war er so gefühlvoll wie ein Eisklotz. „Warum sitzt du so komisch und wieso hältst du alles so eigenartig?“ Im Grunde hätte sie sich diese Frage sparen können. Der ganze Typ war ungewöhnlich. Nein, grotesk. „Ich kann es mir nicht leisten anders zu sitzen, da sonst meine Denkfähigkeit um 40 Prozent nachlässt. Und was das Halten der Dinge betrifft, das ist Angewohnheit.“ Es war äußerst interessant was er von sich gegeben hatte, denn das alles schien höchst eigenartig – wenn natürlich passend. „Hmh...“ Mehr verließ ihren Mund nicht, denn sie geriet ins Grübeln. Bisher hatte sie nicht sonderlich viel über ihn erfahren. Zumindest was Alter, Arbeit und seine Interessen betraf. Der Altersunterschied war jedenfalls nicht sonderlich groß. Das konnte man ihm ansehen. Sie schätzte ihn auf die 21. Das Alter machte sie aber nur nachdenklicher, weil warum sollte ihr Großvater einen jungen Mann bei sich aufnehmen, der nur vor dem Laptop hing? Was sie auf seine Arbeit schließen ließ. Irgendwas machte er dort immer und es war kein Computerspielen. Nun eins war klar, Süßes war eine Leidenschaft von ihm. Wie er trotz allem so Mager sein konnte war nur ein weiteres riesiges Mysterium. Sein Charakter war, bisher jedenfalls, nicht sonderlich angenehm und versprach für die Zukunft nicht wirklich Verbesserung. Shaelyn seufzte auf und wischte den Rest vom Tresen auf, dabei blieb sie Gedankenverloren davor stehen. Irgendetwas sagte ihr, dass mit ihm was nicht stimmte. Nein, es war nicht diese außergewöhnliche Art von ihm, sondern er war verschwiegen. Ja, verschwiegen war ein gutes Stichwort. Er erzählte rein gar nichts von sich. Gerade die Antwort auf seine Eigenart, war das Erste was er von sich preis gab. Da war etwas Faul. Sie würde schon noch dahinter kommen. „Hier.“ Augenblicklich zuckte sie zusammen. Direkt sah sie neben sich. Ryuzaki hielt ihr den Lappen vor dem Gesicht - außerdem war er ihr bedrohlich nah gekommen. „Du solltest etwas aufmerksamer werden. Nur ein kleiner Rat.“ Verärgert sah sie ihn an und schnappte sich den Lappen. „Danke für den Hinweis.“, kam es bissig von ihr, als ob sie das nicht selbst gewusst hätte. „Oh kein Problem, gerne wieder.“ Es kostete ihr sämtliche Beherrschung nicht auf ihn los zu gehen, somit biss sie sich auf die Unterlippe, um aufkommende Wutausbrüche zu unterdrücken. „Ach ja, auch solltest du-“ „Tu mir einen Gefallen und sag einfach nichts mehr.“ Schon sah sie wie er seinen Mund schloss, was eine kluge Entscheidung war. Ohne einen weiteren Ton legte sie die Tücher in die Spüle und bereitete den Rest vor und das unter den neugierigen Augen Ryuzaki's. Eine äußerst angenehme Ruhe breitete sich aus. Zwar war ihr nicht wohl bei seiner Nähe, aber er hielt wenigstens den Mund. Gerade als sie nach dem Marzipan greifen wollte, um es unter zu mischen, sah sie wie sich sein Zeigefinger bedrohlich der Masse näherte. Ohne zu zögern haute sie ihm auf die Hand. „Au!“, beschwerte er sich direkt und starrte sie entsetzt an. „Das ist nicht dafür da, damit du es dir reinstopfst.“ Er zog einen Schmollmund, dabei hielt er seine Hand fest, was sie nun tatsächlich zum Schmunzeln brachte. „Du hättest auch etwas sagen können. Jetzt schmerzt meine Hand.“, sagte er anklagend. Ein Moment verging in der sie ihn still ansah, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Er überzog alles völlig. Sie war sich sicher, die Hand schmerzte auf keinen Fall, sondern er wollte ihr etwas unter die Nase reiben - wie so vieles. Nun begann er wahrhaftig zu grinsen. Das bestätigte nur die Vermutung, er spielte ihr wieder was vor, was auch nicht anders zu erwarten gewesen war. Aber das Grinsen sah nur noch witziger aus. Sie fing sich langsam, währenddessen holte sie einige kräftige Atemzüge. Es war unglaublich, er brachte sie in wenigen Minuten einfach zu sämtlichen Ausbrüchen. Erst wollte sie ihm an die Kehle und dann lachte sie. Bizarr war das alle Male. „Sagen hätte wahrscheinlich eh nichts gebracht. Dir auf die Finger hauen war schon die richtige Lösung. Außerdem hab ich es ja nicht feste gemacht, so wie du es hier darstellst. Kann es sein, dass du gerne übertreibst und es mir so direkt vorhalten willst?“ Sein Grinsen ließ nicht nach. Das unterstrich deutlich ihre Worte. „Da hast du mich aber erwischt.“ Sein amüsierter Ton und sein Gesichtsausdruck hätten sie beinahe erneut zum Lachen gebracht. Aber seine Worte waren seltsam. Es klang gerade so als habe er damit gerechnet. Verwirrung kam auf. Hatte er das so geplant? Oder extra so in diese Situation gelenkt? Was hatte er davon, wenn sie nun besser gelaunt war? Schnell schob sie diese Gedanken beiseite und widmete sich wieder der Schüssel vor sich. Shaelyn mischte das Marzipan unter, wovon noch etwas übrig blieb, aber wohl Ryuzaki diesmal nicht wagen würde es an zufassen. Offensichtlich wollte er keinen weiteren Schlag riskieren. Nachdem alles von ihr vermischt wurde, legte sie alles beiseite und griff zu einem Spritzbeutel. Darin füllte sie den Teig, doch plötzlich fiel ihr auf, dass sie noch nicht das Blech mit Backpapier belegt hatte. Das hatte sie ganz vergessen. Wahrscheinlich lag es daran, dass Ryuzaki sie so ablenkte. „Hier halt mal eben, hab was vergessen. Halt es aber bloß oben zu!“, sagte sie beschäftigt und drückte ihm den Beutel in die Hand, welchen er kritisch musterte. Das Blech war schnell mit dem gewünschten Papier bedeckt, somit drehte sie sich wieder zu ihm. „Ah, nein! Stopp!“, rief sie sofort aus. Ryuzaki war gerade dabei den Beutel zu drücken, dabei sah er höchst fasziniert aus. Die Warnung kam zu spät, schon hatte er leicht den Beutel gedrückt. Schnell hielt sie die Hand unter der Öffnung, nicht zu früh, denn etwas Teig landete in ihrer Handfläche. Ein unzufriedenes Grummeln war von ihr zu vernehmen. Prompt sah sie auf zu ihm, jedoch war sie am Schmunzeln. „Also auf die Idee bist du nicht gekommen, dass vielleicht etwas aus dem Spritzbeutel kommt, wenn du darauf herum drückst?“ Sein Gesicht zeigte absoluten keinen Ausdruck. Doch er hatte sehr wohl damit gerechnet, enthielt sich aber bewusst einer Antwort. Shaelyn seufzte auf. „Du bist echt anstrengend. Wie ein Kleinkind.“ Während sie sprach nahm sie ihm, mit der nicht beschmutzten Hand, den Beutel ab. „Wer weiß auf was für schlaue Überlegungen du noch kommst... Jetzt ist meine Hand ganz voller Teig.“, setzte die erheitert fort. Ein Grinsen schlich sich nun abermals in sein Gesicht. „Ja, mit einem Teig, von dem ich noch immer nicht weiß, was er werden soll.“ Sie schien kurz überrascht, begann aber zu lächeln. „Du hast ja recht. Moment eben.“, fing sie an und führte ihre Handfläche zu ihrem Mund, woraufhin sie diese ableckte. Dies betrachtete Ryuzaki sehr aufmerksam. Der Geschmack schien ihr sehr zu gefallen, weshalb sie kurz die Augen schloss. Das machte ihn umso neugieriger. Dabei war alles bisher eine Rohmasse. Ihre Augen öffneten sich wieder und ihr Mund zierte ein breites Lächeln. „Ja, die Mischung ist gut. Ähm,... wo war ich? Ach ja, also das wird einfaches Marzipan-Spritzgebäck mit einem leichten Schokoladen Überzug.“ Voller Interesse sah er weiter zu wie sie genüsslich ihre Handfläche von dem Teig befreite. Er wollte es auch probieren und das ließ er sich nicht nehmen. Ohne ein Wort griff er ihre Hand, woraufhin sie hochschreckte. „Was-“ Ihre Stimme klang schrill, dabei versuchte sie ihre Hand aus seiner zu ziehen. „Halt! Stopp!“ Die Panik war deutlich zu hören und auch ihre Augen drückten es aus, was jedoch nicht half. Der süße Geschmack war immens der sich auf seiner Zunge ausbreitete. Auch die zarte Marzipan Note war wahrzunehmen. Es schmeckte fabelhaft. „Hast du sie noch alle?! Lass meine Hand los und hör verdammt noch mal auf sie abzulecken! Das ist ekelhaft!“ Sie wehrte sich verzweifelt. Ryuzaki ließ ihre Hand los, was er jedoch nur ungern machte, da es einfach zu köstlich war. Sie hätte ihn eben nicht neugierig machen sollen. Er war sich keiner Schuld bewusst. Immerhin nahm er sich stets was er wollte. Schnell trat sie zur Spüle, legte vorsichtig den Spritzbeutel auf der Theke und wusch sich die Hand gründlich. Er erntete einen fassungslosen Blick von ihr, während sie ausgiebig ihre Hand säuberte. „Du bist echt pervers. Mach das ja nicht noch einmal.“, knurrte sie. Er neigte seinen Kopf leicht, dabei legte er seinen Zeigefinger an seinen Mund. „Pervers? Ich?“ Unglaublich. Das Einzige was ihr einfiel war dieses Wort. Offensichtlich empfand er es nicht als unangenehm oder gar dreist. War seine Gier nach etwas Süßem etwa so extrem? Das war wirklich unverschämt! Man leckte doch nicht einfach andere Leute ab, nur weil sie Süßes irgendwo hängen hatten. „Ja du! So was macht man wenn man mit jemanden zusammen ist. Da wir es ja wohl absolut nicht sind,“ Sie hängte in ihren Gedanken noch ein, werden wir sicher auch nie sein, an. „ist es echt abartig.“, ratterte sie hinunter. Mit ihm eine Beziehung führen? Nein, dass war schlichtweg undenkbar. Ihr wurde übel, weshalb sie den Blick von ihm nahm. „Ja, das Stimmt, eine Beziehung führen wir nicht.“, bestätigte er ihre Worte. „Kann ich aus deiner Aussage schließen, dass du damit schon Erfahrung hattest?“ Sie hielt sofort in ihrer Bewegung inne, als sie gerade nach dem Beutel greifen wollte. Verschämt sah sie auf die Theke vor sich. Jetzt fragte er sie auch noch nach so etwas privatem. Er hatte wirklich keinen Anstand. „So was fragt man nicht einfach ...“, kam es leise von ihr, während sie nun unsicher begann auf dem Blech kleine runde Teigmassen zu verteilten. Ein breites Grinsen zeichnete sich in seinem Gesicht ab, was sie nicht sah, da sie noch immer nach vorn stierte. Ryuzaki hatte sie erwischt und offensichtlich gab es auch Dinge, die sie verstummen ließen. Ein Grund mehr nicht nachzulassen. „Ich werte das als ein Ja.“ Es verging ein ruhiger Moment, in der sie immer angespannter schien. Sie hatte das Gefühl von ihm beobachtet zu werden, nur darauf wartend, dass sie seine Worte bestätigte, die auch wirklich stimmten. „Verdammt ja! Kannst du mich jetzt in Ruhe lassen?“ Es war erstaunlich. Er bekam immer was er wollte, was sie nun leicht verärgerte. Nichts weiter passierte, er sagte kein Wort mehr, jedoch entspannte sie sich daraufhin nicht. Ihr war noch immer so als würde er sie fragen, besonders da sein Blick deutlich zu spüren war. Es blieb auch still, die ganze Zeit über, selbst als sie das belegte Blech in den Ofen schob, die Uhr einstellte und die Schokolade im Wasserbad zum Schmelzen brachte. Die Luft war erdrückend, da er einfach kein Ton von sich gab, sondern nur starrte. Unter seinen wachen Augen, fing sie an alles aufzuräumen um die Backzeit zu überbrücken, dabei fiel ihr das kleine Stückchen Marzipan auf, welches sie übrig gelassen hatte. „Hier, du kannst es essen.“ Direkt hielt sie ihm das bisschen hin. Kritisch betrachtete er es, bevor er seine Hand danach ausstreckte, aber kurz davor anhielt. „Sicher? Du schlägst mir auch dieses Mal nicht auf die Finger?“ Shaelyn verdrehte die Augen. Musste er darauf wieder herum reiten? „Ja, sonst würde ich es kaum sagen, oder?“ Kaum war das gesprochen, griff er danach und ließ es in seinen Mund verschwinden. Ja er hatte wirklich nur darauf herum trampeln wollen, dass sie ihn geschlagen hatte. Zufrieden kaute er auf dem Bisschen herum. Er war in der Hinsicht leicht glücklich zu machen. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen drehte sie sich herum, denn sollte die Schokolade nicht zu heiß werden. Sie holte den Topf vom Herd, machte diesen aus und holte aus dem Topf die kleine Schale. Ein Seitenblick auf Ryuzaki sagte ihr, dass er erneut sehr interessiert schien. Sie seufzte auf, dabei holte sie aus einer der Schubladen einen kleinen Löffel. Diesen tunkte sie kurz ein und hielt ihm den Löffel hin. „Ich seh es doch, du willst es probieren.“ Wie eigentlich alles was mit Süßem zu tun hatte - ihre Hand war schließlich leider auch keine Ausnahme. Misstrauisch blickte er von dem Löffel zu ihr auf, ehe er ihr diesen abnahm und ableckte. „Danke. Sehr aufmerksam von dir.“ Shaelyn glaubte sich verhört zu haben. Diese Worte klangen ernst gemeint. Zum ersten Mal hatte sie auch das Gefühl, er meinte es so, wie er es gesagt hatte. Entgeistert blickte sie ihn an. Langsam breitete sich ein sanftes Lächeln auf ihren Zügen aus. „Gern geschehen.“ Auf ihre Worte hin formte sich ein winziges Lächeln auf seinen Lippen, welches anscheinend wirklich echt war. Die Situation war seltsam, aber keinesfalls unangenehm. Er könnte ruhig öfter so sein. Das ließ ihn ganz anders erscheinen. Ein Klingeln riss sie aus ihren Gedanken. Die Plätzchen! Direkt drehte sie sich und öffnete den Ofen. Das Gebäck sah perfekt aus, genauso wie es sein sollte. Äußerst zufrieden holte sie dieses heraus und stellte es auf der Theke ab. Der Geruch breitete sich in der gesamten Küche aus. Es roch herrlich. Eilig holte sie einen Teller heraus, nahm ein Geschirrtuch, damit sie sich nicht verbrannte, und begann damit die Plätzchen halb in die geschmolzene Schokolade zu tunken. Das Blech wurde immer leerer, dabei füllte sich der Teller immer mehr, als sie an die letzten zwei ankam, tauchte sie diese komplett unter, sodass sie völlig überzogen wurden. Einen würde sie sich selbst einverleiben, den anderen würde sie Ryuzaki geben, auch wenn er sehr frech gewesen war. Sie konnte ihm einen Keks nicht verwehren. Das wäre auch barbarisch, wenn sie es bei ihm täte. Erneut blickte sie zu ihm. Sie musste ein Lachen unterdrücken. Er war näher gekommen, dabei waren seine Augen fixiert auf das Gebäck vor sich gerichtet. Es sah fast so aus, als würde er mit sich kämpfen. „Also ich würd sie noch nicht anfassen, es sei denn du willst dir die Zunge und Finger verbrennen.“ Sie erntete einen enttäuschten Blick von ihm, was sie nun doch zum Kichern brachte. „Aber hier...“ Sie griff nach der Schale, worin sich noch ein wenig Schokolade befand und reichte sie ihm. „Du kannst die Schale in der Zeit, während die Plätzchen auskühlen, ja ausschlecken.“ Ihr Gesichtsausdruck war stark amüsiert. Er schien zu überlegen, nahm dann aber doch die kleine Schüssel an sich, jedoch strich er mit seinem Finger an den Wänden der Schale entlang. „Sag mal, wird dir wirklich nicht einmal schlecht von so viel Süßes?“ Er blickte auf, währenddessen lutschte er etwas an seinem Finger. Leicht schüttelte er seinen Kopf, da er es wohl nicht für nötig sah ihr eine Antwort zu sagen. Zweifellos lag sein Interesse eher daran die Schokolade zu kosten. „Du bist echt ein komischer Typ.“ Als würde er ihre Worte unterstreichen wollen, starrte er sie weiterhin an, gleichzeitig er weiter die Schokolade zu sich nahm. „Aber ich sag dir eins. Die Plätzchen sind nicht für dich gedacht, du kriegst gleich einen davon und das wars.“ Augenblicklich stoppte sein Zeigefinger, gleichermaßen schien sein Gesicht ein wenig entsetzt zu wirken. Ein fieses Grinsen schlich sich in ihr Gesicht, dabei verschränkte sie ihre Arme vor der Brust. „Hast du wirklich gedacht, du kannst dir so viele nehmen wie du willst? Dann wären sie ja schon innerhalb von fünf Minuten verputzt. Nichts da. Außerdem wollte ich morgen welche meinem Großvater schenken.“, sagte sie nachdrücklich. „Oh, da muss ich dich jetzt enttäuschen. Watari kommt erst am zweiten Weihnachtstag wieder.“ „Was?!“ „Wie ich bereits sagte, er kommt erst in zwei Tagen wieder.“ Dieser Trottel, das hatte sie doch verstanden, aber warum sagte er ihr das nicht gleich?! „Ja ja, ich hab schon verstanden was du gesagt hast! Wieso sagst du das nicht eher?!“ Mal wieder verärgert, sah sie ihn an, er hingegen blickte völlig unschuldig. „Ach so, sag das doch gleich. Die Antwort ist ganz leicht; du hast nicht danach gefragt.“ Mit diesen Worten begann er erneut damit seinen Zeigefinger abzulecken. „Argh!“ Langsam aber sicher verlor sie die Nerven bei ihm. Er schien vollkommen gelassen und machte einfach weiter. Wieso aber bot er ihr an bei ihm zu bleiben, wenn ihr Großvater so lang verschwunden war? Wahrscheinlich war ihm nur ein wenig langweilig. Genau! Das war es, deswegen ging er ihr auf die Nerven, aus purer Langeweile... Außerdem wieso sagte ihr Großvater ihr nicht Bescheid? Er hatte sie doch extra nach Weihnachten gefragt. Das ergab irgendwie keinen Sinn. „Und wieso ist er so lang weg und wieso so plötzlich?!“ „Den Grund kann ich dir nicht verraten, aber ich sollte dir etwas von ihm ausrichten.“ „Ach lass mich raten, das hast du auch nicht für nötig gehalten mir zu sagen, bevor wir auf dieses Thema kommen?“ „Hm, jetzt wo du es sagst ...“ Shaelyn musste sich an den Kopf fassen, er trieb sie in den Wahnsinn. Und wie war jetzt die Nachricht? „Ja sag schon, was lässt er ausrichten.“, forderte sie ihn direkt auf. „Er wünscht dir schöne Weihnacht und er bedauert es nicht mit dir feiern zu können. Wie dem auch sei, wäre das Gebäck jetzt kalt genug?“ Ihr stand erneut der Mund offen, völlig fassungslos starrte sie ihn an. Ryuzaki hatte wirklich Nerven. Hatte sie wirklich noch vor einer Weile gedacht, er könnte auch recht angenehm sein? „Von wegen. Du kriegst keinen Keks mehr.“ „Was? Warum nicht?“ Machte er das mit Absicht? „Na überleg mal scharf. Glaubst du echt, nach der Nummer hast du dir ansatzweise einen verdient?“ „Das kannst du nicht machen.“ „Und ob und das hier“ Sie riss ihm erbost die Schale aus der Hand. „ist auch gestrichen!“ Komplett geschockt versuchte er sich die Schale wieder an zu eignen. „Das ist nicht fair.“ „Bist du auch nicht. Finger weg!“ Eine kleine Kabelei entstand. Shaelyn probierte die kleine Schüssel von ihm fern zuhalten, während er sich bemühte die begehrte Schale zurück zu ergattern. Sie drehte ihm den Rücken zu, was ihn aber nicht im Geringsten störte, da er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und kurz darauf ihre Hände zu fassen bekam, die sich fest um das Gefäß gelegt hatten. „Los lassen!“ „Niemals.“ Seine laute Stimme neben ihrem Kopf ließ sie ein wenig zusammen zucken, doch hatte sie nicht vor los zu lassen. Da es nichts nützte die Arme nach oben zu halten, streckte sie diese unmittelbar danach nach vorne, was ihn dazu zwang sich nun vor zu lehnen und somit mit seinem Oberkörper gegen ihren Rücken zu drücken. „Verdammt noch mal, lass meine Hände los, Ryuzaki!“ „Nicht eher du mir die Schüssel wieder gibst.“ „Du willst also die Schüssel?“ Ein teuflisches Grinsen kam zum Ausdruck, was er nicht sehen konnte, da er noch immer hinter ihr stand. „Ja.“ „In Ordnung, lass los.“ Ryuzaki zögerte. Langsam nahm er seine Hände von den ihren, dabei trat er einen Schritt zurück. Unmittelbar nachdem er von ihr abgelassen hatte, begann sie die Schüssel selbst auszulecken. Wenn er die Schüssel wollte, dann sollte er sie bekommen, jedoch ohne Inhalt! Als er sah was sie veranstaltete eilte er nach vorn um sie aufzuhalten, aber es war zu spät. Jetzt war selbst er verärgert, sie hatte ihn rein gelegt. Er wusste doch da war etwas faul. Für so gescheit hätte er sie nicht gehalten. Ihre Vereinbarung lag lediglich auf die Schale, nicht den Inhalt. Er musste Seufzen. Diese Runde ging an sie, was er sehr mürrisch zugeben musste. Seine Chance es im gleichen Maßen zurück zu zahlen würde jedoch noch kommen. Selbstzufrieden ließ sie ihre Hände sinken, zwar war ihr nun ein wenig schlecht, aber sie hatte gesiegt. Sie stellte die Schale wieder auf die Theke, um sich danach wieder zu ihn zu drehen. „Na willst du die Schüssel nicht mehr?“, fragte sie scheinheilig. Es war nur ein Grummeln seinerseits zu hören, allerdings änderte sich sein Ausdruck schnell. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus, er hatte ein mieses Grinsen auf seinen Lippen. Das bedeutete eindeutig nichts Gutes. Sie wich zurück als er auf sie zu kam, dabei stieß sie gegen die Theke. Ihr Herz begann zu rasen. Bereits jetzt bereute sie, dass sie ihm nicht das gewünschte gegeben hatte. „Ryuzaki! Was hast du vor?“ „Mir den Rest holen.“ Den... den Rest? Direkt riss sie ihre Augen weiter auf. Er hatte doch wirklich nicht vor, was sie dachte? Die Chance zur Flucht wurde unmöglich, denn wurde sie erneut grob an den Handgelenken gepackt. „Fällt dir nichts darauf ein?“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. Oh nein, darauf fiel ihr rein gar nichts mehr ein und sie hatte eins eindeutig gelernt. Sich mit Ryuzaki anlegen war nicht sehr ratsam. „Bitte... lass mich wieder los.“, flehte sie, denn er kam ihrem Gesicht immer näher, sodass sie schon seinen Atem auf ihrer Haut fühlte. „Ich revanchiere mich bei dir, da du dieses Spielchen begonnen hast. Ich will nur den Rest dieser köstlichen Schokolade, die sich nun leider auf deinem Gesicht befindet.“ Er sagte es so selbstverständlich, als ob ihm das wirklich egal war, wo es sich befand. Das war wirklich die Rache dafür, sie hätte es wissen müssen. Sie kniff die Augen zusammen, dabei hielt sie den Atem an, da sie spürte wie seine warme Zunge knapp über ihre Oberlippe strich. Der gesamte Körper verkrampfte sich noch weiter, als er plötzlich über ihre Lippen leckte. Es schien wie eine Ewigkeit, eine Ewigkeit voller Qual die er ihr bereitete. Es war so widerlich, dass sie umso heftiger versuchte sich zu lösen. Sein griff um ihre Handgelenke wurde schwächer, was sie sofort nutzte und ihn von sich stieß. „Du bist so ein ekelhaftes Schwein!“, schimpfte sie und eilte aus der Küche, was er aufmerksam verfolgte - währenddessen leckte er zufrieden über seine Lippen. Es war widerwärtig. Rund um ihren Mund fühlte es sich feucht an, weshalb sie zum Bad stürmte und sich das komplette Gesicht wusch - gleich zwei mal. Wie kam er nur dazu ihr so etwas anzutun? Das war sexuelle Belästigung! Sie fand ihn weder vom Charakter noch vom Aussehen ansprechend. Sie mochte ihn nicht! Er konnte doch nicht ohne Rücksicht so etwas tun! So schnell würde sie diesen Abend nicht vergessen, vor allen Dingen seine feuchte Zunge nicht. Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf ihrem gesamten Körper aus. Es würde sie nicht wundern, wenn sie heute Nacht von Alpträumen geplagt würde. Nie wieder würde sie ihn so ärgern. Das hatte sie absolut nicht bezwecken wollen. Normal ließ sie sich nichts gefallen, aber bei ihm hatte sie keine Chance; er war gnadenlos. Am besten sie würde ihm ganz aus dem Weg gehen. Leicht stützte sie sich auf dem Waschbecken ab, dabei blickte sie in den Spiegel. Oder sollte sie sich so was einfach nicht gefallen lassen? Was könnte im schlimmsten Falle passieren? Das eben geschehene sollte eigentlich das schlimmste gewesen sein viel weiter gehen würde er wohl nicht. Er war zwar pervers, aber mit Sicherheit kein Verbrecher. Aber die Chance auf ein Plätzchen war nun endgültig vergangen. Oh nein! Sie hatte ihn tatsächlich mit den Keksen alleine gelassen. Das konnte einfach nicht gut gehen, denn zweifellos war er scharf auf das Gebäck. In Panik stürmte sie aus dem Bad, um kurz danach in die Küche zu eilen. Dort fand sie aber keinen Ryuzaki vor, was sie verwirrte, sofort wurde ihr bewusst weshalb, denn die Kekse standen auch nicht mehr auf der Theke. Dieser Mistkerl hatte die Gelegenheit genutzt, um die Plätzchen zu klauen! „Suchst du etwas?“ Direkt schreckte sie hoch. Sie drehte sich zu der Quelle, die sich hinter ihr befand. Null Emotion war in seinem Gesicht zu erkennen. Er spielte wieder mit ihr. Allerdings war Shaelyn nicht zum Scherzen aufgelegt. Sie war sauer. „Tu nicht so! Wo sind sie?“ „An einem Ort, wo du sie nicht finden wirst.“ Leicht musste sie mit den Zähnen knirschen. „Was hab ich dir getan, dass du so unfair zu mir bist?“ „Du gibst mir eben keine freiwillig, da musste ich eine Maßnahme einleiten.“ Sie stöhnte frustriert auf und nahm auf einen der Küchenstühle platz. Nein, sie hatte keinen Willen mehr, er war schlimmer als jedes Kleinkind. Vielleicht sollte sie einfach noch einmal alles einkaufen und in ihrer Wohnung neue Kekse machen, dann würde sie sich nicht mehr mit ihm herum schlagen. Shaelyn neigte ihren Kopf, dieser langsam begann stark zu pochen. Dieser Typ bereitete ihr Kopfschmerzen. Es hatte sich erledigt mit ihm, so ging es nicht weiter und sie war wirklich nicht auf ihn angewiesen. Ein Geräusch war wahrzunehmen. Seine nackten Füße bewegten sich auf dem Fliesenboden. Er kam näher, jedoch sah sie nicht auf. Sie wollte einfach nicht in sein amüsiertes Gesicht sehen. Seine Füße kamen in ihr Blickfeld, auch seine verwaschene Jeans war zu sehen, was aber nicht lang anhielt. Ryuzaki ging in die Hocke neben ihr, dabei legte er seine Hände auf die Knie. Nun sah sie ihm doch in sein Gesicht, welches wie immer nichts ausdrückte. Es schien als würde er versuchen ihre Gedanken zu lesen, da er sie aufmerksam musterte. „Was ist? Ich hab einfach keine Lust mehr darauf. Ehrlich und ich gehe jetzt auch. Ess einfach alles, erwarte aber nicht von mir, dass ich noch einmal vorbei sehe. Mir reichts, endgültig.“ Er erwiderte nichts, sondern blickte sie noch immer so an, dann erhob er sich und verschwand einfach aus der Küche. Was hatte sie schon erwartet? Etwa eine Entschuldigung? Und wenn schon, sie wäre sicher nur gespielt gewesen, wie die vorherige auch. Es war wirklich frustrierend, weshalb sie sich erhob um diese Wohnung zu verlassen. Diese Weihnacht würde sie also wirklich völlig alleine verbringen, demnach vor dem Fernseher hocken und sich tolle Filme ansehen. Das hellte nicht gerade ihre Stimmung auf. Niedergeschlagen verließ sie die Küche, im Flur jedoch wurde sie aufgehalten. Ryuzaki stand vor der Haustür, er schien auf sie gewartet zu haben, das jedenfalls war der Eindruck den sie hatte. Was wollte er denn jetzt von ihr? Konnte er sie nicht einfach in Frieden lassen? Zögernd ging sie auf ihn zu, nachdem sie vor ihm halt machte, griff er in seine Hosentasche und streckte ihr kurz darauf die Hand entgegen, diese war zu einer Faust geformt, als befände sich etwas in seiner Hand. „Mich würde es freuen, wenn du morgen vorbei siehst.“ Während er sprach öffnete er seine Faust und zum Vorschein kam einer der zwei Plätzchen die sie komplett untergetaucht hatte. Das Gesagte und auch seine Geste ließen sie misstrauisch werden. Er hatte garantiert etwas vor, aber seine Stimme war so ernst. Erneut wusste sie einfach nicht was sie von ihm denken sollte. „Ich werde dir, falls du doch vorbei siehst, dein Gebäck zurück geben. Keins davon werde ich anrühren.“ Shaelyn musste schlucken. Meinte er das wirklich ernst? Und wieso wollte er überhaupt, dass sie vorbei schaute? War es ihm einfach selbst zu wider alleine Heiligabend zu verbringen? Nun ja so würde sie ihn zumindest einschätzen, der pure Egoismus war es. Vielleicht hatte er deshalb das Gebäck versteckt? Damit er sie dazu bringen konnte bei ihm zu bleiben? Hatte er all das geplant? Oder war er einfach nur einsam und es war eine Verzweiflungstat? Sie kam nicht mehr mit. Was davon war von ihm nicht berechnet? Eigentlich war sie nicht gerade scharf darauf mit ihm einen weiteren Abend zu verbringen, besonders nicht alleine. Jedenfalls stand fest, dass es eine ziemlich miese Masche war. Eine nette Frage hätte auch gereicht, auch wenn die ganzen Aktionen an diesem Abend nicht gerade dazu beigetragen hätten sofort zu zusagen. „Ganz ehrlich Ryuzaki. Wieso fragst du so was nicht einfach? Ich meine ich hätte schon nicht Nein gesagt, wenn du mich darum gebeten hättest. Dafür brauchst du echt nicht so was hinterlistiges abziehen.“ Irgendetwas war kurzzeitig in seinen Augen zu erkennen, was es allerdings war, konnte sie nicht sagen. Er öffnete seinen Mund und sie ergriff seine ausgestreckte Hand. „Schon gut, sag einfach nichts. Ist vielleicht eh besser.“ Ein schiefes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Er war doch ein wenig ungeschickt was Nettigkeit anging, das war nicht schwer zu erkennen, daher unterbrach sie ihn lieber gleich. Immerhin würde die Chance bestehen, er würde abermals etwas unpassendes sagen und sie würde sich daraufhin erneut aufregen. Sie konnte auf seiner Bitte hin nicht verneinen, denn ihr gutes Herz verbat es ihr. Außerdem wollte sie nicht auch unbedingt einen Heiligabend alleine verbringen, besonders da sie die vorherigen alle mit ihrer Familie verbracht hatte. Doch was war mit ihrem Vorsatz sich fern zu halten? Die Zungenattacke hinterließ ihre Spuren. „Weißt du, wenn du öfter mal nett gewesen wärst, hättest du erst gar nichts sagen müssen. Es wäre für mich selbstverständlich gewesen dich hier nicht alleine zu lassen. Und jetzt greif ich mir meinen Keks und gehe. Also ich nehme deine Bestechung an, wehe ich seh Morgen auch nur eine Ecke abgebissen oder es sind nicht genau die Anzahl, die ich gezählt hab.“ Sie ließ seine Hand los und nahm sich aus seiner Handfläche das Plätzchen. Augenblicklich trat er zur Seite. „Zu freundlich.“, meinte sie trocken und öffnete die Tür. „Ah ja, du kannst ruhig den anderen Keks essen, er war schließlich für dich gedacht.“ Mit diesen Worten verschwand Shaelyn durch die Tür, dabei sah er ihr mit einem faszinierten Blick nach. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Was zum Teufel hatte sie bitte da geritten? Nachdem sie ihre Wohnung wieder betreten hatte, fragte sie sich das ernsthaft. Je mehr sie darüber nachdachte, desto misstrauischer wurde sie. Der ganze Abend war eine einzige Katastrophe gewesen, wie sollte dann ein ganzer Tag werden? Von fiesen Sprüchen, absurden Momenten und nicht zuletzt seiner Zunge blieb sie nicht verschont, sogar an mehreren Bereichen an ihr. Direkt biss sie sich auf ihre Unterlippe, man war sie bescheuert eingewilligt zu haben. Hätte es einen Preis für Dummheit gegeben, sie hätte ihn garantiert gewonnen. Deprimiert aß sie ihren Keks, der verführerisch gut schmeckte, dabei dachte sie weiter nach. Erneut hatte sie ihr Mitleid in eine Situation gezogen, die ihr eigentlich widerstrebte, außerdem war der Drang, nicht alleine zu sein, viel zu groß. Es war frustrierend. Wahrscheinlich würde der nächste Tag nur genauso, oder zumindest ähnlich, ablaufen. Was sollten sie überhaupt gemeinsam machen? Einfach so herum sitzen wäre nicht gerade spaßig. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie mit ihm anstellen könnte. Oder hatte er vielleicht einen Plan? Sie würde es jedenfalls morgen feststellen, denn er musste doch etwas vor haben, sonst hätte er bestimmt nicht gefragt. Shaelyn stand zu dem was sie gesagt hatte. Sie würde ihm morgen entgegentreten, mit all dem was er wohl Fieses vorgesehen hatte. Ein Blick auf die Uhr in ihrem Wohnzimmer sagte ihr, dass es schon reichlich spät geworden war, somit zog sie sich um und ging schlafen. Der Traum der diese Nacht folgte konnte bizarrer nicht sein. Verwirrt blinzelte sie einige Male, bevor sie ganz die Augen am Morgen öffnete. Sie war noch völlig verschlafen und wäre am liebsten liegen geblieben, aber die Gedanken an ihrem Traum suchten sie heim. Mit einem Seufzen setzte sie sich auf, dabei rieb sie sich die Augen. Es war total skurril was sie geträumt hatte. Von Plätzchen die in Schüsseln sprangen, einem Ryuzaki der die Plätzchen vergeblich versuchte einzufangen, die ihn jedoch nur auslachten, sowie ihrem Ex-Freund der ihr wie Ryuzaki über das Gesicht geleckt hatte und danach meinte wie sehr ihn das angemacht hätte. Ein Lachen erfüllte ihr Schlafzimmer. Träume waren wirklich verrückt. Der Tag fing also schon einmal amüsant an. Sie versuchte optimistisch zu bleiben, irgendwie würde man schon diesen Tag überleben. Mit diesen Gedanken ging sie erst einmal ausgiebig duschen, zog sich daraufhin etwas Bequemes an und stand kurzer Zeit später vor seiner Wohnungstür und betätigte die Klingel. Nervös tippte sie mit ihrem Zeigefinger gegen ihr Bein. Sie wurde immer ungeduldiger, da es eine Weile brauchte bis sie überhaupt Schritte hören konnte. Es wäre ja nicht so als wäre der Flur im Winter kalt, besonders mit nassen Haaren, aber er ließ sich wohl gerne Zeit. Scharf sog sie die Luft ein, nein sie sollte sich mal entspannen, einfach alles ruhig belächeln. Die Tür wurde nun endlich aufgezogen, nun zumindest ein Stück, hervor kam natürlich Ryuzaki's Kopf, der sie leicht skeptisch ansah. Hatte sie ihn gestört? Das war ihr gerade reichlich egal, da sie leicht fror. „Morgen. Es wäre schön gewesen, wenn du die Tür eher geöffnet hättest. Es ist echt kalt im Flur.“, band sie ihm direkt auf die Nase und drückte sich an der Tür vorbei, ohne auch nur eine Antwort ab zu warten. Das hätte sie aber lieber gleich gelassen, denn nachdem sie sich durch den Türspalt gequetscht hatte, sah sie wobei sie wohl gestört hatte. Direkt starrte sie ihn an. Er zog eine Augenbraue nach oben und schloss die Tür nebenbei. „Ja, du liegst mit deiner Vermutung richtig, du hast mich gestört.“, meinte er monoton. Konnte er Gedanken lesen? Nein, es lag eher daran, dass es wohl sehr offensichtlich zu erkennen war, was sie dachte. Ungläubig starrte sie ihn an. Also das hätte sie bestimmt nie vermutet von ihm zu sehen. Kapitel 5: Feiertage; Das Süße schlägt zurück, mehr oder weniger ... -------------------------------------------------------------------- „... Ich hätte ja nie gedacht, dass du unter deiner Kleidung so aussiehst.“, gab sie erstaunt von sich, währenddessen machte sie keine Anstalten ihren Blick von seinem freien Oberkörper zu nehmen. „Ich treibe hin und wieder Sport.“ „Interessant! Hätte ich nie vermutet. Was denn?“ Ihre Neugierde war geweckt. Es war wirklich überraschend. So eingeschätzt hätte sie ihn nie. Es gab also noch einiges bei ihm zu entdecken. Ryuzaki hatte tatsächlich leichte Muskelansätze, jedoch war er noch immer recht dünn. Dennoch man konnte erkennen, dass er zumindest ein wenig Sport betrieb. Der Angesprochene seufzte und zog sich sein weißes Shirt über, welches er die Zeit über in seiner Hand gehalten hatte. Sie hatte ihn beim Anziehen erwischt. Wieso eigentlich? Geduscht sah er nicht aus und vor allem... genau die gleiche Kleidung? Oder war das Neue, die nur haargenau so aussah? Verwirrung machte sich breit. Das war äußerst bizarr. Ihre Überlegung wurde durch seine Stimme unterbrochen: „Etwas Kampfsport und Tennis.“ „Nicht übel, wirft gleich ein ganz anderes Licht auf dich.“ Sie erntete nur ein fragenden Blick von ihm, doch schien er nicht weiter interessiert an dem Thema, weshalb er nichts weiter dazu sagte und das Wohnzimmer betrat. Direkt folgte sie ihm. Shaelyn musste feststellen, dass er seinen heiß geliebten Laptop weggelegt hatte, da sie ihn nirgends ausmachen konnte. Bedeutete das, dass er sich mit ihr beschäftigen würde? Oder wie sollte sie es sonst deuten? Normal hing er ausnahmslos davor. „Warum hast du deinen Laptop weggeräumt?“ Wollte sie auch gleich wissen und setzte sich auf das Sofa, während er auf dem Sessel daneben platz nahm. „Es wäre am heutigen Tag unangebracht sich ausschließlich damit zu beschäftigen.“ Aha... hieße das etwa, dass er auf den Heiligabend viel Wert legte? Sie konnte sich ehrlich gesagt nicht vorstellen warum, da es ein Tag der Familie war. Seine Antworten warfen noch mehr Fragen auf, somit lehnte sie sich zurück, sodass sie an die Decke starrte. Ihn fragen wäre eh nutzlos, da er ihr wahrscheinlich keine Antwort geben würde. Sie hörte etwas Papier rascheln, was sie aber nicht weiter störte. „Hast du denn wenigstens für heute etwas geplant?“ „… Nein.“ Auf der Stelle sah sie ihn wieder an, woraufhin er ihren direkten Blick erwiderte und nebenbei seinen Lutscher genüsslich leckte. „Klasse...“, murmelte sie und stieß hörbar die Luft aus. Nun, wenn ihm offensichtlich nichts einfiel, wollte sie die ganze Sache anregen. Etwas anderes blieb ihr auch nicht. Zunächst aber brauchte sie dringend einen Tee zum Entspannen. „Ich mach mir jetzt einen Tee, möchtest du vielleicht auch einen, oder Kaffee? Oder soll ich sonst was aus der Küche mitbringen?“, fragte sie während sie aufstand und sich kurz streckte. „Einen Kaffee und ein Stück Sahnetorte, bitte.“ „Sofort, der Herr.“, scherzte sie und ging in die Küche, dabei ignorierte sie seinen Blick. Es dauerte nicht lange bis sie mit einem Tablett ins Wohnzimmer trat, seine gewünschten Dinge vor seinem Platz stellte und sich kurz darauf mit der Tasse in der Hand auf das Sofa nieder ließ. Shaelyn war nach wie vor müde, weshalb sie ausgelassen gähnte. „Nicht genug geschlafen?“, kam prompt die Frage von ihm. Natürlich war ihm nicht entgangen wie angespannt sie wirkte. „Nein, so würd' ich das nicht sagen. Ich hab nur einen total bescheuerten Traum gehabt, der mich daran gehindert hat richtig auszuschlafen. Und so wie du aussiehst, hast du wohl auch nicht viel geschlafen.“, merkte sie an, unterdessen pustete sie in die Tasse hinein. „Ich habe nicht geschlafen.“ Schockiert sah sie ihn an. Sicherlich hatte sie auch schon öfter mal eine Nacht durchgemacht, meist mit ihrem Bruder zusammen, aber er sah aus, als bräuchte er dringend Schlaf. Seine dunklen Augenränder waren schlichtweg nicht zu übersehen. „Dann solltest du mal ausschlafen.“ Was machte er eigentlich die ganze Zeit? Leicht schüttelte sie ihren Kopf. Gesund lebte er so oder so nicht. „Mein Rekord liegt bei exakt 92 Minuten und 43 Sekunden Schlaf.“ Beinahe hätte sie sich an ihrem Tee verschluckt als sie das gehört hatte. Nicht nur, dass er es genau auf die Sekunde gezählte hatte, was an sich schon verrückt war, sondern auch dass er nur anderthalb Stunden höchstens am Stück geschlafen hatte. „Äh und wann hast du das letzte mal Augenpflege gemacht?“ Augenpflege war ein sehr gutes Stichwort bei ihm, was sie beinahe zum Kichern brachte. „Vor ...“ Ryuzaki sah zur Uhr auf, die im Raum hing, währenddessen legte er die Gabel an seinen Mund. „genau 97 Stunden, 34 Minuten und 27 Sekunden.“ „... Du bist wahnsinnig. Also zuerst will ich sagen, dass es echt krank ist, dass du mir bis auf die Sekunde genau sagen kannst, wann du zuletzt geschlafen hast und zum anderen... bist du nicht wenigstens ein bisschen müde?“ Ryuzaki schob sich gerade eine weitere Gabel voll mit Torte in den Mund, dabei war sein Blick sehr fragend. Sie konnte sich nicht helfen. Er sah sie gerade an als hätte er ihr sagen wollen, er hätte keinerlei Verständnis für ihre Worte. Zweifelsfrei war es normal bei ihm, weshalb ihre Aussage ihn recht irritierte. „Nein, für eine Erholung ist es auch noch nicht an der Zeit.“ „Ganz wie du meinst...“ „Ja, genau das meine ich.“ Er ließ sich wirklich nicht rein reden, er hielt eisern zu seiner Denkweise. Es sollte nicht ihr Problem sein wenn er so wenig schlief, weshalb sie das Thema dabei beließ. Der Tee war schnell leer und ihre Laune besserte sich ein wenig und zur selben Zeit verleibte Ryuzaki sich das Stück Torte ein. Ein klirrendes Geräusch durchschnitt die Stille, was von ihrer Tasse verursacht worden war, da sie diese wieder zurück stellte. „Gesprächig bist du ja nicht gerade. Wieso bin ich denn dann hier?“ „Weil du nicht alleine in der Wohnung sitzen wolltest, da du bisher kein Weihnachten alleine verbracht hast. Nicht zuletzt auch auf meine Bitte hin sitzt du nun hier, was allerdings auf deiner Freundlichkeit zurückzuführen ist.“, erklärte er nüchtern, unterdessen trank er von seinem Zuckerkaffee. Shaelyn musste stark einige male blinzeln. „Ich... das hatte ich dir gar nicht gesagt.“ „Es gehört kein Können dazu um das herauszufinden.“ Vollkommen gelassen schlürfte er weiter an seinem Kaffee. „Heißt das, dass das alles von dir so geplant war? Und du wusstest, dass ich nicht Nein sagen würde, weil ich eigentlich zu nett bin?“ „Korrekt.“ Er gab es auch noch zu. Woher wusste er das alles und vor allem: Woher kannte er ihre Gedanken? „Sag mal, was weißt du eigentlich alles?“ „Die Frage, was ich eigentlich nicht wüsste, wäre interessanter.“ Und nochmals stellte sich ihr die Frage: Mit wem hatte sie es verdammt noch einmal zu tun?! Abermals hatte er sie sprachlos gemacht. Er war von sich selbst sehr überzeugt, so stark, dass es selbst sie beeindruckte. Die Neugierde kam auf. Spätestens jetzt stand fest, dass sie ihn falsch einschätzte. Anscheinend besaß er viele Seiten, wobei die interessanteste Frage war, welche Seite war echt? Sein scharfer Verstand war erstaunlich, gleichzeitig war er wie ein Kleinkind und noch einiges anderes mischte sich mit unter, unter anderem sein dreistes Auftreten, was ihr sämtliche Nerven raubte. „Ryuzaki, ich muss sagen, dass du wirklich eigenartig bist. So jemanden hab ich noch nie gesehen und ich rede nicht von deinem Äußerem.“, sagte sie ernst, woraufhin er unbekümmert zu ihr sah, statt seinem Kaffee Aufmerksamkeit zu schenken. „Ich glaube nicht, dass du mit deinen 16 Jahren schon vielen verschiedenen Menschen begegnet bist, um diese Meinung zu äußern.“ „... fast 17, bitte.“ „Noch immer 16, Shaelyn.“ Sein Ton klang leicht tadelnd, als hätte er das Recht ihr Zurechtweisungen zu erteilen. „Ach und du bist wohl hier der Erwachsene, was?“ „Richtig. Laut dem Gesetz bin ich dazu in der Lage und somit habe ich gerade die Aufsichtspflicht, da du noch minderjährig bist. Das bedeutet, dass ich dir sehr wohl eine Lehre erteilen darf.“ Er ließ die Gelegenheit nicht aus, um ihr genau vor Augen zu führen, dass er das Sagen hatte und selbstverständlich Recht besaß. „Das muss ich mir von jemanden anhören, der gestern noch ein riesen Theater veranstaltet hat, weil er seine Schokolade nicht bekam. Bescheuert ist das doch.“ „So sind die Regeln, Shaelyn.“ Gleichgültig blickte er nun wieder auf seinen Kaffee, von dem er einen Schluck nahm. Die Sicherheit sollte gleich nachlassen, wenn er alles schon so genau nahm. „Und die Regeln besagen, dass du dich auch strafbar gemacht hast.“ Entgeistert starrte er sie sofort an. Offensichtlich fragte er sich gerade was er falsch gemacht hatte. Ein fieses Grinsen legte sich auf ihre Lippen. „Ganz recht, Mister Oberschlau.“ Umgehend führte er seinen Daumen zu seinem Mund. Er schien seinen Gedanken nachzuhängen. Triumphierend begann sie zu sprechen. „Sexuelle Belästigung! Oder meinst du ich wollte mich freiwillig von dir ablecken lassen? Ich habe mich gewehrt und du hast mich festgehalten. Da haben wir es also. Du hast deine Position ausgenutzt.“ „Hast du Beweise dafür?“ Nun breitete sich auf seinem Gesicht das siegreiche Grinsen aus, woraufhin sie ihres verlor. „Unfair! Natürlich habe ich sie nicht!“ „Dann muss ich dir leider sagen, dass deine Anschuldigung nicht haltbar ist.“ Beleidigt verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und blickte zur Seite. Er hatte direkt ihre Auflehnung im Keim erstickt, somit abermals gewonnen. Wäre sie bloß nicht auf seine Bitte eingegangen. Doch ein Schmunzeln machte sich bemerkbar. Die kleine Streiterei gerade hatte doch irgendwie leicht Spaß gemacht, weshalb sie nicht richtig erbost über Ryuzaki war. „Ryuzaki?“ „Ja?“ Sie sah auf, direkt in seine großen dunklen Augen. „Wie alt bist du denn eigentlich?“ „Alt genug, um eine intime Bindung mit dir als Gesetzwidrig gelten zu lassen.“ Shaelyn stutzte. Wie zur Hölle kam er jetzt auf diese Schnapsidee? Ach, er wollte nur wieder auf ihre Worte mit der Belästigung anspielen. So was nerviges. „Will ich auch nicht.“ „Sicher?“ Neckte er sie gerade? Sie hoffte es inständig. „Sehr witzig, Ryuzaki.“ „Ich fand es amüsant.“ Ja das konnte man an seinem Grinsen erkennen. Beinahe hätte sie vergessen, womit die Unterhaltung begann. Er wollte ausweichen und probierte sie geschickt abzulenken. Zweifellos wollte er sein Alter nicht verraten. „Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, wie alt du jetzt bist.“ Sein Grinsen wich, stattdessen wurde sein Gesichtsausdruck ernst. „Es reicht zu wissen, dass ich volljährig bin. Ich könnte mir außerdem nicht vorstellen, wozu diese Information relevant sein sollte.“ Tatsächlich, er wollte ihr nicht nennen wie alt er war. Jetzt wollte sie ihn ein wenig necken und sein Alter noch mehr denn je wissen. Außerdem was war daran so schlimm sein Alter zu wissen? „Na vielleicht wird es ja relevant, wenn ich mehr Interesse an dir hätte...“ Ryuzaki, der gerade einen Schluck von seinem Kaffee nahm, stoppte augenblicklich. Seine dunklen Augen bohrten sich förmlich in die ihrigen, deutlich konnte sie spüren, wie er versuchte hinter ihre Gedanken zu kommen. Die Absicht war klar, er wollte wissen ob sie die Wahrheit sprach. Natürlich hatte sie sich einen Spaß erlaubt! „Ganz ehrlich, du müsstest nicht nachdenken, die Antwort lautet klar; NEIN. Ich hab deine Spielerei nur etwas weiter geführt. Amüsant nicht wahr?“, stocherte sie mit einem süßen Lächeln auf den Lippen herum. Ryuzaki erwiderte nichts auf ihre Worte, doch seine Mundwinkel zuckten schwach nach oben. „Na ja gut, da du mir ja nichts von dir erzählen willst, schlage ich vor spielen wir etwas.“ Die Frage war nur: Was? „Hm, hast du Karten hier oder irgendein Brettspiel?“ „Schach hätte ich anzubieten.“ Shaelyn verzog ihren Mund. „Schach kann ich gar nicht, außerdem hab ich da nie wirklich durchgeblickt.“, sagte sie ein wenig verlegen. Eigentlich hatte sie an ein witziges Brettspiel gedacht und keinesfalls an so etwas Anspruchsvolles. „Wenn du möchtest, bringe ich es dir bei.“ „Oh ne, besser nicht. Hat nichts mit dir zu tun, ich bin nur so schlecht darin. Bestimmt verliere ich nur. Muss nicht sein.“ Ryuzaki setzte gerade zu einer Antwort an als sie unerwartet aufsprang, weshalb er leicht zusammen zuckte. „Ha! Eine Idee, warte hier!“ Sie achtete gar nicht auf ihn und verließ das Wohnzimmer. Kurz darauf hörte er wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Was hatte sie vor? Minuten vergingen, in denen sie noch immer nicht wiedergekehrt war, auch hörte er nichts. Die Neugierde stieg, weshalb er begann auf seinem Daumen zu kauen. Shaelyn war leider nicht so freundlich gewesen ihn aufzuklären, stattdessen sprang sie wie ein verschrecktes Tier auf und stürmte davon. Er blieb nicht gern im Ungewissen. Musste sich jedoch damit abfinden. Dann waren Schritte zu hören. Unverzüglich starrte er auf die Wohnzimmertür. Er vernahm ein Klacken der Wohnungstür und kurz darauf ihre weiteren Schritte, welche sehr ruhig wirkten. Offensichtlich hatte sie gefunden wonach sie gesuchte. Kurze Zeit später war sie an der Tür zu sehen, mit einem breiten Lächeln und zwinkerte ihm zu, aber hielt ihre Hände hinter ihrem Rücken. Shaelyn sollte ihn nicht so neugierig machen. Das hatte sie doch schon am Vortag zu spüren bekommen. Er wollte sie gerade aus seiner Sitzposition erheben, als er ihre Stimme hörte: „Bleib da hocken. Ich komm ja schon.“ Wenigstens kam sie ihm etwas entgegen, doch gefiel ihm die Wortwahl nicht, die sie für sein Sitzen gewählt hatte, sparte sich aber einen Kommentar. Mit dem selben Lächeln kam sie auf ihn zu und setzte sich einfach auf den Couchtisch vor ihm, dabei enttarnte sie endlich was sie geholt hatte. Sie hielt einen Kartenstapel in ihrer Hand. Woher hatte sie den? „Bevor du fragst, es wohnt eine nette alte Dame auf unserer Etage. Ich hatte ihr schon einmal geholfen etwas nach oben zu tragen. Ich dachte mir, sie einfach mal nach Karten zu fragen. Siehe da, wir haben Glück. Sie hat sie mir sogar geschenkt, da ich so nett zu ihr gewesen wäre und sie eh keine Verwendung mehr dafür hätte. Was man mit Freundlichkeit nicht alles erreicht, findest du nicht?“ Die Anspielung fiel ihm selbstverständlich sofort auf. Erneut hatte sie vor ihn zu ärgern – was allerdings an ihm vorbeizog. „Es ist sehr löblich, dass du der alten Frau geholfen hast, aber ich würde jetzt lieber beginnen mit den Karten zu spielen.“ Kurz zog sie ein enttäuschtes Gesicht, es lief nicht so wie sie es sich vorgestellt hatte. Er ging nicht darauf ein, was sie schade fand. „Ist ja gut, also ich würde ja lieber ein leichtes Spiel spielen. Zum Beispiel wäre Mau-Mau doch ganz nett. Das macht immer wieder Spaß. Du kennst es doch, oder?“ Im Kartenspiel war er nicht sonderlich bewandert, da er bisher meist Schach mit sich selbst, oder gegen Watari spielte. Die Bezeichnung des Spiels klang jedenfalls ganz interessant. „Nein, ich kenne es nicht.“ „Sieh einer an, da haben wir etwas, was du schon einmal nicht weißt.“, kam es frech von ihr, was ihn aber nicht im Geringsten kümmerte. „Würdest du mir vielmehr das Spiel erklären, als vorlaut zu werden?“ Ein Grummeln ihrerseits war zu hören, doch dann stand sie auf und legte den Kartenstapel auf den Couchtisch. Ryuzaki begann aufmerksam ihren Worten zu lauschen, nachdem sie begann das Spielprinzip zu erklären. Unmittelbar nachdem sie ihm die leichten Regeln klar gemacht hatte, seufzte sie auf. „Ich denke, bevor wir aber anfangen, sollten wir uns das ganze hier bequemer gestalten, oder?“ Ryuzaki legte auf ihre Aussage hin den Kopf ein wenig schief. Er konnte sich nicht genau vorstellen was sie meinte; sagte also dazu nichts. „Ich seh schon, du hast keinen Plan, was ich eigentlich meine.“, kicherte sie halb, woraufhin er nur fragend zu ihr sah. „Es ist echt kalt hier, also hol ich mir 'ne Decke und besser noch ein Kissen. Auf dem Boden ist es mit der Dauer nicht sehr gemütlich. Aber findest du nicht, dass etwas mehr Süßes nicht schlecht wäre? Immerhin sind die wenigen Süßigkeiten sicher in einer halben Stunde aufgebraucht.“ , meinte sie recht nachdenklich. Shaelyn hatte was die Süßigkeiten betraf recht, weshalb er nickte und sich aus dem Sessel hievte. „Äh, was hast du vor?“ „Uns etwas Süßes holen.“ Ein Moment verging, dabei sah sie ihn erstaunt an. „Du wolltest wirklich für uns beide etwas holen?“ „Ja, aber vielleicht sollte ich mir das noch einmal überlegen.“ „Nein, nein! Schon gut. Ich habe mich nur ein bisschen gewundert. Das wäre nämlich nett von dir.“ Ihre Antwort ließ ihn leicht grinsen, was sie dazu brachte sich erneut Fragen zu stellen. Warum grinste er nun so? Das war sicherlich wieder irgendeine Anspielung. Sie kam stark ins Grübeln, währenddessen verschwand Ryuzaki mit demselben Gesichtsausdruck aus dem Wohnzimmer. Plötzlich fiel es ihr ein. Sie hatte ihm doch am Vortag an den Kopf geworfen, dass wenn er netter gewesen wäre, alles selbstverständlich gewesen wäre. Er war wirklich erstaunlich, denn er hatte ihr aufmerksam zugehört und setzte es sofort um. Wahrscheinlich blieb es nicht bei dieser Andeutung. Shaelyn war sich sicher, dass es einen Grund haben musste, sonst wäre er nicht so. Welchen Vorteil hätte er also? Noch etwas Wichtigeres fiel ihr ein. Wo waren denn nun die Plätzchen? Da musste sie direkt nachhaken. Wo blieb er überhaupt so lang und wieso war er nicht in die Küche gegangen? Direkt stand sie auf und ging in ihr altes Zimmer, um sich das Kissen und die Decke zu holen. Nachdem sie die Tür zu ihrem alten Zimmer geöffnet hatte, blinzelte sie einige male verwirrt. Das Bett war vollkommen leer, nicht einmal ein Bezug war vorhanden. Wundern sollte es sie nicht. Ihr Großvater war wirklich ein Ordnungsliebender Mensch, was bei Ryuzaki nur vorteilhaft war, der sicherlich untergehen würde in seiner Unordnung. Ein Schmunzeln legte sich auf ihre Lippen. Nicht einmal die Frisur von Ryuzaki war ordentlich. Sie musste die Luft schwer ausstoßen. Plötzlich war ein lauter Krach zu hören und ein Aufschrei seitens Ryuzaki, was sie aufschrecken ließ. Was war das gewesen? Es konnte nur aus dem Schlafzimmer gekommen sein, da es direkt nebenan lag. Auf der Stelle machte sie kehrt und lief eilig in Richtung Schlafzimmer. Hoffentlich war nichts schlimmes passiert! Auch wenn sie dieses Geräusch nicht einordnen konnte, es hörte sich nicht gut an. Augenblicklich drückte sie die Tür zum Schlafzimmer auf, was sie dort sah, verursachte erst ein völlig konfuses Gesicht, allerdings nach ein paar Momenten brach sie in ein schallendes Gelächter aus. Ryuzaki war begraben unter seinen eigenen Süßigkeiten. Das Süße schlug zurück, war das erste was ihr durch den Kopf schoss und somit den Lachkrampf ausgelöst hatte. Die diversen bunten Tüten lagen überall auf ihm verteilt und dem Boden vor dem geöffneten Schrank. Sein Blick war vor Schreck noch immer sehr entsetzt, dabei richtete er sich langsam auf. Shaelyn hielt sich unterdessen die Hand vor dem Mund und versuchte sich zu beruhigen. „Was... was ist denn passiert?“, kicherte sie noch immer halb vor sich hin, während sie zu ihm ging. Ryuzaki drehte sich zu ihr. Sein Gesichtsausdruck war nun recht verärgert. Oh, es war also etwas passiert, was er nicht geplant hatte. „Schon gut, ich frag erst gar nicht weiter...“, setzte sie sofort fort. Sein Ausdruck sprach Bände. Nun sah sie auf den Boden, der übersät war mit Süßigkeiten. Hatte er wirklich das Süße im Schrank gelagert? Warum, das wollte sie wirklich nicht fragen, da ohnehin klar war, dass es wieder eine seltsame Eigenart war. Mit einem Seufzer begann sie die Süßigkeiten einzusammeln. Also genug war schon einmal vorhanden, musste sie mit einem Grinsen feststellen. Ein Blick in den Schrank verriet ihr, dass er noch weiter gefüllt war. Kein Wunder, dass Ryuzaki angefallen wurde, wenn der Schrank so voll gestopft war. „Du kannst dir nehmen was du willst.“ Überrascht sah sie zu ihm. Meinte er das ernst? „Ähm, danke.“ Nun so großen Hunger auf Süßes hatte Shaelyn nicht wirklich, aber beim Spielen dürfte so etwas nicht fehlen. Auch Ryuzaki begann damit aufzuräumen, was sie recht überraschte. Doch plötzlich hielt er inne und griff nach einer bestimmen Packung. „Ich wusste doch, dass ich mich nicht irre.“, gab er ruhig von sich, dabei streckte er seinen Arm aus und reichte Shaelyn diese Packung. Mit großen Augen betrachtete sie was er ihr entgegen hielt. Danach hatte er gezielt gesucht? Ganz verwundert nahm sie an was er ihr reichte, dabei kam es leise: „Danke ...“, von ihr. Als Antwort erhielt sie nur ein kleines Lächeln, das sie mehr verwirrte als alles andere. Hatte sie es wirklich noch mit ihm zu tun? Ryuzaki hatte ihr eben eine Packung Schaumzuckererdbeeren gereicht. Als ob nichts gewesen wäre richtete er sich auf, nahm soviel er tragen konnte und verschwand aus dem Schlafzimmer. Shaelyn war vollkommen irritiert. Er konnte sich daran erinnern? Vor allem, hatte er den Anschein gemacht, als wüsste er genau, dass sie diese Süßigkeit am liebsten aß. Dabei hatte er sie lediglich mal dabei erwischt welche zu klauen. War das jetzt auch Theater gewesen, um sie ruhiger zu stimmen? Shaelyn knirschte kurzzeitig mit den Zähnen. Es war unmöglich ihn zu durchschauen. Schwer seufzend erhob sie sich ebenfalls. Voll beladen schlenderte sie zurück, nachdem sie jedoch das Wohnzimmer betrat blieb sie an der Tür stehen. Auf dem Tisch standen die Plätzchen, doch zierte die Spitze noch immer eins, welches völlig mit Schokolade überzogen war. Hatte Ryuzaki ihn nicht gegessen? Warum nicht? Jetzt konnte sie sich allerdings auch die Frage sparen, wo die Plätzchen waren. Langsam bewegte sie sich auf ihn zu und lud die diversen Packungen auf dem Tisch ab. „Sag mal, Ryuzaki...“, begann sie zögerlich und sah zu ihm auf, der gegenüberliegend bereits platz genommen hatte. „Hm?“ Seine fast schwarzen Augen sahen sie prüfend an. „Wieso hast du den Keks nicht gegessen? Ich dachte …“ Unsicher erwiderte sie seinen direkten Blick, unterdessen griff er gelassen zu einer Bonbontüte, riss diese auf und nahm sich daraus welche. „Falls ich dein Gebäck essen würde, wäre denke ich nicht mehr viel davon übrig, deswegen hatte ich ihn nicht probiert.“ Direkt verschwanden ein paar Bonbons in seinen Mund, ehe er ruhig weiter sprach: „Da du sie Watari schenken willst, wollte ich nicht so unhöflich sein dein Geschenk an ihn zu essen, weil dir offensichtlich viel daran liegt sie zu verschenken.“ Ruhe kehrte ein. Meinte er es wirklich ernst? Sich darüber Gedanken machen war wahrscheinlich Unsinn. Sie nahm es so wie er es sagte, dennoch war sie jetzt recht gekränkt und gleichzeitig über alle Maßen erstaunt. Seine Meinung wäre sicher in diesem Fall sehr hilfreich gewesen, aber das er auf so etwas Rücksicht nahm. Vielleicht besaß er wirklich eine gute Seite. Das klang wie der Witz des Jahrhunderts... „Setz dich doch, schließlich werden wir nicht im Stehen spielen.“ Seine Stimme holte sie zurück und unmittelbar nickte sie eilig, bevor sie sich aber hinsetzte, fiel ihr etwas Wichtiges ein. „Ja, Moment. Hab doch noch was vergessen.“ Das Kissen und die Decke fehlte, weshalb sie sich diese gleich aus dem Schlafzimmer holte, um kurz darauf schon zu Ryuzaki zurückzukehren. Nachdem sie es sich auf dem Boden bequem gemacht hatte und auch er vor dem Tisch platz nahm, begann sie die Karten auszuteilen. Es entpuppte sich als ein lustiger Mittag, da er offensichtlich Spaß an diesem simplen Kartenspiel gefunden hatte. Nur jedes mal als er verlor, zog er ein unzufriedenes Gesicht und wollte Revanche, welche tatsächlich nach einiger Zeit nicht mehr möglich war, da er nur noch gewann. Ganz zum Leiden ihrer Seite, wobei sie sich gleichzeitig fragte wie er das anstellte. Eindeutig war da ein Trick dahinter, diesen sie einfach nicht durchschaute. Gelegentlich musste das Kartenspiel unterbrochen werden, weil das Bad rief, aber es war ein gelungener Mittag. Auch wenn er sich manche Sprüche nicht sparen konnte und sie damit teilweise fast um die Nerven brachte, musste sie trotz allem oft auflachen. Er zeigte ihr, dass er durchaus auch anders konnte, was sie wirklich sehr erfreute. Irgendwann aber rauchte ihr der Kopf. Auch sie brauchte mal eine Pause, vor allem vom ganzen Verlieren hatte sie genug. Shaelyn konnte nicht von sich behaupten ein guter Verlierer zu sein. „Komm schon, du hast gewonnen, ich gebe auf.“ Erschöpft legte sie ihr Kinn auf den kleinen Tisch vor sich. „Außerdem ist mir übel, viel zu viel Süßes. Lass uns eine Pause machen und vielleicht später etwas anderes spielen.“ Da er ohnehin nur noch gewann, wäre ein anderes Spiel sicher besser. „Warum gibst du auf?.“ „Ich kann ehrlich gesagt nicht mehr. Ich hab im Gegensatz zu dir nicht so einen Kampfgeist. Abgesehen davon glaubst du nicht, wir haben langsam genug Karten gespielt?“ „Nein.“ Shaelyn musste genervt aufstöhnen, woraufhin sie ihren Kopf hob und in sein verständnisloses Gesicht sah. „Und wenn ich dir verspreche, dieses Match die Tage fortzusetzen?“ Ryuzaki kam ins Grübeln, währenddessen begann er auf seinen Daumen zu beißen. Es war ihr schon am Vortag aufgefallen. Immer wenn er ins Nachdenken kam, kaute er an seinem Daumen. Eine weitere seltsame Eigenart von ihm, die sie aber nicht mehr sonderlich störte. Fing sie gerade an ihn zu akzeptieren? Sah ganz danach aus, was ihr nicht wirklich geheuer war, aber dagegen unternehmen konnte sie nichts. Ihr Kopf hörte aber einfach nicht auf zu dröhnen. Kopfschmerzen kündigten sich an. „Ich bin einverstanden.“ Seine dunkle Stimme holte sie in die Wirklichkeit wieder, doch blinzelte die ersten Momente verwirrt. „Alles in Ordnung?“, fragte er aufmerksam. Er hatte ihren verstörten Blick bemerkt. „Äh, ja alles klar, obwohl eigentlich nicht ganz. Dir entgeht wirklich nichts.“ Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, welches aber so schnell ging wie es gekommen war. „Ich habe nur Kopfschmerzen, geht sicher bald vorbei.“ Sie versuchte zu lächeln, was allerdings begann leicht schief zu werden. Inständig hoffte sie, dass der Schmerz bald nachlassen würde. Vielleicht würde eine kleine Pause schon helfen. Erneut war er in Gedanken versunken, dies hielt jedoch nicht sehr lang an, da er kurz darauf aufstand und sich neben ihr hockte. Automatisch wich sie leicht zurück. „Gib mir deine linke Hand.“, forderte er ruhig auf. Nichts in seiner Mimik ließ darauf schließen, dass er eine boshafte Absicht hatte. Er bewies ihr Geduld, da sie einige Sekunden verstreichen ließ, bevor sie ihm ihre linke Hand entgegen streckte. Sachte umfasste er mit seiner Rechten ihre linke Hand, dabei strich er leicht ihren Ärmel ein Stück weit hoch. Gebannt starrte sie auf seine Hände, die nun alles andere als grob waren. Ganz im Gegenteil, richtig vorsichtig. Was aber hatte er vor? „Was... machst du da?“, fragte sie leise, unter ihrem faszinierten Blick. „Akupressur, es wird dir ein wenig die Schmerzen nehmen.“ Er klang so völlig anders, kein Vergleich zu dem vorherigen und erst recht nicht den Tagen davor. Aber er konnte Akupressur auch? Was konnte dieser seltsame Kerl eigentlich nicht? Ein leichter Druck war zu spüren, als er mit seinem Daumen auf der Innenseite ihres Handgelenks nahe ihrer Handfläche drückte. Die Verspannung ließ leicht nach, doch die Unsicherheit stieg. Warum machte Ryuzaki das? Sie musste es wissen. „Wieso machst du das?“ „Entspanne dich, sonst hilft es nicht.“ „Ich wollte doch-“ Sein ernster Blick unterbrach sie in ihrem Satz, nachdem sie erneut Augenkontakt mit ihm aufgenommen hatte. „Entschuldige,...“, nuschelte sie, dabei versuchte sie seiner Aufforderung nach zu kommen. „Wie geht es dir jetzt?“, durchbrach er nach einer Weile die Stille. Ihr Kopf meldete sich noch immer, zwar nicht mehr so stark, aber noch deutlich spürbar. „Hat nur ein bisschen geholfen. Wäre auch zu schön gewesen, wenn das leichte Drücken Wunder bewirken würde.“ „Du solltest weniger Reden, nur ein kleiner Hinweis. Schließe bitte deine Augen.“ Seinen aufmerksamen Augen entging nicht, dass sie sich leicht auf die Unterlippe biss, womit sie ihren Ärger unterdrücken wollte, befolgte aber seine Anweisung. Ihr war überhaupt nicht wohl dabei, dass sie ihre Augen schloss, tat es aber, da das Pochen in ihrem Kopf nun wieder zu nahm. Ein seltsames Geräusch zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es hörte sich an, wie das Rascheln von Kleidung. Kurz zuckte sie zusammen als sie seine Finger knapp hinter den Ohren fühlte, dort allerdings tastete er erst zu der richtigen Stelle, wo er zugleich mit seinen Fingern presste. Die Entspannung setzte nicht ein. Seine Nähe verkrampfte sie, vor allem da sie wusste, wie nah er ihr war, weshalb sie sich auch nicht traute die Augenlider zu öffnen. „Wenn du dich weiter verspannst, ist es nutzlos.“ Seine Stimme hörte sich tief an, offenbar war er unzufrieden mit der Situation. „Ich kann mich nicht beruhigen.“ Mit diesen Worten öffnete sie ihre Augen, direkt sah sie in die großen fast schwarzen ihr gegenüber. Unverzüglich spannte sich ihr Körper weiter an. So hatte das ganze keinen Sinn. Sie vertraute ihm nicht richtig, auch wenn er heute schon anders erschien und sich von anderen Seiten gezeigt hatte. Noch lange reichte das Vertrauen nicht aus. Besonders da man sich noch immer fragte, ob es nicht auch gespielt war. Ryuzaki war ihr eben nicht geheuer. „Tut mir Leid, so geht das nicht.“, kam es nach einem Zögern. Umgehend nahm er seine Finger von ihr. „Ja, da stimme ich dir zu, so wird es nicht funktionieren. Entschuldige mich.“ Während er sprach erhob er sich und verließ das Wohnzimmer, gefolgt von ihrem verwirrten Blick. Was hatte er plötzlich? Wahrscheinlich musste er nur kurz ins Bad. Erneut meldete sich ihr Schädel. Das Betatschen hatte kaum einen Sinn gemacht, aber es hatte ihr etwas Wichtiges gezeigt. Ryuzaki konnte tatsächlich auch vorsichtig sein und er hatte versucht ihr zu helfen. Sie sollte sich wirklich noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen. Zunächst aber sollte sie die Schmerzen loswerden. Eine gute Frage. Wie sollte sie das? In ihrer Wohnung befand sich schon einmal kein Schmerzmittel. Ob Ryuzaki welches hatte? Das hoffte Shaelyn stark. In diesem Sinne stand sie ebenfalls auf. Fast gleichzeitig hörte sie wie er den Raum wieder betrat, woraufhin sie in seine Richtung sah und zu ihm ging. „Hättest du vielleicht ein Schmerzmittel?“ „Wenn wir später das Kartenspiel fortsetzten, hätte ich eins.“ Leicht verärgert verzog sich ihr Gesicht. Unbestreitbar, wenn er etwas wollte, dann biss er sich daran fest. Hätte sie ihm bloß nie dieses Spiel gezeigt. Was hatte sie auch nun für eine Wahl? Auf Kopfschmerzen für den Rest des Tages hatte sie nicht wirklich Lust. „Ja, okay.“, stöhnte sie auf, woraufhin er vollkommen seelenruhig in seine Hosentasche griff und eine kleine Tablette hervor kramte. Shaelyn stutzte nicht schlecht. Hatte er die ganze Zeit welche in der Hosentasche. Vor allem was hatte er noch alles in den Taschen? Oder hatte er gerade im Bad eine geholt? So oder so, in seinen Hosentaschen befand sich sonst immer Süßes. „Ryuzaki, ich will nicht wissen, was sich noch alles in deiner Hose verbirgt.“, sagte sie sofort und ohne weiter über ihre Worte nachzudenken. Dann schnappte sie sich das begehrte Objekt und ging in die Küche, begleitet mit einem äußerst verdutzten Blick von Ryuzaki. In der Küche nahm sie mit einem Schluck Wasser die Tablette zu sich. Ein paar Minuten verweilte sie vor der Spüle. Irgendetwas sagte ihr, dass die ganze Situation nicht stimmte. Er war viel zu nett, um das es glaubhaft war. Oder war er wirklich mal freundlich? Shaelyn musste glucksen. Natürlich nicht, bisher hatte er all dies getan um sich wegen etwas einzuschmeicheln. Vorsicht war geboten, eindeutig war etwas geplant. Doch wieso hatte er nicht den Keks gegessen? Der Gedanke kam erneut auf und beschäftigte sie. Seine Erklärung klang auf eine Seite sehr plausibel, aber so etwas würde ihn doch nicht aufhalten. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. Eine Idee kam auf, direkt breitete sich ein fieses Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Wenn er eben keinen Bissen riskieren wollte, dann müsste er eben zusehen wie sie dieses Gebäck aß. Der Schmerz begann nachzulassen, was sie erleichtert aufatmen ließ, somit machte sie sich auf den Weg zurück. Doch kurz bevor sie die Küche verließ, kam ein weiterer Einfall, womit der Geschmack der Plätzchen noch einmal leckerer wurde. Shaelyn öffnete den Kühlschrank und nahm eine Sahnesprühdose, welche sie doch kurz kritisch musterte. Sahne und das ganze Süße bisher war nicht sehr ratsam für ihre Figur. Sie zuckte mit den Schultern. Es war die Weihnachtszeit, danach würde sie sich schon wieder zusammenreißen. Mit einem breiten Lächeln, und der Sprühdose in der Hand, betrat sie das Wohnzimmer. Ryuzaki schien es nicht zu stören, dass sie das Wohnzimmer wieder betrat, denn er war gerade ganz vertieft dabei ein Kartenhaus zu bauen. Sie musste sich ein Lachen verkneifen. So konnte man sich auch die Zeit mit Karten vertreiben. Oft hatte Shaelyn ihn schon dabei entdeckt wie er kleine Milchbehälter gestapelte, oder Zuckerwürfel. Sein Kartenhaus war schon ziemlich hoch geraten, sodass sie Angst hatte, sie würde es umwerfen, wenn sie daran vorbei ging. Nachdem sie um den Tisch gegangen war, sah sie sein Gesicht, welches fasziniert wirkte. „Geht es dir besser?“, fragte er plötzlich, ohne dass er seinen Blick von seinem Gebilde nahm. „Ja,...“ Ihre Antwort kam zögerlich, da sie ihm gebannt zusah. Nun sah er auf, woraufhin sich ihre Blicke kreuzten. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du mitmachen möchtest?“ Die Angesprochene blinzelte einige male verwirrt. „Ach nein! Ich machs ja eh nur kaputt, dann war deine Mühe ganz umsonst.“ Er schien kurzzeitig nachzudenken, bevor er seine Hände auf die Knie legte. „Dann fange ich neu an. Wo liegt das Problem?“ „Würde es dich nicht ärgern, wieder von Neuem anzufangen?“ „Nein.“ Wollte er nun, dass sie mitmachte? Oder wie sollte sie es sich sonst erklären? Denn offensichtlich beließ er es nicht dabei und machte auch selbst nicht weiter wo er aufgehört hatte. „Wozu dient die Sahne?“, kam es von ihm nun neugierig und beäugte die Dose. „Ach nur für die Kekse. Damit schmecken sie noch besser, wenn man sie ein wenig damit besprüht.“ Ihre Stimme klang unschuldig, gerade so als wüsste sie nicht, dass sie ihn damit reizte. Ehe dass er eine Antwort geben konnte, öffnete sie erneut ihren Mund. „Aber du willst deinen Keks ja nicht essen, also wirst du es ja leider nicht probieren können.“ Sofort griff sie nach dem Gebäck, welches auf dem Tisch stand. Shaelyn schreckte augenblicklich hoch, nachdem Ryuzaki ihre Hand gepackt hatte, als sie gerade seinen Keks hoch nahm. Ein flatterndes Geräusch war wahrzunehmen. Durch den Schreck hatte sie sich mit dem Bein an den Tisch gestoßen, wodurch augenblicklich das Kartenhaus in sich zusammen fiel. Ihr Herz raste. Direkt sah sie ihm in die leeren großen Augen. Musste dieser Typ sie eigentlich immer so erschrecken? Damit gerechnet hatte sie nicht im geringsten. „Ich habe es mir anders überlegt.“, sagte er ruhig und durchbohrte sie fast mit seinem Blick, was sie kurz schlucken ließ. Manchmal war er selbst ihr zu unheimlich. „Dann sag es das nächste mal sofort, wenn du dich um entscheidest. Ich bin echt nicht scharf drauf mich jedes mal von dir erschrecken zu lassen...“ Nun sah sie auf den Kartenhaufen. Jetzt war es doch wegen ihr zusammen gefallen. „Super jetzt ist das Kartenhaus hinüber.“ „Wie ich bereits sagte, dann fange ich neu an.“ Seine Stimme war weiterhin ruhig und er hatte sie noch immer nicht losgelassen, weshalb sie begann kritisch seine Hand zu mustern. Ohne ein Wort ließ er ihre Hand augenblicklich los. Ein unsicheres Gefühl beschlich sie, dabei fing sie an unbewusst auf ihren Handrücken zu starren. Es hatte sie nicht sonderlich gestört, dass er sie festgehalten hatte, was zum Denken anregte. Es lag mit Sicherheit daran, dass sie ihn heute viel besser kennengelernt hatte und somit kein völlig fremder, seltsamer Typ war. „Ist etwas?“, fragte Ryuzaki nach der kleinen Pause, woraufhin sie ihn ansah. Er hatte leicht seinen Kopf geneigt und wie immer war sein Gesichtsausdruck ohne jegliche Regung. „Nein, nein, alles okay.“, sagte sie mit einem schwachen Lächeln und senkte kurz darauf ihren Kopf, um seinem Blick auszuweichen. Was machte sie eigentlich gerade? Ärger über sich selbst kam auf. Jetzt wüsste doch jeder Schwachkopf, dass sie wohl mit etwas beschäftigt war. Doch anstatt, dass er auf ihre Worte etwas erwiderte, blieb es still, was sie nur mehr verunsicherte. Würde er denn jetzt nicht normalerweise nachhaken, wie sonst auch? Wieso machte sie sich darum Gedanken? Es war gut, dass er nichts dazu sagte. Plötzlich merkte sie wie es ziemlich weich an den Fingern wurde. Direkt sah sie auf ihre Finger, wo sie feststellte, dass sie den Keks noch immer festhielt. Die Schokolade daran begann zu schmelzen. Eilig legte sie mit einem gereizten Gesicht das Gebäck zurück. So was bescheuertes musste ihr natürlich passieren, jetzt würde Ryuzaki das Gebäck sicher nicht mehr essen. Obwohl, immerhin hatte er gestern auch nicht vor ihrem Gesicht zurückgeschreckt. Bei dieser Erinnerung überkam ihr ein unangenehmer Schauer. Egal wie sehr sie sich daran gewöhnte ihn in der Umgebung zu haben und das er sie berührte, aber das war wirklich zu viel … Kontakt. Nochmals riss Ryuzaki sie aus ihren Gedanken, indem er sich das Gebäck schnappte, was sie in ihren Augenwinkeln wahrnahm. „Äh, du kannst dir auch einen Neuen nehmen.“, rief sie hastig aus, währenddessen sah sie zu ihm auf. Sein Gesicht war fragend, als wüsste er nicht weshalb sie das sagte. Skeptisch musterte sie ihn. Hatte er daran nicht einmal gedacht? Oder war ihm das schlichtweg so egal? Ihr wäre es nicht egal gewesen, aber sich mit ihm zu vergleichen wäre grotesk. Ryuzaki konnte man mit niemandem vergleichen, der war eindeutig einmalig. Noch immer war sein Blick fragend, so als würde er auf eine Erklärung warten. „Schon gut, vergiss es.“ Sofort verschwand auch gleich das Gebäck in seinem Mund. Gespannt beobachtete sie ihn nun dabei wie er aß. Nur leider verriet sein Gesichtsausdruck rein gar nichts. Nervös biss sie auf ihre Unterlippe, da er einfach nichts sagte. Dabei musste sie wissen, wie sie schmeckten. Für sie waren sie lecker, keine Frage, aber jemand anders konnte das immer besser beurteilen. Vor allem jemand, der nichts anderes außer Süßes aß. Nun hin und wieder bediente er sich an Obst, das hatte sie gesehen, dennoch das meiste war eben Süßes. „Und? Sag schon, wie sind sie?“, fragte sie ungeduldig, da sie diese Stille einfach nicht mehr aushielt. Der Angesprochene richtete seine Augen auf sie und genau in diesem Moment war sie sich sicher, er spannte sie auf die Folter. Er zog es extra in die Länge, weil er haargenau wusste, dass sie es unbedingt wissen wollte. Sie strich gedanklich, dass sie ihn mal irgendwie nett fand. Shaelyn zog scharf die Luft ein, dabei zuckte bedrohlich ihre Augenbraue. Wieso brachte sie dieser Kerl nur so schnell in Rage? Offensichtlich hatte er Spaß daran es so spannend zu machen, oder er war begierig darauf sie wütend zu machen. So oder so, es würde nicht gut ausgehen, da konnte man sich sicher sein. Es fehlte nur noch ein Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringen würde. Warum er sie so reizte? Das verstand nicht einmal sie, aber er tat es und er machte keinen Halt. „Würdest du mir die Sahne geben?“, fragte er seelenruhig, völlig ignorierend, dass sie ihn zuvor etwas gefragt hatte. Man hätte glauben können genau jetzt den Tropfen zu sehen, der jetzt für eine Flutwelle sorgen würde. Sie senkte ihren Kopf, nahm die Sprühdose und erhob sich still. All der Ärger der vergangenen Tage war kein Vergleich, nun war er zu weit gegangen. Jetzt würde all der Frust der auf sie lastete abfallen. Er liebte Süßes und er wollte Sahne? Die sollte er bekommen und zwar alles. Unterdessen beobachtete Ryuzaki sie genau. Irgendetwas sagte ihm genau jetzt, dass nichts Gutes folgen würde. Ob es die Vorahnung war, oder das was er sah. Ruhig ging sie um den Tisch, doch verriet ihre geballte Faust eine Menge über ihre Empfindung. Die im Moment alles andere als freundlich war. Vielleicht hätte er sie doch nicht warten lassen sollen, denn das Gebäck schmeckte wirklich köstlich, was jetzt aber keine Rolle mehr zu spielen schien. Ohne ein Wort starrte er sie weiterhin an und stellte sich dem, was nun folgen würde. Und er war sich bewusst, dass etwas folgen würde. „Du willst also die Sahne?“, fragte sie dunkel, nachdem sie neben ihm zum Stehen kam. Ryuzaki wollte gerade antworten, als sie begann die Dose zu schütteln. Die Spannung stieg, da man noch immer nicht erahnen konnte, was sie vor hatte. „Ja.“, kam es von ihm zögerlich. Die momentane Lage gefiel ihm nicht. Es verunsicherte ihn sogar, da es selbst für ihn unmöglich schien zu erahnen was sie tun würde. „Steh auf, dann kriegst du sie.“ Höchst misstrauisch beäugte er sie, denn ihm war schleierhaft weswegen er dafür aufstehen sollte. Doch er entschied sich dafür diesmal ihren Worten zu folgen, da sie schon wütend genug war. Zaghaft erhob er sich aus seiner Sitzposition und drehte sich zu ihr, mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Ein Plopp war zu hören, nachdem sie mit ihrem Daumen den Deckel entfernte. Sein Gespür ließ ihn nicht im Stich, dennoch hätte er nie mit dieser Aktion gerechnet. Blitzartig griff sie nach vorn und bekam seinen Hosenbund zu fassen, den sie aufzog und schon die Sahne in die Hose versprühte. Direkt schrie Ryuzaki auf und versuchte Shaelyn bei ihrem Tun zu stoppen, doch verkrallte sie sich so fest, dass es ihm unmöglich war sie zu unterbrechen, ohne dass er ihr Schmerzen zufügte. Es war eiskalt und es verteilte sich einfach überall. Völlig entsetzt starrte er in ihre Augen, die ausdrückten wie sehr sie es genoss ihm das anzutun. Nachdem sie die komplette Sahne versprüht hatte, ließ sie von seinem Hosenbund ab. „Da hast du deine Sahne. Ich hoffe sie wird dir noch schmecken.“ Während sie es zuckersüß sprach, leckte sie sich die Sahne, die ihr Finger abgekommen hatte, ab. „Bist du jetzt fertig?“, fragte er nüchtern und sah an sich hinunter, dabei verzog er den Mund. „Ja!“, bestätigte sie mit einem boshaften Lächeln. „Fabelhaft, dann entschuldige mich bitte.“ Kaum hatte er das gesprochen, ging er umgehend, ziemlich seltsam, aus dem Wohnzimmer. Extrem zufrieden, blickte sie ihm nach. Ja das hatte gut getan, es war genau das Richtige. Dieses Getue ging ihr furchtbar auf die Nerven. Sie hoffte er hatte nun auch etwas gelernt. Man sollte sie nicht so absichtlich ärgern. Er bekam es nur zurück. Wirklich selten hatte sie jemand so zum Kochen gebracht, aber dieser Kerl hatte es einfach nicht anders verdient. Ganz nach dem Motto, so wie du mir, so ich dir. Doch blickte sie jetzt auf die leere Sprühdose. Die Sahne hätte sie wirklich gerne gegessen, die sich nun in den Weiten der Hose von Ryuzaki befand und auch unter seiner Boxershorts, die sie mit zu fassen bekommen hatte. Tja hätte er engere Sachen getragen, dann wäre es nicht dazu gekommen, denn es war so lächerlich einfach gewesen. Ein süffisantes Grinsen zauberte sich auf ihre Lippen. Er würde eine Zeit brauchen bis er wieder kam, denn eine Dusche wäre jetzt sicher angebracht, sowie neue Kleidung. Sehr entspannt setzte sie sich auf das Sofa und nahm sich einen weiteren Keks, dabei sammelte sie alle Karten auf, um diese zu einem Stapel zu formen. Sollte sie vielleicht sich jetzt davon stehlen? Auch wenn Ryuzaki meist ruhig war, es würde sicherlich Folgen mit sich ziehen. Da Shaelyn nichts riskieren wollte, entschloss sie sich die Wohnung zu verlassen. Somit stand sie auf, nahm sich die Kekse und ging zur Wohnzimmertür, um kurz darauf in den Flur zu spähen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er nicht zu sehen war ,ging sie schnurstracks zur Tür. Plötzlich war Wasserrauschen zu hören, was sie erleichterte. Jetzt würde er sicher nicht um die Ecke kommen und sie aufhalten. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen verließ sie die Wohnung, um kurz darauf schon in ihre zurückzukehren. Ein kurzer Blick auf die Uhr in ihrem Wohnzimmer sagte ihr, dass es schon früher Nachmittag war. Was sollte sie jetzt für den Rest des Tages machen? Denn wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte sie nicht wirklich zurück. Zu groß war die Angst, dass er sich revanchieren würde, wie er schon einmal passend gesagt hatte. Direkt musste sie seufzen. Hieße das Theoretisch nicht, dass sie ab nun ihm immer aus dem Weg gehen müsste? So ein Unsinn und was machte sie sich überhaupt so viele Gedanken darum. Die Befürchtung an so etwas wie mit der Schokolade kam auf. Denn das war wirklich ekelhaft gewesen. Sollte der Tag einmal kommen, an dem sie das erregte, dann sollte sie zum Psychologen. Ryuzaki war in vielerlei Hinsicht nicht ihr Typ. Gerade was Intim werden anging, war ein Ding der Unmöglichkeit. Dennoch musste sie zugeben, dass er heute recht erträglich war, sogar kurzzeitig sachte, bis auf die Tatsache zuletzt. Eine Freundschaft konnte sie nicht ausschließen, auch wenn diese wohl sehr oberflächlich bleiben würde. Doch irgendwie frustriert setzte sie sich auf ihr Sofa und stellte sie Kekse auf den Tisch, von denen sie sich noch welche nehmen würde, ehe sie den Rest verschenkte. Alles in den vergangenen Tagen regte sie zum Denken an. Es entwickelte sich in eine Richtung, die ihr unheimlich war, von dem ganzen Verheimlichen abgesehen. Was sie ebenfalls unruhig stimmte war die Tatsache, dass sie nicht mehr so ausgeglichen war und sich viel schneller aufregte. Ja, reizbar war sie geworden, was zu einem Problem zu werden schien, da sie nun wieder an Ryuzaki und die Sahne denken musste. Es war wirklich eine miese Aktion gewesen, weswegen sie nun leichte Bedenken hatte. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich weniger unter Kontrolle hatte. Früher war das alles völlig anders... Shaelyn legte sich auf das Sofa und starrte an die Decke. Es würde ja doch nichts helfen. Eine Entschuldigung war wohl nicht angemessen genug. Ein Gefühlschaos breitete sich in ihr aus. Sie war hin und her gerissen. Was würde es aber schon bringen? Nein, sie würde für die restliche Zeit, bis ihr Großvater wiederkehrte, in der Wohnung alleine verbringen. Ein ruhiges Weihnachten wäre vielleicht einmal keine schlechte Idee, somit drehte sie sich auf die Seite und döste mit wirren Gedanken ein. Doch hatte sie nicht die Rechnung mit Ryuzaki gemacht, der sicherlich ihre Tat nicht so schnell vergessen würde. Kapitel 6: Feiertage; Begegnung im Schnee ----------------------------------------- „Hey warte doch auf mich!“, schrie ich ihm nach. „Na los Schwesterchen, ein bisschen Sport wird dir schon nicht schaden!“, rief mein Bruder nach hinten und ich konnte mir in diesem Moment gut sein grinsendes Gesicht vorstellen. Ich rannte ihm hinterher, nicht wissend was er vorhatte, dennoch folgte ich ihm über eine endlos scheinende Landschaft. Wo war ich hier überhaupt? Abrupt blieb ich stehen und sah mich um. Ein Wind blies über die Blumenwiese, welcher einen angenehmen Duft mit sich trug. Es roch nach... Frühling. Ich schloss meine Augen und genoss den Moment. Es fühlte sich an wie Frieden, ein Gefühl der Freiheit. „Was ist los, Shae?“, hörte ich neben mir, woraufhin ich die Augen öffnete. Ryu sah mich besorgt an, was mir ein Lächeln bescherte. Dieser Dummkopf machte sich viel zu viele Sorgen. „Nichts, es ist nur so schön hier... wo sind wir eigentlich?“ „Diesen Ort habe ich letztens gefunden. Ich wusste sofort, dass er dir gefällt.“ Ryu schenkte mir einen seiner seltenen sanften Lächeln. „Ehrlich gesagt, ich weiß nicht wo wir sind, aber er gefällt dir doch, oder?“ Ich ließ meinen Blick über die Landschaft schweifen. Ja es gefiel mir hier, doch nirgends konnte man einen anderen Menschen ausmachen. „Ja ist wirklich schön hier, aber... hier ist niemand.“ „Da hast du Recht, deswegen bleibe doch bitte hier. Es ist wirklich langweilig ohne dich, Shae.“ Sofort sah ich ihn wieder an und sein Gesichtsausdruck war traurig. Warum sollte ich denn auch weg von diesem wundervollen Ort? „Warum sollte ich gehen? Natürlich bleibe ich bei dir, schließlich bist du auch mein Bruder, mit dem ich bisher fast alles zusammen gemacht habe. Wenn ich doch gehe, dann können wir doch nichts mehr gemeinsam machen.“, sagte ich mit einem Lächeln. Was für einen Unsinn redete er denn? Sicher blieben wir zusammen, eine Zeit ohne ihn wäre nicht zu denken. Ryu war mein Bruder, mein Seelen verwandter, dem ich nie von der Seite weichen würde, egal was kommen würde. Als Antwort von ihm erhielt ich ein Zwicken in der Seite. „Das will ich stark hoffen.“, lachte er auf. Ja so gefiel er mir schon besser, so ein trauriges Gesicht stand ihm einfach nicht. Plötzlich fühlte ich mich entsetzlich unglücklich, weshalb ich geschockt in seine Augen sah. „Ist dir nicht gut?“ Seine Stimme war gedämpft und direkt trat er auf mich zu. Ich wusste nicht warum, aber ich begann zu weinen. Warum?! „Hey... Ist doch gut.“ Mein Bruder schloss mich in seine Arme, aber ich hörte nicht auf zu weinen. Verzweifelt griff ich sein Hemd, dabei sah ich auf. „Ryu, geh bitte nicht.“ Ich wusste nicht weshalb, doch diese Worte verließen meinen Mund. „Keine Angst, ich bin immer bei dir.“, hörte ich ihn beruhigend sagen, ehe alles schwarz wurde. Panisch schreckte Shaelyn hoch, dabei fasste sie sich an die linke Brustseite. Ihr Herz raste und hastig schnappte sie nach Luft. Völlig aufgelöst strich sie mit ihrer Hand über ihre Wange, da sie sich so nass anfühlte. Sie hatte geweint? Warum? Auf einmal zog ihr der Traum vor den Augen vorbei; Ryu... Umgehend lösten sich weitere Tränen aus ihren Augen. Wieso träumte sie das? Warum hatte es sich so real an gefühlt? Weshalb war sie nicht dort geblieben...? Ein Klingeln riss sie aus ihren Gedanken. Direkt schreckte sie hoch und starrte auf die Wohnzimmertür, nun nahm sie auch wahr, dass es bereits dämmerte. Wie lange hatte sie geschlafen? War das überhaupt wichtig? Nein... Erneut war ein Klingeln zu hören. Es schien wichtig zu sein, weshalb sollte man sonst so unnachgiebig die Klingel betätigen? Langsam und noch ziemlich durcheinander, schlurfte sie zur Tür, um den hartnäckigen Besucher zu empfangen. Ohne durch den Spion zu spähen, was sie lieber vorher hätte tun sollen, öffnete sie ihre Haustür. Sie sah natürlich Ryuzaki vor ihr stehen, in der üblichen krummen Haltung. Dieser sah sie direkt fragend an, da er sich wahrscheinlich auf ihr verweintes Gesicht keinen Reim machen konnte. „Geh einfach wieder, okay?“, sagte sie mutlos und ziemlich niedergeschlagen. Es war kein Gespräch nötig, weshalb sie gleich die Tür wieder schließen wollte. Doch schien Ryuzaki einen anderen Plan zu haben, da er umgehend eine Hand auf die Tür legte und somit verhinderte, dass sie diese schließen konnte. „Was ist vorgefallen Shaelyn.“ Seine Stimme klang nachdrücklich und auch sein Blick wirkte ernst, der ihr klar machte, dass es auch ehrlich gemeint war. „Ach geh einfach bitte... ich möchte nur meine Ruhe haben.“ „Ich werde nicht eher gehen, bevor du nicht so nett warst, mich aufzuklären.“ Forderte er sie jetzt ernsthaft auf, dass sie es ihm erzählte? Für wen hielt sich dieser Kerl eigentlich? Sie gab sich geschlagen, nein sie wollte nicht darüber diskutieren, zu nichts hatte sie Lust. Geknickt ging sie ins Wohnzimmer zurück und konnte deutlich hören, dass er ihre Wohnung betrat, da seine nackten Füße über dem Holzboden Geräusche hinterließen. Nachdem sie sich gesetzt hatte, senkte sie ihren Kopf um über alles noch einmal nachzudenken. Es war wirklich alles so real gewesen und sie wünschte sich so sehr bei ihrem Bruder sein zu können. Abermals bahnten sich Tränen über ihre Wangen. Natürlich wusste Shaelyn was dies bedeutete, doch es war ihr egal, dort gab es so viel mehr. Ganz gleich was sie bisher versuchte, so glücklich wie vor einem Monat würde sie nie wieder sein. „Ich höre.“, kam es von der Seite, doch hob sie nicht ihren Blick um in sein Gesicht zu sehen. Sollte sie es wirklich sagen? Nun was machte das schon aus, aber er war ihr fremd, zumindest für dieses empfindliche Thema. „Es... war ein Traum.“, war ihre knappe Antwort und sie wollte auch nicht weiter darauf eingehen. „Das ist gut, dass es nur ein Traum war. Warum also so deprimiert?“ Sofort riss sie ihren Kopf hoch und sah ihn verzweifelt an. „Nur ein Traum?! Ich wünschte das hier wäre der Traum und ich würde dort aufwachen!“, schrie sie ihm entgegen. Ryuzaki zuckte bei ihrer unerwarteten heftigen Reaktion kurzzeitig zusammen, dabei starrte er in ihre Augen. Doch kehrte er schnell zu seiner gewohnten ausdruckslosen Mine zurück. „Das solltest du dir noch einmal überlegen, da du nicht so leichtfertig über dein Leben sprechen solltest. Es wäre dumm die Gelegenheit nicht zu nutzen, die du bekommen hast.“, sprach er ruhig und sein Blick wirkte aufrichtig. Ihm entging nicht wie sie ihren Mund leicht öffnete und wie geschockt sie ihn anblickte. „Was verstehst du schon davon! Mein Leben ist nicht mehr dasselbe, nie mehr werde ich mich so frei fühlen!“ „Du irrst dich...“, begann er ruhig und senkte den Kopf. „Du solltest es schätzen, da du freier als viele Menschen bist. Behalte deine Erinnerungen gut bei dir und sei froh darüber, dass du so viel Zeit mit deiner Familie verbringen konntest. Jeder kann sich für einen Weg entscheiden Shaelyn, die Frage ist nur, ob du diesen wirklich gehen willst. Daher... bedenke deinen Weg gut, den du wählst. Also rede nicht leichtsinnig davon, dass du dir den Tod wünschst.“ Verblüfft über diese ernsten Worte starrte sie ihn an, nicht fähig darauf etwas zu erwidern. Eine Stille trat ein, ehe sie zögerlich den Mund öffnete. „Ich... es tut mir leid...“ Es war mehr ein Hauch, als wirklich gesprochen. „Ja das sollte dir leid tun, aber keine Sorge, solche Gedanken sind nicht ungewöhnlich, nachdem was dir passiert ist. Aus diesem Grund bin ich so nett und nehme deine Entschuldigung an. Tja und einen Keks als zusätzliche Entschuldigung würde ich nicht ablehnen.“ Ryuzaki sah auf und man konnte kurzzeitig das amüsierte in seinen Augen erkennen. Konfus über seine Worte blinzelte sie einige Male irritiert. Wie konnte er in wenigen Sekunden so in der Stimmung wechseln? Unerwartet entfuhr ihr ein auf glucksen und hielt sich die Hand vor dem Mund. Dieser Typ war wirklich einmalig. Machte er das jetzt weil er wirklich Hunger hatte, oder nur, damit sich die Lage änderte? Falls er das zweite beabsichtigt hatte, so hatte er vollen Erfolg. „In Ordnung... du hast dir einen weiteren Keks verdient.“, brachte sie mit einem belustigten Lächeln hervor, was jedoch noch ein wenig schief wirkte. „Aber diesmal bitte ohne Sahne.“ Shaelyn, die gerade zu den Keksen auf dem Tisch greifen wollte, stoppte augenblicklich, direkt wurde sie verlegen und drehte ihren Kopf zu ihm. „Das... tut mir auch leid. Ich meine, du musst ja auch nicht so gemein sein.“ „War ich das? Ich -“ „Komm hör auf damit, ich weiß, dass du es weißt.“ „Tatsächlich? Woher willst du das wissen?“ Offensichtlich konnte er sich kein Grinsen mehr nehmen lassen, was ihre Annahme aber nur bestätigte. Direkt griff sie zum Sofakissen und schlug es ihm gegen den Kopf. Ryuzaki riss geschockt die Augen auf und hielt die Arme vor dem Kopf, dabei nahm er eine noch krummere Haltung an. Entschlossen ihn für seine Unverschämtheit zu betrafen, griff sie sich ein weiteres Kissen und schlug auf ihr Opfer ein. Ein Lachen erfüllte den Raum, ja so machte es Spaß und es tat gut. Die Anspannung ließ nach, auch wenn er darunter wohl leiden musste. Ryuzaki nahm einen Arm runter und griff nach einem der Kissen, mit denen sie auf ihn einschlug. Blitzschnell bekam er es zu fassen und stoppte somit Shaelyn in ihrem weiteren unerbittlichen Schlag. Verblüfft hielt sie inne. „Lass doch das Kissen los.“ „Damit du es mir wieder gegen den Kopf schlagen kannst?“, entgegnete er direkt, mit noch immer demselben starren, welches ihr zeigte, dass er mit der ganzen Aktion nichts anzufangen wusste. Shaelyn wollte gerade ihren Mund öffnen als ein Klingeln ertönte, welches sie nicht auf Anhieb einordnen konnte. „Oh, entschuldige.“, kam es sofort von ihm und ließ das Kissen los, woraufhin er in seine Hosentasche fasste. Ein Handy kam zum Vorschein, welches sie interessiert musterte. Ryuzaki drückte auf eine der Tasten, hob es in gewohnte Manier mit den Fingerkuppen an sein Ohr und lauschte wohl interessiert dem Gesprächspartner. Sie hörte neugierig zu was alles Ryuzaki von sich gab, doch nichts ließ darauf schließen wer der ominöse Anrufer war. Also betrachtete sie aufmerksam den schwarz Haarigen vor sich. „Gut. Haben Sie vielen Dank für ihre Mühen, Watari.“ Ryuzaki wollte wohl gerade zu weiteren Worten ansetzen, da griff Shae nach dem Handy, was sie ihm direkt aus der Hand riss. „Frohe Weihnachten Großvater!“, rief sie freudig aus, unter dem entgeisterten Blick Ryuzaki's. „Die wünsche ich dir ebenfalls, Shaelyn. Würdest du mir aber bitte noch einmal Ryuzaki reichen?“ Dieser Satz enttäuschte sie ein bisschen. Warum immer Ryuzaki? Was war so wichtig an diesem Kerl? Sie verstand es nicht und das würde auch noch für eine lange Zeit so bleiben. Sein Gesichtsausdruck kehrte zur Ausdruckslosigkeit zurück, betrachtete höchstens ihre Aktion als unangebracht, jedoch wollte er ihr diesen Gruß an Watari nicht verbieten. Allerdings rechnete er nicht damit, dass sie ihm nun das Telefon direkt vor die Nase hielt, mit den Worten: „... Er will dich noch mal sprechen.“ Doch leicht überrascht, nahm er ihr das Handy wieder ab um den weiteren Worten Wataris zu lauschen. Die weiteren Informationen die er ihm noch mitteilte waren erfreulich, da alles exakt nach Plan verlaufen war, nun anders hatte er es auch nicht vermutet. Plötzlich stand Shaelyn auf, was er nun genau mit seinen Augen verfolgte, während er weiter Watari zuhörte. Kritisch betrachtete er wie sie zum Fenster ging und hinaus sah, mit einer recht unzufrieden Mimik. Ihr musste es zwangsläufig zu schaffen gemacht haben, dass Watari ihr keine weitere Beachtung hat zukommen lassen. Dieser sich nun auch höflich verabschiedete, da er alles wichtige berichtet hatte. Ryuzaki legte auf und steckte sich das Handy wieder in seine Hosentasche. „Du solltest es Watari nicht nachtragen, Shaelyn.“ „Nein?“ Eindeutig war der beleidigte Ton in ihrer Stimme zu hören und noch immer stand sie seitlich neben ihm am Fenster, mit verschränkten Armen vor der Brust. „Nein das solltest du nicht.“ Mehr sagte er dazu nicht, da es klar auf der Hand lag, dass das streng vertraulich war, weshalb er die Gründe nicht erläuterte. „Sag mal, warum wird immer so eine große Heimlichtuerei veranstaltet? Ich meine, was soll bitte so wichtig sein, dass ich es nicht einmal wissen darf. … Ihr tut so also würde ich es gleich dem nächst Besten auf die Nase binden.“ Er sagte dazu nichts, denn wollte er ihre Neugierde nicht weiter steigern, nicht zuletzt ging es mehr als nur um die Vertraulichkeit. Eine schlichte Vorsichtsmaßnahme, für jeden. Somit müsste es einen sehr guten Anlass dafür geben, das preis zu geben und wenn er recht überlegte, würde ihm keine solche Situation einfallen. „Hey, ich hab dich doch was gefragt.“ Shaelyn klang verärgert und drehte sich nun zu ihm, der sie nur weiterhin ohne Ausdruck anblickte. „Und wie du siehst, antworte ich dir nicht auf diese Frage.“, kam es nüchtern von ihm, woraufhin er ein wütendes Schnauben von ihr zu hören bekam. „Du wirst also damit leben müssen, dass ich nichts dazu sagen werde.“, setzte er noch nach, während er sich am Knie kratzte. „Niemals?“ „Niemals.“ Die Antwort folgte prompt, denn dessen war er sich sicher. Ruhe trat ein, da er sich auch nicht wirklich vorstellen konnte was er nun sagen sollte. Nun in sozialen Kontakten war er nicht sehr erfahren, das musste er sich eingestehen. „Bist du ein Geheimagent oder so was?“, durchbrach sie die Stille und setzte sich neben ihn. „Wie ich bereits sagte, dazu werde ich mich nicht äußern, Shaelyn.“ Ihr Blick war stechend als er in ihre Augen blickte. „... Ryuzaki ich glaube da ist etwas echt faul an der ganzen Sache.“ Plötzlich zog sie die Luft hörbar ein, während sie ihn geschockt ansah. „Bitte sag mir nicht hier laufen krumme Dinger! Bist du etwa ein Verbrecher?! Und... und Watari ist dein Gehilfe?!“ Verstört starrte er sie an, diese Annahme war absurd, doch wenn er genauer darüber nachdachte, musste es wirklich den Anschein erwecken. „Nein, ich kann dich beruhigen. Weder Watari noch ich sind Verbrecher.“ Nun sah sie nicht sonderlich beruhigt aus, sondern nur misstrauischer, was ihn fragend blicken ließ. „Was? Und das soll ich dir einfach so glauben? Du kannst mir doch das Blaue vom Himmel erzählen, außerdem siehst du eh nicht so vertrauenswürdig aus. Irgendwie würde das ja passen...“ Shaelyn rückte ein Stück zurück, was Ryuzaki verdutzte. Das Gesagte hatte ihn nun gekränkt. „Entgegen deiner Behauptung bin ich kein Krimineller, ebenso wenig wie Watari.“ Man konnte auch hören, dass er leicht verärgert war, da ein Krimineller einfach das Letzte war, was Ryuzaki jemals verkörpern würde. Shaelyn sah ihn weiterhin misstrauisch an, dabei schien sie zu überlegen. „Ehrlich gesagt, wäre das wirklich nicht abwegig, da ihr ja so auf Schweigen tut. Außerdem wo kommt das ganze Geld her? Und wieso seh ich dich immer nur vor dem Laptop? Und warum benutzt mein Großvater einen Decknamen? … Stopp, kann es sein, dass das auch nicht dein richtiger Name ist?“ Ihre Fragen bombardierten ihn fast, da sie schnell aufeinander folgten. Doch ein wenig überrascht blickte er sie an, an sich hatte er schon eher damit gerechnet, dass sie das einmal fragen würde. „Richtig, es ist nicht mein richtiger Name.“ Das war das Einzige was er bestätigte und die anderen Fragen einfach gekonnt ignorierte. „Darf ich nach deinem richtigen fragen?“ Neugierig geworden, sah sie ihn interessiert an. „Nein.“, kam es von ihm nachdrücklich mit einem eindeutigen Gesichtsausdruck. Wenn etwas noch unwahrscheinlicher war als seine Tätigkeit zu nennen, dann war es seinen Namen zu offenbaren. Das würde für immer sein Geheimnis bleiben. Shaelyn sah enttäuscht aus. „Aha... da darf ich nicht einmal deinen Namen wissen, wenn du mir nicht einmal dein Alter sagst. Also theoretisch dürfte ich dich auch so nennen wie ich will, weil du doch eh nicht deinen richtigen benutzt, oder?“ „... Nein.“ Das klang nun leicht genervt, was auch stimmte. Diese Unterhaltung, oder eher diese Fragerei, ging ihm zunehmenst auf die Nerven. „Wirklich nicht? Ich hätte dir den Namen Fiesling, Perversling oder Mr. X gegeben.“ Verwirrt starrte er sie an. Meinte sie das jetzt ernst? „Ja Mr. X passt jetzt wirklich gut. Oder willst du was anderes als ein X?“ Unsicher stierte er sie kurz an, da er einfach überfordert war. Weshalb verhielt sie sich nun so? „Kann auch das ganze Alphabet abklappern, bis dir ein Buchstabe zusagt, weil es ja eigentlich egal ist. Wozu also lange Namen, wenns nen Buchstabe auch tut.“ Wurde sie gerade sarkastisch? Jedenfalls hatte er dafür kein Verständnis und doch war es recht interessant, wenn man bedachte, wie nah sie nun an seinem Namen war. Jedoch ließ er sich nichts anmerken und blickte nach wie vor verständnislos. „Was ist? Du sagst ja gar nichts mehr. Sonst kannst du das kommentieren ja auch nicht lassen.“ „Verstehe bitte, dass ich dir nichts dazu sagen kann. Auch würde ich dieses Thema jetzt für sich beruhen lassen.“ „... Langweiler... Ja wo es Spaß gemacht hat, also wäre ein Mr. L wohl am besten! Da das L für Langeweile steht, da mit dir ja sonst nichts los ist.“ Unbewusst umfasste er seine Knie ein wenig mehr, doch in seinem Gesicht zeigte er keinerlei Regung. Ryuzaki wandte seinen Blick ab und starrte vor sich. Er wusste nicht was er davon halten sollte. Das alles klang nicht sehr freundlich und es kränkte ihn nur weiter, dass sie so darüber Sprach. Somit blieb Ryuzaki still, dabei wurde ihm nur bewusster, dass solche Arten von Unterredungen nicht in seiner Begabung lag. Aus diesem Grund erhob er sich aus seiner Sitzposition und wollte dieses Gespräch beenden. „Hey, was hast du vor?“, hörte er auch gleich ihre hastige Stimme. „Ich gehe.“, war seine knappe ernste Antwort. So hatte es keinen Sinn und er musste sich wirklich nicht damit beschäftigen. Ryuzaki ging um die Couch, doch verkrampfte er sich augenblicklich nachdem er am Unterarm gepackt wurde. Entsetzt fuhr er mit seinem Kopf herum und starrte sie an. Angestrengt hing sie halb über dem Sofa und hielt sich verzweifelt an seinem Shirt fest. „Bleib gefälligst hier! Okay ich habs ja nicht so gemeint. Ich meine ich bin nur ein wenig frustriert. Das sollte ich wirklich nicht an dir auslassen... Ryuzaki. Es tut mir Leid, ja? Bitte.“ Für einen Moment stand er regungslos dar und stierte sie an, bevor er mit seinen Augen ihre Hände am Arm fixierte. „Oh, ähm entschuldige!“ Direkt ließ sie los, jedoch war dies keine gute Überlegung, da sie ihr Gleichgewicht verlor und kopfüber fiel. Ryuzaki reagierte zu spät, weshalb sie hart auf dem Boden landete. Sofort hockte er sich neben sie auf dem Boden, mit sichtlich geschocktem Gesicht. „Das war nicht sehr klug von dir, Shaelyn.“, kommentierte er direkt, doch bekam er als Antwort nur ein schmerzverzerrtes Stöhnen. Langsam hob sie ihren Kopf, welchen sie festhielt. Ryuzaki betrachtete dies mit einem kritischen Blick, denn war er sich nicht sicher ob es ihr nun auch gut ging. Es war ein harter Aufprall gewesen, wobei ihr Kopf als erstes Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hatte. Kopfverletzungen sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. „Geht es dir gut?“, fragte er nun doch leicht verunsichert, da sie noch immer nichts von sich gegeben hatte. Schwach nickte sie, während sie sich aufsetzte. Skeptisch betrachtete er dies, da es nicht den Anschein machte, dass es ihr gut gehen würde. „Geht schon,...“ Ryuzaki erhob sich direkt nach ihren schwachen Worten und hielt ihr seine Hand hin. „Du solltest dich dennoch hinlegen.“ „Ach was, geht schon.“, sprach sie als sie seine Hand ergriff und sich auf die Beine stellte. Im ersten Moment schwankte sie bedächtig, fand jedoch Halt an der Couch hinter ihr. „Du solltest es nicht herunterspielen, Shaelyn.“ Direkt als er dies gesprochen hatte, blickte sie ihn an. „Ach du machst dir zu viele Sorgen. Mir is nur was schwindlig, das ist alles.“, kam es prompt von ihr und ihr Worte ließen ihn nachdenklich stimmen. Er machte sich Sorgen? War das ihre Auffassung? Ryuzaki legte seinen Daumen an seine Unterlippe, da er das eben gesagte analysierte. Ja, er machte sich Sorgen. Doch diese waren vollkommen gerechtfertigt. Jeder hätte wohl so reagiert an seiner Stelle. Dennoch, bisher so etwas wie Sorge hatte er bislang selten verspürt, wenn er es recht überdachte. „Na hängst du schon wieder deinen Gedanken nach?“ Unvermittelt starrte er erneut in ihre Augen, die nichts verrieten. „Nein, es ist nichts.“, log er ohne eine Mine zu verziehen. Selbstverständlich beschäftigte ihn etwas, dies jedoch behielt er für sich, wie sonst auch. Misstrauisch zog sie eine Augenbraue hoch. Ja sie zweifelte wieder an die Echtheit seiner Worte und natürlich hatte sie damit Recht, nur würde er es ihr nicht sagen. „Ich lasse es einfach mal zu hinterfragen... bringt ja eh nichts.“, sprach sie auch gleich genervt, woraufhin er schwach grinste. Wenigstens hatte sie das schon begriffen. „Bleibst du jetzt hier, oder willst du doch lieber gehen?“, fragte sie, während sie sich auf das Sofa setzte. Jetzt, da sie das Thema erneut zur Sprache gebracht hatte, dachte er nach. Nun eigentlich wartete noch ein wenig Arbeit auf ihn, doch wenn sie ihn so erwartungsvoll ansah, verschob er diese Arbeit auf einen späteren Zeitpunkt, zumal man dieses Datum nicht außer Acht lassen wollte. „Ich werde noch etwas hier bleiben, das aber unter einer Bedingung.“ Sofort war ihr Ausdruck fragend. „Welche...?“, kam es doch zögerlich von ihr. Offensichtlich war sie sich nicht sicher was jetzt folgen würde. „Du stellst die Fragen bezüglich meiner Person ein und betitelst mich und Watari nicht mehr als Kriminelle.“ Resignierend seufzte sie. „Ja, in Ordnung...“ Erleichternd atmete sie die Winterluft aus, während sie ihr Kinn weiter in den weichen Schal vergrub. Der Winter hatte schon etwas magisches, musste Shaelyn immer wieder feststellen, nachdem sie ihren Blick durch den verschneiten Park gleiten ließ. Wenn sie künstlerisch begabt wäre, dann wäre es eine gute Überlegung gewesen, das gebotene Bild festzuhalten. Doch neigte sich die Sonne schon bedrohlich dem Horizont, sodass sie doch bald in ihre Wohnung zurück kehren sollte. Wie lange war sie nun durch den Park gelaufen? Es mussten Stunden gewesen sein, aber genau diesen Spaziergang hatte sie gebraucht, Ryuzaki hatte ihr wieder sämtliche Nerven gekostet. Ein seichtes Lächeln legte sich auf ihre kühlen Lippen. Ihr Großvater war sicherlich schon zurück nach Hause gekehrt, zumindest hoffte sie es. War es überhaupt möglich einen Menschen, den man zuvor noch nie gesehen hatte, so schnell in sein Herz zu schließen? Ja es war möglich, denn sie mochte ihren Großvater bereits sehr. Es war ein gutes Bauchgefühl, auch wenn sie nicht wusste welches großes Geheimnis ihn und Ryuzaki umgab, aber Watari war wirklich nett. Viele Gedanken hatte sie sich in den vergangenen Tagen gemacht und das Erlebte wiederholte sich ständig in ihrem Kopf, was ihr ein breiteres Lächeln bescherte. Man konnte sagen was man wollte, aber Ryuzaki hatte Recht, wie leider viel zu oft. Das Leben sollte sie schätzen, darüber hatte sie sich oft genug den Kopf zerbrochen. Der Tod ihrer Familie war in ein anderes Licht gerückt, noch immer war es sehr schmerzlich und der Traum ihres Bruders war ein harter Schlag, nur brachte es nichts. Das Seltsame an dieser Sache war nur, dass ihr Bruder wahrscheinlich ihr das Gleiche gesagt hätte, nein nicht mit den exakten Worten Ryuzaki's sondern eben auf seine Art. Ein kurzes Lachen entfuhr ihr, dabei strich sie sich ein paar lose Strähnen nach hinten. Nein Ryu war sehr verschieden im Vergleich zu Ryuzaki, auch wenn die Namen erschreckend ähnlich waren. Namen... natürlich hatte es Shaelyn weiter beschäftigt, was es damit auf sich hatte. Seitdem Heiligen Abend fragte sie nicht weiter Ryuzaki danach, auch wenn es ihr förmlich auf der Zunge brannte. Wahrscheinlich auch ihr Großvater würde dieses Thema für sich belassen, das war auf eine Art frustrierend. Warum wurde sie ausgeschlossen? Es war enttäuschend, dabei war doch ihr Großvater alles was sie hatte. Wie schon öfter in den letzten Tagen, kam sie zu dem Schluss, dass es besser war darüber nicht weiter nachzudenken. Doch es war nicht zu bestreiten, sie war unsicher. Ein kalter Windzug zog an ihr vorbei, woraufhin sie kurz fröstelte. Shaelyn unterband all ihre Gedanken und ging nun beschleunigten Schrittes den Parkweg entlang. „Hey! Entschuldige!“, rief plötzlich eine unbekannte Stimme hinter ihr. War Shaelyn gemeint? Verwirrt blieb sie stehen und drehte sich herum. Ein junger, und soweit man erkennen konnte unter der Mütze, blonder Mann sah sie direkt an. Leicht legte sie den Kopf schief, was wollte er denn? Dieser bückte sich, hob etwas aus dem Schnee und kam zu ihr. „Ich glaube du hast was verloren.“ Sein Lächeln war wirklich nett, stellte Shaelyn sofort fest, blickte dann jedoch auf seine Hand. Ihr Haarband! Sie hatte gar nicht in den Gedanken bemerkt, dass sie es verloren hatte. „Oh,... vielen Dank.“, flüsterte sie schon leicht verschämt und griff zaghaft nach dem Band. „Darf ich fragen wie du heißt?“ Überrascht über diese Frage zog sie eine Augenbraue hoch. „Shaelyn...“, beantwortete sie beiläufig, als sie sich das Haarband in die Umhängetasche steckte. „Schön eine Schülerin der Swanmore Privatschule zu treffen. Vor einem Jahr habe ich diese Schule auch noch besucht.“ Direkt blickte sie ihn an. „Du warst auf dieser teuren Schule? Und ach entschuldige, wie heißt du jetzt?“ Zaghaft lächelte sie ihm entgegen, er schien nett zu sein. „Alan. Und ja... ich war auf dieser teuren Schule.“ Das letzte brachte er recht verwirrt über die Lippen, was sie zum kichern brachte. „Sorry, schon gut.“, brachte sie erheitert hervor, nieste aber schon im nächsten Moment, dabei schüttelte sie sich leicht. „Ist dir kalt? Wie wäre es, ich lade dich auf einen Tee ein. Um die Ecke ist ein nettes Café.“ Eine Einladung? Zu dieser Zeit noch? „Haben die denn überhaupt auf am zweiten Weihnachtstag?“ Das konnte sie sich schlecht vorstellen, dass an diesem Tag noch jemand arbeiten würde. „Die haben auf, ich arbeite nämlich selbst dort, zwar als Nebenjob, aber ich arbeite dort.“ Erneut verwundert sah sie ihn an. Er arbeitete da? „Also, darf ich dich auf einen Tee einladen?“ Wollte sie nicht eigentlich nach Hause wegen ihrem Großvater? Ach das konnte auch warten, denn wann traf man schon so einen netten, noch dazu gut aussehenden, jungen Kerl. Da war doch sicher einen Haken an der Sache. „Was ist mit deiner Freundin, hat sie nichts dagegen, wenn du wildfremde Mädchen einlädst?“ Alan schien für einen Moment irritiert zu sein, lachte dann jedoch auf. „Wenn ich eine hätte, wäre sie bestimmt eifersüchtig auf dich.“ Das Zwinkern nach seinem Satz brachte es noch besser zum Ausdruck, dass er ihr ein Kompliment gemacht hatte, was sie leicht erröten ließ. „Okay, lass uns gehen, Alan.“ Mit einem mehr als breiten Lächeln öffnete sie die Türe zu ihrer Wohnung, was durch ihre kalten Finger gar nicht so einfach gewesen war, und betrat auch schon den Flur. Der Abend hatte ihr viel Spaß bereitet und insgeheim musste sie ja Ryuzaki danken, dass er sie heute abermals fast zum Wahnsinn getrieben hatte, denn sonst wäre sie nicht vor die Türe gegangen. Zufrieden über diese plötzliche Wendung beschloss Shaelyn direkt ihrem Großvater das Gebäck zu schenken, doch ein gähnen machte sich bemerkbar. Trotz Müdigkeit, mit einem Lächeln auf den Lippen, klingelte sie zu der späten Stunde an der Haustür, die auch schon kurz darauf geöffnet wurde. „Willkommen zurück Großvater.“ Direkt hielt sie ihm das kleine Päckchen entgegen, woraufhin sich ein freundliches Lächeln auf seinen Lippen abzeichnete. „Vielen Dank, Shaelyn.“ Er nahm ihr das Päckchen ab, dabei blieb sie vor der Türe stehen. „Es ist schon sehr spät, darf ich fragen wo du dich aufgehalten hast?“, fragte der ältere Herr auch gleich, denn ein wenig Sorge war nun auf seinem Gesicht zu erkennen. „Ach ich war nur spazieren, habe die Zeit ganz vergessen... Ich wollte dir auch nur eben die Kekse geben, bin ziemlich müde.“ Von Alan wollte sie zunächst nichts erzählen, sicherlich würde es Watari nicht gefallen, dass sie sich hat so spät von einem Fremden überreden lassen. „Verstehe, dann wünsche ich dir eine angenehme Nacht, Shaelyn.“ „Danke, dir auch und... grüß mal Ryuzaki von mir.“, meinte sie mit einem kleinen Grinsen. Dieser konnte sich bestimmt keinen Reim darauf machen. Wie denn auch? Sie war frustriert abgezogen, aber er war dafür verantwortlich, dass sie Alan kennen gelernt hatte. „Ich werde es ihm ausrichten.“ Shaelyn nickte ihm zu und verschwand von der Türe, die Watari kurz darauf schloss. Der ältere Herr musste es sich eingestehen, gerne hätte er nun ein wenig Zeit mit seiner Enkelin verbracht. Doch würde er es zu gegebener Zeit nachholen und schließlich stand ihr Geburtstag kurz bevor, was eine gute Gelegenheit war. Watari betrat die Wohnstube und fand Ryuzaki in gewohnter Haltung auf dem Sessel wider, dieser ihn, so wie es schien, nicht beachtete. „Was hatte sie gesagt?“ Nun sah der schwarz Haarige doch auf, wie gewohnt ausdruckslos. „Sie hatte einen Spaziergang unternommen, wünscht Ihnen aber einen angenehmen Abend.“ Für einen Moment verwundert blickte er Watari an, ehe er seinen rechten Daumen zum Mund führte, auf den er unverzüglich kaute, während er nun den Blick senkte. „Ist etwas vorgefallen?“ „Nein, Nein. Machen Sie sich keine Gedanken, Watari. Ich fürchte nur, sie wird nicht ganz bei der Wahrheit belieben sein.“ „Wie meinen Sie das?“ Ryuzaki griff nach der Schale vor ihm und fischte einige Zuckerwürfel heraus, die er erst skeptisch musterte. „Verstehen Sie es nicht falsch Watari, aber unter normalen Umständen würde sie mir keine Grüße ausrichten lassen. Irgendetwas muss passiert sein.“ Sogleich verschwanden die Zuckerwürfel in seinem Mund. „Gut, belassen wir es dabei. Es ist mir gleich, was sie alles anstellt.“ Diese Worte entsprachen nicht ganz der Wahrheit, denn es beschäftigte ihn doch ein wenig. Dies jedoch nur aus einem neugierigen Aspekt, denn es musste einen bestimmten Anlass geben. Kapitel 7: Verdacht ------------------- Vielen lieben Dank an die Kommentare, ich freue mich immer wirklich sehr! Und danke für alle Favoriten(!) und alle Leser, selbstverständlich ;) ~~~ Shaelyn runzelte ihre Stirn. Das war nicht unbedingt das, wie sie es sich vorgestellt hatte. Genau genommen, war es das Gegenteil. Weshalb sie nun resigniert seufzte. Neujahr war nicht mal mehr als eine Stunde entfernt und sie hätte gerne mit ihrem Großvater in das neue Jahr gefeiert. Dieser allerdings zeigte nicht viel Interesse daran. Stattdessen schien es so, als wolle Watari mehr Harmonie zwischen ihr und Ryuzaki schaffen. Sicherlich, die Beziehung zu diesen seltsamen Kerl hatte sich verbessert im Vergleich zum Beginn. Anscheinend war das Bestreben des alten Herren, dass sie ein wenig mehr Kontakt zu Ryuzaki aufbaute. Wieso? Ja genau das fragte sie sich schon den halben Tag. Weshalb sollte ihr Großvater den Vorschlag machen, dass sie mit Ryuzaki ins neue Jahr feierte? Machte Watari sich einfach nur Gedanken darum, dass der komische Kauz es ruhig vertragen könne, auch mal etwas Gesellschaft zu haben, als alleine in der Wohnung zu hocken? Natürlich hatte sie in den vergangenen Tagen öfter mal vorbei geschaut, um Watari zu besuchen. Somit auch logischerweise ein paar Worte mit Ryuzaki gewechselt, doch mehr war nicht wirklich passiert. Und wenn sie ehrlich war, war sie ein wenig sauer auf ihn. Denn nicht einmal einen kleinen Gruß hatte er ihr an ihrem Geburtstag ausrichten lassen. Wenigstens aber hatte sie an ihrem Geburtstag Alan im Café besucht, was ihre Laune besser werden ließ. Zu schade, dass dieser schon an Neujahr etwas geplant hatte. Nun saß sie also in ihrem Wohnzimmer und stierte auf den Sekundenzeiger ihrer Uhr. Der unaufhörlich weiter tickte. Und mit jedem weiteren Ticken hatte sie das Gefühl mehr dem Wahnsinn zu verfallen. Was sollte sie jetzt tun? Denn weder wollte sie alleine das neue Jahr begrüßen, noch sich mit Ryuzaki herum schlagen. Eine Wahl bliebe noch. Ihr gemütliches Bett. Einfach den Tag wie jeden anderen Abhaken. Doch die Bitte ihres Großvaters, so wie es für sie geklungen hatte, konnte sie doch nicht ignorieren. Ganz gleich was er damit zu bezwecken versuchte. Doch war es immer sehr schwer den richtigen Umgang mit Mr. Unbekannt zu finden, besonders da er keinen Wert darauf legte, was sie von dem Ganzen hielt. Er zog sein Ding durch. Ihn zu beschreiben fiel ihr reichlich schwer, doch auf Anhieb rauschten ihr ein paar passende Wörter durch den Kopf; Dreist. Egoistisch. Ein Lügner. Komische Angewohnheiten. Nie wusste sie was genau er dachte und seine Körpersprache war so gut wie nicht vorhanden. Dieser junge Mann war für sie wie ein Geheimnis. Nichts konnte sie nachvollziehen. Eins hatte sie jedenfalls bemerkt. Er hatte einen scharfen Verstand. Nur analysierte er alles viel zu genau, wobei dies oft gar nicht nötig gewesen wäre. Aber was machte sie sich schon so viele Gedanken darum. Er war wie er war, leider hatte er nur mehr negative Eigenschaften, als wirklich positive. Zu selten, gewissermaßen schon fast gar nicht, zeigte er eine angenehme Seite von sich. Ein lauter Knall holte sie aus ihren Gedanken, auch das grelle Licht erfüllte mit einem Mal das schwach beleuchtete Zimmer, indem sie saß. Ein Blick auf die Uhr jedoch verriet, dass es doch noch ein wenig Zeit war. Welche Idioten zündeten nun schon die Raketen? Shaelyn ging zum Fenster und hatte einen guten Überblick, was zweifellos daran lag, dass ihre Wohnung im letzten Stockwerk des Hauses lag. Tatsächlich, da waren einige schon eifrig daran zu früh zu feiern. Und zu gerne würde sie doch mit unten stehen, um ein weiterer dieser Idioten zu sein. „Was solls!“, redete sie sich entschlossen zu. Ryuzaki würde sie schon nicht auffressen. Dazu müsste sie auch aus Zucker bestehen. Es galt nur ihn noch zu überzeugen, was sicherlich sehr schwer sein würde. „Wollen sie nicht mit ihrer Enkelin das neue Jahr begrüßen?“, durchbrach die Stimme Ryuzaki's die Stille. Dieser blickte von seinen gestapelten Zuckerwürfeln auf den alten Mann, welcher am Esstisch hinter seinem Laptop saß. „Sie wissen, es steht Ihnen frei.“ Watari begann freundlich zu lächeln. „Ich fürchte, aus diesem Alter bin ich heraus, daher halte ich es für nicht angemessen mit meiner Enkelin Neujahr zu begrüßen.“ „Hm... ich verstehe.“ Direkt besah der Schwarzhaarige wieder seinen Turm, der bedrohlich zu schwanken begann und schließlich umkippte. „Kann ich nun auch aus Ihrer Aussage entnehmen, das dies jemand anderes tun sollte? Jemand der jünger ist als Sie?“ Unverblühmt stellte der junge Mann diese Frage. Ihm war direkt klar gewesen, was Watari ihm damit sagen wollte. „Ihnen würde es sicherlich gut tun, Ryuzaki.“, antwortete der alte Herr wahrheitsgemäß. „Sie sollten sich darin nicht einmischen, Watari. Auch wenn ich weiß, dass Sie es gut meinen.“, brachte er völlig nüchtern über seine trockenen Lippen, während er sich nun daran übte, den Turm erneut aufzustellen. „Ja, entschuldigen Sie.“ Als Ryuzaki gerade einen neuen Zuckerwürfel platzieren wollte, klingelte die Haustür und seine Bewegung stoppte. Um diese Uhrzeit, besonders zu diesem Tage, käme nur eine Person in Frage, welche nun vor der Türe stand. Somit war es sofort für Ryuzaki klar, dass es sich um Shaelyn handeln musste. Doch fragte er sich jetzt, ob diese Aktion etwas mit Watari zu tun hatte. Dieser war bereits aufgestanden und verließ den Raum, was Ryuzaki mit seinen dunklen Augen verfolgte, dabei seinen Daumen an den Mund legte. Ihre Stimme war zu hören, kurze Worte, ehe er ihre Schritte im Flur hörte. Dann war ihre Gestalt im hellen Flur zu sehen, die angestrengt in das dunkle Zimmer sah. Offensichtlich war der Grund ihres Besuches nicht Watari. Die Wahrscheinlichkeit nahm zu, dass sie wegen ihm kam. Und das war... ungewöhnlich. „Was gibt es, Shaelyn?“ Nun richteten sich ihre Augen direkt auf ihn. „Also ein bisschen Licht wäre nicht schlecht.“, kommentierte sie umgehend, ging nun auf ihn zu, machte neben dem Sessel halt und stemmte die Hände die Hüfte. Ihr ganzer Auftritt stimmte ihn skeptisch. Es sah ganz danach aus, als habe sie etwas beschlossen und würde es auch tun, egal was er nun dazu zu sagen hatte. „Du kommst jetzt mit runter.“ Der Ton, sowie die Wortwahl, gefielen ihm nicht. Jedoch verzog er keine Mine. „Warum sollte ich das?“ „Jetzt sag mir nicht, du stapelst lieber irgendwas Süßes, statt in das neue Jahr zu feiern.“ Ryuzaki zog die Stirn kraus. „Es ist unnötig.“, war seine knappe monotone Antwort darauf. Shaelyn rollte mit den Augen. Eindeutig war sie nun ein wenig genervt. „.. du bist ein Idiot. Ehrlich.“ Direkt starrte er sie perplex an. Sagte sie Idiot? „Bitte was? Ich fürchte, ich habe dich nicht richtig verstanden.“ „Ich sagte, du bist nen' Idiot.“ Ryuzaki biss umgehend auf seinen Daumen. So hatte ihn noch keiner genannt. „Hm... bist du dir da sicher?“, hakte er nach, sichtlich in Unglauben. „Ja! Jeder feiert doch ins neue Jahr, okay bei meinem Großvater ist das was anderes. Er hat eine gute Ausrede. Aber du bist doch gar nicht so groß älter als ich,... denke ich. Wie kannst du Null daran interessiert sein, sich gute... vergiss es, gute Vorsätze sind nicht so dein Ding. Aber es kann dich doch wirklich nicht so wenig kratzen.“ Shaelyn hielt ihm lang und breit einen Vortrag, was er sich auch aufmerksam anhörte. „Mich kratzt es nicht, da ich nicht verstehe weshalb gefeiert wird. Ich bin mir ziemlich sicher, man braucht nicht unbedingt einen Tag dafür, um gute Vorsätze zu schließen. Mir ist durchaus bewusst, dass die breite Masse diesen Tag feiert, aber für mich ist er wie jeder andere auch. Gut, mit Ausnahme des Heiligen Abends.“ „Aha... hat sicher seine Gründe, aber ich kann mir schon denken wieso es dich nicht interessiert.“ Nun gespannt hörte er sich an, was sie wohl geschlussfolgert hatte über seine Person. „Das ist doch toll mit Freunden das neue Jahr zu begrüßen. Sich gemeinsam zu freuen, wie das neue Jahr wird. Außerdem macht es Spaß Raketen abzufeuern, die bunten Lichter am Himmel!“ Sie schien begeistert dabei zu sein, jedoch Ryuzaki legte seinen Kopf schief. „Sehe ich richtig, dass wenn du zu mir kommst und das neue Jahr mit mir feiern willst, du mich wie einen Freund betrachtest?“, fragte er neugierig nach und sie stutzte. „Was?!“, kam es entrüstet von ihr. „Nein! Was ich eigentlich damit sagen wollte ist, dass du keine Ahnung davon hast, weil du eben keinen hast, mit dem du es schon mal erlebt hast. Kein Wunder bei dir.“ Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, tat es ihr im nächsten Moment leid. Sie hatte sich wieder von ihren Emotionen leiten lassen. Das war herablassend gewesen was sie von sich gegeben hatte. Es war zu bedauern, das er bisher wohl keinen Freund hatte, somit sollte sie nicht so darüber reden. Auch nicht, dass er daran Schuld trug, wegen seinen seltsamen Vorlieben. Nicht wissend, das ein anderer Grund dafür verantwortlich war. Ryuzaki schwieg zu dieser Aussage und wandte seinen Kopf ab. „Tut mir leid, so war das nicht gemeint! Ich meine...“ Shaelyn suchte nach den passenden Worten. Musste sie auch gleich so reagieren? Alles was sie doch auch versuchte war, dass er eben jetzt damit anfangen sollte, auch wenn sie ihn nicht als Freund sah. Aber es klang wie das genaue Gegenteil. „Du solltest jetzt gehen.“ Schwang ein schwacher Ton der Verbitterung mit, oder hatte sie nur kurz diesen Eindruck gehabt? Unsicher von seinen Worten blieb sie neben ihm stehen und blickte auf ihn. Seine schwarzen Haare schimmerten etwas im fahlen Licht als er den Kopf etwas neigte. „Sonst noch was?“ Seine ernste Stimme war erneut zu hören. Jetzt war sie sich sicher, er war gekränkt. Waren die Worte so verletzend gewesen? Hatte er nicht von Anfang an die freie Wahl? Dieser Gedanke rauschte durch ihren Kopf. Und abermals nagte die Frage an ihr, wer dieser junge Mann wirklich war. „Ryuzaki, tut mir leid. Ich weiß ja nichts von dir und du machst es einem wirklich schwer dich zu verstehen. … Das einzige was ich wollte war, nur dich zu fragen, ob du nicht Lust dazu hättest, mal ein wenig abzuschalten mit mir. Es war wirklich nicht meine Absicht dich in irgendeiner Form zu beleidigen.“, gab sie leise von sich, jedoch für seine Ohren laut genug. Shaelyn wartete ein paar Sekunden, die ihr wie Stunden vor kamen. Die Antwort von ihm blieb aus. War er gerade stur? Hatte er keine Ahnung wie er reagieren sollte? Oder interessierte es ihn überhaupt nicht? Es war zum Haare raufen. Sie fühlte sich hilflos und fehl am Platz. Somit machte sie kehrt und verschwand aus dem Zimmer ohne ein Wort an Watari, welcher die Szene wachsam betrachtet hatte. Nach einer erdrückend wirkenden Ruhe und einigen Bonbons später, erhob sich Ryuzaki aus dem Sessel und streckte seinen Rücken einmal durch. Das Knacken der Gelenke erfüllte den Raum und man hätte meinen können, wenn man nicht daran gewöhnt wäre, jemand hätte sich sämtliche Knochen gebrochen. Auch er musste gelegentlich, besonders nach zu langem untätigen Sitzen, einmal die Gelenke in ihre richtige Position rücken. Watari hatte sich mittlerweile wieder an seinem Platz eingefunden. Er wusste, Ryuzaki würde jetzt keinerlei Worte seinerseits akzeptieren. Doch wenn er recht über die vergangene Situation nachdachte, war es auch ein Gutes, dass sie sich so verhalten hatte. Sicherlich, Ryuzaki hatte eine wichtige Rolle für die Welt. Dennoch sollte er sich nicht komplett abschotten. Es sprach nichts dagegen, etwas mit der Welt verbunden zu sein, welche er schützte. Shaelyn war somit eine Schlüsselperson. „Sagen Sie mir, Watari.“, begann Ryuzaki, während er zum Fenster ging und seine Hände in die Hosentaschen steckte. „Sollte ich ihre Entschuldigung annehmen?“ Er suchte Rat bei dem wesentlich älteren Mann, welcher nun sachte Lächelte. „Sie wissen, es fehlt mir in diesem Bereich an Erfahrung. Und ich würde gerne ihre Meinung hören.“ „Sie sollten sie annehmen. Shaelyn hat die falschen Worte gewählt. Wie Sie auch sehen, sie kam zu Ihnen. Aus freiem Willen. Wenn sie also die Absicht hatte, mit Ihnen diese besondere Zeit zu verbringen, war es ein Missverständnis. Ich denke, auch wenn sie es nicht recht einsieht, Sie sind ihr etwas näher gekommen.“ Watari sprach freundlich und versuchte das Ganze ausführlicher zu gestalten, denn nur dann, konnte Ryuzaki seine Schlüsse ziehen. „Ist das nun gut oder schlecht...“, murmelte er mehr vor sich her, als wirklich Watari eine Antwort zu geben. Unschlüssig über seine Gedanken, fing er abermals damit an, an seinem Daumennagel zu kauen. „Ich kann Ihnen nur sagen, vertrauen Sie darauf, was Sie empfinden. Solche Situationen lassen sich, so wie Sie es gewohnt sind vorzugehen, nicht lösen.“ Die höflichen und gut gemeinten Vorschläge riefen bei Ryuzaki noch mehr Unsicherheit hervor. „Ja, da haben Sie vermutlich Recht, Watari. Aber ich verstehe es nicht.“ Plötzlich schossen mehrere Raketen in den Himmel und hinterließen, mit einem lauten Knall, ein buntes Farbenspiel am Firmament. Ein neues Jahr hatte soeben begonnen. Ryuzaki sah gen Boden, noch immer strittig darüber, was er tun sollte. „Wenn Sie sich beeilen, werden Sie sie noch antreffen.“ Das war der ausschlaggebende Satz, welchen den jungen Mann verleitete umgehend den Raum zu durchqueren. „Geben Sie mir bitte noch das Mobiltelefon.“ Watari fasste in den kleinen Koffer auf dem Tisch und reichte das besagte Objekt, ehe Ryuzaki aus der Wohnung ging. Ja Shaelyn war genau die richtige Person, um Ryuzaki ein Stückchen von dem zu zeigen, was sich Leben nannte. Ein Leben außerhalb der strengen Rolle, welche er gerecht werden musste. Es war bescheuert gewesen, um es nicht besser in Worte zu fassen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihn fragen zu wollen. Zwar war der größte Gedanke daran, nicht alleine sein zu müssen, der eigentliche, aber sie hatte gehofft, er hätte auch Interesse daran. Auch wenn ihr Großvater ihr erst diese Idee hat aufkommen lassen. Jetzt aber hatte sie es sich wohl verscherzt mit ihm. Musste er auch gleich wieder so nachfragen? Und wenn sie doch etwas darüber nachdachte, musste sie feststellen, dass sie ihn schon mochte. Ja ein wenig... Und nicht alles was er in der vergangenen Zeit von sich gezeigt hatte, war unangenehm. Sofort dachte sie an seine vorsichtigen Finger, als er versuchte ihr die Kopfschmerzen zu nehmen. Akupressur. Es war seltsam. Er war seltsam. Ein Seufzer entfuhr ihr, dabei senkte sie ihren Blick. Der Schnee war noch immer da, somit war es recht kühl in der Nacht. Shaelyn zog ihren Mantel enger an ihren Körper und sah zur Seite. Die Nachbarn waren eifrig dabei ihre Raketen abzufeuern, dabei spielten die Kinder mit Knallfröschen oder zündeten Wunderkerzen an. Somit bot sich ein typisches Bild zu Neujahr. Nur passte es diesmal nicht zu ihr. Alleine stand sie am Straßenrand und ärgerte sich über sich selbst. „Idiot...“, nuschelte sie in den Schal, welchen sie um ihren Hals gewickelt hatte. Diesmal jedoch war dieses Wort an sie selbst gerichtet. Nicht wirklich in Stimmung, beschloss sie lieber wieder in ihre Wohnung zurück zu kehren. Vielleicht würde es nächstes Jahr besser laufen und das war das Einzige was sie hoffte. Das dieses Jahr glücklicher verlaufen würde. Somit drehte sie sich herum, um der guten Laune zu entkommen. Vor Schreck schrie sie kurz auf als sie die großen starren Augen, knapp vor sich, von Ryuzaki erblickte. Ihr Herz hatte einen Aussetzer gemacht und sie fasste sich an die Brust. „Oh mein Gott...“, brachte sie unter heftigen Herzpochen von sich. „Bitte... sag das nächste mal was. Du... hast mich zu Tode erschreckt.“ „Ich nehme deine Entschuldigung an.“ Komplett ignorierend was sie vorher gesagt hatte. Was an sich nichts neues war. Shaelyn atmete durch, ehe sie Ryuzaki genauer musterte. „Ähm... willst du krank werden? Du kannst doch nicht bei Minus Temperaturen in deinem Shirt hier rumstehen und...“ Sie blickte auf die Schuhe, welche nicht einmal ordentlich angezogen waren. „Frierst du nicht?“, stellte sie direkt die Frage und die Besorgnis war zu hören. „Es ist etwas Zugig, das muss ich zugeben.“ Direkt seufzte sie auf und fasste sich an die Wange. Ihm war nicht zu helfen. „Dann nimm wenigstens...“, begann sie und löste ihren weichen Schal. „den hier. Auch wenn es nicht viel ist.“ Doch statt dass sie ihm den Schal in die Hand gab, trat sie einen Schritt näher auf ihn zu und legte ihm den schwarzen Schal um. Ryuzaki spannte sich extrem an, dabei stierte er sie erschrocken an. Ihr entging nicht, dass er sich verkrampfte, weshalb sie lediglich Einmal den Schal um seinen Hals wickelte. Daraufhin zog sie ihre Hände zurück und lächelte ihm entgegen. „Ich finde es schön, dass du doch noch gekommen bist.“, sprach sie ehrlich und beinahe wären ihre leisen Worte in der Geräuschkulisse unter gegangen, wenn sie nicht noch nah bei ihm gestanden hätte. Ihr Gegenüber schien schockiert zu sein, jedenfalls war das ihre Auffassung. Weshalb. Ja das war wieder eine weitere gute Frage. Er tat so als ob sie etwas unglaublich furchtbares getan hätte. Doch ein wenig über sein Gesicht amüsiert, kicherte sie etwas. „Zieh nicht so ein Gesicht, als ob ich ein Geist wäre. Außerdem der Schal wird dich schon nicht erwürgen.“, setzte sie mit einem schwachen zwinkern hinzu. Man musste zugeben. Shaelyn war launisch, aber es freute sie sehr, dass er es doch nicht so übel nahm. Sie bemerkte wie das Knallen nach ließ, weswegen sie sich etwas drehte und den Himmel betrachtete. „Findest du nicht, dass die Aussicht schön ist?“, fragte sie, während sie weiter hinauf sah und sich einige Strähnen aus dem Gesicht strich. Doch eine Erwiderung seinerseits blieb aus, was sie nicht weiter verwunderte. „Ich denke, dieses Jahr wird alles besser verlaufen. Naja ich hoffe zumindest und...“ Shaelyn neigte ihren Kopf zu ihm und sprach weiter mit einem Lächeln; „du solltest wissen, dass ich dich schon irgendwie sympathisch finde. Auch mit deinen komischen Macken.“ Zu ihrer Verwunderung wich er nun ihrem Blick aus, weshalb sich ihre Stirn in Falten legte und sich ganz zu ihm drehte. „Du bist so still. Hab' ich wieder was falsches gesagt?“ „Nein, ich bin mir nur nicht sicher, was ich darauf erwidern sollte.“ „Also normal reagiert man darauf fröhlich, glücklich oder einfach nur mit einem Lächeln. Aber du machst auf mich eher den Eindruck, als ob... du dich überfordert fühlst. Ein bisschen gequält.“, führte sie etwas konfus aus. Unterdessen zog Ryuzaki eine Hand aus seiner Hosentasche und kratzte sich am Kopf. „Jetzt siehst du irgendwie verlegen aus.“, kommentierte sie augenblicklich weiter verwirrt. War das noch derselbe junge Mann vor ihr? Dieser hob seinen Blick wieder und begann schwach zu Lächeln. Jedenfalls schien er es zumindest zu versuchen. Shaelyn hielt sich die Hand vor dem Mund um nicht laut los zu lachen. Da sollte einer mal diesen Kerl verstehen. „... schon gut.“, presste sie angestrengt hervor und winkte mit der anderen Hand ab. „Lass uns wieder rein gehen, das Meiste ist eh schon verschossen.“ Als sie an ihm vorbei gehen wollte wurde sie an dem Jackenärmel gepackt, woraufhin sie stehen blieb. „Hier.“ Sie schaute auf seine andere Hand, welche er ihr entgegen hielt. Ein Handy lag in seiner geöffneten Handfläche, was sie erst nicht recht verstand. „Es ist für dich. Ich möchte, dass du es immer bei dir trägst. Deine eigene Rufnummer ist eingespeichert, falls du vor hast, sie jemanden mitzuteilen.“ Einen Moment geschah gar nichts. Indessen starrte sie nur auf das Handy. War das sein ernst? So oft ging sie doch gar nicht fort und wenn, ein solches Geschenk konnte sie doch nicht annehmen. „Ist das... dein ernst?“ Nun war es an ihm verwundert zu schauen. „Ja...“ „Aber das kann ich doch nicht annehmen. Die sind doch total teuer und es lohnt doch gar nicht wirklich.“ „Ich bin mir sicher, es wird noch sehr zu Nutze sein.“ Resigniert atmete sie aus. Er würde ohnehin nicht locker lassen. „Okay...“, kam es leicht verschüchtert von ihr und griff nach dem Handy. „Fabelhaft, dann sollten wir nun hoch gehen.“ Seine Erscheinung war wieder die Alte. Doch war es schön zu wissen, dass Ryuzaki noch mehr Seiten in sich trug. „Wie ist es verlaufen?“, fragte gleich Watari, als Ryuzaki den Raum betrat. „Gut.“, war seine knappe und aussagekräftige Antwort. Sofort bemerkte Ryuzaki den Blick des alten Herren auf den Schal. „Ja, das ist ihr Schal bevor Sie fragen.“ Watari begann zu Lächeln und wandte seinen Blick wieder auf den Laptop. Wissend, das Worte dazu nicht gestattet waren. Doch ohnehin war ihm klar was passiert sein musste. Shaelyn sorgte sich trotz allem um ihre Mitmenschen. Unterdessen löste Ryuzaki den weichen Stoff, dabei musste er feststellen, dass es leicht nach Vanille duftete. Allerdings soweit er wusste, befand sich nicht etwas in dieser Geschmacksrichtung in seiner heutigen Auswahl, weshalb er im ersten Moment irritiert schien. Skeptisch sah er schließlich auf den Schal, ehe er zögerlich diesen zu seiner Nase führte. Tatsächlich, es war Vanille. Und es roch zweifellos gut. „Ich habe es eben überprüft. Der Sender im Mobiltelefon funktioniert.“, durchbrach der alte Mann die Stille und Ryuzaki fand in die Wirklichkeit wider. „Gut. Jetzt sollte sich aufklären, wo sich ihre Enkelin immer öfter befindet.“, kam es leicht nachdenklich von Ryuzaki, welcher fasziniert auf den weichen Stoff in seiner Hand starrte. Tage vergingen und die Schule nahm ihren Unterricht wieder auf. Während es mit jedem Tag etwas wärmer wurde, schmolz der Schnee und verwandelte somit den sonst so schönen Anblick in eine nasse, unfreundliche Stadt. Man hätte meinen können, dass dieser magische Anblick niemals stattgefunden hätte. Somit leicht frustriert, legte Shaelyn ihren Kopf auf ihren Schreibtisch im Schlafzimmer. Es war nicht so, dass sie wärmere Temperaturen nicht mochte, oder gar den Regen nicht mochte, der immer wieder die Stadt heimsuchte. Nein es war drückend, vor allem, da sie nicht voran kam mit ihren Aufgaben. Mathematik war nicht ihre Stärke und wenn sie recht darüber nachdachte; Worin lag ihre Begabung? Unzufrieden schnaufte sie, da ihr nichts einfiel. Sie war einfach Talent frei. So glaubte sie jedenfalls. Aber es brachte nichts darüber zu nörgeln. Das zauberte ihr nicht die verlangten Ergebnisse in ihr Heft. Sollte sie ihren Großvater fragen? Ein Versuch war es wert. Oder wäre die Idee, Ryuzaki zu fragen, da besser? So oder so, sie musste zur anderen Wohnung. Voller Tatendrang und sicher, sie würde das schon irgendwie gebacken kriegen, klingelte sie an der Wohnung nebenan. Nervös, ob das wirklich die richtige Entscheidung war und nun gar nicht mehr so begeistert zog sie scharf die Luft ein, als Watari ihr die Tür öffnete. „Hallo Shaelyn, was führt dich hierher?“ Unsicher lächelte sie ihm entgegen, ehe sie zaghaft ihren Mund öffnete. „Ich ähm... hab' mich gefragt, ob du mir helfen könntest.“, gab sie leise von sich und zeigte damit offen ihre Verlegenheit. „Komm doch erst einmal herein.“ Sie nickte umgehend und Watari schloss die Türe hinter ihr. „Also, was möchtest du?“ „Naja, ich habe ein paar Probleme mit meinen Aufgaben. Ich versteh' überhaupt nichts und da habe ich mir gedacht, vielleicht weißt du es.“ „Leider kann ich dir Heute nicht behilflich sein, Shaelyn. Da gibt es noch ein paar Angelegenheiten, die geklärt werden müssen.“ Ihr Großvater bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln, setzte dann aber ebenso freundlich fort; „Aber ich denke Ryuzaki wird dir helfen können.“ Wie sie sich dachte, da musste sie ihn doch fragen. Aber es war seltsam. „... äh aber du weißt doch gar nicht worum es geht. Also welches Fach.“ „Ich denke, das wird keinen Unterschied machen, in welchem Fach du Schwierigkeiten hast. Ryuzaki wird dir in jedem Unterrichtsfach eine Hilfestellung geben können.“ Verblüfft und ungläubig stierte sie ihr Gegenüber an. Hatte sie richtig gehört? In jedem? Unerwartet drehte sich ihr Großvater um und betrat das Wohnzimmer, wohin sie unsicher folgte. Dort fand sie Ryuzaki in gewohnter Umgebung wider. Vor seinem Sessel, auf dem kleinen Tisch, zahlreiche Süßigkeiten gestapelt, ein paar gefüllte Schüsseln mit buntem Inhalt und nicht zu vergessen, der Teller in seiner Hand, worauf sich ein Stück Torte befand. Alles in einem, es sah völlig normal aus. „Ryuzaki, ich werde mich jetzt auf den Weg machen. Aber ich habe eine Bitte an Sie. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie meiner Enkelin helfen könnten.“, freundlich und im gleichen Ton sachlich, trug er seine Worte vor, welche ein fragendes Gesicht bei dem Angesprochenen hinterließ. „Seien sie unbesorgt, Watari. Sie können gehen.“ Unverzüglich machte Watari kehrt und nickte noch einmal Shaelyn zu, diese nun von Ryuzaki gemustert wurde. „So, wobei soll ich behilflich sein?“ Umgehend stellte er die Frage und sie zuckte etwas zusammen. „Also da sind ein paar Aufgaben die ich nicht wirklich verstehe, naja eigentlich überhaupt nicht und daher bräuchte ich Hilfe?“ Der unsichere Ton war deutlich zu hören. Es war ihr unangenehm, sich an jemanden zu wenden. „Wenn es weiter nichts ist.“ Sie stutzte augenblicklich. Er sprach gerade so davon, als wäre es das leichteste, dabei raubten ihr die Formeln sämtliche Nerven. Sprachlos erwiderte sie seinen direkten Blick, ehe er begann die Stirn zu runzeln. „... solltest du nicht jetzt deine Aufgaben holen, statt mich an zu starren?“ War das jetzt trockener Humor von ihm? Er war doch immer derjenige der so stierte, gerade so als käme sie vom Mond. „Wie wäre es, wenn du mitkommst?“, stellte sie direkt die Gegenfrage trotzig. „Soweit ich weiß, brauchst du die Hilfe, nicht ich.“, wies er sie monoton darauf hin. Innerlich schrie sie auf, zwang sich aber zur Ruhe, schlug jedoch ihre Hand vor dem Gesicht. „In dieser Unordnung, auch wenn ich das gewöhnt bin bei dir, kann ich nicht lernen.“ Es klang etwas steif, aber es war die Wahrheit. „Hm... Ich verstehe.“ Ryuzaki stellte seinen Teller weg, jedoch nicht ohne sich das letzte Stück Torte in den Mund zu stopfen und stand mit vollen Wangen auf. Shaelyn verdrehte die Augen bei dem Anblick, verkniff sich allerdings jegliches Kommentar und ging geradewegs in ihre Wohnung, mit Ryuzaki im Nacken. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit, da sie deutlich seinen Blick auf sich spürte. Nicht das sie nicht schon daran gewöhnt war, aber es war anders als sonst. Wenn sie versuchen würde es zu beschreiben, wäre es wohl eine gewisse Neugier auf irgendetwas. Sicher war sie sich aber nach wie vor nicht. „Hier.“, kam es von ihr und hielt ihm gleich das Heft unter die Nase, als sie vor dem Schreibtisch stand und Ryuzaki davon abhielt weiter ihr Schlafzimmer zu mustern. Das gefiel ihr nicht, wie er sich in diesem Raum umsah, zumal es für sie sehr privat war. Nun gut, der Schreibtisch stand eben im Schlafzimmer. Ryuzaki nahm ihr das Heft aus den Händen, dabei fiel ihr auf wie extrem kurios er ihr Heft hielt. Bisher hatte sie ihn noch nicht dabei beobachtet, wie er Bücher, Hefte oder dergleichen hielt. Aber es passte zu ihm. Obwohl es so aussah, als ob das Heft verseucht war und er versuchte es so wenig wie möglich zu berühren. Gefangen von der Art wie er das 'Objekt' hielt, bemerkte sie nicht wie er sie schon wieder anblickte. „Ich verstehe das Problem nicht, es sind sehr leicht verständliche Formeln.“, setzte er an, überging gekonnt ihr starren auf den Händen. Shaelyn, von seiner Stimme aus der Starre gerissen, verzog das Gesicht. „... Schön. Für mich nicht. Bin in Mathe eine totale Niete.“, meinte sie leicht verärgert und setzte sich plump auf ihren Stuhl und sah nun hoch zu ihm. „Deine Ansätze sind nicht verkehrt, begehst dann allerdings wieder den gleichen Fehler.“, begann er unbekümmert, ließ das Heft auf den Schreibtisch fallen und zog erst einmal einen Lutscher aus seiner hinteren Hosentasche. Argwöhnisch betrachtete sie die ganze Aktion, sparte sich dazu aber sämtliche Wörter. Es wäre nicht sonderlich förderlich für sie gewesen, ihn jetzt abermals zu reizen. Einzig zählte das Ziel, diese erforderlichen Ergebnisse in ihr Heft zu bekommen, somit riss sie sich zusammen und atmete tief aus. „Dann hol ich eben einen Stuhl...“ Sogleich stand sie auf und verließ das Zimmer, was Ryuzaki aufmerksam mit seinen Augen verfolgte. „Siehst du, hier.... dort setzt du diesen Wert ein.“ Ryuzaki deutete mit seinem Finger auf die eben von ihr geschriebene Zeile und blickte erneut zu ihr. Konzentriert schrieb sie weiter, nicht bemerkend wie sie mit ihrem rechten Arm seinen linken berührte als sie in die nächste Reihe notierte. Es erschien jetzt wirklich völlig lächerlich, ihn gefragt zu haben. Die Aufgaben waren simpel, zumindest nachdem er es ihr gründlich erklärt hatte, wie es zu rechnen war. Shaelyn löste eifrig die letzte Aufgabe, dabei beachtete sie Ryuzaki an ihrer Seite kaum, dieser sich auch nicht mehr bemerkbar machte. „Geschafft!“, rief sie freudig aus, wandte direkt ihren Kopf zu ihm. Augenblicklich stellte sie fest, dass er sie wohl die ganze Zeit über angestarrt haben musste. Hatte sie ihm eine Frage nicht beantwortet? Oder hatte sie einen Fehler gemacht? Leicht legte sie ihren Kopf schief, indessen legte sich ein fragender Ausdruck auf ihrem Gesicht. Plötzlich ertönte eine Melodie. Ihr Handy klingelte. Sofort unterbrach sie den Blickkontakt mit Ryuzaki, ehe sie zögerlich aufstand. Nervös ging sie zum Nachttisch und nahm den Anruf auf ihrem Handy an. „Hey.“, meldete sie sich sichtlich angespannt, da sie schon ahnte wer sich an der anderen Leitung befand. Ihr seltsames Verhalten gegenüber dem Anrufer machte Ryuzaki misstrauisch, weshalb er Shaelyn genau beobachtete. „Was? Ehrlich? Das ist ja unglaublich!“, kam es begeistert von ihr, dabei fasste sie sich an ihren Kopf. „Ja klar, ich komm sofort kurz vorbei. Bin hier eh fertig. Bis gleich!“ Sie drückte den Anruf weg und lächelte überglücklich. Gerade als Ryuzaki seinen Mund öffnete, um schon seinem neugierigen Drang nachzukommen, stürmte sie auf ihn zu und umarmte ihn. Einfach so, aber sichtlich begeistert. Das Opfer ihrer unbändigen Attacke gluckste erschrocken auf und verlor beinahe die Balance, welche ihn auf dem Stuhl hielt. Erstarrt von ihrer Nähe, war er unfähig auch nur in irgendeiner Form etwas zu erwidern. „Ryuzaki! Meine Bewerbung wurde angenommen!“, rief sie aus und ließ ihn wieder los, völlig achtlos wie er sie mit seinen weit aufgerissenen Augen anstarrte. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Danke jedenfalls für deine Hilfe, die war wirklich großartig. Muss jetzt aber los. Weißt du, ich hab jetzt einen kleinen Job in einem Café! Muss los. Wir sehen uns!“, kam es vollkommen begeistert von ihr, bevor sie zur Tür eilte. „Ah ja!“ Shaelyn stoppte auf der Stelle und drehte sich noch mal zu dem immer noch überrumpelten Ryuzaki um. „Da sind noch ein paar selbst gemachte Kekse von Vorgestern im Wohnzimmer, nimm dir ruhig alle wenn du willst.“ Und schon war sie verschwunden, ihm keine Chance lassend auch nur einen Ton von sich zu geben. Er wusste nicht was er davon halten sollte. Zunächst war da die Tatsache, sie suchte sich einen Nebenjob. Das Geld, welches Watari ihr gab, war zweifellos ausreichend, weshalb suchte sie sich also eine Arbeit? Es musste mehr dahinter stecken, so war er sich sicher. Und es war höchst beunruhigend, wie ihre Launen schwankten. Sie sollte lernen ihre Emotionen zu kontrollieren. Sonst käme es sicherlich noch zu einigen Problemen, davon abgesehen, was sie deshalb sehr wohl schon alles angerichtet hatte. Des weiteren sprach sie sehr vertraut mit der Person am Ende der Leitung. Eventuell, nein sehr Wahrscheinlich, war das der Grund ihres immer öfteren Verschwindens. Weshalb hatte sie dies nicht Watari erzählt? Und es gab noch etwas, was ihn alarmierte. Ihre Haare, sie rochen nach... Vanille. ~~~ Das Tempo wird ab jetzt, wie man merkt, angehoben. Seid aber versichert, es wird noch eine Menge passieren :) Wer die nächsten Kapitel erwartet, es geht zur Sache. Ätsch :P Ansonsten, habe ich noch ein Anliegen. Mir fehlt noch immer ein Beta-Leser. Würde mich freuen, wenn sich jemand dieser wichtigen Aufgabe annimmt :) Näheres, schreibt mir einfach eine ENS. Danke für die Aufmerksamkeit. Kapitel 8: Lüge und Wahrheit ---------------------------- Zunächst einmal vielen Dank an meine Betaleserin ! Und dann sicherlich an alle netten Review-Tipper. Naja eigentlich generell an jeden einen Gruß, der die Story verfolgt :) Verstohlen blickte sie immer wieder zu Alan als sie die Straße entlang gingen. Er hatte seine Freizeitkleidung an, das bedeutete nur, dass er im Café ihretwegen gewartet hatte. Der Vertrag war unterschrieben und band sie zunächst für drei Monate als Bedienung ein. Das Geld was sie verdiente war nicht sehr viel, aber mehr zählte ihr die Beschäftigung und wenn sie es sich recht eingestehen musste, auch wegen Alan. Leicht lächelte sie in sich hinein. Alan war längst nicht mehr nur ein Freund für sie. Shaelyn war es aufgefallen. Jedes Mal lauschte sie gespannt und mit Herzklopfen seiner Stimme. Der blonde hochgewachsene junge Mann löste Dinge in ihr aus, die sie kannte. Zweifellos. Shaelyn hatte sich verliebt. Ständig dachte sie an ihn. Erwischte sich jedes Mal erneut dabei, wenn die Gedanken und Tagträume sich nur um ihn drehten. Seine lockere, freundliche Art verzauberte sie immer wieder. Nichts schien hübscher als sein Gesicht, welches sie oft in der Nacht erträumte. Oft fragte sie sich, ob er auch so fühlte. Nur sie traute sich nicht nachzufragen. Sie schien wie ausgewechselt, denn normal redete sie direkt drauf los, war sonst offen, aber in seiner Anwesenheit blieben ihr die Worte im Halse stecken. Wie ein schüchternes Mädchen, was sie im Grunde gar nicht war. Das ärgerte sie. Ihr war nicht zu helfen. Sie war hoffnungslos verliebt. „Du bist so still, Shae. Freust du dich nicht?“, durchbrach Alan die Stille, wandte seinen Kopf zu ihr. Und da war es wieder, sein sachtes Lächeln. Shaelyn sah zur Seite, räusperte sich leicht und strich sich unsicher ein paar Haarsträhnen hinter ihr Ohr. „Ach nichts, habe nur zurzeit ein bisschen Schulstress. Sicher freue ich mich, nur ich muss die ganze Zeit an andere Dinge denken.“ Trotz des Räuspern klang ihre Stimme piepsig. Innerlich ermahnte sie sich selbst. Wie dumm das doch klingen musste, aber die Worte stimmten, auch wenn er einen anderen Grund dahinter sah. „Ach was, das wird schon alles. Ich bin mir sicher du machst dir zu viele Sorgen.“ Ihr Herz tat einen Sprung. Wenn er nur den wahren Grund kennen würde, wobei er sie ermunterte. Direkt sah sie in sein, noch immer lächelndes, Gesicht. Ihre Wangen begannen sofort zu glühen. Ein Moment, in der die Zeit für einen Moment stillstand. „Hey! Hey, Alan!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihnen und sie stoppten, wandten sich umgehend zur Stimme um. Ein ebenfalls junger Mann, mit dunkelbraunen Haaren, braunen Augen und einem eher etwas rundlichem Gesicht, kam schnaufend vor ihnen zum Halt. Ein Seitenblick auf Alan verwirrte sie kurzzeitig. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder war sein Gesichtsausdruck für einen Wimpernschlag tot ernst gewesen? Es musste Einbildung gewesen sein, da er doch nun freundlich erschien. „Was gibt es, Dan?“, hakte auch gleich Alan nach und sein Gegenüber stellte sich nun auf. Er war etwas kleiner als Alan, jedoch noch immer größer als sie. „Gut, dass ich dich hier erwische. Die im Café sagten du seist erst vor wenigen Minuten gegangen.“, begann dieser Dan etwas aufgeregt, was aber auch an seinem Verschnaufen liegen konnte. „Mach es kurz. Was ist los?“ Der etwas schroffe Ton verwunderte Shaelyn, weshalb sie ein paar Mal blinzelte. Bisher hatte sie Alan so noch nicht Reden gehört. Vielleicht hatte sie es sich doch nicht Eingebildet. Sie schaute zwischen den Beiden hin und her. Ihre Blicke waren gerade so, als tauschten sie sich auf einer anderen Ebene das Gewünschte mit. „Naja du weißt doch, wegen der Feier. Da gibt es noch ein paar wichtige Dinge zu klären und das muss jetzt gleich sein, sonst gibt es nen' riesen Problem.“ Feier? Davon hatte Alan gar nichts erzählt. Das enttäuschte sie, weshalb sie zu Boden sah. Warum hatte er sie nicht auch eingeladen, wenn er zu dieser Feier ging? „Ah Okay, ich verstehe.“, kam es ruhig von dem Blonden, der sich auch gleich zu Shaelyn drehte. „Tut mir leid, ich weiß wir hatten was vor, aber das kann leider nicht warten. Ich ruf dich nachher an, versprochen.“ Unsicher nickte Shae, während sie Alan wieder ins Gesicht blickte. Was sollte sie auch anderes tun? Sie wollte nicht unbedingt nachfragen und sich erst recht nicht aufspielen. Sie verband Freundschaft und er hatte das Recht zu tun was er wollte. „Also dann.“ Dann lehnte er sich vor und berührte zart ihre Wange mit seinen Lippen. Überrascht sog sie die Luft ein, hielt sich kurz die Wange und blinzelte überrascht. Alan schien das Ganze nicht weiter zu beachten, sondern ging dann direkt mit Dan mit. Wild pochte ihr Herz. Sie hatte das Gefühl von Leichtigkeit, als ob sie nach dem Himmel greifen konnte. Er hatte ihr, auch wenn es noch so ein Hauch gewesen war, ein Küsschen auf die Wange gegeben. Das hatte er bisher nicht getan und nun verflog ihr anfänglicher Ärger. Die Feier war vergessen. Die Berührung fühlte sie noch immer, es prickelte angenehm auf ihrer Haut. Ein kleines Kichern entfuhr ihr, weshalb gleich ein paar Leute auf der belebten Straße ihr kurz einen kritischen Blick zuwarfen. Das allerdings nahm sie alles nicht wahr, es zählte nur das Küsschen. Ganz gleich ob sie sich wie ein kleines Mädchen benahm. Shaelyns Freude war schier an diesem Tag nicht zu bremsen. Später am Tag, als die Sonne die letzten Sonnenstrahlen über die Stadt warf, betrat sie mit einem glücklichen Lächeln das Wohngebäude mit einer Tüte in der Hand. Allerdings klingelte sie an die Tür von ihrem Großvater, oder eher auch der Wohnungstür von Ryuzaki. Es dauerte etwas, bis die Tür langsam aufgezogen wurde. Ein schwarzer wirrer Haarschopf lugte hervor und seine großen runden Augen sahen sie prüfend an. „Ja?“ „Huch? Ist Watari noch nicht zurück?“ „Nein.“ Wie immer hielt er seine Aussagen recht knapp, weshalb sie leicht seufzte. „Macht auch nichts. Habe auch was für dich dabei, es sei denn du lässt mich rein. Sonst ess' ich es auf. Obwohl... ich glaub nicht das es meiner Figur gut tun würde.“, kicherte sie zuletzt recht belustigt. Ihr breites, offenes Lächeln betrachtete Ryuzaki kritisch, auch ihr ganzes Verhalten war seltsam. Jedoch wirkten seine Augen im nächsten Moment runder als zuvor und er musterte kurzzeitig die Tasche. „Dann komm doch rein.“ Seine Stimme war ruhig und er hatte langsamer gesprochen. Man hätte meinen können, er heckte etwas aus. Kurz blinzelte sie verwirrt. Manchmal, eigentlich immer, wusste sie nicht was sie von ihm halten sollte. Hatte sie etwas Falsches getan? Sie könnte sich nicht daran erinnern. Shaelyn schloss hinter sich die Türe. Ryuzaki war ohne einen weiteren Ton einfach von der Wohnungstür getreten, ließ sie somit in die Wohnung. Ein Seufzer verließ ihre Kehle als sie das Chaos im Wohnzimmer entdeckte. Kaum war Watari mal ein paar Stunden weg, brachte Ryuzaki alles durcheinander. Wie er das schaffte, war für sie ein Rätsel. Da fiel ihr ein Buch auf, welches achtlos auf dem Esstisch lag, aufgeschlagen an einer Stelle. Selten hatte sie bisher gesehen, dass er etwas las. Und wenn sie ehrlich war, hatte es sie nie sonderlich interessiert. Sie stellte die Tüte vorsichtig auf den Tisch und nahm das Buch in die Hand. Shaelyn las auch gern ab und zu mal ein Buch, aber es musste sie wirklich reizen. Sie wendete das Schriftstück und überflog den Klappentext. „Wenn es dir gefällt, kannst du es mitnehmen.“ Shaelyn zuckte augenblicklich zusammen. Ryuzaki war hinter sie getreten, scheinbar lautlos. Und als sie zu ihm blickte musterte er abermals die Tüte aufmerksam, was sie erst einmal ignorierte. „Wie? Aber so wie es aussieht hast du doch noch nicht mal die Hälfte, ja vielleicht ein Viertel, davon gelesen. Gefällt es dir nicht?“ „Ich weiß bereits den Täter und wenn ich das Ende schon kenne ist es sinnlos weiter zu lesen.“ Shaelyn schien für einen Moment verstört. „... okay...“, mehr brachte sie nicht heraus. Was sollte sie auch schon großartig auf so was verrücktes Antworten. „Na ja, ich lese eher so Romantik Bücher, so Liebesgeschichten halt, mit Herzklopfen, so etwas eben. Ich kann dem Krimi und so nicht viel abgewinnen.“ „Romantik...“, wiederholte er nachdenklich, blickte zur Zimmerdecke auf und legte seinen Zeigefinger an den Mund. Schweigend beobachtete sie ihn. Dann senkte er wieder seinen Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. Ein intensives Starren, welches sie aber nur schon zu gut kannte um davor noch Angst zu haben. Dennoch war ihr so, als dachte er weiter nach. „Ahja, du willst bestimmt wissen was ich nettes mitgebracht habe.“, begann sie freundlich, um das Ganze auf ein anderes Thema zu lenken und fasste in die Tüte. Ryuzaki besah die Schachtel, die sie heraus zog. „Ich dachte mir, da du ja mal so nett warst. Auch wenn du mich manchmal echt an meine Grenzen bringst, wollte ich was, hoffentlich, leckeres für dich kaufen. Als kleines Dankeschön von heute Mittag.“ Seine Neugierde war mehr als deutlich zu erkennen, auch trat er einen Schritt näher, sodass er neben sie am Tisch zum stehen kam. Sie hob die Schachtel hoch, drehte sich zu ihm und hielt ihm mit einem weiteren offenen Lächeln, das Päckchen hin. Der Schwarzhaarige streckte seine Hand aus, schob den Deckel hoch und was er sah, ließen sogar seine Mundwinkel leicht nach oben winkeln. Das hatte sie sich gedacht, dass er wohl so reagieren würde. Schließlich schien das ja seine Leidenschaft zu sein. Süßes. „Vanille-Erdbeer-Törtchen. Die gibt es nur in dem Café, wo ich ja nun arbeiten werde. Hoffentlich schmecken sie dir. Naja ich hab ja schon gesehen, dass du viele Sachen mit Erdbeeren isst und … Vanille isst du ja auch bestimmt, oder?“ Sie begann sanft zu lächeln. Wenn er es eben nicht essen würde, dann sie. Doch war sie sich sicher, dass er es wohl annehmen würde. Immerhin war es was Süßes und mit Erdbeeren. Ryuzaki zögerte, blickte auch nicht auf, da seine Augen noch immer auf die vier kleinen Törtchen vor sich gerichtet waren. „Du hast darauf geachtet, was ich bevorzugt esse?“, fragte er nach einer schier endlosen Pause, die sie schon daran zweifeln ließ, ob ihm die Törtchen gefielen. „Ähm, sicher. Ich meine, das übersieht man ja nicht.“, lachte sie etwas und stellte die Schachtel auf den Tisch, auf dem sie sich gleich mit einer Hand abstützte. Ihr Blick ruhte auf seinen Kopf, der noch immer gesenkt war, dann allerdings hob er sein Gesicht und sah ihr in die Augen. „Danke sehr, ich nehme gerne deine Aufmerksamkeit an.“ Shaelyn musste für einen winzigen Moment erstaunt Glucksen. Sie hatte einer der seltenen Erfahrungen, dass sie wirklich das Gefühl hatte, er meinte es so wie er es sagte. „Dann freut es mich. Wirklich.“, erwiderte sie freundlich, während sie ihm offenherzig entgegen lächelte. „Übrigens,...“, begann der Schwarzhaarige, ehe er sein Augenmerk wieder auf die Leckerei richtete. „Hm?“ „seit wann hast du Interesse an einen Nebenjob? War die Schule nicht schon zu viel für dich?“ Sie verzog ihren Mund. Aber auf diese Frage war sie gefasst gewesen. Natürlich würde er in diesem Punkt nachhaken. Hörbar stieß sie die Luft aus und sah dabei zu, wie er das erste Törtchen hochnahm und schon kurz darauf aß. „Also erst mal, ja die Schule ist manchmal wirklich zu viel, aber ich will eben Beschäftigung.“ „Und woher kennst du das Café?“, folgte es umgehend und er richtete seine dunklen Augen wieder auf sie, während er sich die Fingerkuppen ableckte. „... Ach ich bin doch letzter Zeit öfter draußen unterwegs gewesen, spazieren und so. Da hab ich eben das Café entdeckt und die haben eben eine Teilzeitbedienung gesucht, eben genauso etwas für Schüler. Ein paar Stunden mehr nicht.“ Bewusst verschwieg sie fürs Erste Alan, das würde sicher nur Ärger geben, wenn sie von ihm erzählte. Ryuzaki verengte etwas die Augen, sichtlich in misstrauen, und beobachtete sie genau. „Aha, dann hast du dort die Person kennengelernt, welche dich heute Mittag benachrichtigt hat?“ Direkt erstarrte sie, fing dann unbehaglich an zu lachen. „Ja, ja genau.“ „So und warum hast du Watari davon nichts gesagt? Er macht sich Sorgen. Das solltest du nicht ignorieren.“ „Wird das ein Verhör oder was?“ „Vielleicht.“ Seine dunkle Stimme war leise und drückte seine Skepsis aus, woraufhin Shaelyn stark schlucken musste. „Du bist total unsensibel! Da mach ich dir mal ein Geschenk und als Dank werd' ich ausgehorcht.“ Störrisch verschränkte sie die Arme vor der Brust, funkelte Ryuzaki böse an. „Das wäre nicht nötig gewesen, wenn du es Watari erklärt hättest.“, warf er ihr vor und sie zog die Augenbrauen zusammen, sodass eine tiefe Falte auf ihrer Stirn erschien. „Ey. Ich hab' auch ein Privatleben und da ist nichts Schlimmes dran, wenn ich mal nicht sage was ich alles tue.“ „Du musst nicht gleich empfindlich reagieren, Shaelyn. Ich verstehe wirklich nicht dein Problem. Wenn es nichts schlimmes sein sollte, weshalb hast du es nicht einfach gesagt? Auch kommt mir das mit der Person seltsam vor. Gibt es da etwas, was du uns noch vorenthältst?“ Jetzt stemmte sie eine Hand in die Hüfte und hielt Ryuzaki drohend einen Zeigefinger vor die Nase. „Also dir kann ich so viel vorenthalten wie ich will, klar? Ich bin nämlich nicht deine Freundin! Außerdem halt ihn aus der Sache raus!“ Eine Ruhe kehrte ein und am liebsten hätte sie sich nun die Zunge abgebissen. „Ihn?“, hakte er direkt nach. Stur reckte sie ihren Kopf hoch. „Genau, ihn! Er hat mir geholfen, er ist nämlich nett! Das ist er immer!“ Sie biss sich lieber auf die Unterlippe, erstickte so ihre nächsten Worte, welche Ryuzaki sicherlich nicht gut gestimmt hätten. Am liebsten hätten sie ein; nicht so wie du, hinzugefügt. Gerade als er seinen Mund öffnete, schnitt sie dazwischen. „Was is? Eifersüchtig?!“, giftete sie angriffslustig und Ryuzaki blickte sie in Unverständnis an. „Nein. Ich wüsste auch nicht warum ich das sein sollte.“, erwiderte er ruhig. Shaelyn stand der Mund offen. War darin jetzt eine verstecke Nachricht? Ganz nach dem Sinn; Mit dir will eh keiner was zu tun haben. „Jetzt, werd' ich gehen, bevor ich noch total ausraste! Die nächste Zeit kannst du mir echt gestohlen bleiben!“, zischte sie verärgert und rauschte schon davon. Die Wohnungstür knallte lautstark zu und er blieb wo er war. Der junge Mann blickte zu Boden, legte seinen Daumen an seinen Mund, auf welchem er direkt zu kauen begann. Sicherlich hatte der Sender schon gute Einblicke geliefert. Oft ging sie in der Gegend spazieren, besuchte Geschäfte und darunter fand man auch ein Café. Dennoch war alles im normalen Bereich gewesen, nichts Auffälliges. Sie hatte keine andere Wohnung betreten, das wäre sofort ins Auge gefallen. Was für eine Art Beziehung führte sie also mit diesem Mann? Das musste überprüft werden und es sollte nicht schwer sein an die gewünschten Informationen zu gelangen. Zumindest nicht für ihn. Und es war ein Gutes sie zu reizen, da sie Dinge preis gab ohne Nachzudenken. Jedoch da jetzt weiter zu bohren würde keinen Sinn ergeben. Denn er hatte schon genug um den Rest selbst in Erfahrung zu bringen. Ryuzaki wusste, Watari würde wissen wollen mit wem sie sich traf. Insbesondere wenn es sich um einen Mann handelte, der offensichtlich Nähe zu ihr suchte. Das alles tat Ryuzaki für den alten Herren, denn persönliches Interesse besaß er daran nicht. Daher war ihre Anschuldigung, was die Eifersucht betraf, völlig aus der Luft gegriffen. Der Schwarzhaarige blickte auf die noch drei vorhandenen Törtchen, musterte diese genau, gerade so als wüsste er damit nun nichts anzufangen. Er musste ja zugeben, dass doch ein wenig Neugierde dahinter steckte. Und diese Erkenntnis hatte ihn Seufzen lassen, denn es gefiel ihm nicht. Ebenso wenig wie er auf ihre körperliche Nähe reagiert hatte. Man hatte ihm den Schock deutlich angesehen, was nur all zu verständlich war. Bisher war Körperkontakt schlichtweg nicht vorhanden gewesen. Wenn sie ihn nun also so überfiel wusste er nicht was er tun sollte. Das war frustrierend. Doch sich über all das Gedanken machen brachte ohnehin nichts, daher verwarf er alles wieder, nahm sich ein weiteres Törtchen, ehe er sich vor seinen Laptop niederließ um an die nötigen Daten des Unbekannten zu kommen. Die Tage vergingen und Shaelyn ließ sich nicht blicken. Offensichtlich war sie wirklich in Rage und sah nicht ein, einmal vorbei zu schauen. Nicht, dass Ryuzaki es sonderlich störte, da er vorher auch wunderbar ohne ihre nette Gesellschaft auskam, sondern Watari war dadurch etwas bestürzt. Die Auskünfte, die er in schnellster Zeit eingeholt hatte, zeigten das Profil eines jungen Mannes. Wenn man die anderen, die ebenfalls in diesem Café arbeiteten, nach Geschlecht, Alter und Charakterzüge unterteilte kam nur dieser Mann in Frage. Auch die Überprüfung der Anrufnummer stimmte mit seiner Vermutung der Person überein. Alan Scrivers, 18 Jahre alt, 1,81m groß, blond und hatte wohlhabende Eltern. Weiter ließ sich nichts Verdächtiges finden, doch seine Spürnase sagte ihm, dass etwas nicht stimmte. Alan war zu unauffällig, was ihn auffällig werden ließ. Alles hatte den Hauch von Reinheit und gerade solch ein junger Mann, der mehr als genug Mittel besaß, sich so verhielt, machte ihn suspekt. Ja, da war sicher etwas zu finden. Doch zunächst berichtete er Watari alles, alles bis auf, dass dieser junge Mann bei ihm Skepsis hervorrief. Noch war es nicht bestätigt, obwohl ihn bisher sein Instinkt bei solchen Fällen nie getäuscht hat. Man konnte Watari daraufhin ansehen, dass er etwas enttäuscht schien. Zwar war dem alten Herren bewusst gewesen, dass sie sicherlich nicht alles erzählte, doch selbst nach dem direkten Fragen, hatte sie nichts davon berichtet. Dies war genau das, was ihn bestürzte. Watari war ein herzensguter Mann, was schon alleine davon zeugte, dass er weltweit viele Waisenhäuser unterstützte und nicht zuletzt selbst ins Leben rief. Und das er nun eine Enkelin hatte, erfreute ihn zutiefst. Der alte Herr sprach nicht oft über seine Vergangenheit, aber er hatte Ryuzaki deutlich gemacht, dass seine damalige Liebe ihm sehr viel bedeutet hatte. Die Enttäuschung nie seine Tochter kennengelernt zu haben war bitter für ihn und somit wollte er alles Erdenkliche für seine Enkeltochter tun. Ryuzaki hatte ruhig mitangehört was Watari von sich erzählt hatte, doch würde er in diesem Punkt nicht nachhaken. Wenn Watari bereit war es zu nennen, dann sollte es so sein. Der Schwarzhaarige hatte großen Respekt vor Watari, Quillsh Wammy. Und er war dankbar für seine Hilfe. Nein nicht nur das, der alte Mann war wie eine Vaterfigur für Ryuzaki. Dem einzigen Menschen, der ihm so nahe stand und sollte Watari einst sterben, so wusste er, würde er tiefe Trauer empfinden. Jedes Menschenleben war kostbar, doch Watari war jemand unschätzbares für ihn. Auch wenn man den Eindruck erhielt, Ryuzaki sei gefühllos. So war dem nicht, das wusste er nur zu gut. Doch es war ihm nicht gestattet sich Gefühle zu erlauben. Nicht jetzt und nicht in Zukunft. Ryuzaki hatte einen wichtigen Posten, dem er sich verpflichtet fühlte. Die Erwartungen von der Welt und von Watari wollte er erfüllen. Das war alles was zählte und er war froh, dass Watari ihm zur Seite stand, daher stand es außer Frage, ob er ihm half. „Ryuzaki, Sie sind heute so unkonzentriert. Wollen Sie vielleicht darüber reden?“, wandte sich Watari freundlich an den jungen Mann, welcher vor dem Fenster stand und hinaus blickte. „Nein, das ist nicht nötig. Haben sie vielen Dank, Watari. Ich... habe nur noch etwas vor.“ Watari zog vor verblüffen die Augenbrauen in die Höhe. Davon hatte Ryuzaki zuvor nichts gesagt. Ryuzaki ging durch die Straßen, denn er hatte bewusst verzichtet von Watari zum gewünschten Ort gebracht zu werden. Schließlich durfte kein Aufsehen erregt werden und das Auto war denkbar ungünstig für das, was er nun vor hatte. Und er war sicher gegangen, dass Shaelyn nichts davon mitbekam, ebenso wie Watari. Es würde den alten Herren nur beunruhigen, wenn er ihm sein Vorhaben mitteilen würde. Ohnehin war es nichts gefährliches, wozu er eventuell Hilfe nötig gehabt hätte. Reine alte Detektivarbeit. Das Gewünschte durch bloßes Beobachten in Erfahrung bringen. Alleine dies sollte schon einen Aufschluss geben, zumindest für Ryuzaki. Die Klingel der Türe bimmelte als der Schwarzhaarige das Café betrat. Sofort sahen sich ein paar der Leute zu ihm um, und man konnte erkennen, dass sie verwundert wirkten. Dies allerdings ignorierte der Schwarzhaarige komplett, so wie er es immer tat. Er setzte sich auf einen freien Platz nahe der Theke und wartete. Und niemand geringeres als sein Ziel, kam zu ihm, um die Bestellung aufzunehmen. Auf den ersten Blick konnte er nichts Verdächtiges ausmachen. Die Freundlichkeit Ryuzaki gegenüber war gespielt, sicherlich, jedoch war das kein Grund zur Besorgnis. Der Schwarzhaarige bestellte sich ein Eis und wartete ab was die Zeit zeigen würde. Immerhin hatte er die perfekte Sitzposition ausgewählt, sodass er den Tresen immer im Auge behalten konnte und man Ryuzaki nicht direkt sah. Alan bewirtete die Kunden, wobei Ryuzaki nicht entging, dass der Blonde den Frauen gegenüber sehr charmant war und offensichtlich nicht abgeneigt war ein wenig zu flirten. Es war somit ein Leichtes zu erkennen, dass Alan gern etwas mehr Aufmerksamkeit genoss. Das könnte einer der Gründe sein, weshalb er in diesem Café arbeitete, obwohl er der Sohn einer ansehnlichen Familie war. Doch war es zu früh um jetzt schon seine Observierung abzuschließen. Der erste Blick war nichts weiter als trügerisch, das wusste er nur zu genau. Es würde sich zeigen, was sich so ergeben würde und sein Gespür lag immer richtig. Nachdem Ryuzaki sein Eis genüsslich verspeist hatte, beschloss er, dass es im Café selbst nichts mehr zu entdecken gäbe. Er bezahlte den offen stehenden Betrag und gerade als er das Lokal verlassen wollte, wurde Alan von einer etwas älteren Dame angesprochen und ihre Stimme war streng: „Du kannst für heute Schluss machen, da wartet übrigens noch ein junger Mann auf dich hinter dem Café. Du solltest ihn nicht warten lassen, das macht einen schlechten Eindruck.“ Gutes Timing und eine gute Gelegenheit. Ryuzaki verließ das Café und sah sich um. Ein kleiner Seitenweg führte hinter das Gebäude, welchen er gleich nutzte. Als es eine Abzweigung gab, verblieb der Schwarzhaarige auf der Stelle und spähte um die Ecke. Wie zu erwarten stand dort ein anderer junger Mann, nicht weit entfernt, der ungeduldig auf die Hintertür des Lokals starrte. Da er nicht auffallen wollte, blieb Ryuzaki dort an der Ecke stehen, wartete geduldig darauf, dass sich die Türe öffnete. Es dauerte auch nicht lang, da war das Klacken der Türe zu vernehmen. Sofort lauschte Ryuzaki aufmerksam auf die Worte. „Du Idiot, was machst du wieder hier?“ Das war eindeutig die Stimme von Alan. „Sorry echt! Aber... der Chef will dich sehen. Da is' was schief gelaufen! Da war was an der Anzahl nicht in Ordnung!“, kam es angespannt von dem anderen jungen Mann und Ryuzaki verengte die Augen. Er hatte Recht behalten. „Bist du bescheuert? Halt die Klappe. Wenn du noch lauter bist, kannst du uns gleich bei den Bullen verpfeifen.“ „Aber wieso denn, hier is' doch keiner.“ „Nur weil du keinen siehst, heißt es nicht da ist keiner. Kann auch ein Penner neben den Mülltonnen sein, also sei vorsichtiger.“, kam es verärgert von Alan und gleich darauf hörte man wie sich die Zwei in Bewegung setzten. Ryuzaki sah sich um. Er befand sich zwar neben einem großen Müllcontainer, aber ein Penner war er nicht. Aber viel wichtiger war, dass ihn sein Gespür nicht im Stich gelassen hatte. Es war mehr im Spiel, viel mehr und es wurde gefährlich, da es sich offensichtlich um etwas Illegales handelte. Jetzt war nur die Frage um was genau es sich handelte. Drogen, Waffen … oder vielleicht Menschenhandel? Der Schwarzhaarige schluckte kurzzeitig. Wenn Shaelyn preisgegeben hatte nur einen Verwandten zu haben und auch sonst zu keinem Beziehungen pflegte, war sie ein perfektes Opfer solcher Machenschaften. Nein die Wahrscheinlichkeit war sogar beträchtlich hoch. Alan würde junge Frauen ansprechen, diese geschickt umwickeln und nach einer Zeit zu einem bestimmten Ort locken. Und ab diesem Zeitpunkt konnte man die Spur kaum verfolgen, sie wäre vielleicht für den Rest ihres Lebens eine Gefangene. Aber Ryuzaki konnte sich in diesem Fall nicht sicher sein ob es wirklich um Frauenhandel ging, jedoch die Wahrscheinlichkeit bestand und das konnte er nicht unberücksichtigt lassen. Jetzt hatte ihr Leben höchste Priorität und es war ihm schleierhaft, wie sie genau an solche Leute geraten war. Es war entschieden was nun geschehen würde. „Ja! Ja! Ich mach ja schon auf!“, rief Shaelyn durch ihre Wohnung als sie gerade in der Küche stand und das hektische Klingeln sie beim Kochen störte. Sie stellte den Herd aus, stellte den Topf zur Seite und eilte zur Tür. Ihr war nicht klar, wer dort stand. Watari würde nicht so häufig die Türklingel benutzen und das Ryuzaki sich hinter der Tür befand, war lächerlich anzunehmen. Es würde ihr nicht ein triftiger Grund einfallen und der musste vorhanden sein, damit er sich blicken ließ. Außerdem hatte sie nicht wirklich Lust ihm gegenüberzutreten. Somit ahnungslos zog sie die Tür auf und ihr stockte augenblicklich der Atem. Ryuzaki. Der sie mit solch einem Blick bedachte, dass sie erstarrte. Großer Gott, hatte sie etwas Falsches getan? Seine Augen waren so bedrohlich, wie sie es zuvor nie gesehen hatte und er kam auf sie zu. Instinktiv wich sie zurück, dabei drängte er sie gegen die Wand und sie starrte nur in seinen großen, runden, schwarzen Augen, welche wenige Zentimeter entfernt waren. „Du wirst Alan nicht noch einmal sehen. Das bedeutet für dich, du wirst auch deine Teilzeitarbeit beenden. Falls du dich widersetzt, wirst du dazu gezwungen dich hier aufzuhalten. Watari wird dich jeden Tag zu deiner Schule bringen und dich abholen, während dieser Zeit wirst du dich bei einem Lehrer aufhalten, der bestätigen kann, dass du anwesend warst. Das alles geschieht zu deiner Sicherheit also ignoriere es nicht.“ Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Seine ruhigen aber emotionslosen Worte trafen sie hart. Ein reger Stich im Herzen verkrampfte sie und sogleich ballte sie ihre Fäuste. Unendliche Wut erfasste sie. „Hast du einen Knall?! Ich soll was?!“, schrie sie ihm entgegen. Als sie ihre rechte Hand hob um ihm eine zu Verpassen, packte Ryuzaki ihr Handgelenk grob. „Es wäre nur zum Vorteil, wenn du dieser Bitte nachkommst und am Besten keine Fragen stellst. Wenn du mir nicht vertraust, dann vertraue Watari. Er ist derselben Ansicht. Du befindest dich in einer gefährlichen Lage.“ „Lass mich los!“ Shaelyn wehrte sich entschieden und nachdem sie ihre andere Hand zum befreien nutzen wollte, fasste auch Ryuzaki diese. „Du bist die einzige Gefahr hier! Du spinnst doch und zwar total! Du hast mir gar nichts zu sagen! Wie kommst du auf diese beschissene Idee, dass ich mich von ihm fernhalten soll? Und woher weißt du überhaupt von Alan? Und... Und...“ Tränen lösten sich aus ihren Augen, beinahe verschluckte sie sich an ihren Worten. „Alan ist kriminell. Und wahrscheinlich benutzt er dich für seine Zwecke.“ „Was weißt du schon, von wegen! Und von wegen Bitte! Ihr sperrt mich ein! Beobachtet mich! Und was weiß ich. Wie pervers bist du eigentlich?! Lass mich los! Du bist so ein Arsch! Alan ist viel besser als du!“ Ryuzaki hielt ein Moment inne. Sie wusste ja gar nicht was sie von sich gab. „Beruhige dich, Shaelyn. Deine Meinung über ihn solltest du noch einmal überdenken. Sei vernünftig.“ „Einen Scheiß werd' ich! Ich hasse dich!“ Voller Verachtung blickte sie ihn an und spuckte ihm ins Gesicht. Geschockt weiteten sich die Augen Ryuzaki's. Direkt ließ er sie los und fuhr sich mit seinen Fingern über seine feuchte Nase und Wange. Shaelyn nutzte die Gelegenheit und stieß ihn an seinen Schultern von sich. „Ich glaube dir kein Wort! Hau ab! Sofort! Ich will dich nie wieder sehen!“, schrie sie aufgelöst und rannte in ihr Schlafzimmer, schlug die Tür zu und verschloss diese. Sie weinte. Es tat alles weh, vor allem ihr Herz schmerzte. Was sagte dieses miese Arschloch über Alan? Er sei ein Krimineller? Er würde sie nur benutzen? Das war unmöglich wahr! Ryuzaki war für sie endgültig gestorben und sie würde sich garantiert nicht daran halten. Shaelyn würde einen Weg finden Alan zu treffen... Nein, es war einfach nicht wahr. Es konnte nicht wahr sein. „Wie ist es gelaufen?“, fragte gleich Watari als Ryuzaki den Raum betrat. Jedoch zog der alte Herr gleich seine Augenbrauen in die Höhe. Ryuzaki sah leicht frustriert aus. „Sie ist uneinsichtig.“, antwortete der junge Mann ruhig, welcher nun zum Sessel ging und sich darauf niederließ. Watari blieb still. Ihm war aufgefallen, dass Ryuzaki sich anders benahm. Es musste mehr vorgefallen sein als einfache Worte. Vielleicht hätte er sich doch selbst darum kümmern sollen. „Sie hasst mich und will mich nie wieder sehen. Ich denke, ich war Ihnen keine große Hilfe, Watari. Wahrscheinlich wird sie jetzt einen Weg suchen meinen Worten auf den Grund zu gehen. Seien Sie wachsam. Ich habe zwar die Haustüre verschlossen und die Schlüssel mitgenommen, aber ich vermute sie wird alles versuchen.“ Der alte Herr konnte den etwas verbitterten Ton in der Stimme des Jüngeren vernehmen. Offensichtlich trafen die Worte Ryuzaki mehr, als er sich eingestand. Doch jetzt hatte die Sicherheit seiner Enkelin Vorrang. „Ich verstehe. Haben Sie trotzdem vielen Dank. Ich werde wohl noch einmal mit meiner Enkeltochter sprechen.“ Umgehend zog Ryuzaki aus seiner Hosentasche den Schlüsselbund von Shaelyn, die er Watari tonlos reichte. Allerdings bevor der alte Mann aus dem Raum trat, wandte er sich noch einmal an Ryuzaki. „Nehmen Sie es nicht so schwer. Ich bin mir sicher, dass sie bald ihre Worte zurücknehmen wird. Sie ist nur verwirrt.“ Eine kleine Stille entstand, ehe der Schwarzhaarige seinen Kopf hob und zu Watari blickte. „Ja, vielleicht...“, verließ es nachdenklich seinen Mund, dabei strich er sich mit seinen Fingerkuppen über die Wange, wo sie ihm zuvor demonstriert hatte, wie sehr sie ihn verachtete. Ja es hatte ihn zutiefst gekränkt. Kapitel 9: Gefangenschaft ------------------------- Mit verklärten Augen blickte Shaelyn aus dem Schlafzimmerfenster, während sie seitlich auf ihrem Bett lag. Man konnte deutlich erkennen, dass sie die letzten Tage geweint hatte. Auch der Besuch ihres Großvaters hatte nicht weiter geholfen. Er war netter gewesen, viel netter und erklärte ihr einige Dinge, aber nicht genug um dem Allem zu glauben. Verärgert griff sie ins Laken und zog ihre Beine enger an ihren Körper. Alles was sie seit diesem einen Tag empfand war Hass und Trauer. Hass gegenüber Ryuzaki, Trauer da sie Alan nicht sehen konnte und durfte. Warum hatte Ryuzaki das getan? Wieso sagte er so etwas? Weshalb verwirrte es sie so sehr? Immer wieder die gleichen Fragen, die sich in ihren Kopf gebrannt hatten und sie verzweifeln ließen. Es war seit diesem Tag fast eine Woche vergangen. Lustlos ging sie zur Schule, wo sie nur weiter beobachtet wurde. Hingebracht und Abgeholt, jeden Tag, bis auf den heutigen, an dem es Samstag war. Nicht einmal ihre Wohnung durfte sie verlassen, sondern bekam alles Essen von ihrem Großvater gebracht, der sie oft besuchte. Oder vielleicht eher überwachte. Eventuell würde sie ja aus dem Fenster springen! Oder sich ein Seil basteln, an dem sie aus dem elften Stock kletterte! Das alles war lächerlich! Aber sie musste einen Weg finden. Sie wollte dem selbst nachgehen. Wissen, ob das alles wirklich wahr war. Warum zweifelte sie daran? Alan hatte nichts verdächtiges an sich. Und wenn es ihr auch möglich gewesen wäre, hätte sie ihn angerufen, aber selbst ihr Handy wurde eingezogen. Es war wie in einem Gefängnis, einem goldenen. Und sie wusste nicht mehr weiter. Sie litt unter den Wahnvorstellungen des Irren, dem sie die Schuld zuwies. Das schlimmste war; ihr Großvater dachte ebenso und es musste daran liegen, dass Ryuzaki ihm das eingeredet hatte. Ja, so war es und nicht anders. Wie konnte sie nur je von Ryuzaki gut gedacht haben? Alles war eine verdammte Lüge. Geschauspielert. Nichts war echt, wahrscheinlich nicht einmal, als sie den Eindruck hatte, er würde ehrlich sein. Shaelyn verstand es nicht. Wie konnte man so ekelhaft sein? Und der Hass auf ihn schürte weiter. „Shaelyn?“, drang die besorgte Stimme durch ihre Schlafzimmertür hindurch. Wortlos starrte sie weiter aus dem Fenster, beachtete nicht, dass ihr Großvater vor ihrer Zimmertüre stand. Sicherlich hatte sie ihn schon gehört als er die Wohnung betreten hatte, ignorierte es aber. Ihr war einfach alles zu viel. Zu nichts hatte sie mehr Bezug. Einsam verkümmerte sie in ihrer Wohnung. Die Türe wurde vorsichtig aufgedrückt und Watari betrat den Raum. Stille herrschte für ein paar Sekunden. Sekunden die ihr wie Stunden vorkamen. „Shaelyn, bitte sei nicht mehr betrübt.“ „Und wie lange soll das Spielchen so weiter gehen?“ Sie musste sich zusammenreißen nicht zu verbissen zu klingen, was ihr halbwegs gelang. „Bis du akzeptiert hast, dass dieser junge Mann kein Umgang für dich ist. Verstehe bitte meine Sorge um dich.“ „Ach das sind doch nur Hirngespinste von dem Freak. Aber ja, ich habs' ja verstanden. Ich will hier nicht mehr sein. Ich habe das Gefühl die Wände erdrücken mich!“ Langsam drehte sie sich herum, sah in das Gesicht ihres Großvaters. Wie vermutet war sein Gesichtsausdruck noch immer besorgt. „Ich bin noch wegen etwas Anderem gekommen.“, begann er nun sehr ernst und sie horchte auf. „Ich muss für ein paar Tage dringend ins Ausland, was leider nicht warten kann.“ Direkt zog sie ihre Augenbrauen zusammen, sichtlich in Skepsis und böser Vorahnung. „Trotzdem würde ich mir wünschen, du verlässt weiterhin deine Wohnung nicht. Leider werde ich das überprüfen müssen, aber ich mache mir nur große Sorgen.“ Wie sollte das funktionieren, wenn er nicht da war? Und es wäre genau dann eine gute Chance, um mit Alan zu reden. Auch wenn sie wohl einen Vertrauensbruch beging. Aber sie musste es einfach wissen. „Ja, ist gut, danke.“ Nun begann Watari freundlich zu lächeln. „Und ich würde mich freuen, wenn du dich wieder mit Ryuzaki verträgst. Denn für den morgigen Tag muss ich dich leider darum bitten bei ihm zu bleiben. Er wird mir die nötige Sicherheit geben und mir versichern können, ob deine Absichten wirklich ernst sind.“ Augenblicklich setzte sie sich auf. Der Schock saß tief. Sie sollte was? „Ne'! Auf keinen Fall!“, rief sie entrüstet aus. „Bitte Shaelyn. Wenn du darauf eingehst, kann ich mir sicher sein und du kannst wieder das machen was du möchtest.“ Das klang alles gut und sie würde wieder ihre Freiheit erlangen. Wie sich das anhörte, so als hätte sie etwas verbrochen. „Gibt es keine andere Möglichkeit? Bitte! Ich will ihn nicht sehen.“, flehte sie hoffnungsvoll. „Nein, leider nicht.“ „Wie sieht es dann mit Montag aus? Muss ich da schlafen?“ „Sofern Ryuzaki es für richtig hält, wird er dich mit dem Taxi zur Schule schicken, oder dich da behalten. Du wirst dort schlafen müssen, ja.“ Das Alles gefiel ihr absolut nicht. Nicht ein Bisschen! „Wieso? Ich meine, das reicht doch, wenn ich schon so den Tag bei ihm verbringen muss. Dann kann ich gar nicht schlafen.“ Watari sah sie kurz fragend an. So schlimm hatte er sich das Verhältnis zwischen Shaelyn und Ryuzaki nicht vorgestellt. Ryuzaki hatte auch nichts weiter darüber gesagt, ebenso wie Shaelyn. War mehr vorgefallen? Shaelyn überlegte es sich genau. Es hatte Vorteile und das Einzige was sie tun müsse, wäre in der Umgebung von diesem Fraggel zu sein. Das hieße nicht, sie müsste sich im selben Raum aufhalten und seine Visage die ganze Zeit sehen. Ihr entfuhr ein langer Seufzer. „Ja, in Ordnung. Aber ich kann dir gleich sagen, dass es nur Ärger bringen wird.“ Und was für welchen Ärger, das wusste sie bereits jetzt. Der besagte Tag brach an, welcher nur Chaos ankündigte. Sie hatte sich geschlagen gegeben, aber nur weil sie nun die Chance nutzen wollte. Die Chance der ganzen Sache zu entkommen und auf den Grund zu gehen. Sie sah keinerlei Gefahr darin und sie weigerte sich entschieden dagegen es zuzugeben. Ihr Großvater war bereits am gestrigen Tag abgereist, so musste sie warten bis Ryuzaki ihr die Haustür öffnete. Es behagte ihr nicht und ihn wiederzusehen würde nur weiter den Zorn aufbringen. Nein, sie hatte sich längst nicht beruhigt! Eine Woche reichte nicht aus, nein nicht einmal ein ganzes Leben. Somit tippte sie mit ihren Fingern nervös auf die Couchlehne, drückte demnach ihre Unruhe aus. Wartend darauf, dass der Schrecken sie holen würde. Aber Unterkriegen lassen würde sie sich nicht und dieser Tag sollte so schnell vergehen, wie es ging. Und wenn er nicht aufpasste, was er sagte oder tat, würde sie ihm die Hölle bescheren. Der Gedanke, ihn zu erwürgen, zauberte ein seliges Lächeln in ihr Gesicht. Einmal mehr fragte man sich, wie konnte die Sympathie, die sie mal für ihn empfand, so in Hass umschlagen? Die Gründe waren offen für jeden zu erkennen. Es hatte sich zugespitzt, schon als er mit dem Verhör begann, wurde sie empfindlich. Schon dort war ihr Bild von ihm sehr ins Schwanken gekommen. Aber das alles nahm größere Ausmaße an. Mit der Handlung die er sich eine Woche zuvor geleistet hatte, zeigte er ihr deutlich, dass er sie ausspioniert hatte. Woher sollte er sonst so viel wissen? Dann ihr zu sagen, sie sollte sich von ihrem Schwarm fernhalten, weil er ein Verbrecher war, war die Spitze. Nein, das alles war für sie vorbei. Er war bei ihr Sprichwörtlich, unten durch. Und sie verstand nicht, warum ihr Großvater nichts unternommen hatte. Was wurde hier gespielt? Das Geräusch als der Schlüssel sich im Schloss drehte, holte sie aus ihren Gedanken. Sogleich holte sie tief Luft, stieß diese lange aus und erhob sich vom Sofa. Dann nahm sie ihre Tasche vom Sofa auf, in der sich für den Tag und Abend frische Wäsche befand und ging zum Flur. Die Türe wurde aufgedrückt und sie sah nicht auf, senkte den Blick um ihre Wut zu bändigen. Dieser Mistkerl war einfach an allem Schuld, doch konnte sie die Kontrolle nicht verlieren. Schließlich sollte er ihrem Großvater noch bestätigen, dass sie sich besonnen hatte. Doch langsam wurde sie unsicher, da sie keine Schritt hörte. Nein, es war sogar besser so. Er betrat ihre Wohnung nicht, vielleicht hatte er verstanden, dass er unerwünscht war. Ohne weitere Gedanken setzte sie sich in Bewegung, starrte weiter vor sich auf den Boden und sparte sich sämtliche Worte. Alles verlief ohne ein einziges Wort. Ryuzaki schloss hinter ihr die Türe und folgte ihr dann in seine Behausung. Die Spannung war förmlich zu spüren und es brauchte wahrscheinlich nur ein Wort, dann würde sich die Spannung entladen. Ihre Körperhaltung war zunehmend angespannt, ihre Ablehnung war nicht zu übersehen, doch sie gab keinen Ton von sich. Shaelyn betrat sofort das Schlafzimmer und schlug die Türe zu. Es blieb ruhig an diesem Morgen. Sie hatte sich verkrochen und kam aus dem Raum nicht mehr heraus, Ryuzaki hingegen hatte sich wie gewohnt auf dem Sessel im Wohnzimmer niedergelassen und sah einige Dokumente durch. Auch als der Mittag schon längst vorbei zog und nicht ein Lebenszeichen von ihr zu vernehmen war, blickte Ryuzaki zur Wohnzimmertüre, welche offen stand. Es wäre vielleicht nicht das Richtige das Schlafzimmer zu betreten, doch musste er einiges Hinterfragen. Ihre Antworten waren abhängig davon, wie in Zukunft ihr Tagesablauf stattfinden würde. Der Argwohn ihm gegenüber hatte allerdings in der Woche nicht abgenommen, zwar schien sie gefasster, würdigte ihn jedoch keines Blickes. Das erschwerte ihm das Nachfragen, doch musste ihr klar sein, dass er irgendwann Fragen stellen würde. Somit hievte er sich aus dem Sessel, steckte seine Hände in die Hosentaschen und ging in den Flur, wo er dann schließlich vor der Schlafzimmertüre stehen blieb. Langsam zog er seine rechte Hand aus seiner Hosentasche und drückte die Klinke hinunter. Gefasst auf eine Attacke, da sie ihn vielleicht bemerkt hatte, spähte er ins Zimmer, dabei knarrte die Türe leise als er sie weiter aufdrückte. Dann weitete er überrascht seine Augen. Shaelyn lag auf dem Bett, seitlich zu ihm gewandt und schlief, mitten ausgesetzt der Sonnenstrahlen. Das musste sie doch bemerken, da es zweifellos heiß sein musste. Da fiel ihm auf wie erschöpft sie wirkte; ihr Gesicht war blass und leichte Ränder zeichneten sich unter ihren Augen ab. Zuvor konnte er keinen Blick in ihr Gesicht werfen, da sie dieses gesenkt gehalten hatte. Als er ihre Lage genauer betrachtete, sah es so aus, als hätte sie die gesamte Zeit über, bevor der Schlaf sie übermannt hatte, auf die Tür gestarrt. Sie war wachsam geblieben, allerdings war sie zu erschöpft gewesen. Hatte es so starke Auswirkungen? Nur der Ausgang war ihr verweigert gewesen, sonst konnte sie in ihrer Wohnung tun was sie wollte. Das Alles aber schien ihr wirklich sehr zu schaffen zu machen und die Sorge, die Watari ihm gegenüber ausgesprochen hatte, nahm eine andere Sichtweise an. Shaelyn regte sich und Ryuzaki starrte sie erschrocken an. An dieser Situation sollte nichts missverstanden werden, doch falls sie nun ihre Augen öffnen würde, würde sicherlich ein falscher Eindruck gewonnen werden. Und das Letzte was er zusätzlich wollte war eine weitere Misere. Also zog er die knarrende Tür langsam und behutsam wieder zu, da war etwas zu hören. Ryuzaki stoppte. Hatte er so eben einige gemurmelte Worte vernommen? Neugierig verblieb er auf der Stelle, sah wie sie erneut ihren Mund öffnete. Zu seinem Bedauern konnte er nichts verstehen, da sie zu leise sprach. Eventuell würden diese Worte schon Aufschluss geben. Oft erträumte man Etwas, was einen intensiv beschäftigte, bearbeitete die Probleme, aber konnten die Worte auch nichts ausdrücken. Er selbst hatte ein paar Dinge darüber in Erfahrung gebracht, es glich fast wie in einer Hypnose. Unter Hypnose ließen sich einige erstaunliche Wahrheiten herausfinden. Doch konnte er es nicht gleichsetzen, da die Chance so gute Informationen zu erhalten auch nur wirre Worte sein konnten. Ganz gleich. Ryuzaki hatte vielleicht eine gute Gelegenheit, doch falls er erwischt wurde, so drohte ihm großes Unheil. Dieses Risiko ging er ein. Ryuzaki ließ die Türe offen stehen, bewegte sich leise auf ihr Bett zu. Vor diesem blieb er stehen, beugte sich tief zu ihrem Gesicht hinunter und drehte seinen Kopf zur Seite, damit er genau horchen konnte. „Nein...“, nuschelte sie. „Nein... falsch...“ Ryuzaki verengte seine Augen angestrengt, sie wurde leiser und sie wandte sich zur anderen Seite, sodass das Bett raschelte. „Fehler.“ Die wirren Worte ergaben viele Schlüsse, daher wartete er weiterhin ab, lehnte sich jedoch noch weiter hinab. „Ich... es tut mir Leid.“, murmelte sie schließlich und Ryuzaki verharrte einen Moment. „Nein... das wollte ich nicht.“, setzte sie schwach nach. Unweigerlich dachte er an das, was vor einer Woche vorgefallen war. War es auch das was sie erträumte? Wollte sie sich bei ihm... Direkt schnitt Ryuzaki den Gedanken ab. Er war entsetzt von seiner Empfindung. Er hoffte es. Ja, er er hoffte, dass es so war. Dieser Gedankengang war höchst wunderlich und inkorrekt noch dazu. Eine Stille folgte, woraufhin er seinen Kopf zu ihr wandte. Ihre im Licht glänzenden schwarzen Haare waren wirr auf ihrem Gesicht verteilt, sodass man fast nichts sehen konnte. Nur das senken und heben einiger Strähnen an ihrer Nase zeigte, dass sich auch ein Gesicht darunter befand. Und er tat etwas, was er nicht hätte tun dürfen. Zögerlich streckte er einen Zeigefinger zu ihrem Gesicht aus und strich ihr die Haare zur Seite, dabei berührte er sachte ihre Stirn und Schläfe. Urplötzlich setzte sie sich auf. Ihr Herz raste und sie fasste sich an ihre linke Brustseite. Hastig blickte sie sich im Raum um. Dann erleichtert, atmete sie aus. Niemand war im Raum, doch als sie zum Fenster sah, bemerkte sie die rötlichen Farben am Himmel. Verstört stand sie auf, ging zum Fenster. Ja, die Sonne war dabei unter zu gehen und warf ihre letzten Sonnenstrahlen über die Stadt. Wie lange hatte sie denn geschlafen?! Es war doch eigentlich nicht vorgesehen gewesen. Sie sah zur Türe, dabei machte sich ein flaues Gefühl im Magen breit. Hunger befiel sie und im gleichen Moment wunderte es sie, dass sie wohl für so lange Zeit in Ruhe gelassen wurde. Plötzlich fasste sie sich an den Kopf, der Traum ereilte sie. Es war alles so verwirrend gewesen. Sie hatte mit Alan gesprochen, ihm die Vorwürfe an den Kopf geworfen. Er war so enttäuscht daraufhin, dass sie sich entschuldigte. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, was aber ihr beklemmendes Gefühl nicht linderte. Aber gegen ihren Hunger konnte sie wenigstens etwas unternehmen, auch wenn sie vielleicht diesem Spinner über den Weg lief. Entschlossen die Küche zu besuchen, verließ sie ihr Zimmer und ging den Flur hinauf, direkt in den gewünschten Raum. Zu ihrem Segen befand sich Ryuzaki nicht in der Küche, woraufhin sie aufatmete. Nachdem sie sich ein paar Brotscheiben aus einer Tüte holte, wurde die Türe aufgezogen. Umgehend spannte sie sich an, versuchte jedoch einfach in ihrem Tun fortzufahren. Stur ignorierte sie ihn, was ein erneuter Beweis ihrer Kindlichkeit war. „Hast du mir vielleicht etwas mitzuteilen?“, wandte er ruhig ein und trat vollends in den Raum. Shaelyn rümpfte ihre Nase, beachtete aber weiter vor ihr das Brot, welches sie beschmierte. „Nö.“, verließ es kalt ihren Mund. „Gut, da du offensichtlich nicht fähig für ein reifes Gespräch bist, werde ich-“ „Was? Mich wieder so grob behandeln? Mich am besten irgendwo anketten?“, sprach sie zynisch und begann verrückt zu Lächeln, dabei legte sie das Messer beiseite. „Mich weiter deinem krankhaften Wahn belästigen? Oh. Nein, jetzt hab' ichs'. Du willst mir aufzwingen mich nackig zu machen, damit du ein paar Fotos auf deine Internetseite stellen kannst und mich so unter Druck setzt, damit ich mich so Verhalte wie es dir passt, du perverser Spinner.“, plapperte sie munter weiter und schien sich so Luft zu machen. „Du liegst falsch, Shaelyn. Ich will nur sichergehen, dass du wieder bereit dazu bist ohne Schutz auszukommen.“ Blitzschnell wandte sie ihren Kopf zu ihm und funkelte ihn bösartig an, doch er schien nicht beeindruckt. „Das bin ich, klar?! Ich hab keinen Bock mehr mich einsperren zu lassen. Ich sehs' ja ein, okay? Kein Café... kein Alan.“ Shaelyn musste sich auf ihre Unterlippe beißen, sichtlich aus Wut. „Sicher?“ „Ja, verdammt! Da will ich lieber wieder frei sein, als mich da in was zu verrennen. Dann hat das alles ja gar kein Ende!“ Sie musste aufpassen mit ihren Worten, auch wenn sie in Rage war. Nur ein falsches Wort und sie könnte ihren Plan vergessen. Ryuzaki war zu aufmerksam und oft hatte sie schon feststellen müssen, dass er sie gut durchschaute. Shaelyn richtete den Blick wieder vor sich. Sein Anblick brachte sie nur weiter zum kochen. „Es geht um deine Sicherheit, die ich sicherstellen will. Daher ist es leider von Notwendigkeit, dich das alles fragen zu müssen, auch wenn dir meine Anwesenheit nicht gefällt.“ Jede weitere Ton aus seinem Mund machte sie nur rasender. Dieser … „Ja, ja. Schon gut. Alles bestens. Kannst du mich jetzt in Frieden lassen, oder gibt es da noch was unglaublich wichtiges zu Fragen?“, kam es frech von ihr, während sie nun von ihrem Brot abbiss. „Ja, eine.“ Shaelyn wollte schon erleichtert ausatmen. „Wie stehst du zu Alan? Du hast ihm viel Vertrauen entgegen gebracht, auch hast du dich leicht blenden lassen,... könnte es sein, dass du verliebt bist?“ Beinahe verschluckte sie sich, hustete ein paar Mal und rang um Fassung. „Was?! Er ist nur ein Freund, oder viel mehr war es. Mehr nicht!“ „Hmh...“ Er hörte sich nicht überzeugt an, was er deutlich zum Ausdruck brachte. „War es das jetzt?“ Eine Antwort folgte nicht von ihm, sondern hörte sie wie nackte Füße über dem Fliesenboden tapsten. Sie aß langsamer und ihr Körper verkrampfte sich zunehmend. „Sieh mich an.“, forderte er sie ernst auf und es schauderte ihr, da seine Nähe deutlich neben ihr zu spüren war. Shaelyn zögerte, da sie sich nicht sicher war, ob sie ihm nicht gleich an die Gurgel springen würde. Auch die Angst, dass sie sich nun verraten würde, wuchs extrem. Zaghaft richtete sie ihren Blick zu ihrer Seite, wo wie erwartet Ryuzaki stand. Und so nahe, dass er schon stark ihre Privatsphäre überschritten hatte. Es fehlte nur noch, dass sie seinen Atem auf der Haut spürte. Die großen runden Augen starrten in die ihren, durchbohrten sie fast und er versuchte in ihrer Reaktion etwas zu lesen. „Das kann ich auch, wenn du nicht so ekelhaft nahe kommst. Und noch mal zum Mitschreiben. Nein, ich bin nicht verknallt und will endlich meine Ruhe.“ Ryuzaki legte seinen Daumen an seinen Mund, dabei stellte er seinen Kopf etwas schief. „So? Für mich hat es den Anschein, dass du mir etwas vorspielst.“ Shaelyn musste hart Schlucken und blinzelte ein paar Mal. „Und wieso sollte ich das?“, fragte sie verärgert nach und lehnte sich ein Stück zurück auf ihrem Stuhl. „Ist doch ganz leicht zu verstehen. Du willst dich mit diesem Kriminellen treffen, daher machst du mir etwas vor.“ Ryuzaki reizte sie weiter. Sie sollte so in Zorn geraten, dass sie wieder leichtsinnig wurde. Eines der einfacheren Methoden, aber sicherlich nicht förderlich für eine freundliche Basis. Und wie es aussah, geriet sie gerade sehr in Wut. „Du hast voll die Macke! Kannst du auch mal was anderes außer solche bescheuerten Wahnvorstellungen los zu lassen?!“ Misstrauisch stierte er sie weiterhin an. Sie sollte es sehen und in Erklärungsnot kommen. Genauso sah es auch gerade aus. „Ah, ich verstehe. Also ist die Maßnahme für deine Sicherheit auch nur eine Wahnvorstellung? Also glaubst du nicht daran...“, offenbarte er ihr und kratzte somit weiter an ihrer Beherrschung. „Sag mal, muss ich eigentlich alles wiederholen? Und wieso sind alle Worte die ich sage so auf die Waagschale geworfen?! Das hatte nichts damit zu tun! Basta! Ich halte mich doch an alle Regeln und hab' es doch eingesehen! Warum muss ich mir dann das Verhör hier antun? Habt ihr überhaupt kein Vertrauen in mich? Das ist zum kotzen, echt! Und jetzt rück' mir gefälligst von der Pelle, oder ich tret' dir sonst wohin! Oder... oder stehst du auf Schmerzen?! Ieh! Du bist echt krank!“ Shaelyn verzog den Mund verächtlich und hielt sich die Hand vor dem Mund. Ryuzaki starrte sie verstört an. Was hatte sie gesagt? Doch durchschaute er sie sofort. Eine Ablenkung. „Ich steh auf Schmerzen?“, hakte er konfus nach. Diesen Gedanken konnte er nun trotzdem nicht nachvollziehen. „Echt widerliche Vorlieben hast du! Bah, ich will gar nicht wissen was du noch für Neigungen hast.“ Ihre Angaben trafen nicht im Geringsten zu, was er ihr auch zu verstehen geben würde. Er ließ sich auf ihr Ablenkungsmanöver ein, was er zu seinem Vorteil nutzen würde. „Du solltest deine Fantasie im Zaum halten. Meine Neigungen sind dem Durchschnitt entsprechend.“ „Wers' glaubt wird selig! Außerdem sagt der Verrückte nicht immer, dass sein Verhalten normal ist? Hm? Oder... bist du schwul? Ja dann ists' okay. Ehrlich!“ Dem Schwarzhaarigen entgleisten sämtliche Gesichtszüge. Bewusst, denn sie sollte weiter Sicherheit bekommen. Allerdings musste er schon zugeben, dass es eine groteske Anschuldigung war. „Weder bin ich verrückt, noch neige ich zum gleichen Geschlecht.“ „Wirklich? Erstaunlich. Dabei interessierst du dich doch so gut wie gar nicht für Frauen.“ Ryuzaki verengte weiter seine Augen. Er mimte weiterhin den Ahnungslosen, somit hatten seine folgenden Worte gleich mehr Wirkung. Jetzt kam seine Gelegenheit. „Bist du dir sicher? Vielleicht habe ich so keine Verwendung solcher Gefühle und bei deinem Verhalten ist es durchaus nachvollziehbar, dass ich wohl auch in Zukunft dem keine Beachtung schenken werde. Sind alle Frauen so unreif wie du?“ Shaelyn, die zuvor noch boshaft gelächelt hatte, stand der Mund offen. „Wiederhole das.“, giftete sie zornig. „Du hast mich schon verstanden, Shaelyn.“, erwiderte er trocken und begann auf seinem Daumen zu kauen. „Raus... aus... der... Küche... Oder ich werde dich eigenhändig Erwürgen! Und dich an die Hunde verfüttern! Raus!“ Schnell nahm Ryuzaki Abstand, bewegte sich aber keineswegs aus der Küche, was sie nur wütender machte. Da sie nun wütend genug war, wollte er weiter auf Alan eingehen. Gerade als er seinen Mund öffnen wollte, musste er einem fliegenden Gegenstand ausweichen, welcher gegen die Tür donnerte. Diese Frau war gefährlich! Das musste er unweigerlich geschockt feststellen, als sie tatsächlich mit dem Schmiermesser nach ihm warf, dem er knapp entkommen war. Den Rückzug anzutreten war vielleicht gar nicht so unklug, zumindest konnte er nicht warten, bis sie ihn tatsächlich einmal erwischte mit womöglich noch dem gesamten Inhalt des Messerblocks. Und es war bitterer Ernst. Sie war völlig von Sinnen. Ein Angriff auf sein Leben. Während sie gerade nach einem anderen Wurfgeschoss griff, flüchtete er eilig aus der Küche und hörte nur wie etwas gegen die eben geschlossene Tür geschleudert wurde. Ryuzaki war geschockt, noch nie hatte er solch eine Angst um sein Leben verspürt und das sollte etwas bedeuten. Wie konnte er auch ahnen, dass sie völlig ihren Verstand ausblendete. Das grenzte an einen Mordversuch. Also sollte er in Zukunft vermeiden sie so in Rage zu versetzen, es sei denn er wäre sicher versteckt. Das würde er sich merken, wenn ihm etwas an sich gelegen war. Und sprach nicht alleine das schon gegen die Theorie, er würde auf Schmerzen stehen? Nachdem Ryuzaki aufgeatmet hatte, wollte er von der Tür wegtreten, als er hörte wie sie auf diese zu stampfte. Direkt und ohne einen weiteren Gedanken drehte er den Schlüssel im Schloss um. „Du elender Mistkerl!“, rief sie wutentbrannt. „Mach sofort die Tür auf!“ Er war entschieden dagegen. „Erst, wenn du dich wieder beruhigt hast.“ Ein Lachen ertönte, was ihn verwirrte. Jetzt war nicht der Anlass zum Lachen. „Ah! Ja dann schmeiße ich all deine Torten und sonstigen Süßkram aus dem Fenster! Und du kannst gucken wo du was her kriegst!“, ertönte es selbstsicher hinter der Türe und Ryuzaki war fassungslos. Aber wenn er die Wahl zwischen seinem Leben und dem Süßen hatte, wählte er eindeutig sein Leben. Ohne Leben kein Süßes, so hätte er mehr davon. „Die Tür bleibt verschlossen.“ „Fein! Ja dann hör jetzt gut zu wie ich alles hinaus befördere!“ Er musste zugeben, es ließ ihn nicht völlig kalt. All die guten Torten... Sofort war zu hören, wie sie sich entfernte, das Fenster öffnete und anschließend den Kühlschrank aufriss. Aufgeregt kaute er an seinem Daumennagel und starrte auf die Tür vor sich, da er nicht damit umzugehen wusste. Sein Plan war fehlgeschlagen, er hatte es falsch eingeschätzt und jetzt musste sein Süßes daran glauben. Dann klirrte es und das Geräusch wie etwas zu Bruch ging wurde laut. Ein Poltern folgte und ein Aufschrei seitens Shaelyn. Eine Stille kehrte ein und Ryuzaki schätzte ab, ob es sich nicht vielleicht um eine Täuschung handelte. Doch die Möglichkeit bestand auch, dass sie sich ernsthaft verletzt hatte. Beide Wahrscheinlichkeiten waren enorm hoch. Um sicher zu gehen, bückte er sich und lugte vorsichtig durchs Schlüsselloch. Was er sah alarmierte ihn, weshalb er umgehend die Tür aufschloss und zu ihr eilte, achtend dabei nicht selbst auf dem Boden zu landen durch die zahlreichen rutschigen Fallen. So wie die Lage es vermuten ließ, hatte sie eine Schüssel voller Erdbeercreme fallen gelassen, was sie auf der Masse ausrutschen ließ. Nun lag sie auf dem Rücken, die Augen geschlossen und eingetaucht in der Creme. Sofort kniete er sich neben sie, hob leicht ihren Kopf behutsam an und sah nach ob sie sich eine Wunde zugezogen hatte. Das erwies sich als schwer, da alles durch die Süßmasse verklebt war. Doch Blut war nirgends zu entdecken, was allerdings nichts zu bedeuten hatte. Langsam flatterten ihre Augenlider und sie kam zu sich. Ihr Gesichtsausdruck war gequält und sofort fasste sie sich an den Kopf. „Geht es dir gut?“ Sie verdrehte die Augen, kniff sie dann zusammen und schlug sich die Hand vor dem Mund. „Mir ist kotz übel!“, würgte sie schon fast hervor. Das klang beunruhigend. Vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung davon getragen. Übelkeit war einer dieser Symptome. „Kannst du aufstehen?“, fragte er direkt nach, während er ihr beim aufsetzen behilflich sein wollte. Umgehend schlug sie ihm eine Hand weg. „Lass deine Pfoten bei dir! Das ist alles deine Schuld! Ich mach das alleine!“, zischte sie. Verstört starrte er sie an. Ryuzaki war es unerklärlich wie stur sie war. Sie wollte sich nicht helfen lassen, obwohl sie diese nötig hatte. Denn als sie sich auf die Beine stellte, wirkte sie taumelig. Kritisch beobachtete er ihre Engstirnigkeit weiter, ehe sie aus der Küche verschwand um sich wahrscheinlich im Bad zu übergeben. Nun besah er das Chaos im Raum. Es sah wie ein Schlachtfeld aus. Und es war ein Glück, dass sie nicht die Scherben erwischt hatte, die sich verteilt hatten. Aber so konnte die Küche nicht gelassen werden. Tiere würden sich schnell in der Küche anhäufen bei dem Angebot der sich überall bot. Er hatte keine Wahl und seine Laune erreichte den Tiefpunkt. Ryuzaki starrte daraufhin nachdenklich zur Küchentür. Nur kurze Sätze und sie würde ihre Meinung über ihn ändern. Unmöglich, er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, auch wenn diese alles aufgeklärt hätte. Und es war schon erstaunlich genug, dass er sich darum Gedanken machte. Es war schlichtweg undenkbar. Als er sich dann schließlich aufrichten wollte, stützte er sich unachtsam mit seiner Hand auf dem Boden ab und sogleich verspürte er einen höllischen Schmerz, der ihn wieder in die Realität brachte und fluchen ließ. Shaelyn war für den Rest des Tages nicht mehr zu sehen, auch regte sich nichts mehr. Nachdem er die Dusche gehört hatte und kurze Schritte im Flur, war es ruhig. Nun war es mitten in der Nacht und er probierte mit seiner linken Hand die Kaffeetasse zu halten, während er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Das erwies sich als schwerer als er gedacht hatte, da der Tag ihm stark zu Denken gab. Egal wie viel Erfahrung er darin hatte Profile zu erstellen und nächste Taten voraus zu planen, so versagte er kläglich bei Shaelyn. Denn wenn er gewusst hätte, dass sie so impulsiv reagieren würde, hätte er sich eindeutig nicht so weit aus dem Fenster gelehnt. Sicherlich, sie besaß ein temperamentvolles Gemüt, doch das sie soweit gehen würde und selbst mit gefährlichen Gegenständen nach ihm warf, war für ihn eine große Überraschung. Wachsamkeit war also ein hohes Gebot bei ihr. Man durfte ihre nunmehr Feindschaft nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ja, er war für sie ein Feind. Für ihn war sie das nicht. Ihm wollte einfach nicht einfallen, weshalb sie ihn nun so hasste. Das bescherte ihm Kopfzerbrechen. Nachdem die Morgensonne langsam am Horizont zu sehen war, saß er noch immer auf dem Sessel, doch zeigte sich ein seltener Anblick. Ryuzaki saß in seiner gewohnten Position auf dem Sessel, hatte allerdings seine Augen geschlossen. Man gewann den Eindruck, er wartete auf einen bestimmten Zeitpunkt um dann sein Ziel zu überraschen. Selbst im Schlaf sah er aus, als sei er für alles bereit. Und als sich dann ein Geräusch in der Wohnung tat, riss er seine Augen auf und stützte sich mit den Händen von den Sessellehnen ab. Direkt biss er sich auf die Unterlippe, der Schmerz in der rechten Hand war deutlich zu spüren. Ein weißer Verband zierte seine rechte Handfläche. Zu recht, denn es hatte sich eine Glasscherbe in seine Hand gebohrt als er sich aufstellen wollte. Eine Unachtsamkeit, die er sich sonst nicht erlaubt hätte. Sehr ärgerlich und schmerzvoll. Ryuzaki nahm eine Bewegung in den Augenwinkeln wahr, woraufhin er sofort sein Augenmerk darauf richtete. Shaelyn im Nachthemd, welche breit gähnte und sich die Augen rieb. „Erzähl. Kann ich noch weiter schlafen, oder soll ich in die Schule?“, brachte sie verschlafen hervor und schien sich langsam zu sammeln. Ryuzaki zögerte. Ihr Verhalten glich nicht im geringsten das vom Vortag. Vielleicht lag es auch einfach an ihrem verschlafenen Zustand. Ihm gefiel dieser Zustand. „Wie geht es dir?“, fragte er ruhig und stand von seinem Sessel auf, drehte sich ganz zu ihr. „Ist doch egal...“, wand sie genervt ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Ausdruck änderte sich immer mehr, was ihm nicht mehr so gefiel. „Ich fürchte, das ist es nicht.“ Shaelyn rollte mit den Augen. „Bisschen Kopfschmerzen, nichts ernstes. Hab' ja viel Schlaf gehabt. Geht schon.“, sagte sie gereizt, setzte dann einen verärgerten Gesichtsausdruck auf. „Danke für die Nachfrage... Wir wissen ja wer daran Schuld hat.“, setzte sie finster nach und lehnte sich an den Türrahmen. „Also was ist jetzt? Schlafen? Schule?“ Man hörte ihr an, dass sie das Gespräch knapp halten wollte. Und Ryuzaki beschloss letztlich, sie in die Schule zu schicken. Es würde sich zeigen ob man ihr nun Vertrauen schenken konnte. Wenn sie dieses missachtete, würde das Konsequenzen mit sich ziehen. Zur Sicherheit gab er ihr ihr Mobiltelefon wieder. Zur Not würde sie sich so leicht finden lassen. Ja, sie hatte es geschafft! Innerlich jubelte sie auf und war stolz auf sich. Da hatte sie ihn einmal täuschen können! Das steigerte ihre Laune und sie fieberte dem Treffen mit Alan entgegen. Sie war überzeugt; Alan traf nicht die geringste Schuld. Und nach wie vor war sie verliebt. Und niemand würde sich so zwischen ihnen stellen. Besonders kein Ryuzaki, der nach ihrer Meinung nur eifersüchtig war. Aber wenn sie Alan gefragt hatte und er wie erwartet natürlich alles von sich weisen würde, was könnte sie dann tun? Auf Dauer könnte sie es nicht verheimlichen. Nein, sie würde bis zu ihrem 18ten Lebensjahr warten und dann konnte sie frei sein. Losgebunden von einem irren Ryuzaki und bereit für ihr eigenes Leben. Shaelyn lächelte versonnen und dachte an ihre Zukunft. Eine gute Zukunft und noch nie war sie sich sicherer. Alles würde gut verlaufen und sie kümmerte sich nicht um die Warnungen. Warnungen, die nicht hätte ignoriert werden sollen. Somit ging sie in ihrer Schuluniform direkt zu Alans Wohnung. Sie wusste wo er wohnte, nur hatte sie sich bisher nie getraut gehabt ihm dorthin zu folgen. Auch wenn er es ihr Angeboten hatte, dazu war sie viel zu nervös gewesen. Doch jetzt hatte sie allen Grund dazu ihn zu besuchen, ganz gleich ob es ihn wohl ein wenig enttäuschen würde. Aber sie brauchte seine Antwort. Und als sie endlich um die letzte Ecke bog und hoch zum Wohngebäude blickte, fing vor Aufregung ihr Herz heftig an zu klopfen. Nur wenige Meter. Jetzt oder nie. Also umfasste sie ihre Tasche fester, die sie an ihrer Hand trug und setzte ihre letzten Schritte auf das Gebäude zu. Dann plötzlich trat Alan aus dem Hauseingang und sie wollte schon rufen, als eine andere junge Frau ihn begrüßte. Eine hübsche junge Frau, die offensichtlich mehr Geld besaß, da ihr Aufzug recht teuer wirkte, allerdings ein wenig zu knapp ausfiel. Shaelyn starrte geschockt zu Alan, der diese Frau daraufhin küsste. Ja, er küsste sie! Ihr Herz machte einen Aussetzer und sie blinzelte einige Male ungläubig. Umgehend versteckte sie sich in einem Hauseingang, da Alan sie noch nicht bemerkt hatte. Was hatte all das zu bedeuten? Warum hatte er nicht erzählt, dass er eine Freundin hatte? Wieso sah diese Frau so... aufreizend aus? Dann begann er zu sprechen und Shaelyn musste sich anstrengen um die Worte zu verstehen. „Was machst du hier, Sarah? Ich sagte doch, heute hab ich zu tun.“ „Aber Alan, du willst doch nicht frech zu mir werden, oder?“ „Kommt darauf an... aber es geht wirklich nicht. Ein andern Mal.“ „Fein, dafür musst du mich aber das nächste Mal gut entschädigen.“ Shaelyn konnte es nicht fassen! Es klang als kannte er sie schon länger und seine Art. Er war so anders. Ein mulmiger Gedanke kam auf. War doch alles wahr, was Ryuzaki sagte? Tiefe Enttäuschung Alan gegenüber kam auf und auch die Wut. Sie kannte ihn nur wenige Wochen, aber sie war so überzeugt gewesen, dass er unschuldig sei. Jetzt stellte sich heraus, dass er ein Lügner war! Ihr stiegen die Tränen in die Augen, aber sie war noch nicht fertig mit ihm! Oh nein, jetzt wollte sie alles wissen. Die Frau stieg in einen luxuriösen Wagen und fuhr davon. Dann sah sich Alan um und sie verschwand mit rasendem Herzklopfen hinter der Wand. Hoffentlich hatte er sie nicht bemerkt! Sie wollte erst wissen, was er wieder so dringendes zu tun hatte. Wild entschlossen ihm hinterher zu spionieren, lugte sie vorsichtig um die Ecke und erkannte, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte. Shaelyn musste einen gewissen Abstand halten, da die Lackschuhe der Schule an den Sohlen doch einige Geräusche hinterließen. Völlig konzentriert schlich sie ihm nach, dabei kam ihr nicht einmal der Gedanke, es könnte gefährlich werden. Dafür hatte sie auch keine Gedanken, alles war sie beschäftigte waren die Fragen. Warum tat er das alles? Hatte Ryuzaki recht? Wollte Alan sie nur benutzen? All die Freundlichkeit, war sie nur gespielt gewesen? Sie kämpfte mit den Tränen, doch siegte sie und die Wut kam immer mehr zum Vorschein. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Alan fiel nicht weiter auf unter den Menschen auf der Straße. Er verhielt sich wie jeder andere. Unauffällig. Sie dagegen wurde schief von den Leuten angesehen, da man ihr offensichtlich ansah, dass sie etwas vorhatte und auf ihre Schritte achtete. Das war ihr egal, nur Alan zählte. Allerdings bemerkte sie, dass sie sich immer mehr Richtung Stadtrand bewegten. Was dort zu finden war? Das würde sie heraus bekommen. Als er sich dann plötzlich einmal herum drehte und prüfte ob ihm keiner folgte, hatte Shaelyn sich hinter einem Baum versteckt, im letzten Augenblick, was ihr Puls noch weiter beschleunigte. Direkt fasste sie sich an die linke Brustseite. Ruhe, sie musste Ruhe bewahren und als sie um den Baum spähte, sah sie wie Alan hinüber auf die andere Straßenseite ging. Mitten aufs offene Gelände, lediglich Bäume waren zu sehen. Das war wirklich verdächtig, musste sie feststellen und als sie weiter zum Himmel aufsah, erkannte sie eine Fabrik in der Ferne. Überrascht weiteten sich ihre Augen. Diese Fabrik schien nicht in Betrieb zu sein. Aus den riesigen Schornsteinen stieg kein Rauch empor. Dorthin wollte er also. Sie ließ ihm mehr Vorsprung, da sie ihm nicht einfach auf das offene Feld folgen konnte. Nachdem sie sich an den letzten dichten Bäumen vor der Fabrik durchkämpfte, war sie verblüfft. Tatsächlich, keine Regung war zu erkennen. Der Zaun war an ein paar Stellen aufgerissen, die großen Fenster der Fabrik waren teilweise kaputt und auch die Fassade sah recht bröcklig aus. Es machte einen sehr verlassenen Eindruck, doch genau hier hatte es Alan hin verschlagen. Zögerlich trat sie an den Zaun heran. Dabei war sie bedacht darauf keine lauten Geräusche von sich zu geben und schlüpfte durch das Loch, dabei riss sie sich allerdings Maschen in ihrer Strumpfhose. Dies beachtete sie nicht weiter, sondern machte sich weiter auf den Weg. Sie wirkte verloren bei den riesigen Gebäuden und auch konnte sie Alan nicht ausmachen. Hatte sie ihn verloren? Wie sollte sie ihn auf diesem Gelände wieder finden? Verärgert biss sie sich auf die Unterlippe, kaute daran ein wenig. Ihre Aufregung war nicht zu übersehen. Das war es auch Alles. Sehr aufregend. Also schritt sie weiter vorsichtig voran, versuchte so wenig wie möglich Krach mit ihren Schuhen zu verursachen. Dann erreichte sie eine Metalltüre, die ein wenig offen stand. Langsam drückte sie diese etwas auf, verschaffte sich somit Zugang zum Gebäude. Es war leer. Nun bis auf die vielen Pappreste, Papier und eine menge altem Laub, konnte sie nichts ausmachen. Auch war es schwach beleuchtet, nur das wenige Licht durch die kaputten Fenstergläser gaben genug Sicht. Plötzlich Schritte die durch den gewaltigen Raum hallten. Sofort stellte sie sich an die dunkle Wandseite, verharrte da und wartete ab. Die Schritte verhallten und sie atmete auf. Kurz überlegte sie die Schuhe auszuziehen, was aber unmöglich war bei dem vielen Dreck und wahrscheinlich Glasscherben, die ab und an von ihr zerdrückt wurden, was ein Knirschen hinterließ. Sie schlich weiter zu einer offenen Tür, sah in einen Gang und am anderen Ende war Licht zu sehen, nicht sehr helles, aber Licht. Ohne länger zu warten ging sie leise zu diesem Durchgang und als sie an der offenen Tür stehen blieb, sah sie Alan. Er saß an einem Tisch und da war noch jemand. Soweit sie es sah war er in etwa dem selben Alter von Alan, hatte schwarze Haare und ein kantiges Gesicht. „Ich hoffe, da gab es keine Schwierigkeiten.“, begann der Unbekannte und Alan winkte gelassen ab. „Schwachsinn. Es gibt nie Schwierigkeiten. Läuft alles klar über die Bühne.“, antwortete Alan locker und setzte sich in seinem Stuhl entspannt zurück. Shaelyn konnte es einfach nicht fassen! Nein, das konnte doch nicht ihr Alan sein. „Ey', du weißt, der Chef siehts' nich' gern, wenn man ihn übern' Tisch zieht. Der Typ da, dieser Pisser, der immer die Nachrichten gebracht hat.“ „Dan?“ „Ja, der hässliche da. Den hats' nicht gut erwischt. Der Chef hat gemerkt, er wollte den Bullen das alles hier stecken. Jetzt ist er Hundefutter. Hat er also doch noch dem Chef, oder besser seinen Wachhunden, genützt.“ Eine Lache war zu hören und Alan sah ebenfalls leicht amüsiert aus. Fassungslos starrte sie vor sich, erstarrte in ihrer Bewegung. Ryuzaki hatte recht gehabt! „Hast du die neue Ware schon kontrolliert?“, fragte Alan mit einem Grinsen und sein Gegenüber steckte sich eine Zigarette an. „Klar, alles beste Qualität. Eben nur das feinste. Ach ja, eine Anweisung vom Boss. Wir müssen das Versteck wechseln. Er sagt in letzter Zeit schnüffeln ungewöhnlich viele bei ihm rum. Die Polizei hat von was Wind bekommen, irgendeine bombensichere Quelle, hat ein Spitzel gesagt. Wir müssen nur die verräterische Zunge finden.“ Shaelyn schluckte. Hatte das vielleicht etwas mit Ryuzaki zu tun? Er hatte ihr doch Bescheid gegeben... und vielleicht auch dann der Polizei? Wie kam er an all die Informationen und so schnell? Aber Shaelyn hatte genug gehört. Das Alles reichte aus und sie war froh, dass sie doch noch den Bogen bekam, auch wenn es erst mal hieß hier heil raus zu kommen. Unweigerlich dachte sie an Ryuzaki... er hatte doch so recht gehabt. Sie fühlte sich schäbig. Alles war unrecht was sie ihm angetan hatte. Das tat ihr unendlich leid. Er wollte ihr nur helfen. Trotzdem, wie kamen sie darauf sie zu beschatten. Ganz egal. Sie würde sich riesig für ihr Verhalten entschuldigen. Der Hass blieb, nur wandelte er sich zu Alan. Dem Wirrkopf von Ryuzaki traf keine weitere Schuld. Auch wenn seine Worte nicht ganz nett waren, sie war viel grausamer zu ihm gewesen. Shaelyn drehte sich vorsichtig um, achtete auf jeden ihrer Schritte. Dann ein falscher Tritt. Eine kleine Dose auf dem Boden und sie verlor das Gleichgewicht und fiel lautstark auf ihr Gesäß. Umgehend hörte man wie die Stühle zurück geworfen wurden und umkippten. Schiere Panik brach in ihr aus. Auf allen Vieren krabbelte sie zunächst in den Gang, richtete sich dabei auf und rannte um ihr Leben, denn hinter ihr schrie der Unbekannte aufgeregt. Der Weg wurde immer länger, die eiligen Schritte kamen immer näher und sie stolperte fast, fing sich dann. Jedoch wurde sie am Rock gepackt, woraufhin sie nach hinten gezogen wurde. Das Kleidungsstück riss, der Verfolger packte sie an den Haaren und zog sie mit Gewalt nach hinten. Ihr blieb jeglicher Ton im Halse stecken, direkt griff sie nach den Händen die sie von hinten festhielten, doch ein weiteres Paar Hände hielt sie an den Handgelenken. „Shaelyn.“, entfuhr es Alan schockiert und verblüfft. „Was?! Du kennst die Schlampe?“ Sie begann zu weinen. Einfach alles in ihr brach aus und sie versuchte sich los zu reißen und trat nach Alan, der sie von Vorne festhielt. „Lasst mich los! Ihr verdammten Drecksschweine!“, schrie sie hysterisch. „Stell sie ruhig!“ Im nächsten Moment folgte ein heftiger Schlag gegen ihren Hinterkopf und sie wurde bewusstlos. Langsam öffnete sie ihre Augen. Ein fürchterlicher Kopfschmerz betäubte sie fast, doch realisierte sie im nächsten Moment wo sie sich befand. Als sie Schreien wollte, kam nichts über ihre Lippen. Ein Knebel verhinderte jeglichen Aufschrei und als sie an sich hinunter sah, erkannte sie sofort, dass sie gefesselt an einen Stuhl war. Völlig außer sich begann sie erneut zu weinen, riss an den Handgelenken, doch nichts passierte. Dann folgte eine heftige Ohrfeige, die ausreichte um sie leicht zu Betäuben. „Sei Still, dann passiert dir auch nichts weiter,... vorerst.“, blaffte sie der Schwarzhaarige an, der sich ihr gegenüber gestellt hatte. Angsterfüllt stierte sie ihn an, dann trat jemand aus dem Schatten hervor. Alan. Er stand da. Tat nichts. „Was machen wir mit ihr?“, fragte dieser auch schon seinen Kumpanen. „Ich hab keine Ahnung! Wir können es schlecht dem Chef erzählen. Der hält uns dann für völlig Verblödete. Wir machen das selbst. Sperren wir sie erst ein.“ Shaelyn versuchte durch den Knebel zu flehen, doch alles erstickte und ihr wurde schwindelig. Der Raum drehte sich leicht, sie hatte Mühe die Augen geöffnet zu halten. „Ja, wir sollten sie erst mal hier lassen, überlegen wir uns in Ruhe was.“, schlug Alan ernst vor und trat zu Shaelyn. Grob packte er ihr kurz an ihr Kinn, hob es zu ihm hoch. „Du hättest nicht so neugierig sein sollen. Du warst echt niedlich aber wir können keine Zeugen gebrauchen. Sorry.“ Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Sie wollten sie einsperren! Danach sogar umbringen! Und sie vielleicht vorher noch quälen! Ihr Kopf explodierte fast und die Angst überwältigte sie mehr denn je. Betäubt blinzelte sie mit den Augen und ließ den Kopf hängen. „Ey', die stirbt uns ja schon so weg!“ „Ach was, red' nicht son' Scheiß. Komm ich geb' ihr was aus, dann fühlt sie sich ein bisschen besser und wehrt sich dann auch nicht so.“ „Was? Du willst für das neugierige Miststück den Stoff raushauen?“ Sie kämpfte mit sich, behielt die Augen für ein paar Momente klar. Da kam Alan auf sie zu, öffnete eine kleine Plastikpackung und hielt es ihr unter die Nase. Ehe sie ganz begriff was vorfiel riss sie ganz die Augen auf. Das Licht wurde plötzlich grell, Farben tanzten vor ihren Augen und komische Geräusche hörte sie. Doch fühlte sie sich ein wenig leichter, nein es wurde immer leichter und auch benommener. Alan band sie vom Stuhl los, zerrte sie in den Nebenraum. Das alles bekam sie nicht mit, sie war völlig benebelt. Es war offensichtlich was ihr gegeben wurde. Drogen und sie war dabei sich immer mehr im Rausch zu verlieren. Alan zerrte sie weiter durch das Gebäude, als er vor einer großen Eisentür stehen blieb, zog er diese angestrengt auf. Dahinter befand sich eine kleine Treppe abwärts. Alan band ihr die Handgelenke ordentlich zu, führte sie weiter hinunter, darauf achtend, dass sie nicht umkippte. Dann stieß er sie zu Boden und fesselte ihre Beine, zog das Seil höher und stellte so sicher, dass Handgelenke sowie Fußgelenke gespannt an einem Seil hingen. Dann verließ Alan den Raum, drückte die Tür zu und jegliche Lichtquelle wurde genommen. Kapitel 10: Enttarnung ---------------------- Schwaches Licht drang durch die Fenster ein und tauchte das Zimmer in einen rötlichen Schimmer, signalisierte somit den späten Abend. Ein junger Mann hockte auf dem Sessel in diesem Zimmer, blickte gedankenverloren auf den Laptop vor sich. Der Tag neigte sich dem Ende zu und ganz wie Ryuzaki vermutet hatte, meldete sich Shaelyn nicht. Jetzt, da sie wieder ihre Freiheit genoss, gab es auch keinen Grund für sie sich bei ihm zu melden. Auch wenn er sie darum gebeten hatte, als er sie am Morgen gehen ließ. Aber natürlich war es abzusehen, dass sie es nicht für nötig hielt und sich in der nächsten Zeit nicht sehen lassen würde. Er ließ sie gewähren, da sie sich erst einmal beruhigen sollte. Sie würde sich früh oder spät melden. Ryuzaki stellte seine leere Tasse Kaffee auf den Untersetzer und verharrte einen Moment. Seine dunklen Augen fixierten die leere Tasse vor sich, gleichzeitig legte er seinen Daumen an den Mund. Er begann wie schon oft die Lage zu analysieren um seine eigenen sinnvollen Schlüsse zu ziehen. Nachdenklich begann er an seinem Daumen zu saugen, sodass ein kaum hörbares Schmatzen entstand. Es war schlichtweg unmöglich es zu leugnen. Es beschäftigte ihn, dass sie sich von ihm abgewandt hatte. Warum genau sie dies getan hatte, wollte ihm einfach nicht schlüssig sein. Wenn sie nicht mehr für Alan Scrivers empfand, war es für ihn nicht nachvollziehbar. Hatte er sich doch täuschen lassen? Unmöglich. Oder... er wollte es nicht sehen. Die nächsten Gedanken schnitt er bewusst ab. Sie hatten nichts in seinem Kopf zu suchen und ebenso die Empfindungen, die ihn bemächtigt hatten. Er würde sachlich bleiben, ganz so wie es auch von ihm verlangt wurde. Niemals würde er auf die dumme Idee kommen, dem mehr zu zumessen. So würde es auch bleiben und er hielt an seinen Prinzipien. Doch entfuhr ihm ein kaum hörbares Grummeln. Shaelyn war ein Ärgernis. Sie brachte Unruhe in sein Leben. Das Klingeln seines Mobiltelefons riss Ryuzaki aus seinen Gedanken. Umgehend nahm er den Anruf entgegen und wie erwartet, war es Watari. Dieser erkundigte sich nach seiner Enkelin, nachdem er seine Berichte vorgelegt hatte. Der junge Mann teilte Watari alles nötige mit, verschwieg dabei gekonnt, was im Einzelnen vorgefallen war. Doch als Ryuzaki gerade auflegen wollte, bat Watari ihn noch vorsichtig um einen Gefallen. Der Schwarzhaarige stimmte dem zu, drückte den alten Herren weg und genehmigte sich erst einmal ein paar Bonbons, welche sich in einer großen Schale auf dem Tisch befanden. Ein Knacken sowie Knirschen war zu vernehmen als er auf der Süßigkeit herum kaute. Es war ein kleiner Gefallen, um den er gebeten wurde. Ryuzaki sollte kurz überprüfen ob sie schon zurück in der Wohnung war. Somit zog er den Laptop über dem Tisch näher zu sich und öffnete mit wenigen schnellen Handbewegungen ein Programm. Eine Karte erschien auf dem Bildschirm und direkt starrte er angestrengt auf den blickenden Punkt. Der Punkt wanderte, nein, er raste förmlich auf einer Straße entlang. Was sollte das? Hatte sie sich ein Taxi genommen? Allerdings, die Richtung war vollkommen verkehrt falls sie nach Hause wollte. Ryuzaki lehnte sich weiter zum Monitor vor, hatte dabei seine Augenbrauen zusammen gezogen. Da stimmte etwas nicht. Sofort öffnete er ein weiteres Programm, welches aufgezeichnet hatte, wo sie sich den Tag über aufgehalten hatte. Verständnislos öffnete er seine Lippen als er sich dann schließlich den Daumen zum Mund führte und auf diesen zu beißen begann. Das Fenster blinkte und kündete an, dass alle Daten geladen waren und sogleich weiteten sich die Augen des Schwarzhaarigen. Shaelyn hatte sich nicht an die Abmachung gehalten und war geradewegs in die Arme von Alan gelaufen. Der Punkt wanderte, ebenso seine dunklen Pupillen die diesen Fleck über die Karte verfolgten. Umgehend zog er sein Handy hervor und wählte ihre Rufnummer, während er weiter zu seinem Bildschirm sah. „Der gewählte Gesprächspartner ist momentan nicht zu erreichen. Versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.“, meldete sich gleich die automatische Frauenstimme. Verdammt! Sichtlich verärgert klappte er das Handy zu und biss weiter angestrengt auf seinen Daumennagel. Sie war nicht zu erreichen, was entweder von ihr beabsichtigt, oder gegen ihren Willen war. Plötzlich stoppte der blinkende Punkt, der ihren derzeitigen Aufenthaltsort anzeigte. Ungläubig näherte er sich dem Laptop, was unwirklich aussah, da sein Hals so weit vor schob. Eine Kläranlage. Aber was... Er stoppte. Das Handy wurde entsorgt um die Spuren zu verwischen und auch ein Aufspüren nicht möglich war. Und es war auszuschließen, dass sie dies getan hatte. Die Chance, sie hatte den Sender entdeckt war so gering, dass es schlichtweg unmöglich war und das ließ nur eins zu: Shaelyn wurde verschleppt und gefangen genommen. Diese Erkenntnis traf ihn hart. Nicht nur, dass er sie habe laufen lassen, damit zugelassen, dass sie nun in Gefahr war und somit versagt hatte. Sondern auch der Gedanke, was ihr bereits zugefügt wurde und vor allem, was gerade in diesem Moment mit ihr geschah. Shaelyn öffnete ihre Augen schwach. Schwarz. Die reine Dunkelheit umfing sie. Panik stieg auf. Alle Erinnerungen durchfluteten sie in einem Wimpernschlag. Gefangen! Sie war gefangen in irgendeinem stickigen Raum. Kein Geräusch war zu hören, nicht einmal Vogelgezwitscher. Dann kroch immer mehr der Schmerz in ihren Gelenken hinauf und ihr Kopf meldete sich überwältigend. Wo war sie? Ein Husten hallte gedämpft von den Wänden wider, denn auch hatte sie noch den Knebel in ihrem Mund. Doch war es keine gute Idee, da der Staub vom Boden aufwirbelte und für noch mehr Reiz in den Atemwegen sorgte. Shaelyn versuchte im nächsten Moment ihre Hände und Füße zu bewegen, dass allerdings nichts bewirkte. Die Fesseln saßen fest und scheuerten an ihren Hand- und Fußgelenken. Die Hilflosigkeit überfiel sie, ließen sie verzweifelt Schluchzen und hoffen, dass sie nicht bald irgendwo verscharrt lag. Wieso hatte Alan ihr das angetan? Wieso tat er einfach nichts? Warum hatte sie nur nicht Ryuzaki geglaubt?! Sie war blind in ihren Tod gerannt. Sie versuchte sich zusammen zu reißen, doch die Panik überwog. Allerdings war sie gescheit genug nicht zu Schreien. Wahrscheinlich würden sie dann nur kommen und sie vielleicht sogar schon töten, oder ganz andere Dinge mit ihr anstellen. Konnte ihr denn niemand helfen? Vielleicht Ryuzaki?! Nein... wahrscheinlich wäre er froh sie los zu sein. Sie hatte sich so ekelhaft benommen und bis ihr Großvater wieder kam, war es bestimmt schon passiert. Alleine und ohne Hoffnung, gefangen in einem Loch. Sollte sie aufgeben? Nein! Sie wollte es wenigstens versuchen. Erneut probierte sie die Fesseln zu lösen, dabei rieb das Seil nur fester an ihrer Haut, hinterließ schon blutige Schürfwunden. Die Bemühungen brachten nichts, auch nicht sich auf dem Boden fortzubewegen. Dadurch, dass sie nicht einmal ihre Beine benutzen konnte und diese fest hochgezogen wurden, war es unmöglich sich richtig zu bewegen. Alles was sie tun konnte war auf der Seite zu liegen und vielleicht auf die andere Seite drehen. Mutlos verharrte sie, ließen noch die kleinsten Hoffnungen zerspringen. Nur ein Wunder würde ihr noch helfen können. Aber was sollte schon passieren? Ihre blieb wahrscheinlich nicht einmal mehr als 24 Stunden. Oder vielleicht nur eine Einzige, denn sie wusste nicht wie lange sie dort schon lag. Nicht einmal konnte sie bestimmen welche Uhrzeit es war. Einfach nichts in diesem Raum ließ etwas durch. Dann hörte sie wie die Angeln der Türe aufquietschten und ein kleiner Lichtstrahl in den Raum drang, offensichtlich verursacht durch eine Taschenlampe. Shaelyn blinzelte einige Male und sie versuchte in ihrer Hysterie vom Boden fort zu robben. Jetzt war es soweit! Nein sie wollte nicht! Die Auswertung hatte folgendes Ergeben. Shaelyn war zu Alans Wohnung gegangen, hatte dort wohl auf diesen aufgelauert, da sie sich von der Haustür ferngehalten hatte. Sie folgte ihm quer durch die Stadt und kam schließlich zu einer geschlossenen Fabrik. Dort verweilte sie einige Zeit, bis sie dann aus dem Gebäude kam und gleich darauf wurde das Handy in den Abwasserkanal geworfen, mit wahrscheinlich all den anderen persönlichen Gegenständen. Das Bedeutete, entweder wurde sie schon in der Fabrik entdeckt, oder erst als sie wieder hinaus trat. So oder so, es stand fest, dass sie festgehalten wurde, da sie offensichtlich etwas mitgehört oder gesehen hatte, was sie nicht sollte. Jetzt musste er dies alles in die Hand nehmen. Die Polizei bräuchte zu lang und das wäre zu riskant, da die Täter sie möglicherweise vorher ausschalteten. Was sollte er tun? Watari war im Ausland und bräuchte ebenfalls zu lang. Es hing nun an ihm, ihm musste etwas Einfallen und zwar schnell, denn jede Minute zählte. Der junge Mann massierte sich seinen Nasenrücken, versuchte konzentriert nachzudenken, doch immer wieder rauschten ihm diverse Vorstellungen durch den Kopf. Szenen, die durchaus in solch einer Situation möglich waren. Bilder, die er nur zu gut von Aufzeichnungen von Fällen kannte, aufgenommen nachdem die Opfer in den Leichenhallen endeten. Es war zum Haare raufen und frustrierte ihn somit enorm. Die Objektivität war ihm genommen, das Analysieren war ihm fast nicht möglich. Klare Gedanken, die ihm sauber seine Vorgehensweise verschafften, waren nicht vorhanden. Dinge mischten sich ein, die sein Urteil trübten und beeinflussten. Mit anderen Worten. Er hatte wirkliche Angst um Shaelyn, was ihn unruhig werden ließ. Das Versagen, es nicht erkannt zu haben was sie wirklich plante, auch Watari somit enttäuscht zu haben. Eine so einfache Bitte, die er nicht halten konnte. Ein Fehler, welcher er sich niemals hätte erlauben können und welcher ihm sonst nie unterlaufen war. Er hatte die Lage falsch eingeschätzt und seine Position für einige Momente ausgeblendet, was dazu geführt hatte, dass er sie näher an sich heran kommen ließ. Unverzeihlich und dumm dazu. Denn wenn er so gehandelt hätte, wie es sonst tat, wäre diese Situation nie eingetreten. Doch nun war daran nichts zu ändern und Gedanken daran zu verschwenden war sinnlos. Er mochte sie. Sorgte sich um sie. Und es war wichtiger denn je nun in Aktion zu treten. Normal beschäftigte er sich nicht mit solch kleinen Fischen, allerdings lag nun ein persönliches Interesse darin. Folglich würde er nun einen Plan fassen sie aus den Fängen dieser Kriminellen zu befreien und ihm fiel schon gleich darauf etwas Geeignetes ein. Somit setzte er sich wieder in seinen Sessel und ließ die Finger über die Tastatur fegen. Eine kleine Absicherung, die ihm im Notfall helfen würde. Doch das sollte nicht weiter nötig sein, da er genau wusste was er nun tun und wie es ablaufen würde. Natürlich war nicht ganz abzusehen was im Genauen passieren würde, dennoch, so war er sich sicher, war das was er nun vor hatte ein voller Erfolg. Wie jedes Unterfangen. Der Schwarzhaarige erhob sich vom Sessel, blickte kurz aus dem Wohnzimmerfenster. Dunkel, es war bereits die Sonne untergegangen. Genau das war nötig für seinen folgenden Plan, der noch ein wenig Vorbereitungen bedurfte. Schließlich musste er sich Versichern, dass alles reibungslos verlief, wenn es zu einer ungeahnten Situation kommen sollte. Immerhin setzte er sein eigenes Leben aufs Spiel. Ein Spiel woraus er als Sieger hervor gehen würde. Ein Piepen war zu vernehmen und er blickte hinunter auf den kleinen Monitor. Eine Zahl war quer über dem Bildschirm zu erkennen, die jede Sekunde um eine Zahl schwächer wurde. Dann färbte sich der Monitor schwarz und nur ein weißer Buchstabe war darauf zu erkennen. Ein Buchstabe, der der Welt bekannt war und seinen Posten symbolisierte. Gefürchtet von Verbrechern, respektiert von den Staatschefs der Welt. Nur einer hatte diesen Titel inne und nur dieser war befugt alle polizeilichen Organisationen nach belieben zu steuern. L. L, wie Legende. Und genau diesen Mann hatte Alan nun zum Feind, wie auch die restlichen seiner verbrecherischen Bande. Die Gerechtigkeit würde immer siegen, so auch in diesem Fall. Dafür trug er, L, persönlich Sorge. Kapitel 11: Zu spät ------------------- „Und Bryon?“, frage Alan ruhig den Schwarzhaarigen, der den Raum wieder betrat. Dieser schwieg, setzte sich auf einen Stuhl dem Blonden gegenüber. In seinem Blick lag etwas Geheimnisvolles, was vom schwachen Licht im Raum nur weiter bestärkt wurde. „Sie ist aufgewacht.“ Ein hinterlistiges Grinsen bildete sich, woraufhin Alan aufmerksam wurde. „Aha... stell keinen Scheiß an. Das reicht schon, dass wir sie verschwinden lassen müssen.“, wandte der Blonde direkt nachdrücklich ein. Doch wie es schien war sein Partner anderer Meinung. „Na und? Spaß spricht doch nicht dagegen? Oder empfindest du doch was für die Kleine? Immerhin kennst du sie ja...“ Alan lehnte sich über dem Tisch vor, begann mit dem Zeigefinger auf diesem zu tippen. Sein Gesicht war äußerst ernst. Ihm gefiel nicht was sein Kumpel von sich gab. „Lass deine Finger von ihr. Willst du soweit sinken? Das ist echt nicht notwendig. Reiß' dich zusammen. Also was hast du solang getrieben?“ Bryon fuhr sich lässig durch seine kurzen schwarzen Haare und lehnte sich gegen die Stuhllehne. Ein Seufzen war zu vernehmen. „Beruhig' dich, Alter. Hab ihr nur den Ernst der Lage klargemacht, nicht mehr.“ „Verasch' mich nicht!“, zischte der Blonde unverzüglich verärgert und schlug mit der Faust auf den Holztisch, woraufhin die Schusswaffe auf dem Tisch sich etwas Bewegte. Sein gegenüber zuckte kurz zusammen, wusste dieser doch genau zu was Alan fähig war. „Muss ich erst selbst nachgucken gehen?“ „Du solltest dich wirklich Mal entspannen. Die ist eh morgen Geschichte. Kommts' da jetzt auf ein paar Macken mehr an? Egal was noch passiert, morgen stirbt sie. Wir sollten uns bis dahin noch ein wenig Ausruhen und ich muss noch ne' Karre besorgen, also lass uns abhauen.“ Seinen wachsamen Ohren war nichts Entgangen. So hatte er das komplette Gespräch belauscht und im Schatten, gedrückt an einer Wand, gewartet. Doch konnte er nicht umhin eine Hand zur Faust zu ballen. Shaelyn mochte noch nicht umgebracht worden sein, doch wurde ihr, so wie er den Aussagen entnehmen konnte, schon schwer Leid zugefügt. In welch einer Verfassung würde er sie auffinden? Schritte waren zu hören. Der Unentdeckte drückte sich weiter an die Wand, verhielt sich still im Dunklen. Nur seine, nun, schwarzen Augen, schimmerten kurz auf als er sich vorsichtig vor lehnte und in den Raum spähte. Die zwei Männer würden einen anderen Weg wählen, denn wo er sich befand eindeutig der Längere zu gehen war. Natürlich war dies bedacht gewesen. Es musste unauffällig passieren, da alleine ein kurzer Blick ihm verraten hatte, dass sie bewaffnet waren. Zu riskant sich auf eine Offensive einzulassen. Das schwache Licht im Raum wurde ausgeschaltet und zurück blieb die völlige Dunkelheit. Ein schwaches Pfeifen vom Wind zog durch die Gänge, verursachte eine gespenstische Atmosphäre in dieser alten heruntergekommenen Fabrik. Umgehend, nachdem die Schritte vollkommen verhallt waren, griff L in seine Hosentasche, holte eine kleine Taschenlampe heraus und knipste diese ein. Sogleich zurrte er den Rucksack um seine Schultern enger und betrat vorsichtig den kleinen Nebenraum. Viel war nicht aufzufinden, offensichtlich diente dieser Platz nur als kleine Lagebesprechung und es hätte ihn auch gewundert, wenn hier mehr zu finden gewesen wäre. Auf dem Tisch war nichts zu entdecken, doch an einem Stuhl machte der Detektiv halt, besah diesen genauer, indem er sich hin hockte. Eine kleine menge Blut klebte an einen der Stuhlbeinen und als er den Boden betrachtete fanden sich einige schwache Blutflecken. Nicht groß, vielleicht Stecknadelkopf große. Doch konnte man sich nicht sicher sein woher diese stammten, daher musste er wachsamer die Gegend absuchen. Und er fand Etwas. Eine lange schwarze Haarsträhne, welche er mit seinen Fingerkuppen vom Boden aufsammelte. Zweifellos gehörte diese Strähne Shaelyn, da keiner der Männer eine solche Haarlänge besaß. Sie war also in diesem Raum gewesen und das Blut konnte man ihr zuordnen. Als er dann die Staubspuren am Boden aufspürte, leuchtete er gezielt jenen nach. Etwas Verwischt, doch konnte man erkennen, dass sich eine Person nicht richtig auf den Beinen halten konnte, da ein Fuß wohl lahmte. Direkt folgte er der Schleifspur, die aus dem Raum führte. Allerdings bevor er den Ort verließ nahm er den Rucksack von seinen Schultern, holte etwas Kleines längliches, heraus, dass er unter dem Tisch befestigte. Gleich darauf verließ er den Ort und folgte der schwachen Staubspur aufmerksam dem Korridor entlang, darauf achtend in keine Falle zu geraten. Immer wieder machte er halt, holte erneut Etwas aus seinem Rucksack, rundlich, nicht dicker als seinen Daumen und größer als seine Handfläche, was er knapp über dem Boden an der Wand befestigte. Doch diesmal drückte er auf einen kleinen Schalter, der sich auf dem Gerät befand. Eine Absicherung, die ihm in einer Notsituation behilflich wäre. Der Gang zog sich in die Länge, ebenso die Spur, die an allen Nebenräumen vorbeiführte und immer tiefer in den Gebäudekomplex lenkte. Dann bog er in einen Raum und als er mit der Taschenlampe durch diesen leuchtete, zeigte sich an der gegenüberliegenden Wand eine große Eisentür, wovor auch die Fährte endete. Unverzüglich durchquerte er diesen Bereich zur Tür, befestigte ein letztes Mal ein kleinen Apparat an der Wand und ging anschließend zur Tür an der er zerrte. L musste viel Kraft aufwenden, weshalb er einen Fuß gegen die Wand stemmte und mit beiden Händen an diesem Zugang zog, ehe er sich öffnete. Es quietschte und die schwere Eisentür scharrte über dem Boden, was durch die Durchgänge hallte. Dann plötzlich ein Rascheln. L verharrte, sog die Luft ein. Dann schaltete er das Licht aus. Ruhe kehrte ein und nachdem sich nichts weiter meldete, knipste er die Taschenlampe erneut an und suchte mit seinen Augen den Raum ab. Eine Ratte verschwand eilig aus der Tür in den Gang, gefolgt von einer Zweiten. Es waren also nur Tiere gewesen, was ihn aufatmen ließ. Somit drehte er sich herum und zog die Türe noch ein Stück mehr auf. Als dies getan war, beleuchtete er den engen Korridor vor sich. Eine schmale Treppe die hinunter führte, die er auch gleich vorsichtig betrat. Es sah wie ein Abstellraum im Untergeschoss aus als er von der Treppe hinein blickte. L leuchtete eilig in jede Ecke. Ein paar Kartons, ein Fass, ein paar alte Dokumente... Nichts Auffälliges. Shaelyn war nicht auszumachen. Hatte er sich geirrt? Nein, die Wahrscheinlichkeit sie befände sich in diesem Raum war beträchtlich, da alleine die Spuren unverkennbar waren. Also sah er sich aufmerksamer um, da entdeckte er auch gleich auf dem Boden weitere Hinweise. Hinweise aus Blut, vermischt mit Dreck und einigen Abdrücken im Staub. Dann piepte es leise, einmal, nicht mehr und sofort holte L aus seiner Tasche ein kleines Anzeigegerät. Ein Sender an einer Wand reagierte. Dann nach kurzer Zeit der Nächste. Jemand war auf dem Weg zu ihr und nicht zuletzt auch zu ihm. Umgehend schaltete er die Taschenlampe aus, drückte sich an die nahe gelegene Wand, rutschte an dieser hinunter, sodass er mehr hockte. Dort verharrte er, bis dann schließlich Schritte zu hören waren. Er konzentrierte sich, zwang sich zur Ruhe. Nichts war nun wichtiger als nicht entdeckt zu werden. Sicherlich konnte er den Angreifer überwältigen und für kurze Zeit ausschalten, nur war es zu gefährlich. Ein Lichtstrahl zeichnete sich auf dem Boden ab, der immer mehr an Intensität zunahm, je weiter die Person hinab stieg. L rechnete sich seine Chancen aus, durchdachte mögliche Szenarien. Die Person betrat den Raum und war nicht deutlich genug zu erkennen, um bestimmen zu können um wen es sich handelte. Vielleicht war es dieser Bryon, der sich den Spaß holen wollte. Das würde L nicht dulden und den Angreifer umgehend außer Gefecht setzen. Die Person sah sich um, hielt jedoch die Taschenlampe hoch genug, dass sie ihn nicht erwischte, dennoch musste er sich weiter bücken, sodass er sich mit seinen Händen auf dem Boden abstützen musste. Somit wich er in recht unbequemer Pose dem Licht aus. Und dass dieser Raum abgesucht wurde bestätigte nur weiter, dass sich Shaelyn hier befinden müsse. Der Unbekannte schritt auf einen Karton zu, den er beleuchtete. Befand sie sich etwa in einen dieser kleinen Kartons? Diese waren nicht höher als seine Hüfte und breiter als er selbst. Seine Vermutung wurde gleich bestätigt, als der Eindringling einen öffnete und hinein sah. Kein Geräusch drang durch den Raum, war lediglich das Heulen des Windes zu vernehmen. Es schien als musterte der Unbekannte Shaelyn. Nun war es anzunehmen, dass es sich um Alan handelte. Der Andere hatte sie schließlich so zurück gelassen, musste sich somit nicht vergewissern. Dann schloss er die Kiste wieder und ging die Treppe hinauf. L atmete leise auf, war nun endlich abzusehen, dass er mit ihr verschwinden konnte. Plötzlich quietschte es laut, die schwere Eisentür wurde geschlossen und gleich darauf hörte man wie diese noch zusätzlich abgeriegelt wurde. Entsetzt starrte er in die Dunkelheit. Nun wurde ihm die Möglichkeit genommen mit ihr zu fliehen, was ihn stark beeinträchtigte. Das bedeutete, er müsse warten bis einer der Kriminellen die Tür entriegeln würde. Sehr gefährlich, doch würde er den Effekt der Überraschung gekonnt nutzen. So und nicht anders sollte es nun passieren. Allerdings richtete er sich schnell wieder auf, lief durch den Raum, ließ den Rucksack knapp vor der Kiste zu Boden fallen, holte die Lampe heraus und ging den letzten Schritt zum Karton. Sofort klappte er eine Kartonseite nach der Anderen auf und was er entdeckte, schockte ihn. „Shaelyn...“, verließ es kaum fassbar seinen Mund. Ihr Kopf, ihre Haare... alles Blutverschmiert. Ihre Haltung... völlig zusammengedrückt, zusätzlich gefesselt. Er sah ihre Beine, die an ihren Oberkörper gedrückt waren und ihren Kopf, weder lag, noch saß sie in diesem Behälter. Ein furchtbarer Anblick, den er kaum in Worte fassen konnte. Ja, er hatte schon viele grausame Dinge gesehen, doch war es bei ihr Grundverschieden. Es war nicht irgendein Fall, es war jemand mit dem er persönlich Kontakt hatte. Machte ihn somit sehr betroffen. L führte sich die Taschenlampe zum Mund, nahm sie zwischen die Zähne damit er beide Hände frei hatte. Shaelyn schien nicht bei Bewusstsein, bekam also nicht mit wie L in dem engen Karton griff und sie heraus hievte. Direkt hallte das Knacken ihrer Gelenke schwach an den Wänden wider nachdem er sie vorsichtig hoch nahm. Ebenso behutsam legte er sie auf den Boden, betrachtete sie genauer, dabei nahm er ihr gleich den Knebel ab, der durchtränkt mit Rot war. Ihre Kleidung gerissen, überall blaue Flecken, blutige Handgelenke, Schürfwunden. L beugte sich zu ihrem Gesicht hinunter, fasste an ihren Hals. Ihr Puls schlug langsam und ihre Atmung war flach, hörte sich zusätzlich schwer an. Hatte sie die Rippen gebrochen? Oder hatte es an der langen Position in der Kiste gelegen? L tastete nun langsam ihre Rippen ab. Nein, es war schon mal keine gebrochen. Schnell zog er seinen Rucksack zu sich, holte ein kleines Messer hervor und durchtrennte die Fesseln. Unachtsam wurden diese zur Seite geworfen und die Klinge wieder verstaut. Es tat ihm im Herzen weh sie so zu sehen. Ein ungewohntes Gefühl der Sorge bemächtigte sich seiner. Nicht einmal konnte er sie richtig erkennen im Gesicht, weshalb er die Lampe nahm und sie auf den Boden legte, sodass sie auf sie und ihn zeigte. L befeuchtete einen seiner Shirtärmel, wischte ihr damit sachte über die Stirn, nahm dabei viel Schmutz und Blut auf, legte ihre blasse Haut frei. Dann regte sie sich und er zog seine Hand zurück. Schwach drehte sie ihren Kopf, stöhnte schmerzverzerrt auf. „Shaelyn.“, sprach er sie leise an und sie schlug mühsam die Augen auf. Ihre grünen Irdenen fanden seine Dunklen. Ein Moment passierte nichts, sie versuchte zu realisieren, bemerkte, dass ihre Handgelenke frei waren, da sie ihre Hand schwach zu ihm ausstreckte. „... Rue?“, krächzte sie. Kurz verwundert blinzelte er. Sie hatten ihn auf seinen Vornamen angesprochen. „Ja. Wie fühlst du dich?“ Statt dass sie ihm eine Antwort gab versuchte sie sich aufzusetzen, wobei er ihr half und eine Hand auf ihren Rücken legte. Sie starrte nur. Nicht ein Ton kam ihr über die Lippen, dann zögerlich berührte sie mit ihren Fingern seine Wange. Es schien als wollte sie sich vergewissern, dass er auch tatsächlich dort war. Plötzlich verkrampfte sie sich, krümmte sich vorn über und keuchte auf. Sie musste starke Schmerzen haben. Direkt griff er zu seinem Rucksack, holte eine kleine Plastikflasche heraus, in welchem sich Wasser befand, auch nahm er eine kleine Schachtel heraus. L hatte daran gedacht. Denn war er sich sicher, dass sie nichts zu Trinken oder Essen bekam, auch dass sie wohl ein wenig Zugerichtet wurde. Somit löste er eine Schmerztablette aus der Verpackung und reichte ihr beides als sie gerade etwas aufatmete. „Hier, dann wird es dir besser gehen.“ Shaelyn griff langsam nach dem Wasser und der Tablette, was L ihr reichte. Sie warf sich die Tablette ein und trank gierig von der Flasche, die fast komplett in einem Zug leer war. Dann stellte sie die Flasche auf den Boden und holte einige Male tief Luft. Schwach drehte sie ihren Kopf zu ihm, blickte ihn einfach nur an. Langsam öffnete sie ihre aufgesprungenen Lippen, schloss sie allerdings wieder. Sie stand unter Schock, wusste nicht was sie denken oder sagen sollte. Dann still bahnte sich eine Träne ihren Weg über ihre Wange, gleich folgte schon die Zweite. „Es... tut mir leid.“, flüsterte sie kraftlos, schwankte danach leicht zur Seite. L reagierte sofort, hielt sie am Oberarm fest, dabei bemerkte er wie stark sie zitterte. Sicherlich musste sie frieren, weshalb er sie vorsichtig zu sich zog. Shaelyn leistete keinen Widerstand, sondern ließ sich ohne Protest in seine Arme ziehen. Gleich darauf spürte sie seine Hand an ihrem Kopf, die sie sachte streichelte. „Ja, schon gut.“, erwiderte er ruhig, versuchte sie zu beruhigen, was ihm etwas gelang. Sie entspannte sich, griff sein Shirt am Rücken. „Du bist gekommen...“, nuschelte sie gegen seine Brust, begann heftig zu Schluchzen. Sie weinte sich ihren Kummer aus und es hörte sich herzzerreißend an. L wusste nicht was sie durchmachen musste, würde in diesem Punkt auch nicht nachhaken, doch musste es sie sehr schwer traumatisiert haben. Und wenn sie so wenigstens ein wenig Erleichterung erfuhr, sollte sie sich ausweinen. Doch musste er ihr die Lage erklären. „Shaelyn, hör mir jetzt gut zu.“, begann er und sie wurde schlagartig still, hob ihren Kopf und sah ihm in die Augen. L erwiderte ihren direkten Blick. „Die Tür wurde verriegelt, das bedeutet wir werden diese Nacht hier verbringen müssen. Am Morgen, wenn einer der Verbrecher aufkreuzt, werden wir ihn überraschen und fliehen. Eine bestimmte Vorrichtung wird auch dafür sorgen, dass wir problemlos entkommen können. Eine kleine Absicherung die ich mir erlaubt habe und am Morgen ihren Einsatz finden wird.“ Shaelyn hörte es sich genau an, dann erschien ein schwaches Lächeln. „Du bist so schlau... du hast mich gefunden... hast die miesen Schweine ausgetrickst und für die Flucht eine Absicherung gemacht. Du bist so unglaublich, Rue.“, flüsterte sie, während sie auf seiner Schulter lehnte und ihm weiterhin in die dunklen Augen blickte. L schwieg dazu, auch, da er nicht wusste was er auf das Kompliment ihrerseits antworten sollte. Und erst recht, da sie ihn nicht los ließ, nein sie zog sogar nun die Beine an und schmiegte sich regelrecht an ihn. „Bleib bei mir,... bitte.“ Sie flehte ihn an, auch rannen die nächsten Tränen über ihre Wangen. „Ja, ich bleibe bei dir Shaelyn. Jetzt schlafe weiter, du solltest dich ausruhen.“ „Danke, Rue.... danke....“ Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen, das verriet ihr Atem an seinem Hals. Er wirkte regelmäßiger und auch war sie seit einiger Zeit still. L knipste das Licht aus, verharrte so in der Sitzposition mit Shaelyn auf seinem Schoß und in seinem Arm. Er konnte es sich nicht leisten zu schlafen. Stets wachsam achtete er auf Geräusche, besonders auf den Sender in seiner Tasche. Es blieb ruhig, nur das gespenstische Pfeifen blieb. Ja es zog tatsächlich etwas auf dem Boden, doch gab es keine andere Möglichkeit es sich bequem zu machen. Ihre Worten wiederholten sich indes in seinem Kopf. Die Komplimente, welche sie ihm zugeflüstert hatte. Der Fakt, dass sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. Ihre Entschuldigung. Wenn sie diese Flucht einmal überwunden hatten, dann würde es in Zukunft mir ihr anders verlaufen. Sie hielt ihn nun für eine andere Person, ihre Sichtweise hatte sich geändert. Er war ihr Retter. Ein seltsamer Gedanke, das musste er zugeben. Völlig neu und unerforschtes Gebiet. Vielleicht wollte sie eine Freundschaft. Was tat man dann alles Gemeinsam? Hatte er Zeit für eine Freundschaft? Oft blieb ihm etwas Zeit, da er schnell seine Arbeit erledigte, wenn es sich nicht um ein komplexeren Fall handelte, der höchstens ein bis zwei Tage in Anspruch nahm. Doch dies war die Ausnahme. Allerdings wenn er seine Freizeit mir ihr verbrachte, konnte das schlimme Folgen haben. Sie war schon mehr an ihn heran getreten, als sie es dürfte. Shaelyn zeigte ihm, dass er nicht immun gegenüber solchen Empfindungen war. Die junge Frau in seinen Armen regte sich leicht, reckte den Kopf schwach hoch und berührte mit ihrer Nase seinen Hals. Eine Geste die ihn etwas Verkrampfen ließ, allerdings neigte er sein Haupt zu ihrem, drückte somit schwach mit seinem an dem ihrem. „Rue... ?“, hörte er unerwartet an seinem Ohr. Der junge Mann zögerte, öffnete dann doch seinen Mund: „Ja?“ „Wenn du mich hier herausgeholt hast, dann darfst du dir alles von mir Wünschen was du willst.“ „Ist das nicht eine ziemlich leichtfertige Aussage?“, hakte er nach und er hörte wie sie kurz die Luft ausstieß, was sich wie ein kleines Lachen angehört hatte. „Stimmt. Du bist doch ein Perversling...“ L musste grinsen, welches sie durch die Dunkelheit nicht erkennen konnte. Ja, das hatte sie schon einmal erwähnt. Und es war gut zu hören, dass er sie ablenken konnte. „Rue... wieso sagst du nichts? Heckst du was aus? Oder … grinst du?“ „Es ist nichts.“ „Du Lügner!“ Direkt hob sie ihre Hand und tastete zu seinem Mund. Ihre Finger waren kühl als er spürte wie sie diese über seine Lippen gleiten ließ. „Du grinst!“ „Oh, stimmt.“ Seine Stimme hatte einen unschuldigen Ton, als sei es ihm gerade erst aufgefallen. Dann löste einen Arm um ihren Rücken, woraufhin er ihre Hand mit der seinen sachte ergriff, zog so ihre Finger von seiner Unterlippe. „Ich mag dich.“, flüsterte sie plötzlich leicht verlegen und er erstarrte. Mit diesen Worten hätte er nicht gerechnet, was ihn verblüffte. Auch hörte er solch eine Bekundung zum ersten Mal. Und etwas Seltsames regte sich in ihm. So fühlte es sich also an, wenn einem geschmeichelt wurde. Aufrichtig und seiner Person betreffend. „Ich weiß, dass du eigentlich ein netter Kerl bist... das was ich zu dir gesagt hatte, tut mir auch sehr leid. Du bist zwar echt ein komischer Typ, der mich schnell aufregt... aber kannst du mich auch genauso gut zum Lachen bringen.“ Damit spielte sie nun gezielt auf diese Situation an, was ihm natürlich nicht entging. „Ich bin froh, dass du hier bist. Das macht mich wirklich glücklich.“, fügte sie leise an. Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Dass sie diese Worte aussprach erfreute ihn. „Ich hatte schon fast alle Hoffnungen aufgegeben. Und... und... als dieser eine Typ kam...“ Shaelyn kam ins Stocken, kämpfte mit sich. L fühlte ihre extreme körperliche Anspannung, auch drückte sie nun stark seine Hand. „Du musst mir nichts erzählen, Shaelyn.“ Eine Antwort blieb aus, hörte nur wie sie versuchte gegen die Tränen anzukämpfen. „Wie fühlst du dich?“ „Gerade... geht es. Hab' keine Schmerzen, dank der Tablette.“ „Das ist gut. Möchtest du vielleicht noch etwas Trinken?“ „Nein... ich möchte nur noch Zuhause sein und mich in mein Bett legen.“, verließ es erschöpft ihren Mund. „Verstehe.“ „Danke...“ L wandte seinen Kopf zu ihr, sodass er leicht den ihren berührte. Erneut bedankte sie sich bei ihm. Weshalb? Dass er bei ihr war? Dass er keine unangenehmen Fragen stellte? „Wofür?“, wollte er schließlich wissen und sie legte einen Arm um seinen Nacken. „Dass du mich nicht hasst.“ Warum sollte er sie hassen? „Hass führt nur zu Leid, Shaelyn. Man sollte verzeihen können, das würde auch einige Probleme der Menschheit lösen. Kriege entstehen durch Hass und unschuldige Menschen müssen sterben. Verbrechen werden durch Hass begangen, machen selbst die friedlichsten Menschen zu Mördern.“, sprach er ruhig, dennoch ernst. „... Eine gute Einstellung, Rue.“, murmelte sie. Wusste sie nur zu gut, dass sie ihm diese Verachtung entgegen gebracht hatte. Hatte ihm entgegen geschrieen, dass sie ihn hasste. Das alles nur wegen diesem Arschloch Alan, dabei hatte sie Rue doch gemocht gehabt. „Du warst in Alan verliebt, richtig?“ Überrascht über diese Frage japste sie kurz nach Luft, vergrub ihr Gesicht in sein Shirt. „Ja...“, räumte sie ein, was er schwer verstehen konnte da sie in sein Shirt wisperte. „Deswegen hast du mich gehasst, weil ich Alan beschuldigt habe. Du hast gedacht, dass ich grundlos dir den Umgang verbiete, vielleicht aus reinem Spaß, oder Eifersucht.“, begann er schlusszufolgern und sie nickte nur gegen seine Schulter. Sie bestätigte es ihm also. Ja, das hatte er sich bereits gedacht, anders wäre es auch nicht logisch nachzuvollziehen. „Ich weiß, ich bin dumm.“, nuschelte sie mutlos. „Nein, Shaelyn. Kein Mensch ist dumm, bis auf die Menschen die durch eine angeborene Krankheit nicht zu mehr Leistung fähig sind. Dein Gehirn kann viel mehr speichern als du es dir vorstellen kannst, du nutzt es nur nicht richtig. Selbstverständlich gibt es auch welche, die von Geburt an einen schnellen Verstand besitzen, was das Lernen erleichtert und es in wenigen Schritten schon völlig angeeignet ist. Was deine Sichtweise betrifft. Ja, sie ist beschränkt, allerdings lassen sich diese Dinge problemlos korrigieren. Nehmen wir diese Situation. Du hast dazu gelernt, was dich in Zukunft auf einige Dinge achten lässt.“, erklärte er monoton. Shaelyn hörte ihm aufmerksam zu, doch wurde es immer schwerer seinen Worten richtig zu folgen. Seine dunkle ruhige Stimme ließ sie entspannen, auch seine Nähe und somit Sicherheit die er ihr gab, war beruhigend. Und obwohl sie erst vor wenigen Minuten aufgewacht war, fühlte sie sich wieder schlapp. So abgekämpft, dass sie einfach einschlief. „Shaelyn?“, fragte er nachdem er bemerkte wie ihr Griff um den Hals lockerer wurde und auch wie ihr Gewicht nun wieder stärker gegen ihn drückte. Der regelmäßige Atem schlug gegen seine Haut, signalisierte ihm, dass sie erneut in einen Schlaf fiel. Das Erste was er tun würde, wenn er von diesem Ort mit ihr entkam war, dass er ein Krankenhaus aufsuchte. Shaelyn musste versorgt und durch gecheckt werden. Sie bewegte sich etwas, rückte enger auf und murmelte unverständliches. L hielt sie weiter in seinen Armen, aus einem bestimmten Grund, da sie sich alleine so nicht halten konnte und somit nach hinten kippen würde. Es war noch immer ungewohnt, da ihm Nähe schlichtweg nicht bekannt war. Doch sie brauchte Hilfe, die er ihr nicht verwehren wollte. Alleine da sie leicht fror war die Körperwärme am Besten und brachte die nötige Unterstützung. L lehnte seinen Kopf auf den ihren, dabei nahm er ganz schwach einen Geruch auf. Einen, der ihm nur zu Bekannt war. Vanille. Wenigstens das war noch geblieben, weshalb er die Gelegenheit nutzte und den Duft in sich aufnahm. Wie gerne er nun ein Vanilletörtchen hätte... Ein Piepen ließ ihn aufschrecken, kurz darauf ein Weiteres. L schlug die Augen auf und es war wie erwartet komplette Finsternis. Doch wirkte er kurz desorientiert. Er war kurzzeitig eingenickt. Eine erschreckende Feststellung. Was wäre, wenn er nicht rechtzeitig wach geworden wäre? Doch darum sollte er sich nun keine Gedanken mehr machen. „Shaelyn.“, weckte er sie vorsichtig, rüttelte leicht an ihrem Rücken. Verschlafen gab sie ein Geräusch von sich. „Es ist soweit.“, flüsterte er und sie saß direkt gerade auf seinem Schoß. „Hör mir gut zu. Du wirst dich ruhig verhalten, halte dich an der Wand nahe der Treppe. Wenn ich dir zurufe, kommst du sofort um die Ecke und rennst mit mir die Stufen hinauf.“ „Ja. Alles klar.“, kam es aufgeregt von ihr und sie probierte aufzustehen. Recht wacklig fand sie schließlich Halt. L hatte währenddessen mehr Probleme. Die ganze Nacht über hatte sie auf seinem Schoß gesessen und sich nicht bewegt. Seine Gelenke gaben ungesunde Laute von sich als er sich halb aufrichtete, auch zog es schmerzhaft in den Beinen. Das allerdings ignorierte er, packte sich die Taschenlampe, schaltete diese ein. Sofort leuchtete er auf die Stelle neben der Treppe, wohin Shaelyn sich auf den Weg machte. Indes packte er die Trinkflasche in den Rucksack, ebenso die Seile, da er nichts zurück lassen durfte was auffällig war. Nachdem er zu ihr sah, war sie schon an ihrer Position, somit schulterte er sich den Rucksack um und ging zu seiner Position, ebenfalls nahe der Treppe. L schaltete die Lampe aus und holte noch einmal kurz Luft. Die Spannung stieg. Mit jedem Moment mehr spannte sich der Detektiv an, versuchte sich zu sammeln ehe er seinen Angriff starten würde. Konzentration war ein hohes Gebot und es musste beim ersten Mal klappen. Daher ging er auf Nummer sicher und holte sich ein etwas längeres Stück Seil aus dem Rucksack, spannte es einmal stark um zu testen, dass es nicht riss. Dann wurde die Tür entriegelt, Licht fiel in den Raum, erhellte den Gang und ein wenig den Raum. Zeigte somit auch, dass die Sonne aufgegangen war. Schritte schallte an den Wänden wider und das Adrenalin rauschte durch seine Adern. Jemand setzte einen Fuß in den Raum, knipste seine Taschenlampe ein. L konnte Alan deutlich erkennen, schnell machte er sich einen Überblick ob er bewaffnet war. Doch nichts befand sich in seiner Hand, noch an seinem Gürtel, auch zeichnete sich nichts unter der Kleidung ab. Alan ging langsam Richtung Karton und der Detektiv löste sich lautlos von der Wand, schritt hinter den Ahnungslosen. Langsam hob er seine Arme, fixierte mit seinen dunklen Augen Alans Kopf. Dann in einem Mal schnellten seine Hände vor und warf ihm den Strick um den Hals. Erschrocken keuchte der Blonde auf und L zog die Schlinge fest. Alan ließ die Lampe fallen, ging in die Knie, röchelte und zerrte an dem Seil. Da hörte der Schwarzhaarige Shaelyn erschrocken auf keuchen, unterließ jedoch das Strangulieren nicht. Schließlich wurden die Arme von Alan schlaff und L unterband sofort das Würgen. Dumpf fiel Alan zu Boden, direkt fühlte L dessen Puls. Er war bewusstlos, genauso wie der Detektiv es vorgesehen hatte. Nun musste es schnell gehen. Alan würde nicht lange in diesem Zustand bleiben. „Jetzt, Shaelyn!“, rief er durch den Raum. Genau aufs Wort trat sie aus dem Dunkeln, nahm so schnell sie konnte die ersten Treppen. L wühlte während er zu den Stufen eilte in seinem Rucksack, holte zwei kleine Gasmasken heraus. Nachdem er sie eingeholt hatte, reichte er ihr eine. Verwirrt nahm sie die Maske an. „Zieh sie auf, schnell.“ L machte es ihr vor und zog sich die Maske über, packte dann auch schon Shaelyns Hand, lief mit ihr die letzten Stufen hinauf. Oben angekommen war niemand in Sicht, doch reagierte der Sender abermals mit einem Piepen. L kramte diesen hervor, erkannte, dass der Nächste gerade um diese Ecke biegen musste. Da war auch schon ein Schatten im Gang zu erkennen. Ein rascher Blick zu Shaelyn, damit er sichergehen konnte. Ihre Maske saß und direkt drückte er auf einen blauen Knopf an dem Sender. Ein Zischen war zu hören, kurz darauf strömte weißer Rauch aus den Vorrichtungen, lösten ein ganzes Netz aus. „Ey! Scheiße! Was ist... das – denn...“, rief Bryon verwirrt aus und hustete stark. Alles war in kompletten Nebel gehüllt, man sah fast die Hand vor Augen nicht, weshalb er sie noch immer an der Hand hielt. Augenblicklich setzte er sich in Bewegung, zog sie mit sich, zielsicher in den Gang, wo das Husten von Bryon nur lauter wurde. L achtete auf den Sender, so ergaben auf dem Display die ganzen Apparate einen Weg, löste selbst jeden aus, so dass er sich sicher sein konnte, wo er sich befand. Die Rufe vom Komplizen hallten durch den Korridor, dann hörte man schwach eine weitere Stimme. Alan. Er war wieder bei Sinnen. „Ich... ich kann nicht mehr...“, gab Shaelyn kraftlos von sich, atmete schwer und die Maske beschlug schon. Sofort hielt L an, ging knapp vor ihr in die Hocke, sodass sie ihn sehen konnte. Seine Haltung machte klar, dass sie auf seinen Rücken steigen sollte, was sie umgehend tat. „Hier, halte den Sender so dass ich ihn sehen kann.“ Sie tat wie er befahl, nahm das Gerät in die Hand, hielt sich mit einer Hand an seiner Schulter fest und mit der Anderen wies sie ihm mit dem Display den Weg, den er umgehend fortsetzte, mit ihr auf dem Rücken. Auch konnte er nun erkennen, dass Alan sowie Bryon die Verfolgung aufnahmen, doch dank des Rauches die Orientierung verloren. Nur L wusste den korrekten und direkten Weg, dennoch war die Gefahr nicht gebannt. Dann endlich lichtete sich der Rauch und er trat aus der weißen Wand hervor. Licht blendete ihn kurz, welches durch das teilweise zerstörte Fensterglas schien. L zog seine Gasmaske ab, woraufhin auch sie ihre löste und einfach zu Boden fallen ließ. Vorsichtig stellte er sie auf die Beine, ging zum Fenster und schlug eine Seite mit seinem Ellbogen ein, Glas zersprang und schnitt ihm leicht ins Fleisch. Sofort winkte er sie zu sich, entfernte noch die Reste an dem Fensterrahmen mit der Maske indem er darüber rieb, ließ dann auch diese achtlos fallen. Shaelyn trat unsicher zu ihm, doch packte er sie schon an den Seiten und hievte sie auf die Fensterbank. Schnell kletterte sie durch das Fenster, was auch er direkt tat als sie hindurch war. Die frische Luft am Morgen war recht kühl, weshalb sie begann zu frieren. Doch gab es nichts Schöneres als den Wind zu fühlen. Die Freiheit war zum Greifen nahe. L sprang von dem Fenstersims, steckte sich den Sender wieder ein und sah sich kurz um. Sie waren auf dem Vorhof, weiter hinten entdeckte er ein Auto. Die perfekte Möglichkeit um sicher zu entkommen. Somit packte er sich nochmals Shaelyns Hand, lief eilig mit ihr zum Auto. Nachdem er mit ihr vor dem Wagen halt machte, besah er sich das Gefährt genauer. Eines der älteren Modelle, somit nicht sonderlich gesichert. L testete aus ob es geöffnet war und tatsächlich, das war es. Shaelyn schnaufte laut. Alles drehte sich, taumelte etwas. „Geht es?“, wollte der Detektiv direkt wissen als er merkte wie sie begann zu Schwanken. „Ja...ja...“ Sie stützte sich am Türrahmen ab, ließ sich mehr in den Beifahrersitz fallen. Schon schloss er die Türe, machte sich daran zur Fahrertür zu laufen. Diese klemmte etwas, weshalb er mehr Kraft aufwenden musste und sie schließlich nachgab. L suchte nach dem Schlüssel, fand diesen nicht, entschied sich unverzüglich dazu den Wagen kurzzuschließen. Dementsprechend riss er unter dem Lenker die Verkleidung leicht ab, suchte nach den passenden Kabeln. Unterdessen biss sich Shaelyn auf die Unterlippe. Die Schmerzen kehrten zurück, ließen sie im Sitz unruhig hin und her rutschen. Der Schwindel nahm zu, ebenso die Übelkeit. „Hier geblieben!“, schrie eine aufgebrachte Stimme, die über dem Platz hallte. Verängstigt starrte sie aus dem Beifahrerfenster. Die Angst erfasste sie völlig. Dieser Schwarzhaarige... und er kam auf sie zugelaufen, griff in seine Jackentasche. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, zog eine Pistole heraus und hob seine Hand an. „Rue! Rue!!“ Panik überfiel sie, starrte auf den Lauf der Waffe, während sie mit einer Hand an der Schulter von L rüttelte. Da sprang das Auto an, sofort schaltete der Detektiv in den richtigen Gang und drückte aufs Gaspedal. Und während der Wagen mit quietschenden Reifen anfuhr ertönten Schüsse. Glas zersplitterte, Shaelyn schrie auf und L riss beinah den Lenker um. Schmerzverzerrt starrte er kurz auf seinen Arm. Eine Kugel hatte ihn gestreift und sein Seitenfenster zerstört. Geradewegs schlitterte er über dem Asphalt über dem Hof, direkt auf den Ausgang zu, doch versperrte ein Maschendrahtzaun die Durchfahrt. „Du solltest dich festhalten. Das kö-“ L stockte, starrte auf Shaelyn, die schon den Sitz mit ihrem Blut benetzte und selbst ab der Schulter komplett damit eingedeckt war. Sie war besinnungslos, verlor immer mehr Blut. Doch konnte er nun nicht anhalten, sie waren noch nicht außer Reichweite. L durchbrach das Tor, hielt sie dabei am Oberarm fest, da sie durchgeschüttelt wurden. Und sobald er weit genug entfernt war, legte er fast eine Vollbremsung hin, kam somit geräuschvoll zum Stehen. Umgehend wandte er sich zu ihr, lehnte sich über dem Sitz zu ihr. Sie war an der Schulter getroffen, ohne lange zu Zögern zerriss er den Ärmel seines Shirts, versuchte die Wunde ab zubinden. Da fiel ein Blutstropfen auf seine Hand, verwundert woher dieser stammte, blickte er auf. Entsetzt starrte er auf ihre Wange, hinauf zu ihren geschlossenen Augen. Die rote Flüssigkeit floss aus ihren Augenwinkeln. Fassungslos über diesen Umstand stierte er auf ihre geschlossenen Augen. Er musste ein Krankenhaus aufsuchen! Umgehend setzte er sich zurück und machte sich auf den schnellsten Weg zu einem Krankenhaus, ignorierte dabei fast alle Verkehrsregeln. Es war ein Notfall, somit er nahm sich jegliches Recht dazu so zu handeln. „Watari.“ Der junge Mann erhob sich aus einem Stuhl im Krankenhausflur, nahe dem Klinikeingang. Der ältere Herr wirkte angespannt, zog seinen Hut vom Haupt und blieb schließlich vor dem Detektiven stehen. „Gut, dass sie so schnell gekommen sind.“, sprach L ernst und steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Wie geht es ihr?“ Voller Sorge blickte er den jungen Mann an, legte dabei seine Stirn in Falten. „Den Umständen entsprechend.“, grummelte der Detektiv, blickte kurz zur Seite und holte eine Hand aus seiner Hosentasche hervor, nur um dann umgehend auf seinen Daumen zu Beißen. Die Ärzte hatten ihm nichts Genaues genannt da er kein Mitglied der Familie war. Selbst nach den vielen Stunden die er im Krankenhaus verbracht hatte. „Wo befindet sie sich?“ „Noch auf der Intensivstation.“ Watari entgleisten die Gesichtszüge, gewann dann wieder an Fassung und räusperte sich. „Wie geht es Ihnen?“, fragte nun sein Vertrauter, woraufhin der junge Mann nur leicht den Kopf schüttelte. „Es geht mir gut.“ Zumindest traf dies etwas auf seinen körperlichen Zustand zu. So zierte lediglich ein Verband seinen Arm, dort wo ihn die Kugel gestreift hatte. Jedoch konnte man schnell den Eindruck gewinnen, er habe sich mehr verletzt. L hatte sich nicht umgezogen, stand also mit zerrissener Kleidung dort, die Blutverschmiert war. „Gut, wenn Sie mich dann Entschuldigen. Ich werde nach ihr sehen.“ „Ja,... tun Sie das.“ Schon verließ Watari ihn, blickte ihm nach wie dieser den nächsten Aufzug nahm. L hatte sich daraufhin ebenfalls zur Intensivstation begeben, jedoch musste er vor dem Eingang warten. Und das tat er, warten, sichtlich ungeduldig, dabei kaute er an seinen Daumennagel, an welchem schon längst nichts mehr über stand. Auch stand er im Gang. Er konnte nicht mehr sitzen, hatte ohnehin schon viele Stunden so ausgeharrt. Seine Verletzung war nicht weiter relevant, die ihn leicht schmerzte, doch wurde sie direkt in den OP gebracht. Sechs Stunden dauerte es, doch waren es gefühlte 20. Und das Einzige was der Arzt ihm mitteilte war, dass es kompliziert verlaufen wäre, sie nun jedoch stabil wäre, sie aber nicht exakt sagen konnten was es für Folgen hatte. Außerdem hatte sie viel Blut verloren, wäre sogar daran verstorben wenn er die Wunde nicht abgebunden hätte. Doch mehr sagte der Arzt nicht, nur, dass sie nun im künstlichen Koma lag. Es war also anzunehmen, dass noch viel mehr als die Schusswunde den Ärzten zu denken gab. Da war Watari auf dem Flur, hinter dem Zugang, zu entdecken als dieser aus einen der Zimmer trat. Sein Kopf war gesenkt, hinter ihm kam ein Mann in einem weißen Kittel zum Vorschein, schloss die Türe. Es wurden ein paar Worte gewechselt und sein Vertrauter trat aus dem abgesperrten Bereich. „Sagen Sie, wie ist die Diagnose.“, drängte er direkt den alten Herren. Dieser befreite seine Kehle, ehe er sich an L wandte „Die Kugel wurde erfolgreich aus ihrer Schulter entfernt, es wird nur eine kleine Narbe zurück bleiben. Weiter hat sie einige Rippen geprellt und hat eine Gehirnerschütterung. Schnittwunden wurden versorgt. … Zusätzlich litt sie an einer schwachen inneren Blutung. Allerdings...“ Watari schnitt ab und L horchte auf. „Die Glassplitter haben ihre Hornhaut zerstört. Shaelyn hat ihr Sehvermögen verloren.“ Blind... sie war erblindet. Ihr ganzes Leben würde ab diesem Zeitpunkt verändert sein. Eine niederdrückende Erkenntnis. ~~~ Achtung! Ich möchte noch etwas Wichtiges an meine Leser Bekanntgeben. Da ich mich wirklich sehr über eure Kommentare und Favoriten gefreut habe, habe ich extra zu dieser Story ein Fanart gezeichnet! Ich hoffe, ich kann euch damit erfreuen und vielleicht trösten ;) LG Kapitel 12: Angst ----------------- „Herr Wammy. Wir sind ratlos.“, begann der zuständige Arzt entmutigt, blickte den alten Mann vor sich sorgsam an und richtete seine Brille, die kurz das Licht der Lampen im Krankenhausflur reflektierte. „Seitdem ihre Enkelin aufgewacht ist und über ihren Zustand benachrichtigt wurde, sagte sie nicht ein Wort. Ich fürchte, Sie müssen sie in eine psychologische Behandlung geben.“ Überrascht hob Watari eine Augenbraue. Er war so schnell hergefahren wie es ihm möglich war, nachdem er den Anruf vom Arzt bekam sie sei aus ihrem sechstägigen Koma erwacht, doch hatte es noch immer einen Tag gedauert, da er in einer anderen Stadt tätig gewesen war. Denn selbstverständlich ging er trotz dessen seiner Beschäftigung nach. „Ihre Angstzustände machen uns sorgen, sie kommt meist nicht unter der Bettdecke hervor und verkrampft sich, sobald man sie berührt, besonders ausgeprägt ist es, wenn es eine männliche Person ist. Sie verlässt auch das Bett nicht. Das wirkt sich stark auf ihre Genesung aus. Ihre Wunde heilt schlechter und sie nimmt keine Nahrung auf. Wenn es so weiter gehen sollte, müssen wir sie weiterhin Zwangsernähren.“ Watari nickte schwach, musste dies alles erst richtig aufnehmen. Es war eine niederschmetternde Nachricht, dennoch konnte er verstehen, dass sie unter Schock stand. Erst hatte sie ihre gesamte Familie verloren, nachdem sie dies halbwegs verarbeitet hatte, geschah das nächste Unglück. Die Folter die sie ertragen musste, dann die Diagnose, dass sie blind sei. Komplette Dunkelheit wäre ihr ständiger Begleiter, wie er es schon in der Nacht war, als sie Angst hatte. Es schmerzte dem alten Herren, auch wenn er nach außen hin gefasst und höflich schien. „Ich möchte Sie auch nicht weiter aufhalten, bitte machen Sie sich ein eigenes Bild.“ „Ja, vielen Dank.“, sagte Watari und der Arzt nickte ihm lediglich zu. Direkt setzte er den letzten Schritt auf ihre Tür zu, öffnete diese und trat ein. Und wie es der Arzt sagte, in dem Bett war nur eine Gestalt unter einer Decke auszumachen. Nicht eine Regung war zu sehen, selbst dann nicht, als Watari hinter sich die Türe schloss. „Shaelyn? Bist du wach?“, fragte er vorsichtig und trat auf ihr Bett zu. Es war wenigstens ein Gutes, dass sie in die normale Station verlegt wurde, da es zeigte, dass es sonst nichts Beunruhigendes mehr gäbe. Die Decke bewegte sich nicht, auch dann nicht, als er sich neben sie auf einen Stuhl gesetzt hatte. „Wie geht es dir?“ Watari versuchte es weiter sachte, zog leicht an der Decke. Direkt zuckte sie zusammen und riss gegen den Stoff. Sofort hielt Watari inne, sah enttäuscht auf die Stelle, an der ihr Kopf verweilen musste. „Du musst dich nicht fürchten.“ Seine warmen Worte drangen jedoch nicht zu ihr durch. Shaelyn blieb stumm, rollte sich nun unter dem Stoff zusammen, mit dem Rücken zu ihm. Der alte Herr wartete geduldig, blieb still sitzen und betrachtete die Wölbung auf dem Bett. Es war ein trauriger Anblick. Konnte man es kaum in Worte fassen, was er dachte und fühlte, wenn er so seine Enkelin sah. Sie war sonst so stark gewesen, selbst nach dem Versterben ihrer Liebsten fing sie sich. Nun war es verschieden, zu viel war passiert. Hatten die Tage ihr Leben vollkommen verändert. Man hatte ihr das Augenlicht genommen. Ihr Alltag war schlichtweg nicht mehr ohne Hilfe zu meistern. Konnte sie ihre Umgebung nur durch das Fühlen und Hören wahrnehmen. Die Farben der Welt, die für jeden Einzelnen verständlich waren, waren nur noch eine verschwommene Erinnerung. Es machte wohl für sie keinen Unterschied unter einer Decke zu sitzen, wie mit geöffneten Augen in den hellen Raum zu blicken. Beides war finster. Zusätzlich die letzten Dinge die sie sah. Ewig gebrannt in ihrem Kopf. Vieles wurde ihr in der Dunkelheit angetan und nun war sie immer darin gefangen. Watari senkte seinen Blick, wusste nicht wie er ihr helfen konnte. Auch ein Psychologe wäre nicht fähig dazu, ihr dazu zu verhelfen wieder Sehen zu können. „Ich werde dich später noch einmal besuchen, Shaelyn. Wenn du etwas brauchst, dann sag bitte Bescheid.“ Somit erhob der alte Mann sich, verließ das Einzelzimmer und atmete einmal tief durch. Solch eine Situation machte ihn sehr betroffen und gab ihm zu denken. Seine Enkelin hatte Furcht vor ihm. Wenn sie nicht einmal ihn akzeptierte, wie sah dann ihre Zukunft aus? Auch wenn die Welt verblasst war, gab es viele Dinge zu entdecken. „Watari, geht es Ihnen gut?“, war die gesenkte Stimme Ls zu hören, die von der Seite zu vernehmen war. Der Angesprochene wandte sich zu dem Detektiven um, welcher in krummer Haltung neben ihm stand, mit dem Daumen am Mund und ihn mit seinen großen Augen anstarrte. L hatte es sich nicht nehmen lassen mitzufahren, doch hatte er es nicht gewagt Shaelyn aufzusuchen, ohne, dass es vorher ihr Großvater tat. Ganz gleich ob er sich sorgte, aber er behielt Respekt dem alten Herren gegenüber, welcher nun einmal das Privileg hatte. „Ja, machen Sie sich um mich keine Sorgen.“ „Was hat der Arzt gesagt?“ „Ihre Wunde heilt schlecht, ebenso ihr gesamter Zustand.“ „Hm... verstehe...“ Der Detektiv blickte zur Seite, biss nachdenklich auf seinem Nagel. „Und weiter?“, wollte er gleich wissen. „Sie hat Angst angefasst zu werden, insbesondere wenn es sich um einen Mann handelt. Sie redet nicht, auch nicht mit mir. Sie versteckt sich unter der Bettdecke und verkrampft sich, wenn man sie von ihr ziehen will.“ Eine kurze Stille trat ein, ehe der junge Mann seinen Vertrauten erneut anblickte, dabei nahm er den Finger vom Mund. „Würden Sie mir erlauben, dass ich mein Glück versuche?“ Watari war überrascht, was man ihm gut ansehen konnte. „Haben Sie etwas Vor?“ „Könnte man so sagen, ja.“ „Seien Sie aber bitte vorsichtig.“ Mit einem: „Natürlich, Watari.“, ging der junge Mann die kurze Strecke zum Krankenzimmer. L würde sie das erste Mal seit diesem Vorfall wiedersehen und er hatte etwas Bedenken. Man konnte es nicht direkt Plan nennen, doch spekulierte er darauf, dass er sie erreichte. Möglicherweise bildete er eine Ausnahme, denn er war es, der ihr zur Hilfe kam, sie in der Finsternis nicht hatte alleine gelassen. Und es war wichtig eine Bezugsperson zu haben, auch wenn er es sein sollte und nicht ihr Großvater. Die Tür wurde langsam aufgedrückt und er lugte hinein. Ein großes Einzelzimmer offenbarte sich ihm, welches freundlich wirkte im hellen Mittagslicht, jedoch auch recht steril im Bettbereich. Und dort erkannte er schon die gehobene Decke, was deutlich etwas Verbarg. Leise schloss er die Türe, trat mit schlurfenden Schritten auf das Bett zu, blieb schließlich daneben stehen, beäugte kritisch den Umriss von ihr. Shaelyn regte sich nicht, machte den Eindruck sie schliefe. Und wenn er an die Aussage Wataris dachte, probierte er zunächst, an dem Stoff zu ziehen. Was er auch ungeniert direkt tat um die Worte zu überprüfen. Panisch griff sie fest an der Decke und L stoppte für einen Moment. „Shaelyn, du musst keine Angst haben. Ich bin es nur, Ryuzaki.“ Plötzlich erstarrte sie, was er nutzte und langsam den Überzug von ihr zog. Man konnte also nicht behaupten er hatte viel Feingefühl. Schwarze Haare kamen auf dem weißen Laken zum Vorschein, verteilten sich wirr über der Matratze. Dann drehte sie sich, sodass er in ihr Gesicht sehen konnte. Blass, viel bleicher als er selbst, war ihre Haut. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen rissig. Doch war viel mehr ihr unglücklicher Ausdruck im Gesicht für ihn wie ein Stich in der Brustgegend. L ließ von dem Stoff, der sie ab dem Oberkörper noch bedeckte. Es war als sah sie ihn an, bemühte sich ihn vorzustellen. Dann öffnete sie ihre Augen und er hielt kurz den Atem an, auch weiteten sich seine eigenen. Die tiefgrünen Irdenen waren trüb, komplett mit Grau überzogen, nichts erinnerte mehr an die alte intensive Farbe, mit der sie ihn noch vor kurzen angefunkelt hatte. Aus ihren Augenwinkeln traten Tränen hervor. Sie versuchte in sein Gesicht zu blicken. Doch stattdessen blieb es schwarz. Zaghaft hob sie einen Arm, suchte nach ihm. L verstand was sie wollte, fasste ihre Hand und trat näher zum Bett, sodass er für sie in Reichweite war. Sie zitterte, berührte mit ihren Fingerspitzen zögerlich erst seine Wange, ehe sie weiter über seine Haut strich. Forschend glitt sie über jeden Winkel seines Gesichtes, blieb schließlich an seinen rauen Lippen hängen. Ihr Mund öffnete sich, woraufhin er aufmerksam wurde. Allerdings schloss sie diesen wieder, zog ihre Hand zurück. L wollte etwas Sagen, blieb dann jedoch ebenso still. Es war die mangelnde Erfahrung in diesem Bereich, weshalb er nichts über seine Lippen brachte. Eine sehr unangenehme, da ihn ihr Schicksal nicht kalt ließ. Sie setzte sich auf, wischte ihre Haare aus dem Gesicht und blickte stumm in seine Richtung. Ihre Augen drückten Leere aus, konnten keinen Punkt fixieren. Dann schob sie noch einen Träger ihres Nachthemdes wieder an die richtige Stelle, wo ihm gleich auffiel, dass sie einen weißen Verband an ihrer Schulter trug. Tastend rutschte sie zum Bettrand. Schweigend betrachtete er ihre Regung, bewegte sich nicht vom Bett weg, sondern stand noch immer dicht an diesem. Ihre Hand streckte sich erneut aus als sie am Rand des Bettes angekommen war. L zuckte leicht zusammen als sie ihm am Unterbauch berührte, auch mit den Fingern über sein Shirt zur Seite fuhr, gleich nahm ihre weitere Hand, tastete zur anderen Seite. Und plötzlich umarmte sie ihn. Nein, sie klammerte sich mehr an ihn, genauso wie sie es in der einen Nacht getan hatte. Es war wie ein stummer Aufruf, dass er sie nochmals retten sollte. Und auch, dass er ihr weiterhin Schutz geben sollte. Ein Schluchzen durchbrach das Schweigen und er legte eine Hand auf ihren Kopf, versuchte sie zu beruhigen. „Du sagtest, ich darf mir von dir alles Wünschen, wenn du wieder frei bist. Ich will, dass du mit mir sprichst, Shaelyn.“, sprach er ruhig, blickte hinab auf ihrem schwarzen Haarschopf. Shaelyn schüttelte ihren Kopf an seinem Bauch, signalisierte ihm, dass sie es nicht wollte. So blieb es auch, während der ganzen Zeit die er bei ihr verweilte. Nicht einmal war ihre Stimme zu hören, ganz gleich wie viel er sie fragte, doch wenigstens wandte sie sich ihm nicht ab. Nein, sie hielt an ihm fest, so als würde ihr Leben davon abhängen. Somit hatte er sich nach einer Weile auf den Bettrand gesetzt und sich dem Los ergeben, auch wenn ihm die Nähe auf eine gewisse Weise unbehaglich war, weshalb sein Gesicht in diesem Moment Bände sprach. Seine Augenlider halb über den Augen gesenkt und sein Mund eher ein gerader Strich, was dem Ganzen einen genervten Eindruck vermittelte. Allerdings ließ er es sich gefallen, da sie offensichtlich zu sonst keinem Vertrauen fasste. Vielleicht konnte er ihr Leben so etwas leichter Gestalten, wenn auch nicht immer. Ihre Zeit bei ihm war begrenzt, daher sollte sie lernen auf eigenen Beinen zu stehen, wenn auch langsam. Er wäre lediglich eine Hilfestellung, so sollte es auch bleiben. Denn L war an seiner Arbeit gebunden, was er ernst nahm und auch sie konnte daran nichts ändern. Die Zimmertür klackte und alleine diese Tatsache ließ sie zusammenschrecken, was ihn nicht zuletzt ebenfalls kurz verspannte, da sie in seinen Rücken ihre Fingernägel verkrallte. Shaelyn rutschte auf dem Bett zurück, versteckte sich hinter seinem Rücken, ließ ihn dabei jedoch nicht los. Dieser besah den eben eingetretenen Gast, welcher sich als Krankenschwester herausstellte. Erst war Verwunderung in ihrem Gesicht zu erkennen, dann lächelte sie freundlich, trat näher an das Bett heran. Die Schritte hallten durch das Zimmer, was Shaelyn weiter verkrampfte und sie begann zu zittern, auch duckte sie sich mehr. Es war als würde der Henker sie holen kommen und sie suchte Sicherheit bei ihm. „Miss Suzuki, wie geht es Ihnen?“, fragte gleich die Krankenschwester nett. L starrte indes die Frau nur an, hatte dabei seinen Daumen am Mund gelegt. Konnte die Schwester denn nicht sehen, dass es unpässlich war und sie ihr angst einjagte? „Sie machen sich die Mühe umsonst. Shaelyn spricht nicht und wie Sie sehen, hat sie angst vor Ihnen.“, mischte sich der Schwarzhaarige monoton ein und heimste sich daraufhin einen kurzen bösen Blick der Schwester ein. „Sind sie der Freund von ihr?“ L öffnete für einen winzigen Moment weiter seine Augen, ehe er wieder äußerlich ausdruckslos erschien. Natürlich war er nicht ihr Freund, allerdings musste das Bild etwas Anderes aussagen. Was er sich schon eingestehen musste. „Nein,... ich würde sagen, ein guter Bekannter.“ „Dann verlassen Sie jetzt bitte das Krankenzimmer. Die Patientin muss untersucht werden.“ Kaum hatte die Frau dies ausgesprochen, krallte sich Shaelyn erneut leicht schmerzhaft in seinen Rücken und zog an seinem Shirt. Eine eindeutige Reaktion, was ihn kurz ins Stocken brachte als er den Mund schon geöffnet hatte. Abwartend blickte die Krankenschwester ihn an, doch nahmen die Falten auf ihrer Stirn zu. Dann seufzte der Detektiv auf. Es war nicht ratsam sich den Anweisungen zu widersetzen, denn konnte sie ihn sehr wohl aus dem Zimmer schicken. L drehte sich mit dem Oberkörper etwas zu der verschreckten Person hinter sich. „Lass bitte los, Shaelyn.“ Entschieden schüttelte sie ihren Kopf, rieb dabei ihre Stirn an seinem Rücken. „Wenn du dich untersuchen lässt, dann komme ich später nochmal vorbei.“ Er musste ein Kompromiss finden, mit dem er sie beruhigen konnte und nach einer kleinen Stille, ließ ihr Griff lockerer. Sie wollte also, dass er sie weiterhin besuchen kam, was ihm nur weiter bewies wie sehr sie von diesem Zeitpunkt an, an ihm hängen würde. Ein leises Klopfen an der Wohnzimmertür ließ den Detektiv von seinem Kaffee aufsehen, den er zuvor genüsslich getrunken hatte. „Ryuzaki?“, war die Stimme Wataris zu hören, als er die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte. „Sie können eintreten, Watari. Shaelyn schläft.“ Sofort betrat der ältere Herr das Wohnzimmer, besah seine Enkelin, welche auf dem Sofa lag und vom Abendlicht erhellt wurde. Es war nun schon vier Tage her, seitdem sie entlassen wurde und noch immer sprach sie nicht. Doch viel schlimmer war, dass sie Angst vor ihrem Großvater hatte. Die Bemühungen ihr die Furcht vor ihm zu nehmen waren groß, was auch schon leicht Früchte getragen hatte. Watari konnte durch das Zimmer gehen, ohne dafür verantwortlich zu sein, dass sie gleich wieder an dem jungen Mann hing. L empfand es auch als eine Wohltat, wenn er Luft zum Atmen hatte. Hieße, wenn sie mal nicht im wahrsten Sinne des Wortes an ihm klebte. Allerdings blieb sie immer in seiner Nähe und es schien so als würde sie immer zuhören, wenn er etwas auf seinem Laptop eintippte, oder nur wenn er aß oder trank. Was allerdings etwas seine Arbeit einschränkte, da er nicht direkt mit seinem Vertrauten sprechen konnte. War dies nur möglich wenn sie schlief oder über Textzuschriften. Man hatte sich schnell darauf geeinigt und man war sich sicher, dass es auch bald eine Zeit geben würde, an dem alles wieder beim Alten war. Zumindest was die Arbeit anbelangte. „Haben Sie Fortschritte gemacht?“, fragte gleich der alte Mann und trat neben dem Sessel, worauf es sich L bequem gemacht hatte. „... Bedingt... würde ich sagen.“, kam die nachdenkliche Antwort Ls, als dieser wieder an seinem Kaffee nippte und vor sich blickte. Die Tasse war schnell geleert und klirrend auf dem Untersetzer abgestellt, als der Detektiv fortfuhr: „Es ist nicht leicht sie zum Reden zu bringen.“ Er begann auf seinem Daumen zu kauen und kratzte sich mit seiner freien Hand am Kopf. Die Suche nach einer Lösung für dieses Problem bereitete ihm bereits Kopfschmerzen, weshalb er langsam am Ende seiner Ideen angekommen war. So weckte nichts Interesse bei ihr. Kein Bezug zu irgendetwas. Watari bemerkte die Ratlosigkeit und auch den Frust des Schwarzhaarigen. Er gab sich wirklich Mühe, was ihn sehr erfreute und es erfüllte ihn mit Respekt, dass L sich um seine Enkelin kümmerte. So wollte der Detektiv ihm nicht nur weiterhelfen, sondern war er auch an ihrer Gesundheit bedacht. Er wusste, dass nur L helfen konnte. Denn nur zu ihm hatte sie eine Bindung. „Besuchen Sie doch mit ihr einen Park. Sie geht gern Spazieren.“, wandte Watari ein und sofort blickten ihn zwei überraschte große Augen an. „Meinen Sie das ernst?“ „Natürlich. Langsam beginnt der Frühling. Es wird wärmer und die Blumen tragen Knospen.“ L verstand nicht den Sinn dieser Aktion. Shaelyn sah nichts, konnte man sie also schlecht dafür begeistern. Außerdem hatte sie noch immer Furcht vor anderen Menschen, war der Park also ein denkbar schlechter Ort. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.“ „Ich weiß, dass Sie das schaffen. Es wird ihr helfen.“ Eine Falte zwischen den Augenbrauen war nun bei dem Detektiven zu erkennen, die immer tiefer wurde. „Watari, das -.“ Eine Bewegung in den Augenwinkeln ließ den Schwarzhaarigen inne halten. Shaelyn regte sich, zog die Decke mehr zum Kopf und gähnte müde. Als sie dann die Luft mehr einzog, kam ihm die zündende Idee. Direkt hob L seinen Finger und grinste, erfreut über seinen Gedankenblitz. „Ich habs'.“, rief er gleich aus und der alte Mann sah ihn erwartungsvoll an. „Ich schicke Ihnen jetzt eine Liste, bitte besorgen Sie die nötigen Sachen.“ Dem wurde sofort zugestimmt, auch wenn Watari nicht wusste worum es sich handelte. Aber er vertraute dem genialen Kopf und wenn dieser eine Idee hatte, die offensichtlich wie eine Erleuchtung war, dann konnte man große Hoffnungen hegen. Auch tippte L schnell die benötigten Dinge in die Liste ein, die er Watari zusendete. „Ich denke, ich bin der Lösung nahe...“ Zweifellos hatte ihn der Eifer erfasst. So schnell gab er nicht auf und griff in die Schale mit Süßes. Eine etwas andere Herausforderung. „Ah, Watari!“ Jener war gerade dabei das Wohnzimmer zu verlassen, stoppte jedoch als ihm nachgerufen wurde. „Bringen Sie doch bitte diese leckeren Weingummis mit, die sie letztens in diesem kleinen Laden entdeckt hatten.“ Unterdessen war Shaelyn längst wieder eingeschlafen. Und als Watari wenig später die Auflistung sah, war das Erstaunen nicht zu übersehen. Kapitel 13: Die Farbe Rot ------------------------- Watari war rechtzeitig fertig geworden mit der Liste. Diese Läden schlossen schon sehr früh, weshalb er Mühe hatte, alles zu besorgen am frühen Abend. Ihm war mittlerweile klar was L vorhatte und es war ein guter Einfall. Shaelyn musste man nun an Dinge heran führen, die sie in der Form nie wirklich so wahrgenommen hatte. Das Sehvermögen bildete das Wichtigste im Leben, doch täuschte es einen ebenso gut. Ihre Wahrnehmung beschränkte sich nun auf das Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken. Ihr Sinne dafür mussten entdeckt werden. Diese Maßnahme wäre früher oder später notwendig gewesen, jedoch eher Schritt für Schritt. Nun an diesem Punkt angekommen, wohl die einzige Möglichkeit, oder ein weiterer Fehlschlag. L hatte viele Dinge ausprobiert. Das wiederholte Nachfragen, gezielte Momente in denen Worte nötig gewesen wären. Doch jedes Mal blockte sie ab, suchte die Nähe vom Detektiven auf. Sie für nichts zu begeistern. Watari war ihr nicht böse, wusste er, dass sie einen schweren Schock davon getragen hatte. Ihr Leben war nun einmal, besonders zu beginn, nicht alleine zu meistern. Oft stieß sie sich, stolperte über ihre Füße oder fand etwas nicht. Manchmal war sie regelrecht panisch wie sie versuchte das gewünschte Objekt zu finden. Direkt bahnten sich Tränen über ihre Wangen, da sie verzweifelt suchte und es dann einfach nicht fand. Die Hilflosigkeit überfiel einen, wenn man sah, wie sie sich abmühte. Auch war es in diesem Zustand nicht mehr möglich die Schule zu besuchen, weshalb Watari natürlich bereits Shaelyn abgemeldet hatte. Nun lag es an ihr, wann sie bereit dazu war, einen Kurs für Blinde zu belegen. Und es war zusätzlich bitter, da sie den Abschluss nicht erreicht hatte. Leider bestand auch keine Hoffnung darauf, dass sie je einen normalen Abschluss erreichen würde. Dennoch. Watari war guter Dinge, ihm ließ die Hoffnung nicht los und gerade das ermutigte ihn weiter. Er setzte sich selbstverständlich für seine Familie ein und diese stellte Shaelyn dar. Alleine die Tatsache, dass er sie zu sich holte und sich persönlich um sie kümmerte, zeigte eine große Aufopferung. Natürlich hätte er es auch nie tun können, wenn L dem nicht zugestimmt hätte. Die Gefahr war nach wie vor da, ganz gleich wie gering die Chance war, dass jemand davon Wind bekam. Dafür sorgte der Detektiv und auch er, dass alles Verdeckt blieb und ohne Aufsehen von statten ging. Jetzt war sie zudem noch blind und brauchte dringend Hilfe. Sie fort zu schicken wäre unmöglich. Es benötigte viel Mühe und Zeit, die er nicht immer hatte. So tat er alles in seiner Macht, was auch für ihn teilweise sehr ermüdend war. Dies bemerkte L und sorgte sich um seinen Vertrauten. Watari sollte auch einmal ein wenig Zeit für sich nehmen und zur Ruhe kommen, der Detektiv würde Verständnis haben. Watari lehnte pflichtbewusst ab, erledigte seine Aufgaben weiter und kümmerte sich so gut es ihm möglich war um seine Enkelin. Man konnte es engstirnig nennen, doch seine Prioritäten waren klar. Es raschelte, wie jemand, der ein Bonbon aus seiner Verpackung holte. Das war das Erste was Shaelyn hörte, als sie aus ihrem Schlaf dämmerte. Dieses Geräusch war ihr mehr als bekannt und es zeigte, dass sie nicht alleine war. Es beruhigte sie, weshalb sie in ihrer Position liegen blieb. Die Decke war weich und kitzelte sie leicht an der Nase, da sie diese so hoch gezogen hatte. Sie fror oft, was an einer für sie unverständlichen Kälte lag. Ohne Licht fühlte sich vieles kühl an. Wie in einer stockfinsteren Nacht im Winter. Es war ihre Einbildung die ihr dies vorgaukelte, daher fühlte sie so. Sie wusste, dass sie nicht alleine war und doch empfand sie so. Und noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt. Würde sie das je? Die einzigen Gedanken die sie hatte, drehten sich um ihren Zustand, was sie alles nicht tun konnte und die letzten Minuten bevor es für immer schwarz wurde. Der Mut hatte sie verlassen. Ebenso die Hoffnung und die Angst wuchs. Wenn in den drei Monaten schon so viel passiert war, was war dann mit der Zukunft? Konnte es noch schlimmer kommen? Würden die Menschen, die mit ihr zu tun hatten, auch nur noch vom Pech verfolgt? Shaelyn lebte nur vor sich her, hatte kein Interesse an der Welt, die vorher so bunt war. Hatte sie nicht alles richtig geschätzt, das wusste sie jetzt. Es war selbstverständlich gewesen zu sehen. Jetzt, nachdem all die Farben verschwunden und nur eine Erinnerung waren, trauerte sie dem hinterher. Das scheinbar natürlichste eines Menschen. Einfach die Fähigkeit Objekte mit dem Auge zu erfassen. Die Schönheit der banalsten Dinge. Wie sich die Sonne langsam über dem Meer hervorhob und sich im Wasser spiegelte. Ein Sonnenaufgang. Der Beginn eines neuen Tages. Symbolisch ein Neuanfang. Das Leben hatte seinen Rhythmus, fing alles an zu leben, wenn die Sonne ihre Strahlen über das Land schickte. War es Nacht, so schlief alles und es war still. Unendliche Stille, selbst auf den Straßen. Nur der kühle Wind pfiff. Genauso fühlte sie und es würde immer Nacht bleiben. Verloren in der Dunkelheit. Es war ihr auch gleich, ob die Gedanken, die sie hegte, nur aus Trauer und Furcht bestanden. Sie hatte das Recht dazu traurig zu sein. Und die Angst vor anderen Menschen konnte sie nicht ablegen, da sie Panik davor hatte noch mehr Schaden anzurichten. Einzig Rue war für sie etwas Anderes und hatte einen festen Platz in ihrer Gedankenwelt. Auch das nagte stark an ihr. Er hatte ihr geholfen, ihre Hoffnungen aufleben lassen. Gerade diesem Menschen hatte sie so viel Unrecht getan. All die Wochen, seit ihrem Zusammentreffen mit ihrem Großvater ließ sie Revue passieren. Shaelyn setzte sich auf, schlug die Decke zur Seite und stand vorsichtig auf. Es war schwer für sie die Orientierung zu behalten, was man ihr deutlich ansehen konnte. So beobachtete der junge Mann sie still, bereit dazu einzugreifen, bevor sie sich wieder den Kopf anschlug. Sie musste etwas wollen, denn für gewöhnlich verblieb sie auf ihrem Platz auf dem Sofa. Ihrem nun mehr Stammplatz, da sie selten, sein eigentliches, Schlafzimmer nutzte. Das stellte keine Probleme dar, dass sie im Schlafzimmer nächtigte, da er selbst schließlich fast nie in einem Bett schlief. Würde er es aber tun, wäre sie wahrscheinlich nicht weit. Es demonstrierte ihm, wie sehr sie ihm vertraute. Nicht einen Zweifel hegte sie mehr ihm gegenüber. Wenn man es mit der vorherigen Situation verglich, ein gewaltiger Unterschied. Der nur nützlich war, auch mit ein paar kleinen Unannehmlichkeiten, mit denen er jedoch gut auskam. Mittlerweile. „Shaelyn, kann ich dir behilflich sein?“, sprach er sie direkt an, als sie sich wieder an der Wand entlang tastete, ganz in Richtung Flur. Wie vermutet blieb eine Antwort aus, doch stoppte sie und es sah ganz so aus als hörte sie genau hin, währenddessen fuhr sie weiterhin mit den Händen an der Wand entlang. Seine schwarzen Pupillen weiteten sich etwas, nachdem sie versehentlich das Licht im Raum ausschaltete, da sie den Schalter erwischte. Nun konnte er sie nur schemenhaft erkennen und kniff daher die Augen etwas zusammen. Schließlich seufzte er auf, weil sie begann zu schluchzen. Sie fing immer an zu weinen, wenn sie etwas falsches, oder nicht beabsichtigtes tat. Und es war reichlich egal, ob es so etwas schlichtes wie das Ausschalten des Lichts war. „Beruhige dich. Das ist nicht weiter tragisch. Schalte es doch einfach wieder an.“ Seine Stimme hatte einen gewissen Unterton. Shaelyn hatte es schwer, aber es war doch noch nicht lange ein Grund für so etwas direkt zu weinen. Ehe das Licht erneut den Raum erhellen konnte, klackte es im Flur, was Watari ankündigte. Augenblicklich schreckte die Schwarzhaarige auf und sie ging auf allen Vieren auf dem Boden, worüber sie sich vorsichtig voran tastete. Mehr oder Minder in seine Richtung. Shaelyn müsste nur ein Wort sagen und er würde ihr helfen, da sie jedoch nicht dazu bereit war, unterließ er es, besah lieber die ganze Szene mit einem kritischen Blick. Im Flur wurde es hell und erleuchtete schwach das Wohnzimmer, da die Türe offen stand. Somit konnte L genau sehen, wie sie über dem Teppich zu ihm gekrabbelt kam, schien sich aber Uneins zu sein, ob sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Als sie dann allerdings drohte sich an der Tischkante zu stoßen, stellte er sich mit einem Bein auf den Boden, lehnte sich vor, während er seinen Arm ausstreckte und legte seine Hand auf ihren Kopf. Sie erstarrte in ihrer Bewegung und blickte automatisch zu ihm hoch, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. „Ryuzaki. Ich habe die...“ Watari stoppte, nachdem er das Wohnzimmer betrat, stellte erst einmal die Lampe an und besah die Situation. Der Angesprochene starrte daraufhin sofort zu seinem Vertrauten, zog währenddessen seine Hand zurück. „Ich habe die benötigten Dinge alle besorgen können.“, beendete Watari mit einem milden Lächeln. „Wunderbar.“, kam es sofort zurück und gleich wandte er seinem Blick wieder kurz Shaelyn zu, welche regelrecht zur Statue versteinert war und noch immer am Boden verweilte. „Bringen Sie alles rein und legen Sie es auf den Tisch.“ L lehnte sich wieder auf seinem Sessel zurück, dabei nahm er aus den Augenwinkeln wahr, wie Shaelyn sich regte. Nun würde sich zeigen ob seine Idee zu etwas zu gebrauchen war. Aber er war ganz zuversichtlich. Als Watari alles nötige in den Raum trug, hatte sie sich schon bei dem jungen Mann buchstäblich um den Hals geworfen und kauerte hinter ihm auf dem Sessel. Nichts Neues, wenn sie nicht orten konnte was die ganzen Geräusche bedeuteten. Der Detektiv hatte sich damit abgefunden als Schild zu dienen. Denn genau danach sah es aus. Sie versteckte sich hinter ihm, zog dabei an seinem Shirt. Und je mehr es raschelte, knisterte und die Schritte durch den Raum hallten, umso kleiner machte sie sich hinter ihm. L hockte jedoch weiterhin unbekümmert auf dem Möbelstück, knabberte an seinem Daumen und beobachtete Watari, wie er alles hinein trug und auf den Esstisch bereit stellte. Indessen legte der Schwarzhaarige sich seinen Plan zurecht, strich dabei nachdenklich über seine Unterlippe. „Es liegt alles bereit, ich werde Sie dann alleine lassen.“, riss es L aus seinen Gedanken und er stierte den alten Mann daraufhin an. „... Ja, haben Sie vielen Dank.“ Und gleich darauf war er wieder mit ihr allein und nur das leise Geräusch des Laptoplüfters war zu hören. Nach einer Ewigkeit, wie es schien, erhob sich L einfach und sie kippte fast vornüber und gluckste überrascht auf. In einer normalen Situation hätte sie ihn wohl nun wieder angebrüllt, doch blieb es still. Nicht, dass er es unbedingt provozieren wollte, dass sie sich beschwerte... obwohl. Wer wusste schon genau was seine Absichten waren. Denn das fragte sich Shaelyn. Natürlich war ihr aufgefallen was er alles versuchte. Allerdings wollte sie einfach nicht mehr sprechen, hatte zusätzlich Angst falsches zu tun. Konnte man sie denn nicht verstehen? Furcht beherrschte sie. Shaelyn hatte das Gefühl nur alles zu verschlimmern, wenn sie wieder sprach. Es knisterte und raschelte, was sie verwirrte. Das Geräusch war ihr unbekannt und sie versuchte es einzuordnen. Eine Plastiktüte, aus der man den Einkauf räumte? Nein, es klang ganz nach Papier. Und die Frage kam auf, was denn nun bereit gestellt war. Ein erneuter Versuch sie zum Reden zu bringen? Es wurde still im Raum und sie bekam leicht Panik. Konnte sie nicht ausmachen was es war und wo Rue war. Sie tappte bekanntlich ins Dunkeln. Plötzlich schreckte sie hoch und drückte sich in den Sessel. Da hatte sie etwas Kühles an der Nase berührt. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust - saß der Schock tief. Was war das gewesen? Und Rue hatte noch immer nichts gesagt. War er das gewesen? Wer sollte es sonst gewesen sein. Sie war alleine mit ihm. Dann nahm sie einen Duft wahr. Es roch schwach nach Pfefferminz. Shaelyn zögerte, doch der Geruch nahm stark zu. Ja, es war Pfefferminz. Langsam hob sie ihre rechte Hand. „Nicht anfassen. Nur Riechen.“, war es urplötzlich zu hören und sie hielt inne, senkte die Hand wieder. Jetzt wusste sie schon einmal, dass Rue da war. Und er probierte etwas Neues. Etwas, was sie nun doch ein wenig neugierig stimmte. Denn je mehr Zeit verging, wurde sie unruhiger, begann zu zittern. Rue sagte ihr nicht was es war. Rein gar nichts kam von ihm. Zaghaft lehnte sie sich vor, roch stark das Pfefferminz. Sehr angenehm, weshalb sie aus Reflex die Augen schloss und den Duft weiter einsog. Dann war der Geruch weg und sie zog die Augenbrauen zusammen, offensichtlich gefiel ihr der Umstand nicht. Fragte sie sich gleichzeitig was das sollte. Zuckte sie unerwartet zusammen, da er ihre Hand von ihrem Schoß nahm und sie hochzog, sodass er sie vom Sessel zerrte. Beinahe stolperte sie, als sie die Füße auf den Boden setzte, weil alles viel zu schnell ging. Rue ließ von ihr ab, nachdem sie stand und sie war unsicher was sie tun sollte. „Setz dich doch.“ Direkt kam sie seinen ruhigen Worten nach und machte es sich auf dem Teppichboden bequem. Nervös begann sie an ihren Fingern zu spielen, presste die Lippen aufeinander. Shaelyn blieb hartnäckig, obwohl sie zu gern gewusst hätte, was er plante. Ob er es ihr überhaupt sagen würde, wenn sie nachfragte? Das alles schien ihr irgendwie verrückt. Wie Rue selbst eben war. „Folgende Spielregeln.“, fing er etwas nachdenklich an, woraufhin sie aufmerksam zuhörte. „Du fasst nichts an, außer ich erlaube es dir.“ Shaelyn nickte schwach. Weshalb sie dies alles mitmachte war offensichtlich: Neugierde. „Wenn du mir verrätst wie es riecht, sage ich dir was es ist. Tja, ansonsten bleibt das mein kleines Geheimnis. Das ist schon alles.“ Sein Tonfall bekam ihr gar nicht. Etwas überheblich, als sei ihm der Sieg sicher. Was dachte er eigentlich? War es ihm so wichtig, dass sie jetzt reden würde? Aber sie traute sich einfach nicht. Ihre Gedanken wurden abgeschnitten, da schon der nächste Atemzug einen weiteren Duft in sich trug. Verwirrt zog sie die Augenbrauen zusammen. Hielt er ihr eine Zitrone unter die Nase...? Nein. Es war ein leichter Hauch, eher angenehm als zu stark. Dennoch sagte sie nichts, behielt ihre Erkenntnis für sich. Um was es sich aber genau handelte, konnte sie nicht ausmachen. Noch nicht, denn plötzlich roch es nach... Frühling. Ein zarter Duft erfüllte ihre Nase und sie seufzte kurz. Frühling. Ein Park. Blumen. Shaelyn stockte. Das war es! Es mussten Blumen sein! Als dann Yasmin Aroma intensiv wahrzunehmen war, hatte sie keinen Zweifel. Streckte Rue ihr also Blumen entgegen? Oder war es einfach nur ein kleines Säckchen, gefüllt mit diesen Gerüchen? Das konnte nicht sein. War es doch kühl an ihrer Nase gewesen. Lagen also verteilt im Raum Blumen? Es musste ein buntes Bild abgeben, welches sie nur zu gern gesehen hätte... Shaelyn ließ ihren Kopf hängen, kämpfte mit sich, um nicht erneut zu weinen. Ls Plan schien nicht sonderlich aufzugehen, mehr ging er nach hinten los. Frustriert verzog er seinen Mund, senkte seine Hand und legte die Blume nieder. Es war aussichtslos, zumindest für diesen Zeitpunkt. Vielleicht würde sie schlichtweg nur Zeit benötigen. Zeit, welche ihm nicht blieb. Er konnte sie nicht für immer an seiner Seite haben. Von Beginn an war es ein bestimmter Zeitrahmen. Nun war alles anders verlaufen. Sie bewegte sich urplötzlich, lehnte sich vor und wollte ihre Hände auf dem weichen Boden abstützen. „Vorsicht!“, rief er erschrocken aus, doch schrie sie schon im nächsten Moment kurz auf. Natürlich hatte sie nicht sehen können was vor und neben ihr lag. Etwas Blut tropfte auf den Fußboden, hinterließen Flecken im Teppichboden. Sie hielt ihre Hand hoch, sammelten sich schon Tränen in ihren Augenwinkeln. L schob den kleinen Weg frei und griff nach ihrer Hand. Geradewegs hatte sie ihre Hand in die Dornen einer Rose gedrückt. L besah sich die kleinen Stichwunden, welche nicht sehr tief schien, dennoch schwach bluteten. „Warum... machst du das?“, war ihre zerbrechliche Stimme leise zu hören und er hob unvermittelt seinen Kopf, starrte in ihr trauriges Gesicht, sah die salzigen Spuren auf ihrer Wange. Zu lange hatte er keine Laute mehr von ihr gehört, sodass ihm nur mehr auffiel wie brüchig sie klang. „Ich helfe dir.“, antwortete er nüchtern, obwohl es ihm im Moment erfreute, dass sie tatsächlich gesprochen hatte, merkte man ihm dies überhaupt nicht an. Auch wenn sein Triumph so nicht beabsichtigt war, hatte er dennoch Erfolg. Und alleine das zählte für ihn. Shaelyn zog ihre Hand ruckartig aus den seinen. „Mir kann niemand helfen! Für immer werde ich nichts sehen! Alles verschwommene Erinnerungen, genau wie meine Familie!“, schrie sie verzweifelt und ließ ihren Gefühlen und Gedanken freien Lauf. L zuckte merklich zusammen bei ihrer heftigen Reaktion. Nun, sie hatte ihre Stimme wenigstens wieder gefunden. „Keiner kann mir mein altes Leben zurückgeben... Weißt du überhaupt wie schwer es für mich ist?! Ich kann fast nichts alleine. Bin ständig auf Hilfe angewiesen! Ich will das nicht! Warum lässt du mich nicht einfach so sein wie ich jetzt bin?! Mir wurde so viel genommen und ich habe Angst was Morgen passiert... was habe ich schon für eine schöne Zukunft!“ Sie weinte einfach nur noch, vergrub ihr Gesicht in ihre Hände, vergaß die kleinen Wunden an ihrer Hand. Augenblicklich wurde es ruhig im Raum. Kalte Finger berührten ihre Handrücken, gleich auch zog er vorsichtig ihre Hände von ihrem Gesicht, hielt diese fest. Es beruhigte sie, denn es war eine angenehme Kälte, weil sie spüren konnte, dass er da war. Sie lauschte in die Stille, erwartete seine tiefe Stimme. Stellte sich seine Augen vor, wie diese sie anstarren mussten. Dann, urplötzlich musste sie glucksen, kicherte für einen winzigen Moment. Pandaaugen. Groß, rund und dunkel. Die jedoch einen solchen Abgrund darstellten und schier ohne Emotion waren, dass es sie wieder zum Schweigen brachte. Dennoch wollte sie gerne diesem Blick begegnen. „Was ist?“ Es war etwas Verwirrung heraus zu hören. Langsam zog sie eine Hand aus der seinen, streckte sie ihm entgegen, traf mit ihrer Fingerspitze auf seine Nasenspitze. Rue zuckte nicht zurück, war er längst daran gewöhnt, dass sie ihn berührte, weshalb er entspannt blieb. „Ich musste nur ...“ Sicherlich würde er es falsch auffassen, wenn sie jetzt sagte, dass es wegen seinem Aussehen gewesen war. „an etwas seltsames Denken.“ Offensichtlich gab er sich damit zufrieden, weshalb es ruhig blieb. Seltsamerweise zog er seine andere Hand nicht zurück, was ihr stark zu denken gab. Es war als würde er auf seine Weise etwas sagen. Nur verstand sie leider nicht was er ausdrücken wollte. Vielleicht war es auch keine besondere Geste. „Rue?“ Ihre Stimme war ein kleiner Hauch, welcher ihr sanft über die Lippen kam. „Hm?“, folgte es prompt sehr nachdenklich, so als zerbrach er sich über eine Sache stark den Kopf. Augenblicklich stellte sich ihr die Frage, was ihn nun so beschäftigte. Da fiel ihr auf wie wenig sie sich bisher Gedanken über so etwas gemacht hatte. Gab es denn nur einen Augenblick indem sie ihn gefragt hatte was er dachte? Was er wollte? Das alles kam ihr plötzlich absurd vor. Es hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt wenig gekümmert, nicht einmal kam dieser Gedanke auf. „Es tut mir... leid.“, räumte sie nun schüchtern ein, ließ von seiner Wange ab. „Was tut dir leid?“ War er etwa überrascht? Es klang ganz danach. „I-Ich habe nicht einmal richtig an dich gedacht.“ Stockend kamen ihr die Worte über die Lippen, bemerkte man deutlich die Befangenheit. „Warte! Lass mich ausreden!“, rief sie aus, als sie schön hörte, wie er Luft holte um wahrscheinlich die nächste Frage zu stellen. „Wie soll ich es sagen... Ganz am Anfang als ich dich kennenlernte, da habe ich wirklich Horrorvorstellungen gehabt. Das war eine ganze Zeit so, dann habe ich dich besser kennen gelernt. Du warst dann ganz okay, aber ich hatte trotzdem noch einige Zweifel an dir. Was ich eigentlich sagen will. Meine ganzen Zweifel waren totaler Schwachsinn, die gesamte Zeit über. Du hast mir so furchtbar doll geholfen... und ich habe dich nur auf dein Aussehen reduziert. Klar, du bist wirklich schwer zu verstehen, treibst mich zum Wahnsinn und ich weiß nicht wieso du so wenig Gefühle zeigst, aber ich freue mich jetzt sehr darüber, dass du da bist. Egal welche Hintergedanken du dir jetzt machst, was du als nächstes planst um mich verrückt zu machen, werde ich ab jetzt mein Bestes geben um dir den Umgang mit mir zu erleichtern. Ich hab' dich wirklich sehr gern und ich habe das Gefühl, dass es mir leichter bei dir erscheint. Wahrscheinlich weil du mir eben so viel geholfen hast. Und ich deswegen eben auch so an dir hänge. Aber... aber...“ Erneut bahnten sich Tränen ihren Weg und ihre Sprache versagte stockend, doch fand sie ihre Stimme wieder, sprach nun all das aus was sie belastete. „... ich habe Angst, dass alle Menschen die mit mir zu tun haben was Schlimmes passiert! Deswegen habe ich nicht gesprochen! Ich will das nicht... Ich habe Angst davor, dass dir wegen mir vielleicht auch schreckliches zustößt! Rue, hörst du?! Du bist mir furchtbar wichtig geworden! Ich mache mir Gedanken wie du darüber denkst, mich vielleicht nicht magst, weil ich so bescheuert bin. Ständig hatten wir uns gestritten, ich habe dir Vorwürfe gemacht und das nur weil ich nicht meinen Mund gehalten habe. Lass mich bitte nicht alleine und ... und ich würde dich unheimlich gern noch einmal sehen.“ Ihr Atem hastete, das Herz hörte nicht auf schier wie wild zu klopfen. Shaelyn war aufgeregt, hatte sich alles von der Seele geredet und ihren Gegenüber damit praktisch erschlagen. Aber sie wollte, dass er wusste was er ihr bedeutete. Das sich alles verändert hatte. Schon seit Rue sie gerettet hatte, war ihr Bild von ihm was vollkommen anderes. Ein besonderer Bezug verband sie nun mit ihm. Er war für sie mehr als nur ein guter Freund geworden. „...“ L stand etwas der Mund offen, versuchte die eben gesagten Informationen zu verarbeiten und richtig einzuordnen. Da spürte er einen leichten Druck an seiner Hand, was ihn aus seiner Starre riss. Erschrocken zog er sie zurück, hielt sie sich mit der Anderen, starrte in das nun verschreckte Gesicht von Shaelyn. „Rue? Alles okay?!“, war es zu hören, wich er umgehend zurück als sie nach ihm greifen wollte, krabbelte zur Seite, sodass sie aus der Reichweite war. Auf allen Vieren verweilte er auf dem Boden, wie eine Katze auf der Lauer, hatte die Augen weit aufgerissen und fixierte mit diesen Shaelyn. Es hatte ihn tatsächlich völlig aus der Fassung gebracht. Verstand er nicht recht was sie alles genau ausdrückte, hinterfragte ihre Worte, fand keinen eindeutigen Schluss. Und er wusste nicht darauf richtig zu reagieren. Nicht all ihre Worte hinterließen Fragen, es war der letzte Abschnitt, der ebenso ehrlich gesprochen war, wie all das was sie gesagt hatte. Es gab einen Grund weshalb er nun wie ein verschrecktes Tier wirkte: Die Furcht vor sich selbst. Das, was in einem Moment ihrer Worte geschehen war. Wie ein Auslöser, der so viele Schalter umklappte, dass es ihn überrollte. L hatte nur eine Schwäche - er selbst. Seine Menschlichkeit, welche er gut verschloss, genau aus diesen Gründen. Er war schon nachlässig mit sich umgegangen, hatte er zugelassen, dass er sie mochte. Oder konnte man so etwas überhaupt aufhalten? Seine Reaktion war eindeutig und für wohl einige recht überzogen, wusste er nur nicht was er darauf exakt antworten oder wie er agieren sollte. „Dir ist klar, was du eben gesagt hast?“ L harkte nachdrücklich nach, war seine Äußere Maske nicht von der sonstigen zu unterscheiden. Innerlich war es jedoch das genaue Gegenteil. „Habe ich was Falsches gesagt? Tut mir leid! … Genau deswegen wollte ich auch nicht sprechen.“, nuschelte sie zuletzt traurig, wischte sich die frischen Tränen von den Wangen. „Ich muss nachdenken.“, verließ es sachlich seinen Mund. „Bitte geh nicht!“, warf sie sofort ein. „... Du bist für mich wie ein Bruder! Was ist daran falsch?“ Abrupt stoppte der Detektiv in seinen komplexen Gedankengängen. Bruder. Dieses Wort wiederholte sich unzählige Male in seinem Kopf. Das war die Lösung. So einfach. Eindeutig hatte er zu weit gedacht. Es war erleichternd, zugleich schmerzvoll. Er war von sich selbst getäuscht worden. Da steckte Ironie dahinter. Auch wenn er selbst nicht viel davon verstand und der Humor nicht sonderlich ein Teil seines Ichs war. Aber er hatte es geschafft sich selbst nicht nur ständig zu belügen, sondern auch sich jetzt darüber auszulassen wie weit seine Gedanken vor reichten. Er hatte wichtige Dinge nicht durchdacht. Nein ihm war nicht dieser Gedanke gekommen. Tiefe Freundschaft. War es nicht das, was man zuerst vermuten würde? Und er hatte sich an eine ganz andere Version festgebissen. Irgendwie ... belustigend. Ganz klar trockener Humor. Es war an der Zeit sich einer Selbstanalyse zu unterziehen. Aber schon jetzt dämmerte es ihm, was ihm ganz und gar nicht bekam. „... Bist du noch da, Rue?“ „Nein.“ Shaelyn zog ihre Augenbrauen zusammen, was ihr einen verwirrten Ausdruck verlieh. „Sollte das witzig sein?“ „... Ein Versuch war es wert.“, sprach er trocken, woraufhin sie schmunzeln musste. Kein Wunder, bei diesem kläglichen Versuch. „Du bist nicht besonders begabt darin spaßig zu sein, Rue...“ „Ich weiß.“, erhielt sie die knappe Antwort. „Darf ich dich etwas fragen?“, kam es zögerlich von ihr, nach einer kleinen Stille. „Nur zu.“ „Naja es ist etwas persönliches...“, fügte sie an und wartete auf seine Worte. Jedoch kehrte Ruhe ein, was sie als ein stilles Ja erachtete. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“ Überrascht über diese seltsame Frage, kräuselte sich seine Stirn. „Hm...“ L legte seinen Daumen gewohnheitsmäßig an seinen Mund, grübelte er über diese Frage, begab er sich auch wieder in seiner typischen Sitzposition. „Warum willst du das wissen?“, stellte er stattdessen die Gegenfrage, blickte dabei wieder zu ihr hinüber. „Ich möchte gerne mehr von dir wissen. Du erzählst nichts von dir und ich frage dich auch nicht nach deinem Namen, oder deinem Alter, sondern etwas ganz harmloses, oder? Das darf ich doch, oder?“ Er schien sich seine Antwort genau zu überlegen, ehe er sprach: „... Einverstanden. Ich schätze ... weiß.“ Immerhin hatte er sich nie Gedanken um solche Dinge gemacht. War es auch nie von Belang gewesen. „Weiß... das ist eine schöne Farbe. Licht... Vollkommenheit und Reinheit.“ Shaelyn kicherte daraufhin leicht, zog die Beine an ihren Körper und legte ihren Kopf auf ihre Knie. „Das passt nicht zu dir, Rue. Hätte Grau eingeschätzt. Sachlich eben...“ „Kann ich aus deinen Schlussfolgerungen entnehmen, dass du dich mit Farben auseinander gesetzt hast?“, folgte es ein wenig interessiert. „Ja... Ich hatte mal als kleines Mädchen ein Bilderbuch bekommen. Ganz viele bunte Farben und zu jeder Farbe stand ein Wort darunter. Dann hatte ich Mum gefragt, wieso da so was steht und sie hatte mir gesagt, dass jede Farbe eine Bedeutung in sich trägt. Fand' ich wirklich toll, weshalb ich später danach geschaut habe. … Welche Farbe hat die Rose? Es war doch eine... die mich gestochen hat?“ Einen Moment brauchte es, ehe der Schwarzhaarige antwortete: „Rot.“ „Rot ... gibst du sie mir bitte?“ L setzte sich ihr wieder gegenüber, durchsuchte zu seiner Seite den bunten Blumenhaufen, ehe er die gewünschte Blume herauszog und ihr dann auch schon reichte. So nah, dass er ihr diese unter die Nase hielt. Der unvergleichliche Duft breitete sich aus, weshalb sie nur noch mehr die Luft einzog. Vorsichtig nahm sie L die Rose ab, berührte dabei seine Hand flüchtig. „ Mut. Stärke. Leidenschaft. Liebe... aber nur die rote Rose bedeutet Liebe. Meine Lieblingsfarbe... und auch Blume.“ Sie lächelte schwach, hielt sich weiter die Blume unter die Nase. L blickte Shaelyn an, sah wie sie genüsslich den Duft in sich aufnahm. Das seichte Lächeln auf den Lippen. Die entspannte Körperhaltung. Für diesen Augenblick schien sie alles zu vergessen. So etwas Simples erfreute sie, das man ihr ganz offen ansah. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass in Zukunft alles besser verlief. Das Klingeln eines Handys riss beide aus ihrer Trance. Direkt holte L das Mobiltelefon aus seiner Hosentasche und nahm den Anruf entgegen. Und kurze Momente später weiteten sich die Augen Ls, er begann unverzüglich auf seinem Daumen zu kauen. Wenige Worte waren gewechselt worden, ehe der Detektiv auflegte und sich auf seinen Zügen ein kleines Lächeln bildete. „Gute Neuigkeiten, Shaelyn.“ Hellhörig geworden spitzte sie die Ohren. „Watari wurde soeben vom Klinikleiter kontaktiert...“, begann er und ihre Spannung stieg ins Unermessliche, da er das Wort ‚Klinikleiter’ erwähnt hatte. „Es bestünde die Möglichkeit einer Transplantation.“ Auf der Stelle hielt sie den Atem an, ließ die Rose zu Boden fallen. „Ich könnte wieder sehen?“, kam es ihr zittrig über die Lippen. „Ja, allerdings - “ Shaelyn achtete gar nicht mehr auf seine weiteren Worte, sprang fast aus der Sitzposition nach vorn und fiel ihm euphorisch um den Hals, dabei riss sie ihn zu Boden und drückte ihren Kopf gegen seine Brust. „Das ist ja unglaublich!“, rief sie überglücklich aus, rieb ihre Wange an seinem Oberkörper. Dann jedoch spürte sie wie verkrampft Rue war. „Was ist los, Rue? Alles in Ordnung?“ „Schon gut.“ „... Warum verkrampfst du dich so? Du hast dich doch schon daran gewöhnt, dass ich an dir hänge?“, sprach Shaelyn sofort leicht konfus aus, nahm auch ein wenig Abstand von ihm, indem sie sich vom Boden abstützte. Eine Antwort blieb aus, was ihre Verwirrtheit nur weiter steigerte. „Du bist seit vorhin irgendwie komisch...“, merkte sie an und traf damit voll ins Schwarze. Und wieder blieb es still, nur wurde sie plötzlich an den Armen gepackt, weshalb sie kurz Auf quiekte. Der Körper unter ihr richtete sich langsam auf und schob sie dabei weiter zurück, sodass sie schließlich saß. „Ich will, dass du in Zukunft Abstand zu mir nimmst. Das ist schon alles.“ „Was? Aber warum denn?“ „Hast du das mit deinem Bruder auch getan?“ Diese Frage brachte sie zum Stutzen. Was hatte das damit zu tun? „Sicher. Und das auch immer mal...“, begann sie fröhlich, hob eine Hand, die sie an seine Wange legte und sich kurzerhand vorbeugte. Sachte legte sie ihre Lippen auf seine kühle Wange, wurde leicht von seinen Haaren an der Nase gekitzelt. „Vielen herzlichen Dank, Rue. Für alles.“, flüsterte sie liebevoll fast in sein Ohr. Kapitel 14: Jenseits der Wahrheit --------------------------------- „Ryuzaki, Sie wirken unkonzentriert. Gönnen Sie sich eine Pause.“, sprach der alte Mann fürsorglich, welcher eine frische Tasse Kaffee auf dem Couchtisch bereitstelle, ebenso wie einen Pott voller Zuckerwürfel, welcher zuvor auf einem Tablett geruht hatte. Sofort öffnete der Angesprochene den Behälter, holte einige Würfel heraus und ließ sie in die heiße Brühe fallen. „Nein. Es ist alles ausgezeichnet, machen Sie sich keine Sorgen.“ Eine glatte Lüge, was auch Watari nicht entging. Alleine da der Detektiv mehr Zuckerwürfel in seinen Kaffee fallen ließ als gewöhnlich deutete auf Unruhe hin. Nicht, dass es sonst ein normaler Rahmen wäre, jeder andere Mensch hätte diesen Kaffee niemals angerührt, jedoch war es ein weiteres Zeichen dafür, dass L etwas beschäftigte. Und wie üblich sprach jener nicht darüber. Aber es schien etwas zu sein, dass ihn intensiv zum Denken anregte. Auch nahm L mehr Fälle entgegen, wie eine Flucht vor anderen Dingen. Sein Vertrauter kannte den Detektiven lange genug, um zu wissen, wann ihm was plagte. Nur war es selbst für ihn nicht zu erklären was es war. „Was... ist los?“, war eine müde Stimme zu hören. Direkt drehte Watari seinen Kopf zur Türe, in der Shaelyn in ihrem Nachthemd stand und gähnte. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Shaelyn redete wieder und alleine das hatte er L zu verdanken, dieser starr sitzen blieb und an seinem Kaffee lautstark schlürfte. „Nichts Besonderes.“, warf der Detektiv tonlos ein, während er noch die Tasse am Mund hatte. „Möchtest du etwas essen, Shaelyn?“ Die Schwarzhaarige schien daraufhin zu überlegen, schüttelte dann allerdings den Kopf. „Ich glaube, ich habe schon genug von heute Morgen gehabt.“ Ihre Stimme war voller Freude, konnte man sie seit jenem Abend nicht mehr stoppen. Das waren nun gute zwei Tage her und sie hatte sich in der Zeit bei ihrem Großvater entschuldigt, ihm ihre Angst geschildert. Seine Reaktion war erleichternd. Offensichtlich hatte er sich große Sorgen gemacht und war nun außerordentlich erfreut, dass sie wieder mit ihm sprach. Diese Nachricht und auch, dass sie sich so einiges von der Seele geredet hatte, hatte ihr mehr als gut getan. Dennoch blieb sie in derselben Wohnung, zum Einen da sie viel Hilfe brauchte und zum Anderen, weil sie gern bei L war. Dieser seltsame junge Mann gab ihr Sicherheit. Ein Grund mehr, dass sie bei ihm blieb. Allerdings war ihr etwas nicht entgangen: Rue verhielt sich deutlich distanzierter. Wenn sie ihm wieder einmal auf den Pelz rückte war seine Haltung abweisend. Hatte sie etwas Falsches getan? Shaelyn verstand es nicht recht und solange er ihr dafür keinen triftigen Grund gab, blieb sie ebenso hartnäckig an ihm dran, wie er versuchte sie abzuwehren. „Rue?“, drang ihre Stimme in seine Ohren und ihm schwebte nichts Gutes vor. Denn war ein gewisser Unterton vorhanden gewesen. „Was ist es diesmal?“ „Du bist ganz schön gemein geworden...“, merkte sie skeptisch an, denn gefiel ihr nicht, welchen Ton er verwendet hatte. Geradeso als wäre sie ein Störfaktor. „Das war sicher nicht das was du wolltest.“, kommentierte er schlicht und trank das Zuckergetränk aus. Watari stand leicht konfus zwischen den Fronten. Hatte er sich nun schon einmal an diesem Tage diese Art von Diskussion anhören müssen. Und es bereitete dem alten Herren Sorgen. Selbst ihm war es unerklärlich weshalb Ryuzaki sich so benahm. War er doch in den letzten Tagen so hilfsbereit gewesen, wies er Shaelyn nun seit zwei Tagen ab. Irgendetwas war vorgefallen und vielleicht war genau dies der Grund, weswegen L in dieser Art Zustand war. Watari kehrte aus seinen Gedanken zurück, als Shaelyn sich vom Türrahmen weg bewegte, geradewegs auf den Sessel zu, dabei wirkte sie konzentriert. Sie musste versuchen den Weg genau abzupassen, hatte eventuell sich die Schritte gemerkt. Als sie dann gegen den Sessel sachte lief, wandte Rue ihr den Kopf zu, musterte sie, bekam aber gleich ihre Hand am Kopf zu spüren. Urplötzlich zuckte er stark zusammen, gab einen kleinen gequälten Laut von sich. Shaelyn hatte an seinem Ohr gezogen, was sie zu packen bekam und das absichtlich. „Unhöflicher Kerl. Ich wollte nur wissen wie spät es ist, aber es ist wohl an der Zeit dir zu zeigen, dass ich mir von dir nichts gefallen lasse. Nur weil ich dir gesagt habe, dass du für mich jetzt wie ein Bruder bist, heißt es nicht, dass du machen kannst, was dir passt und ich nichts dagegen sage. Hab mal ein paar mehr Manieren.“ Ihr Ton war herrisch, belehrte den Meisterdetektiven und Shaelyn stemmte sogar als Verdeutlichung die Hände in die Hüfte. Unterdessen hielt er sich mit einer Hand sein gepeinigtes Ohr und starrte zu ihr hoch. „Das hat weh getan.“ „Sollte es auch und mehr hast du dazu nicht zu sagen?“ „Nein.“ „Soll ich dich wieder küssen, damit du nicht mehr so frech bist? Hat dir ja anscheinend gefallen letztens.“ Jetzt war Watari mehr als irritiert. Was sollte das bedeuten? „So? Hat es das?“ „Willst du es bestreiten?“ „Ich spreche mich deutlich dagegen aus.“ „Ach? Aber du hast danach ziemlich... schüchtern gewirkt! Jawohl! Du hast nicht mal richtig aussprechen können was du danach sagen wolltest. Komisches wirres Zeug.“ „...“ Punkt für Shaelyn, was ihm nicht gut bekam. „Na? Wieso höre ich denn nichts?“ „Es gibt dazu nichts zu sagen. Finde ich deine Spekulation reichlich herbeigezogen.“ „Komm gibs' zu, du magst mich.“ „Warum sollte ich das zugeben? Dafür gibt es keinen Grund. Und jetzt sei bitte so nett und unterlasse das.“ Falsche Aussage von ihm, was ihm gleich bewusst wurde, als sie, statt sich zu entfernen, über die Sessellehne kletterte. L jedoch hatte nicht vor das Spielchen mitzumachen und wich dementsprechend zurück, hatte aber nicht damit gerechnet, dass sie weit nach vorn griff, als wüsste sie, dass er ausweichen würde. „Feigling. Feigling.“, lachte sie kindisch und erwischte seine Schulter. Und als kindisch konnte man es tatsächlich beschreiben, fand nur L das Ganze weniger amüsant. „Du solltest wieder zur Vernunft kommen, Shaelyn.“ Folgend ergriff er ihre Hand an der Schulter. „Sag mal, bist du kitzlig...?“ L riss seine Augen weiter auf, nachdem sie dies so hinterlistig ausgesprochen hatte, auch zierte ihr Mund nun ein Grinsen. „Nein!“, verteidigte er sich augenblicklich aus einem Impuls heraus. Panik wog umgehend auf. Wollte er nicht überall von ihr berührt werden. „Soso... verdächtig! Lass uns doch mal ausprobieren... wo soll ich anfangen? An der Seite? Am Nacken? Am Bauch? Oder doch tiefer...?“ Tiefer. Berühren. L stoppte in seinen Gedanken, ehe er von ihrer Hand abließ und vom Sessel sprang als habe ihn etwas gestochen. Untypisch von ihm solch eine Reaktion zu zeigen, was dem alten Herren selbstverständlich auffiel und ihn erstaunte. Shaelyn bemerkte, dass ihr Opfer fort war und sich in Sicherheit gebracht hatte, setzte sie sich also normal auf den Sessel. „Es wird nicht besser, wenn du flüchtest. Ich kriege dich so oder so, dann bist du dran. Das wirst du nicht vergessen, dafür werde ich sorgen.“, drohte sie gelassen mit einem fiesen Grinsen im Gesicht, dabei überkam L ein Schauer, der in einmal durchschüttelte. Dennoch, er hatte gesiegt, zumindest für den Moment. „Das ... werden wir sehen.“, erwiderte er dunkel. Somit war die Herausforderung angenommen. L musste ab nun auf sich acht geben. Und Watari konnte nur mit dem Kopf schütteln. Sie benahmen sich tatsächlich wie Kinder. Genau dies tat der Meisterdetektiv. Achtete er peinlich genau auf ihre Bewegungen, beschäftigte sich im Endeffekt mehr mit ihr als ihm lieb war. Das nun schon seit weiteren vier Tagen, seitdem die Herausforderung angenommen war. Schnell hatte sie verstanden, dass das Heranschleichen nichts nutzte, ebenso wenig mit unerwarteten Attacken. L durchschaute sie. Egal was sie vorhatte, er war ihr einen Schritt voraus, was sie immer weiter ärgerte und sich stärker angespornt fühlte. Durch diese Aktionen lernte sie auch rasch die Wohnung besser kennen. Prägte sich Schritte ein, bestimmte Geräusche, schulte ihre Ohren. Noch konnte sie nicht sehen, was auch noch auf sich warten lassen würde, aber alleine die Tatsache nicht für immer blind zu sein, reichte aus um ihr ein gutes Lebensgefühl zu vermitteln. Und Rue half ihr ein gutes Stück dabei nicht in einen Trott zu verfallen. Alleine da sie sich dazu verpflichtet fühlte ihm zu zeigen, dass sie am Ende gewinnen würde. Shaelyn wollte L beweisen, dass sie Recht hatte. Er sollte ihr sagen, dass er sie mochte und er sollte etwas anderes. Lachen. Rue sollte lachen. Irgendwo musste sich ein schwacher Punkt befinden und diesen würde sie finden! „Shaelyn, ich werde für ein paar Tage nicht hier sein.“, begann ihr Großvater als er die Küche am frühen Abend betrat. Besah dieser auch gleich was Shaelyn versuchte. Sie wollte sich ein Brot schmieren. Ganz alleine. Würde er nun auch fragen ob er helfen sollte, bekäme er eine klare Absage. Seit den vergangenen Tagen wollte sie so gut wie alles selber schaffen und sie war keineswegs mehr nur am Schlafen. Alles entdeckte sie in der Wohnung für sich neu. Sicher, es war nach wie vor nicht angenehm, dennoch arrangierte sie sich mit sich. Alleine dass sie wieder so viel Kraft besaß war für Watari beeindruckend. So hoffte er, hatte sie die schlimmen Ereignisse verarbeitet. Denn bisher wollte sie auch nicht vor die Türe. „Oh, wirklich? Schade... wann bist du denn wieder da?“, fragte sie betrübt und hatte in ihrem Tun inne gehalten und sich automatisch zu der Stimme gewandt. „Wenn alles gut verläuft am Sonntag.“ „Hm... also in fünf Tagen...“ „Ryuzaki wird sich solange um deine Belange kümmern.“ „Das heißt, er wird etwas zu Essen besorgen? Der verlässt doch nie das Haus. Fast nie.“ „Ryuzaki ist vielseitiger als du denkst, Shaelyn. Er hat die letzte Zeit die Wohnung deinetwegen nicht verlassen.“ Erstaunt über diese Worte hielt sie inne, überlegte kurz, dann allerdings meldete sich Watari erneut zu Wort: „Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Keine Sorge und nur Mut.“ Auch wenn Shaelyn ihren Großvater nicht sehen konnte, wusste sie, dass er gerade lächeln musste. Das tat er immer, wenn er in dieser weichen Tonlage sprach, das war ihr bereits früh aufgefallen. „Mach dir lieber keine Sorgen mehr um mich. Ich mache schon so genug Probleme.“ „Gut, dann werde ich jetzt abreisen. Ein Hinweis noch. Der Schrank im Gästezimmer, er ist Ryuzaki sehr wichtig. Guten Abend noch.“ „... Ja, bis dann...“ Die Schritte verrieten, dass ihr Großvater gerade davon gegangen war, allerdings hatte er einige Fragen bei ihr hinterlassen. Wieso sagte er ihr so etwas? Was für ein Hinweis sollte das gewesen sein? Der Schrank im Gästezimmer? Besonders, wieso sollte Rue wegen ihr nicht die Wohnung verlassen? Er ging sonst auch nie vor die Türe... oder irrte sie sich in diesem Punkt? Offenbar kannte sie so vieles noch nicht von ihm. Während sie in Ruhe ihr Brot aß und auf dem Küchenstuhl saß, dachte sie angestrengt nach. Da war etwas mal gewesen mit einem Schrank. Urplötzlich fiel es ihr ein. Aber natürlich damals zu Weihnachten. Die unzähligen Süßigkeiten die sich darin befunden und Rue nicht zuletzt selbst begraben hatten. Zuvor stand dieses Möbelstück jedoch im Schlafzimmer. Es musste für sie um geräumt worden sein. Aber inwiefern konnte ihr dieser Hinweis dann nützlich sein? Es musste auf jeden Fall von Bedeutung sein. Verwirrend... „Darf ich fragen, was du da machst?“ Augenblicklich fuhr sie zusammen, biss sich dabei auf ihre Zunge, jammerte dann auch schon auf. „Ach verdammt! Mach dich doch bemerkbar!“, lispelte sie umgehend, schmeckte dabei den metallischen Geschmack. „Habe ich. Oder hast du meine Frage eben nicht verstanden?“ Die Schwarzhaarige grummelte vor sich her. Sie hatte ihn überhaupt nicht kommen gehört. Vielleicht auch kein Wunder, so wie sie mit ihren Gedanken beschäftigt war. „Ich esse. Sieht man das nicht?“ „Nein, ich sehe nichts davon und du hast ziemlich abwesend gewirkt. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“ Überrascht griff sie auf den Tisch vor sich. Tatsächlich ihr Brot war weg. Ach, sie hatte doch vorhin den letzten Bissen genommen. So gedankenverloren war dies gar nicht aufgefallen. „Ja, gibt es. Sag ich dir aber nicht.“ Demonstrativ verschränkte sie die Arme vor der Brust, blickte starr in seine Richtung. „Oh, das macht nichts.“ Er hörte sich absolut nicht beeindruckt an und auch nicht sonderlich interessiert, was sie nun doch skeptisch stimmte. Zur Abwechslung wollte er mal nicht wissen was sie so beschäftigte, besonders wenn es so seltsam klang? Träumte sie? Gerade als sie fragen wollte was er eigentlich in der Küche suchte, klirrte das Geschirr leise. Er ging wieder seiner Sucht nach, das auch gar nicht mehr ungewöhnlich war, zumindest für sie. Und was hätte er auch anderes suchen wollen an diesem Ort? Ein kleines Seufzen kam über ihre Lippen und sie lockerte die Arme vor der Brust. „Weißt du eigentlich, dass du alles nur schlimmer machst?“, sprach sie leise, stützte ihren Kopf nun am Küchentisch an der Hand ab. „Was?“ „Ach, das weißt du doch genau. Sag mir lieber was so schlimm daran ist. Was ist denn los?“ „Ich schätze... ich habe mich in dich verliebt.“ Eine Stille entstand. So ruhig, dass man sogar in der Küche noch den Nachbar hörte, wie dieser im Hausflur hustete. Kurze Anspannung war zu spüren, welche sofort wieder abklang. „Red' nicht so einen Unsinn, Rue. Damit spaßt man nicht. Also, wieso?“, folgte es gleich von Shaelyn, welche nicht sonderlich gerührt wirkte. „Du hältst es für Unsinn? Weshalb?“ Nun doch etwas Konfus blinzelte sie automatisch einige Male. „Na, es ist schon ein Wunder, wenn du sagen würdest, du magst mich. Wieso sollte ich dir jetzt diesen Mist abnehmen? Du lügst ja nur wieder. Außerdem kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass dir so etwas je passieren würde. Ist nicht böse gemeint, aber du bist dazu viel zu kühl und abweisend. Wenn etwas auch nur einen Hauch von Gefühl beinhaltet, lässt dich das unberührt. Zudem ist Liebe etwas was sich nicht erklären lässt und so wie ich dich kenne muss bei dir alles logisch sein. Passt alles Vorne und Hinten nicht. Und wir sehen mal davon ab, dass du mir so was niemals sagen würdest, falls es denn wirklich so wäre.“ „Hmh... verstehe. Und was ist, wenn ich schon wüsste, dass du so reagierst und es in Wirklichkeit doch der Wahrheit entspricht, weil du gerade annimmst ich lüge?“ Tiefe Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, auch verzog sie den Mund. Und ehe sie genug Zeit zum Nachdenken fand, sprach Rue weiter: „Mal angenommen ich spräche die Wahrheit, du gehst von einer Lüge aus, wäre es dann nicht eine schöne Gelegenheit zu erfahren wie mein Gegenüber darüber denkt? Und wann gehst du von der Wahrheit aus? Was müsste ich tun damit du dir sicher sein kannst, dass ich nicht lüge?“ „Stopp. Du verwirrst mich! Also... heißt das... äh... du wolltest nur wissen wie ich darüber denke? Du weißt doch was ich von dir halte, da musst du mir nicht ein gefaktes Liebesgeständnis machen. Außerdem... wann ich es glauben würde? Keine Ahnung, du zeigst ja keine Gefühle, würde ich dir auch einen Kuss nicht abkaufen.“ „Folglich... würdest du es mir niemals glauben?“ „Ja.“ „... gut, du hast natürlich Recht. Selbstverständlich war es eine Lüge. Ich habe dich nur testen wollen.“ „Ja, sag ich doch. War aber echt unnötig.“ Und was wäre, wenn dieser Satz von ihm eine viel größere Lüge war? War dies nicht genau von L zu erwarten? Dann wäre die Lüge eine Lüge. Die Wahrheit in der Unwahrheit? Oder hatte er sie wirklich nur testen wollen? „Aber... wenn du wirklich was von mir wollen würdest, würde ich dir einen Korb geben. Du bist für mich wie ein Bruder geworden und ich könnte mir nicht vorstellen so einen Gefallen an dir zu finden. Also, nicht falsch auffassen, aber du bist in diesem Sinne überhaupt nicht mein Typ. Außerdem der Gedanke daran... du und ich … zusammen.“ Shaelyn überkam ein kurzer Schauer. Es war nicht der Ekel, aber eine unvorstellbare Sache. Und bizarr würde es alle Male aussehen. Alleine die Vorstellung eines Kusses überstieg ihre Fantasie. „Lassen wir das... kommen wir auf den Ursprung zurück. ICH KRIEG DICH NOCH!“, rief sie dann plötzlich siegessicher aus. „Du hast eine Schwachstelle und die werde ich finden... und dann wirst du für den Rest des Tages Bauchmuskelkater haben! Ich gebe nicht auf!“ Sie riss sich von Stuhl hoch, stemmte die Hände auf den Tisch. „Ich gehe dann besser mal.“, war es gelassen zu hören und gleich darauf seine patschenden Schritte über die Fliesen. Hatte er sie überhaupt gehört?! „Nimm meine Drohung gefälligst ernst!“, warf sie ihm beleidigt nach. „Warum?“, kam es monoton zurück und sie stieß in einem Mal die Luft aus der Nase, genau wie ein wütender Bulle. Rue Ryuzaki würde verlieren und wie er das würde! Später, um genau zu sein am späten Abend, saß Shaelyn auf der Couch, hörte wie Rue allerhand Süßes in sich stopfte und auch den Fernseher, den sie eingeschaltet hatte. Ja, sie konnte nicht sehen was passierte, aber wenigstens hören und was sollte sie sonst schon tun? Also versuchte sie ihre Fantasie ein wenig zu benutzen. Nur schwer, wenn nicht viel gesagt wurde und praktisch Stille herrschte. „Ach ist das ein Mist, was sieht man denn da?“, beschwerte sie sich schlecht gelaunt und deutete in Richtung Bildschirm. „Ich würde sagen.... Einen Fernseher.“, folgte es von der Seite nüchtern. „... Danke für die unglaubliche Beschreibung.“, meinte sie sarkastisch und nahm schnell die Fernbedienung in die Hand und schaltete das Gerät aus. Als es dann erneut ruhig wurde, seufzte sie. „Wie spät ist es?“ „Kurz vor Mitternacht.“ Gequält stöhnte sie auf, doch sog sie in einem Mal die Luft ein. Ein leises Rauschen drang in ihre Ohren, welches rasant zunahm. Es hatte begonnen zu regnen und ganz wie es sich anhörte war es ein Platzregen. Einige Minuten lauschte sie einfach nur dem Regen. Ein tiefer Wunsch erfüllte sie. „Rue?“, durchbrach sie das Schweigen schließlich und wartete auf seine Reaktion, welche auf sich Warten ließ. „Was ist?“ „Würdest du mit mir nach draußen gehen...?“ Ihre Frage hinterließ bei L einen konfusen Gesichtsausdruck. Um diese Uhrzeit, bei diesem Wetter? „Dir ist klar, dass es draußen regnet?“ „Ja gerade deshalb. Ich mag den Regen wirklich gern.“ L schien sich seine Antwort gut zu überlegen, was sie natürlich bemerkte. „Ich kitzel dich auch nicht, versprochen... obwohl es eine tolle Chance wäre. Aber ich würde halt gerne raus. Würdest du also mit mir raus in den Regen gehen? Bitte... ja?“ Ein kleines Seufzen war zu vernehmen, welches zweifellos von Rue stammen musste. „... In Ordnung. Aber zieh dich bitte ausreichend an.“ Denn falls sie krank werden sollte, würde er nichts Gutes von Watari zu hören bekommen, immerhin hatte der Schwarzhaarige die Aufsicht über sie. „Darf ich mich an dir festhalten? Ich hab' Angst zu fallen.“, nuschelte sie ängstlich. Shaelyn stand im Flur, die Kapuze ihrer Jacke schon aufgezogen und hielt sich gut am Geländer fest. Allerdings wusste sie nicht wie viele Treppen es waren und stolpern wollte sie nicht. Nicht zu wissen was sich vor einem befand, war eben beängstigend. Als trat man an eine Klippe, wovon man nicht wusste wie tief sie war und nur ein kleiner Pfad führte sicher hinunter. Somit war seine Hilfe notwendig. Shaelyn wollte gerade nachfragen, da fühlte sie seine kühle Hand an der ihren. Er musste vor ihr stehen, schon die erste Treppenstufe genommen haben, da er sie langsam hinunter zog. Schritt für Schritt nahm sie jede einzelne Treppe, trottete Rue hinterher, der sie weiter an der Hand hielt und vorging. Insgesamt zählte sie 110 Stufen, als sie sicher unten ankamen. Zehn Treppenstufen für eine Etage, was leicht zu merken war. Zufrieden lächelte sie, auch aus Erleichterung es geschafft zu haben. Sicherlich hatten sie auch einige Zeit gebraucht. Nachdem Rue seine Hand zurückzog, dachte Shaelyn jedoch nicht im Geringsten daran ihn los zu lassen. Schließlich wusste sie noch immer nicht wie viele Schritte es hinaus waren und draußen verhielt es sich nicht anders, demnach griff sie nach seiner Jacke am Rücken, an welcher sie zog. Der Detektiv beschwerte sich nicht. Nicht ein Ton verließ seinen Mund, auch nicht als er die Türe öffnete, allerdings merkte man deutlich, dass er auf seine Schritte bedacht war. „Weißt du Rue, ich finde es wirklich süß von dir.“, flüsterte sie verschämt in die Nacht hinaus, was im lauten prasseln des Regens unter gegangen war. So dachte sie zumindest, da von seiner Seite nichts erwidert wurde. Oder vielleicht wollte er darauf nicht antworten. Die Frage erübrigte sich von selbst als er stehen blieb, mitten im Schauer. Abrupt stieß sie gegen seinen Rücken, spürte die Nässe in ihrem Gesicht, da sein Rücken schon genug durchgeweicht war, dabei waren sie nicht einmal weit gelaufen. Es schüttete tatsächlich wie aus Eimern. Wie eine Sintflut, auf die man Jahre lang gewartet hatte und nun endlich das Land heimsuchte. Direkt nahm sie wieder ein wenig Abstand. „Was?“ Seine dunkle Stimme klang seltsam, was Shaelyn verunsicherte. Hatte sie denn etwas Falsches gesagt? „Na... dass du mit mir rausgehst und so... eben...“ „Nein, du siehst es falsch.“, antwortete er augenblicklich ohne einen Ausdruck von Gefühl. „W-wie meinst du das?“ „Ich bin Watari gegenüber verpflichtet. Meine Aufgabe ist es über dein Wohl zu entscheiden. Es hat also wenig damit zu tun, dass ich es aus Gefälligkeit mache.“ Diese Worte warten hart und trafen Shaelyn ebenso. Sollte das bedeuten er tat es nur weil er musste? Wie viel hatte er nur aus Pflichtgefühl getan? Alles? War Rue so herzlos? Shaelyn löste ihren Griff von seiner Jacke, stand wie verloren auf dem Gehweg. Sie fühlte sich plötzlich unglaublich einsam und verletzt. War alles nur geheuchelt gewesen? Zu seinem Zeitvertreib und Spaß? Hatte sie sich doch so tief täuschen lassen? „Du... magst mich also kein Bisschen? W... w-war ich für dich bisher immer nur ein Klotz am Bein, welchen du gerne loswerden wolltest?“ Sie begann zu weinen, fühlte den Regen kaum noch, der auf sie niederging. Und dieser war das einzige was sie hörte. Rue antwortete ihr nicht, so als stände sie alleine dort. „Es war also alles eine Lüge? Du hast nur mit mir gespielt? …“, hauchte sie fassungslos unter Tränen, welche vom Regen direkt fortgetragen wurden. Shaelyn spürte keine Wut. Einzig das Gefühl der Trauer, Enttäuschung und Resignation blieb zurück. War gerade dieser Mensch, den sie so lieben gelernt hatte wie einen Bruder, solch ein Monster? Ein Monster ohne nur den Hauch von Skrupel, von Gefühl und auch nur ein Funke Menschlichkeit? Es tat so furchtbar weh in ihrer Brust. Alles zog sich schmerzhaft zusammen, nahm ihr die Luft zum Atmen. „Ein Objekt. Ich bin nur ein störender Gegenstand in deinem Leben, dem du Aufmerksamkeit gibst, weil es ein Muss ist. Ich bin ein Nichts für dich. … I-ich habe nie wirklich für dich existiert.“ Jedes weitere Wort riss die Wunde tiefer und wurde zur Klarheit. Shaelyn war nichts wert. Alles Erlebte war eine Lüge. Ihre Rettung, als er seinen Kopf für sie riskierte. Die Worte mit der er sie aufgeheitert hatte als sie nicht redete. Kein einziges Wort war wahr. Weder zu Weihnachten, noch bis zum heutigen Tag. Und auch seine Sorge war nie echt gewesen. Nicht einmal hatte er sich um sie gesorgt. Nie hatte sie sich verletzter gefühlt. Von einem Menschen so enttäuscht zu werden den sie so sehr mochte und ihr wie kein anderer näher stand. „Du bist ... ein ... ein Monster...“ Es hörte sich wie eine Erkenntnis an, jene fast atemlos über ihre zittrigen Lippen kam. Kein Augenblick länger wollte sie bei diesem Mann stehen. Nichts wünschte sie sich mehr, nur den Tod. Einsam, blind und zutiefst gekränkt. Shaelyn setzte Schritte zurück, während ihre Tränen sich weiter mit dem Regen vermischten. Das Wetter, ihr Umfeld, die Gedanken an den Morgen. Dies alles war vergessen. Auch wenn sie ihren Weg nicht kannte und jeder weitere Tritt ihr Leben kosten könnte, ging sie rückwärts. Stolperte sie auch gleich über eine Kante, die sie mit dem Rücken auf die Straße fallen ließ. Die Hände stark zerschürft vom Asphalt, stützte sie sich auf. Sie musste ganz alleine auf dieser Welt sein. Es lähmte ihren Körper, wie ihren Verstand. Nur noch eins wollte sie. Nach Hause. Ihrem richtigen Zuhause. Die Welt, in der alles in Ordnung war. „Shaelyn, komm von der Straße! Schnell!“ Seine hastigen Worte drangen nicht zu ihr durch, ebenso wenig wie ein lautes Hupen. Alles was blieb war der Regen, der jegliches fort spülte, selbst das Blut auf der Straße. Kapitel 15: Realitätsverlust ---------------------------- Ein Moment in dem alles stumm schien und es zu einer bitteren Erfahrung wurde. Es war ein Fehler. Eine Fehleinschätzung, welche er begangen hatte. Die Schuld lastete auf seinen Schultern. Die ihn in die Knie zwang. Manche Dinge geschahen einfach. Man konnte nichts dagegen unternehmen. Nur zusehen, um in diesem Moment zu realisieren was wirklich gerade passierte. Viel zu schnell, ohne es verhindern zu können. Obwohl einem diese winzigen Sekunden wie Stunden vorkamen. Bild für Bild, begleitet vom entsetzlichen Geräusch eines Schreis. Dieser jedoch nicht schrill klang. Ein panischer Ausruf einer dunklen Stimme. Dennoch verzerrt genug um nicht sagen zu können was dieser Ruf zu sagen vermochte. Dem Fahrer traf keine Schuld, so konnte er die Person schlecht auf der finsteren Straße im strömenden Regen erkennen. So reagierte er spät, betätigte die Hupe und bremste seinen Wagen. Machte es ihm das Wetter nur zusätzlich schwer genug halt zu finden. Eine rutschige Fahrbahn und die Person viel zu dicht an seinem Auto. War es nun soweit? Fand ihre Geschichte hier ihr endgültiges Ende? Würden sich all die Fragen niemals mehr klären? L war kein Narr. Konnte er wenig in diesem einem Augenblick ausrichten, zeigte dies ihm wie machtlos er war. Ein Mensch wie jeder Anderer. Nichts würde ihm nun noch helfen. Seine Worte waren zweifelsfrei daran Schuld. Hatte er Shaelyn tief gekränkt. Tiefer als es denn seine Absicht gewesen war. Verstand sie mehr in seinen Worten als beabsichtigt. Sein Plan war also fehlgeschlagen. Hatte er doch kaum verstanden, was sie wirklich fühlte. Ein Gebiet was er nicht erfassen konnte. War sein Verstand geschult und außergewöhnlich scharfsinnig, so hatte er kaum einen Funken Sinn für das Empfinden. Zwischenmenschliche, vor allem ehrliche und reine Gefühle waren fremd. Shaelyns Zuneigung war viel mehr als er jemals erfahren hatte. Watari war eine völlig andere Ebene. Ls Worte waren stets ein Rätsel, selbst für ihn war es zuweilen schwer, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden. Das plagte ihn. Sein Manko. Er war ein Lügner, wusste er dennoch in diesem winzigen Moment, was die vollkommene Wahrheit war. Nein, selbst in diesem Augenblick belog er sich. Schon längst kannte er die Wahrheit. Versuchte es in einem anderen Licht zu betrachten, es zu drehen und zu wenden, bis es passte. Einen Ausweg, den es nicht gab. Bildete es nun dieses eine Mal eine Einheit, was er dachte und fühlte. Spiegelte ebenso sein Gesicht das wider. L war durchaus in der Lage zu fühlen. Er fühlte wie jeder andere Mensch. Nur war es bei ihm ein trauriges Schauspiel. Er war ein Genie. Aus diesem Grunde auch nicht dazu in der Lage ein normales Leben zu führen. Ein ewiges Laster, das nur er trug. Dennoch verbarg sich unter dieser Maske der Perfektion ein Mensch, der gleichermaßen einen schlechten Tag erlebte, wie es die normale Gesellschaft auch tat. War es nur viel komplizierter. Sprach er nie über sein Empfinden und es wäre auch anmaßend gewesen sich dem hinzugeben. Ls Platz in der Welt war ein ganz besonderer. Erforderte dies Opfer, welche er bisher auf sich nahm. Auch ohne den Gedanken je an etwas anderes interessiert zu sein als an seine Arbeit. Ja, L war gerade dabei etwas Wichtiges kennenzulernen. Jeder durchlebte es mindestens ein Mal in seinem Leben. Es gehörte unweigerlich dazu. Doch … schien es ein schmerzlicher Verlust zu werden. Es war ein Fehler gewesen. Es trat das ein, was er zu verhindern versuchte. L war ein Dummkopf. Aber nur in diesem einen unbekannten Territorium. War er auf dieser Ebene wie ein Grünschnabel, der seine Anfänge tat. Wie ein Kind das langsam das Sprechen erlernte. Wie ein verschrecktes Tier, welches allmählich Vertrauen fasste – In etwas vollkommen Unbekanntes. Reifen quietschten laut auf dem Asphalt. War das Gesicht des Fahrers bleich und voller Schrecken, umfasste jener das Lenkrad mit einem eisernen Griff. Hatte ihn die Vollbremsung stark nach vorn geschleudert, vom Gurt allerdings gut im Sitz festgehalten. Sein Herz raste und beruhigte sich ebenso wenig wie das vom Detektiven, welcher im ersten Schreckmoment auf den Knien verweilte. Gelähmt, nicht fähig in der ersten Sekunde die Beine in Bewegung zu setzen. Dann, als das Auto endlich seinen Halt fand, hastete er aus seiner Position heraus. Sein starrer Blick, in weitem Schock geöffnet, hockte er sich zu Shaelyn im grellen Licht der Autoscheinwerfer. Ihre Augen geschlossen, der Mund ein wenig geöffnet. Sie war nicht bei Bewusstsein. „Großer Gott!“ Der Fahrer war aus seinem Auto gestiegen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wurde dieser augenblicklich vom Regen erfasst und durchnässt. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?!“ L blickte nicht auf, sondern hob Shaelyn vorsichtig am Oberkörper hoch. „Nein. Das wird nicht nötig sein. Bitte fahren Sie weiter.“ Shaelyn hörte ein Rauschen. Es klang wie Regen, der an eine Fensterscheibe gepeitscht wurde. Gleich schon versuchte sie sich aufzusetzen. Etwas Weiches fühlte sie unter sich, ebenso auf sich. Eine flauschige Decke umwickelte sie und lag sie wohl in ihrem Bett. Verwirrt versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen, fasste sie sich an ihren schmerzenden Kopf, zuckte sie jedoch direkt zurück. Ihre Hand tat weh! Schnell bemerkte sie, dass sie leichte Verbände um ihre Handflächen trug. Wo hatte sie diese her...? Wieso lag sie im Bett? Unruhig hob und senkte sich ihre Brust. Es traf sie wie ein harter Schlag. Rue seine Worte... „Ah, du bist aufgewacht. Wie geht es dir?“ Die nur all zu bekannte Stimme drang in ihr Ohr und auch ein Knarren, das von einem Stuhl verursacht wurde. Shaelyn erstarrte nur. War es vielleicht nur ein böser Traum gewesen... ? Weshalb sollte sie sonst im Bett liegen? Aber ihre Hände? „W-was ist passiert?“ „Du bist ohnmächtig geworden.“ Seine Stimme klang wie sonst auch. Nüchtern, nicht sonderlich an irgendetwas interessiert. War wirklich nichts vorgefallen, oder ließ ihn das alles so kalt? Sie war sich absolut nicht sicher. Automatisch begann ihr Körper zu zittern, zog sie die warme Decke näher zu sich. Eine Kälte befiel sie, obwohl ihr gleichzeitig hitzig war. „... Wo?“ „Draußen, an der Straße.“ Er betonte den letzten Rest etwas und war ihr auch so, dass er ihr näher gekommen war. So als spürte sie fast seine Aura neben sich. Es fuhr ihr ein Schauer über den Rücken. Auch wusste sie jetzt nicht weiter. Sollte sie fragen was passiert war? „Du bist ausgerutscht und hast dir den Hinterkopf angeschlagen.“, führte er ein wenig aus, da ihm selbstverständlich nicht entging, wie verwirrt sie war. Schon öffnete sie ihren Mund, zog die Decke weiter zu sich und wandte ihren Kopf in seine Richtung: „Hab... hab ich was zu dir gesagt...?“ „Nein.“ Eine mehr als dicke fette Lüge. Was sie jedoch in ihrem jetzigen Zustand, ganz wie es danach aussah, nicht beurteilen konnte. L nutzte die Gelegenheit, dass sie ihr Bewusstsein verloren hatte. Es war eine zu große Belastung für sie gewesen, weshalb sie in eine Besinnungslosigkeit fiel. Seine Augen weiteten sich leicht, als sie sich zurück fallen ließ und tief seufzte. Ihr Gesichtsausdruck zeigte Erleichterung. Eine große Last war ihr vom Herzen gefallen. Ein kurzes Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Shaelyn schluckte seine Worte und schien damit glücklich. Es war unklug von ihm gewesen ihr jene Dinge gesagt zu haben. Verstand sie daraus, dass sie ihm rein gar nichts bedeuten würde. Entsprach dies aber keinesfalls der Realität. Ganz im Gegenteil. „Dann hab ich glaub ich … was fantasiert.“ „Tja, sieht ganz so aus.“ „Aber... ich möchte dich etwas fragen, Rue. Bitte beantworte mir diese eine Frage.“ Sofort horchte der Detektiv auf. Er konnte sich bereits denken was sie fragen wollte. Immerhin war sie noch immer verwirrt und es beunruhigte sie. „Magst du mich?“ Exakt wie Angenommen, stellte sie genau diese Frage. Dieses Mal beantwortete er sie auch. Schien sie nur nervös zu werden, da er wohl für ihren Geschmack zu lange zögerte. „Ja, das tue ich wohl...“, gab er letztendlich zögernd und äußerst nachdenklich zu. „Wirklich?!“ „Nein.“, war seine sarkastische Antwort auf ihre, für ihn, dumme und unnütze Nachfrage. Shaelyn lachte auf, drehte sich auf die Seite und lächelte schließlich sanft. Ein paar stille Momente vergingen, ehe sie das Wort ergriff: „Darf ich dir noch eine Frage stellen?“ „Sicher. Worum geht’s?“ „Schlaf bitte heute Nacht bei mir. Würdest du das für mich tun?“, fragte sie unsicher und nuschelte beinah mehr in die Decke. War es schlimm ihn danach gefragt zu haben? Aber wenn er sie doch mochte, dann würde er es sicher nicht ablehnen. Shaelyn wollte einfach das Gefühl haben, dass sie sicher war. Rue seine Worte zu glauben und gleichzeitig Trost zu finden. Dennoch war es ihr peinlich danach gefragt zu haben, dabei war doch gar nichts Schlimmes daran. Zumindest für ihre Auffassung. L dagegen sah dies ganz anders. Für sie war er wie ein Bruder. Für ihn war sie … etwas völlig anderes. Trotz dessen, oder gerade deshalb, fiel es ihm tatsächlich schwer ihrer Bitte nicht nachzukommen. Sei es aus so etwas wie einem schlechten Gewissen, was er bisher kaum besaß, oder selbst dem Wunsch es zu tun. Und er tat für gewöhnlich was er wollte. Ihre Beeinflussung war nicht von der Hand zu weisen. „Rue? Bist du noch..d-“ Das Bett senkte sich etwas am Fußende, was sie verstummen ließ. Er kam wirklich ins Bett. Der Zweifel war noch immer da. Es war ihr nicht wie fantasieren vorgekommen. Das alles war viel zu real gewesen. Sie hatte Angst. Jetzt jedoch schien es ihr immer mehr wie ein Traum vorzukommen. Rue musste Recht haben. Dass sie sich den Kopf angeschlagen hatte, hatte ihr wohl wirklich zugesetzt. Einbildung. Reine Einbildung. Oder vielleicht wollte ihr Kopf ihr nur klar machen, wovor sie die größte Angst hatte. Eben ein böser Traum, vom Unterbewusstsein hervorgerufen. Sie wollte Rue auf keinen Fall verlieren. Nach all den Ereignissen stand er ihr näher als sogar ihr Großvater. Ein unschätzbarer Mensch in ihrem Leben. Mitglied ihrer winzigen Familie. Ja, ganz wie ein Bruder. „Du musst aber mit unter die Decke kommen, sonst zählt es nicht. Und... und du musst dich zu mir legen.“ Deutlich spürte sie, wie er halt machte. Förmlich in seiner Bewegung regungslos verharrte. Und als sie über die Worte nachdachte und was sie eigentlich trug, setzte sie sich urplötzlich auf. Müsste sie nicht eigentlich nass sein? „Oh mein Gott! Halt mal!“ Direkt griff sie an ihren Oberkörper, fuhr über ihren Busen tiefer an ihrem Körper hinab. „Ich hab ja was ganz anderes an! Und überhaupt... ich hab nur ein Shirt und ein Slip an!“ „Ich glaube, ich habe was im Wohnzimmer vergessen. Ich bin gleich wieder da.“, kam es als ein schneller Einwurf. „Stopp!“, folgte es unverzüglich und sie wusste bereits wo er sich befand, da die Senkung neben ihr deutlich fühlbar war. Sofort packte sie ihn an den Arm, verkrallte ihre Fingernägel in sein Shirt. Ihr Gesicht war stark in Falten gezogen. „Du … hast mich umgezogen... und vor allem ausgezogen?“ Langsam, viel zu langsam und wütend sprach sie diese Worte. Und eine Antwort war angemessen. „Ja. Das war leider nötig, da du völlig durchnässt warst.“ „Du verdammtes Schwein! Du Perversling! Du Spanner! Du... hast alles gesehen!?“ Die Hitze stieg ihr in die Wangen, färbten diese stark ein. „Nicht ganz, aber du solltest dich beruhigen. Deinem Kopf würde es gut tun.“, nüchtern wie eh und je, brachte er die Worte über seine spröden Lippen, was er besser nicht hätte tun dürfen. „Wie kannst du nur!“ Sie hatte ihre zweite Hand hinzugenommen und schlug vor Wut auf seinen Oberkörper ein, nachdem sie ihn regelrecht überfiel, sodass er auf seinem Gesäß auf dem Bett saß. Allerdings fasste er ihre Handgelenke. Zwang sie somit zum Innehalten. Ihr Schmerz an den Handflächen schien wohl vergessen zu sein. „Wenn ich, wie du gesagt hast, wie für ein Bruder für dich bin, weswegen regst du dich dann auf? Hinzu kommt, dass du mir eben selbst angeboten hast mit dir in einem Bett zu schlafen, unter einer Decke, oder sehe ich das etwa falsch?“ L wies sie ernst zurecht, woraufhin sie plötzlich ins Schwanken kam. Er hatte Recht. Aber es war etwas komplett anderes. Das alles hieße nicht, er könne sie einfach ausziehen! „Ja... aber... das ist mir peinlich... Keiner hat mich so gesehen.“ Sie ließ ihre Arme locker, weshalb er ihre Handgelenke mit Bedacht los ließ. Ihr Rotschimmer im Gesicht nahm nicht ab. Sie schien förmlich zu glühen. In diesem Moment jagten ihr tausend Gedanken durch den Kopf. „Kein Grund zur Sorge. Es gibt nichts, was mir nicht bekannt wäre.“ „... Rue, das ist nicht das was ich hören wollte und was zur Hölle soll das bedeuten?“ „Die Anatomie des weiblichen Körpers ist kein Geheimnis. Jedes Biologiebuch gibt Aufschluss darüber.“, führte er in einem lehrreichen Ton aus. „Trottel.“ Gleich darauf legte sie sich mit dem Rücken zu ihm, ganz offensichtlich etwas beleidigt. Dabei beschäftigte sie nur ein Gedanke: Warum war er so verdammt unsensibel? Es tat sich für einen Moment nichts. Weder regte sich Shaelyn noch L. Bis sie spürte, wie die Decke angehoben wurde und ein kühler Luftzug darunter zog. „Ein Schamgefühl ist nur natürlich, Shaelyn. Weder habe ich etwas mit dir angestellt, noch hatte ich es vor.“ „Aber... ach vergiss' es.“ Natürlich wusste sie, dass er nichts angestellt hatte. Es würde ihm nicht ähnlich sehen, auch wenn er gut als Perverser durchging. Dennoch kannte er nun ihren Körper nackt. Direkt rollte sie sich etwas zusammen. Jetzt könnte sie vor Scham im Erdboden versinken. Wo er sie überall berührt hatte? Es wurde ihr immer unangenehmer. Es war kalt als er sich neben sie niederließ. Nur schwach berührte er ihren Rücken, lag er auch halb außerhalb der Decke. „Du bist ja kälter als der Tod...“, murrte Shaelyn und drehte sich im selben Moment allmählich zu ihm. Das Thema musste schnell gewechselt werden. „Ist dir nicht kalt? Und entspann dich mal wieder...“ Es war nichts daran zu ändern, dass er sie gesehen hatte. Und hatte sie längst die Schläge eingestellt. „Oder ist das Leichenstarre?“ Shaelyn griff an seinen Oberarm und drückte diesen ein wenig, sodass sie ihn immer wieder anstupste. „Sag doch mal was...“, flüsterte sie schläfrig. Das war alles viel zu anstrengend gewesen. Es war eine richtige Erschöpfung, fühlte sie auch leichten Kopfschmerz. Urplötzlich wandte Rue sich zu ihr, sodass sie hellwach war und ihr Herz einen gewaltigen Satz tat. Rue hatte sie furchtbar erschrocken. „Was... soll das?.... !“ Die Decke raschelte und seine Präsenz war ihr kurz darauf schon sehr nahe. Der Schwarzhaarige kletterte über sie, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Schob er ein Bein zwischen ihre, stützte er sich dabei neben ihrem Kopf ab. Und die Frage, was er da tat wurde nur immer nachdrücklicher. Wieso legte er sich über sie? Langsam war ihr das absolut nicht mehr geheuer. Was sollte das? Und wieso war sie so aufgeregt? Und warum konnte sie seinen Atem auf dem Gesicht fühlen?! „Warum spannst du dich so an? Ich bin doch nur … dein Bruder.“ Seine Stimme ging ihr durch Mark und Bein. Eine Gänsehaut breitete sich überall aus. Selbst das hatte Ryu, ihr leiblicher Bruder, nie getan und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Schon schob Rue sein zweites Bein zwischen die ihren, sodass sie ihn nun komplett auf sich fühlen konnte. Es raubte ihr den Atem. Die Sprache hatte sie verlassen. Ihr Herz überschlug sich. Das war zu nahe, viel zu nahe. Plötzlich fasste er nach ihren Händen, fixierte sie so unter sich. Shaelyn war nicht mehr fähig sich zu wehren, noch zu schreien. Rue hatte ihr die Sprache geraubt, ebenso wie ihre Freiheit. „Ist dir klar, wonach du gefragt hast? Ich bin nicht dein Bruder. Ich bin ein Mann, der dich vielleicht nicht als Schwester sieht.“ Spielte er nur wieder mit ihr? Jedenfalls hatte er ihr deutlich gemacht, wie leichtfertig sie handelte und redete. Nur noch ein wenig. Sein Gesicht war wenige Zentimeter von dem ihren entfernt. Warmer Atem traf ihre Lippen, roch sie ihn deutlich. Und es war... süß. Ein süßer Duft. Gott verdammt! Er würde sie doch nicht...! Alles in ihrem Kopf war wie leergefegt. Ihr Atem funktionierte einfach nicht mehr und das Blut rauschte nur so durch ihren erhitzten Körper, welcher von Rue weiter ins Bett gedrückt wurde. „NEIN! Lass das Rue!“, schrie Shaelyn auf und stieß das schwere auf ihr von sich. Kerzengerade saß sie im Bett, dabei holte sie hastige Atemzüge. Selbst aus Reflex hatte sie die Augen weit aufgerissen. „Was?“, folgte es leicht erschrocken von der Seite. Panisch nahm sie Abstand, bemerkte sie dabei, dass die Decke fehlte, die sie normal hindern sollte. „Du Schwein!“ Eilig und außer sich, türmte sie die wieder gefundene Decke vor sich auf, als würde sie eine Mauer ziehen. „... darf ich fragen warum diesmal?“ Deutlich war seine Verwunderung zu hören, da er wohl nicht mit ihrer Aktion gerechnet hatte. „Du kannst dich nicht einfach auf mich legen! Und so sprechen! Und mich vor allem nicht küssen! Und... und …“ Schützend zog sie die Beine an und hielt sich den Oberkörper, welcher heftig bebte. Eine Pause setzte ein. In welcher Shaelyn sich etwas beruhigte und es sie dann wie ein Schlag traf. Wenn Rue wirklich so auf ihr gelegen und sie ihn weggestoßen hätte, dann wäre er doch nicht seitlich gewesen? Und seine Stimme klang erschrocken. Obwohl sie darauf nichts geben konnte. Schließlich schauspielerte er wunderbar. Aber Schritt für Schritt festigte sich ein schlimmer Gedanke. „... Hab ich geträumt? Wieder?“ „Zumindest wäre das die einzige Erklärung.“ Sein ernüchternder Ton ließ sie aufatmen. Diese Stimme, welche ihr zuvor solche Gänsehaut bereitet hatte, war weit von dem entfernt. Also hatte sie gleich zwei Fantasien an einem Abend, so dicht beieinander? War eine davon nicht doch wahr? Hatte sie Fieber? Direkt fasste sie sich an die Stirn, welche nahezu glühte. Es war als fiel ihr ein Stein vom Herzen. Ein Glück, es war nur das Fieber gewesen. Wobei, wo war das Gute bei dieser Feststellung? Das erklärte jedoch einiges. Das Herzrasen, das Schwitzen, die unregelmäßige Atmung und vor allem die Hitze. Shaelyn spürte wie sich das Bett seicht senkte und auch hörte sie das Rascheln vom Bettzeug. Rue kroch zu ihr, hob seine Hand und legte sie an ihre Stirn, wo er zugleich seine zweite Hand nahm und in ihren Nacken legte. „Leg dich wieder hin, du hast Fieber.“, verließ es nachdenklich den Mund von Rue. Wahrscheinlich rätselte er woher sie sich das zugezogen hatte. Der Vorfall im Regen war daran Schuld. Diente es wie eine Art Auslöser, da sie zuvor so geschwächt war. Shaelyn tat brav wie geheißen und legte sich nieder, ohne dabei jedoch viel zu sagen. Der Verstand spielte ihr an diesem Abend böse Dinge vor. Wie sollte sie sich nur in Zukunft ihm gegenüber verhalten? Peinlicher berührt konnte sie sich nicht mehr fühlen. Während sie sich weiter in die Decken rollte, war L bereits vom Bett aufgestanden und stand am Türrahmen, dabei starrte er sie mit seinen Telleraugen an. Ihre Worte waren … interessant. Die Nacht zog vorüber, in welcher L an Shaelyns Seite wachte um ihr Fieber zu kontrollieren. Auch der nächste Tag begann fiebrig und der Detektiv besorgte Medikamente, die schnell für Abhilfe sorgten. Somit verbrachte sie die nächsten Tage im Bett und kurierte sich aus, bis schließlich Watari heimkehrte. Das Einzige was blieb war, dass sie in seiner Gegenwart verschüchtert wirkte und immer etwas Abstand nahm. Und dies deutlich auffiel, das nicht nur L, sondern auch Watari. Der sich nur wieder einmal fragen konnte, was denn alles vorgefallen war. Langsam beschlich ihn jedoch die Vermutung, dass sich etwas Besonderes entwickelt hatte und kam dahinter was den Detektiven so quälte. Zumindest für die aufmerksamen Augen des alten Herren schien es immer offensichtlicher. Jeder andere würde es niemals bemerken, jedoch kannte er den Detektiven nun längst über zehn Jahre. Der Verdacht von Watari erhärtete sich weiter und wurde zur Gewissheit. Es war nun eine weitere Zeit vergangen. Bereits trug die Natur ihre Blüten und erstrahlte in sämtlichen Farben. Der Frühling war eingekehrt und zeigte sich wohlgesonnen. Die Temperaturen stiegen an und bereits war schon an dem einen oder anderen Tag eine wohlige Wärme zu spüren. Tiere erfreuten sich und nutzten diese Jahreszeit für ihre Familienplanung, weshalb es ein heller Aufruhr war. Auch, und besonders, dieser Frühling war bisher der intensivste, den Shaelyn erlebt hatte. Nahm sie die Gerüche stärker auf und lauschte den Gesängen der Vögel, die sich hin und wieder auf dem Fenstersims eine Pause gönnten. Es war mitten im April und noch immer hatte sich nichts daran geändert, dass sie nicht sehen konnte, auch einen weiterer Anruf blieb aus. Dennoch war sie zuversichtlich. Die Hoffnung bestand wieder sehen zu können und wenn sie dies wieder konnte, so würde sie alles nie mehr so verständlich sehen. Vielleicht sollte sie sich eine Kamera kaufen und alles festhalten, ein Tagebuch aus Bildern und Eindrücken. Eingefangen für eine lange Zeit und es würde sie immer an ihre Zeit im Dunkeln erinnern, schließlich mit einem Lächeln auf den Lippen alles für eine wertvolle Erfahrung halten. Auch die Erinnerungen an ihre Gefangenschaft würde sie ewig verfolgen, war dies keine wertvolle Erfahrung, jedoch hatte sie alles überstanden und das, obwohl sie mit ihrem Leben bereits abgeschlossen hatte. War ihre Rettung der kauzige Rue Ryuzaki gewesen. Der sich nicht verändert hatte. Er sprach und handelte wie immer. Ein sachtes Lächeln umspielte Shaelyns Mundwinkel. Saß sie erneut im Schlafzimmer auf einem Stuhl, nahe dem Fenster und hörte sich das Piepsen eines Vogels an. Öfter zog sie sich zurück, war alleine mit ihren Gedanken und Wünschen. Das was sie gerne noch erleben würde und was sie sich für die Zukunft vornahm. Man konnte sagen, dass sie mit dem Frühling etwas gereift war. Shaelyn lernte es kennen für sich zu sein, ohne das Gefühl Dinge tun zu müssen. Man lernte die Ruhe zu schätzen, was nichts daran änderte, dass sie noch immer ein impulsives Gemüt hatte. Ein Klopfen an der Tür holte sie ins Diesseits zurück, sodass sie sich automatisch zur Quelle drehte. „Ja?“ Die Türangel klackte und es war nur einer der einen Grund hatte sich ihr zuzuwenden. „Es ist alles geregelt Shaelyn, du kannst in dein altes Zimmer zurück.“ „Vielen Dank für die Mühe, Großvater.“ Shaelyn hatte ihre eigene Wohnung nicht mehr genutzt, weshalb Watari diese kündigte und alles wieder beim Alten herrichtete. Es hatte nur Vorteile, da sie eben trotz allem noch Hilfe brauchte. Was sich hoffentlich in baldiger Zukunft ändern würde. „Möchtest du vielleicht in den Park?“, fragte dann der alte Mann freundlich und seine Enkelin sah überrascht aus. Der Park musste zu dieser Zeit wirklich schön sein, außerdem noch wunderbar duften. Nicht zu vergessen, dass sie dort auch den Tieren lauschen konnte. Allerdings war die Frage groß ob sie bereit dazu war, denn zweifelsfrei befanden sich viele Leute im Park. Aber wenn ihr Großvater sie wohl begleiten würde, dann sollte ein Versuch nicht verkehrt sein. „Gern. Ich muss nur andere Sachen anziehen.“ „Nimm dir soviel Zeit wie du brauchst.“ Schon schloss Watari die Türe wieder und Shaelyn stand auf, streckte sich einmal ausgiebig. Die frische Luft würde sicher gut tun. „Ryuzaki?“, fragte der alte Mann an, nachdem dieser das Wohnzimmer betreten hatte. Der Angesprochene regte sich auf dem Sessel nicht, sondern kauerte weiter in seiner Haltung darauf. „Was gibt’s?“ „Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“ Ruhe kehrte ein, ehe der Schwarzhaarige seinen Kopf zu Watari drehte und ihn dabei seltsam verrenkte, da seine Position fast in entgegen gesetzter Richtung blickte. „So? Um welchen handelt es sich? Ich bin ganz Ohr...“ Es war als dämmerte es bereits im Kopf des Detektiven. Nur was dachte sich der alte Herr dabei? Steckte ein besonderer Plan dahinter? „Shaelyn würde gerne den Park besuchen.“ L würde schon verstehen was Watari damit ausdrückte und damit hatte er nicht unrecht. „Ich soll sie also begleiten, verstehe. Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Watari?“, begann L seelenruhig und wandte seinen Kopf nun wieder nach vorn als wäre nichts gewesen. Dann fuhr er ungerührt fort ohne abzuwarten was Watari sagen würde: „Was verleitet Sie dazu sich bei Dingen einzumischen, die Sie offensichtlich nichts angehen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber wie ich bemerkt habe ist Ihnen etwas aufgefallen. Ich mache Ihnen nichts vor, das wissen Sie. Allerdings wissen Sie genauso wie ich, dass eine derartige Verbindung nicht tragbar wäre. Sehen wir mal davon ab, dass sie ebenso darin interessiert sein müsste. Also was denken Sie sich dabei?“ Nun stand der Detektiv auf, wandte sich ganz Watari zu. Sein Blick war äußerst ernst, wie es seine vorherigen Worten auch waren. Watari musste klar sein, was dies alles bedeutete. Vor allem musste klar sein, dass sich L niemals auf so etwas einließ. Alles blieb wie es war, egal was es für ihn zu bedeuten hatte. „Entschuldigen Sie, Ryuzaki. Meine Absicht war es nicht Ihnen zu schaden. Es ist -“ L hob seine Hand etwas an und auch seinen Zeigefinger, sodass Watari inne hielt. „Was ist hier denn los? Streitet ihr euch?“ Shaelyn war hinzugetreten und deutlich verwirrt. „Schon gut, Shaelyn, nur eine Diskussion. Ich werde -“ „Er wird hierbleiben, stattdessen komme ich mit.“, mischte sich der Schwarzhaarige direkt ein und steckte seine Hände in die Hosentaschen. „... oh? Na, ähm... okay.“ Shaelyn lächelte schwach und suchte den Weg weiter fort, da sie gleich ihre Schuhe anziehen wollte. Und als sie wieder weit genug weg schien, öffnete L erneut seinen Mund: „In Zukunft erwarte ich von Ihnen, dass Sie es einstellen werden und... ich werde darüber kein Wort mehr verlieren.“ Mit diesen Worten verließ der Detektiv das Wohnzimmer. Seine Worte mochten hart sein, aber handelte er genauso. Für ihn war es von Beginn an klar gewesen. Diese Art von Beziehung war für L unmöglich. Kapitel 16: All about the right time ------------------------------------ Nachdem Shaelyn sich die Stiefel angezogen und sich ihre Jacke übergezogen hatte, wartete sie bereits mit gemischten Gefühlen an der Türe. Etwas beunruhigte sie zunehmend. Bisher hatte sie es keinem gesagt und sie hoffte wirklich, dass sie es auch nicht müsste. Aber wenn es soweit war, musste sie es wohl sagen, egal wie peinlich es ihr war. Wahrscheinlich verstand man sie einfach nicht, so hatte sie früh aufgehört sich zu erklären. Hoffentlich ging alles gut. Immerhin, sie konnte dem nicht ausweichen, wenn sie es nicht sah. Jetzt bekam sie doch Panik. „Gibt es ein Problem?“, riss es Shaelyn aus den Gedanken. Sofort gluckste sie erschrocken auf. Rue hatte sie offensichtlich erschreckt, woraufhin er sie skeptisch anblickte. „Nein, nein, alles okay. Bist du fertig?“, lenkte sie mit einem Lächeln ein und griff an die Türklinke. „Es kann losgehen, es sei denn... du hast einen Grund nicht zu gehen.“ Verwundert ließ sie von der Klinke ab. „Warum? Es ist doch schön draußen. Es gäbe eher keinen Grund um nicht zu gehen.“ Shaelyn gab sich Mühe gefasst und fröhlich zu klingen, doch überhörte L ihre Unsicherheit nicht. „Warum dann so angespannt?“ „Trottel.“, antwortete sie prompt launisch und öffnete die Türe. Ratlos kratzte sich der besagte Trottel am Hinterkopf. Hatte er sich falsch ausgedrückt, oder warum reagierte sie dermaßen gereizt? Unten im Hausflur zögerte Shaelyn für einen Moment. Die Treppen waren nun nachdem sie diese einmal bezwungen hatte, kein Problem mehr, aber Draußen war es etwas vollkommen anderes. War es wirklich in Ordnung, wenn sie die Hand von Rue ergreifen würde? Gerade noch hatte sie ihn beschimpft, obwohl sie das gar nicht wollte... dabei hatte sie nur Angst ihm von ihrer Panik zu erzählen. Bestimmt war er nun beleidigt. Nervös stand sie dort und wusste nicht recht wohin mit ihren Gedanken. Aber sie hatte doch keine andere Wahl. Das wüsste doch auch Rue wissen, oder? „Du... Rue?“, begann sie leise, während sie an ihrer offenen Jacke nestelte. Der Angesprochene hatte sich ihr Minenspiel bereits mit angesehen, so war ihm klar, dass sie etwas beschäftigte und ganz wie man es vermuten konnte, wusste L bereits worum es sich handelte. Zumindest dieses Mal, da ihm die Situation von nicht all zu langer Zeit noch Rätsel gab. „Reich' mir deine Hand.“, forderte L sie tonlos auf. Sofort lächelte sie ihm entgegen, auch löste sie ihre Rechte vom Geländer, welche sie ihm entgegen streckte. Für einen Augenblick starrte er auf ihre kleine Hand, ehe er sie zaghaft mit seinen Fingerspitzen berührte. Wieder einmal bemerkte er wie zart sich ihre Haut anfühlte, besonders nachdem er sie lange nicht mehr berührt hatte. Shaelyn umschloss seine Hand sachte, setzte sie auch gleichzeitig einen Schritt auf ihn zu. „Du weißt immer was ich möchte. Das ist irgendwie unheimlich.“ Shaelyn lächelte vergnügt. Ihr Gesicht war entspannt und spiegelte die Freude wider. Dann legte sie den Kopf etwas schief, da sie keine Reaktion von ihm erhielt. Hätte er nicht normalerweise direkt ein Kommentar losgelassen? Vielleicht hatte er aber einfach nur keine Lust? „Ist etwas?“ „Nein, nichts.“ L wandte sich auf der Stelle um und verließ mit Shaelyn an der Hand das Hochhaus. Viel zu lange hatte er ihr Gesicht betrachtet, so als habe er jeden Fleck genau verinnerlicht. Nicht, dass er das sonst nicht auch tat, jetzt hingegen war er aufgefallen. Er wurde unaufmerksam. Hatte L nun die starke Vermutung nicht alles kontrollieren zu können. Diese Feststellung verstimmte ihn weiter. Ein angenehmer Windzug erfasste sie, der schon den Duft von Frühling mit sich trug. Auch spürte sie gleich die wohlige Wärme der Sonne auf sich. Doch ließ sie sich nicht irritieren und blieb stehen. „Warte mal!“, rief sie aus, nachdem sie das Gebäude gerade verlassen und sie an seine Hand gezogen hatte, woraufhin L abrupt stoppte und sich zu ihr umsah. „Wieso sagst du nicht, wenn dich etwas bedrückt? Ist es was Schlimmes? Deine Hand hat ganz kurz gezittert. Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du es mir verrätst?“ Die Sorge in ihren Worten war nicht zu überhören, auch ihr Gesicht zeigte es ebenso. Zur Abwechslung wollte sie ihm helfen, wenn er mal Kummer hatte. Bisher war sie immer das Sorgenkind gewesen und andere mussten sich ihr Leid anhören. Diesmal war Rue an der Reihe, da er doch offensichtlich komisch reagierte. Er verstellte sich meist perfekt, nur diese kleine, winzige Körperreaktion hatte ihn gerade verraten. Jetzt wollte sie auch wissen was ihm Kummer bereitete. „Komm schon. Man sagt sich unter Freunden so etwas. Ich bin doch für dich da, so wie du es für mich bist.“ Shaelyn meinte es nur gut, leider hatte sie die falschen Worte gewählt. L schwieg zu ihrer Aussage, starrte ihr nur weiterhin ins Gesicht, jenes traurig wirkte. Ausgeschlossen. L blieb bei seinem Entschluss, auch wenn er selbst bemerkte wie sehr das alles Einfluss auf ihn ausübte. Das nannte man dann wohl damit, dass man nicht mehr man selbst war. Ein misslicher Umstand. „Kein Grund zur Sorge. Es hat alles seine Richtigkeit.“ „... wirklich?“ Sie war sich unsicher, zumal es so klang als steckte mehr dahinter. „Ja.“ L blockte sie ab, wartete er auf keine Antwort ihrerseits und lief weiter, zog sie dabei für ein Stückchen hinter sich her, sodass sie erst einmal kurz stolperte, weil es so schlagartig passierte. Shaelyn war wirklich niedergeschlagen. Rue vertraute ihr überhaupt nichts an. Vertraute er ihr überhaupt? Den Rest des Weges war die Schwarzhaarige still geblieben. Es war eine bedrückende Stimmung, weshalb sie sich nicht recht konzentrieren konnte. Der Traum kam ihr in den Sinn, welchen sie vor ein paar Wochen erlebt hatte. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob es nicht doch real war. Augenblicklich war ihr zum Heulen zumute. Das war richtig verletzend gewesen. So viele Dinge schwirrten ihr durch den Kopf, dabei bemerkte sie nicht, wie die Luft immer mehr von herrlichen Gerüchen zunahm. Dann hörte man Kinderlachen und schließlich stoppte Shaelyn, da langsam die Eindrücke zu ihr durchdrangen. „Wir sind im Park, oder?“ „Richtig.“ „Schön...“, schwärmte sie mit einem sanften Lächeln und sog die Luft stärker ein, doch dann horchte sie genauer in die Umgebung. Nur ein Anzeichen und sie würde türmen. Ihre Anspannung nahm erneut zu, was dem Detektiven nicht entging. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und seine Spürnase täuschte ihn nie. „Wirst du das Mädchen fressen?“, war es plötzlich von einer Jungenstimme zu hören, daraufhin folgte ein Mädchengekicher. Shaelyn legte den Kopf schief. War die Frage an sie und Rue gerichtet? „Nein...“, antwortete L zögerlich und deutlich verstört starrte er auf die kleinen Kinder vor sich. „Und warum hast du dann so große Augen? Genauso wie der böse Wolf?“ Shaelyn brach in schallendes Gelächter aus und L stand ein paar Sekunden ratlos dar, ehe er ganz verstand. „Damit ich besser sehen kann.“, gab er mit einem Grinsen von sich und hielt dabei seinen Zeigefinger hoch. Der Junge versteckte sich direkt hinter dem Mädchen, was nicht beeindruckt schien. „Den bösen Wolf gibt es nicht!“, warf sie selbstbewusst ein. „Wohl! Da ist er doch! Und er nimmt Rotkäppchen mit!“ Der Junge weinte, daraufhin stellte Shaelyn sich ganz zu Rue. „Sieh mal her.“, meinte sie schlicht und Ruhe kehrte ein, sodass sie sicher sein konnte, dass sie die Aufmerksamkeit des Jungen hatte. L blieb still, war auch überfordert mit der Situation. Schon ließ sie seine Hand los, tastete vorsichtig an seinem Arm hoch, bis hin zu seinen Ohren, die sie von seinen strubbligen Haaren freilegte. „Hat er große Ohren?“ „... Nein.“, folgte es mit einem kleinen Schluchzen. Schon nahm sie wieder seine Hand, hielt sie hoch. „Hat er große Hände? Größer als die von deinem Papa?“ Wieder folgte ein Widerspruch und schließlich fasste sie mit ihrem Zeigefinger an seine Unterlippe. „Hat er ein großes Maul?“ „Nein.“ Schon hörte sich der Junge selbstsicherer an, jedoch immer noch leicht verängstigt. „Und wenn man das macht...“ Plötzlich fasste sie mit ihrem zweiten Zeigefinger an seinen Mund und verzog seine Mundwinkel. „dann kann er sogar lächeln, macht er nur nicht. Der ist ist wirklich ungefährlich, er zeigt es halt eben nicht.“, kicherte schließlich Shaelyn und L stand einfach nur dar, ließ sie gewähren, so als ob nichts passierte. Wie eine Puppe, die frisiert wurde. Kinderlache drang in ihre Ohren und sie nahm ihre Hände herunter, lächelte dennoch amüsiert. „Elias! Cathlyn! Kommt wieder her, ihr sollt die Leute nicht einfach so ansprechen!“ Eine ältere Frau rief den Kindern nach. Diese war weiter vorne auf dem Gehweg und wartete nun darauf, dass die beiden schnell wieder aufschließen würden. „Wir müssen gehen, sonst ist Mama böse.“, sagte das kleine Mädchen mit einem Schmollgesicht. Der Junge nickte zustimmend, ehe die beiden los rannten. L hatte dem Schauspiel keine Beachtung mehr geschenkt, sondern versuchte seine Eindrücke zu ordnen und zu analysieren, weshalb er gewohnheitsmäßig begann an seinem Daumennagel zu knabbern. Natürlich waren ihre Berührungen nicht ohne Spuren an ihm vorbeigezogen. „Süße Kinder...“, meinte Shaelyn schließlich und holte jemanden damit aus den Gedanken. „Findest du? Warum?“, hakte L neugierig nach und besah die Schwarzhaarige, während er weiter an seinem Daumennagel nagte, welcher nun ein kleines Knacken von sich gab. „Ich mag Kinder. Und...“ Shaelyn fasste sich an die Wange und neigte ihren Kopf. „... in ein paar Jahren hätte ich selbst gern welche. Kinder sind etwas wunderschönes.“, schwärmte sie gelassen. Still beobachtete er ihre Regung und bedachte ihre Worte, dann blickte er in den wolkenfreien Himmel hinauf. „Wahrscheinlich“, murmelte der Detektiv nachdenklich. Shaelyn musste automatisch lächeln. „Du hast noch nie darüber nachgedacht, stimmt's?“ Sicherlich nicht, so wie sie ihn kennengelernt hatte. Alles was mit Familie, Beziehungen und Kontakt zu tun hatte, war praktisch nicht für ihn existent. Konnte man so durchs Leben gehen? Rue war sehr klug. Warum sah er dann nicht selbst, dass seine einsame Art zu leben nicht gut war? Was machte ihn so … schon fast menschenscheu? „Nein, dazu gab es keinen Grund. Außerdem fehlt es mir an einer Frau, um das umzusetzen.“ Seine Worte erheiterten sie ein wenig, sodass sie kichern musste, woraufhin sie sich einen konfusen Blick von ihm einfing. Was war daran witzig? „Pass auf Rue. Stimmt, du bist wirklich seltsam... nein, echt grotesk. Aber schon einmal daran gedacht, dass gerade das das Einzigartige an dir ist? Sicher gibt es genug Frauen, die dich so nehmen würden wie du bist.“, sagte sie offen heraus und begann dann plötzlich zu grinsen. „Okay... du bist dreist, frech, gemein, sarkastisch, furchtbar nervig und ein Süßigkeiten-Freak,...“ Shaelyn hatte ihre Hand gehoben und zählte die Punkte an ihren Fingern ab, dann holte sie aber tief Luft und ein sanftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen: „aber ich habe auch gesehen wie nett du sein kannst. Du hast mir so oft geholfen, mich regelrecht beschützt, das mit deinem Leben und ohne eine Gegenleistung. Man muss dich kennenlernen, und obwohl ich so wenig von dir als Person weiß – weil du mir ja nichts von dir erzählst – mag ich dich sehr. Ich würde auch gern mehr von dir wissen, das aber nur mal nebenbei. Was ich dir sagen will ist einfach. Egal wo auf dieser Welt, irgendwo ist auch die Richtige für dich, die dich so liebt wie du bist. Dann wird die Frage nach Kindern ganz einfach beantwortet, versprochen.“ Shaelyn sprach alles aus was sie dachte und wovon sie überzeugt war. Und all das hörte sich L aufmerksam an. Seine Meinung dazu war jedoch recht nüchtern: Ihre Sicht traf nur nicht auf ihn zu. Selbst wenn er die Richtige fand, hatte er kaum eine Wahl. Sein Job, dem er sich verschrieben hatte, würde im Konflikt stehen. Somit war auch der Gedanke an Kindern einfach nicht relevant. Es war von Beginn an eine Entscheidung. Bewusst hatte er auf all das verzichtet. Jedoch musste er zugeben, dass er zu dieser Zeit nicht wusste, was es bedeutete. Bedeutete, seine Gefühle ganz zu unterdrücken. Und es schien immer schwieriger zu werden dieses eine Gefühl abzuwehren. Diese eine Empfindung, welche er nie dachte zu erfahren und ihn praktisch erdrückte. Beeinflusste und sogar lenkte. Schon lange konnte er keinen richtigen Gedanken mehr führen und das war heikel. Wie lange würde es noch andauern? „Aber weißt du was?“, begann die auf einmal erheitert. „Was?“, folgte es entnervt, da er diese Spielchen nicht unbedingt mochte. „Wenn ich wieder Sehen kann, dann kauf ich mir einen Haarreif.“ Ratlos, wie sie auf diesen Gedanken kam, bildeten sich tiefe Falten zwischen seine Augenbrauen. Dem Gedankensprung konnte er ihr nun nicht folgen. „Aha und du wirst damit was tun?“ „Na was wohl. Ich bastel' dir Wolfsohren und setz' sie dir auf! Muss fantastisch aussehen! Obwohl ich ja weiß, dass du ein ganz lieber bist. Nicht, dass du etwas mit einem Wolf gemein hättest...“ Dann würde sie sicher schreiend davon rennen. Die Ohren machten ihn noch lange nicht zu einem Wolf. „... Sicher?“ Umgehend stutzte sie. „Was ist... wenn ich angeleint werden müsste? Würdest du es tun?“, verließ es listig seinen Mund, den er kurz darauf zu einem Grinsen formte. Ein paar Augenblicke lang passierte rein gar nichts, ehe sie scharf die Luft einzog. Hatte er sie gerade angemacht? Ein seltsames Bild kroch vom Unterbewusstsein hoch, sodass sie schlucken musste. Im nächsten Moment spürte sie etwas Raues an ihrer Hand und die darauf folgende Nässe. Geschockt zog sie ihre Hand zurück und verzog angewidert das Gesicht. „Was... zum...“ „Jerry, komm zurück!“, schrie ein Mann in der Ferne und Shaelyn erstarrte. „.... W-was ist... das?“ Sie fürchtete keine Luft mehr zu bekommen und stotterte deutlich vor sich her. Die Situation vor nicht allzu langer Zeit war wie weggefegt. „Ich fürchte Sabber.“, schlussfolgerte L rational, nachdem er sich mit ansah, - und dafür hatte er sich extra weiter gebückt - wie ein Hund auf einen bestimmten Geschmack gekommen war. Ein Schäferhund, der seinen Spaß suchte und etwas gerochen haben musste. Sofort schrie Shaelyn los und nicht nur der Hund duckte seinen Kopf ein wenig. Ihr Aufschrei ließ den Detektiven zusammenschrecken. Gleich auch schon weitete er seine Augen, als sie panisch begann zu weinen. „Mach es weg! Mach es weg!“, wiederholte sie unter Tränen, während ihr ganzer Körper bebte. „Was?“ L war sich nicht sicher was sie meinte. War es nun der Speichel, oder der Hund? Da stürzte sie sich schon in seine Arme und verkrallte sich in seinem Shirt. Was ging hier vor sich? „Das Ding! Mach es weg!“ Perplex starrte L erst auf Shaelyn an sich hinunter, ehe er den Hund musterte. Sie hatte Angst vor Hunden? Irgendwie passte es nicht zusammen, da doch eben die Unterhaltung zeigte, dass sie es nicht schlimm fand? Sagte sie deshalb noch, dass er nichts mit einem Wolf gemein hätte und harmlos wäre? L war doch etwas konfus. War seine Anspielung doch nicht klug gewesen? „Beruhige dich.“, redete er auf sie ein und schloss sie zaghaft aus einem Instinkt heraus in seine Arme, woraufhin sie sich weiter an ihn drückte. „Der wird mich anspringen und beißen! Hilf mir!“ Der Hund stand nur da, wedelte mit seinem Schwanz und legte den Kopf schief. Es war wirklich kein Grund von ihr so zu reagieren. Als der Hund dann näher kam, da er es wohl für ein Spielchen hielt, und sie an einem Bein mit seiner Pfote leicht kratzte, sprang sie augenblicklich mit einem Aufschrei hoch, sodass der Schwarzhaarige sie auffangen musste, was ihn kurz ins Schwanken brachte. Direkt umschloss sie mit ihren Beinen seine Hüfte und klammerte sich an ihn, während sie weiter laut schluchzte. Das war definitiv keine normale Reaktion. Nicht einmal annähernd. „Jerry!“ Der Besitzer war hinzugetreten, besah sich die kuriose Szene und nahm seinen Hund an die Leine, zog diesen zurück. „Entschuldigen Sie... er muss wohl etwas Leckeres gerochen haben.“ Der Mann lächelte beschwichtigend. „Er tut wirklich nichts. Er ist ganz harmlos.“ „Hier gilt eine Leinen- und Maulkorbpflicht. Halten Sie sich bitte daran.“, erwiderte der Detektiv zurechtweisend und bedachte den Mann mit einem ernsten Blick, welcher recht befremdlich wirkte durch die Szenerie. „Es ist gar nichts passiert, da müssen Sie sich nicht aufspielen.“, kam es unverfroren vom Besitzer. „Sollte nach Ihrer Meinung nach erst etwas passieren, bevor Sie sich daran halten?“, erwiderte L selbstsicher. „Sicher nicht, aber die Reaktion ist übertrieben. Genauso die Ihrer Freundin. Ich werde meinen Hund dann anleinen, wenn es nötig ist.“, meinte nun der Besitzer gereizt und L beugte sich leicht zu Shaelyn hinunter, woraufhin er ihr ins Ohr flüsterte: „Der Hund ist an der Leine, du kannst dich wieder auf den Boden stellen.“ Kaum stand sie wieder, schob L sie vorsichtig hinter sich, sodass sie sich verschanzte, sich aber noch immer an ihn festhielt. „Sie sind im Unrecht. Da meine Freundin Panik vor Hunden hat, wird sie nie den Park betreten können, wenn alle Hundebesitzer so denken und handeln wie Sie. Daher finde ich Ihre Reaktion reichlich unreif. Halten Sie sich an die Bestimmung und es wird keine Probleme diesbezüglich geben.“ Seine Stimme hatte einen dunkleren Ton angenommen und er maß den Mann mit einem eisernem Blick. „Drohen Sie mir?“, folgte es nun ernsthaft verärgert, während er dem stechenden Blick standhielt. „Aber nicht doch. Ich habe Sie nur darum gebeten sich an die Gesetze zu halten.“ „Verarschen Sie mich nicht! Sie haben mir eindeutig gedroht!“ Die Situation spitzte sich weiter zu und schien so schnell kein Ende zu finden. „Wie wäre es, wenn Sie nun nicht einfach weitergehen? Das wäre jedenfalls die klügere Wahl.“, sprach L nachdrücklich, passte es dem Mann nur immer weniger. Die ganze arrogante Art, damit auch die Tonwahl, gefiel dem Mann nicht. „Sie drohen mir wieder. Das gibt es doch nicht!“ Die Wutfalten auf die Stirn des Besitzers nahmen zu und wurden zu richtigen Furchen. „Ich verstehe Ihr Problem nicht. Gehen Sie doch einfach und halten Sie Ihren Hund an der Leine.“ „Gleich brech' ich Ihnen Ihre hässliche Nase!“ Augenblicklich verengte der Detektiv seine Augen, gefasst auf eine körperliche Handlungsweise. „Das sollten Sie vermeiden. In diesem Falle werde ich mich zu verteidigen wissen.“ Das waren keinesfalls leere Worte. L mochte von Außen hin einen schwachen Eindruck machen, wusste er nur zu gut, dass es nicht stimmte. Man sollte ihn nicht unterschätzen. Der Hund begann sich einzumischen, da er laut zu bellen anfing. Shaelyn zuckte deutlich zusammen und kniff angestrengt die Augen zu. Der Hund machte ihr Angst und dann war Rue dabei sich mit dem Mann anzulegen. Sie wollte doch nur ihre Ruhe. Und vor allem wollte sie nicht, dass Rue wegen ihr Probleme bekam. Dann unerwartet wurde sie am Arm gegriffen. Er hatte ihre steigende Unruhe bemerkt, weshalb er entschied besser zu gehen. Auch wenn es wie eine Niederlage war. Rue hatte sich umgewandt und zog sie mit sich, sodass sie vom Weg auf das Gras gelangten. Selbst als sie ein paar Minuten, so wie es ihr vorkam, gelaufen waren hörte sie noch schwach ein Bellen in der Ferne. Und jetzt noch raste ihr Herz. Urplötzlich hielt Rue inne, sodass sie in ihn hinein lief. Er hätte sie ruhig warnen können. „Alles in Ordnung?“, wollte L auch gleich wissen, nachdem er sich zu ihr wandte. Beschämt senkte sie den Kopf. „Ja, geht schon. … Das tut mir leid.“ „Es war nicht dein Fehler. Aber es wäre nur von Vorteil gewesen, wenn du mir von deiner Angst berichtet hättest.“, folgte es etwas dunkel. Ja, er hatte Recht. Dann wäre es bestimmt nicht dazu gekommen. „Ich dachte... dann machst du dich vielleicht darüber lustig.“, nuschelte sie bedrückt. Das hatte sie wirklich gedacht und es hatte sie belastet, weshalb sie auch auf seinem Spruch vorhin nicht reagiert hatte. „Weshalb sollte ich das tun?“ „Ich weiß nicht. Damals wurde ich deswegen immer ausgelacht... jeder sagte, dass Hunde doch total lieb sind und so was...“ L weitete etwas seine Augen. Also war der Ursprung ihrer Angst eine schlechte Erfahrung. Sofort fiel ihm die Narbe ein, die er damals beim Umziehen bemerkt hatte. „Kommt daher die Narbe an deiner Hüfte?“, fragte er achtsam und erhielt als Antwort ein zögerliches nicken. „Angeblich wollte der Hund ja nur spielen... Da war ich sieben Jahre alt und lag eine Woche im Krankenhaus.“ Shaelyn hob ihre rechte Hand und fasste sich an die Stelle, knapp über dem Oberschenkel. „Das Vieh hat mich seitlich erwischt und die Ärzte sagten, ich habe einen guten Schutzengel gehabt. Naja... seitdem habe ich eben solche panische Angst und ich verstecke auch die Narbe immer. Ein Bikini kann ich leider nicht tragen. Es sieht total ekelhaft aus.“ Ein müdes Lächeln zeichnete sich auf ihre Lippen ab. „Ich bin da anderer Meinung. Es sind nur minimale Kerben, die allerdings sonst nicht weiter im Gesamtbild stören.“, kam es nachdenklich von ihm, woraufhin sie sofort den Kopf anhob. „Wirklich?“, hakte sie begeistert nach und griff an sein Shirt am Oberkörper, sodass sie knapp bei ihm stand und fast mit ihrem Kopf an den seinen stieß. „Ja.“ L verzog seinen Mund. Sie kam ihm wieder viel zu nahe. Das vorhin hatte schon merklich gereicht. Direkt fasste er ihr zeitweilig an die Handgelenke, sodass er sie von sich löste und nahm ein Stück abstand. „Warum machst du das schon wieder?“ Umgehend stellte sie ihm traurig diese Frage. Shaelyn verstand nicht wieso er sie wieder von sich wies. Und ehe er zu etwas ansetzen konnte, stieß sie ihn einfach mit einem heftigen Ruck. Begleitet mit einem kleinen Aufschrei landete der Detektiv im Gras und wurde gleich von Shaelyn in Besitz genommen, indem sie sich auf ihn setzte. Ihre Hände drückten ihn weiter ins Grüne und ihr Gesicht sah verärgert aus. L rührte sich nicht, war er noch schockiert wie es so rasant passieren konnte und nicht zuletzt wie sie auf ihm Platz nahm. Damit hatte er definitiv nicht gerechnet. „Los, sag mir was dir wieder im Kopf rumschwirrt!“, forderte sie ihn forsch auf und beugte sich ein Stück nach unten, sodass ihre Haare nach vorn fielen und das fast auf sein Gesicht. Ihr Ausdruck verriet Ärger. Sie hatte es satt, dass er nichts sagte! Dann musste sie halt grob werden. Unvermittelt sog der Schwarzhaarige mehr die Luft ein und weitete seine Augen stark. Dafür gab es zwei folgende Gründe: Erstens drückte sie ihm mit ihren Händen auf den Brustkorb, also auf die Lungen und letzteres, ausschlaggebenderes, hatte er einen schönen Einblick, der ihm weiter den Atem nahm. „Ich habe einen guten Einblick.“, sagte er unverblümt und nahm auch nicht seinen Blick von jenem. Shaelyn bewegte sich nicht, auch ihre Mimik veränderte sich nicht. „Und? Du hast eh alles gesehen. Und ist das wirklich das Einzige was dir durch den Kopf geht? Mein Busen? Bist du bescheuert?“ „Sagen wir es so: Es wäre zumindest das Einzige, was gegenwärtig ist.“, entgegnete er engelsgleich. „Fein. Da wir auf das tolle Gesprächsthema gekommen sind, kann ich auch gleich fragen. Gefällt dir was du siehst?“ „Ich kann mich nicht beklagen.“ Shaelyn seufzte und setzte sich auf, sodass ihm natürlich kein weiterer Blick gewährt wurde. „ … Das muss man dir erst einmal nachmachen. Du bist echt DREIST! Und versuchst wieder vom Thema abzulenken... und dann auch noch wie. Ziemlich geschmacklos. Man schaut einer Frau nicht in den Ausschnitt und dann auch noch zugeben. Kannst du nicht wie alle anderen Kerle auch dir eine Ausrede einfallen lassen?“ L musste unwillkürlich grinsen. Interessant. Sie benutzte also im Zusammenhang mit ihm das Wort Kerl. Außerdem wunderte es sie nicht. Ihr war also tatsächlich bewusst, dass er ein Mann war und nicht ihr Bruder. Ein Bruder würde derartiges nicht tun, wenn es der Normalfall wäre. L hatte infolgedessen seine gewünschte Reaktion erhalten. „Also gut... dann,...“, begann zunächst nachdenklich, ehe er unschuldig fortfuhr: „blieb mir leider keine andere Wahl, du hast dich mir förmlich aufgedrängt. Ich konnte nicht anders.“ Kurz war es still, dann begann Shaelyn zu lachen und hielt sich den Mund. Auch L amüsierte sich darüber, weshalb er breiter grinsen musste. „Das war eine so typische Männerausrede. Alle Achtung, Rue. Dabei dachte ich, du bist jemand, der nicht auf solche Dinge achtet. Also doch ein kleines Schwein?“ „Wenn du mir keinen Anlass gibst, bin ich auch keines.“ Jetzt stand ihr der Mund offen. Wie frech! Als ob sie Schuld wäre! „Ich suche Vergeltung!“, rief sie plötzlich aus und er blickte entgeistert zu ihr hoch. Was sollte das bedeuten? Das erfuhr er schneller, als ihm lieb war. Ohne Vorwarnung bückte sie sich rasch und probierte das offensichtliche. Sie wollte ihn kitzeln! Schließlich hatte sie es ihm schon angedroht, wenn auch länger her. Jetzt war der optimale Zeitpunkt gefunden und ihr Opfer schlug jäh die Augen ganz auf, als sie unter die Jacke strich und mit ihren kalten Fingern über seine Haut am Unterbauch fuhr. Augenblicklich keuchte L etwas auf und drückte seinen Rücken schwach durch. Nicht nur, dass es kühl war, sondern fühlte es sich wie ein elektrischer Stoß an. Welcher durch seinen ganzen Körper jagte und massives Herzklopfen verursachte. Und es wurde nicht besser, da sie den Weg weiter über seine nackte Haut suchte. Hinterließen ihre Berührungen eine heiße Spur, obwohl ihre Finger eisig waren. War jede noch so kleine Stelle die sie streifte ein wohliger Schauer. Ja, er hatte schon vorher bei ihren Berührungen bemerkt, was es alles für Auswirkungen hatte, aber nie in diesem Ausmaß. Es löste eine ganze Lawine voller Eindrücke und Empfindungen. Dinge, die ihm vorher fremd waren. Und die Gier nach mehr stieg. Das Bedürfnis herauszufinden wie es erst wäre, wenn mehr geschehen würde. Schon jetzt war sein Kopf überfüllt. Alles drehte sich. „Hey, alles okay?“ Shaelyn hielt inne und horchte auf. Rues Körper zitterte stark, wehrte er sich auch nicht. War sie zu weit gegangen? Gelacht hatte er jedenfalls nicht, auch wenn sie noch gar nicht richtig dazu gekommen war. Und trotzdem schnaufte er angestrengt, senkte und hob sich seine Brust schnell. Ging es ihm nicht gut? Hatte er vielleicht Schmerzen? Wie gelähmt lag er unter ihr, hatte er sich einfach nur noch komplett angespannt. Völlig handlungsunfähig probierte er Ruhe zu bewahren, was jetzt besser gelang, da sie ihre Hände zurückzog. Dann jedoch bettete sie ihren Kopf an seine Brust und schien zu horchen. Schon roch er den Duft, der von ihren Haaren stammte. Süße Kirschen... „Großer Gott, kriegst du gleich einen Herzanfall?! Ich wusste ja nicht das dich das so mitnimmt!“ Shaelyn war voller Sorge. Wahrscheinlich hatte er deswegen immer so reagiert? Mochte er das so wenig? Er musste nicht gleich Panik bekommen und wenn, dann hätte er es ruhig sagen können. Sie nahm ihren Kopf von seinem Brustkorb und lächelte gequält. „Weißt du, du hättest ruhig sagen können, dass du es nicht magst, wenn ich dich berühre. Tut mir leid, dass ich dich bisher damit so belästigt habe...“, folgte es betrübt und mit demselben tristen Lächeln. „I-ich dachte nur,..“ Unbeholfen begann sie zu stottern, hielt allerdings inne. Irgendetwas zupfte leicht an ihren Haaren. L hatte seine Hand gehoben und berührte vorsichtig ihre langen Haare an der Schulter, nahm sie zwischen die Fingerkuppen. Er hatte sie einfach anfassen müssen, nachdem er wahrgenommen hatte, wie sie gerochen hatten. Und es fühlte sich weich an. Ein fasziniertes Grinsen bildete sich auf seinen fahlen Lippen. Ein stiller Moment, der abrupt endete, als er ihre zittrigen Lippen sah. „Ist... da was im Haar? Bitte sag mir es ist kein Käfer...“ Verdutzt starrte er in ihr Gesicht, zog seine Hand zurück, während er sich aufsetzte. Jetzt war ihr Gesicht kaum eine Handbreit entfernt. Nah genug um ihren Atem auf der Haut zu spüren. Jeder noch so kleine Punkt wurde von seinen leeren schwarzen Augen studiert, bevor er an ihrem Mund hängen blieb. „Ist es was Schlimmeres?! Eine Spinne?! Jetzt sag doch was!“ „Es ist kein Käfer und auch keine Spinne.“ „Was? Wirklich?...“ Erleichtert atmete sie aus und bemerkte just diesen Augenblick, dass Rue ihr so nahe war. Kurz überrascht, zog sie die Stirn in Falten, dann lächelte sie glücklich. Er war ihr von sich aus näher gekommen, also musste sie sich nicht fürchten, dass er es nicht mochte. Oder? Auch saß sie weiterhin auf seinem Schoß, was im Übrigen recht bequem war. Und zum ersten Mal kam ihr die Frage in den Sinn, ob das auch wirklich normal für Freunde wäre, so zu sitzen. Unsicher hob sie ihre Hände, nahm auch schon sein Gesicht in diese. Seine Wangen waren wohlig warm. „Was war es denn dann?“, wisperte sie schwach und fühlte dabei seinen Atem immer deutlicher. „Die Jugend von heute hat keinen Anstand mehr!“ Diese Worte rissen den Detektiven aus der Versuchung, die er beinahe erliegen wäre. Sofort starrte er zur Seite woher der verärgerte Ausruf stammte, musste dann seinen Kopf etwas nach oben drehen, was ebenso erschrocken Shaelyn tat. Eine alte Frau stand dort, mit einem großen Hut und stützte sich mit einer Krücke. Ihr Gesicht zeigte reine Empörung. „Wir sind hier in einem Park. Benehmen Sie sich, junger Mann!“ Schon stupste die alte Dame L mit ihrer Krücke in die Seite. Sie ignorierte vollkommen Shaelyn, als sei nur L daran schuld. Dabei war an dieser Situation nichts Anstößiges. Das Stochern in die Seite wiederholte sie, ehe Shaelyn reagierte und sich schnell aufstellte. Ihr Gesicht war vor Scham ganz rot. Tausend Dinge rasten durch ihren Kopf. „Machen sie das Zuhause mit ihrer Freundin, unsittlicher Bengel! Hier sind Erwachsene und Kinder anwesend!“, äußerte sie ungehalten. „Entschuldigen Sie.“, kam es betonend über seine blassen Lippen und stand somit ebenfalls auf. Er gab der alten Frauen ihren Willen, und das, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. „Ja und achten Sie in Zukunft auf ihr Benehmen!“ Die Alte machte kehrt und L verfolgte sie mit seinen schwarzen Pupillen ein paar Sekunden, bevor er seine angebliche Freundin von der Seite ansah. Diese hielt sich ihre eigenen Wangen nun vor Verlegenheit. Warum hielten sie alle für ein Paar? Auf dem ganzen Trubel hin, griff L erst einmal in seine Hosentasche und holte sich ein paar Bonbons heraus. Zucker sollte die Nerven beruhigen. Das war wirklich nötig. „Gib mir bitte auch welche...“, kam es leise von ihr und streckte zögerlich ihre Hand aus. Sie hatte gehört, wie er sich wieder Bonbons auspackte. Das Rascheln war einfach unverwechselbar und verriet den Zuckersüchtigen. Momentan brauchte sie auch etwas Süßes. Das musste alles verarbeitet werden. Denn irgendwas war komisch an der ganzen Sache. Nachdem er ihr ein paar Bonbons in die Handfläche legte, setzte sie sich einfach ins Gras zurück, woraufhin er sich zu ihr, in einem gewissen Abstand, hockte. Für eine Weile schwiegen beide, ehe Shaelyn ihren Mund öffnete: „Wie sieht der Himmel heute aus?“, fragte sie auf einmal und fing sich einen schrägen Blick vom Detektiven ein. Wie kam sie plötzlich darauf? „Er ist blau.“, antwortete er trocken. Für diese Feststellung musste er nicht einmal nach oben sehen. Gleich auch seufzte sie laut. „... Tatsächlich? Ich dachte er wäre grün!“ „Nein, blau.“ „Sagst du noch mal nur blau, komm ich rüber und hau dir auf den Hinterkopf! Ich will wissen was genau für eine Farbe. Ist er dunkelblau? Babyblau? Marineblau? Und sind viele Wolken am Himmel?“ L verstand nicht ganz den Sinn des Ganzen. Über all diese Dinge hatte er nie nachgedacht und nicht darüber spekuliert welche Farbe genau es war. Schließlich hob er doch den Blick an und besah sich die unendliche Weite vor sich. „Ich würde sagen,... Babyblau. Und es sind ein paar Wolken aufgezogen.“, grübelte er hörbar und lutschte weiter lautstark am Süßen im Mund. „Und wie sehen die Wolken aus?“ „... Sie-“ „Jetzt sag mir bloß nicht welche Farbe... Ich weiß, dass sie weiß sind.“, unterbrach sie ihn direkt und L schloss seinen Mund wieder, starrte sie stattdessen nur mit seinen großen Augen an, so als habe sie ihm gesagt Aliens wären auf der Erde gelandet. „Benutz' deine Fantasie. Welche Form könnten sie haben? Vielleicht ein Tier? Ein Gegenstand?“, fragte sie ihn nun mit einem Lächeln und legte sich auf den Rasen, genoss dabei die angenehmen Sonnenstrahlen. Es war tatsächlich ziemlich warm geworden, was sie erfreute. Wenn es so weiter ging, dann brauchte man bald keine Jacken mehr. Schließlich ging der Frühling auch schnell vorüber. Hoffentlich wurde es im Sommer nur nicht zu heiß. „Eine … Erdbeere.“, kam es nachdenklich von der Seite, woraufhin Shaelyn ihren Kopf zur Seite neigte und das Gras sie an der Nase kitzelte. „Eine Erdbeere?“ Überrascht von seiner Äußerung, zog sie die Augenbrauen an. „Wie kann denn eine Wolke wie eine Erdbeere aussehen?“ Ein seltsames Bild formte sich in ihrem Kopf. Irgendwie passte es nicht, weshalb sie anfing zu kichern. „... und ein Dount.“ Seine nachdenkliche und arglose Stimme, und viel mehr das Gesagte, brachte sie nun kurz zum Lachen. „Warte mal, halt!“, lachte sie noch halb. „Wie geht denn das? Ist da ein Loch in der Mitte?“ „Nein, ich würde sagen, es ist ein gefüllter Donut. Höchst wahrscheinlich... mit Erdbeergelee.“, kombinierte er geschickt. Jetzt hielt sie gar nichts mehr. Laut prustete sie los und musste sich den Bauch halten. Das gab's nicht! Selbst jetzt dachte er nur an Essen. L grinste und beobachtete ihren Lachkrampf. Er hatte nur das getan, was sie verlangt hatte. L benutze seine Fantasie und was dabei heraus kam, waren nun einmal solcherlei Dinge. Langsam verebbte ihr Lachen und sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Jetzt schmerzt mein Bauch!“, beschwerte sie sich mit einem breiten Grinsen. „Aber kann es sein, dass du hungrig bist?“ „Ja,... möglich.“, gab er zum Besten und Shaelyn winkte nur wissend ab. „Klar, warum frag ich überhaupt. Du isst ja eh immer und am Liebsten Erdbeertorte. Mich wundert es also, dass du das nicht gesagt hast.“ „Du weißt... was ich am Liebsten esse?“, fragte er neugierig und legte seinen Zeigefinger an die Unterlippe. „Natürlich, Rue. Mir ist das aufgefallen, auch wenn ich nicht Sehen kann. Oft genug hab ich was probiert und irgendwie war es viel häufiger Erdbeertorte, als was anderes. Wobei du gern diese Lutscher hast... ständig hängst du an denen. Besonders wenn ich immer mal wieder auf der Couch aufgewacht war, hab ich dich daran lutschen gehört. Bonbons kaust du auch gern mal, aber die Lutscher werden immer brav geschleckt.“, führte sie entspannt aus, lächelte dabei stets sachte. Und es verblüffte L außerordentlich, so sehr, dass man es ihm sogar ansehen konnte. Dazu fehlten ihm nun die Worte. „Und es gibt noch so viele andere Dinge, die ich von dir weiß, und welche, die du bestimmt nicht einmal selbst weißt.“ Diesmal grinste sie und kicherte für einen Augenblick. Neugierig geworden, achtete er genau auf ihre Stimme. Es gab nichts, was er nicht wusste. „Ich höre.“, forderte er sie schließlich auf, als es ihm nicht schnell genug ging. Sie musste diese Pause absichtlich machen. „Na... neugierig und ungeduldig?“, zog sie ihn direkt auf und seine Vermutung wurde bestätigt. Entnervt formte sich sein Mund zu einem Strich und seine Augenlider senkten sich zur Hälfte über die Augen. „Ja. Könntest du also fortfahren?“ „Könnte ich...“ Sie machte sich daraus einen Spaß. Endlich war sie diejenige, die mal auf die Folter spannte. „Unter einer Bedingung.“ Ihre Stimme enthielt eine gewisse Tonlage, die ihm gar nicht gefiel. „Welcher?“, folgte es mit einem kleinen zeitlichen Abstand und äußerst misstrauisch. „Du musst herkommen. Ich flüstere es dir nur ins Ohr.“ Ob dahinter eine List steckte? War es das wert ein Risiko einzugehen? „Unter diesen Umständen muss ich passen.“ „Okay, dann eben nicht.“ Ihre Antwort folgte prompt und machte es nur verdächtiger. Jedoch stieg in diesem Falle das Interesse weiter. Ein Glucksen war zu hören. Sie kämpfte mit sich nicht gleich in Lachen auszubrechen. Shaelyn war bewusst, dass sie ihn nur noch wissbegieriger machte und er es unbedingt hören wollte. Im Moment benahmen sie sich wie Kinder. „Was spricht dagegen es mir so zu verraten?“ L probierte es noch einmal, was sie allerdings nur lustiger fand und über beide Ohren grinste. „Egal wie oft du noch fragen wirst: Ich flüstere es dir nur zu. Und was spricht dagegen nicht einfach herzukommen?“ Eine Frage, die er ihr nicht beantworten konnte. „Ich beiß' dir dein Ohr schon nicht ab.“, fügte sie amüsiert hinzu. Rue stellte sich aber auch wirklich an. Sie hatte ja gelernt, dass sie ihn nicht überfallen sollte. Bekam er fast einen Herzinfarkt. Da horchte sie genau hin, als sie etwas Rascheln hörte. Rue musste sich bewegt haben und das auf sie zu und ganz wie sie ihn kannte auf allen Vieren. Als sie dann seine Haare im Gesicht spürte, kicherte sie zeitweise auf. „Deine Haare kitzeln mich, Rue.“, meinte sie anschließend. „Das war sicher nicht das was du mir sagen wolltest.“ „Stimmt. Also hör genau hin.“ Shaelyn hob ihre Hand und strich ihm die wirren Haaren vom Ohr, damit sie sich weiter zu ihm lehnen konnte. „Hin und wieder murmelst du etwas vor dich her, wenn du schläfst. Und ich merke daran, dass du schläfst, weil es ganz still im Raum ist.“, sprach sie leise und ließ seine Haare zurückfallen. Zeitweilig verharrte er in der Position, ehe er stockend Abstand nahm. „Hast du verstanden, was ich gemurmelt habe?“, hakte er nun ernst nach. „Hm... also meistens ist es undeutlich. Dann war da aber eine Stelle... die fand ich seltsam.“ Es klang sehr nachdenklich, auch legte sie den Kopf ein wenig schief. „Irgendwie fiel ein Wort öfter. War aber schnell vorüber, musste also richtig hinhören.“ „Welches?“ L verengte die Augen. Das klang sehr bedenklich. „El. Oder war nur der Buchstabe gemeint? Also L? Ich weiß nicht, war furchtbar undeutlich.“ Für eine winzige Sekunde zuckten seine Augenwinkel, begann er auch gleich wieder damit seinen Daumennagel zu verkleinern, ungeachtet davon, dass es schon fast nicht mehr ging. „Was meinst du könnte das bedeuten? Ich versteh es nämlich nicht.“ „Ich schätze es war etwas Belangloses.“, wandte er ruhig ein und beobachtete ihre Mimik genau. „Hm... hast bestimmt Recht. Wenn man eben im Schlaf murmelt, kann es ja nur was Verrücktes sein.“, pflichtete sie ihm bei. Und damit war das Thema für sie erledigt, für den Detektiven allerdings nicht. Das hatte er tatsächlich nicht von sich gewusst und es war riskant. Vielleicht würde so seine Tarnung auffliegen. „Aber … meinst du nicht, dass du vielleicht mehr schlafen solltest?“ Shaelyn war besorgt um seine Gesundheit. Das konnte doch nicht gesund sein, auf Dauer so wenig und dann in immer in dieser Sitzhaltung. „Ich komme gut damit aus.“ Wie eh und je eine sachliche Antwort. Irgendwie hatte sie fest mit dieser Reaktion gerechnet. „Ich mache mir nur Sorgen um dich.“ Nun sah sie mit leerem Blick in seine Richtung, auf ihren Lippen lag ein trauriges Lächeln. „Ich möchte noch was von dir haben... auch möchte ich, wenn ich wieder Sehen kann und wegziehe, mit dir Kontakt haben. Denkst du, das wäre möglich?“ Es fühlte sich einsam an. Der Gedanke, dass wenn alles geregelt war, sie fort müsste. Auch mit anfänglichen Schwierigkeiten, fühlte sie sich jetzt geborgen. Sicher, als ob ihr nichts passieren könnte. Dabei war es nicht einmal ihr Großvater, der ihr so viel Schutz gab. Natürlich, Watari steuerte auch viel dazu bei, aber... Rue war eine Ausnahme. Vielleicht lag es einfach daran, dass er so viel aufs Spiel gesetzt hatte, als er selbst kam um sie aus dem Alptraum zu retten. So viel hatte er gewagt. Ihn hätte eine Kugel treffen können, oder was wäre gewesen, wenn man sie einfach eingesperrt gelassen hätte? Noch heute wusste sie nicht, dass L besondere Maßnahmen getroffen hatte. Auch dafür, dass wenn er nicht mit ihr fliehen hätte können. „... Ja.“ Direkt seufzte die Schwarzhaarige. Da fiel ihr ein großer Stein vom Herzen. Wusste sie nicht, dass diese Antwort eine glatte Lüge war. „Wir sollten gehen. Es wird spät.“ „Wirklich? Geht die Sonne schon unter?“ Hatten sie so lange im Gras gesessen und geredet? Obwohl, sie wusste nicht wann sie genau losgegangen waren. „Ja.“ Gleich schon bemerkte sie seine kühle Hand an der ihren, welche auf dem Boden geruht hatte. „Ich möchte noch nicht zurück...“, sagte sie betrübt, ließ sich dennoch von Rue auf die Beine ziehen. „Warum?“ „Es ist so schön hier mit dir. Wenn wir zurückgehen bist du wieder vor deinem Laptop. Ich würde gerne mehr Zeit mit dir verbringen.“, nuschelte sie ein wenig beschämt. Sie wollte nur ehrlich sein und ihm deutlich zeigen, dass sie ihn gern hatte. Die Erinnerung an die Zeit vor Weihnachten, als sie ihn kennenlernte, war ihr in den Sinn gekommen. Ihr Benehmen war furchtbar gewesen. Nun, Rue war ihr auch nicht sonderlich sympathisch rüber gekommen. Seine ganze Aufmachung nicht. L fehlte es an passenden Worten. Was sollte er dazu äußern? Shaelyn verbrachte gerne die Zeit mit ihm und sie offenbarte ihm, dass sie es bedauerte nicht mehr mit ihm erleben zu können. Sie sagte ihm Dinge, mit denen er nicht umzugehen wusste. Auch nicht mit dem was er fühlte. Ein tiefer Stich ins Herz, den sie ihm mit ihren Worten versetzte. War er überhaupt fähig das alles auf sich zu nehmen? Hatte er sich zu viel zugemutet? Sogleich fasste er sich an die linke Brustseite. Er spürte wirklichen Kummer. „Rue?“, fragte sie leise und drückte seine Hand sachte. Viel zu lange war es still. So hob sie ihre andere Hand und streckte sie in seine Richtung aus, bekam daraufhin seine Schulter zu fassen. Vorsichtig fuhr sie an seinem Schlüsselbein entlang, hoch zum Hals und legte ihre Handfläche behutsam auf seine Wange. L blickte ihr daraufhin ins Gesicht. „Weißt du, ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Gibt es wirklich nichts, was du dir von der Seele reden willst?“ L starrte in ihre trüben Augen, nahm auch schon ihre Hand von seiner Wange und hielt diese von sich weg. Er war viel zu nachgiebig zu ihr gewesen. Stünde sie ihm nicht so nahe, hätte er niemals nur das Kleinste durchblicken lassen. Diese Tatsache machte ihn wütend. Wütend auf sich selbst. „Es wird kalt, wir sollten jetzt gehen.“ L überging ihre Worte, so als hätten sie sie nie gegeben. „Guten Abend, Shaelyn. Wie hat dir der Park gefallen?“, fragte auch gleich ihr Großvater, nachdem sie das Wohnzimmer betrat. Ein müdes Lächeln zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. „Es war schön...“, entgegnete sie leise und verblieb am Türrahmen. Rue hatte nichts mehr gesagt. Hatte er sie überhaupt gehört? Oder waren es nur ihre Gedanken und sie dachte sie wären nur ausgesprochen gewesen? Und wenn er sie gehört hatte, warum antwortete er dann darauf nicht? Es machte ihr noch mehr Sorgen, da es für sie so offensichtlich war. Die Ironie an allem war, dass es ihr eventuell gar nicht aufgefallen wäre, wenn sie hätte Sehen können. Sein Blick war immer derselbe. Ausdruckslos, ohne jegliche Gefühlsregung. Aber da sie ihn nur hörte, fand sie das Fehlende, bemerkte das Leise, etwas was ihr nicht aufgefallen wäre, hätte sie in seine starren Augen gesehen. Es hätte sie abgelenkt und seine Aussagen bestärkt. Sie hatte gelernt auf alles genau zu achten, da ihr es sonst fehlte etwas zu bemerken. „Das freut mich. Möchtest du etwas essen?“ „Gern.“ Ihr Lächeln blieb, wirkte es nur weiterhin abgekämpft. Ob es Watari auffiel, wusste sie nicht und wenn es ihm klar war, dann fragte er bewusst nicht nach. Möglicherweise bemerkte er es selbst, das hier etwas nicht stimmte. Hielt er sich heraus? Shaelyn nahm wahr, wie ihr Großvater das Zimmer verließ und Schritte in die Küche getan wurden. Der günstige Zeitpunkt war gekommen. So betrat sie das Wohnzimmer, setzte sich Richtung Tisch in Bewegung. War es ihr nicht entgangen, wie es gleich wieder Papier raschelte und er sich am Süßem bediente. „Rue?“ Ihre ernste Stimme ließ den Detektiven zu ihr herumfahren, stand jedoch noch leicht seitlich, hielt dabei eine Schale in der Hand, gefüllt mit reichlich Bonbons. „Was gibt es?“ Aufgrund seiner Stimme konnte sie ungefähr orten wo er sich befand, wurde auch gleich von ihm am Arm gefasst, als sie drohte in ihn hineinzulaufen. Jetzt wusste sie wo er sich genau befand. Shaelyn nahm einen tiefen Atemzug: „Egal was du sagen wirst und es noch tun wirst. Ich weiß, dass dich etwas bedrückt. Wenn du irgendwann dazu bereit sein wirst: Ich werde dir zuhören.“ Kaum hatte sie dies ausgesprochen, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen. Und L riss seine Augen Sekunden später vollkommen auf. Geschirr klirrte, darauf folgend ein Rasseln. Bunte Kugeln verteilten sich quer über dem Boden und die Schüssel hatte einen großen Sprung. Das interessierte jedoch in diesem Raum niemand. Nur eines war von Wichtigkeit: Shaelyns Lippen, welche die von L berührten. Kapitel 17: Limit ----------------- Ein Kuss ist magisch. Er reißt uns mit, lenkt uns ganz instinktiv. Knipst unseren Verstand aus. Verführt uns unbewusst zu mehr. Löst dabei eine ganze Flut Schmetterlinge aus, welcher man nicht standhalten kann. Das Herz hämmert unkontrolliert in der Brust und man fürchtet keine Luft mehr zu bekommen. Die Hitze steigt einem immer mehr zu Kopf. Nur wenn es wirklich Liebe ist, ist ein Kuss magisch. War es nun also genau das? Liebe. Kein Wort hat mehr Bedeutungen als dieses. Jeder empfindet sie anders. Es ist das, was man damit verbindet. Die Liebe zu seinem eigenen Kind. Die Liebe zur Natur. Die Liebe für Süßes. Die Liebe zu seinem Haustier. Und natürlich die Liebe zu seinem Partner, einem bestimmtem Menschen, den man nicht aus seinen Gedanken verbannen kann, egal wie oft man es versucht. Jeder erfährt Liebe. Es lässt uns weiter wachsen. Ob es nun eine glückliche oder unglückliche Liebe ist. Ein Leben ganz ohne dieses Gefühl ist nicht dasselbe. Was wären wir ohne eine tiefe Zuneigung zu irgendetwas? Die Liebe verändert alles. Es lässt uns spüren, dass wir da sind. Es zeigt uns das, was uns fehlt, das, ... wonach wir uns offen sehnen. Es schmeckte süß. Zucker, er war überall zu entdecken. Ganz so als aß man Zuckerwatte. Nein, diese Süße war nicht zu vergleichen. Es war viel mehr als das. Es machte abhängig. Vom ersten Moment an. Vollkommen gefangen. Außerstande diesen oder einen weiteren Gedanken weiterzuführen. Shaelyn schlang ihre Arme um seinen Nacken, zog L weiter zu sich hinunter, fuhr dabei mit ihrer Hand in sein dichtes Haar. Zeigte sie ihm deutlich wie sehr sie ihn wollte; wie sehr es ihr gefiel. Und er tat nichts anderes als sich bereitwillig darauf einzulassen. Einzulassen auf ihre Nähe, ihren Kuss und das heftige Kribbeln in seinem Bauch. Welches unaufhörlich zunahm, immer wilder zu werden schien, ebenso der Kuss, jener bereits viel leidenschaftlicher geworden war. Es war völlig außer Kontrolle geraten und … es fühlte sich unvergleichlich an. Alles, einfach alles. Der Gedanke ob es richtig war stellte sich in diesem Augenblick keiner der beiden, die dort eng umschlungen nicht voneinander lassen konnten, ganz so als würde der Morgen nicht mehr existieren. Und wenn es so passieren würde, wäre das nicht vollends unbedeutend? Gab es noch eine Welt außerhalb dieser vier Wände? „Entschuldigung.“ Eine strenge Stimme war zu hören, die nur vom alten Herren stammen konnte. Jener stand am Türrahmen, hatte bereits versucht mit einem Räuspern Aufmerksamkeit zu erlangen, was kläglich gescheitert war. Nun jedoch war es anders. Urplötzlich, so als habe Shaelyn sich verbrannt, zog sie ihren Kopf zurück, hielt dabei ihre Hand vor ihrem Mund. Blankes Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht wider. Sie erkannte sich selbst nicht mehr. Was hatte sie getan? Und vor allem warum? Tränen stiegen ihr in die trüben Augen. Das war alles nicht das, was sie gewollt hatte. Oder sie war sich dem nicht bewusst. Bewusst, was sie wirklich wollte. Überrumpelt von den Gedanken die sie erfassten, ging sie rückwärts, hielt sich dabei die Hände vor der Brust, in welcher eine große Aufregung herrschte. Längst hatte L sie losgelassen, war er selbst wie erschreckt. Über sich, die Wendung und nicht zuletzt was es für Konsequenzen haben würde. War er ein so schwacher Mensch, dass er nicht widerstehen konnte? Oder wäre es keinem einzigen gelungen? Er hätte es abblocken müssen. Nun war er nicht mehr als der Mann, der er war. Keine großen Titel. Keine Maschine die funktionieren musste. Er war der Mensch, L Lawliet, welcher tief in seinem Inneren weggeschlossen war und nun seinen Tribut forderte. Ihm dabei unmissverständlich klar machte, dass es Dinge gab, die er nicht so lenken konnte, wie er es sich zum Entschluss gemacht hatte. Nichts konnte sich dem entgegen stellen. Auch nicht dem eisernen Willen von L. „Warte, Shaelyn. Überstürze nichts ...“ Der alte Mann versuchte seine Enkelin aufzuhalten, was ihm nicht recht gelang, da sie aus dem Zimmer eilte. In ihrem Zustand konnte sie nicht darauf los rennen. Vielleicht stolperte sie oder stieß sich. So folgte er ihr in den Flur, sah wie sie in ihr Zimmer flüchtete und dabei die Tür hart ins Schloss schlug. Zumindest war sie unbeschadet in ihrem Raum angekommen. Gleich auch wurde die Tür verriegelt und er begriff, dass sie nun für sich sein wollte. Sehr wahrscheinlich sogar für eine ganze Weile. „Sie hätten Sie nicht damit überraschen sollen.“, verließ es bündig den Mund von Watari, als dieser wieder das Wohnzimmer betrat. Nun hatte er alles Recht dazu sich zu äußern, das wusste ebenso der Detektiv. Dieser stand nun am Fenster, blickte starr hinaus und fixierte keinen Punkt, während er an seinem Daumennagel knabberte. So wie er an seinem Nagel kaute, war es sein Verstand, der an ihm nagte – und all die logischen Schlussfolgerungen seiner Handlung vernichtete. Was er getan, nein, worauf er sich eingelassen hatte, war nicht mit Logik zu erklären. „Ich habe sie nicht überrascht. Das hat sie alleine getan.“, erwiderte L matt und wandte seinen Kopf nun zu Watari, der deutlich verwirrt schien. L jedoch wie immer wirkte, als sei dieser Kuss nie geschehen. „Sie hat mich geküsst, nicht anders herum.“ Mehr als verwundert zog der alte Mann seine Braunen hoch. „Sie meinen,.. Shaelyn hat besonderen Gefallen an Ihnen gefunden?“ L seufzte auf diese Frage hin, kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und starrte seinen Vertrauten eindringlich an. „Nein, das halte ich für unwahrscheinlich. Es war zu beginn ein Versehen. Sie hat meine Körperhaltung nicht korrekt berechnet.“ „Weshalb hat sie es dann jedoch weiter fortgeführt?“ Eine Stille trat ein. „ ... Das kann ich nicht beantworten.“, murmelte L vor sich her und drehte Watari erneut den Rücken zu, während er mit seinem Zeigefinger geistesabwesend über seine Unterlippe strich. Die einzige Reaktion, die etwas von ihm verriet. Vielleicht hatte L Unrecht. Eventuell steckte doch mehr dahinter. Ließ man sich denn auf einen solchen Kuss ein, wenn man rein gar nichts empfinden würde? L wusste es wirklich nicht. Dazu fehlte ihm die Erfahrung, um zu einem eindeutigen Schluss zu kommen. Aber ihm gefiel die Vorstellung, dass Shaelyn, auch wenn die Wahrscheinlichkeit nur gering war, mehr für ihn empfand. Das konnte er nicht abstreiten. Zeit verstrich. Der Frühling wurde zum Sommer. Der Sommer zum Herbst. Der Herbst zum Winter. Die Welt nahm ihren natürlichen Lauf. Doch das Einzige was sich wirklich veränderte war die Jahreszeit. Mittlerweile konnte Shaelyn ohne Bedenken die Wohnung begehen, so als würde sie jedes Objekt vor sich sehen. Auch machten einige alltägliche Dinge ihr nicht mehr so viele Probleme. Der Duschgang zählte eindeutig dazu. Da sie sich lange nicht mehr scheute vor die Tür zu gehen, begleitete sie sogar ihren Großvater oft bei den Einkäufen. Gleichzeitig lernte sie diesen besser kennen und er schätzte ihre Anwesenheit. Dennoch belastete sie etwas schwer. Denn eines hatte sich nicht verändert: Rue. Seit diesem einen Tag hatte sie ihn nicht mehr angesprochen. Nein, sie hatte ihn gemieden. Shaelyn konnte es sich nicht erklären. Es war die pure Angst. Angst vor Rue. Alles an ihm war für sie beängstigend. Man konnte es nicht richtig in Worte fassen was sie fühlte. So war es die Furcht vor seiner Stimme, welche etwas auslösen könnte was sie nicht begreifen würde. Seine Nähe, die sie vielleicht wieder so unbedacht handeln ließ. Oder einfach die Anwesenheit und die quälenden Fragen in ihrem Kopf. Es brannte auf ihrer Zunge. Aber sie traute sich nicht zu fragen. Seit Monaten nicht, was sie weiter bedrückte. Manchmal spürte sie noch immer seine Lippen. Warm, sanft... dann diesen winzigen Augenblick, als aus der irrtümlichen Berührung mehr wurde. Wer hatte damit begonnen? Sie wusste es nicht. Plötzlich hatte er jedoch damit begonnen den Druck zu erwidern. Und das nachdem sie nicht Abstand nahm? Hatte sie sich ihm so aufgedrängt? Was ihr in Erinnerung blieb war dieser einzigartige Geruch, den er verströmte. Die angenehme Wärme in seinen Armen, weshalb sie sich ihm weiter entgegen drückte. Seine Finger an ihrem Nacken, was ihr einen Schauer durch den Körper jagte. Das etwas klebrige auf seinen Lippen, was sie dazu verleitete zu probieren und sich als purer Zucker herausstellte. Dann öffnete er schwach seine Lippen und sie schmeckte Himbeeren. Sie wollte mehr davon. Viel mehr. Und dieser leise Seufzer... stammte er von ihr? War er von ihm gewesen? Ihr war so furchtbar heiß. Aber sie war der Überzeugung Rue war ebenso wie sie unvorbereitet da hinein gerutscht. Hatte eventuell genauso kopflos drauf los geküsst, einfach aus dem Moment heraus. Er hatte bestimmt keine Gefühle für sie, wie sie für ihn, oder? Genau das war es. Die Frage, ob sie nicht doch mehr für ihn empfinden würde. Shaelyn verstand die Welt nicht mehr. War er gar kein Bruder für sie? War das alles nur eine schlechte Art zu verbergen, was wirklich vor sich ging? Aber sie würde es doch wissen? Unmöglich, sie konnte sich doch nicht in diesen eigenartigen, gemeinen, dreisten Wirrkopf verliebt haben. Erneut fasste sie sich an die linke Brustseite. Wenn sie alleine daran dachte, dann wurde ihr ganz schwindlig. Und auch der Gedanke, dass es ihr erster Kuss – richtiger erster Kuss war, stieg ihr ebenso zu Kopf. Ja, sie hatte einen Freund gehabt, aber war er ihr schnell zu aufdringlich. Es war also bei einem einfachen Kuss geblieben. Das erschreckende daran war, dass sie viel mehr bei Rue empfunden hatte, als bei ihrem damaligen Freund. Sicher war das nicht normal. Es sollte aufhören! Alles war plötzlich so verdammt schwer und kompliziert. Und auch wenn sie nicht fragte und sich damit quälte, verletzte es sie ebenso, dass Rue absolut nichts sagte. Er fragte nichts. Doch einmal war er auf sie zugekommen – und sie war geflüchtet. So lebten sie zwar in einer Wohnung, aber hörten nichts voneinander, als gäbe es sie nicht mehr. Wartete er vielleicht nur auf sie, dass sie jetzt zu ihm kam? Sie hatte es provoziert. Aber nach so vielen Monaten konnte sie schlecht einfach wieder auf ihn zugehen. Es war wie ein Teufelskreis. Gefangen in einem Rad, das sich immer weiter drehte. Alles nahm seinen Lauf. Wo war ihr Mut hin? „Geht es dir nicht gut?“, hörte sie von der Seite, weshalb sie den Kopf hob. Jetzt drangen auch wieder all die Geräusche zu ihr durch. Der Automotor, die anderen Wagen auf der Straße. Sie saß auf dem Beifahrersitz. Begleitete ihren Großvater bei einem Einkauf. „Ich weiß nicht, Opa.“, verließ es mutlos ihren Mund. Sie sprach schon seit einiger Zeit Watari so vertraut an, da er ihr auch immer näher stand. Shaelyn hatte ihn vollkommen akzeptiert und nannte ihn gerne so. „Was ist es denn? Vielleicht kann ich dir helfen.“ Kurz zögerte die Schwarzhaarige. Möglicherweise konnte er ihr helfen. War es auch vermutlich noch die einzige Chance. „Es ist wegen Rue.“ Alleine dieser Satz war ausreichend genug für den alten Mann. Dieser hatte es sich nun schon seit diesem besagten Tag mit angesehen. Zunächst war Shaelyn nicht aus ihrem Zimmer gekommen, und als sie es tat, ignorierte sie danach den Detektiven vollständig. Jener hatte versucht auf sie zu zugehen, wurde allerdings eines besseren Belehrt. Es war nicht ein Wort gefallen und doch merkte man, dass sie Abstand suchte, das nur weil sie seine Anwesenheit wahrnahm. Watari wusste, es war der falsche Zeitpunkt. Hatte dennoch nichts dazu geäußert. Solch ein Problem ließ sich nicht schnell und einfach aufklären, wie ein Fall, den L Tag täglich rasch abtat. Es erforderte Feingefühl, einen guten Moment und Geduld. Und er war viel zu angespannt gewesen und hatte es zu früh klären wollen. Shaelyn war sich nicht sicher und brauchte eben jene Zeit. Auch wenn Watari sah, wie beide zugleich litten. Er konnte und durfte sich nicht einmischen – nicht solange keiner dazu bereit war. Und dies brauchte solange es eben nötig war, auch wenn es für Monate so sein sollte. Wie es nun der Umstand war. „Denkst du, ... du kannst ihn mal für mich ansprechen? Ich glaube, ich habs' total versaut.“ „Das hast du nicht, Shaelyn.“, antwortete er ihr ehrlich und sachte, woraufhin sie verwundert den Kopf schief legte. „Es ist bestimmt zu spät.“ „Dazu ist es nie zu spät, glaube mir.“ „Ich traue mich aber nicht... das war so peinlich.“, nuschelte sie nun betreten und spielte nervös mit ihren Fingern. „Das muss es nicht sein. Versuche es Ryuzaki verstehen zu lassen. Er wird dich anhören.“ „Ich weiß, er hört mir zu. Das hat er wirklich immer getan... aber das sag ich auch gar nicht. Sondern wie ich ihm vielleicht auch Tut mir leid, sagen kann. Man kann das nicht einfach vergessen und es tut mir wirklich unheimlich leid. Ich bin an allem Schuld...“ Die offensichtliche Verzweiflung brachte Watari zum Nachdenken. Und auch, dass sie klar davon sprach, dass es nur ihre Schuld wäre. Deutlich verstand der alte Mann, dass Shaelyn nicht wahrgenommen hatte wie L fühlte – und das, obwohl er es nicht hätte offensichtlicher machen können. Das was sie begriffen hatte war einzig der Fehler, nicht das was sich noch dahinter verbarg. Oder war es ein Schutzmechanismus? Verschloss sie sich davor? Es musste einen bestimmten Grund geben. „Ich werde dir behilflich sein.“ Sofort fuhr Shaelyn in ihrem Sitz herum und fasste an den Arm ihres Großvaters. „Vielen lieben Dank, Opa!“ „Ich habe auch schon einen Vorschlag zu machen.“ Watari musste lächeln. Er wusste genau wie er ihr helfen konnte, wenn es um eine Entschuldigung ging. „Was ist es?“, fragte sie begeistert nach. Und so war der Plan der Versöhnung, so wie sie es dann schließlich nannte, in Vorbereitung. „Sie sind spät, Watari.“, merkte L an, als sein Vertrauter in die Wohnstube trat. Im der Regel brauchten die Besorgungen nicht lange, selbst wenn Shaelyn ihn begleitete. Somit musste etwas vorgefallen sein. Sein Gespür ließ nie nach und er hatte für gewöhnlich immer Recht. So auch in diesem Fall, da alleine das Lächeln von Watari zu freundlich wirkte. Der Detektiv nahm seinen starren Blick vom alten Herren und stapelte nun konzentriert weiter an seinem Zuckerturm vor sich, welcher auf dem Henkel und Tassenrand halt fand. Geduldig wartete L darauf, dass eine Erklärung folgte. „Dafür gibt es auch einen Grund, wie Sie sicherlich schon wissen.“ Der Schwarzhaarige öffnete schon seinen Mund, als Watari fortfuhr: „Shaelyn hatte ein besonderes Anliegen. Was sie Ihnen auch gleich darlegen möchte.“ Augenblicklich hielt L inne den nächsten Zuckerwürfel platzieren zu wollen. „Sie will zu mir?“, hakte er sofort nach und drehte seinen Kopf ungesund zur Seite, sodass er nun Watari einen durchdringenden Seitenblick schenken konnte. „Ja, das wünscht sie.“ L verengte schwach die Augen, währenddessen schob er sich das Zuckerstück in den Mund, welches er noch zwischen die Fingerkuppen gehalten hatte. Jetzt war er gespannt, was folgen sollte. Sogleich verließ Watari die Wohnstube, da von L keinen Widerspruch getan wurde, was hieß, dass er eine Zusage bekommen hatte. Auch wenn er bereits vorher wusste, dass der Detektiv nicht ablehnen würde, wäre ein Ankündigen das Mindeste gewesen. Zumal der junge Mann sich nun vorbereiten konnte, was Watari für sehr wichtig hielt. „Du weißt, was du zu tun hast?“, fragte der alte Mann seine Enkelin, die nun ein zögerliches Nicken von sich gab. Auch schluckte sie den großen Kloß hinunter, der in ihrem Hals einfach stecken blieb. Sie war sich nicht mehr so sicher. Was ist, wenn er wütend auf sie war? Würde er doch ihre Entschuldigung annehmen? Würde es so wie damals werden? Shaelyn wollte keine Veränderung. Es sollte alles so bleiben wie vor dem ...Ereignis. Jetzt ließ ihr Mut noch mehr nach und sie bekam kalte Füße. Am Liebsten würde sie davon rennen! „Shaelyn?“ Vorsichtig sprach ihr Großvater sie an und sie zuckte stark zusammen. Man konnte es ihr deutlich ansehen. Es fehlten nur noch Schweißperlen auf ihrer Stirn. „Ich hab Angst... i-ich mach' bestimmt alles falsch!“, sagte sie in Panik und wischte sich angespannt die Haare aus dem Gesicht. Ihr Großvater lächelte schwach, legte eine Hand auf ihre Schulter, damit sie sich beruhigte. „Keine Sorge. Beruhige dich erst einmal. Wenn du es noch nicht kannst, dann ist es nicht schlimm.“ „Aber jetzt ist alles vorbereitet... nächstes Mal da... Ich..“ Shaelyn stockte, dann schnappte sie sich das Tablett, welches auf der Anrichte stand. „Jetzt oder nie!“, sprach sie fest, auch wenn man sah, dass ihr zum Heulen zumute war. Watari zog seine Stirn kraus. Ob es wirklich eine gute Idee war? Aber sie musste den Mut finden, auch wenn er Verständnis hatte, falls sie nicht gehen wollte. So ließ er sie aus der Küche gehen, mit einem besonderen Auge auf sie. Ihre kleinen wackligen Schritte sahen riskant aus. Das war mit Abstand der schlimmste Weg – vor allem längste – den sie je gegangen war, obwohl es nur wenige Schritte ins Wohnzimmer waren. Wenn sie dachte, all die Fragen und Zweifel wären viele gewesen, erschlugen sie sie jetzt. Trotz allem brachte es absolut nichts, sich nun weitere Sorgen zu machen. Shaelyn musste es tun – und zwar jetzt! Sonst würde sie es wahrscheinlich nie tun. Der erste Schritt ins Zimmer war als löste es eine Lawine aus. Sie rechnete mit seiner Stimme, das Geräusch, dass er sich bewegte. Doch es blieb still. So still, dass sie sich fragte, ob er gar nicht im Raum war. Schlafen konnte er nicht, da Watari sie schließlich angekündigt hatte. War er also geflüchtet vor sie? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. „Du solltest vorsichtig sein.“ Ein Satz der sie zum abrupten Stehen veranlasste. Schon merkte sie, wir ihr das Tablett aus der Hand genommen wurde. „Halt, da... das. Ich meine in der Schachtel da.“, plapperte sie durcheinander und verblieb auf der Stelle, so als habe sie Angst in Berührung mit ihm zu kommen, wenn sie weiter ging. Sie konnte sich nicht konzentrieren, also wusste sie nicht ganz wo er sich aufhielt. Außerdem hatte sie es schon mal falsch eingeschätzt, weshalb sie nun auch in der Patsche saß. „Was ist in der Schachtel?“, folgte es in einer nüchternen Tonlage, was sie weiter daran zweifeln ließ, ob er überhaupt solche Fragen hatte wie sie. War er gar nicht verunsichert? Also steckte wirklich nichts dahinter? Shaelyn war verwirrt. Schon hörte sie wie das Tablett abgestellt wurde. „... ein Versuch dich gnädig zu stimmen.“ L verengte kurz seine Augen leicht. „Gibt es dafür einen guten Grund?“ „Du... bist nicht böse auf mich?“ „Warum sollte ich das?“, gab er ihr umgehend als rasche Antwort. Er hatte es nicht vergessen und betonte es damit sogar bedeutend. So sehr, dass sich die Furcht vor ihm nur weiter steigerte. Wie angewurzelt blieb sie weiter stehen und nahm dabei wahr, wie Rue die Schachtel öffnete. Stark sog sie die Luft ein und wartete auf eine Antwort von ihm. Hoffentlich hatte sie alles richtig gemacht, denn ein wenig erbost war er schon. Das merkte man ihm einfach an. Oder er verbarg es offensichtlich nicht. Das war es. Er musste es absichtlich tun, damit sie sich weiter schuldig fühlte. Und wie schuldig sie war... „Angenommen.“, durchbrach es plötzlich die Ruhe und Shaelyn hob beide Augenbrauen an. Auch wenn eine große Pause dazwischen war, so dachte sie nicht daran, so leicht eine Zusage zu bekommen. Stellte er keine Bedingungen? Aber er war doch noch sauer? „W-Wirklich?“ „Ja.“ „Also … ist dann wieder alles beim Alten? Praktisch vergangen und egal? So als wäre nie was passiert?“ Shaelyn schien erfreut und wollte nur weiter sichergehen, weshalb sich ihre Fragen überschlugen. L hingegen war weniger erfreut. Niemals könnte er das vergessen. Was er auch nicht tun konnte über die Monate. So wie sie darüber sprach, war es für sie pure Erleichterung. Hatte sie keine Fragen? War sie sich nicht bewusst was wirklich geschehen war? Versuchte sie krampfhaft alles zu übersehen, oder war sie tatsächlich so stumpf? Nein, irgendetwas war nicht richtig. Da gab es einen besonderen Grund und diesen würde der Detektiv herausfinden. So blind konnte sie nicht sein. „Sind das all deine Fragen, oder gibt es da noch etwas?“, kam es ihm gelassen über die Lippen und kaute unmittelbar danach an seinem Fingernagel, dann setzte er sich auf den Sessel und bedachte den Inhalt der Schachtel mit großen Augen. Augenblicklich fühlte die Schwarzhaarige sich unwohl. Sie kannte ihn lange genug um nicht zu wissen, was diese Tonlage bedeutete. Ganz gezielt fragte er nach diesem Vorfall... das was sie auch Tag für Tag nicht los ließ. „N-Nein. Ich wüsste nicht was.“ „...“ Das hatte er sich gedacht. Und er glaubte ihren Worten selbstverständlich nicht. „Doch etwas gibt es.“ Direkt starrte er zu ihr hinauf, gefasst auf jene Fragen. Natürlich hatte er sich passende Antworten bereits zurecht gelegt. „Gefällt dir die Torte? Den Schriftzug hab ich selbst gemacht. Opa sagt, der ist nicht ganz so schief geworden.“ Jetzt war er tatsächlich überrascht. Sie war schlecht darin etwas zu überspielen. Was selbst ihr auffiel. Sie hatte es völlig vermasselt. „Ach, vergiss das einfach. Ich geh besser. Das war blöd von mir.“, sagte sie eilig und ein wenig erbost, woraufhin sie sich herum drehte. Vielleicht war es doch einfach das Beste so. Aber warum tat es dann in ihrer Brust so weh? „Es hat mich gefreut.“ Es waren nicht mehr als leise Worte und doch hörte sie diese deutlich in ihren empfindlichen Ohren. Shaelyn hielt in ihren Schritten inne. Unschlüssig ob es wirklich die Wahrheit war, die er ausgesprochen hatte, zögerte sie. Es hatte sich ehrlich angehört. Konnte sie es denn beurteilen was er wie meinte? Seit wann konnte sie genau sagen, wann er nicht log? Doch was für einen Grund hätte er? Oder war es die tiefe Hoffnung, die sie in sich trug? Jene, die sie nun so glücklich machte? Shaelyn nahm einen tiefen Atemzug, wandte sich allerdings nicht herum, als sie begann zu sprechen: „Ich weiß, dass es jetzt sicher seltsam klingt was ich dir sage aber...“ Umgehend faltete sie ihre Hände ineinander, drehte ihren Oberkörper, während sich ein mildes Lächeln bildete. „Ich möchte nichts Verlieren.“ L zog stark seine Augenbrauen zusammen und starrte sie intensiv an. Ihre Worte verrieten ihm viel und doch nichts. Sie sprach in Rätseln. Was wollte sie nicht verlieren? Ihn als Freund? Vielleicht auch etwas vollkommen Anderes. Denn sicher war, dass ihre Antwort viel verbarg. Alleine wie sie es ausgesprochen hatte. „Was möchtest du nicht verlieren?“, fragte nun der Detektiv aufdringlich, als erneut am Daumennagel kaute. Die Schwarzhaarige wandte sich wieder nach vorn, senkte ihren Kopf etwas. Irgendwie wusste sie, dass er nachfragen würde. „Alles.“ Ein Wort, das ihn weiter ins Grübeln brachte. Was setzte sie aufs Spiel? Wenn er annehmen würde, sie empfand so wie er, und sie es offen aussprach, dann bestünde die Möglichkeit alles zu verlieren. Oder war es die Angst altes zu verlieren, was sie so gern hatte, wenn man diesen Tag nicht vergaß? L war überfragt. Unerwartet betrat Watari das Wohnzimmer. Dies musste einen guten Grund haben, denn würde er diese Unterhaltung niemals stören, falls es nicht wichtig wäre. Und ehe der Schwarzhaarige seinen Mund öffnete, sprach der alte Mann auch schon: „Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe ein wichtiges Telefonat erhalten. Wir werden umgehend nach Los Angeles ziehen müssen.“ Nicht nur Shaelyn schien überrascht. Denn L wüsste nichts von einem Umzug. „Nach Los Angeles... in die USA?“, hakte Shaelyn verwundert nach und L bekam große Augen. „Gut, bereiten Sie alles vor. Doch zunächst werde ich die Torte verspeisen. Dann … können wir aufbrechen.“, gab der Detektiv von sich und machte sich gleich mit einem Grinsen an sein Projekt. Verdattert stand Shaelyn im Wohnzimmer. Was passierte hier? Und wieso sagte man ihr nichts? So langsam regte sie die Geheimniskrämerei auf. Kapitel 18: Direkter Weg ------------------------ „Komm Shaelyn, wir packen deine Sachen.“, sprach sie Watari besonnen an, jedoch rührte sie sich kein Stück. „Nein! Erst will ich wissen was hier abgeht!“, rief sie trotzig aus und ballte ihre Hände zu Fäusten. Es regte sie auf, dass sie keine Antwort bekam. Wie auf so vieles nicht. Natürlich hatte sie mit der Zeit akzeptiert wie es war. Doch ein plötzlicher Umzug? Man riss sie aus ihrer Welt, woran sie sich gewöhnt hatte. Nun eine völlig andere Wohnung? Nein, ein ganz anderes Land?! „Wieso müssen wir umziehen? Und wieso in die USA? Und warum so plötzlich?“ Shaelyn knirschte abschließend mit ihren Zähnen und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Sie war wütend. Aus ihrer Sicht vollkommen rechtens. Man zerrte sie ohne einen Grund einfach in ein weit entferntes Land. Viel zu weit weg von ihrer Heimat. „Ich werde es dir erklären wenn wir dort angekommen sind. Keine Sorge, Shaelyn. Jetzt komm mit mir.“ L saß auf seinem Sessel, schob sich mit der Gabel weitere Stücke Erdbeertorte in den Mund und betrachtete den Wortwechsel schweigend. Früher oder später müsste Watari sie ohnehin einweihen. So aß er gemütlich weiter und ließ die Erdbeerscheiben, die schließlich ihre Entschuldigung auf der Torte formten, bis zuletzt übrig. Widerwillig hatte sie sich ins Auto gesetzt. Denn trotz allem hatte sie doch kaum eine Wahl. Sie brauchte ihren Großvater, und wenn dieser nun einmal umzog, nahm er sie natürlich mit sich. Außerdem... Ganz ohne Rue wollte sie nicht sein. Was ihr nur ein weiteres leises Grummeln entlockte. Diese Tatsache machte ihr zu schaffen. Etwas lief hier falsch. Und dann kam diese Unterbrechung, obwohl noch nichts geklärt war. Es war zum Verzweifeln. Denn selbst auf der langen Autofahrt sprach Rue nicht zu ihr. Noch war es nicht vergessen. Alleine seine Fragen. Er wollte es genau wissen. Nein, es war noch nicht aus der Welt. Und was sollte sie auf seine Fragen antworten? Sie wusste es nicht. Im Grunde wusste sie rein gar nichts. Nur das Gefühl, etwas Wichtiges zu verlieren, war von Bedeutung. Shaelyn hatte Angst dieses eine Wort auch nur zu denken. Es würde alles zerstören. Das zerstören, was sie als einziges noch schätzte. Ihr wurde das genommen, womit sie sich wohl fühlte. Man verstand sie einfach nicht. Nein, sie verstand sich nicht einmal selbst. Es machte sie nervös, dass er neben ihr saß. Sie musste ihre Hand nur heben und ein wenig ausstrecken, schon würde sie ihn berühren. Vor Aufregung begann sie leicht zu zittern. Alleine die Vorstellung ihn anzufassen brachte alles durcheinander. Warum hatte sie nur eine solche Panik? Und wieso musste sie ständig daran denken wie nah Rue ihr war? Dabei hatte sie sonst nie seine Anwesenheit gescheut und dachte nach der Entschuldigung wäre wieder alles beim Alten! L beobachtete Shaelyn mit seinen großen Telleraugen. Ihm war aufgefallen, dass sie wieder begann zu zittern. Sie musste zwangsläufig aufgeregt sein. Ein Fakt, der ihn erneut nachdenklich stimmte. Auch da er sich noch einmal in Erinnerung rief, was sie ihm zuvor gesagt hatte. L hatte daran zu knacken, da es für ihn definitiv ein Rätsel war. Es würde nur Sinn ergeben, wenn sie nicht ganz auf der Höhe war: Sprich, sie einen psychischen Schaden davon getragen hatte. Weshalb sie sich verschloss – und nicht einmal das Offensichtliche wahrnahm. Es war sein Vorteil. Da er nicht angemessen reagiert hatte. Doch bedeutete es für sie fortan kein normales Leben. Dem Detektiven fiel nichts ein, was auf ein übliches Verhalten deuten könnte. Dazu passten weder ihre Aussagen, noch ihre Reaktionen im Ganzen. Entweder, sie war in ihn verliebt und wollte es nicht wahrhaben. Oder, sie war so verwirrt und hatte Angst, dass sie einfach alles ausblendete. Wobei er sich fragen musste, wovor sie sich genau fürchtete. In jedem Falle war es nicht optimal. Und die Aufklärung nahm immer mehr an Bedeutung für ihn zu. Er konnte es nicht dabei belassen, es einfach ignorieren, so wie er es sonst tat. Für ihn war es etwas sehr persönliches. Und letztlich lag ihr Wohl ganz in seinem Sinne. Es war eine einfache und doch komplizierte Angelegenheit, denn wenn sie glücklich war, würde er es auch sein. So funktionierte es, auch wenn er mit seinem scharfen Verstand es nicht erfassen konnte. Es würde wohl auch nie irgendjemand verstehen. Nachdem der Wagen auch schon am Londoner Flughafen am Parkstreifen hielt, stieg Watari aus um seine Enkelin sicher auf dem Gehweg zu helfen. L gesellte sich einfach zu ihr und sah mit an wie der alte Herr das Gepäck aus dem Kofferraum holte. Allerdings stieg Watari wieder in den Wagen nachdem er den Koffer auf den Weg gestellt hatte, ließ er die beiden vor dem Eingang stehen. Shaelyn hörte das Geräusch, wie das Auto davon fuhr und gleich bekam sie Panik. Stand sie alleine da? Zwischen den vielen Menschen und dem Lärm? „Entspann dich.“, lenkte L gelassen ein, während er seine Hände in die Hosentaschen steckte und sie von der Seite mit seinen dunklen Irdenen anblickte. „Er bringt den Wagen weg. Kein Grund zur Sorge.“ Doch die Worte erzielten eher den gegenteiligen Effekt. Jetzt machte sie sich noch mehr Gedanken. Noch dazu fühlte es sich so an als verlor sie den Boden unter den Füßen. Sie hörte unzählige Menschen, deren Koffer die über den Boden gezogen wurden. Die lauten Flugzeugturbinen in der Ferne. Zum ersten Mal war sie an einem Flughafen – und es machte ihr Angst. Da sie nichts richtig einordnen konnte. Es fühlte sich an, als wäre sie in einer vollkommen anderen Welt. Und die Angst war stärker als das Gefühl etwas Falsches zu tun. So wandte sie sich langsam um, griff mit zittrigen Händen nach Rue. Überrascht weitete dieser seine Augen, wich jedoch nicht aus, da er ihr zweifelsfrei ansehen konnte wie verängstigt sie war. Sie bekam seinen Arm zu fassen und klammerte sich regelrecht daran, wie etwas was ihr als letztes Halt gab. So wusste sie Vertrautes in der Nähe und drohte nicht in den Abgrund zu fallen. Sie musste sich auch nicht erklären, weshalb es still zwischen beiden blieb. Das rege Treiben am Flughafen nahm zu und auch einige Durchsagen wurden getätigt, ehe Watari wiederkehrte. Jener mit verblüfftem Gesichtsausdruck die Szene betrachtete, die L und Shaelyn darboten. Er hätte nicht damit gerechnet, dass es so gut funktionieren würde. L bemerkte Watari reichlich spät, zumindest für seine sonstige Beobachtungsgabe und das herzliche Lächeln, was der alte Mann nun auf den Lippen trug, war für den Detektiven suspekt. „Ich werde den Koffer am Schalter einchecken. Gehen Sie doch schon einmal vor.“, folgte es auch ohne Umschweife von Watari, als der Schwarzhaarige ihn entdeckt hatte. Der alte Herr befand sich auf dünnem Eis, was ihm sehr wohl bewusst war, denn sicherlich hatte der Detektiv schon etwas Bemerkt. „Tun Sie das.“, erwiderte L in gewohnter Tonlage, schenkte seinem Vertrauten nur einen kurzen, aber bedachtsamen Blick. Watari nahm den Koffer an sich und ging in den Terminal, was L für wenige Augenblicke beobachtete, bevor er an sich hinunter sah, direkt auf den schwarzen Haarschopf von Shaelyn. Als er sich einen Schritt bewegen wollte, blieb sie allerdings felsenfest stehen. Unmittelbar nach dieser Aktion zog L seinen Mund in eine fast gerade Linie. „Es gibt zwei Möglichkeiten.“, ließ der Detektiv direkt verlauten und holte seine Hand aus der Hosentasche, an dessen Arm sie hartnäckig hing. „Entweder du kommst an meinem Arm mit oder, du wirst alleine gehen müssen.“, stellte er sie monoton vor die Wahl. Rechnete aber nicht im Geringsten mit ihren Worten die nun folgten: „Gibt es auch die Möglichkeit, dass du mich trägst?“, wisperte sie und griff seinen Arm für einen Moment fester. „Warum sollte ich das? Du hast zwei gesunde Füße.“ „Ja,... aber ich hab Angst wohin ich trete, außerdem sind hier so viele Menschen an die ich stoßen kann und...“ Shaelyn wurde immer leiser. „Wenn du an meinem Arm hängst, gibt es keinen Grund Angst zu haben.“ L blieb unbeugsam, denn alleine reichte der Fakt, dass sie sich an ihn klammerte. „Bitte...“, flehte sie ratlos und ihre Stimme schwankte, ließ ihr Griff um seinen Arm lockerer. „...“ „Bitte.“ Shaelyn hob ihren Kopf an, sodass sie in sein Gesicht hätte blicken können. Stumm öffnete sie ihren Mund, doch hatte ihre Atmung verraten, dass sie zu etwas Angesetzt hatte, sprach sie es nur nicht aus. Sie schloss ihren Mund wieder, verzog diesen traurig und senkte enttäuscht den Kopf, sodass ihre Haare vor ihr Gesicht fielen – und als Rue seinen Arm aus ihren Händen zog war sie den Tränen nah. „... steig auf meinen Rücken.“, wies er sie an, als er neben ihr in die Knie ging und über seine Schulter zu ihr hoch starrte. Er erwartete nun ein erleichtertes Gesicht, was er jedoch sah, verstörte ihn. Sie stand da und weinte, wischte sich die Tränen aber Sekunden später weg, das mit einem schwachen Lächeln. „Weshalb weinst du jetzt?“, hakte er gleich nach, da er seine Wissbegierde stillen musste. Er hatte ihr doch ihren Willen gegeben. Ihm fiel kein plausibler Grund ein wieso sie Grund zum Weinen hatte. Doch statt sie ihm eine direkte Antwort schenkte, tastete sie vorsichtig nach ihm und ließ sich von ihm auf den Rücken hochnehmen, sodass er sie letztendlich ins Gebäude trug. „Ich war glücklich.“, flüsterte sie nahe seinem Ohr und legte ihre Hände behutsam auf seine Schultern, während sie ihr Gesicht an seine Halsbeuge legte. Hätte L sich nicht auf seine Schritte konzentriert, wäre er in den Terminal gestolpert. Ihr warmer Atem traf immer wieder seinen Nacken, hinterließ eine Gänsehaut nach der Nächsten. Und das Einzige was er tat war versuchen alles zu überspielen, indessen Shaelyn sich allmählich entspannte. Sie genoss die Nähe, ohne einen Gedanken an irgendetwas. Watari staunte erneut nicht schlecht als er den Detektiven erblickte – mit Shaelyn auf dem Rücken. „Sie hat Angst.“, war seine knappe Erklärung zu dieser Situation, woraufhin der alte Herr nickte. „Wie lange werden wir fliegen?“, mischte sich dann Shaelyn ein und hob ihr Gesicht an. „Ungefähr elf Stunden.“, klärte Watari seine Enkelin auf. Das erste Mal, dass sie fliegen würde und dann eine solche lange Zeit. Ob ihr vielleicht schlecht wurde? Hoffentlich ging alles gut. Schließlich ging es durch die Kontrolle und das Boarding begann. Trotz ihrer Blindheit wollte Shaelyn es sich nicht nehmen lassen am Fenster zu sitzen, und sei es nur, damit sie besser schlafen konnte. Shaelyn fühlte sich wie gerädert, nachdem sie am Airport in Los Angeles ankam. Essen hatte sie nichts können, genauso wie schlafen. Die lauten Turbinengeräusche störten sie, ebenso der wenige Platz. Noch dazu hatte es an einer Stelle Turbulenzen gegeben, sodass sie fast vor Angst in die Hose gemacht hätte, nur gut, dass Rue neben ihr gesessen und sie beruhigt hatte. Blind zu fliegen war bei weitem kein schönes Gefühl. Erst als sie dann sicher in einem Auto saß, konnte sie aufatmen. Sie war erschöpft von der Reise und all den vielen neuen Eindrücken, sodass letztendlich die Müdigkeit doch siegte und sie einschlief. In einen langen tiefen Schlaf. Es war weich. Das war das Erste, was sie bemerkte, nachdem sie aus dem Schlaf driftete. Augenblicklich setzte sie sich auf, da sie lag? Verwirrt versuchte sie sich zu orientieren, was sich als sehr schwierig herausstellte. Wo war sie? Saß sie auf einem Bett? Shaelyn befühlte sofort genauer den Untergrund. Es war ein Bett und sie saß recht mittig, noch dazu auf der Decke. Da es warm war, war es entweder noch Tag, oder die Heizung lief. Offensichtlich war sie in der neuen Wohnung und man hatte sie auf das Bett gelegt. Sollte sie nach jemanden rufen? Unschlüssig rutschte sie zum Bettrand. Wenn jemand im Raum gewesen wäre, dann hätte sie doch schon angesprochen? Eine Holzdiele knarrte leise. „Ist... da wer?“, fragte sie auch prompt vorsichtig und erhielt keine Antwort. Shaelyn war eingeschüchtert. Es war geradezu unheimlich still, bis auf das kurze Knarren. Welches sich wiederholte. Umgehend krabbelte sie zurück, gleich auch zerrte sie die Decke über sich. Sollte tatsächlich jemand da sein, so stellte die Decke zwar kein großes Hindernis dar, allerdings fühlte sie sich etwas sicherer. Dann unerwartet spürte sie eine Senkung auf der Matratze. Kaum war das wahrgenommen, riss jemand die Decke weg. „Zeit zum Aufstehen.“, war es dunkel zu hören – und es war keine bekannte Stimme! Sofort schrie Shaelyn los. Schlagartig setzte sich die Schwarzhaarige auf, schrie dabei noch auf. Ein Klirren folgte und ein Husten. Shaelyn fasste sich gleich an die Brust. Ihr Herz raste und die Stimme hallte in ihrem Kopf wider. „Was ist los?“, fragte eine nun bekannte Stimme sie geschockt. „Da war ein Mann!!“ „Wo?“ „Na auf dem Bett!“ „...“ L starrte Shaelyn fragend an, neigte den Kopf leicht. „Hier ist niemand außer mir. Außerdem sitzt du gerade auf dem Sofa, nicht auf einem Bett.“ Das überprüfte sie sofort hektisch und seufzte anschließend laut. Rue hatte vollkommen Recht. Doch das alles hatte sich so echt angefühlt. Sie hörte wie Rue aufstand, da seine Kleidung auffällig raschelte. „Wo gehst du hin?!“ Sie wollte nun nicht alleine gelassen werden. „Mir etwas anderes anziehen.“, antwortete er und verzog den Mund, während er an sich hinunter sah. Auf dem sonst weißen Shirt fand man nun einen großen bräunlichen Fleck. Ihr Schrei hatte ihn den Kaffee verschütten lassen. Die süße Brühe klebte nun an seiner Oberbekleidung, statt dass sie seinen Gaumen bereichert hätte. „Du kannst dich auch hier umziehen! Ich sehe sowieso nichts.“, wandte sie schnell und ohne einen Gedanken ein. Nach dem Traum wollte sie wirklich nicht alleine hier sitzen bleiben. Außerdem wusste sie rein gar nichts über diesen Ort. Sie fühlte sich verloren. Aber halt, wo war ihr Großvater? „Das könnte ich auch, doch dazu müsste ich zunächst ein frisches Shirt holen. Folglich, ich muss das Wohnzimmer verlassen.“, brachte er unbeeindruckt über seine Lippen und war dabei den besagten Raum zu verlassen, als ihn plötzlich etwas am Kopf traf. L zog seinen Kopf abrupt ein, streckte seine Schultern hoch. Verstört starrte er auf den Übeltäter, der auf dem Boden lag. Ein Kissen. Direkt fiel sein stechender Blick auf Shaelyn, die immer noch in Wurfposition dasaß, da sie ihren rechten Arm gehoben hatte. Für eine Blinde konnte sie erstaunlich gut treffen. „Hab ich getroffen?“ „Allerdings...“, wandte er trocken ein. „Gut, dann bleib jetzt gefälligst hier! Du bist total unsensibel! Ich hab hier Angst, weiß sowieso nicht wo ich bin und du lässt mich alleine!“ Shaelyn meckerte darauf los und griff gleich zum nächsten Kissen, was sie sofort nach ihm schmiss. L blieb auf der Stelle stehen, wurde ohnehin nicht getroffen, da das Wurfobjekt einen Meter an ihm vorbei flog. „Ist dir klar, dass du mich wieder hättest treffen können? Du solltest nicht achtlos Kissen herumschleudern.“ Shaelyn sog scharf die Luft ein. „Komm her!“ „Und dann?“ „Dann trete ich dir in deinen knochigen Arsch!“ „Abgelehnt. Wenn du mich jetzt entschuldigst.“ Umgehend blies sie ihre Wangen auf, verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt war sie sauer! „Idiot!“, rief sie ihm noch nach. Vielleicht war genau das sein Plan? Jetzt dachte sie zumindest nicht mehr an den Traum und ihre Umgebung. Aber ... knochig? L brauchte nicht allzu lange und er hatte ein sauberes Shirt angezogen, betrat auch das Wohnzimmer ohne Bedenken. Allerdings konnte er Shaelyn nicht auf dem Sofa erspähen, sondern auf seinem Sessel. Da sie ihren Kopf schwach in seine Richtung wandte, konnte er sich sicher sein, dass sie ihn wahrgenommen hatte. „Du sitzt auf meinem Platz.“ L war wenig begeistert, stellte sich auch gleich neben den Sessel. „Wirklich? Wäre mir nicht aufgefallen.“, kam es bissig von ihr. Weshalb war sie noch immer so gereizt? „Ich wollte mit dir reden, Rue.“, folgte es nun in einer weicheren Tonlage von ihr, stand sie auch gleich auf. L war daraufhin skeptisch, erwiderte somit nichts. Shaelyn fasste auch schon mit der linken Hand nach ihm, erwischte seine rechte Schulter, sodass sie sich ihm gegenüberstellen konnte. Ließ im nächsten Moment auch schon von ihm ab, da es ihr unangenehm war ihn mehr als nötig zu berühren. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen.“ Sie fühlte sich unwohl, weshalb sie den Kopf senkte. „Wegen dem Tragen und tja, dem Ausrasten eben! Aber du regst mich immer so auf!“ Verstört starrte er ihr ins Gesicht. Für gewöhnlich entschuldigte sie sich nicht dafür. Zumindest für ihre Aussetzer. Warum begann sie plötzlich damit? „... Sag was dazu.“ „Ich wüsste nicht, was mir darauf noch einfallen sollte, Shaelyn.“ „Na, ein: Angenommen? Oder irgendwelche anderen Worte, außer, dass du nicht weißt was du darauf antworten sollst?“ L studierte ihre Gesichtszüge. Sie war verunsichert, noch dazu schien sie sich nicht gut zu fühlen. „Angenommen.“ „Plapper doch nicht immer nach was ich dir sage. Gib mir eine richtige Antwort.“ „...“ Warum war ihr das wichtig? „Ich frage mich,“, begann er interessiert „… weshalb es dir plötzlich so wichtig ist, dass ich dir eine richtige Antwort gebe. Würdest du mir das zuerst erklären?“ Shaelyn zuckte zusammen, biss sie sich auf die Unterlippe. „Naja es ist mir eben wichtig geworden.“ Es fühlte sich so an, als habe sie ihm ein Geständnis gemacht, weswegen sie sich verschämt etwas zur Seite drehte. Für einen Augenblick blieb es still, indessen nicht nur der Detektiv seine Gedanken ordnete. Er hatte sich schon einmal getäuscht, damals … als sie ihm sagte sie sei wie ein Bruder für ihn. L öffnete seinen Mund, setzte zu einem Wort an, in dem Moment klingelte das Handy, sodass selbst er kurz erschrak. Umgehend wandte sich Shaelyn um, streckte etwas ihre Arme aus, berührte sogleich mit ihren Händen den Bauch von L, der abrupt die Luft einsog. Ihre Finger glitten schwach über seinen Unterbauch, zog sie das Shirt dann leicht hoch, ehe sie über dem Hosenbund strich. Selbst das penetrante Klingeln lenkte von der Situation nicht ab. Nur schwer fasste der Detektiv einen richtigen Gedanken, was ihn regelrecht lähmte. Shaelyn griff unterdessen in seine Hosentaschen, wühlte in den weiten Taschen, dabei hörte L einfach kurz auf zu atmen, öffnete seine Augen bis es nicht mehr ging. Und schneller als er sich versah bekam sie es zu fassen, das Handy, welches sie gleich aus seiner Hosentasche herauszog und versuchte den richtigen Knopf zu drücken. „Opa?“, meldete sich Shaelyn unsicher, da sie hoffte ihn nicht weggedrückt zu haben. Sie war sich auch sicher, dass es nur er sein konnte, denn sonst rief Rue niemand an. Außerdem war ihr Großvater wie vom Himmel geschickt. Er hatte genau richtig angerufen. „Shaelyn?“, folgte es reichlich erstaunt. „Was machst du mit Ryuzaki’s Handy?“ „Ich wollte dich nur hören und...“ „Wo ist er denn?“ Shaelyn zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte nicht mehr auf ihn geachtet, schien wohl auch schnell verschwunden zu sein, sonst hätte er sich bestimmt gemeldet. „Weiß nicht... Er ist glaub ich verschwunden.“ Watari konnte sich daraufhin nicht vorstellen was sie meinte. „Kommst du Heim?“, fragte sie noch eilig, so als handelte sie schneller als sie sich Gedanken machen konnte. „Ja. Aber ich müsste Ryuzaki noch eine Frage stellen.“ „Ich weiß nicht wo er ist, oder was er macht.“ „Gut... ich komme dann jetzt.“ Ihr Großvater hing auf, sodass sie das Handy vom Ohr nahm. Nervös lauschte sie in die Stille. Rein gar nichts war auszumachen. Sie hatte in der Not einfach ans Handy gehen müssen. Es war die perfekte Gelegenheit der Situation zu entfliehen, ohne Rede oder Antwort seiner nächsten Fragen zu stehen. Denn war ihr im Nachhinein selbst aufgefallen wie seltsam es geklungen hatte. Jetzt war Rue von selbst abgehauen... Still und heimlich hatte er sich verdrückt. Wohin auch immer. Als Watari das Wohnzimmer betreten hatte, bemerkte er gleich die drückende Stimmung, die allerdings mehr von Shaelyn kam, als es der Detektiv verursachte. Jener wieder in seinem Sessel saß und seiner Lieblingsbeschäftigung nachging. „Opa!“, rief sie gleich freudig aus, nachdem sie ihren Großvater bemerkt hatte. „Guten Abend, Shaelyn.“, erwiderte er freundlich, während er weiter in den Raum ging. L schenkte Watari nur kurz einen Seitenblick, äußerte sich jedoch nicht, sondern aß weiter an seinen Donuts. Er wusste was nun folgte. „Shaelyn, ich möchte gern mit dir etwas Besprechen.“, lenkte der alte Mann ein und setzte sich zu seiner Enkelin, welche nun fragend den Kopf neigte. „Es betrifft den Grund, weshalb wir hier nach Los Angeles reisen mussten.“ Ihr Herz tat direkt einige Hüpfer. Neugierig spitzte sie die Ohren, sagte dazu auch keinen Ton. Sie bekam also nun Antworten? Endlich? „Ich bitte dich dabei ruhig sitzen zu bleiben.“, führte er weiter aus und sie platzte fast vor Aufregung. Warum zog ihr Großvater es so in die Länge? Und wieso sollte sie ruhig bleiben? „Ja?“, gab sie ihrem Drang nach und musste nachhaken. Auf dem Gesicht von Watari war ein kleines Lächeln zu entdecken. Es war nun höchste Zeit ihr davon zu berichten. Kapitel 19: Klarheit -------------------- „Es wurde für dich eine Spendenhaut bereitgestellt.“ Ein Satz, der ein paar Momente brauchte, um richtig verarbeitet zu werden. Langsam hob sie ihre rechte Hand an, hielt sie sich vor dem Mund. Es machte sie sprachlos. Ihr Herz raste, gleich auch rollte die erste Träne über ihre Wange, die an ihrem Kinn abperlte. Träumte sie? „Deine Operation wird in zwei Tagen stattfinden, allerdings hast du morgen bereits zur Besprechung einen Termin und wirst im Krankenhaus bleiben müssen. Der zuständige Arzt wird dich aufklären.“, klärte ihr Großvater sie weiter auf, und das in einem noch sanfteren Ton. Er freute sich ganz offensichtlich für sie, da er sah, wie sehr es sie zu Tränen rührte. „Ich... werde wieder Sehen...?“, brachte sie fast atemlos über ihre Lippen, welche begannen zu zittern. Shaelyn wollte sichergehen. Die Gewissheit haben, dass es wirklich wahr war. Es glich einem Wunder, weshalb sie nun ihr Gesicht in ihre Hände vergrub und dem starken Drang zu weinen nachgab. Finsternis wäre in naher Zukunft nur noch ein grässlicher Blick in die Vergangenheit. Bald konnte sie all die Farben der Welt wahrnehmen und auch ganz die dunkle Vergangenheit vergessen. Ein Neubeginn, der alles in ihrem Leben verändern würde. Watari legte behutsam seine Hand an ihrem Oberarm, da sie gar nicht mehr aufhören konnte Tränen zu vergießen. Gleich auch lehnte sie sich zu ihm, wurde sachte von ihrem Großvater umarmt, der ihr beruhigend über dem Kopf strich. „Du wirst wieder sehen, Shaelyn.“, bestätigte er ihre Worte zuvor nun. Konnte ein einzelner Tag so langsam vergehen? Shaelyn lernte kennen, was es bedeutete, sich in Geduld zu üben, wenn man etwas wirklich kaum erwarten konnte. Seit sie von ihrem Großvater diese unglaubliche Nachricht erhalten hatte, fand sie weder Schlaf oder Ruhe – und sie war still. Nicht ein Wort kam über ihre Lippen. Fürchtete sie, wenn sie begann zu erzählen, nicht mehr aufhören konnte von ihren Gefühlen und Gedanken zu reden. Es war zu viel. Wie ein Schauer in der Regenzeit, der auf sie einprasselte. Realisieren konnte man es kaum was sie empfand. Ein unaussprechliches Wunder, das sie ganz hautnah erfuhr. Die Farben waren mit der Zeit immer mehr verblasst. Eine unwirkliche Erinnerung – die bald selbst eine war. Die Erinnerung, ein Leben im Dunkeln zu führen. Wie würde der erste Sonnenaufgang aussehen? Wie der Sonnenuntergang? Und wie stark funkelten die Sterne in der Nacht? Eine glitzernde Weite aus Diamanten. All diese Anblicke waren für Shaelyn nun nicht mehr selbstverständlich. Wenn der Arzt ihr das Augenlicht schenkte, war es, als öffnete sie zum ersten Mal richtig ihre Augen. Und … dann würde sie auch Rue ganz anders sehen. Ein verstohlenes Lächeln zauberte dieser Gedanke in ihr Gesicht, gleichsam ihr Herz höher schlug. Es war so lange her, dass sie ihn das letzte Mal betrachtet hatte. Ebenso ihren Großvater, jedoch war Rue derjenige, den sie unbedingt erblicken wollte. Es war ein Wunsch, den sie tief in ihrem Herzen verspürte. Er würde sich erfüllen, das schon sehr bald. Fragen häuften sich in einem Mal an. Ob er sich äußerlich verändert hatte? Starrte er noch immer so unnachgiebig, mit seinen großen runden Augen? Waren seine Haare immer noch das reinste Chaos? Automatisch kicherte sie verhalten, hielt sich dabei die Hand vor dem Mund. Nun, seine Haare waren trotz dem Chaos weich. Wie das sein konnte, war ein Rätsel. Nein, dieser ganze Mann war ein Mysterium. Aber dennoch vollkommen in seiner Einzigartigkeit. Spielte sein geheimnisvoller Job noch eine Rolle, in der ihr Großvater mit verwickelt war? Sie wies es deutlich ab. Egal was Rue war, er würde für sie immer der bleiben, den sie kennengelernt hatte. Der Mensch, der er war. L, welcher zuvor mit dem Tilgen einiger Süßspeisen beschäftigt war, spähte zu Shaelyn hinüber, die dort auf dem Sofa saß und vor sich her kicherte. Ihr ganzes Verhalten war schon suspekt, wunderte es ihn also kaum, dass sie nun begann auch noch verhalten zu lachen. Wie konnte sich ein Mensch schon fühlen, wenn etwas bevorstand, was das Leben komplett veränderte? Deutlich zum Positiven natürlich. Der Detektiv hatte keinen Schimmer, daher beobachtete er nur still, was sie tat – denn geredet hatte sie seit der Neuigkeit nicht mehr. Sein Blick wanderte auf die Uhr, welche im Wohnzimmer vor sich her tickte. Der große Zeiger stand knapp auf der Drei, demnach war sie schon schätzungsweise acht Stunden mundtot. Zeigte sie auch keine Anzeichen einer Müdigkeit mitten in der Nacht, daher war sie folglich klar aufgeregt. Wieso jedoch sprach sie kein Wort, sondern lächelte vor sich her? „Was ist so komisch?“, schnitt L aus heiterem Himmel ein Gesprächsthema an, stopfte sich nebenbei ein kleines Schokotörtchen in den Mund. Shaelyn wandte ihren Kopf in seine Richtung, was ein sicheres Indiz dafür war, dass sie ihn wahrgenommen hatte. Somit wandelte sie wenigstens noch in der realen Welt. Plötzlich erschien ein breites Grinsen in ihrem Gesicht, was viel Freude ausstrahlte. „Ich habe an dich gedacht, Rue.“ Langsam zog der Detektiv eine Augenbraue an, die sich ohnehin unter der wirren Mähne verbarg. Das eben sollte er nicht als Kompliment ansehen, oder? „Naja, um ehrlich zu sein, habe ich mich gefragt, ob du dich verändert haben könntest. Ich freue mich sehr darauf dich wieder zu sehen. Aber eigentlich ist es egal. Mir gefällt, wie du aussiehst.“ Gut, diese Aussage konnte er nun als Kompliment einstufen. Ihr Grinsen verblasste, stattdessen formte sie ihren Mund zu einem sanften Lächeln. Woraufhin sich ebenfalls ein winziges Lächeln auf den Lippen des Detektiven stahl, was einem glatt entgangen wäre, wenn man nicht peinlich genau hinsah. Es war das erste Mal, dass er solch einen Zuspruch bekam – und es erfreute ihn tatsächlich. Wer würde es schon als unangenehm empfinden, wenn man solch ein Kompliment bekam? Vor allem von der Person, für die man aufrichtige Zuneigung empfand. „Weißt du was, Rue?!“, platzte es enthusiastisch aus ihr heraus, sodass sie wieder die volle Aufmerksamkeit vom Schwarzhaarigen erhielt. „... Was?“ „Wenn ich operiert wurde … dann möchte ich dein Gesicht als erstes sehen. Meinst du, das geht? Kannst du mir das versprechen?“ Das Erste was sie sehen wollte, war er? Sie schien es ernst zu meinen. Wäre da nur nicht ein Problem. „Du wirst die ersten Tage nur Lichter und verschwommene Formen erkennen. Es kann bis zu einem Monat dauern, bevor du ganz deine Sehkraft wiedererlangt hast. Das könnte also durchaus schwierig werden.“, klärte er sie monoton auf, beobachtete dabei gründlich ihre Gesichtsregungen – die zu seiner Verwunderung keine Enttäuschung zeigten oder ein Anzeichen von Traurigkeit. Erneut lächelte sie sachte, wandte jedoch ihr Gesicht ab. „Du hast dich schlau darüber gemacht?“, fragte sie leise in einem freundlichen Tonfall nach. Schien seine Worte zuvor zu ignorieren, worauf er jedoch im ersten Moment nicht einging. „Ja.“ Vorsichtig hoben sich ihre Mundwinkel an, bekam man den Eindruck, sie träumte oder genoss eine Brise. Wisperte sie auch im nächsten Augenblick kaum hörbar: „Wie lieb von dir, Rue...“ Die Atmosphäre im Raum wandelte sich, was selbst der Detektiv wahrnahm. Er mochte kaum Feingefühl besitzen, doch das hier bemerkte er deutlich. „Dir ist längst nicht alles egal... so, wie man es dir am Anfang ansieht.“ Unbeholfen schmunzelte sie, hob auch gleich den Kopf an, sodass man anmuten konnte, sie blickte an die Decke. „Me wa kokoro no kagami.*“ Ohne Zögern hob L seine Augenbrauen an, wunderte er sich offensichtlich darüber, dass sie soeben japanisch gesprochen hatte. Wenn auch ein wenig holprig, denn schien es vorher nicht so, dass sie der Sprache mächtig war. Ganz gleich, ob ihr Vater Japaner gewesen war. „Das Sprichwort sagte mein Vater immer. Und ich bin mir sicher, dass es bei dir auch so ist. Deshalb möchte ich dich als erstes sehen. Sehen, was man in deinen Augen erkennen kann, außer die Leere, die sie immer ausstrahlen … Du kannst doch japanisch, oder Rue?“, hakte sie zuletzt unsicher nach. Eigentlich war sie sich dem sicher, da er doch einen japanischen Namen trug. Das musste sicher eine Bedeutung haben. „Hai, mochirondes.**“, antwortete er ihr schlicht, womit er ihr zur Verstehen gab, dass er es sehr wohl verstanden hatte. Japanisch zählte ohne Frage zu seinen Sprachkünsten, wie nicht anders zu erwarten, dazu. „Fantastisch!“ Direkt klatschte sie begeistert die Hände zusammen, ließ diese aber schon kurze Zeit darauf sinken. „Aber... so gut bin ich nicht in der Sprache... war irgendwie zu schwer für mich, was mein Vater natürlich schade fand. Deswegen verstehe ich auch nur einfache Sachen...“ Shaelyn kicherte kurz, lehnte sich dann zurück an das Sofa. Sie begann von ihrer Familie zu erzählen, wohl das erste Mal richtig – und L hörte ihr gewiss zu. Es war ihr anzusehen, dass sie sich wohl fühlte und, dass sie ihm vertraute. Solche Erinnerungen würde man mit keinem einfachen Menschen teilen. „Ich sollte die Sprache lernen, damit er mich mit nach Japan nehmen konnte. Er sagte immer, wie schön der Frühling dort sei, aber der Sommer wirklich unerträglich heiß. Jedenfalls sagte er auch... es gäbe dort sein altes Familienhaus. Das eben nach dem Tod seiner Eltern leer stand. Es soll umgeben sein von Kirschbäumen und er würde mich gerne dort im Frühling im Yukata sehen. Und er sagte immer, am Besten sind japanische Männer, weshalb ich mir einen dort suchen sollte...“ Auf die Worte hin wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Wenn sie nur daran dachte, was ihr Vater ihr alles erzählt hatte und das mit einem solchen Stolz. Aber es tat gut, dass Rue ihr einfach nur zuhörte. Mehr verlangte sie im Moment nicht – auch keinen Trost. „Vieles sagte mir mein Vater... er redete gerne darüber. Seine Heimat, das Leben dort. Ihm wäre es glaube ich am Liebsten gewesen, wenn wir nach Japan gezogen wären. Außerdem bin ich der festen Meinung, er wollte mich unbedingt in eine Oberschule schicken, so oft, wie er darüber gesprochen hatte. Aber meine Mutter wollte das nicht. Oma hatte noch gelebt, bis ich... glaube ich fünf war und sie brauchte Hilfe. Und da entschieden Mam und Paps, dass sie in England bleiben. Als mein Bruder und ich eingeschult wurden, war es dann ohnehin schon zu spät.“ Shaelyn endete leise, dachte sie an ihre Familie. Wenn sie so darüber erzählte, kam es ihr wie ein schöner Traum vor, den sie gelebt hatte. Es war nah und doch fern. Nein, noch lange hatte sie den Tod ihrer engsten Familienmitglieder nicht verarbeitet. Gleichwohl es half darüber zu sprechen, auch wenn es nur ein winziger Teil war. „... Gehe ich Recht in der Annahme, dass du einmal Japan besuchen möchtest, Shaelyn?“, stellte der Schwarzhaarige diese Frage mit einer ruhigen Tonlage, besah dabei weiterhin die junge Frau, welche nun ihren Kopf in seine Richtung drehte. „Ja, sehr gerne, aber nur... wenn du mit mir mitkommst.“ Schon schenkte sie ihm ein bezauberndes Lächeln, was seine Wirkung auf den Detektiven nicht verfehlte. War sie in diesem Moment ehrlicher zu sich selbst als L zu sich, der schwach seine Lippen öffnete, ganz so als sei er verblüfft. Zu gern würde er jetzt zu ihr hinüber gehen und -. Nein, dieser Gedanke durfte nicht einmal zu Ende gedacht werden. Seit diesem Missgeschick war es schwieriger für ihn sich unter Kontrolle zu halten. Die Lösung, weshalb es so war, war simpel: Nun war er auf den Geschmack gekommen. „Würdest du zu mir kommen, Rue?“ „Nein.“ Es hatte nicht einmal zwei Sekunden gedauert, um diese Bitte abzuschlagen. Allerdings keimten kurz darauf schon minimale Gewissensbisse auf, da sie unglücklich in seine Richtung blickte. Es sah aus, als verweigerte er ihr dringende Hilfe. Unzufrieden zog er seinen Mund in eine gerade Linie. Dennoch, er würde deshalb nicht schwach werden. Man lernte aus seinen Fehlern – und erst recht der Meisterdetektiv. „Schon gut, trotzdem danke, dass du mir gerade zugehört hast.“ Kaum sprach sie dies aus, und das in einem enttäuschten Tonfall, der L nicht verborgen blieb, wandte sie ihren Kopf in die andere Richtung, schnappte sich wahlweise als Ersatz die Decke, welche sie an sich drückte und die Beine anzog. Die Decke war wirklich ein mieser Ersatz. Dabei hatte sie nur ein wenig Nähe gewollt, während sie probierte ein wenig Schlaf zu finden. Schließlich hatte sie noch Schlaf gefunden, der allerdings früh am Morgen ein Ende nahm, da ihr Großvater sie weckte. Und ganz so als knipste man einen Schalter um, war sie wie verwechselt. Die Gedanken waren kaum zu ordnen, verhaspelte sie sich andauernd in ihren Sätzen und stolperte über ihre eigenen Füße. Mit anderen Worten; Shaelyn war so aufgeregt, dass sie alles um sich herum zu vergessen schien. Dementsprechend als Watari und Shaelyn im Krankenhaus ankamen und der zuständige Arzt sie empfing, bekam sie kaum mit, was alles gesagt wurde. Meist sprach Watari mit dem Arzt, der sie im Gegenzug aufklärte was alles auf sie zu kommen könnte. Eben jene Risiken jeder Operation, besonders im Augenbereich. Sollte hier ein Fehler begangen werden, wäre sie wohl tatsächlich für immer eine Blinde. Des Weiteren müsste sie Medikamente zur Vorsicht einnehmen, damit die Chance gering gehalten werden kann, dass es abgestoßen wird. Dennoch, so versicherte man, würde alles glatt laufen. Und es war ganz so, wie es Rue ihr gesagt hatte. Sofort könne sie nur grobe Formen erkennen, Licht sowie Dunkelheit. Sollte sie ebenso die ersten zwei Wochen direktes Sonnenlicht meiden, da sie dich die Augen an alles gewöhnen müssten. Zudem wäre eine Woche mindestens angebracht im Krankenhaus zu bleiben. Doch das Alles war kein Vergleich. Selbstverständlich nahm sie es auf sich. Bald war alles vorüber, denn schon am nächsten Tag sollte die Operation stattfinden. Watari brachte Shaelyn auf ihr Zimmer, räumte ihre Kleidung aus dem kleinen Koffer, den er zuvor Zuhause gepackt hatte, in den Schrank. Im Krankenzimmer war noch ein Mädchen, etwa in demselben Alter wie Shaelyn und lag in ihrem Bett. Sie schien zu schlafen, obwohl es bereits mittags war. Leider wie sich auch herausstellte, musste ihr Großvater schon los. Mit Bedauern sagte er ihr dies, da sie nun auf sich alleine gestellt war. Sie winkte nur mit einem Lächeln ab. Er hatte wirklich viel zu tun, egal wo sie waren. Sie wollte ihn nicht aufhalten und schließlich bedeutete ihr Klinikaufenthalt nur Gutes. Und wenn sie etwas brauchte, konnte sie noch immer eine Schwester rufen. Es war Nacht und Shaelyn versuchte zu schlafen, als ein schmerzverzerrtes Stöhnen an ihre Ohren drang. Vorsichtig wandte sie ihren Kopf nach Rechts, woher dieses Geräusch kam. Man hatte ihr gesagt, dass sie sich ein Zimmer mit einem Mädchen teilte, doch war jenes bisher still gewesen. Ob das Mädchen Schmerzen hatte? Es klang ganz danach. Doch traute sich die Schwarzhaarige kaum nachzufragen, stattdessen blieb sie still im Bett liegen, hörte sich die klagenden Laute an. Irgendwann, und es kam Shaelyn wie Stunden vor, ließ das Stöhnen nach und das Bettzeug raschelte laut. Kaum war das passiert, patschte etwas auf die Fliesen und ganz automatisch wusste Shaelyn, dass das Mädchen mit ihren nackten Füßen über die Fliesen lief. Keiner kannte dieses Geräusch besser als sie, da doch Rue ohnehin fast immer barfuß war. Das Mädchen ging an ihrem Bett vorbei, schien sich ins Bad zu verziehen, da sie einen Wasserstrahl hörte. Zögerlich setzte sich Shaelyn auf und wartete auf das Mädchen, welches schon kurze Zeit darauf aus dem Bad kam und das Licht ausschaltete. „...Hallo?“, fragte Shaelyn scheu nach und erhielt sofort als Antwort ein erschrockenes Aufquitschen. Wusste das Mädchen nicht, dass sie da war? Dabei war sie doch seit Mittag im Zimmer. „...Seit wann bist du da?“ Das Mädchen war eindeutig aufgeregt, was man an ihrer Stimmlage erkennen konnte. Offensichtlich hatte Shaelyn ihr einen ordentlichen Schrecken eingejagt. „Seit heute Mittag ungefähr... geht es dir gut?“ Ihre Zimmergenossin setzte ihren Weg zaghaft fort, setzte sich auf ihr Bett, ehe sie antwortete: „Geht so. … Siehst du mich eigentlich? Du starrst so in eine Richtung.“ Shaelyn verzog den Mund kurz, lächelte dann aber. „Noch sehe ich nichts. Wird sich aber ab morgen ändern.“ „Ah, du wirst morgen operiert? Und kannst dann wieder sehen?“ Shaelyn nickte nur zur Bestätigung und bemerkte, wie das Mädchen sich wieder unter die Decke legte. „Ich wurde schon operiert, muss aber länger bleiben, weil Probleme aufgetreten sind. Die Wunde heilt nicht richtig und tut manchmal weh, weswegen ich meist im Bett bin. Sorry, wenn ich dich also geweckt habe.“ Sie hörte sich traurig an, was Shaelyn nicht entging. Was wohl passiert war? „Darf ich fragen, was du hast? Also hattest?“ „Mir haben sie die Gebärmutter herausnehmen müssen...“ „Oh... das tut mir ehrlich leid.“, sprach Shaelyn betroffen. Sie war doch im selben Alter wie sie? Dann würde sie wohl niemals Kinder haben können. Ein schrecklicher Gedanke für Shaelyn. Wünschte sie sich doch später Nachwuchs. „Dann bekomme ich eben keine Kinder.“, lachte ihre Zimmergenossin trocken und räusperte sich danach schon. „Ich heiße übrigens Emma.“ „Ich bin Shaelyn.“ Und schon jetzt wusste Shaelyn, dass sie Emma mochte. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Ryuzaki?“, sprach ihn der alte Herr am frühen Morgen an, da er doch die Anspannung vom Detektiven wahrnahm. Watari machte man schlecht etwas vor, vor allem wenn es sich um L handelte, den er seit der frühen Kindheit kannte. Der Angesprochene ließ von seinem Daumennagel ab, blickte nicht mehr aus dem Fenster vor sich, sondern zu Watari hinüber. Jener trug ein wissendes Lächeln auf seinen Lippen, als er frischen Kaffee an den Couchtisch brachte. „Kommen Sie einfach heute Nachmittag mit in die Klinik. Ich bin mir sicher, dass sich Shaelyn über Ihren Besuch freuen würde.“ Ohne eine Antwort zu geben, wandte der Detektiv sich wieder dem Fenster zu, steckte währenddessen seine Hände in die Hosentaschen. Der Sonnenaufgang war bereits angebrochen, weshalb alles in einen gelblichen Schimmer getaucht wurde. Ein Anblick, der seinen Reiz besaß – und ihn für einen kleinen Moment zum Schmunzeln brachte. Ein derartiger Gedanke wäre ihm vorher nie in den Sinn gekommen, wenn ihm Shaelyn unbekannt wäre. „Sicher wird sie das.“, verließ es in aller Ruhe seinen Mund, indes er sich herum drehte und zu seinem Sessel gelassen schlurfte. Er war schließlich derjenige, den sie als erstes wieder sehen wollte. Ihn, nicht ihren Großvater, oder etwas anderes. Alleine ihn wollte sie sehen. Und unaufgefordert erwartete sie seinen Besuch – und er wollte sich selbst davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Auch wenn sie von der Narkose noch sehr benommen wäre. Wahrscheinlich würde sie aufgrund dessen seinen Besuch nicht einmal bemerken. Als Shaelyn am Morgen abgeholt wurde, war sie mehr als verschlafen. Bestimmt hatte sie noch ein paar Stunden mit Emma geredet, ehe sie sich schlafen gelegt hatten. Aber es war schön gewesen sich mit ihr zu unterhalten. Immerhin war Emma ein Mädchen in ihrem Alter, sogar ein Jahr älter, wie sie ihr verraten hatte. Mal mit einem Mädchen zu reden war komplett verschieden und irgendwie vermisste sie es. Bisher war ihr wenig Möglichkeit gegeben worden, sich Freunde zu suchen. Ob sich das nun mit Emma änderte? Sie hoffte es wirklich. Nachdem sie in den OP gebracht wurde, waren schon alle Ärzte anwesend und legten sie schließlich schlafen. Und wenn sie dann erwachte, war nichts mehr so wie bisher. Völlig betäubt, kam Shaelyn zum Bewusstsein. Alles drehte sich und hatte sie das Gefühl verloren gegangen zu sein. Somit recht verwirrt wandte sie ihren Kopf hin und her, bemerkte dabei den dicken Verband um ihren Kopf. Vorsichtig, fasste sie danach, bekam eine Polsterung vor ihren Augen zu fassen. „Ah du bist endlich wach, Shae!“, begrüßte sie schon Emma freudig. „Was...?“ Shaelyn atmete schwer, probierte alles zu verarbeiten. „Du hast ganz schön lange geschlafen. Es war sogar schon Besuch da...“ Die Worte von ihrer Zimmergenossin drangen immer deutlicher zu ihr durch, was jedoch einen Moment brauchte, um ganz wahrgenommen zu werden. „Besuch...?“ „Ja,... ich glaube, das war dein Großvater. Ein netter alter Mann. Und...“ Emma hörte sich nachdenklich an, ganz so als sei sie unschlüssig. „Naja, so ein echt gruseliger Typ. Der hat mich kurz angestarrt und ich dachte, ich müsste sterben. … Gehört der zu dir?“ Shaelyn grinste nun so gut sie nur konnte, da ihr nun das Gesicht von Rue vorschwebte. „Ja, der gehört auch zu mir.“ „Der sah...“ Emma brach ab, war sie sich nicht sicher, ob sie aussprechen sollte, was sie dachte. Die Schwarzhaarige hingegen konnte sich in etwa vorstellen, was ihre Zimmerpartnerin sagen wollte. „Sag es schon, keine Sorge.“ „Der sah scheußlich aus. Wie ein Freak. So zerzauste Haare, schlabbrige Klamotten, diese Haltung und erst seinen Blick!“, plapperte Emma schon direkt aus und verzog das Gesicht. Genau so war auch Shaelyns Meinung zu beginn gewesen. Rue hatte tatsächlich keine gute Ausstrahlung. Jedoch wusste keiner so gut wie sie, wie aufmerksam er in Wirklichkeit war. Rue besaß durchaus auch seine guten Seiten – auch wenn er sie viel zu selten zeigte. „Der hat dich minutenlang angestarrt, was ich durch die Zimmertür sehen konnte. Wollte gerade ins Zimmer rein, als ich ihn da hab stehen sah. Hab mich nicht getraut ins Zimmer zu gehen... Und er hat dir was mitgebracht, was ich doch sehr lieb finde. Ist er dein … Freund?“ Gerade wollte Shaelyn nachfragen, was Rue ihr denn mitgebracht hatte, als sie die Frage hörte. Wie auf Knopfdruck, nahm ihr Gesicht die Farbe Rot an, zog sie gleich die Decke über den Kopf. Sofort igelte sie sich regelrecht ein. Dass es ihr peinlich war, danach gefragt zu werden, würde nun jeder Idiot bemerken. „Nein, ist er nicht...“, nuschelte Shaelyn betreten und hörte prompt das Kichern von Emma. „Hättest du aber gern?“ Sofort schlug Shaelyn die Bettdecke vom Kopf. „Nein!“, verließ es trotzig ihren Mund. Das Leben schien in ihr zurück zu kehren, fand Emma. Ob das nur an diesem Freak lag? Das war zu offensichtlich. „Ziemlich auffällig, wie du dich verhältst. Kannst mir ruhig sagen, ob du ihn magst.“ Shaelyn presste ihre Lippen aufeinander. Ihr war diese Situation unangenehm. Und wieso hielt sie wirklich jeder für ein Paar?! Dabei hatte sie doch keiner Kü-. Hochrot brach sie den Gedanken ab, da eine nur zu bekannte Erinnerung ihren Kopf flutete. „Weißt du, ich war auch mal lange in einen Typen verliebt. Er ging in die Parallelklasse... Ich dachte immer, er will nichts von mir, weil er mich irgendwie nicht beachtete. Hab mir immer eingeredet, dass es nichts wird und war deswegen wirklich deprimiert. Dann habe ich gehört, dass er wegzieht. Nach Idaho,... als er dann den letzten Tag in der Schule war, sagte er mir plötzlich, dass er schon ewig in mich verliebt wäre, sich nur nie getraut hätte. An dem Tag hab ich ihn das letzte Mal gesehen.“ Shaelyn lauschte Emmas Geschichte, zumal sie den Zwischenfall schnell vergessen wollte und fragte sich auch gleichzeitig warum sie es ihr erzählte. Es war traurig, dennoch wurde Shaelyn das Gefühl nicht los, dass sie etwas daraus lernen sollte. „Und... warum sagst du mir das?“ „Hör mal. Es ist nicht gut, seine Gefühle so lange zu verheimlichen. Irgendwann passiert dir dann auch so was. Er muss plötzlich wo hin und du würdest ihn nie wieder sehen. Dann bereust du es, ihm das nicht gesagt zu haben.“ „Aber ich bin doch gar nicht verliebt.“ „Sicher?“ Sie wollte es sofort bejahen, doch hielt sie etwas zurück. Shaelyn brachte kein Wort über ihre Lippen. Es fühlte sich falsch an die Nachfrage zu bestätigten. Dies versetze ihr einen starken Stich in die Brustgegend. Was wäre wirklich, wenn Rue plötzlich weg wäre? Was wäre, wenn Emma recht hatte? Es blieb still und das bestätigte die Annahme von Emma, die sich auf den Bettrand von Shaelyn setzte. „Ich kann deinen Geschmack zwar definitiv nicht verstehen, aber probiere es doch einfach mal... und das hier hat er dir mitgebracht.“ Emma griff auf den Nebentisch von Shaelyn, nahm den kleinen Blumenstrauß aus der Vase, reichte auch gleich ihrer Zimmerpartnerin diesen. Überrascht, öffnete Shaelyn ihren Mund, führte die Blumen gleich zu ihrer Nase. Voller Sehnsucht nahm sie den Duft der Blumen in sich auf. „Wenn du mich fragst, finde ich die rote Rose in der Mitte am Schönsten.“, meinte Emma erheitert. Eine Rose. Ja, den Duft hatte sie sofort wahrnehmen können. Es erinnerte sie direkt an den Tag, als er sie zum Reden gebracht hatte. Sein Versuch sie mit Blumen anzuregen, das Gespräch und der Wangenkuss, der ihn völlig aus der Bahn geworfen hatte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, auch klopfte es wild in ihrer Brust. Was wäre, wenn er tatsächlich ihr Herz gestohlen hatte und es nicht mehr herausrückte? Für den Rest des Tages war Bettruhe verordnet, wurde nur kurz nach den beiden jungen Frauen gesehen, ehe es schon Abend war. Shaelyn war seit dem Gespräch mit Emma zurückhaltend gewesen, hing sie mehr ihren Gedanken nach, was auch ihre Zimmerpartnerin bemerkte. Es wäre besser, Shaelyn für den Rest des Tages einmal nachdenken zu lassen. Vielleicht wurde sie sich dann bewusst, was Emma auf den ersten Blick hatte erkennen können. Und auch ihre weibliche Intuition versicherte ihr, dass sie nicht falsch lag. Wobei sie sich mehr fragte, wie man sich in einen solchen Typen verlieben konnte. Bis auf die Blumen, was eine liebe Geste war, konnte sie rein gar nichts Positives erkennen. Ob das wirklich gut ging? Obwohl sich Emma eingestehen musste, dass Shaelyn ihn vielleicht anders wahrnahm. Wenn man blind war, zählten andere Dinge, als das Aussehen. Und wenn man vernarrt in jemanden war, dann konnte er der Schönste auf der Welt sein. Der nächste Tag brach an und man wurde gleich von einer Schwester geweckt, die das Essen brachte. Shaelyn, die das Gefühl hatte bereits ausgehungert zu sein, stürzte sich regelrecht auf das Frühstück. Gestern durfte sie wegen der Narkose nichts zu sich nehmen. Heute sah es natürlich anders aus. „Wenn man dich beim Essen sieht, könnte man denken, du bist kurz vor dem Verhungern.“, belustigte sich Emma vergnügt und kicherte ausgelassen. „So fühle ich mich auch!“, bestätigte Shaelyn, während sie weiter aß. Und kaum war das Frühstück vorbei, ließ sich Shaelyn zurück ins Kissen fallen. Wenn sie richtig verstanden hatte am Vortag, würde man ihr heute den Verband abnehmen und nachsehen, ob alles korrekt verheilte. Das hieß, dass sie heute Dunkel von Hell unterscheiden konnte? Mit einem breiten Grinsen zog sie die Decke höher. Wenn man sie so sah, bekam man schnell den Eindruck, als würde sie etwas ausfressen. Doch derlei Gedanken fanden rasch ein Ende. Emma setzte sich erneut auf Shaelyns Bettrand und räusperte sich. „Hast... du dich entschieden?“ Die vorsichtige Stimme Emmas traf Shaelyn wie ein Schlag. Egal wie behutsam sie es hätte aussprechen können, doch dieses Thema war zu empfindlich. „Nein... was soll ich da auch entscheiden? Was ist so wichtig daran?“ „... einfach alles.“, folgte es prompt von ihrer Zimmergenossin, was Shaelyn zum Stutzen brachte. „Wieso?“, hakte die junge unsichere Frau nach, woraufhin ein kleines Seufzen zu hören war. „Wenn du dir nicht selbst bewusst wirst, was du eigentlich fühlst, wird es dich immer verfolgen. Verstehst du, Shae?“ Die Angesprochene enthielt sich einer Antwort, drehte nur ihren Kopf zur anderen Seite. Emma würde nie verstehen, was sie fühlte. Es war zu kompliziert. All die Erlebnisse, die seit einem Jahr vorgefallen waren. Und sie selbst hatte Rue zu oft enttäuscht und mit hineingezogen. Wie konnte sie daran denken sich in ihn zu verlieben? Er war nur ihr … Bruder? „Ich möchte dich zu nichts Zwingen. Aber hast du dich einmal gefragt wie es wäre, wenn du offen das sagst, was du fühlst?“ „ Ich weiß nicht was ich fühle. Er ist wie mein Bruder.“ Nun war es an Emma, welche gewaltig stutzte und die Stirn stark runzelte. „Bruder? Seid ihr verwandt?“ „Nein...“, flüstere Shaelyn schon fast. Wenn sie dies aussprach hatte sie das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Als fehlte etwas Wichtiges, wenn sie sich das vor Augen führte. „Ich werde dir jetzt Fragen stellen, Shaelyn. Und ich möchte, dass du sie dir selbst beantwortest und zwar ehrlich.“, begann Emma ernst und setzte sich ganz auf das Bett. Sie kannte Shaelyn erst seit Gestern, daher stand es ihr nicht zu, solch private Dinge auszufragen, doch konnte sie so damit wenigstens ein wenig helfen. Außerdem hatte sie sie gern. „Was fühlst du, wenn er in deiner Nähe ist? Was wünscht du dir, wenn er dich berührt?“ Emma setzte für einen Moment aus, holte noch einmal tief Luft. „Wenn er mehr für dich ist als ein Bruder, dann spürst du es in deiner Brust. Wenn dein Herz wie wild klopft, wenn er nahe ist, oder du nur seine Stimme hörst. Wenn du ständig an ihn denken musst, dir wünscht, dass er bei dir sein soll. Oder... du dir wünscht, wenn es auch nur einmal wäre, ihn zu sehen. Fühlst du dich glücklich, wenn er dir Aufmerksamkeit schenkt? Vergiss all die anderen Sachen, die in deinem Kopf herum spuken. Konzentriere dich auf das, was du wirklich möchtest.“ Nervös spielte Shaelyn an der Decke, während sie all die Worte in sich aufnahm. Was sie wollte? Shaelyn wagte es kaum zu atmen, da sie im Grunde wusste, was es war. Oft genug hatte sie es selbst gesagt, aber in diesem Zusammenhang, ergab es etwas völlig Neues. „Ah, da ist ja mein kleiner Engel!“ Nicht nur Shaelyn fuhr erschrocken herum, sondern auch Emma, die gleich zur Türe blickte. „Hi, Dad.“, meinte sie nur mit einem schiefen Lächeln. Der Zeitpunkt war mehr als ungünstig. Aber solches Timing besaß ihr Vater nun einmal. „Komm, mach dich fertig. In der Cafeteria wartet noch deine ganze Familie!“ Überrascht blinzelte Emma, ehe sie vom Bett aufstand. „Sorry, Shae. Ich muss dann mal. Bis später.“, sagte sie dann noch, lehnte sich jedoch danach noch ein Stück zu Shaelyn hinunter. „Und denk' mal drüber nach.“, fügte sie noch hinzu und verschwand vom Bett. Zurück blieb Shaelyn, welche sich an den Kopf fasste. All das was ihr gesagt wurde, ließ nur einen Schluss zu. Den sie nicht einmal wagte zu denken. Was lief nur falsch in ihrem Kopf?! Es vergingen zwei Stunden, als die Türe zum Zimmer geöffnet wurde. Shaelyn rechnete fest mit Emma, doch merkte sie schnell, dass es ein Arzt sein musste. Denn wies eine männliche Stimme eine Schwester an, noch etwas holen zu gehen. „Wie geht es Ihnen heute, Miss Suzuki?“, sprach sie dann der Arzt freundlich an und sie setzte sich automatisch auf. „Gut... ich habe keine Schmerzen.“ „Das ist eine erfreuliche Nachricht. Ich bin gekommen um Ihnen den Verband abzunehmen und zu kontrollieren. Sind Sie bereit?“ Shaelyn sog hastig die Luft ein. Mit einem Mal war sie unfähig zu sprechen. War es nun soweit? Endlich? Nach so vielen Monaten im Dunkeln? Die Schritte hallten durch das Zimmer und Shaelyn verkrampfte aus Reflex, doch entfernten sich die Schritte. Verwirrt wandte sie ihren Kopf von der einen Seite, zur Anderen. Was tat der Arzt da? Dann folgte schon ein Rasseln, ganz so als schob der Arzt die Vorhänge zu. Direkt verstand Shaelyn, was der Arzt tat. Man hatte ihr gesagt, dass sie nur in schwach beleuchtete Räume sein sollte um die Augen zu schonen. Nun war es also tatsächlich gekommen – und sie hielt die Aufregung kaum aus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, kaute sie nervös auf ihrer Unterlippe herum. Doch Halt! Wo war ihr Großvater? Und viel wichtiger war, … wo war Rue? Alleine der Gedanke an seinen Namen, spannte sie weiter an. Nein, es war vielleicht doch so besser. Wieso sollte sie ihn schon als erstes Sehen wollen? Außerdem konnte sie eh kaum Sehen, richtig? Es klang wie ein verzweifelter Versuch all das rechtfertigen zu können. Mehr mit ihren Gedanken beschäftigt gluckste sie erschrocken auf, als der Arzt sie erneut ansprach: „Ich werde Ihnen jetzt den Verband abnehmen. Bitte halten ihre Augen geschlossen, wenn Sie merken, dass ich die Binde löse.“ Shaelyn glaubte, ihr Herz sprang gleich aus der Brust, da sie schon die Finger an ihrem Kopf fühlen konnte. Wie ein Stein, verharrte sie auf der Stelle. Es war soweit! Doch plötzlich hielt der Arzt inne, kurz bevor der Stoff ganz entfernt war. Das war alles was Shaelyn mitbekam, da pures Chaos in ihr herrschte. „Ah, Sie kommen genau richtig. Ich wollte gerade miss Suzuki den Verband abnehmen. Sie können sich das Ergebnis selbst gleich ansehen.“, meinte der Arzt freundlich und der Groschen fiel. Ihr Großvater war da! Etwa nur er?! Sie wusste nicht mehr wo ihr Kopf stand. Denn nicht einmal die Schritte hatte sie wahrgenommen. Es blieb still, so als wartete selbst ihr Großvater nun ebenfalls schweigsam auf das Ergebnis. Die Spannung war zum Zerreißen. Ehe der Arzt mit seiner Arbeit fortfuhr und das letzte Stück Stoff fiel. Der Moment war gekommen. Jener, den sie so lange entgegen gefiebert hatte. Sie brauchte nur ihre Augen öffnen und schon würde sie Licht erkennen. Grobe Formen, verschwommene Farben – und dennoch konnte es nicht schöner sein. Und mit jeder Stunde würde es sich langsam bessern. Was würde sie tun, wenn sie wieder voll Sehen konnte? Es gab so viel, das wieder möglich wäre. Shaelyn konnte es nicht mehr abwarten, all die Sachen zu tun, von denen sie seit mehr als einem halben Jahr träumte. „Bitte, öffnen Sie jetzt vorsichtig ihre Augen.“, erteilte der Arzt ihr und kaum war das ausgesprochen, spreizte sie langsam die Lider auseinander. Hell. Es war tatsächlich hell. Dann konnte sie eine Bewegung Rechts von sich ausmachen, sodass sie ruckartig ihren Kopf herumdrehte und nach oben hob. Es war nur ein Farbenspiel aus Weiß, Schwarz, Schatten, die sich bewegten. Trotzdem. Shaelyn konnte etwas wahrnehmen! „Können Sie jemanden erkennen?“, fragte sie der Arzt sachte und erst wollte sie antworten, fiel ihr auf, dass die Stimme plötzlich aus einer ganz anderen Richtung kam, als das was sie vor sich sah. War das nicht der Arzt vor ihr? „Ich ...“ Die Schwarzhaarige brach ab, hob nun doch ihre Hände und streckte sie nach der Person vor sich aus. War es der, den sie vermutete? Nein, oder? Aufgeregt und mit zittrigen Händen fasste sie an den Oberkörper jener Person, die an ihrem Bett stand. Jener Person, der sie ins Gesicht schauen müsste. Angestrengt verengte sie die Augenlider, konzentrierte sich auf ihren Sehsinn. Dann spürte sie große Hände an den ihren, die sie umschlossen. Sofort war ihr bewusst, wer an ihrem Bett stand – und ohne ein Wort zu verlieren, bahnte sich eine Träne über ihre Wange. Rue hatte sein Versprechen eingehalten. Auch wenn sie nichts richtig erkennen konnte, war er doch das erste, was sie mit ihrem Augenlicht wahrgenommen hatte. „Danke.“, flüsterte Shaelyn mit einem einzigartigen Lächeln auf den Lippen. Er würde sich nie vorstellen können, was das für sie bedeutete. „Schon gut, allerdings du solltest dich nun untersuchen lassen.“, kam es monoton von Gegenüber. Ja, der Schatten vor ihr war Rue und niemand anderes. Mit einem vergnügten Gesicht ließ sie von ihm ab, drehte sich gehorsam zur anderen Seite, wo der Arzt bereits gewartet hatte. Dieser besah sich die Augen genau, ehe er zufrieden von Shaelyn Abstand nahm. „Die Wunde sieht gut aus. Trotzdem werden Sie noch hier bleiben müssen zur Sicherheit. Sollten Sie Schmerzen haben, dann rufen Sie sofort nach einer Schwester.“, klärte der Arzt die Patientin auf und ließ sich im selben Moment von der Schwester ein kleines Schälchen geben. „Sie müssen ab jetzt dieses Medikament zwei Wochen lang, jeden Tag einmal einnehmen. Das vermindert die Chance einer Abstoßung, so wie ich es Ihnen bereits gesagt habe.“ Brav nahm Shaelyn ihre Medizin ein, während sie versuchte ihre Umgebung weiter wahrzunehmen. „Doktor, haben Sie einen Moment?“, hörte die Schwarzhaarige zum ersten Mal die Stimme ihres Großvaters, versuchte ihn auch auszumachen. Doch das Einzige was sie mitbekam war, wie Schritte aus dem Zimmer getan wurden. Wieso ging ihr Großvater mit dem Arzt hinaus? Und viel wichtiger war, war sie nun nicht alleine mit Rue? Sofort tat ihr Herz einen großen Sprung. All die Gedanken holten sie in einem Mal ein. Was sollte sie jetzt tun? Ihr war ihr vorheriges Verhalten nun äußerst peinlich. L, der sich die Szene still mit ansah, konnte sich bereits vorstellen, was Watari vorhatte – und es gefiel ihm nicht. Plötzlich regte sich Shaelyn auf dem Bett, rutschte sie zum Bettrand, sodass sie mit dem Rücken zu ihm saß. Mit Skepsis beäugte er das Schauspiel. Denn würde sie nicht unter normalen Umständen direkt das Wort an ihn richten? Oder sich in seine Richtung setzen? Die Anspannung war zu fühlen. Etwas stimmte hier nicht – und er würde Recht behalten. „D-Danke... für den Blumenstrauß. War sehr lieb von dir.“ Täuschte er sich, oder weshalb benahm sie sich nun so schüchtern? Das war absolut nicht üblich. Schon führte der Detektiv seinen Daumen an den Mund und dachte angestrengt nach. Er hatte sich ihr gegenüber nicht anders verhalten als für gewöhnlich. „Gibt es etwas, was du mir sonst noch sagen willst, Shaelyn?“, sprach er sie nüchtern und unverblümt an, was voll ins Schwarze traf. Augenblicklich zuckte sie zusammen. „W-was?! Nein, nein!“, kam es prompt und sie lachte unsicher. Unbeeindruckt von ihren Worten, nahm er sich erst einmal ein Bonbon aus der Tasche, steckte es sich in den Mund und starrte währenddessen unablässig auf ihren Rücken. Alleine ihre verkrampfte Haltung gab ihm schon Aufschluss. „Solltest du dich nicht freuen, anstatt über Dinge nachzudenken, die -“ „Was wäre-!“, unterbrach sie ihn lautstark, sodass er überrascht die Augen weitete und seinen Mund wieder schloss. „Was wäre, wenn ...“ Voller Aufregung musste sie kurz inne halten, Luft schnappen und sich an die Brust fassen. Sie schaffte es schon kaum den Satz gedanklich zu Ende zu bringen.„Wenn?“, forderte er sie umgehend auf, da sie sich schön Zeit ließ. „Lass mich doch ausreden! Das ist schwer genug!“, meckerte sie und drehte ihren Oberkörper in einem Schwung um, sodass selbst ihre Haare zeitweise aufwirbelten. Die nun tiefgrünen Augen funkelten verärgert in seine Richtung, ehe der Ausdruck nachließ und sie den Kopf senkte. „Was wäre, wenn … ich mich i-in d-d-dich...“, stotterte sie leise und undeutlich los und fasste sich schon mit einer Hand an den Mund. L beugte sich leicht vor, zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Worte waren sehr undeutlich gewesen, weshalb er versuchte genauer hinzuhören, während er verstärkt am Bonbon lutschte. „Das ist zu peinlich!“, rief sie hochrot aus und hielt sich gleich das Gesicht mit ihren Händen, wandte sich auch um. Verstört stierte der Schwarzhaarige auf den Rücken von Shaelyn. „Was...?“, hakte er matt nach und neigte seinen Kopf ein wenig schief. „Na das eben! Und jetzt! Und überhaupt! Du machst mich ganz ver-“ Sofort brach Shaelyn ab. Was war sie denn im Begriff zu sagen?! „Verärgert! So!“, wich sie aus, ganz ohne einen Gedanken, was sie eigentlich von sich gab. Irgendwie verstand L überhaupt nichts mehr und das hieß schon etwas. Er machte sie ganz verärgert? Ging es ihr wirklich gut? „Geht es dir gut, Shaelyn? Du solltest dich vielleicht noch einmal untersuchen lassen.“ „Du Dummkopf! Du verstehst gar nichts! Feingefühl von einem Brot! Nein! Nichtmal einem Stück Brot!“ Das reinste Chaos war in ihr ausgebrochen. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn und ihr Verstand kreiste immer nur um ein Wort: Verliebt. Wieso konnte sie es nicht sagen, obwohl es nur rein hypothetisch war? Shaelyn raufte sich die Haare, brachte ihre ohnehin ungekämmten Haare, noch mehr durcheinander. Großer Gott, sie war dabei ihren Verstand zu verlieren. Jedenfalls war das die Auffassung des Detektiven, da sie nur wirre Worte von sich gab. „Beruhige dich, Shaelyn.“, wirkte er mit Bedacht auf sie ein und ging um das Bett herum. Dies entging, trotz der Aufregung, ihr nicht. Schlagartig stoppte sie, starrte in seine Richtung. Der Schatten bewegte sich auf sie zu, und je näher er kam, desto stockender atmete sie. Als er vor ihr stand, öffnete sie stumm ihren Mund. Hörte er vielleicht ihren Herzschlag? Er war so laut, er musste ihn hören. „Hier, nimm die, dann geht es dir besser.“, vernahm sie seine Stimme durch einen Schleier, spürte seine Hand an der ihren und schließlich wie er ihr etwas in die Hand legte. Verwundert befühlte sie das Etwas in ihrer Hand, blickte auch hinunter auf ihre Handfläche. Mit einem Lächeln musste sie feststellen, dass er ihr Süßes gab. Was auch sonst? Shaelyn musste aus einem Impuls heraus kichern, was sie ein wenig entspannte. Gleichzeitig wurde sie sich etwas bewusst, während sie das Bonbon umschloss und zu ihrem Oberkörper führte. Es machte keinen Sinn sich dagegen zu verschließen – wenn es doch jetzt selbst für sie so offensichtlich zu erkennen war. Shaelyn war tatsächlich lange blind gewesen. Blind gegenüber ihren Empfindungen. Rue war für sie kein Bruder. Sondern etwas anderes sehr Besonderes. Sie war verliebt. Endlich hatte sie es erkannt und ließ es vollkommen zu. Nur für Rue schlug hier Herz so hoch – und noch nie war es so intensiv gewesen. Die Augen sind der Spiegel der Seele* Ja, selbstverständlich.** ~~~ Ich möchte die Gelegenheit nutzen und all meinen treuen Lesern, sowie besonders meinen Kommischreibern danken. Ihr seid die Besten! Habt vielen vielen Dank für eure Unterstützung! Ihr versüßt mir meinen Tag ;) Kapitel 20: Blütenrein ---------------------- „Geht es dir jetzt besser?“ Es war eine einfache – monotone – Frage, die sie zum Schmunzeln brachte. Wohl keiner schaffte es so gelangweilt zu klingen, wie Rue es im Moment tat. Dabei erkundigte er sich nach ihrer Gesundheit. Shaelyn blickte auf, während sich ein kleines Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete. „Ich würde sagen, ja.“ Sie versuchte freudig zu klingen, auch wenn ihr im Augenblick überhaupt nicht danach war. Endlich hatte sie verstanden, was sie so verwirrte – das schon so lange. Doch wollte sie es bisher nicht wahrhaben, weshalb sie tatsächlich mit verschlossenen Augen durchs Leben gegangen war. Es war die Angst, die ihr ebenfalls bewusst wurde und seine nüchterne Frage machte es nur deutlicher. Nämlich hatte sie auf Anhieb etwas sehr Wichtiges erkannt. „Gut, was wolltest du mir also sagen?“, wandte Rue gelassen ein, während er an seinem Hinterkopf kratzte. „Nichts. Schon gut, das war nur verrücktes Zeug. Tut mir leid.“ Sie war sich sicher, dass er es bemerkte. Das Unsichere, was sie versuchte zu verbergen. Allerdings sprach er sie nicht darauf an. Nein, er wirkte sogar desinteressiert. Vielleicht war es auch das Beste so. So machte er ihr wenigstens keine falschen Hoffnungen. „Verstehe.“, verließ es nur eintönig den Mund von Rue, was ihr ein müdes Lächeln einbrachte. Ja, nun wusste sie es, allerdings war es eine bittere Enttäuschung. Denn das Problem war, dass Rue sicher nicht so fühlte wie sie – und es auch nie tun würde. Es war Abend und ihr Großvater, der sie kurz nach ihrer Erkenntnis noch einmal selbst aufsuchte, war mit Rue verschwunden. Shaelyn hatte nichts mehr sagen können, machte es sie nervös, dass Rue in der Nähe war. Gleichzeitig einfach nur noch traurig. War es also wirklich eine Erleichterung es endlich zu wissen? Es würde keinen Unterschied machen. Rue fühlte nicht wie sie, waren sie nur … Freunde? Nein, sie konnte es ihm nicht sagen. Dann würde er sich unweigerlich eher von ihr entfernen, als ihr näher kommen. Es war eine Zwickmühle. Eine, die sie tief betrübte, obwohl sie nun eigentlich vor Freude jubeln sollte. Sie war dabei wieder zu Sehen, hatte erkannt, dass sie verliebt war. Dennoch wiegte die Trauer im Moment schwerer als ihre Fröhlichkeit. Es jagte Messer in ihre Brust, wenn sie nur daran dachte, dass Rue niemals so empfinden würde wie sie. Und war es ohnehin nicht eigenartig, dass sie nicht einmal wusste wie alt er war? Oder gar seinen Namen kannte? Das spielte alles keine Rolle. „Du bläst nun seit heute Morgen Trübsal, weißt du das? Man traut sich gar nicht dich anzusprechen...“ Die Stimme von Emma hallte leicht im Krankenzimmer wider, machte es der Schwarzhaarigen klar, dass sie nicht alleine war. „Kann sein...“, erwiderte Shaelyn schwach, welche im Bett auf der Seite lag. Ihr war einfach nach gar nichts Zumute. „Hast du einen Korb bekommen?“, fragte ihre Zimmergenossin direkt vorsichtig und setzte sich an den Bettrand von Shaelyn, legte auch gleich eine Hand auf ihr Becken. Stille folgte als Antwort und Emma seufzte nur leise. „Es kann ja nur wegen dem Typen sein, weil eigentlich solltest du vor Glück herum hüpfen. Du kannst wieder was sehen … Ist das nicht schön?“ Sie probierte die Schwarzhaarige etwas aufzumuntern, da sie nur zu gut den Schmerz kannte. Liebeskummer war einer der schlimmsten Dinge. Demnach konnte sie ihre Zimmergenossin nur verstehen. „Ich habe schon die ganze Zeit einen Korb bekommen...“ Verwundert blickte Emma auf Shaelyn hinab, jene sich langsam zu ihr herum drehte. Glasige Augen machten darauf aufmerksam, dass sie kurz vor dem Weinen stand. „Rue … muss nichts Sagen. Ich weiß, dass er mich nicht liebt. Und das wird er bestimmt auch nie...“ Jetzt begriff Emma wo der Hase lang lief. Darum ging es. Und eigentlich gar nicht abwegig, so wie Rue ihr vorkam. Allerdings war der kurze Moment, als sie ihn am Bett hatte stehen sehen, sonderbar gewesen. Irgendwas war in diesem winzigen Augenblick zu erkennen gewesen. Das konnte doch keine Einbildung gewesen sein. „Naja, vielleicht irrst du dich ja? Probier' es doch einfach mal.“ Der gewünschte Effekt setzte nicht ein, sondern das Gegenteil trat ein: Shaelyn begann zu weinen. „Hey! Nicht weinen....“ „Das kann ich nicht!“, schluchzte die Schwarzhaarige umgehend. „Er ist alles was ich habe. Ich kann einfach nicht.“ Emma fing an zu verstehen. Shaelyn konnte es nicht sagen, sonst bestand die Chance, dass er gehen würde und genau das wollte sie nicht. Anscheinend war er schon so eine ziemlich besondere Person. Mensch, das wurde richtig kompliziert. Dabei wusste sie nur einen kleinen Ansatz von all den Problemen – und vor allem, dass es Rue sein musste war an sich schon ein gewaltiges Hindernis. Ohne ein Wort legte sie sich zu Shaelyn und nahm sie in die Arme, wo diese nur weiter weinte. Fürs Erste sollte das reichen. Aber selbst Shaelyn war klar, dass es so mit Rue nicht weitergehen konnte. Denn lange würde sie es wohl vor ihm kaum verstecken können. Wenn er es nicht schon wusste, es nur vor ihr, wie alles andere auch, gekonnt verbarg und es überspielte. Warum musste er so sein … Der nächste Tag brach langsam an, was Shaelyn genau beobachtete von ihrem Bett aus. Licht flutete allmählich den Raum, was sie kurz belächelte. Und nahm alles ein wenig mehr Form an, nicht all zu viel aber genug um es zu bemerken. Schade nur, dass Krankenzimmer immer so steril weiß waren. Farben müsste sie sicher nun auch sehen. Zumindest wenn sie markant genug waren, wie zum Beispiel ihre Lieblingsfarbe. Ob sie etwas davon in ihrem Schrank vorfand? Als sie blind war, waren die Farben der Kleidung egal, Hauptsache es fühlte sich auf der Haut gut an. Außerdem hatte ihr Großvater größtenteils die Kleidung ausgewählt. Wahrscheinlich also waren es eher sanfte Farben. Allgemein war ihr schon früh aufgefallen, dass er es mochte, wenn sie gut angezogen war. Eben wie eine kleine Dame, nicht zu Figur betont. Was sie gleich auf das nächste Thema brachte. Sie wusste was ihr Großvater mochte, doch nicht was Rue mochte. Also was ihren Kleidungsstil betraf. Wahrscheinlich war es ihm eh egal. Er achtete nicht einmal selbst auf seinen Kleidungsstil, wenn man es so nennen konnte. Ob ihm ein anderer Stil überhaupt passte? Ein weißes Hemd vielleicht? Oder ein T-Shirt mit Aufdruck und darüber eine dünne Überjacke? Shaelyn seufzte leise auf und zog die Bettdecke so hoch, das sie über ihren Mund lag, da ihr so wohler war. Es lag nicht am Wetter, dass selbst im Dezember doch recht hohe Temperaturen hatte. Überhaupt war es seltsam. Los Angeles war nicht mit England zu vergleichen. Würde es also kein weißes Weihnachten geben. Sehr schade, da sie doch nun wieder im Begriff war zu sehen. Glitzernder Schnee war also adé. Wie ging es überhaupt weiter? Watari hatte ihr gesagt, dass sie hier hin ziehen würden. Aber die große Frage war: Wieso? Das hatte man ihr bisher gekonnt verschwiegen, wie schon so vieles. Aber sie würde sicher wieder in die Schule geschickt werden. Alleine damit sie ihren Abschluss machen konnte. Worauf es ankam war, dass es nicht erneut so eine teure Privatschule werden würde. Sicherlich war sie wieder überfordert. Wenn sie daran dachte, verging ihr eindeutig alles. Sie müsste auf jeden Fall ihren Großvater davon überzeugen, dass sie auf eine normale Schule wollte. Dort, wo die Anforderungen nicht die einer Eliteschule glichen. Shaelyn war eben mehr Durchschnitt. Keine besondere Leuchte, was ihr Großvater jedoch sicher gerne gesehen hätte. Besser sie dachte über etwas anderes nach. Ein gutes Thema wäre, wie sie denn jetzt Rue gegenüber trat. Gestern hatte sie nur noch weinen können, war sie jetzt viel gefasster. Eine Lösung musste her, denn bemerkte niemand so schnell etwas, wie Rue. Auf keinen Fall sollte er herausfinden was sie fühlte. In Anbetracht, ihm war es nicht schon aufgefallen – was sie sehr stark hoffte. Nur fiel ihr schon in der Nacht nichts ein wie sie es schaffen sollte ihn zu täuschen. Schlafen hatte sie eh nicht können. Und alles lief auf dasselbe hinaus: Nur mehr Probleme. Vielleicht konnte sie ihren Großvater um Rat fragen? Ein Grummeln und Murmeln holte Shaelyn in die Realität zurück, was eindeutig von Emma stammte. Schon in der Nacht war ihr aufgefallen, dass sie gerne mal wirr sprach – und es belustigte die Schwarzhaarige. Doch jetzt klang es eher so, als wurde ihre Zimmerpartnerin wach. Gespannt wartete Shaelyn darauf, was sich als nächstes tat, so als habe sie nichts anderes zu tun. Demnach drehte sie ihren Kopf in Richtung ihrer Freundin. „Du bist ja schon wach...“, kam es mit einem Gähnen von Emma, die sich die Augen rieb. „Oder … immer noch?“ Eigentlich brauchte die Amerikanerin nicht nachfragen. In so einer Situation fand wohl keiner Schlaf. Ihre eigene Erfahrung mit solchem Kummer reichte da schon aus, um es zu wissen. „Immer noch.“ Die Antwort von Shaelyn klang beherrscht, was Emma schon einmal darauf schließen ließ, dass ihre Zimmergenossin sich beruhigt hatte. „Und ich weiß auch nicht weiter.“, verließ es den Mund der jungen Engländerin leise. Emma nickte aus Reflex, schien auch gleichzeitig zu überlegen, während sie aus dem Bett stieg. „Naja, also dir bleiben drei Optionen.“, führte Emma an und streckte sich leicht. „Nummer Eins: Du verheimlichst es. Nummer Zwei: Du sagst es ihm. Tja und Nummer Drei: Du suchst dir einen anderen, um ihn zu vergessen.“ „W-Was?“ Direkt setzte sich Shaelyn auf und starrte entgeistert in Richtung Emma, die sie nur grob erkennen konnte. „Einen Anderen?!“, kam es umgehend schockiert. Verwundert zog die Brünette ihre Augenbrauen an. War Shaelyn das noch nicht in den Sinn gekommen? „Richtig. Einen, der dir vielleicht nicht so nahe steht und wo alles auf der Kippe steht. … Es sei denn du willst deinen Traumprinzen nicht aufgeben.“ Auch wenn das hier gerade ernst war, Emma musste kurz Schmunzeln. Rue als Traumprinz? Selbst für Shaelyn war es gerade eine abstruse Vorstellung, lenkte es sie allerdings nur einen winzigen Moment vom eigentlichen Thema ab. „Geht das denn so einfach...?“, hakte die Schwarzhaarige unsicher nach, da sie es sich unmöglich vorstellen konnte. Sie verband so viel mit Rue. Er war für sie unvergleichlich und unentbehrlich. Aber wenn das funktionierte was Emma ihr sagte, dann konnte sie wieder normal mit ihm umgehen und er würde nicht plötzlich verschwinden. „Einfach ist das nicht, das braucht schon ein bisschen Zeit... und den richtigen Typen.“ Womit gleich etliche Jungs in Emmas geistiger Liste durchfielen. Ihr Bekanntschaftskreis war groß, so war sie praktisch mitten im Leben. Bis auf den Krankenhausaufenthalt war sie so gesehen immer unterwegs und pflegte ihre Freundschaften. In diesem Punkt war Shaelyn völlig anders, was Emma so langsam spitz bekam. Ihr fehlten Freunde, Leute, die sie mit hinaus zogen und einfach einen schönen spaßigen Tag hatten. „Weißt du was? Ich nehm' dich, nachdem du und ich hier raus sind, mit auf ein paar nette Treffen, wo du gleich mehr Mädchen und auch Jungs kennenlernst.“ Vielleicht war das auch der Grund, wieso Shae sich ausgerechnet in so einen komischen Wirrkopf verliebt hatte. Sie kannte wohl nur ihn? Emma wusste natürlich nicht, dass noch vieles andere eine Bedeutung spielte. In jedem Fall schadete es ihrer neuen Freundin nicht. „Das hört sich schön an...“ Seit gestern lächelte Shaelyn wieder. Der Gedanke nette Menschen kennenzulernen machte sie wirklich glücklich. Jedoch war sie sich sicher, dass sie Rue bestimmt nicht vergaß. Egal wie viele Jungs sie kennenlernen würde, keiner würde auch nur im Ansatz so stark etwas in ihr auslösen können, wie es Rue tat. Die Gewissheit kam mit den Erlebnissen, die sie im Moment noch einmal durchlebte. Sie liebte Rue so wie er war. Jedes Bisschen. Mit jeder Faser ihres Körpers. Nur er hatte ihr Herz so für sich einnehmen können, nach all dem, was Geschehen war. Wenn er es bloß zulassen würde, wäre sie ganz und gar sein. Bedingungslos. „Was ist los, du siehst so aus, als träumst du vom Schlaraffenland. Hab' ich was verpasst?“ Emma setzte sich an den Bettrand und betrachtete mit Skepsis das Gesicht ihrer Freundin, das sich direkt veränderte. „Hm, wa … Blau!“, rief Shaelyn einfach mitten im Satz aus und zeigte fast panisch auf das, was wohl Emma trug. Jene blickte an sich hinunter und wusste natürlich schon vorher, dass sie ein hellblaues Shirt trug, was doch gar nichts Besonderes war? Wie vom Donner gerührt hellte sich ihr Gesicht dann ebenfalls auf. „Farben!“ Als sei es das Schönste auf der Welt, fasste die Schwarzhaarige sich an die Wangen und stierte gefangen auf das Blau vor ihr. Emma stand sofort vom Bett auf, griff nach dem bunten Strauß an der Bettseite und hielt es ihr praktisch unter die Nase. „Na, was siehst du?“ Fassungslos blickte Shaelyn dem bunten Farbenspiel entgegen. Es war schwammig, ging leicht ineinander über, aber sie konnte Nuancen erkennen. „Gelb.“ Schon fasste sie an die goldenen Blüten der Blume, ging gleich hinüber zu dem satten Rot in der Mitte. Im Vergleich zu all den anderen Tönen, verblassten sie neidvoll. „.Rot...“ Shaelyn ließ dieses Wort langsam abklingen, blickte schwärmerisch auf die Rose vor ihr. „Du magst die Farbe?“, kicherte nun Emma seicht und erhielt ein langsames Nicken als Antwort. „Und es hat nichts damit zu tun, dass es eine rote Rose ist, die er dir geschenkt hat?“, fragte Emma nun sanft mit einem Lächeln. Vielleicht lag sie doch richtig, wenn sie dachte, der komische Kauz könnte mehr in Shaelyn sehen, jene nun so einen seligen Ausdruck auf den Lippen trug. „Möglich...“, erwiderte Shaelyn. Kurz darauf kicherte sie wie ein kleines Mädchen. Sie musste an diesen einen besonderen Tag denken, außerdem hatte sie sich eben fast so angehört wie Rue. Und egal wie oft sie versuchte nicht an ihn zu denken – es lief ja doch auf ihn hinaus. „Hach, da werd' ich direkt neidisch auf dich, wenn ich dich so seh.“, seufzte ihre Zimmerpartnerin, woraufhin die Schwarzhaarige verwundert aufsah und den Strauß ihrer Freundin abnahm. „Warum... und worauf?“ „Na, ich wär' auch gern verliebt. Dann ist alles irgendwie so... schön. Und bisher hatte ich immer nur Pech, was die Jungs angeht.“ Shaelyn ließ den Blumenstrauß auf ihren Schoß sinken und legte den Kopf etwas schief. Auf ihre Lage sollte man eigentlich nicht neidisch sein. War ihre Liebe unerwidert. „Wieso?“, hakte Shaelyn vorsichtig, dennoch neugierig nach, da sie die Worte ihrer Freundin verstehen wollte. „Auch wenn du unglücklich verschossen bist, solange du nicht siehst, oder weißt, dass dein Schwarm eine andere liebt, hast du immer eine Hoffnung. Alleine das macht dich ein Stückchen glücklich. Ich weiß wie das ist... aber ich hatte dann das Glück, dass der Typ mich nur ausgenutzt hat. Wie Jungs nun mal sind, haben sie meist das Eine im Kopf. Ich sag' dir gleich! Wenn dein Freund sofort damit anfängt, dass er mehr als nur Fummeln will, dann vergiss ihn!“ Emma schien zunehmend verärgert und redete sich den Frust von der Seele, wobei sie nur Gutes im Sinn hatte. Sie wollte Shaelyn warnen, dass sie nicht so töricht sein sollte, wie Emma es gewesen war. „... Ich blöde habe natürlich, weil ich so blind vor Liebe war, ihn rangelassen. War mein erstes Mal... und dann hat das Schwein mich 'ne Woche später sitzen lassen, mit den Worten: „Ja, war schön gewesen. Aber das funktioniert nicht mit uns, lass uns Freunde bleiben. Ich meld' mich dann nächste Woche mal.“ Na, was denkst du hat er gemacht? Hab' nie wieder was von ihm gehört. War echt eine Verschwendung für den Arsch.“ Shaelyn hörte sich aufmerksam mit an, was Emma ihr erzählte, allerdings wandte sie sich mit roten Wangen ab. Dass Emma so einfach über so etwas sprechen konnte, fand sie sehr beeindruckend. Doch mitreden konnte sie nicht, daher versuchte sie den Ratschlag gut zu verinnerlichen, den Emma ihr gegeben hatte. „Shae? … Ist dir das peinlich?“ Direkt spielte die Angesprochene an den Blütenblättern des Straußes, blickte an sich hinab. Demonstrierte demnach deutlich, dass sie verschämt war. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust, da sie schon fast wusste, welche Frage folgen würde. „Bist du …“, begann Emma sachte und rückte ein Stück auf. „noch Jungfrau?“, fragte sie schließlich im Flüsterton. Hochrot verdeckte Shaelyn gleich ihr Gesicht. Ja, genau mit dieser Frage hatte sie gerechnet. Emma lachte schief, setzt sich auch wieder gerade. „Das muss dir nicht peinlich sein.“ „Ist es gar nicht!“, brüllte Shaelyn dann plötzlich, nahm ihre Hände vom Gesicht, kniff allerdings die Augen zusammen. Durch die plötzliche Aktion wich die Brünette leicht zurück, blinzelte auch einige Male. „Ich-Ich... hab halt noch nicht! Und?!“ Eine zweifelsfreie Aussage, die Emma nur daraufhin schmunzeln ließ. Shaelyn war wirklich noch unschuldig... Nach diesem, recht unangenehmen, Gesprächsthema, war auch schon das Frühstück gebracht worden. Und trotz dieser Unterhaltung lockerte sich die Stimmung schnell wieder auf. Emma hakte nicht weiter nach, sodass man auf andere Dinge zu sprechen kam. Wie Shaelyn im Laufe des Morgens erfahren hatte, lebte Emma nahe dem Strand und erzählte dementsprechend begeisternd davon. Es war schön ihrer Zimmerpartnerin zuzuhören, noch dazu sich all die Dinge vorzustellen. Schließlich stand auch die Visite an, die schnell vorüber war. Der Arzt war äußerst zufrieden mit der Heilung und dass Shaelyn nun schon um einiges mehr sah, als zum Vortag. Ab jetzt, wie man ihr sagte, ging es rapide aufwärts mit der Wahrnehmung. Das bemerkte Shaelyn auch, da sie im Vergleich zu den frühen Morgenstunden nun ein immer klares Bild erhielt. So war es ihr möglich am Mittag schon Unterschiede im Farbton zu erkennen. Dunkel war nicht gleich dunkel, sondern fächerte sich in den verschiedensten Tönungen. Auch war langsam das Gesicht von Emma zu erahnen, wenn sie in dieses blickte. Im Moment war die Welt von Shaelyn eine schillernde Fremde, die immer mehr an Form zunahm. Und trotz ihrer Freude, war immer ein Gedanke in ihrem Kopf, der eine sehr bittere Note hatte. Am Nachmittag fand Shaelyn ein wenig Schlaf nachdem Emma aus dem Zimmer verschwunden war. Ein wirrer Traum suchte sie auch gleich heim. Einen Sonnenuntergang am Strand und schließlich Rue, der nicht ins Bild passte. Der sie sofort an die Hand nahm und näher zog, während er sie mit seinen dunklen runden Augen fesselte. Für einen winzigen Augenblick fühlte sie sich frei und glücklich, ehe das Bild langsam verblasste. „Shaelyn?“, flüsterte eine bekannte Stimme. Ihr Name wurde ein weiteres Mal ausgesprochen und langsam verschwand die Szene ganz vor ihr. Mehr oder weniger desorientiert öffnete das Mädchen ihre Augen, sah auch gleich das Weiß von der Decke. „Du hast Besuch...“ Nun erkannte Shaelyn die Stimme von Emma, welche sie nun sachte am Arm weiter wachrüttelte – was jedoch nach dem Satz nicht mehr nötig war. Schlagartig saß sie im Bett gerade und ihr Herz überschlug sich. „Dein Großvater ist hier.“, teilte ihre Zimmerpartnerin ihr weiterhin mit, woraufhin Shaelyn sich gleich umblickte. „Er ist draußen und wartet bis du ganz wach bist. …“ Die Tonlage, welche Emma anschlug, war sehr vorsichtig. „Und … ist er … ?“ „Nein... ich hab ihn nicht gesehen. Tut mir leid.“ Der Gesichtsausdruck, welcher sofort darauf von Shaelyn folgte, sprach Bände. Sie war tief enttäuscht, lächelte jedoch kurz darauf zögerlich. „Macht nichts! Ich habe nicht mehr erwartet!“ Emma, die traurig mit lächelte, wusste, dass es nicht stimmte. „Soll ich ihn rein bitten?“ „Nein, Nein. Ich mach das. Schließlich kann ich ja nun schon wenigstens einen Weg sehen.“, meinte Shaelyn schnell und kroch aus dem Bett. Es war als öffnete sich eine neue Welt vor ihr, als sie die Zimmertüre öffnete. Hinaus gehen durfte sie noch nicht, da der Flur voller Helligkeit strahlte, dennoch konnte sie ein paar Dinge erkennen. Menschen, die an ihr Vorbei gingen und nur kurz verwundert in das leicht abgedunkelte Zimmer spähten. Die Vorhänge mussten zu bleiben, jene das Licht abfingen. „Opa?“, fragte sie unsicher in den Gang und eine Person von der Seite regte sich. Bestimmt lächelte er nun, dachte sich Shaelyn. „Guten Tag, Shaelyn.“ Ja, alleine an diesem sanften Ton konnte sie ausmachen, dass ihr Großvater ihr zulächelte. Ein kleines Kichern entfuhr ihr, ehe sie zur Seite trat. „Komm doch bitte rein.“ Der alte Mann nahm das Angebot seiner Enkelin gerne an und trat in das Zimmer ein. „Wie ich sehe, kannst du schon viel besser etwas Wahrnehmen.“, machte der alte Herr direkt darauf aufmerksam und erhielt ein Nicken, während sie die Türe schloss. „Der Arzt sagt, dass das ein sehr gutes Zeichen ist. Also das es wohl sich nicht entzündet hat, oder so was in der Art.“ Shaelyn lachte kurz. Irgendwie hatte sie den Worten vom Arzt nicht richtig Gehör geschenkt. „Soll ich solange raus gehen, Shae?“, wollte schließlich Emma wissen, nachdem ihre Zimmergenossin sich auf das Bett setzte und ihr Großvater auf den Stuhl daneben. „Ach, nein du kannst ruhig bleiben. Macht nichts.“, lehnte die Schwarzhaarige ab, während sie sich kurz zu ihrer Freundin gedreht hatte. Es gab nichts, was Emma nicht auch hören konnte. Somit war diese Angelegenheit vom Tisch und Watari erkundigte sich gleich danach, ob es Shaelyn sonst gut ging und ob sie gut behandelt wurde. Jene versicherte ihrem Großvater alles wäre in bester Ordnung, denn wollte sie ihm nicht davon erzählen, dass sie in Rue verliebt war. Zumindest noch nicht. Irgendwann würde sie es ganz bestimmt, doch zu diesem Zeitpunkt nicht. Es war alles noch zu neu und sie musste selbst noch nachdenken, wie es denn weiter ging. Ebenso vermied sie es ihren Großvater zu fragen wo Rue war. Himmel und Hölle, musste sie immer an ihn denken? „Es freut mich zu hören, dass es dir gut geht.“, sprach ihr Großvater sie sanft an, woraufhin sie aus ihren Gedanken gerissen wurde. Sogleich fragte sie sich, was dieser winzige Unterton in seiner Stimme zu bedeuten hatte. Hatte Watari etwas vor? „Ich sollte nun gehen.“ Shaelyn wollte gerade ihren Mund öffnen um zu protestieren, als der alte Herr fortfuhr: „Noch jemand wartet vor der Tür auf dich.“ Gleich setzte ihr Atem für einen Moment aus und ihre Augen weiteten sich. „Ich habe Ryuzaki gebeten vor der Tür zu warten, ehe ich hinaus komme.“ Täuschte Shaelyn sich, oder hörte es sich wie ein Wink an? Watari wusste doch nicht Bescheid?! Als der alte Herr aufstand, griff sie sofort an dessen Ärmel, zwang ihn so inne zu halten. „Opa... weißt du … ?“ „Shaelyn, ich mag alt sein, jedoch weiß ich einige Dinge immer noch zu erkennen, vor allem, wenn es sich um meine Enkelin handelt.“, sprach Watari besonnen und äußerst liebevoll, legte auch gleich seine Hand auf die ihre um sie zu beruhigen. „Habe ich eine Chance...?“, folgte es leise von Shaelyn, welche vor Aufregung begann zu zittern. Ihr Großvater wusste Bescheid. Wenn er es so deutlich wahrgenommen hatte,... wie stand es dann erst um Rue? „Und, weiß er davon?“, stellte sie rasch die nächste Frage, ohne den alten Mann auch nur antworten zu lassen. Jener eine gewisse Zeit verstreichen ließ, da er offensichtlich überlegte. Seine Worte mussten mit Bedacht gesprochen werden, auch da die Zimmerpartnerin anwesend war. Dennoch wollte er seine Enkelin nicht täuschen. „Ich kann nicht viel darüber aussagen, jedoch sei versichert, dass es ein gutes Ende haben wird.“ Verwirrt starrte die Schwarzhaarige hinauf zu ihrem Großvater. Was meinte er mit einem guten Ende? Watari nahm ihre Ratlosigkeit zur Kenntnis, räusperte er sich direkt und setzte neu an: „Was er weiß, kann dir keiner sagen, Shaelyn. Selbst ich nicht. Ryuzaki ist ein verschwiegener Mensch und legt seine Gedanken nur selten offen und nur dann, wenn es die Situation erfordert. Daher kann ich dir auch leider nicht sagen, ob du eine gute Aussicht hast. Du solltest aber wissen, dass er dich schätzt.“ Die Worte entsprachen der Wahrheit. Watari wusste nicht, ob sie je eine richtige Chance hatte. Es lag ganz an Ryuzaki, daran, ob er bereit war auf das Risiko, was Shaelyn darstelle, einzugehen. Egal welche Entscheidung der Meisterdetektiv traf, Watari würde dahinter stehen. Aber Liebe stellte hier sicher keine Barriere dar, was er jedoch leider seiner Enkelin verschweigen musste, welche bekümmert dar saß. „D-Das heißt, ich sollte besser nichts sagen?“ Sie war stark verunsichert, was man ihr direkt ansehen und auch hören konnte. „Also, das es einfach so bleibt wie immer?“ „Shaelyn, bleibe du selbst. Verstelle dich nicht.“, antwortete er ihr freundlich und drückte ihre Hand einmal, um ihr Sicherheit zu geben. „Ich sollte nun wirklich gehen.“ Shaelyn nickte nur etwas betäubt und zog ihre Hand zurück. Sie fühlte sich schrecklich. Das Gespräch sollte sie stärken, nicht weiter verwirren. Verstand sie kaum die gut gemeinten Worte ihres Großvaters. Ihr war zum Weinen zumute und die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu, wenn sie daran dachte, dass gleich Rue durch die Tür kommen würde. Wie sollte sie reagieren? Watari verabschiedete sich, bekam nur einen kurzen Gruß zurück. Es schmerzte ihn seine Enkelin so zurück zu lassen, doch hatte er keine Wahl. Er hoffte nur das Beste für Shaelyn und ebenso für L. Nachdem der alte Herr die Türe hinter sich geschlossen hatte, nahm Emma sofort die Gelegenheit wahr und stürmte zu Shaelyn um sie aufzumuntern. „Mach' dir keinen Kopf, Shae. Das was dein Opa dir gesagt hat, klang doch gut. Er hat es nicht ausgeschlossen oder?“, meinte sie schnell, bevor die Türe erneut geöffnet wurde. Shaelyn blickte noch kurz mit einem trüben Lächeln zu Emma, ehe sich diese zurückzog. Es fühlte sich unerträglich an wie sich ihre Brust zusammenzog. Besonders da Schritte zu hören waren, die näher kamen und schließlich an ihrem Bett verebbten. Sie wagte es kaum aufzusehen, um die Umrisse von Rue wahrzunehmen. Und insbesondere, da sich schon die erste Träne aus ihrem Augenwinkel löste. Shaelyn spürte vollkommene Machtlosigkeit. War das der Anfang vom Ende? Kapitel 21: Ein Schlüssel und zwei Türen ---------------------------------------- Als L schon seinen Mund geöffnet hatte, schloss er ihn wenige Momente später still wieder. Er konnte nicht in ihr Gesicht blicken, bemerkte jedoch die Tränen, welche auf das Bettlaken tropften – was letztendlich der Grund war, weshalb er verstummte, dies zumindest für den Augenblick. Die Frage warum sie plötzlich weinte und nicht aufblickte, stimmte ihn umgehend nachdenklich. Freude sähe definitiv anders aus. Folglich war es Traurigkeit. Ihr Kopf ließ sie hängen, wirkte sie verkrampft. War er für ihren Zustand verantwortlich? Er benahm sich wie sonst auch, gab ihr demnach keinen Anlass für derartiges Verhalten. Doch war etwas seltsam. Etwas, was er nicht sofort erfassen konnte, dennoch deutlich wahrnahm. Sein Spürsinn verriet ihm auf Anhieb, dass etwas verändert war. Neugierig machte er sich kleiner, beugte sich so tief vor, sodass er schief von unten in ihr Gesicht blicken konnte. Erschrocken weitete sie ihre dunkelgrünen Augen, zog knapp vor seiner Nase die Decke hoch, damit es als Sichtschutz galt. Direkt bildete sich eine tiefe Furche zwischen seinen Augenbrauen. Offensichtlich war er der Grund; und somit hatte sein Sinn wieder einmal Recht behalten. „Äh... Keine Angst.“, meldete sich Emma auf einmal unsicher zu Wort und lächelte schief. Sogleich richtete sich L wieder auf, starrte zu der Zimmergenossin hinüber, welche sich bemerkbar gemacht hatte. Jene versuchte Ruhe zu bewahren, da sein Blick sie fast durchbohrte. Emma musste irgendwas für Shaelyn tun, jedoch hinderte der Kloß im Hals sie daran sofort noch was nachzusetzen. Dieser Typ schüchterte sie schon fast mit seinem intensiven starren Blick ein, was wirklich wenige Menschen konnten. „Gibt es etwas, was du mir damit sagen willst?“, kam es dunkel aus seinem Mund und Emma wäre schreiend davon gerannt, wenn sie nicht von Shaelyn wüsste, dass er eigentlich ein guter Kerl war. Der junge Mann verengte seine Augen leicht, sodass die Amerikanerin den Eindruck gewann, dass er sie versuchte einzuschätzen und gleichzeitig eine Antwort erwartete. Außerdem wurde Emma das Gefühl nicht los, dass seine Worte missbilligend klangen. Gerade so, als was sie das Recht hätte, sich einzumischen. Trotz diesem Gefühl – und seinem strengen Blick, mischte sie sich weiter ein. Nein, es war einfach ihre Pflicht als Freundin. Demnach ließ sie sich einfach etwas einfallen. „Sie hat ihre Tage, deshalb ist sie ein bisschen emotional. Vorhin hat sie sogar auch schon einmal einfach so geheult.“, warf Emma dann einfach ein und eine kurze Stille kehrte ein, in welcher der komische Kauz sich nicht regte. Männer hatten schließlich keine Ahnung davon, also konnte er es schlecht beurteilen … ? So hoffte Emma stark darauf, dass sie mit der Aussage Shaelyn wenigstens ein wenig helfen konnte. Die Miene von L veränderte sich, langsam, jedoch zeigte er Regung indem er fragend, zweifelnd und nachdenklich zugleich blickte. „Hey!“, rief Shaelyn plötzlich aus, welche wohl erst jetzt wirklich begriffen hatte, was Emma dort erzählte und riss die Bettdeckenwand ein. Hochrot starrte sie mit einem Todesblick zur Brünetten, jene sofort den Kopf schützend duckte. „Was sollte -“ „Verstehe ...“, folgte es unvermittelt sachlich vom Detektiven, weshalb die Schwarzhaarige inne hielt. Ohne einen weiteren Gedanken drehte sie sich zu ihm um, erkannte seine Umrisse. „Vergiss das, okay?!“ Wenn sie nur daran dachte, was ihm nun durch den Kopf ging, wollte sie im Boden versinken. Dabei stimmte die Aussage von Emma noch dazu überhaupt nicht! Für einen Augenblick hielt sie auf einmal den Atem an. Sah sie ihm nun nicht genau ins Gesicht? Das hatte sie ja nun im ganzen Trubel ganz vergessen, dass sie ihn doch nicht ansehen wollte! Wenn es denn möglich war, beschleunigte sich weiter ihr Herzschlag, der ohnehin schon durch Rue's Anwesenheit raste. Schwach öffneten sich ihre Lippen, doch kein Ton verließ ihre Kehle. Es war als sei ihr Hals vollkommen ausgetrocknet. „Gibt es sonst noch etwas, was ich unbedingt wissen sollte?“, schnitt der Schwarzhaarige monoton an und machte deutlich, dass die Information von Emma schon reichte – vor allem von einer Unbeteiligten, ging jedoch sicher. „Nein...“, piepste Shaelyn schon fast, da die Luft knapp wurde. „Alles in bester Ordnung!“, hing die Engländerin hastig an und wandte ihren Blick von seiner Silhouette ab. Nervös begann sie mit ihren Fingern an der Bettdecke zu nesteln, während sie weiter den Blick nach unten gerichtet ließ. Prompt öffnete sie erneut ihren Mund, nur um eilig weiter zu sprechen: „Wie du siehst ist alles okay, du musst also nicht länger bleiben. Opa hat dich sicher hier her geschliffen, nicht? Er wartet bestimmt schon draußen. Wenn du nicht willst, dann brauchst du mich auch nicht weiter besuchen kommen. Ich sehe dich dann eh Zuhause.“ Es war als versuchte sie ihre Unsicherheit mit Worten zu ersticken, wirkte es nur gerade auf L seltsam. Seit wann wollte Shaelyn nicht mehr, dass er sie besuchen kam? Erst lag ihr viel daran, nun blockte sie ab. Und die Begründung weshalb Shaelyn merkwürdig agierte, ließ er erst einmal offen. Könnte das auch gelegentlich für ihre Ausbrüche verantwortlich sein? „Ich wollte dich besuchen.“ Somit räumte er jeden Zweifel aus dem Weg, Watari könnte ihn zu etwas überredet haben. L handelte nach seinem Ermessen. Der Detektiv nahm seinen Daumen vom Mund, steckte gleich seine Hand in die Hosentasche. „Aber wie du sagst, wird das in Zukunft nicht mehr nötig sein.“ Shaelyn biss sich auf ihre Unterlippe. Irgendwie schmerzte ihr dieser Satz. Es war nicht wie er ihn ausgesprochen hatte – egal ob es anklagend klang – sondern eher was er damit ausdrückte. War es ihm gleich? Hätte er nicht Protest einlegen können? Lag ihm in Wahrheit doch so wenig an ihr? War ihre ganze Einschätzung doch nur ein Hirngespinst gewesen? Wieso war alles was er von nun an sagte so unheimlich von Bedeutung? Vorher konnte sie es mit Belustigung abtun – jetzt allerdings war es viel mehr schmerzlich. Ja, zerbrechlich. Sie wusste es. Alleine die Tatsache, dass sie nun wusste was sie empfand, veränderte sie. Die Angst war schlagartig wieder zu spüren. Sie war dabei etwas Wichtiges zu verlieren und das nur, weil sie nun so empfand. „Ich gehe dann... Man sieht sich.“ Man konnte es durchaus Humor nennen was er ausdrückte, somit war der Satz auch wortwörtlich zu verstehen, jedoch fand er keine Würdigung. „Ja, bis dann.“, verließ es schwach den Mund der jungen Frau, jene nicht aufblickte, als sich der Besucher wieder entfernte – ruhig und ohne zu zögern. Erst als die Tür ins Schloss fiel, seufzte Shaelyn stark auf. Eine Art Erleichterung befiel sie, allerdings auch Hoffnungslosigkeit. Sein Auftritt war für sie alles anderes als Ermutigend gewesen, die eben jene Fragen aufwarfen. Wenn sie doch nur wüsste, wie er wirklich empfand und dachte... „Wem magst du mich denn gern vorstellen?“, schnitt die Schwarzhaarige plötzlich an, hob den Kopf und lächelte Emma schwach entgegen. Jene blinzelte einige Male, versuchte die eben gesehene Szene zu verstehen und reagierte demnach zunächst desorientiert. „Hä? … Ah, du meinst du entscheidest dich für Option drei?“ „Ja.“ Dann war alles wieder beim Alten. So, wie es sein sollte – so hoffte Shaelyn. „Watari, kann ich Ihnen eine Frage bezüglich Shaelyn stellen?“ Der Meisterdetektiv kaute wie üblich nebenbei an seinem Daumennagel, starrte auf den Wagen vor sich, wartete jedoch nicht auf eine Antwort des alten Mannes. „Hat sie Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches erzählt?“, kam es grüblerisch über die Lippen des jungen Mannes, welcher gerade die Türe des Autos von Watari aufgehalten bekam und zu jenem hinauf blickte. Natürlich fragte sich L woher solch eine Reaktion resultierte. Dass er sie nicht mehr besuchen sollte, lag sicher nicht an ihrer momentanen Lage, wenn er es richtig erfasste. Immerhin beeinflusste es nicht in solchem Maß diese Entscheidung. Etwas musste vorgefallen sein und es war nur eine Frage der Zeit, ehe er es heraus fand. Und vielleicht wusste sein Vertrauter mehr darüber. Watari war nun also durchaus in einer prekären Lage. „Sie sorgt sich, dass nicht alles gut verlaufen wird.“, wählte nun der alte Mann mit Bedacht diese Worte, welche auch gleich skeptisch und äußerst nachdenklich vom Detektiven aufgenommen wurden. L runzelte leicht die Stirn. „Was sollte das mit mir zu tun haben? Alles wird wie bisher verlaufen. … Ich glaube, ... Sie verschweigen mir etwas.“, sprach der Schwarzhaarige offen heraus und stieg dann in den Wagen ein. Er hatte deutlich gemacht, dass er Verdacht hegte und ließ es Watari sofort spüren. Nahm der Schwarzhaarige auch gleich in seiner üblichen Sitzposition – natürlich auf dem Polster ohne Schuhe, welche er zuvor auszog – platz. Watari schloss schweigend die Türe, gab sich nach außen hin gefasst, wie sonst auch. Doch wusste er schon jetzt, dass es heikel werden und L darüber reflektieren würde. Der Abend ging vorüber – ohne einen geeigneten Partner für Shaelyn gefunden zu haben. Es lag nicht daran, dass die Engländerin zu wählerisch wäre, sondern viel mehr an Emma, die wenige Kandidaten aufzählen konnte. Die Guten waren ohnehin schon alle vergeben – und jemanden der zu locker lebte, kam nicht in Frage. Noch dazu konnte man sich erst ein Bild von einer Person machen, wenn man diese kennen lernte. Es war eben eine Frage der Sympathie – auch wenn Shaelyn in diesem Falle an Rue denken musste. Dieser hatte zu Beginn sicher keinen guten Eindruck auf sie gemacht. Ja, da war es wieder: Der Gedanke an Rue, welcher sie einfach immer begleitete. Höchst wahrscheinlich würde sie es niemals schaffen, sich so vom ihm zu lösen. Denn alleine was er alles getan hatte, würde für immer ein Bestandteil ihres Lebens sein. Es war, wie es beschlossen wurde. Am nächsten Tag war von Rue keine Spur, auch den darauf folgenden Tag, was Shaelyn langsam nicht mehr zweifeln ließ. Es war ihm tatsächlich egal. Ein bitterer Geschmack, wenn sie daran dachte – denn gäbe es keinen Grund, wieso er sich sonst so benehmen würde. Er suchte schlicht nicht ihre Nähe, so wie sie die seine suchte. Die Zeit zog sich lange bis Shaelyns Krankenhausentlassung hin. Das Einzige was sich stetig veränderte war ihre Sehfähigkeit. Heute, an dem Tag ihrer Entlassung, sollte sie zum ersten Mal das Sonnenlicht außerhalb des Zimmers begegnen und Emma freute sich von Herzen für sie. Jedoch betrübte es Shaelyn, dass ihre Freundin noch mindestens ein paar Tage länger bleiben müsse. Was sollte sie in der Zwischenzeit tun? Die verdrängte Angst, Rue nun über den Weg zu laufen, konnte nicht größer sein. Schon seitdem die Engländerin aufgewacht war, brannte dieser Gedanke in ihrem Kopf. Die letzten Tage konnte sie sich dadurch ablenken, dass sie die Welt neu entdeckte. War es für andere nur unbedeutend, freute sich die Schwarzhaarige. Nun betrachtete sie die Welt grundverschieden. Das was sie nun sah, konnte nicht schöner sein. Vielleicht würde sie in der nächsten Zeit mal ins Kino gehen? Die Morgenröte beobachten? Eigentlich konnte sie sich vor Ideen, was sie in den nächsten Tagen oder Wochen tun würde, nicht retten. Aber keiner rette sie vor der Furcht, die sie in sich trug. „Shae.... bleib' locker.“, wirkte Emma mit einem besorgten Lächeln auf Shaelyn ein, welche die Amerikanerin fast leidig entgegen blickte, während sie nervös auf ihrer Unterlippe herum kaute und dabei steif wie ein Stock auf ihrem Bett saß. „Versuch ich doch...“, antwortete die unruhige junge Frau, jene ihre Hände auf ihrem Schoß zu Fäusten ballte. Sie war stark angespannt und das alleine nur, weil sie an die nächsten Stunden dachte. Ständig kreisten Bilder von Rue in ihrem Kopf. „Ist es denn wirklich so schlimm?“ Die Brünette begann vorsichtig mit dem Thema. Selten hatten sie noch über ihn gesprochen. „Kannst du ihm nicht aus dem Weg gehen?“ Shaelyn schüttelte umgehend energisch ihren Kopf. Wenn sie ihm jetzt begegnete, dann tat sie es mit ihrem Augenlicht. Seine Stimme, sein Geruch, all das waren ihre meisten Erinnerungen. Schon jetzt wurde ihr ganz heiß, wenn sie nur daran dachte. Und erst die Erinnerung an den Kuss, raubte ihr völlig den Atem. Wie sehr sie sich doch wünschte, dass er sich wiederholen würde. Den süßen Geschmack noch einmal schmecken. Shaelyn war schlicht verrückt nach ihm – am liebsten würde sie sich in seine Arme stürzen und ihn einfach überall berühren. Als sie ihn jedoch damals das letzte Mal gesehen hatte, war das komplett das Gegenteil gewesen, so konnte sie ihn nicht leiden. Nein, sie hasste ihn. Jetzt empfand sie den genauen Kontrast. Ob seine Erscheinung nun anders auf sie wirkte? Eigentlich konnte sie nur noch grob sein Aussehen vor sich sehen. Besonders eingeprägt hatte es sich nicht – ganz egal wie außergewöhnlich er war. Es war zu der Zeit nicht wichtig, vor allem nicht nötig. Vielleicht hätte sie sich gar nicht verliebt, wenn alles so wie bisher verlaufen wäre? Trotz allem: Sie fieberte dem einen Moment entgegen. Sie musste ihn sehen! Am Besten sofort! Als Emma schon ihren Mund öffnete, stand die Schwarzhaarige ruppig auf und das mit einem fest entschlossenen Gesicht. „Es hilft eh alles nichts! Ich versuch' mein Bestes!“, gab jene mutig von sich und nickte danach selbst bestätigend – so als würde sie sich weiter Mut zusprechen. Ihr blieb ohnehin keine Wahl und ständig nur in Trübsal zu verfallen, half nichts. Sie musste sich ihm stellen. Weiter versuchen davon zu rennen, war nicht ihre Art. Nein, es war ein Kampf. Mit sich und Rue. Wann hatte sie je den Kopf total in den Sand gesteckt? Es war an der Zeit, für einen komplett neuen Abschnitt. Zu lange hatte sie nicht einmal begriffen, dass sie verliebt war. Ja, die Furcht war stark, aber sie würde siegen – dennoch wollte sie vorsichtig sein. Das konnte man schließlich nicht oft genug. Somit war es besiegelte Sache. Die Ältere war für den ersten Augenblick verwirrt, da Shaelyn plötzlich wie verwandelt wirkte. Gut, eigentlich kannte sie die Engländerin nicht anders. Aber ging das wirklich gut? „Na, viel Glück.“ Dann erschien ein Grinsen auf dem Gesicht der Amerikanerin, was Shaelyn gleich fragend blicken ließ. Es sah ganz danach aus, als hatte Emma eben etwas ausgeheckt. „Sollen wir dem mal zeigen, was ihm überhaupt entgeht? Ich weiß, du willst ihn eigentlich als Freund vergessen, aber wie wäre es, wenn ich dich ein bisschen hübsch mache? Ihm sollen die großen Glubscher ausfallen!“ Emmas Grinsen wurde nur breiter, vor allem nachdem Shaelyn perplex wirkte. Jene verstand den Sinn wirklich nicht. Weshalb sollte sie ihm zeigen, was er verpasste, wenn er ohnehin nicht an so etwas dachte? Oder … konnte sie Rue noch dazu bringen, mehr in ihr zu sehen? Eben eher mit Bedacht? Daran hatte sie bisher gar nicht gedacht. Natürlich war es ihr nicht in den Sinn gekommen, da Rue nicht den Eindruck auf sie machte, dass sie das schaffen könnte. Shaelyn fühlte sich schlagartig wie aufgestachelt. Wie ein Ziel, dass sie unbedingt erreichen müsse. Ein zweifellos schwieriges... „Meinst du, das bringt was?“ „Logo. Eine reizvolle Frau kann doch keinen kalt lassen. Du siehst zwar auch so süß aus, aber ich werde mal ein bisschen deine weiblichen Stellen betonen. Na, was meinst du? Weil deine Sachen wirklich nicht... stylisch sind...“ Kritisch sah Shaelyn an sich hinunter. Sie sah süß aus, aber nicht … weiblich genug? Was sollte das bedeuten? Konnte sie also nur als kleine Schwester auf Rue wirken? Ihr fiel auf, dass sie überhaupt keine Ahnung von solchen Dingen hatte. Bisher war sie nie wirklich an Mode oder dergleichen interessiert gewesen. Und schon das nächste Problem: Sie hatte doch wahrscheinlich gar keine so tollen Sachen im Schrank. Das was sie gerade trug war auch mehr eine normale Jeans mit einem schmucklosen braunen Shirt. Außerdem, auch wenn es kein harter Winter war, so war es kühl, dachte sie zumindest, da es doch Dezember war. Was sollte sie da schönes finden? Und was könnte Rue schon gefallen? „Ich hab' doch gar nichts Schönes dabei und es ist doch Winter?“, druckste die Engländerin herum und hob langsam den Blick wieder, entdeckte aber weiterhin das Grinsen in dem Gesicht ihrer Freundin. „Winter? Hier in L.A.? Es ist hier so frisch manchmal, weil die Klimaanlage läuft und sowieso die Vorhänge seit du hier bist zugezogen sind. Draußen sind knappe 20°C!“, wandte die Amerikanerin direkt ein und erntete einen konfusen Blick von Shaelyn. „So warm?! Im Winter? Bald ist Weihnachten! Was ist das hier für eine Ecke?!“ Es sah ganz danach aus, als fiel sie vom Glauben ab. „Das ist Kalifornien, Shaelyn. Hast du das nicht bemerkt, als du aus dem Flugzeug gekommen bist?“ „Nein, ich war so fertig, dass ich gar nichts mitbekommen habe. Und in der Wohnung lief glaube ich auch so eine Klimaanlage... Hab' das alles nicht so wahrgenommen. Eigentlich hab' ich gar nicht auf die Umgebung geachtet.“, gab die Engländerin schließlich zu, wirkte sie auch beschämt. Es war ihr unangenehm, dass sie es nicht bemerkt hatte. „Ach, jetzt weißt du es ja.“ Emma lächelte ihr zu. „Also keine Sorge... Da du auch die gleiche Kleidergröße hast, werd' ich dir was von mir leihen. Und... nehmen wir uns mal alles vor. Von der Unterwäsche an, bis zur Frisur und Schminke.“ Emma zwinkerte ihrer, noch, Zimmerpartnerin vergnügt zu und machte deutlich, dass es ihr wohl großen Spaß bereiten würde. Es wäre doch gelacht, wenn sie es nicht schaffte, dass dem Typen der Mund offen stand. Ihr schwebte genau vor, wie Shaelyn aussehen würde. Er sollte sehen, was für ein schönes Mädchen sie war – oder eher schöne junge Frau. „Der wird sich umgucken,...“, murmelte noch die Brünette, ehe sich diese schnell an ihren Schrank zu schaffen machte und Passendes zusammensuchte. Viel Zeit blieb ihr nicht, bis der Großvater kam und Shaelyn mit sich nahm. „Welche Körbchengröße hast du? C, oder? So was erkenne ich gut.“, hakte Emma nachdenklich nach, da sie sich nicht ganz sicher war, während sie in ihren Sachen wühlte. „Emma!“, rief Shaelyn sofort hochrot aus, ehe sie zögerlich nochmals den Mund öffnete und nuschelte: „Ja, C... mittlerweile... leider.“ „Was heißt hier leider?!“ Umgehend drehte sich Emma zu ihrer Freundin um, jene leicht zurück zuckte. „Das ist die ultimative Waffe!“ „... Ahja?“, meldete sich Shaelyn gleich unsicher zu Wort. Irgendwie kam sie sich dämlich vor. Sie war knapp 18 Jahre alt und wusste solcherlei Dinge nicht. Obwohl sie schon begriffen hatte, dass Jungs gern auf so was standen – war es nur nie wichtig für sie. „Ein großer Busen ist immer gut. Obwohl C noch relativ normal ist. Hab eine in meiner Klasse gehabt, die hatte F. Das war schon irgendwie zu viel... Oder weißt du, dass C deinem Märchenprinz nicht gefällt?“ Shaelyn brummte kurz. „Märchenprinz? Du weißt ganz genau, so wie ich, dass die Beschreibung bestimmt nicht zu ihm passt.“ Emma kicherte kurz, wandte sich dann wieder dem Schrank zu, in dem sie gleich weiter suchte und schon etwas heraus holte. „Ach, findest du nicht, dass es zu ihm passt? Setz' ihn auf ein weißes Schimmel, mit so'ner Krone aufm Kopf und 'ner weißen Rüstung. Passt's?“, philosophierte Emma vergnügt und Shaelyn schüttelte heftig ihren Kopf. „Unmöglich! Er wäre wohl eher der böse Zauberer oder so was.“ „Ein Badboy also, hm? Da musst du aber aufpassen...“ Die Brünette konnte es nicht mehr aushalten und lachte beherzt los. Die Vorstellung in ihrem Kopf wurde nur abstruser. Die Engländerin hingegen stand nur da und verzog das Gesicht unzufrieden. Es gefiel ihr nicht, wie Emma so über ihn lachte – sagte sie lieber nichts dazu. Wenngleich die Bilder von Rue in diesem Aufzug in ihrem Kopf ebenfalls zum Lachen wären... Sie dachte lieber nicht genauer darüber nach. „Also, gefällt es deinem … Angebeteten nicht? Weißt du das?“, fragte Emma, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Naja, aber ich muss auch sagen, dass er nicht auf mich so wirkt, dass er auf Äußerlichkeiten viel Wert legen würde.“, setzte die Brünette skeptisch fort. „Ja...“, antwortete Shaelyn direkt nur trocken. Das war auf jeden Fall eine Tatsache! Also wäre eigentlich auch dieser Versuch nutzlos, oder? War es denn ein Versuch? Angestrengt probierte sie sich nun aber an einen Moment zu erinnern, in der ihre Oberweite überhaupt mal eine Rolle gespielt hatte. Nachdenklich stellte sie den Kopf schief und setzte sich auf das Bett. Plötzlich fiel ihr der Tag im Park ein. Gleich schon stieg ihr die Hitze zu Kopf. Er hatte ihr gesagt, dass ihm ihr Ausschnitt gefiele! Damals war es noch lustig für sie, tat es als Spaß ab. Aber wenn er es wirklich ernst meinte? Und an was dachte sie überhaupt? „Ich... ich glaub, ja. Er sagte, dass ihm mein Ausschnitt gefallen würde...“, brachte Shaelyn zerstreut über ihre Lippen und fasste sich an die warmen Wangen. Wenn sie nur an all die Dinge in der Vergangenheit dachte. Jetzt hatten sie für sie eine ganz andere Bedeutung! Die letzten Tage dachte sie lieber an anderes, als an die gemeinsame Zeit mit ihm. „Also doch nur ein Kerl...“, kommentierte Emma sofort, fuhr dann aber freudig fort: „Aber gut, hab' da nämlich genau das Richtige für dich. Machen wir ihn scharf auf dich!“, verließ es wie selbstverständlich den Mund der Brünetten – und Shaelyn wäre gerne im Boden versunken. Rue würde doch eh ihre Wäsche nicht sehen... und wieso hatte Emma solche Sachen mit ins Krankenhaus genommen?! Nein, eigentlich war es deutlich zu sehen. Sie achtete auf ihr Äußeres, viel mehr, als es Shaelyn tat. War das also der Schlüssel? Es würde sich zeigen. Es war Mittag, als der alte Herr das Krankenhaus betrat und sich daran machte, seine Enkelin mit nach Hause zu nehmen. Es erfreute ihn, dass sie nun endlich wieder die Außenwelt betrachten konnte. War sie schon aus dem Häuschen gewesen, als sie ihn wiedererkannte. Das war nun schon vier Tage her. Indessen war sie heute soweit, dass sie das Zimmer verlassen durfte, wenn auch mit Sonnenbrille, die er vorsorglich schon längst gekauft und in der Tasche mit sich führte. Direkte Sonneneinstrahlung war nach der Woche noch immer schädlich, durfte Shaelyn nur in Räumen die Gläser absetzen. Jedoch selbst das würde schnell vorüber gehen. Zunächst wartete eine neue Welt auf sie, in der er sie gerne hinausführte. Watari holte sich bei der Stationsärztin noch die Entlassungspapiere ab, ehe er sich auf den Weg zum richtigen Zimmer machte. Dort angekommen klopfte er an jener Türe, wie es sich gehörte, und öffnete diese langsam. Ein neuer Lebensabschnitt würde ab nun beginnen. Mit einem Lächeln, welches überaus fasziniert wirkte, blickte Shaelyn aus dem Seitenfenster des Autos. Die Sonnenbrille nahm ihr zwar ein wenig die Farbe, dennoch waren die Dinge, die sie auf der Fahrt entdeckte, ein Wunder an Formen. Wie konnte es in dem fast Jahr an Blindheit alles nur so weit kommen, dass sie nun so empfand? Schon in den Nächten stand sie am Fenster, sah in die unendliche Ferne des Firmaments. Ebenso prägte sie sich den Rest ihres Ausblicks ein. Bäume, Autos, Straßen, Häuser. Alltägliches, was sie zuvor nie tatsächlich wahrgenommen hatte. Nein, es war selbstverständlich gewesen. „Wünscht du dir etwas Besonderes zu Weihnachten, Shaelyn?“, unterbrach Watari die Stille und blickte kurz zu seiner Enkelin hinüber, welche sich verwundert zu ihm herum drehte. Einen Moment schien sie zu überlegen, dann bildete sich ein seichtes Lächeln in ihrem Gesicht. Das Weihnachtsfest war kaum mehr als zehn Tage entfernt – und es war ganz egal, ob es nun ein warmer Winter wäre. „Einen Baum. Mit ganz viel Glitzerzeug. … Und eine rote Weihnachtsmütze.“, endete sie erfreut und bemerkte gleich die Falten an der Wange von Watari, jener nun ebenfalls lächelte. „Und zu deinem Geburtstag. Gibt es etwas, was du dir dort wünschst?“ Nun kam Shaelyn ins Grübeln und lehnte sich auf dem Sitz zurück, betrachtete dabei wie die Häuser am Wagen vorbei zogen. Verträumt schloss sie die Augen zur Hälfte und lächelte weiterhin. „Eine wunderschöne Erinnerung.“ Ganz als verstand Watari was seine Enkelin sich wünschte, nickte er bestätigend. Wie es aussah, musste er sich etwas einfallen lassen, damit ihr Wunsch in Erfüllung ging – und das würde nicht einfach werden. „Du, Opa?“, begann Shaelyn leise, während sie an ihren Fingern spielte. „Ja?“ „Du hast gar nicht gefragt, wieso ich so anders aussehe als sonst... gefällt es dir nicht?“ Bisher hatte sie ihr Großvater nicht darauf angesprochen, was sie unsicher werden ließ. Lediglich war er im ersten Moment verblüfft gewesen sie so zu erblicken, fragte allerdings nicht danach. „Es kleidet dich, Shaelyn. Du erweckst den Eindruck einer jungen Frau, das, was du auch bist.“ Leicht bedrückt wandte sie sich ab. Es gefiel ihm anscheinend nicht, weil er es doch nicht von selbst erwähnt hatte. Hätte sie sich aber auch denken können; immerhin waren die Sachen, die er ihr besorgt hatte, eher zurückhaltend. Wie eine feine Dame, die ihre Weiblichkeit nicht zur Schau stellen sollte. Dabei war das was sie trug, gar nicht so aufreizend. Vielleicht war es auch nur so, dass es Watari zeigte, dass Shaelyn dabei war erwachsen zu werden. Bestimmt hätte er sie gerne als kleines Mädchen schon mit aufgezogen. Die Chance hatte er nur leider nicht bekommen. „... Ach so... aber denkst du, es gefällt Rue?“, fragte sie schüchtern nach, nachdem eine kleine Pause entstanden war. „Das kann ich dir leider nicht sagen, Shaelyn. Wir werden es herausfinden müssen.“ Nein, Watari war sich sicher: L gefiel es. Auch wenn seine Enkelin nur einen Sack tragen würde, es würde ihm gefallen – auch wenn das natürlich nicht denselben Effekt hätte. Dennoch konnte der alte Herr es ihr nicht sagen. Nichts durfte auch nur einen Verdacht aufkommen lassen; nicht von seiner Seite aus. „Unglaublich!“, rief Shaelyn erstaunt aus, als Watari auf eine Auffahrt fuhr. „Ist das eine … Villa?! Und hier war ich wirklich vorher gewesen, als wir herkamen? Und die ganzen Palmen?! Sind wir irgendwo am Strand?“, stellte sie so schnell sie konnte all die Fragen, die ihr durch den Kopf schossen. Vor Verblüffen stand der Engländerin der Mund offen. Nein, das konnte doch nicht ihr neues Zuhause sein?! Schon vorher staunte sie nicht schlecht, wieso man so lange fahren musste und in diese teure Siedlung abgebogen wurde, noch dazu diese vielen Palmen. Sie kam sich vor wie an einem Urlaubsort im Sommer. Oder eher wie in einer anderen Welt. Alleine der Gedanke, dass Winter sein musste, brachte sie ganz durcheinander. „Ja, das ist unser neues Zuhause. Dort wird genug Platz geboten.“ Am liebsten hätte sie bei diesen Worten trocken aufgelacht. Ein normales Haus wäre auch bestimmt ausreichend gewesen, aber das? Sie war nie ein Freund von Luxus gewesen, war damals auch alles zu übertrieben, was vor allem was ihre Schule betraf. Jetzt sollte sie in L.A. in einer Villa wohnen? War das überhaupt noch die Stadt? Die Hochhäuser waren schon lange nicht mehr zu sehen. Das Auto hielt vor einem Gitter, das den weiteren Weg zum Anwesen versperrte. Watari holte aus seiner Jackentasche eine kleine Fernsteuerung und betätigte diese, woraufhin das Gitter aufschwang. Tonlos betrachtete die Schwarzhaarige einfach nur, was vor sich ging. Wohnten so auch die Stars in den ganzen Hollywoodfilmen? Bestimmt. Es sah ganz danach aus und es erschlug Shaelyn schon fast. Wie hatte sie nicht merken können wo sie war? Eigentlich war es gut zu erklären, da sie viel zu erschöpft vom Flug war und sich nur notgedrungen in einem kleinen Bereich aufgehalten hatte. Sie hatte mit einer großen Wohnung gerechnet, aber das Haus vor ihr erstreckte sich über eine weite Fläche. „Opa... ist das wirklich nötig?“ „Gefällt es dir hier nicht?“, fragte gleich Watari ein wenig besorgt und fuhr den Wagen weiter die Auffahrt hinauf, vorbei an vielen Palmen die Schatten auf die kleine Straße warfen, sowie den grünen Wiesen. „Ich weiß nicht, das ist irgendwie... Ging nicht auch etwas Kleineres?“ „In der Zeit war es leider nicht möglich etwas Passendes zu finden. Diese Villa war bereits eingerichtet und stand zum Verkauf.“ „Aha... und du hast wirklich so viel Geld. Oder halt, hat das Geld etwa Rue?!“ Sofort starrte sie zu ihrem Großvater hinüber, jener gefasst wirkte. „Du musst dich nicht um das Geld sorgen.“ Ein Satz, der ihr klar machte, dass Watari weiterhin nichts preisgab und sie missmutig stimmte. „Aber deine Bescheidenheit ehrt dich, Shaelyn. Es stimmt, dass Geld nicht alles bedeutet. In der Welt gibt es wichtigeres als das.“, sprach der alte Herr weise und hielt den Wagen vor den wenigen Treppen, die hinauf zur Doppeltür führten. Aufgeregt rückte Shaelyn ihre Sonnenbrille noch einmal zurecht, als Watari den Motor ausschaltete und ausstieg, prüfte sie noch einmal ihre offenen Haare, noch dazu den schwarzen Haarreif, an dem eine kleine Schleife befestigt war. Die Türe wurde zu ihrer Seite aufgezogen und langsam befing sie starke Nervosität. Gleich war es soweit, noch dazu erfasste sie noch nicht richtig wo sie war und was das alles hier zu bedeuten hatte. Zittrig stieg sie aus, atmete einmal tief durch und schloss für einen Moment die Augen, während sie die Wärme der Mittagssonne auf sich spürte. Ruhe. Sie musste Ruhe bewahren. „Keine Sorge, Shaelyn.“ Es war, als wüsste ihr Großvater sofort was mit ihr los war und brachte gleich Verständnis auf. Ein wenig gequält blickte sie auf und lächelte. Das Herz in ihrer Brust sprang ihr gleich heraus, so hatte sie das Gefühl. Somit zögerlich setzte sie einen Fuß vor dem Anderen, während sie sich schwach umblickte. Watari ging vor und schloss die Doppeltüre auf, die er gleich ganz für sie öffnete. Die Türe schwang auf und sie erblickte die Eingangshalle, welche gigantisch auf sie wirkte, da der glatte weiße Marmor fast alles spiegelte und der Raum wenig eingerichtet war. Die Treppe war das Zentrum der Halle und führte in die erste Etage zu jeder Seite ab. So etwas hatte Shaelyn noch nie gesehen, beeindruckte es sie dementsprechend. Und wenn sie links und rechts zur Seite blickte, war dort jeweils eine große Türe. „Die Schlafzimmer befinden sich in der ersten Etage, von der du einen schönen Ausblick auf den Garten hast.“, begann Watari freundlich zu erklären, während er Shaelyn behutsam an die Hand fasste und mit hineinführte, jene sich sprachlos weiter umsah. „Es steht dir frei jedes Zimmer zu wählen und du kannst dich im ganzen Haus umsehen. Ich bin mir sicher, dass dir das Anwesen gefallen wird.“ Entgeistert blickte Shaelyn zu ihrem Großvater hinüber. „Wie viele Schlafzimmer gibt es denn?“, fragte jene auch gleich skeptisch. „Insgesamt sechs Zimmer. Zu jedem Schlafzimmer gibt es ein ganz eigenes Badezimmer.“ „...“ Was sollte sie darauf antworten? Ihr kam das alles gar nicht mehr real vor. Das war eine ganz andere Dimension. Eine unwirkliche, bizarre. Von nun an sollte das hier ihr neues Zuhause sein... Watari ließ ihre Hand los, lächelte ihr noch einmal zu, ehe er den Eingangsbereich wieder verließ und den kleinen Koffer aus dem Auto holte. Das Haus gehörte ursprünglich einem Mann, welcher in großer finanzieller Not geraten war und nun das Haus, samt Einrichtung, regelrecht loswerden wollte. Das war eine große Chance gewesen, welche der alte Mann sofort genutzt hatte. Es bot viel Platz an, sodass Shaelyn nicht immer dem Detektiven über dem Weg laufen musste. Außerdem, da sie hier auch eine Weile leben würden, bot das Haus gute Überwachungsmaßnahmen. Und Watari hatte selbst ein wenig Sympathie an diesem Anwesen gefunden. L hatte lediglich nur zugestimmt. Ihm war es gleich gewesen. Interessierte ihn weder die Einrichtung, noch sonstiges am Bauwerk. Nicht recht wissend, was sie denken sollte, zog sie sich erst einmal den dünnen weißen Schal vom Hals und setzte die Brille ab. Ihr Mund schloss sich nicht mehr vor Fassungslosigkeit. Je mehr sie sich umblickte, desto mehr kam ihr in den Sinn, sie wäre in einem Schloss. Schon alleine die helle weiße Eingangshalle war wie eine Pforte in eine neue Welt. Doch das Wichtigste stand ihr noch bevor, was sie gleich aus ihrer Starre holte. Alleine wenn sie daran dachte, machte ihr Herz gewaltige Hüpfer. Irgendwo hier in diesem Haus war er und wartete vielleicht schon auf sie... Nein, er musste einfach auf sie warten. Neugier, Aufregung und Vorfreude erfassten sie. Sie konnte es nicht mehr unterdrücken. Es war soweit und sie wollte es jetzt auf der Stelle wissen. „Ryuzaki wartet sicherlich schon auf unsere Ankunft.“, ließ es Watari anklingen und betrat mit dem kleinen Koffer seiner Enkelin die Eingangshalle, schloss auch die Türe hinter sich, hallte auch gleich das Klacken durch den Raum. Shaelyn wandte sich mit einem breiten Lächeln zu ihm um und zeigte deutlich, dass sie fast vor Freude übersprudelte. Ihre Unsicherheit schien gewichen zu sein, auch wenn es nur für einen Augenblick war. Sie konnte es kaum erwarten. „Er befindet sich im Wohnzimmer. Die Türe links neben der Treppe.“ Hatte Watari diese Worte ausgesprochen, eilte sie Hals über Kopf los, was er nur stark belächeln konnte. Der Griff um die Türklinke war zunächst fest gewesen, verließen sie nur in diesem Moment sämtliche Kräfte. Diese Türe trennte sie. Nicht mehr als das Stück Holz und sie würde ihn wiedersehen – das mit ganz anderen Augen. Sie hätte vor Freude aufquietschen können, gleichzeitig auch in den Arsch beißen können. Hin und hergerissen klopfte sie zunächst an der Türe, um sich bemerkbar zu machen und sich auch selbst vorzubereiten. Allerdings rechnete sie nicht mit Rue's tiefen Stimme, die sie darum bat, den Raum zu betreten, was sie gleich noch unruhiger machte. Irgendwie war das Haus viel zu heiß, oder sie einfach nur zu aufgeregt. Sprach alles mehr für das Letztere. Mit zusammengepressten Lippen, drückte sie langsam, fast schleichend, die Türklinke hinunter, bewunderte dabei mit einem kläglichen Versuch sich abzulenken, das schöne Muster auf der Holztüre. Jetzt oder nie. „Watari, Sie ...“ L stoppte umgehend als er bemerkte, wer tatsächlich den Raum betrat – oder viel mehr hinein linste - und öffnete vor Verwunderung einen Spalt seinen Mund, wandte er sich gleich ganz der Tür zu, statt dem Fenster. Hatte er offensichtlich nicht damit gerechnet, dass Shaelyn ihn als erstes aufsuchte. Doch viel mehr war ihr Auftritt schuld daran, fiel ihm sofort ihr Haarreif auf, ebenso die dezente Schminke. Regungslos stand er da, starrte auf sie und sie tat dasselbe bei ihm. Ihre grünen Augen blickten ihm eine halbe Ewigkeit in die seine, dabei verzog sie nicht eine Mine. Dann, langsam, wanderte ihr Blick über ihn und erst anschließend, betrat sie ganz den Raum. Wäre er nicht geübt darin seine wahren Eindrücke zu verschleiern, so wäre ihm der Gesichtsausdruck entglitten. Nun musterte er sie ebenfalls von Kopf bis Fuß, prägte sich jedes Detail ein. Trug sie ein weißes Longtop, was sie als Kleid nutzte. Gab somit viel Sicht auf die Beine preis, welche von einer dünnen schwarzen Strumpfhose bedeckt wurden. Ein schmaler schwarzer Gürtel um die Hüfte komplettierte es und hob noch weiter ihre Taille hervor. Ihre Füße steckten in weißen Ballerinas, die eine kleine schwarze Schleife vorne zierten. Er hatte gewusst, dass sie durchaus sehr weiblich war – schließlich war ihm schon ein klarer Blick auf sie gegönnt worden – jedoch wenn sie nun immer so Figur betont herum lief, lief er Gefahr unzurechnungsfähig zu werden. In so einem Outfit würde es auf kurz oder lang Probleme geben. Das Problem, dass sie andere auf sich aufmerksam machte. Und zwar andere Männer, die es nur auf eines abgesehen hatten. Sie benutzen, so wie es ein bekannter junger Mann schon einmal getan hatte. Das würde er nicht dulden. Ja, das Gefühl sie ganz besitzen zu wollen und dass nur er sie so sehen konnte, keimte tief in ihm auf. L war selbstsüchtig – und er würde sie ganz sicher nicht teilen und auch keinem überlassen, der sie nicht ansatzweise verdiente. Er versuchte weiterhin ruhig und gefasst zu wirken, was ihm auch trotz diesem Chaos im Kopf und Körper wunderbar gelang. Doch plötzlich begann sie zart zu lächeln, bemerkte er währenddessen wie ihre Lippen dabei seicht glänzten. Hatte sie etwas auf die Lippen aufgetragen? Shaelyn sah ihm abermals in die Augen, ließ ihr Lächeln dabei nicht nach. Er lächelte ganz aus Reflex zurück, wenn auch gleich nicht so deutlich wie sie. Aus heiterem Himmel erstarb ihr Lächeln und sie blickte ihm böse entgegen. Unvermittelt kehrte ein kritischer Ausdruck in sein Gesicht zurück. „Wieso bist du mich nicht besuchen gekommen?!“, raunzte sie ihn gleich schon an und verengte ihre Augen. Kurz verwirrt starrte er ihr entgegen und führte seinen rechten Daumen zum Mund. „Für gewöhnlich begrüßt man sich zunächst, bevor man eine Frage stellt. Das ist ziemlich unhöflich.“, setzte L ihr tadelnd nach und hob eine Augenbraue – ihre Frage ignorierend. Wie es aussah stellte sich der Alltag wieder ein – was er doch mit Erstaunen bereits vermisst hatte. „Tag, Herr Ich-komm-dich-nicht-mehr-besuchen.“ „Guten Tag, Shaelyn. … Sofern ich mich recht erinnere, hast du es von mir verlangt. Oder beeinträchtigt deine Menstruation sogar dein Erinnerungsvermögen?“ Shaelyn schnappte nach diesen Worten hörbar nach Luft. Wollte er ihr damit sagen, dass er es auch so schon sehr verdächtig gefunden hatte und nicht daran glaubte? Gut, es war wirklich eine miese Ausrede gewesen, aber er drehte es schon wieder perfekt. „Hin oder her. Seit wann hörst du denn auf meine Worte, hm?!“, stellte Shaelyn mit einem Grinsen die Gegenfrage und fühlte sich auf der sicheren Seite. Ja, seit wann hörte er schon auf sie? „Vielleicht brauchte ich auch nur einen Anlass, den du mir geliefert hast.“ Jetzt wollte er die Schuld wirklich gänzlich auf sie schieben. „So was mieses!“, entrüstete sie sich und die Anspannung fiel gänzlich von ihr ab – auch wenn ihr im Hintergedanken seine Worte gar nicht gefielen. Spielte er nur wieder ein Spiel? Shaelyn seufzte auf, sah dabei, wie Rue begann zu grinsen. Kurz biss sie sich auf die Zunge, um sich zu beherrschen. „Sag' es!“, forderte sie dann schroff auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was?“ „Dass du mich vermisst hast! Was denn sonst?“ „Ich habe zumindest nicht deine frechen Worte vermisst.“, sprach er, weiterhin mit einem Grinsen im Gesicht und nahm seinen Finger vom Mund. Natürlich war seine Aussage eine Lüge gewesen, denn hatte er kurz zuvor schon bemerkt gehabt, dass ihm diese Art von Unterredung fehlte. Shaelyn verengte ihre Augen, schenkte sie ihm wortwörtlich einen Giftblick, setzte sie auch gleich auf ihn zu. L blieb wo er war, verfolgte nur mit seinen Augen alles interessiert. Als sie vor ihm stand, hob sie ihre Hand an und drückte mit ihrem Zeigefinger auf seine Brust. „Sei du gefälligst nicht so frech zu mir. Du bist hier derjenige, der immer gemein ist! Dabei tue ich dir gar nichts!“ Während Shaelyn ihre verärgerte Rede hielt, starrte L auf ihre glänzenden Lippen, die kaum mehr als 20 Zentimeter entfernt waren. Stieg ihm da gerade ein süßer Erdbeergeruch in die Nase? „Hörst du mir überhaupt zu?!“, klagte sie säuerlich an und schien nun seine Aufmerksamkeit wiedererlangt zu haben. „Nein. Ich kann dir schlecht folgen, weil etwas Lautes meine Ohren blockiert.“ Die Schwarzhaarige sog scharf die Luft ein und plusterte ihre Wangen auf. Selbstverständlich hatte er ihren Worten gelauscht, war er nur abgelenkt durch etwas doch sehr Interessantes. Ohne auf ihren erbosten Gesichtsausdruck, oder Zustand zu reagieren, hob er seine rechte Hand an, fuhr mit seinem Daumen über ihre Unterlippe. Augenblicklich war sie wie erstarrt, was er nur am Rande bemerkte, da er den Daumen zur Nase führte daran roch. Tatsächlich war es süße Erdbeere... Verstummt blickte sie zu ihm, betrachtete die Szene wie durch einen Schleier. Da war es wieder, das heftige Herzklopfen. Nein, es war schon zuvor da gewesen, nur hatte es nun eine völlig andere Bedeutung. Alleine diese Berührung löste die schönsten Gefühle aus. Aber wieso strich er ihr den Lippgloss von der Unterlippe und …. leckte ihn nun sogar von seinem Daumen?! Fassungslos stierte sie auf seine Zunge, wie sie alles aufnahm. „Süß.“, kommentierte er nur schlicht, blickte dann schließlich wieder in die waldgrünen Augen von Shaelyn, die ihn perplex anstarrten. „Mach das nicht noch einmal.“, flüsterte sie atemlos. Ja, denn sollte er sie nicht so anfassen und etwas ablecken, was von ihren Lippen stammte. L wurde daraufhin stutzig. Das war ganz und gar nicht die Reaktion, die für gewöhnlich folgen sollte. Ihre Worte passten zwar, aber wohl kaum wie sie es ausgesprochen hatte. Allgemein machte sie gerade einen seltsamen Eindruck. Er hakte direkt nach: „Warum?“ Sie antwortete nicht, sondern wandte ihm den Rücken zu. „N-Nichts, schon gut. Behalte deine Finger einfach bei dir.“ Ein weiterer Satz, der ihn sehr misstrauisch stimmte. „Und deine Zunge im Mund.“, setzte sie nach und gewann wieder an Selbstsicherheit, wobei bei L die Furche zwischen den Augenbrauen nur tiefer wurde. Etwas war hier ganz sicher im Gange. „Ich geh' jetzt in mein Zimmer, und danke für den schönen Empfang.“, sprach sie zuletzt sarkastisch und ging schnellen Schrittes aus dem Zimmer, was auf ihn wie eine Flucht wirkte. L blickte ihr nur streng hinterher – hier war definitiv Klärungsbedarf. Nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich erst einmal mit einem tiefen Seufzer an diese. Gleich auch fasste sie sich an die Unterlippe, wo nun der Lippgloss fehlte. Es war reines Chaos in ihr ausgebrochen – erinnerte die Szene sie an den hitzigen Kuss mit ihm. Shaelyn musste auf jeden Fall mehr Selbstbeherrschung zeigen! Doch lächelte sie trotz dessen glücklich. Denn wie sie es sich gedacht hatte, wirkte Rue komplett anders auf sie. Alleine sein Blick, als sie hineingesehen hatte, bescherte ihr eine angenehme Gänsehaut. Das war kein Vergleich zu damals. Heute gab es nicht eine Stelle, die ihr nicht gefallen würde. Sie fand ihn äußerst attraktiv... Wer hätte gedacht, dass sie auf solch einen Freak, was wirklich ein passender Ausdruck war, am Ende völlig abfahren würde? Shaelyn blickte sich gleich weiter um, als sie die Treppe in die obere Etage nahm. Es war ein langer Flur zu beiden Seiten und ließ sie gleich verzweifeln. Da waren so viele Türen, dass sie sich nicht entscheiden konnte. So beschloss sie sich einfach die erst beste Tür in Angriff zu nehmen, welche auf der anderen Seite ein wenig rechts von ihr war. Kurzerhand öffnete sie diese und blieb für einen Moment auf der Stelle stehen. Ein riesiges Schlafzimmer tat sich vor ihren Augen auf, sodass sie zunächst blinzelte. Der Raum war so groß wie die Küche und das Wohnzimmer in der alten Wohnung zusammen! Das Doppelbett stand an der Fensterwand, welche das Zimmer regelrecht mit Sonne überschütteten, da die Vorhänge offen waren. Und gleich fiel es ihr auf: Die Aussicht aus dem Fenster war geradezu schon von der Tür aus überwältigend. Sofort zog sie sich die Sonnenbrille auf die Nase, welche sie die ganze Zeit in der linken Hand gehalten hatte und stürmte auf eines der großen Fenster zu. Und wenn es überhaupt noch ging, dann stand ihr noch weiter der Mund offen. Die Landschaft wurde nach hinten immer tiefer, sodass das Anwesen wie auf eine Art Hügelwand stand. Nicht nur das, so erkannte sie in der Ferne den Ozean und im nächsten Augenblick auch den Pool, zwischen den Palmen im Garten. Mit zu viel Eindrücken überschüttet, setzte sie sich still auf das Bett, starrte vor sich auf die Wand, wo ein Bild hing und weiter rechts eine weitere Tür war. Erst musste sie sich sammeln und alles verarbeiten, bevor sie weiter etwas erkundete. Plötzlich kniff sie sich in den linken Arm und verzog gleich das Gesicht, wartete sie darauf, dass sich etwas tat. Doch es war tatsächlich kein Traum. „Shaelyn?“, ertönte im Zimmer plötzlich die Stimme ihres Großvaters und sie sprang wie ein aufgescheuchtes Huhn auf, während sie sich umgehend umsah. Allerdings konnte sie ihn nirgends ausmachen. Was … ? Da fiel ihr neben der Türe eine Art Lautsprecheranlage auf. Unsicher, ob es wirklich daher rührte, bewegte sie sich auf das Gerät an der Wand zu. „Drück auf den grünen Knopf auf der Armatur.“, kam es aus dem Lautsprecher und sie tat umgehend, wenn auch skeptisch, was ihr Großvater sagte. „... Ja?“ „Komm doch bitte in das Esszimmer. Das findest du, wenn du die Treppen hinunter gehst und die große Türe links nimmst.“ „... Okay.“, sprach sie noch, während sie den Knopf noch einmal drückte und machte sich anschließend auf den Weg. Im besagten Raum, der auch nicht sonderlich klein war und der Tisch gleich für 18 Leute Platz bot, angekommen, erkannte sie gleich ihren Großvater, wie dieser an einem der vielen Plätze saß, vor ihm diverse Papiere. „Komm, setze dich doch bitte zu mir. Ich möchte mit dir über eine wichtige Angelegenheit sprechen. Es ist von Bedeutung, was du für eine Schule wählen wirst. Es tut mir leid, dass ich es jetzt anspreche, jedoch musst du dich in den nächsten Tagen entscheiden.“ Verwundert legte sie den Kopf schief. Sie dürfte selbst wählen? Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen, ehe sie sich zu ihrem Großvater setzte. Die nächsten Tage erkundete Shaelyn das Haus, wobei sie darauf achtete, dass sie nicht zu oft Rue begegnete. War es jedes Mal aufs Neue eine gute Probe für ihre Selbstbeherrschung. Wenigstens konnte sie sich heraus reden, dass sie das Anwesen genau betrachten wollte. Somit war es soweit geklärt. Was sie auf dem Grundstück fand war wie ein Abenteuer. So gab es ein Musikzimmer, in dem tatsächlich ein großer weißer Flügel stand. Allgemein war das Zimmer eher wie im alten Renaissancestil eingerichtet, als ob man sich in einer alten Zeit befinden würde. Fand sie nur schade, dass sie das Klavier nie benutzen könnte. Auch entdeckte sie sogar ein Heimkino, was sicher in der nächsten Zeit einer der oft besuchten Orte sein würde. Dazu befand sich im Erdgeschoss noch ein Gästebad, was kein Vergleich zu den oberen Bädern war. Im Keller fand sie dann sogar eine Sauna vor, sowie ein Trainingsraum. Die obere Etage bestand jedoch ausschließlich aus Schlafzimmern und auch Bädern, noch dazu mit kleinen Ankleideräumen; so gesehen begehbare Schränke. Jedoch der schönste Platz auf dem ganzen Anwesen war der Garten, samt Pool. Die Palmen und großen Büsche gaben guten Schatten, auch teilweise am Poolbereich. Hinter diesem war eine Wiese, mit ein paar Sträuchern und, so wusste Shaelyn vom Ausblick aus, dass dahinter die schöne Aussicht zu sehen wäre. Was sie noch am Rand des Anwesens bemerkte war der Zaun, der gut abschirmte. Sie kam sich tatsächlich wie ein Star vor, der sich vor allen Blicken und lästigen Menschen schützte. Wer hier wohl zuvor gewohnt hatte? Danach musste sie unbedingt einmal fragen. Betrübt saß Shaelyn spät eines Abend, als sie Sonne längst untergegangen war, wach auf ihrem Bett und blickte auf den Holzboden. Schon den ganzen Tag war weder ihr Großvater, noch Rue da. Keine Menschenseele außer sie wandelte durch die Räume. Sie fühlte sich vergessen und einsam. Warum hatte man ihr auch nichts Gesagt? Plötzlich waren beide nicht mehr da. Irgendwas Seltsames ging vor sich und es war furchteinflößend. Genauso wie das Knacken im Flur, als ob jemand über den leeren Gang ging. Ängstlich starrte sie auf ihre Zimmertüre, erwartete jeden Moment, dass die Klinke hinunter gedrückt wurde. Schnell schaltete sie die Nachttischlampe aus, sodass es komplett dunkel wurde und nur der Mond ein wenig Licht gab. Es war eigentlich unmöglich, dass sich jemand hier befand. Immerhin waren die Sicherheitsmaßnahmen doch ausreichend … ? Dann setzte ihr Herz für eine Sekunde aus: Die Klinke bewegte sich auf einmal! Voller Panik sprang sie vom Bett und der erste Einfall war, dass sie sich unters Bett rollte, dabei spürte sie nicht den kühlen Boden an ihren nackten Beinen, oder nur etwas anderes, außer die pure Angst. Die Erinnerung an vergangene Tage kam auf und lähmte sie. Ein Klacken war zu hören und ganz aus einem Instinkt heraus, hielt sie den Atem an und schloss die Augen. Hoffentlich war es nur ihre Einbildung, die ihr einen fiesen Streich spielte. Der Holzboden knarrte leise weiter, verriet, dass jemand wirklich über dem Parkettboden ging. Gedanklich zählte Shaelyn einfach drauf los, begann mit der Eins. Ein Rascheln drang an ihre Ohren und sie stoppte bei Sechs. Sie öffnete die Augen, blickte zum Bettrand und erkannte, wie sich jemand hinkniete. Haare kamen zum Vorschein, woraufhin sie wieder die Augen schloss. „Tu mir nichts!“, stieß sie unter Tränen aus und legte ihre Hände vors Gesicht. Jetzt war es eh zu spät und keiner war da um ihr zu helfen. Wie damals... als sie dachte, ihr Leben fand ein Ende und sie am Ende schließlich erblindete. „... Selbstverständlich tue ich dir nichts, Shaelyn.“ Schlagartig schlug sie die Augenlider auf und erkannte im fahlen Mondlicht teilweise das Gesicht von ihrem Retter. Weinend kroch sie hervor und warf sich gleich in der knienden Position Rue in die Arme. Es war in Wirklichkeit nur eine schlimme Einbildung gewesen. „Ich hab' so Angst gehabt! Das Haus ist so groß und es war keiner da und es war so dunkel und ...“, zählte Shaelyn auf und griff nur fester in sein Shirt, starrte dabei mit Verzweiflung in seine große runden Augen. „Es ist hier sicher, Shaelyn. Allerdings sollte jemand auf die Idee kommen und hier tatsächlich einbrechen, wird Alarm ausgelöst und die Polizei wäre in wenigen Minuten vor Ort.“ „... Wirklich?“, schluchzte sie ein letztes Mal und blickte froh zu ihm hoch. „Ja.“, bestätigte er und erhielt ein paar Sekunden später als Reaktion auf einmal ein böses Gesicht von Shaelyn. „Was bist du auch weg gewesen?! Und Opa auch?! Wie könnt ihr mich hier ganz alleine lassen?!“ Ihre Fäuste trommelten auf seine Brust, wenn nicht feste, aber ausschlaggebend für ihre Wut und wie sehr sie sich in Not gesehen hatte. Rue ergriff ihre Handgelenke ruhig. „Ich bin davon ausgegangen, dass du auch für eine Zeit für dich sein kannst. Was wohl offensichtlich nicht der Fall ist.“, kam es nüchtern aus seinem Mund, bekam gleich einen mehr als gekränkten Blick zugeworfen. „Es tut mir leid, dass ich so eine Vergangenheit habe und deswegen in so einer Situation so ängstlich bin! Das mache ich nicht mit Absicht! Ich kann nichts dafür!“, entgegnete sie verletzt und riss ihre Hände zurück, sodass er sie nicht mehr festhielt. „So war das nicht gemeint. 'Tschuldige.“ Shaelyns Wut verpuffte mit seinen Worten. Verwundert blickte sie in seine großen Augen, die ihren Blick mieden und nun eher klein wirkten. Zeigte er echte Reue? „Schon... okay, ja? Aber bitte sagt mir wenigstens vorher Bescheid, wenn ihr weg seid.“ „Einverstanden.“, folgte es umgehend wieder in normaler Tonlage, als habe er schon ihre Antwort gewusst – oder eher berechnet. Shaelyn dachte darüber jetzt besser nicht weiter nach. Rue erhob sich, was sie ihm gleichtat, wobei ihr schlagartig einfiel, was sie eigentlich trug. Ein lockeres Shirt und einen Slip konnte man nicht als besonders viel bezeichnen. Gleich fasste sie sich an den Saum des Shirts und zog es beschämt ein wenig weiter hinunter. „Wieso bist du denn eigentlich jetzt ins Zimmer gekommen?“, versuchte sie auf ein anderes Thema zu kommen und lächelte unsicher. „Watari wird für ein paar Tage außer Haus sein.“, gab er unbekümmert von sich, während er skeptisch eine Augenbraue hob, da sie so verkrampft vor ihm stand. Es gab nichts, was er nicht schon gesehen hätte – und sich nicht auch gut genug eingeprägt hatte. Oder war es etwas anderes? „Was sagst du da? Aber es ist doch in fünf Tagen Weihnachten!“ „Heilig Abend wird er wieder im Haus sein.“ Die Schwarzhaarige seufzte erleichtert. Und sie dachte schon, dass es wieder wie letztes Jahr werden würde. Aber Halt! Sie war jetzt mindestens drei Tage alleine mit ihm? Umgehend biss sie sich auf die Unterlippe. „Du solltest ins Bad gehen. Einhalten ist nicht gesund.“ Im ersten Moment starrte sie ihn perplex an, ehe sie verstand und die Röte im Gesicht extrem zunahm. „Ich muss nicht aufs Klo! Und hör auf darüber zu reden, das ist peinlich!“ „Weswegen? Es ist nur natürlich. Daran sollte nichts Peinliches sein. Ebenso wie gewisse andere Dinge.“ Ob es nun Absicht, sie damit abzulenken, oder einfach nur unsensibel war: So langsam wurde es wirklich richtig unangenehm. Er musste nicht wieder auf ihre Tage anspielen! „Gleich kleb' ich dir Klebeband auf den Mund! Es ist peinlich, basta. Also lass es darüber zu reden.“ „Ich verstehe es zwar nicht, aber …“ „Nichts, Aber! Sssh, jetzt.“, unterbrach sie ihn sofort erbarmungslos und schenkte ihm einen herrischen Blick. Für sie war da durchaus kein Spaß mehr zu verstehen! Es blieb einen Moment still, da er doch eine heftige Ansage von ihr zu hören bekam. So sprach wirklich niemand mit ihm – was sich auch keiner je leisten würde. Selbst andere nicht Wissende, würde er niemals erlauben so mit ihm zu sprechen. Man erteilte ihm – L – keine Befehle. Demnach, auch wenn es Shaelyn war und es duldete, hatte er nicht zu Ende gesprochen. Somit öffnete er seine Lippen und bekam einen messerscharfen Blick von ihr zugeworfen. „Wehe... Ich warne dich! Muss man dir einen Maulkorb verpassen, oder wie läuft das?! … Und wieso kommen wir bei dir immer auf das Thema Hund? Man muss dich also nicht nur anleinen.“ Ja, es war ernst, aber beim letzten Satz grinste sie raffiniert. Wieder kam ihr der Park in den Sinn und vor allem seine Worte, dass er vielleicht angeleint werden müsste – von ihr. Jetzt ein durchaus wunderbarer Gedanke. Ihre Stimmung wechselte, sodass die Röte abnahm und ihr Selbstbewusstsein zurückkehrte. Jedoch irritierte dann sein gewieftes Grinsen sie, legte er auch gleich seinen Zeigefinger an den Mund. „Abgelehnt. Aber die Leine ist noch im Bereich des Möglichen.“ Ihr stand gewissermaßen der Mund ein Stück weit auf. Meinte er es wirklich so wie er es sagte? Da war doch sicher abermals ein Trick dahinter. „Oho... flirtest du gerade mit mir?“, fragte sie aufgeweckt und musterte sein Gesicht und sah für einen winzigen Moment eine Regung. Sein Mundwinkel hatte bedächtig gezuckt und das war sicher keine Einbildung. „Anscheinend.“, gab er mit einem Grinsen vage von sich, woraufhin ihr Herz fast aus der Brust sprang. Halt! Darauf durfte sie sich nichts Einreden. Trotzdem brachte es sie ganz durcheinander und machte sie sogar auch an. Um alles was heilig war, sie musste sich gewaltig zusammenreißen sich nicht wie eine Verrückte auf ihn zu stürzen. „Was, wie ich feststelle, dir zu gefallen scheint.“, setzte er seelenruhig fort und machte den Eindruck, dass ihm etwas Entschiedenes aufgefallen wäre, weshalb er kurz an seinem Zeigefinger kaute. Bei Shaelyn läuteten sofort sämtliche Alarmglocken. War es vielleicht nur eine Falle gewesen, in die sie einfach so hereinspaziert war? Hatte sie sich gerade verraten?! „War doch nur ein Spaß.“, lenkte sie ein und versuchte die Nervosität zu verbergen. „Ich hatte nicht den Eindruck.“, erhielt sie die rationale Antwort, was die jetzige Situation nicht verbesserte, auch sein fixierter Blick nicht, der versuchte alle Regungen von ihr aufzufangen. Er hatte sie manipuliert und sie hatte es nicht einmal bemerkt. Das würde er ihr noch büßen. „Also ist alles, was ich ab jetzt sage, eine Tatsache?“ „Vermutlich. Das werde ich schon früh genug merken. Keine Sorge.“ Auch wenn sie jetzt auf hauchdünnem Eis war und sich vielleicht selbst ins Aus schoss, sie musste es riskieren. So konnte sie ihn eventuell verwirren, wohl nur noch die einzige Lösung. Rückzug bedeutete in ihrem Falle, dass sie es zugab. „Dann sag ich dir, dass ich auf dich stehe. Ist dann das auch eine Tatsache?“, kam es ihr über die Lippen und starrte in seine Augen. Die, tatsächlich, größer wurden, ehe er dann doch nachdenklich schien. „Das würde aufklären, weshalb du dich mir gegenüber so seltsam benimmst. Daher halte ich es für sogar wahrscheinlich.“, offenbarte er ihr rein objektiv, während er sich seiner Sache nun sicher war. „Bist du dir wirklich sicher?“, fragte sie ihn und verschränkte ihre Arme vor der Brust. So gut sie konnte versuchte sie misstrauisch zu wirken. Ein weiterer verzweifelter Versuch. Und auch ihre folgenden Worte: „Ich glaube eher, dass du auf mich stehst.“ „... Gibt es Beweise?“ „Hast du welche mir bezüglich?!“ „Nein. Es war nur eine Mutmaßung, die du sehr ernst genommen hast. Das ist eine Tatsache. Folglich, muss es dir wichtig sein, dass es klargestellt wird. Wäre es nur ein Spaß, wäre die Richtigstellung nicht viel von Bedeutung.“ Jetzt wurde es erst recht total eng. Wo hatte er gelernt so zu denken?! Wen hatte sie vor sich?! „Stimmt gar nicht! Natürlich will ich, dass es geklärt wird. Du bist wie ein Bruder für mich! Da kannst du doch nicht denken, dass ich auf dich abfahre!“ „Entschuldige diese Frage, aber hast du auch mit deinem Bruder geflirtet?“ „Nein! Um alles in der Welt, nein! Geht’s dir noch gut?!“ „Dann klärt es sich jetzt von alleine.“ Shaelyn raufte sich die Haare. Das wurde alles extrem kompliziert. „Du vergisst den Wortlaut, dass du wie einer bist! Nicht, dass du es bist.“ Stille. „Der Punkt geht an dich, Shaelyn.“ „Sind wir hier bei einem Spiel?!“ „Nein, es ist sogar eine sehr ernste Situation. Sollte es wirklich der Fall sein, dass du Gefühle für mich hast, dann solltest du diese schnell vergessen.“, sagte er sachlich, ohne nur die Spur einer Emotion, was sie kurz sprachlos machte. „Ich empfinde keinerlei solche Gefühle für dich. Das solltest du, auch wenn ich nur wie ein Bruder für dich wäre, dir verinnerlichen.“ Es war wie ein Schlag ins Gesicht für sie. Gefühle konnte man nicht einfach vergessen! Er hatte ja überhaupt keine Ahnung was sie durchmachte seitdem sie wusste, was sie für ihn empfand! Wenigstens war ihr nun klar, dass er wirklich nichts wollte. Traurig, aber es war offensichtlich die Wahrheit. „Kapiert. Und wir einigen uns darauf, dass ich nichts von dir will?“ „In Ordnung.“, stimmte Rue ihr ohne weiteres zu. „Gut. Dann lass mich jetzt schlafen, ja? Ich konnte ja die ganze Zeit nicht...“ „Verstehe. Gute Nacht.“ Dieses Gespräch war sehr aufschlussreich gewesen und sie hatte ihn wohl doch noch überzeugen können. So hoffte sie jedenfalls und es hatte noch ein gutes Ende genommen. Trotzdem fühlte sie sich gerade richtig schlecht. Jeglicher Versuch wäre wirklich vergeben doch etwas in ihm zu erwecken, was er wohl nie empfinden würde. War er doch wahrscheinlich gar nicht fähig dazu. Am nächsten Morgen schleppte sie sich in einer miserablen Verfassung ins Bad. Seine Worte hatten ihr viel mehr zugesetzt, als sie es vermutet hatte. Wenig Schlaf und dann in der kurzen Zeit auch noch wirre Träume. Nein, Albträume. Irgendwie war da eine andere Frau gewesen, für die er sich sofort begeistert hatte und Shaelyn somit aus seinem Leben verschwand. Gerade so, als läge es nur an ihr und er sonst eine andere lieben könnte. Alle anderen, nur sie nicht. Lieber vergaß sie die Träume schnell wieder. Nachdem sie sich im Bad fertig gemacht und angezogen hatte, ging sie zum Telefon an ihrem Schreibtisch. Da es der sechste Tag nach ihrer Entlassung war, wollte sie sich erkundigen, ob nicht Emma doch schon aus dem Krankenhaus war, rief somit direkt bei ihr zu Hause an. Das Freizeichen kam und schon wenige Momente später, meldete sich eine männliche Stimme recht gut gelaunt: „Hi, Andrews hier.“ Verwirrt zog die Engländerin die Augenbrauen zusammen. Das klang nicht nach dem Vater, da es doch eine junge Stimme war. „Ähm,... Hallo. Shaelyn Suzuki am Telefon. Darf ich fragen, ob Emma schon aus dem Krankenhaus ist?“ „Klar, seit gestern. … Bist du nicht die, die bei ihr auf dem Zimmer lag?“, fragte gleich die männliche Stimme am Telefon offen. Shaelyn kicherte nur kurz: „Ja, die bin ich.“ „Meine Schwester ist schon ausgetickt, weil sie – Ey, was machst du da?! - Telefonieren, oder nach was sieht das sonst aus? - Wer ist das? Für mich?! - Nö...“, hörte sich Shaelyn das Spektakel mit an und lachte gleich. Also hatte Emma einen Bruder und wie er sich verhielt, konnte er nicht viel älter als sie sein. Wieso hatte sie nichts von ihm erzählt? „Gib schon das Telefon her, ich seh doch an deinem Grinsen, dass es für mich ist. Also zackig! - Hey, Sorry. Aber ich übergebe dann mal an meine irre Schwester.“, wandte sich der junge Typ nun an Shaelyn und ehe sie antworten konnte, hörte sie, wie es am Telefon raschelte. „Emma?“ „Shaelyn! … Und sag mal, was hast'n du für ne Vorwahl? Wohnst du nicht um die Ecke?“ „Ach, ähm das ist 'ne längere Geschichte. Kann ich bei dir vorbei kommen? Dann erzähl ich dir alles. Und wer war das gerade? Dein Bruder?“ „Ja, der bekloppte....“, grummelte es an der anderen Ende der Leitung. „Das habe ich gehört!“, hörte man den Bruder von Emma im Hintergrund. „Einfach ignorieren,... also klar kannst'e vorbei kommen. Darauf warte ich schließlich ja schon und du musst mir einfach alles erzählen … !“ „Das macht dann 33 Dollar.“ forderte der Taxifahrer die Engländerin auf und hielt die Hand auf. Sie kramte auch gleich in ihrer Tasche eine Geldbörse heraus und bezahlte den gewünschten Betrag, ehe sie schnell ausstieg. Das Taxi fuhr davon und sie betrachtete das Haus vor sich. Jetzt konnte man sagen, dass es typisch amerikanisch war. Ihres hatte mehr ... Urlaubsflair. Direkt ging sie den kleinen Aufweg hoch, stellte sich vor die Türe und klingelte. Schritte waren zu hören, und ein Schatten war hinter dem kleinen Vorhang zu sehen, bevor die Türe aufgezogen wurde. Emma stand dort, mit einem glücklichen Lächeln. „Willkommen in meinem Zuhause! Fühl' dich wie daheim.“ „Hi. Gerne.“, erwiderte die Schwarzhaarige freudig und trat in das Haus ein. „Ah, die mysteriöse Freundin. Ebenfalls auch von mir ein Willkommen.“, mischte sich die bekannte Stimme vom Telefon ein. Direkt blickte sie zur Seite, wo ein junger Mann stand – der sie anlächelte. Umgehend nahm sie die Sonnenbrille von der Nase. „Kannst du auch mal einmal still sein, Joel?!“ „Warum? Ich begrüße doch nur unseren Gast, weil ich hier genauso wohne wie du.“ Shaelyn musterte Joel, so wie er wohl hieß und stellte gleich Ähnlichkeiten zu Emma fest. Braunes Haar, was bei ihm aber wesentlich kürzer war, braune Augen, ein lebhaftes Auftreten. Und so wie sie sich benahmen, konnten es nur Geschwister sein. „Na gut,... Also.“, begann Emma, nahm Shaelyn am Arm und stellte sie neben sich. Überrumpelt blinzelte die Schwarzhaarige ein paar Mal, ehe sie wieder auf Joel sah. „Das ist mein … überaus lieber und reizender … Bruder, Joel. … Joel, das ist meine neue Freundin Shaelyn.“ Die Engländerin nickte dem jungen Mann zu, der kaum älter als sie sein musste. „Freut' mich deine Bekanntschaft zu machen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits.“, kam es ihm amüsant über die Lippen. „Hast übrigens 'nen schönen Namen.“, hing er noch dran mit einem netten Lächeln und Shaelyn sah geschmeichelt zur Seite. „Ey, die hier ist nicht zu haben und dir würd' ich sie eh nicht überlassen.“, stellte Emma gleich klar. „Und seit wann machst du Komplimente...“ Joel verdrehte die Augen. „Darf ich nicht mal was Nettes sagen?“ „Du machst dich nur verdächtig.“ „Ist ja schon gut.“, gab der junge Mann genervt von sich und trat den Rückzug an. „Der ist ein Trottel.“, flüsterte die Brünette ihrer Freundin dann zu. „Ich fand ihn nett...“ „... ist er auch, nur ein wenig verrückt. Erzähl mir lieber, was jetzt zwischen dir und deinem Typen abgelaufen ist! Und lass uns hoch in mein Zimmer gehen, damit keine neugierigen Nasen was mitbekommen.“ Das würde ein langes Gespräch werden. Kapitel 22: Melodie des Herzens ------------------------------- „Also, ich höre.“ Emma setzte sich auf ihr Doppelbett und deutete Shaelyn an, sich neben ihr zu setzen. Jene nahm auch gleich platz und holte tief Luft. „Er steht nicht auf mich. Nicht mal so ein Bisschen.“, verließ es zusammenfassend ihren Mund und Emma hob fragend ihre Augenbrauen. „Und das weißt du woher?“ „Er hat es mehr als deutlich betont, nachdem er, glaube ich, spitz bekommen hat, dass ich in ihn verliebt bin. Alles ist umsonst gewesen.“ Emma schwieg für einen Moment. Das klang wirklich nicht besonders gut, machte es sie jedoch nur neugieriger. Ein Mann war für gewöhnlich nicht in der Lage das so schnell zu merken. „Und er hat es wie rausbekommen?“, interessierte es die Amerikanerin brennend und schlug die Beine übereinander, während Shaelyn begann ihre kleine Tasche zu öffnen. „Blöde Story... Du kennst ihn ja nicht. Ich weiß nicht wieso, aber er ist wahnsinnig schlau und durchschaut alles fast sofort. Der muss Schnüffler oder so sein...“ Shaelyn lachte kurz im Scherz auf, dabei holte sie einen kleinen Beutel aus der Tasche. Ja, der Job würde wohl am Besten passen. „Es fing ungefähr so an, dass er begann wieder zweideutig zu werden. Dann hab ich gefragt, ob er jetzt mit mir flirten würde und seine Antwort war wie immer nicht richtig zu deuten und gleich setzt er mir vor die Nase, dass es mir wohl gefallen würde. So ging das los.“, erzählte die Schwarzhaarige und reichte Emma den Beutel, den diese tonlos entgegen nahm. „Ist schon mal die Wäsche drin und der Haarreif.“ „Danke. … Was sagte er denn genau?“, hakte Emma weiter nach und erhielt zunächst ein Seufzen als Antwort. „Das war so: Ich empfinde keinerlei solche Gefühle für dich.“, äffte sie ihn emotionslos nach und legte eine ernste Mine auf, was Emma kurz stutzen ließ. Das war nicht nur ziemlich unsensibel, sondern auch herabsetzend. Gerade so, als hielte er nichts von der Liebe und auch nichts von Shaelyns Gefühlen. „Echt? Das war seine Reaktion? ... Was für ein riesen Idiot.“, meinte die Brünette gleich entsetzt. „... Und wie recht du damit hast. Er ist ein riesen Idiot.“, stimmte die Schwarzhaarige ein und verzog den Mund. Sie hatte es ja schon von Beginn an gewusst, dass es sinnlos war sich Hoffnungen zu machen. Betrübt sah sie zur Seite. Sie konnte nur noch hoffen, dass nun nicht alles vorbei war. Das war noch immer ihre größte Angst. „Aber!“, begann Emma dann mit einem lauten Atemzug und hob den Zeigefinger an, was direkt Shaelyns Aufmerksamkeit erregte. „Es ist noch nichts entschieden! Du darfst nicht sofort aufgeben. Immerhin sagte er doch, dass er gerade keine hätte, oder?“ Emma zweifelte gleich an ihrer Aussage. Ob das wirklich das Richtige war? Jedenfalls schien er eine sehr harte Nuss zu sein, die es wohl zu knacken galt. Denn wie es aussah, wollte ihre Freundin keinen Anderen, ganz egal ob sie zuvor gesagt hätte, dass sie die Option Drei wählte. Das bemerkte man deutlich: Die Engländerin war ausweglos diesem seltsamen Typen verfallen. Shaelyn stand der Optimismus nicht sonderlich ins Gesicht geschrieben, eher machte sie den Eindruck, dass sie dachte, Emma sei verrückt geworden. „Ich hab's doch schon probiert. Was ich an den Kopf geworfen bekommen hab, das hat gereicht. Ich hätte fast vor ihm losgeheult.“ „Aber du willst ihn trotzdem.“, meinte die Amerikanerin mit einem Grinsen ergänzend. „ … Ja. Und? Bei ihm würde wohl nur ein Liebestrank helfen.“, scherzte die Engländerin trocken. Unmittelbar wurde das Grinsen im Gesicht von Emma größer. „Dann verabreichen wir ihm einen! Schlagen wir eine andere Taktik ein, wo er gar keine Chance hat. Wenn er eh weiß, dass du auf ihn stehst, tue Sachen, die ihn vielleicht reizen. Die dich interessant machen, sodass du zweifellos Aufmerksamkeit bekommst. Eigentlich hast du jetzt nichts mehr zu verlieren. Aber dräng' dich bloß nicht auf! Das nervt schnell und du bist ganz unten durch. Du musst ihn dazu bringen, dass er zu dir kommt. Locke ihn aus seinem Schneckenhaus.“, schlug Emma mit einem Zwinkern vor, was allerdings keine Wirkung zeigte. „Was fast unmöglich ist.“, beendete Shaelyn nüchtern und heimste sich einen strengen Blick von ihrer Freundin ein. „Unsinn!“ Die Brünette hob ihre Hand, deutete auf ihre skeptische Sitznachbarin. „Mädchen, nichts ist unmöglich. Ein Kerl ist ein Kerl. Ein Kerl kann man rumbekommen. Ganz egal was das für einer ist. Es sei denn er ist schwul... aber das ist er nicht.... oder?“ „Nein, ist er nicht. Das hat er schon mal gesagt. Schon lange her, aber er ist es nicht. Ein Mann, mit ganz normalen Neigungen, wie er sich ausgedrückt hat.“ „Sag mal, über was habt ihr alles gesprochen? … Egal. Jedenfalls sagt uns das doch nur, dass er interessiert sein könnte. Weil er muss sich darüber ja schon Gedanken gemacht haben, was wiederum heißt, dass er es wohl für Möglich hält. Voilà. Er ist rum zu bekommen. Wir müssen nur seine Schwachstelle finden.“ Shaelyn runzelte gleich die Stirn bei dem Vortrag ihrer Freundin. So hatte sie gar nicht darüber gedacht. Allerdings war alles ohnehin gleich. Sie war einfach noch nicht überzeugt es weiter zu probieren. Es müsste einfach ein Wunder passieren. „Machen wir ihn eifersüchtig!“, rief Emma plötzlich begeistert aus und hätte damit fast Shaelyn einen Herzinfarkt beschert. Bestürzt starrte die Schwarzhaarige ihre Freundin an. „Bist du verrückt?! Wie soll das gehen? Der will doch nichts von mir.“, konterte gleich Shaelyn schockiert und erhielt nur ein breites Grinsen von der Brünetten. „Männer wollen meist das, was nicht zu haben ist. Die haben so einen Jagdinstinkt. Und vielleicht wird ihm dann klar, dass er eigentlich was von dir will. Männer sind manchmal echt einfach gestrickt.“, lachte Emma hinterlistig und Shaelyn war nur weiter verwirrt. „Okay, nehmen wir an, das funktioniert. Mit wem sollte ich ihn denn überhaupt eifersüchtig machen? Und überhaupt; ich gehe nicht weiter als reden! Ich bin keine, die einfach jeden küsst oder so.“ „Du musst auch nicht mehr als Reden. Sieh' mal: Du triffst dich viel mit einem anderen, mit dem du nur redest. Wie Freunde eben. Das reicht völlig. Der Punkt ist, dass du dich mit einem Jungen triffst und es deinem Angebeteten wissen lässt. Falls er da wirklich eiskalt reagieren sollte... dann weiß ich auch nicht mehr. Und wer... tja.“ „Hey!“, meldete sich auf einmal eine bekannte Stimme an der Türe, die im selben Moment aufgerissen wurde. Die beiden Mädchen zuckten heftig zusammen und schenkten Joel einen entsetzten Blick. „Oma ist gekommen. Sie will dich sehen.“, wandte sich der Brünette ungeniert mit einem Lächeln an seine Schwester. „Ich glaube, sie hat auch was für dich.“ Für einen Augenblick blieb es still. In welchem Joel skeptisch wurde, da seine Schwester begann ungewöhnlich zu lächeln, was ihm nur sagte, dass sie etwas ausheckte. Die Schwarzhaarige sah nur fragend von einer Person zur Anderen, bevor sie Emma ganz fixierte, da diese aufstand. „Perfekt. Ich gehe dann mal. Und Joel...“, meinte die Amerikanerin eifrig, während sie zur Türe ging, wo auch ihr Bruder stand. „Kümmer' du dich mal solange um Shae. Sonst ist sie ja ganz alleine und du hast eh nichts zu tun.“ Und schon schob sie Joel ganz in ihr Zimmer und schloss die Türe schnell hinter sich, das mit einem gewitzten Lächeln, was jedoch keiner sehen konnte. Wieso war sie nicht sofort darauf gekommen? Ihr Bruder redete schließlich gern und schien Shaelyn zu mögen. Ein guter Anfang für eine Freundschaft, aber auch nicht mehr. Wie bestellt und nicht abgeholt stand der junge Mann im Zimmer, kratzte sich mit einem unbeholfenen Lächeln am Hinterkopf, dabei blickte er Shaelyn entgegen. „Sorry, ich will mich nicht aufdrängen. Ich kann auch gehen, wenn du willst.“ Sofort hob die Engländerin ihre Hände: „Ach was, schon gut! Emma ist eben so. Wenn du nicht willst, musst du nicht bleiben.“ „Na dann bleibe ich doch gern.“, meinte er schnell und setzte sich auf den Drehstuhl, jenen er herum drehte und sich in die Richtung von Shaelyn setzte. „Du kannst also wieder richtig sehen?“, begann er einfach locker ein Gesprächsthema als habe er wirklich nur auf ihr Okay gewartet. Überrascht hob sie die Augenbrauen an, lächelte aber dann. „Ja, ich darf nur noch nicht ganz ins Sonnenlicht ohne Brille. Aber in zwei bis drei Wochen brauch ich keine mehr.“ „Ah, verstehe. Und du warst wirklich ganz blind? Muss schwierig gewesen sein.“, legte der junge Mann vorsichtig offen und sah für einen Moment zur Seite. „War schon schwierig, aber ist jetzt egal. Jetzt kann ich ja wieder sehen.“ Joel begann zu grinsen, wandte sich dabei ihr wieder zu. „Und dir gefällt, was du jetzt siehst?“ Eine kurze Pause trat ein, da sie vor Verlegenheit ihre rechte Hand an den Mund hob. Joel neigte den Kopf leicht, als habe er nicht verstanden, was sie nun so schüchtern stimmte, ehe der Groschen fiel. Umgehend öffnete er seinen Mund: „Ah, Sorry! Also das war nicht auf mich bezogen, sondern eher die Umgebung und eben dein Alltag!“, stellte der Brünette direkt überrumpelt klar, was Shaelyn kurz darauf aufglucksen ließ. „Dann ist ja gut.“, kicherte sie nun ausgelassen und nahm gleich die Hand vom Mund. „Ja, bis jetzt gefällt mir alles.“ Joel lächelte zaghaft, da die Blamage noch zu spüren war. Es war nicht seine Absicht gewesen sie anzuflirten. „Du kommst ja aus England, richtig?“, stellte er gleich die nächste Frage, welche Shaelyn fragend blicken ließ. „Ja.“ „Ist alles da so verrückt, wie es immer gesagt wird? Und esst ihr echt so komische Sachen? Hab nur verrücktes Zeug von England gehört.“ Direkt lachte Shaelyn vergnügt los. „Ach, so verrückt ist es da nicht! Eigentlich recht normal... vielleicht auch, weil ich es nicht anders kenne?“, fragte sie sich zuletzt eher selbst, als Joel, jener eine Augenbraue anhob. „Kann sein. Aber hier erlebst du noch genug andere verrückte Sachen.“ Es war, als beschrieb Joel somit perfekt die nächste Zeit, die noch auf Shaelyn zukommen würde. Spät am Abend saß die Schwarzhaarige im Taxi, auf den Weg zurück in die Villa, welche nur Unheil ankündigte. Nachdem sie noch etwas mit Joel gesprochen hatte, den sie komischerweise wie Emma sofort mochte, kam auch jene wieder. Kurz darauf wurde schon Joel aus dem Zimmer regelrecht geworfen, da die Amerikanerin noch so einiges zu erzählen hatte – oder viel mehr Tipps, die Shaelyn anwenden konnte, nein, mehr sollte. Tipps, die für sie wenig Sinn ergaben. Sie konnte sich schlicht nicht vorstellen, wie es weitergehen sollte, nachdem Rue ihr solch eine herbe Abfuhr erteilt hatte. Noch dazu wusste er, dass sie in ihn verliebt war – und es hatte nicht einmal eine Woche gedauert, bis er es herausgefunden hatte. Glaubte sie nämlich kaum daran, was er ihr in der Nacht zuletzt versicherte. Natürlich wusste er es. Sollte sie es also direkt zur Sprache bringen? Shaelyn biss sich nervös auf ihre Unterlippe. Nein, das könnte sie ihm niemals ins Gesicht sagen! Seine Antwort bliebe die Gleiche und es noch einmal zu hören, dass er sie überhaupt nicht liebte, würde sicher noch mehr schmerzen. Warum konnte er nicht genauso fühlen? Davon ausgenommen, wie das wohl aussehen würde. Allerdings wäre alles dann so spielend einfach. Ja, warum war alles so kompliziert? Es war zum Verrückt werden. War es Zeit das Handtuch zu werfen? Auch das brachte nichts. Ja, er wusste es mit Sicherheit. Und warum musste es ausgerechnet Rue sein? Dennoch, der Gedanke wie es wohl sein würde, wenn er sie lieben würde, versetzte sie in eine andere Welt – es fühlte sich an als könnte sie fliegen. Weit. Hoch. Dem leuchtenden Himmel entgegen. Kurz schloss sie ihre Augen, fühlte den angenehmen Schauer im ganzen Körper. Ja, träumen durfte man. Träumen von seinem Lächeln, wenn er sie sah. Von einer sanften Berührung an ihrer Wange. Flüsternde Worte, die nur alleine ihr gelten konnten. Ein Kuss, der kurz darauf folgt. Sie brauchte das Paradies im Himmel nicht, hätte sie es doch auf Erden – wenn er sie ebenso lieben würde. Als Shaelyn aus dem Taxi stieg, kribbelte es noch immer in ihrem Bauch. Mit der Gewissheit, dass sie nun alleine mit ihm auf diesem Anwesen war, gerieten ihre Gedanken abermals durcheinander. Ganz zu schweigen von ihren Gefühlen. Es war die Aufregung. Allgemein wie sie ihm gegenüber stehen sollte – und seinem Blick standhalten sollte. Ja, sein stechender Blick. Diese großen dunklen Augen, die sie sofort durchschauten. Jedes Mal versank sie in den schwarzen Weiten, die sie so in einen Bann zogen. Er musste nichts weiter tun als sie anzusehen und sie schmolz förmlich davon. Ihr Körper bebte für einen Moment, sodass sie sich kurz besinnen musste. War das noch normal? Irgendwie war es mit keinem anderen Mal zu vergleichen. Dieses Mal war es viel stärker – fast erdrückend. Hatte sie vorher überhaupt geliebt? Wenn das hier Liebe war, dann war das andere nur ein Hauch dessen. Kopfschüttelnd ging sie auf das große Tor zu und ehe sie auf die kleine Klingel drücken konnte, öffnete sich die Forte. Unvermittelt blickte sie sich überrascht nach einer Kamera am Tor um. Woher wusste er sonst, dass sie da war? Außerdem war das kein guter Vorbote. Denn hatte er auf sie gewartet? Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch – und rasendem Herzen – ging sie die Auffahrt hoch. Hoffentlich war es nur eine Einbildung, dass er wartete. Oder erneut ihre Fantasie, die es schon fast ersehnte, dass er nur auf sie gewartet hatte. Und zu ihrer Freude und auch irgendwie Leid, musste sie die Haustüre selbst aufschließen. Somit teils erleichtert atmete sie auf und betrat die Eingangshalle. Dennoch war sie neugierig – oder einfach nur versessen darauf ihn zu sehen. Es war noch kein Tag vergangen, trotzdem konnte sie sich kaum zusammenreißen. Und was für einen Grund könnte sie nennen, damit sie ihn sehen konnte? Ja, es klang verrückt, aber sie musste so eine Antwort schon parat haben. Wer wusste schon, ob er sie nicht genau danach fragte. Immerhin war bei ihm alles möglich. Allerdings war es doch nur normal mal nach einander zu sehen. Shaelyn probierte offensichtlich alles abzuwiegen, da die Unruhe immer weiter zunahm. Unschlüssig, was man an ihrem Zögern gut erkennen konnte, ging sie den Weg, der sie zum Wohnzimmer brachte – dabei war ihr abermals klar, dass sie nur Unfug anstellte. Denn eigentlich sollte sie nicht seine Nähe aufsuchen; viel zu sehr hatte sie die Angewohnheit Dinge auszuplaudern. Dieser Gedanke sorgte sogleich dafür, dass sie inne hielt die Türklinke zu ergreifen. Was war nur los mit ihr? Seit sie wusste, dass sie verliebt war, ging alles drunter und drüber. Ein wenig verärgert über diese Erkenntnis, drückte sie ohne weiteren Gedanken die Klinke herunter. Es war doch mittlerweile gleich – Rue wusste es doch. Die Tür schwang nach innen auf. „Hey, Rue. Ich wollte …. ! Was zum Teufel?!“ Shaelyn stand der Mund offen, kaum dass sie in den Raum blickte. Das Wohnzimmer glich einem Schlachtfeld! Ein Meer aus Blättern bedeckte den Boden und das Einzige was man wirklich erkannte, war der Sessel, welcher frei blieb und Rue ihr mit dem Rücken zugewandt saß. Jener hob den Kopf an, was man an seinem Haarschopf erkannte und gleich auch drehte er leicht diesen zur Seite. Man erahnte sein Seitenprofil. „Guten Abend.“, empfing er sie betonend, woraufhin Shaelyn, noch immer, schockiert in die Gegend starrte. Sie bemerkte nicht einmal seinen deutlichen Ton, der ihr gleich sauer aufgestoßen wäre – immerhin war herauszulesen, dass er ihre Ankunft für reichlich spät hielt. „Opa ist erst einen Tag weg!? Was tust du hier?! … und was sind das für komische Sätze auf den Blättern? Und seit wann zeichnest du?“, stellte sie rasch eine Frage nach der anderen und hob ein Stück Papier auf. „Sieht ja … seltsam aus.“ Shaelyn drehte die Seite in verschiedene Winkel. Rue richtete seinen Kopf nach vorn, streckte seinen linken Arm aus und ließ achtlos ein weiteres Blatt zu Boden segeln. „Ein Anagramm. Wenn du den Kreis drehst, ergeben sich neue Möglichkeiten.“, berichtete er emotionslos und war schon dabei ein weiteren Zettel zu beschriften. „Den Kreis erkenne ich und ein paar Buchstaben. Aber was sollen die Zeichen?“ Angestrengt stierte sie auf die Seite, die sie egal wie sehr sie es versuchte, nicht entschlüsseln konnte. „Ein paar Buchstaben sind in Russisch verfasst, das war's schon.“ Er sprach als wäre es überhaupt kein Problem für ihn das alles zu entziffern, was Shaelyn nur weiter entgeisterte. „Du kannst russisch?! Was eigentlich noch?!“ Umgehend blickte sie ihn erneut an, bemerkte, wie er stoppte und anschließend kurz an die Decke sah. „Ich spreche acht Sprachen fließend. Und noch ein paar kleinere Dialekte.“, kam es nachdenklich vom ihm. Shaelyn war fassungslos. Um Himmels Willen! Er sprach auch noch so davon, als wäre es nichts Aufregendes! „Wow, du bist echt unglaublich!“, offenbarte sie sofort beeindruckt, woraufhin Rue sich mit dem Oberkörper halb zu ihr wandte, sodass sie ganz in sein Gesicht blicken konnte – und es zierte ein schwaches Lächeln. „... Danke, Shaelyn.“ Ganz benommen von seinem Lächeln, bemerkte sie kaum, was er gesagt hatte. Ohnehin sprang ihr Herz fast aus der Brust und ihre Gedanken verabschiedeten sich, bevor sie stutzte. Da war doch etwas seltsam: Seit wann lächelte er so? Rue hatte sich in der Zeit längst wieder herum gedreht, als sie unsicher ihren Mund öffnete: „Hast du eben gelächelt?“ „Gut möglich.“, antwortete er – wie nicht anders zu erwarten – knapp, so als wäre nichts gewesen. Man hörte wieder, wie ein Stift über dem Papier strich. Ohne ein Wort schloss Shaelyn plötzlich die Wohnzimmertüre, legte ihre kleine Umhängetasche auf die Kommode neben sich, zog auch schon ihre Schuhe aus. Eine seltsame Ruhe legte sich über den Raum, was L umgehend in Alarmbereitschaft versetzte. Aus dieser Position konnte er sie nicht sehen, daher nur vermuten. „Du kannst ruhig öfter mal lächeln.“ Man erkannte ihr Lächeln schon alleine zweifellos an ihrer Stimme. „Oder muss ich dir immer ein Kompliment machen, bevor du das tust?“ Während sie sprach, vernahm er wie Blätter im Hintergrund aufgesammelt wurden. L schwieg zu dieser Aussage. Was sollte er darauf auch antworten? „Du mimst wieder den Schweigsamen, was? Und soll ich dir noch was sagen, Rue?“ „Das wirst du ohnehin machen. Tu' dir also keinen Zwang an.“ Ein Kichern war zu hören, das sogar ziemlich nahe war. Und ehe er es richtig ordnen konnte, wurde ihm der Stift aus der Hand gezogen, mit dem er eben noch geschrieben hatte. „Nicht, bevor du mir ganz zuhörst.“, flötete sie geradezu, viel zu gut gelaunt. L, der an ihrem Verhalten nur sehr Verdächtiges finden konnte, sah nun wohl oder über zu ihr auf. Sein Gesicht sprach Bände, wenn es denn etwas Ausdrücken konnte. „Du brauchst mich gar nicht so mit deinen großen Pandaaugen anzustarren.“ Sein Mund zog sich nur in eine Gerade. Wenngleich er sich auch fragte, wie sie auf einen Panda kam. „Wolltest du mir nicht etwas sagen?“, wies er sie entnervt darauf hin, wurde allerdings in seinen Gedanken herbe unterbrochen, als sie sich einfach auf die Sessellehne neben ihn setzte. Das war zu nah. Gleich führte er sich seinen Daumen zum Mund und kaute auf seinem Nagel, indessen er weiter zu ihr hoch blickte. „Du hast ja Recht! Gut, dann sag ich es dir halt jetzt.“ Das wurde auch Zeit. Doch statt sie direkt wieder den Mund öffnete, nahm sie ein Blatt vom Stapel auf ihrem Schoß, drehte den Zettel herum. „Das ist furchtbare Papierverschwendung! Auf der Rückseite wäre auch noch Platz gewesen. Und sieh' dir mal das Chaos hier an! Wer soll das alles aufheben?“ „...“ Das war mit Abstand … das Unwichtigste, was sie hätte sagen können. Dafür hatte sie sich nun so aufgedrängt? Verstört zog er seine Augenbrauen zusammen und stierte zu ihr hoch. Ihr Blick wechselte vom Strengen ins Belustigte. „Schön, wenn man dich auch mal verwirren kann. Hast mit was anderem gerechnet, was?“ „In der Tat.“, verließ es noch konfus seinen Mund, ehe seine emotionslose Mine zurückkehrte. Shaelyn hob ihre Hand an, drückte furchtlos mit dem Stift leicht auf seine Nasenspitze. „Du bist eigentlich total harmlos, weißt du das?“, sprach sie mit einem breiten Grinsen. Direkt griff L den Stift, den Shaelyn nicht los ließ als er daran zog. „Ey! So läuft das nicht!“, meckerte sie und zerrte ebenfalls an dem Farbstift, dies so stark, dass der Blätterstapel von ihrem Schoß fiel. „Du verschwendest deine Zeit.“ „Wie kann die Zeit mit dir verschwendet sein?!“, verließ es wie aus einer Pistole geschossen ihren Mund. Urplötzlich stoppte L – und das so unerwartet, dass sie von der Wucht nach hinten fiel als sie den Stift aus seiner Hand zog. Mit einem lauten Poltern landete sie auf dem Boden. Es folgte ein schmerzverzerrtes Stöhnen. „Au.... was sollte das?“, kam es ihr zögerlich über die Lippen, während sie wieder die Augen öffnete, welche sie beim Sturz vor Schreck geschlossen hatte. Rue blickte über die Sessellehne zu ihr hinunter, bewegte sich nicht ein Stück um ihr zur zu Hilfe zu kommen. „Was guckst du so?! Hilf' mir mal auf, wenn du schon loslässt.“ „'Tschuldige.“ Man sah wie er darauf ganz kurz zweimal Blinzelte, das gerade so, als wollte er Gedanken verscheuchen. Rue kletterte über die Lehne und hielt ihr gleich die Hand hin, die sie gerne ergriff um sich auf die Beine ziehen zu lassen. Noch benommen von dem Sturz legte sie eine Hand auf seinen Oberkörper um sich abzustützen. „Ich berichtige meine Aussage. Du bist gar nicht harmlos.“ „Das war keine Absicht, Shaelyn.“ Gleichsam er die Hand von ihrer nahm, griff sie erneut danach. „Halt, nicht so schnell. Einen Moment noch. Das dreht sich alles.“ Die Tatsache, dass sie so dicht bei ihm stand und ihn sogar berührte, kam ihr erst Momente später in den Sinn. Jetzt wusste sie auch wieder, wieso ihr Herz gar nicht mehr im Normaltakt schlug – das war nicht der Sturz. Überrascht weitete Shaelyn plötzlich ihre Augen und starrte weiterhin auf seine Brust, denn aufgesehen hatte sie bisher nicht. War das ihr eigener Puls den sie an ihrer Hand spürte? Das konnte ja nur sein, weil er so raste. Wieso sollte Rue so einen unruhigen Herzschlag haben? Langsam hob Shaelyn ihren Kopf an. Erfasste sie gleich ein dunkles Augenpaar, das sie gefangen nahm. Das Atmen wurde schwer. Die Gedanken setzten aus. Es prickelte auf einmal überall. Seit wann war es so unerträglich heiß im Raum? Unbewusst packte sie das weiße Shirt stärker. Sie müsste sich nur auf ihre Zehnspitzen stellen... „Alles in Ordnung? Du wirkst nicht anwesend. Vielleicht solltest du dich einen Augenblick hinsetzen.“, durchbrach Rue die Stille und zerstörte damit gekonnt die Stimmung, welche zumindest bei ihr vorhanden gewesen war. Gleich auch blinzelte sie einige Male. Was hatte sie schon erwartet? „N-Nichts, schon gut. Es geht wieder.“ Mit einem gespielten Lächeln ließ sie von ihm ab und ging einen Schritt zurück, achtete dabei nicht worauf sie trat. Direkt rutschte sie auf einen der vielen Blättern aus – die sich dort schon aufgetürmt hatten neben dem Sessel – und packte sich das erste, was sie zu fassen bekam. Selbst Rue, der schnell begriff in der Situation, konnte nichts dagegen unternehmen zu Boden gerissen zu werden. Allerdings war es ihm zu verdanken, dass sie sich nicht abermals den Kopf anstieß, da er einen Arm unter diesem hielt und es etwas abfederte. Das Resultat war ein schmerzender Arm, was jedoch in diesem Moment Nebensache war. Voller Entsetzen hatte sie sich an ihn geklammert, drückte ihn nur weiterhin an sich, während er auf ihr lag. Fiel das Luftholen gleich aus mehreren Gründen schwer – besonders als L wieder in ihr Gesicht blickte, das nur wenige Zentimeter entfernt war. Ihre vollen Lippen schwach geöffnet, die geröteten Wangen, ihre grünen Augen, jene ihn still beobachteten. Der Schreck war schnell gewichen, stattdessen bot sie sich nun mit dem Ausdruck förmlich an. Jedes einzelnes Härchen stellte sich auf. Ihr aufgeregter warmer Atem kreuzte den seinen. Und er roch etwas sehr bekanntes, das einzig von ihr stammen konnte. Süßes Vanille, das seine Sinne weiter verschleierte. Der Drang wurde immer größer – insbesondere wenn er doch wusste, was er nun tatsächlich für sie war. Sie wollte es. Wollte, dass er sie küsste. Und L kämpfte mit aller Kraft gegen ihre Verlockung. Seiner Beherrschung waren Grenzen auferlegt. Er musste sich schnell von ihr entfernen ehe er ganz seiner Abwehr verlustig wurde. Doch das alles nützte nichts mehr. Shaelyn war machtlos. Ja, alles rannte ihren Kopf ein. Paralysierte sie geradezu, ohnmächtig auch nur klar zu denken. Bedeckte sein warmer Körper den ihren, fühlte sie jeden seiner heftigen Atemzüge an ihrem Bauch. Ganz automatisch blickte sie auf seine Lippen, die so leicht in diesem Moment zu erreichen waren. Ob es sich wie das eine Mal zuvor anfühlen würde? Wären seine Lippen ebenso warm und weich? Würde es abermals so verboten süß schmecken, wenn sie weiter gingen? Von ihren Gedanken und Empfindungen angetrieben, legte sie ihre Arme enger um seinen Nacken, zog ihn sanft und doch bestimmend zu sich – und er tat nichts, was sie aufhielt. Wenn sie etwas wollte, dann war es dieser Mann, dessen Duft sie nur immer weiter betörte und jene Lippen, die, die ihre in diesem Augenblick versiegelten. Nein, es war nicht mit dem Kuss zuvor zu vergleichen. Es war eine Sekunde, in der sie glaubte dem ersehnten Paradies näher zu kommen. Das Prickeln im Bauch brach über ihren ganzen Körper ein. Löste eine ganze Flutwelle aus. Gänzlich schloss sie ihre Augen, fühlte nur das Glück, welches völlig übersprudelte – dabei erwiderte er nicht einmal den Kuss. Was sie erst richtig realisierte, als Rue seinen Kopf gegen ihren Druck plötzlich wegzog und die Verbindung zu ihm vollständig abriss. Umgehend schlug sie ihre Augen auf, fühlte unterdessen, wie das gesamte Gewicht von ihrem Körper wich. Panisch setzte sie sich auf. Aufgelöst begann sie zu stottern: „Ich... ! Das tut mir leid! Eigentlich, ich meine....-“ „Du solltest jetzt gehen.“, unterbrach er sie, zu ihrem weiteren Erschrecken, forsch. Er duldete deutlich keinen Widerspruch, was Shaelyn selbstverständlich nicht entging und sie ängstigte. Aber was sollte sie tun?! Das war alles wie automatisch! Direkt richtete sie sich auf, versuchte Blickkontakt aufzunehmen. Rue jedoch wandte ihr den Rücken zu, was sie in dem Augenblick nur weiter verletzte. Es war doch gar nicht ihre Absicht gewesen! Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln. „Du bist wirklich herzlos! Idiot! Ich wünschte, ich hätte dich nie getroffen!“, schrie sie aus Verzweiflung und Verbitterung, bevor sie weinend aus dem Wohnzimmer rannte – nicht ahnend, wie sehr ihre Worte ihm einen tiefen Stich versetzten. In ihrem Zimmer angekommen, schlug sie zunächst die Tür hart ins Schloss, ehe sie diese abschloss. Es war unsinnig dies zu tun, denn würde ihr Rue ohnehin nicht folgen, doch gab es ihr gewisse Sicherheit. Shaelyn ließ die letzten Minuten Revue passieren, stellte dabei nur abermals fest, wie dumm sie sich verhalten hatte. Rue traf keine Schuld. Er konnte einfach nichts dafür, dass sie in ihn verliebt war. Dann warf sie ihm auch noch solche Dinge an den Kopf! Schluchzend setzte sie sich auf ihr Bett, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte es doch gewusst, dass sie sich nur wieder in Etwas verrannte. Warum ignorierte sie es, wenn sie es erst recht wusste? Ihr war nicht mehr zu helfen. Egal was sie tat, es war falsch. Rue dachte sich bestimmt nur, was für eine katastrophale Person sie war. Wer wollte schon mit so jemanden zusammenleben? Eine Entschuldigung reichte längst nicht mehr aus. Noch dazu traute sie sich kaum vor die Tür zu gehen. Wie sollte das alles noch gut gehen? Schon seit Stunden rollte sie sich unruhig auf dem Bett hin und her. Es war mitten in der Nacht, was ihr der digitale Wecker an ihrer Bettseite verriet. Die Minuten vergingen schleichend. So kam ihr jede Sekunde wie eine Minute vor und jede Minute wie eine Stunde. Als es dann kurz nach drei war setzte sie sich auf. Das Einschlafen klappte ja doch nicht, sodass sie aufstand und irgendwie bekam sie mächtig Hunger. Was man in dem Fall wohl gut als Heißhunger bezeichnen konnte. Allerdings war im Hintergrund noch immer der Gedanke, dass sie Rue über dem Weg laufen konnte – vor allem in der Küche. Jedoch befanden sich die leckersten Sachen in dem Kühlraum, welcher an die Küche grenzte. Eigentlich war sie kein Freund von vielem Süßen, aber es musste gerade einfach sein, dass sie anders gar nicht konnte. In ihrem weißen Nachthemd schlich sie sich zur Tür, gerade so, als würde sie Verbotenes tun. Die Türe war schnell aufgeschlossen und ein vorsichtiger Blick in den Gang verriet nur Gutes, so war keine Menschenseele zu erhaschen. Somit tapste sie mit nackten Füßen in den Flur, der mit einem langen Läufer ausgelegt war. Das Holz knackte leise mit jeden Schritt und wies darauf hin, dass jemand durch den Korridor lief. Man konnte sich schlicht in dieser Villa nicht geräuschlos bewegen. Urplötzlich stoppte sie jedoch als sie an der Treppe ankam. Irgendwas drang an ihre Ohren. Verhörte sie sich? Es klang, als spielte jemand den Flügel im Musikzimmer. Nein, es war kein Lied. Eher wie einzelne Töne, die langgezogen wurden. Gleich befiel sie eine unangenehme Gänsehaut, was weniger an den Klängen, sondern mehr daran lag, dass sie nicht wusste, wer das Piano spielen sollte. Spukte es in dieser Villa? Shaelyn bekam es mit der Angst zu tun. Direkt blickte sie sich in der fahlen Dunkelheit behutsam um. Nur das Licht von Außen drang durch die großen Fenster ein. Die Stühle, kleine Seitentische und nicht zuletzt warfen die Statuen lange Schatten, in der sonstigen Schwärze. Es war beklemmend. Sollte sie es Rue sagen, dass da aus dem Musikzimmer gruselige Musik kam? Sie raufte sich die Haare. Wieso hatte sie sich nur mit ihm, so gesehen, verkracht?! Oder konnte es wirklich sein, dass Rue selbst spielte? Umgehend schüttelte sie ihren Kopf. Das war völliger Unsinn. Sie hatte ihn nicht einmal dort gesehen, trotzdem wurde sie erneut neugierig. Die Möglichkeit bestand doch, oder? Nur weil sie ihn nie dort gesehen hatte, hieß es nicht, dass er nicht doch dort spielte. Jedenfalls war es schöner daran zu glauben, als daran, dass vielleicht etwas anderes dahinter steckte. Daran wollte sie nicht einmal im Traum denken! Demnach, ziemlich vorwitzig, ging sie den Klängen nach. Am Fuße der Treppe angekommen, wurde es nur lauter. Wenn nicht zu laut, dennoch für ihr Ohr viel geräuschvoller als zuvor. Langsam und auf Zehnspitzen, ging sie weiter voran, fixierte konzentriert die große Türe am Ende des Ganges. Und es fröstelte sie. Das weiße lose Nachthemd umspielte ihre Beine leicht, strich mit jedem weiteren Windzug an ihnen. Sollte sich wirklich etwas Anormales abspielen, dann konnte man sie gar nicht schnell genug weg rennen sehen! Schließlich an der Tür angekommen, zögerte sie lange die Klinke überhaupt nur anzufassen. Die Töne ließen nicht nach, bildeten sogar gelegentlich eine kurze liebliche Melodie. Es war, als versuchte man etwas Altes wieder aufleben zu lassen, das nur zu verblasst war um es richtig im Ganzen wiederzugeben. Achtsam öffnete sie dann endlich eine Türseite und spähte durch den Schlitz. Was sie sah, setzte Shaelyn dermaßen in Erstaunen, dass sie sogleich die Augen weit aufriss – achtete sie dabei nur nicht darauf, dass durch das weitere Aufdrücken ein leises Quietschen der Angeln durch den Raum zog. Unmittelbar danach brach jeglicher Ton ab. Sie hatte es vermutet, aber nicht daran geglaubt. Rue saß, nun mit dem Oberkörper zu ihr gedreht, auf dem Hocker – und er saß tatsächlich. Kein Hocken, wie man ihn sonst antraf. Nur der gekrümmte Rücken und wie sachte er mit den Fingerspitzen die einzelnen Klaviertasten berührte, erinnerte sie an Rue. Denn selbst sein Ausdruck im Gesicht war kein üblicher. War er auf irgendeine weise traurig? Auf alle Fälle war er auch sehr überrascht. Seine großen Augen schienen leer und auch sein Mund war leicht verzogen. Nur eine Frage rauschte ihr durch den Kopf: Warum? „Tut mir leid... ich wollte nicht stören. Ich habe mich nur gefragt, wer hier spielen könnte. Und hab deshalb nachgesehen.“, entschuldigte sie sich unverzüglich leise und blickte gen Boden. Sie konnte seinem regungslosen Blick nicht standhalten. Am Liebsten hätte sie gefragt warum er hier war – mitten in der Nacht und wieso er am Flügel spielen konnte. Vor allem, wieso es so... bedrückt klang. Besser sie mischte sich da nicht ein, egal wie sehr sie darauf brannte es zu wissen, weshalb sie schon ihren Mund öffnete. „Schon gut, Shaelyn.“ Seine Stimme war kaum vernehmlich, wandte er sich gleich wieder um, was sie nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte, da sie noch zu Boden sah. Direkt ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Nicht, weil sie wütend war, sondern weil sie sich versuchte einen Schubs zu geben. Es war gerade die beste Chance sich auch für ihre Worte zu entschuldigen. „Rue, ich“, begann sie zunächst hastig, stoppte allerdings und blickte auf – geradewegs auf seinen Rücken – und führte sich eine Hand zur Brust. „Ich möchte mich auch entschuldigen, was ich gesagt habe. Ich hab's nicht so gemeint, okay? Also, dass ich dich nie hätten treffen wollen. Und... dass du herzlos wärst.“, fuhr sie ruhig fort, schluckte jedoch danach einmal kräftig. Was sie nun sagen wollte, kostete ihr die größte Überwindung. Doch was blieb ihr für eine Wahl? Viel würde wohl davon abhängen. „Und... es tut mir leid, dass ich m-mich verliebt habe. Ich versuche es schnell zu vergessen, ganz so wie du gesagt hast. Ja? ...“ Es blieb ruhig für wenige Sekunden, die ihr nur wie Stunden der Ungewissheit vorkamen. Um alles in der Welt: Sie hatte es gesagt! Und er sagte nichts! „Wie ich bereits sagte: Schon gut.“, war nun fester von ihm zu hören und Shaelyn neigte den Kopf leicht schief. Das deutlich in Sorge, gleichzeitig fühlte sie sich unbehaglich. Wollte er sie vielleicht loswerden? Störte sie ihn nun doch so stark? Auf einmal hob er seine rechte Hand an, gab ihr das Zeichen, dass sie näher treten sollte. Sofort biss sie sich auf die Unterlippe, leistete seiner Geste umgehend folge. Mit wackligen Beinen, da die Unsicherheit stark zunahm, trat sie näher, ließ dabei die Tür offen stehen. „Setz' dich doch bitte.“, wies er sie schließlich ruhig an, dass sie auf den länglichen Hocker neben ihm Platz nehmen sollte. Auch das tat sie folgsam, achtete sie dabei peinlich darauf, ihn nicht zu berühren, da sie schon ohnehin einen großen Druck in ihrer Brust spürte. Hoffentlich würde er nichts Böses sagen. Schließlich drehte er den Kopf zu ihr. Seine Pupillen waren im Halbdunkeln stark geweitet, sodass es schon den Eindruck vermittelte, er habe komplett schwarze Augen – angespannt blickte sie ihnen entgegen. „Nichts ist von Dauer. Das solltest du dir immer vor Augen führen, Shaelyn. Es wird vergehen.“ Überrascht blinzelte sie einige Male. Die Worte hatte sie nicht erwartet. „Das heißt... es ist für dich nicht einmal von Bedeutung?“, stellte sie gleich die Frage und sah, wie er eine Augenbraue senkte. Er sah skeptisch aus. „Sollte es das sein?“, bekam sie gleich als Gegenfrage, was sie stutzen ließ. Verstört über diese Meinung, was das schönste auf der Welt darstellte, brauchte sie ein paar Momente. „Wieso probierst du es nicht mal...? Also lässt es zu?“ „Das ist unmöglich.“, folgte es umgehend nachdrücklich als sei daran nichts zu rütteln. Doch Shaelyn fühlte sich aufgestachelt. Jetzt wollte sie es genau wissen, wenn er schon dazu bereit war zu reden. „Wie kannst du das so einfach sagen?“ „Ich... habe meine Gründe.“ Rue begann wieder damit, an seinem Daumennagel zu kauen. War er am Nachdenken? „Aber du bist doch ein Mensch. Jeder Mensch hat doch Gefühle.“ „Shaelyn.“ Es war nur ihr Name, den er leise aussprach. Sofort war sie ganz bei der Sache. „Ja?“ „Diese Art von Gefühlen hat keinen Platz.“ Schockiert öffnete sie ihre Lippen einen Spalt. „Du spricht so, als wärst du eine Maschine, die nur funktionieren soll. Wo bleibt da der Spaß? Was bedeutet das Leben wirklich? Sind es nicht unsere schönen Erinnerungen und Erlebnisse, die es so lohnend machen? Und erst die schönen Gefühle? Was für eine farblose Welt wäre die Erde, wenn jeder so denken würde wie du?“ „Sie würden es nicht vermissen, weil sie es nicht anders kennen.“ Sprach er gerade von sich selbst? „Das... heißt, du kennst es nicht?“ Er schwieg zu ihrer Frage, starrte ihr nur weiterhin entgegen. Shaelyn stellte schließlich die finale Frage, die für sie ziemlich wichtig war. „Was ist, wenn du dich doch mal verliebst?“ „Das wird nicht passieren.“, log L ihr offen ins Gesicht. Wenn doch auch ein Quäntchen Wahrheit in seinen Worten steckte – zumindest wenn man es ein bisschen anders formulierte. So war er bereits jemandem – ihr – verfallen und das würde auch das einzige mal bleiben. Kein weiteres Mal sollte dies vorkommen. Er würde es zu verhindern wissen. Sie war ihm einfach zu nahe getreten – war das was sie verband viel mehr als einfache Gespräche. Er hatte zu viel Zeit mir ihr verbracht. Zu viele persönliche Erinnerungen waren mit ihr verknüpft. Hatte sie ihn völlig verzaubert, was nun schon einen langen Zeitraum bildete. Es hörte nicht auf. Nein, bis jetzt hatte er nichts vom Vergänglichen gemerkt. Gefühle sollten sich mit der Zeit abschwächen. Wieso war das hier nicht der Fall? Würde es nachlassen, wenn er sich ganz von ihr entfernte? Das musste es sein. Oder griff hier abermals die Logik nicht? War es wert, einen Versuch zu unternehmen? Doch stände bei diesem Geschehnis viel auf dem Spiel. Er würde mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr verlieren. Nein, er konnte hier nicht rein objektiv bleiben. Denn war es auszuschließen, dass er etwas verlor. So war es parteilos das Beste. Doch... trotzdem war dieser Gedanke schmerzlich. Sogar äußerst. „Du lügst.“ L blinzelte einmal, da sie ihn aus seinen Gedanken geholt hatte. Direkt beobachtete er ihre Gesichtsregungen aufs Genauste. Sie meinte es ernst, was ihr leicht anzusehen war. „So? Wie kommst du zu diesem Schluss?“ „Man kann so was nicht einfach verhindern. Es passiert einfach. Das weiß doch jeder.“ Ein schwaches Grinsen legte sich auf seine Lippen. Shaelyn war engagiert und voll bei der Sache – und nun irritiert von seiner Regung. „Sicher?“ „... aber hundert prozentig.“, folgte es dann doch schleppend. „Weshalb schwankt dann deine Stimme? Das ist ein sicheres Indiz für Unsicherheit. Willst du also nicht noch einmal darüber nachdenken?“ Shaelyn plusterte ihre Wangen auf. „Du verunsicherst mich! Das ändert aber rein gar nichts an meiner Meinung. Basta.“, verließ es überzeugt ihre Lippen und verschränkte sie gleich die Arme vor der Brust. „Dein Grinsen gefällt mir nämlich nicht, weil es mich nur verwirrt. Du heckst bestimmt was aus, oder so. Das sieht genau danach aus!“ „Ich hecke nichts aus. Ehrenwort.“, antwortete er, mit weiterhin demselben Grinsen und hochgehobener Hand, als legte er einen Schwur ab. „Das soll ich dir glauben? Was sonst? Hast du wieder Spaß daran mich zu veräppeln?“ Shaelyns Mine veränderte sich, sodass sie ihr amüsiertes Gesicht nicht mehr verbergen konnte. Dennoch probierte sie es zu kaschieren. Nur L entging es selbstverständlich nicht. „Dir scheint es jedenfalls selbst Spaß zu bereiten.“ Und er erhielt etwas, womit er nicht gerechnet hätte. Mit einem Lächeln zwinkerte Shaelyn ihm charmant zu. Ganz offensichtlich gefiel es ihr und sie schien ihre Scham vor ihm verloren zu haben. Sie musste auch nichts mehr versuchen zu verstecken. Die Katze war ja bereits aus dem Sack. „Sollte ich mich in Zukunft vor dir hüten?“, fragte er dann mit seinem Zeigefinger am Mund und einem Grinsen, sodass ihr sprichwörtlich der Mund vor Empörung offen stand. „Was soll das heißen?!“ „Oh, ich dachte, du weißt wovon ich rede.“, meinte er, natürlich gespielt, überrascht und erntete einen scharfen Blick von ihr. „Natürlich weiß ich wovon du redest! Aber so schlimm bin ich doch gar nicht! Hab' doch gar nichts gemacht...“ Umgehend zog sie eine Schnute. „Bist du dir wieder sicher?“ „Argh! Fieser Kerl! Nein, du musst keine Angst haben, dass ich dich überfalle und zu schlimmen Dingen zwinge!“ „Wunderbar, dann bin ich beruhigt.“, kam es sonnenklar von L, der einfach das Grinsen im Gesicht nicht los wurde – allerdings Momente später die Arme heben musste um sich von ihrer entrüsteten Prügelei zu schützen. Es war nicht feste, sollte ihm aber zeigen, dass sie gar nicht angetan war. Auch wenn es klar Spaß war, der mitmischte, da ihr teilweise helles Lachen es untermalte. Urplötzlich stoppte sie, verlor jeglichen Ausdruck im Gesicht. Sofort war L wachsam. „Hast du das gehört...?“, flüsterte sie zu ihm gewandt und blickte sich vorsichtig um. Auf ihre Worte hin, lauschte er in die Stille. Es tat sich nichts. „Nein...“ Gerade als er das aussprach, war ein ganz leises Holzknarren zu hören – für ihn jedoch nichts Außergewöhnliches. Holz lebte bekanntlich. Aber das sie es beim Getrommel auf ihn und durch ihr eigenes Lachen hören konnte, war beachtlich. „Da! Hörst du das nicht?“, kam es nun ein wenig lauter von Shaelyn, die sich nun richtig umsah. „Das hat sich angehört, als sei wo was runter gefallen.“ Jetzt stutzte er. Sie meinte nicht die Holzdielen, sondern etwas anderes. Aber selbst wenn etwas heruntergefallen war, bedeutete es nicht automatisch, dass es ungewöhnlich sein musste. „Das wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Wind sein, der etwas bewegt hat. Es ist recht zugig.“ „Hast du immer eine logische Schlussfolgerung parat?“, wandte sie sich ihm nun wieder direkt zu und kassierte von ihm einen emotionslosen Blick. „Was sollte es auch sonst für eine Ursache haben?“ „Na... vielleicht spukt es ja hier.“ Nun starrte er sie sichtbar verstört an. „Ich glaube nicht an Übernatürliches, Shaelyn...“ „Du bist ja auch blöd. Manch -“, sie unterbrach, da sie wie ein verschrecktes Huhn sich auf Rue stürzte und sich an seinem Arm klammerte. „Da!! Das war im Gang! Hast du das nicht gehört?!“ L starrte zunächst auf Shaelyn, die sich ängstlich an ihn drückte, dann in den Korridor, in welchem sich das Licht anschaltete. Schritte waren nun deutlich zu hören und als ein Schatten durch die Tür fiel, kniff Shaelyn ihre Augen zusammen. „Ist etwas Vorgefallen?“, war dann eine sehr bekannte Stimme zu hören und gleich klammerte sie nicht mehr so an L, der nun sogar Luftholen konnte, da sie teilweise von ihm abließ. Jedes mal aufs Neue versetzte sie ihm mit ihrer so direkten Nähe Stromstöße, die ihn einfach lähmten. Es wäre natürlich etwas vollkommen anderes, wenn er offen sein könnte... „Opa?!“ „Guten Abend, Shaelyn.“ Sein offenes Lächeln übertrug sich gleich auf ihre Lippen. „Du bist wieder da? Aber ich dachte, dass du noch was unterwegs bist?“ „Hat es Ryuzaki dir nicht gesagt, dass ich eher Heim kehre?“ Beide Augenpaare richteten sich auf L, der wieder einigermaßen normal Luftholen konnte – auch mit Shaelyn, die ihm förmlich noch immer am Arm klebte. „Was?“, führte er nur unschuldig aus und blieb an ihrem entnervten Gesichtsausdruck hängen. „Du bist unverbesserlich. Immer wieder dasselbe... Wo bleibt dein 'Achja, das wollte ich dir noch sagen?'“, hakte sie gleich nach und erhielt ein Grinsen von ihm. Ein zweifellos freches. Es sah aus, als genoss er es im Moment sie wieder einmal zu ärgern. „Richtig. Das wollte ich dir noch mitteilen, allerdings haben mich andere Dinge daran gehindert.“ „Blödmann!“, rief sie hochrot aus. Watari stand am Türrahmen und betrachtete die Szene mit einem breiten Lächeln. Es war schön zu wissen, dass die beiden gut miteinander auskamen. Sehr gut sogar, wie es den Anschein auf den alten Herren machte. L hatte sich tatsächlich breit schlagen lassen. Noch einmal ging der Detektiv den Gründen nach, weshalb er überhaupt das tat, was er gerade tat. So stand er in einem Kaufhaus, neben ihm Watari und unweit entfernt Shaelyn, die aufgeregt jede menge einzukaufen hatte. Man fragte sich, was ausgerechnet er nun dort suchte. Eine gute Frage, die sich auch L immer wieder stellte. „Was meinst du? Rot? Blau? Weiß?“ Shaelyn hielt verschiedene Packungen an Weihnachtskugeln hoch und lächelte ihm begeistert zu. „Das ist mir gleich.“ „Nein, sag. Welche Farbe?“ Ihre gute Laune war nicht zu drücken, was auch eben einer jener Gründe war, weshalb er sich überhaupt hatte breit schlagen lassen. Sie war so aufdringlich gewesen, dass er nicht einmal in Ruhe seine Gehirnnahrung zu sich nehmen konnte. Und ganz egal was er versuchte – Ihre Stimmung war kaum zu ändern. Es kam einem Wahn gleich. Und bevor er den Rest des Tages keine Ruhe mehr fand, tat er eben das, was er eben tat. „Na los, sag schon.“, forderte sie ihn wieder auf und hielt abwechselnd Packungen hoch. Zudem was stellte sie diese Frage? „Rot.“, meinte er nüchtern und kratzte sich darauf am Kopf. Da sie diese Farbe mochte, konnte er schließlich nichts Verkehrtes sagen. Doch, das war nur eine Vermutung. Er wurde besserem belehrt. „Nur rot? Das ist doch eintönig. Lass uns das mit Weiß mischen. Dann ist wenigstens etwas Weiß an diesem Weihnachten.“ L zog seine Augenbrauen zusammen und beobachtete Shaelyn kritisch, jene sich die jeweiligen Utensilien schnappte und in den Einkaufswagen legte. Ob es unbewusst gesagt wurde? L jedenfalls verstand darunter mehr als nur Farben. Ein bestimmtes Gespräch spielte da eine tragende Rolle. „Wehe du bist Zuhause genauso teilnahmslos! Du musst mir beim Schmücken helfen! Alleine an die höheren Stellen komme ich nicht ohne deine Hilfe.“, durchbrach ihre Stimme seine Gedanken, woraufhin er sie für ein paar Sekunden nur anstarrte. Davon war nicht die Rede gewesen. „Dafür gibt es Leitern.“, antwortete er sachlich und heimste sich einen bösen Blick von ihr ein. „Das werden wir ja noch sehen...“ Es beschlich ihn das Gefühl, dass er doch zugänglicher hätte sein sollen. Ihre Drohungen waren durchaus ernst zu nehmen – keiner wusste das besser als L. Dann klatschte sie einmal in die Hände und setzte ein fröhliches Gesicht auf. „Holen wir den Rest und dann ab nach Hause! Der Baum wartet.“ Watari nickte wissend, ebenfalls erfreut. Nur L war irgendwie nicht ganz so hingerissen vom Weihnachtsfieber. Demnach war er der Erste, der das Geschäft verließ, als es zur Kasse ging. Und Shaelyn hatte nur damit gerechnet: Somit holte sie schnell noch etwas mit einem Lächeln in seiner Abwesenheit. Nachdem alle Tüten, in denen der Weihnachtschmuck verstaut war, sich im Wohnzimmer befanden, besah sich Shaelyn den großen Baum. Ihr Großvater hatte ihn bereits am Morgen geholt und aufgestellt. Das war auch Zeit gewesen, so war der 24te Dezember schon morgen. Der Anblick, des noch ungeschmückten, Baums, weckte Erinnerungen in ihr. So war es schon immer ihre Aufgabe gewesen, den Baum zu schmücken – wenn auch mal mit ihrem Bruder. Nur ihr Vater setzte am Ende die Spitze auf und schloss somit das Schmücken des Baums ab. Ihre Mutter backte fleißig und erfüllte somit die Luft mit allerlei bekannten Gerüchen. Lebkuchen und vor allem Zimt. Begeistert räumte sie den glitzernden Lametta, die Kugeln und auch die Lichter aus den Tüten – nahm vorerst keine Notiz von Rue, jener sich längst wieder in seinen Sessel gehockt hatte und natürlich gleich vom Süßen auf dem Couchtisch naschte. Schade fand Shaelyn nur, dass es keine großen Weihnachtssocken gab, die man sich traditionell eigentlich an den Kamin hing – sie waren alle ausverkauft gewesen. Zumindest war dieses Jahr ein Baum vorhanden, was schon sehr viel ausmachte. Als dann alles soweit bereit lag, seufzte sie auf und strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. Jetzt lag das Schwerste vor ihr: Rue. „Rue...?“, säuselte sie bewusst und man sah, wie er für eine Sekunde inne hielt. Er wusste, was folgen würde – und er antwortete absichtlich nicht. Was allerdings für Shaelyn kein Hindernis war. Seit diesem Abend im Musikzimmer, war ihre Laune kaum zu drücken. Zwar fühlte er nicht dasselbe, aber ganz wie es aussah störte es ihn nicht weiter. Und das Wichtigste war wohl, dass sie sich nicht mehr anders verhalten musste. Das Geheimnis, was eigentlich keines war, weil er es fast sofort erkannt hatte, war gelüftet. Es war nach wie vor traurig, dass wohl nicht mehr aus ihnen wurde, doch wenigstens konnte sie in seiner Nähe bleiben. Denn eine Freundschaft verband sie weiterhin. Somit war die größte Angst nicht mehr vorhanden: Die Angst, ihn zu verlieren, wenn er wusste was sie für ihn empfand. „Weißt du, wenn du gleich her kommst, dann bekommst du auch eine Belohnung.“, meinte sie doch recht mysteriös, was L dazu veranlasste seinen Kopf zu ihr zu drehen. Er war hellhörig geworden. Ihre grünen Augen strahlten Freundlichkeit aus, ebenso das Lächeln in ihrem Gesicht. „Was für eine Belohnung?“ Ihr Lächeln wechselte zum Grinsen. Konnte er das als gutes Omen einstufen? „Interessiert, hm?“, stichelte sie sofort belustigt. „Das wirst du dann sehen, wenn du es dir verdient hast. Also komm her und hilf mir. So schwer ist das doch nicht. Das macht doch auch Spaß.“, redete sie gutgelaunt weiter. „Und ich beiß' auch nicht! Versprochen.“ L seufzte leise auf. Diese Frau hörte ohnehin nicht auf. Es war das gleiche Spiel wie am Morgen, als sie ihn zum Einkaufen mitschleppen wollte. Nicht ganz, zu diesem Zeitpunkt dachte er noch, dass es erträglich wäre. Je länger er jedoch gewartet hatte, desto aufdringlicher wurde sie. Bis es soweit ging, dass sie um seinen Sessel schlich, sich neben die Lehne hockte ihn von der Seite mit ihren bettelnden Augen anblickte – und sie wich nicht. Nicht, dass er es nicht auch wunderbar überspielen konnte, aber als sie dann an seinem Ärmel zog, war ihm klar, dass sie auch noch weiter gehen würde. Er hatte aufgegeben. Und nun befürchtete L selbstverständlich, dass sie es wieder tat. Allerdings wäre das wohl die Ausnahme. So war sie bisher niemals so penetrant gewesen. Es musste ihr sehr viel bedeuten – mehr als er je verstehen würde. Und es sprach im Wesentlichen nichts dagegen zu helfen – außerdem war er neugierig was die Belohnung anbelangte. Was könnte sie ihm geben wollen? Und bevor sie auf eine andere Idee kam, wie sie ihn überzeugen konnte, ergab er sich in sein Schicksal. Langsam erhob er sich aus dem Sessel, was sie verzückt kichern ließ. „Keine Sorge, die Belohnung wird dir gefallen.“ Das hörte er wiederum gern. „Wickel die Kette einfach so herum, wie es dir gefällt.“, wies Shaelyn ihn an, als sie ihm den vorderen Teil der Lichterkette gab, selbst noch das andere Ende festhaltend. „Pass aber auf, die Lichter sind empfindlich. Lass' sie also nicht auf den Boden fallen.“ Kaum war das gesagt, ging sie um die große Tanne, von der ihr eigener typischer Geruch zu den Feiertagen abgegeben wurde. Shaelyn befestigte vorsichtig das erste Licht und fuhr so still mit den nächsten weiter, während sie vom anderen Ende immer wieder spürte, wie Rue ebenfalls die Kette ansteckte. Doch nach einigen Minuten war es ihr zu ruhig. „Hast du nie den Baum geschmückt?“, fragte sie schließlich offen, während sie das letzte Licht befestigte und spähte zögerlich zum Schwarzhaarigen hinüber, welcher gleichermaßen fertig wurde. „Nein.“ Sein nüchterner Blick traf den ihren, woraufhin sie die Augen kurzzeitig verdrehte. „Nicht einmal als du klein warst?“ Es war eine kleine Regung in seinem Gesicht zu erkennen, als er plötzlich auf den Baum vor sich blickte. Doch als Shaelyn genauer hinsah erkannte sie, dass er nicht den Baum ansah, sondern durch ihn hindurch. Er wirkte wie versteinert. Verwirrt trat sie zu ihm und berührte ihn am Arm. Sogleich riss er seinen Kopf in ihre Richtung, sodass sie selbst erschrak. Vor Schreck fasste sie sich an die Brust. „... Alles in Ordnung?“, brachte sie stockend hervor und versuchte sich zu beruhigen. Irgendwie wirkte sein Blick einschüchternd, sodass sie sich augenblicklich sehr unwohl fühlte. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Die Stimmung war plötzlich wie tot. „D-Du machst mir Angst mit deinem Blick.“ Rue blinzelte umgehend nachfolgend einmal. „'Tschuldige.“ Er wandte sich ab und nahm sich eine Weihnachtskugel vom nahen Tisch. Es war deutlich wahrzunehmen. Etwas lag in der Luft. Eine Spannung, die erdrückend wirkte. Es fiel Shaelyn schwer zu schlucken. Und sie war sich sicher, dass mit Rue etwas nicht stimmte. Hatte er eine schlimme Vergangenheit? Kannte er deshalb all das nicht? „Es tut mir leid,... ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich meine-“ Ihre Stimme brach ab, da er zu ihr trat und ihr eine rote Kugel in die Hand legte. „Du entschuldigst dich in letzter Zeit sehr häufig.“ Seine Augen blickten sie stumm an. Es lag nicht eine Regung in ihnen. „Ich bin ein Waisenkind.“, verließ es nachfolgend ruhig seinen Mund und ihr stand ihrer sofort offen. Nicht nur erzählte er etwas sehr Privates von sich, sondern auch etwas sehr Schreckliches. „Das ist furchtbar...“, hauchte sie geradezu ohne Atem. Sie hatte ja gar keine Ahnung... „... Wie lange schon?“ Rue antwortete ihr zunächst nicht und ließ eine Zeit vergehen. War er unsicher, ob er es ihr sagen sollte? War es so schlimm? „Seit ungefähr 13 Jahren.“ Er sprach so sachlich, was Shaelyn schockierte. Nicht nur das, denn vor so vielen Jahren war er sicher noch ein kleiner Junge gewesen. Sie konnte nur vermuten, da sie nicht einmal sein Alter wusste. Doch Rue schien ihr nicht allzu viel älter zu sein. Irgendwie dachte sie die ganze Zeit, dass sie eine schlimme Vergangenheit hatte, jedoch klang die von Rue viel schlimmer. Als kleiner Junge war er also schon ganz alleine gewesen... „Shaelyn, du weinst.“, wies er sie leise darauf hin. Überrascht schüttelte sie kurz den Kopf und fasste sich mit der freien Hand an die Wange. Tatsächlich, sie weinte. „Ich dachte nur, dass ich eine fürchterliche Vergangenheit habe... aber wenn ich mir denke, dass du viel früher ohne Eltern bist...“ „Shaelyn.“, brachte er nur ihren Namen über die Lippen – und es klang beruhigend. Sie starrte ihm sofort in die großen Augen, die sie beobachteten. „Das ist Vergangenheit.“ „Aber es ist ein Teil von uns.“ Er zog seine Augenbrauen an, die er nur kurz darauf wieder senkte. „Wenn du in der Vergangenheit lebst, wirst du nie eine Zukunft haben.“, erwiderte er matt, worauf er einen konfusen Blick zugeworfen bekam. „Man lebt nicht in der Vergangenheit, wenn man ab und zu einen Gedanken daran hat.“ „Es bringt dich nicht weiter.“ Fassungslos über diese Worte, fiel ihr keine passende Antwort mehr ein. Wie kühl war er eigentlich? Oder hatte er es nur tief in sich verschlossen, weil es zu schmerzlich war? Rue war nun ein noch viel größeres Rätsel für sie. War das auch vielleicht der Grund, wieso er niemanden an sich ließ? „Wir sollten weitermachen.“, kam es tonlos von ihm und drehte sich gleich um – wurde aber am Arm festgehalten. „Sag mir noch eins bitte.“, begann sie hastig und zog auch sofort ihre Hand zurück. Rue wandte sich nicht um, sondern zeigte ihr seinen krummen Rücken. „Wa... schon gut. Ja, lass uns weitermachen.“ Shaelyn klang traurig. Sie schien enttäuscht zu sein. Die Stimmung war nun nicht mehr dieselbe. Ging es nun schon seit geraumer Zeit sehr still zu. Ungewöhnlich still für Shaelyns Verhältnisse. Es kam nicht ein Wort von ihr. So war sie in Gedanken, was man ihr deutlich ansehen konnte. Was sie im Einzelnen dachte, wusste der Detektiv natürlich nicht – immerhin war er dem Gedankenlesen nicht mächtig – jedoch musste es sich zwangsweise um die Themen zuvor handeln. Er hatte ihr zu denken gegeben. Vor allem musste ihr nun klar sein, wie weit sie sich voneinander unterschieden. Sie trennten klar die Ansichten, von denen weder er noch sie abließen. Sie war ein großer, wenn nicht sogar größerer, Sturkopf. Plötzlich keuchte Shaelyn auf, weshalb er prüfend zu ihr sah. Sie hob ihren Finger an und lutschte kurz darauf an der Kuppe. Offensichtlich war sie unachtsam gewesen und hatte sich den Finger an den Spitzen der Nadeln gestochen. „Du solltest dir weniger Gedanken machen.“, sprach er schon fast teilnahmslos zu ihr, während er eine weitere Kugel platzierte – und dabei nicht einmal hinsah. „Ha ha... das sagt der Richtige. Du hängst deinen Gedanken doch den ganzen Tag nach.“, meinte sie einsilbig und besah sich den Baum, nach einem freien Platz suchend. „Sicher?“ Unverzüglich starrte sie verstört zu ihm hinüber. „Heißt das, dass du manchmal einfach nur so da rum sitzt und einfach nur wo hinstarrst? Man, das muss ja richtig langweilig sein!“, verließ es gleich schockiert ihren Mund. „Und da beschwerst du dich, wenn ich möchte, dass du mir beim Schmücken hilfst?“ Ehe er etwas dazu sagen konnte, betrat Watari den Raum, was ihm alle Aufmerksamkeit einbrachte. „Ein Paket ist für dich gekommen, Shaelyn.“ Shaelyn weitete verblüfft ihre Augen und warf sofort dem Paket in der Hand von Watari einen Blick zu. Wer sollte ihr etwas schicken? Umgehend ging sie zu ihrem Großvater, jener das kleine Paket in der Hand hielt und ihr gleich überreichte. Kaum hatte sie den Karton in der Hand, las sie die Adresse vom Empfänger. Es war ein Paket von Emma! Freudig entfernte sie den Einband – und unter den neugierigen Augen Ls, welcher hinzugetreten war, während Watari still wieder den Raum verließ. Vor Rührung lächelte sie verträumt. Es befanden sich zwei kleinere Geschenke im Karton, da man es gut am bunten Geschenkpapier erkennen konnte. Ein rosa Brief linste an der Seite hervor, den sie gleich heraus zog. Auf dem Brief befand sich ihr Name in Schönschrift. Ganz wie es aussah, war es Emmas Schrift, da es nicht maschinell geschrieben wurde. Mit dem Brief in der Hand und dem Paket im Anderen, ging sie zum Couchtisch, machte sich ein wenig darauf Platz und setzte sich auf den flauschigen Teppich davor – ignorierte sie dabei L vollkommen. Ihr Blick war nur noch fixiert auf den Brief vor sich, den sie langsam öffnete. Gleich las sie was darin stand: ~ * ~ Hi, meine süße Shaelyn! Überrascht, was? Ich habe dir extra nichts davon erzählt, damit du dich freust, wenn das Paket ankommt. Jetzt weißt du auch, wieso ich deine Adresse so genau haben wollte, hehe. Wie du siehst, sind zwei Geschenke im Karton. Sorry, dass es nur so kleine sind, aber auf die Schnelle ließ sich nicht so Schönes finden, da es so knapp vor Weihnachten ist. ( Da sind die Kaufhäuser schon fast leer gekauft! ) Übrigens, eins ist von mir und das andere von Joel. Er meinte, wenn ich dir schon was schenke, dann möchte er das auch. Ich sagte doch, er ist nett. Er scheint dich auch zu mögen... Aber noch was, zu jedem Geschenk liegt noch ein kleines Kärtchen. Erst lesen, wenn es Zeit ist die Geschenke auszupacken! Also am 25ten! Wehe du machst sie vorher auf, sonst gibt’s Ärger! Sorry auch, dass ich über die Weihnachtstage nicht da bin und mir dein, wahrscheinlich verweintes, Danke nicht anhören kann, weil du so aus dem Häuschen bist. Ich weiß, dass du jetzt bestimmt grinst. Hehe, ich kenn' dich doch. Achja! Ich gebe dir allerdings die Gelegenheit dich gebührend zu bedanken. Ich würde dich nämlich gerne zur Silvesterparty einladen! Ein paar Freunde von mir kommen, die dich bestimmt auch so schnell gern haben, wie ich dich. Also sag mir doch Bescheid. Egal, wir sprechen uns eh spätestens an deinem Geburtstag! Ja, den hab ich auch nicht vergessen! Immerhin ist er doch auch so kurz nach Weihnachten. Alles liebe, Emma P.S.: Auch noch einen schönen Gruß von Joel. P.P.S.: Halt den Brief weit genug weg! Sonst schwimmen die Buchstaben gleich davon! :P ~ * ~ Schluchzend, ganz wie es Emma vorausgesehen hatte, tropfte schon die erste Träne auf das Papier. Sie hätte nie mit so einem lieben Brief gerechnet. Nein, nicht einmal mit dem Paket! Und dann auch noch ein Geschenk von Joel! Sie kannte ihn doch erst einen Tag und schon bekam sie was von ihm geschenkt. Das war wirklich unheimlich nett. „Wer ist Joel?“, war eine dunkle Stimme über ihr zu hören und sie zuckte augenblicklich heftig zusammen. Direkt wandte sie sich mit dem Oberkörper halb herum und erblickte die großen, unschuldigen, Augen von Rue, jener sich auf das Sofa hinter sie gehockt hatte und ihr über die Schulter geblickt hatte. Wie dreist! „Der Brief war für mich! Nur ich sollte ihn lesen!“, meckerte sie gleich unhaltbar und erhielt nur ein weiteres stumpfes Gesicht von ihm. „Diese Emma ist gut. Sie weiß dich genau einzuschätzen. … Wobei, das ist auch keine Kunst.“, setzte er zuletzt nachdenklich nach und legte seinen Daumen am Mund. „...“ Shaelyn fehlten die Worte, stattdessen waren ihre Lippen einen Spalt weit geöffnet. „Aber mich würde nach wie vor interessieren, wer Joel ist.“, hakte er nun ernst nach, bekam jedoch unvermittelt einen wütenden Blick geschenkt. „Jemand, der nett ist! Du bist viel zu neugierig, ja!? Man liest doch nicht einfach Briefe, die einem nicht gehören! Aber bevor du wieder wo schnüffeln gehst, kann ich dir gleich sagen, dass es der Bruder von Emma ist. Ich hab ihn letztens kennengelernt.“ „Der dir sofort Geschenke macht?“, verhörte er sie augenblicklich, was ihr gar nicht passte. „Na und? Dir kann es doch egal sein.“ Gerade das war es nicht. Ihm gefiel es nämlich überhaupt nicht. Zwar war hier anzunehmen, dass es tatsächlich ein normaler junger Mann war, da alleine die Sachlage anders war, dennoch störte es ihn. Es war schon zu offensichtlich für L. Man schenkte nicht belanglosen Leuten, die man erst, so wie es aussah, einen Tag kannte, Geschenke. Für Frauen mochte das zwar sehr gut zutreffen, aber ein vor allem junger Mann tat es nicht ohne Hintergedanken. Somit schrillten bei L Alarmglocken – wenn wohl nicht aus demselben Grund wie damals. „Keine Antwort darauf? Komisch. Trotzdem sollst du nicht einfach mitlesen, immerhin bist du ja nur ein Freund. Und nicht mein Freund, weil der könnte sich ja in mein Privatleben einmischen.“, meinte sie gelassen und auch ein wenig frech in seine Richtung, ehe sie sich erhob und den Karton hoch hob. L verfolgte sie mit seinen schwarzen Pupillen aufmerksam, zuckte sein Mundwinkel einmal kurz. „Du hast Recht. Ich bin nur ein Freund.“ Shaelyn schien den gewissen Unterton, der sich eingeschlichen hatte nicht bemerkt zu haben, da sie den Karton ungestört auf eine Kommode stellte und sich wieder daran machte den Baum zu schmücken. Er war unaufmerksam gewesen, was sie zu seiner Erleichterung nicht richtig mitbekommen hatte. Er konnte gerade schlecht seinen Unmut unter Kontrolle halten: L wollte wissen, wer dieser Joel war, der wohl Shaelyn den Hof machte. Kapitel 23: Weiße Federn ------------------------ Ganz ohne seine Hilfe schmückte Shaelyn den Baum. Man musste kein Experte sein, um zu erkennen, dass sie völlig abwesend war. Nicht einmal fragte sie, ob er nicht den Rest mit ihr schmücken wollte – was gerade darin bestand das Lametta zu verteilen. Willkürlich streute sie die silbernen Glitzerstreifen über den Baum, behielt stets ein Lächeln auf ihren Lippen. Das alles war eine Tatsache, die L ungern hinnahm. Er war quasi abgeschrieben. Von einer Sekunde auf der anderen schien er überflüssig. Und stieß ihm der Gedanke sauer hoch, weshalb er nun genau missmutig war. Vor lauter Verstimmung hatte er sich bereits in seinen Sessel gesetzt und überdachte ein paar Punkte, behielt jedoch Shaelyn immer im Blick. Ihm war selbstverständlich längst klar, was sich hier abspielte. Das Störende daran war nur, dass er es nicht kontrollieren konnte – er war dem ausgeliefert. „Meinst du, Opa hat was dagegen, wenn ich an Silvester fort bin?“ L zog eine Augenbraue an, da sie ihn aus den Gedanken riss. Anscheinend war er doch nicht ganz abgeschrieben – gefiel ihm nur wiederum dieses Thema nicht. Und es bestätigte nur, dass sie sich darüber den Kopf zerbrach. „... Nein.“, verließ es in einem gewissen Abstand auf ihre Frage hin seinen Mund, woraufhin Shaelyn sich zu ihm herum wandte. Sie sah konfus aus. „Jetzt sag mir nicht, dass du aber was dagegen hast, weil etwas passieren könnte? Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Außerdem ist es nur Emma und ein paar Freunde von ihr.“ Ls Mundwinkel zuckte einmal. Er widerstand dem Drang nach Joel zu fragen. Die Wahrscheinlichkeit war nicht gering, dass er auch anwesend wäre. Demnach konnte er es sich also sparen nachzuhaken. Zudem würde er sich nur verdächtig machen. In dem Fall konnte er kein Risiko eingehen. „Ich werde auch schon nichts Trinken...“, sprach die Engländerin ein weiteres Thema an, das ihm bis dato nicht in den Sinn gekommen war – und ihn nun ebenfalls alarmierte. Er wusste, dass Menschen, die unter Alkoholeinfluss stehen, recht enthemmt sind. Dem hinzu war klar, dass sie etwas Trinken würde. Der Gruppenzwang war nicht zu unterschätzen. Oder jemand wollte sich einfach nur einen Spaß erlauben und Alkohol unbemerkt ins Glas schütten. „In dem Fall wirst du nicht auf diese Party gehen können. ...“ Shaelyn öffnete augenblicklich ihren Mund um zu protestieren, als L ruhig fortfuhr: „Es sei denn, ich werde mit dir die kleine Party besuchen. Diese Emma wird sicherlich nichts dagegen haben.“ Er klang gelassen, was er innerlich nicht war und Shaelyn sichtlich nicht angetan. „Was?! Hast du sie noch alle?! Du kannst dich doch nicht einfach selbst einladen! Außerdem hab ich doch gesagt, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin! Ich kann auf mich selbst aufpassen!“, donnerte sie entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie ihn böse anfunkelte. L ließ das kalt, nahm er nun sogar vom Tisch Süßes, das er sich nebenbei einverleibte. „Versteh' mich nicht falsch, Shaelyn.“, begann er klar, kaute jedoch währenddessen auf der süßen Masse im Mund herum. „Aber ich kann mich an durchaus Situationen erinnern, in denen du das auch behauptet hast und im Nachhinein nur Probleme verursacht hast. Folglich: Ich werde dich begleiten, oder du wirst hier bleiben. Du darfst entscheiden.“ Abschließend schluckte er noch gleichmütig sein Essen hinunter und leckte sich über seinen Daumen. Spätestens jetzt hätte sie sich auf Rue gestürzt! Wenngleich nicht, weil sie in ihn verliebt war, sondern weil er unfassbar respektlos war! Sie kochte vor Wut! Rue konnte sich doch nicht in wirklich alles in ihrem Leben einmischen! „Was ist das denn für eine bescheuerte Wahl?!“ „Freust du dich denn nicht, dass ich dich begleite?“, stellte er gleich eine Gegenfrage, die sie kurzzeitig sprachlos machte und dabei zusah, wie er sich lässig vom Sessel erhob und auf sie zu schlurfte. „... Du hast einen Knall...“, meckerte sie immer leiser, da er zu ihr trat. Der Zorn in ihr war kaum zu bändigen, mischte sich nur etwas Anderes darunter. Außerdem wollte sie sich nicht unterkriegen lassen! Nur weil sie ihm verfallen war, hieß es nicht, dass er sich alles erlauben konnte! „Ich beschwer' mich bei Opa!“ „Er wird mir in diesem Punkt zustimmen.“, meinte Rue ohne Emotion, der plötzlich eine Hand aus der Hosentasche holte und ihrem Kopf nahe kam. Völlig hin und her gerissen, was sie sagen und überhaupt reagieren sollte, stand sie still. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr Kopf rebellierte als sie merkte, wie an einzelnen Haarsträhnen gezogen wurde. Irritiert starrte sie Rue entgegen, der sein Augenmerk auf seine Hand gerichtet hatte. Schon eine Sekunde später hielt er ihr Lametta vor die Nase, welchen er offensichtlich aus ihrem Haar gefischt hatte und nun achtlos zu Boden segeln ließ. „Für dich noch einmal deutlich: Entweder du wirst mit mir gehen, oder du wirst hier bleiben müssen. Das überlasse ich dir.“, stellte er sie final vor die Wahl – und das auch noch mit einem kleinen aber siegreichen Grinsen. Hatte sie denn eine Wahl? Mürrisch hatte sich Shaelyn nach diesem, mehr oder weniger, Gespräch, in die Küche verzogen, wo ihr Großvater gerade dabei war Essen vorzubereiten. Sie hatte Rue bisher nie erblicken, oder aber hören können, wenn Watari dabei war Essen zu kochen. Lag es vielleicht daran, dass er sonst kein normales Essen aß und deshalb die Küche zu der Zeit mied? Shaelyn wusste es nicht, aber sie wusste es zu nutzen, indem sie sich genau dann in die Küche begab – auch wenn der Gedanke unnötig war, denn immerhin verfolgte Rue sie nicht. Ihr Großvater war überrascht sie zu sehen, woraufhin Shaelyn nur mit der Hand abwinkte. Watari verstand sie sofort mit einem Lächeln im Gesicht. Direkt setzte sie sich an den Küchentresen und beobachtete für ein paar Minuten ihren Großvater still, ehe sie die Luft einmal laut ausstieß. „Opa.“, begann die Schwarzhaarige, als sie sich mit den Ellbogen auf dem Tresen abstützte. „Dürfte ich auf die Silvesterparty von Emma? Sie hat mich eingeladen.“, stellte Shaelyn umgehend die Frage und wollte somit sich selbst anhören, ob ihr Großvater etwas dagegen hatte – ohne, dass er vorher mit Rue darüber sprach. Watari wandte sich vom Herd ab, sodass man nun gut seine Schürze erkennen konnte, die er stets trug, wenn er Essen zubereitete. Er war ein sehr ordentlicher und sauberer Mensch. Wen wunderte es also ihn so zu erblicken? „Wenn du möchtest, darfst du gehen, Shaelyn. Das Mädchen scheint sehr nett zu sein.“ Diese lieben Worte von Watari zauberten ihr gleich ein Lächeln ins Gesicht. Sie fühlte sich erleichtert. „Sie ist auch total nett! Es kommen sogar auch ein paar Freunde von ihr. Emma meinte, dass die mich bestimmt auch so schnell gern haben würden wie sie.“, erzählte nun Shaelyn begeistert. Ihre Laune besserte sich. Das tat sie für gewöhnlich, wenn die Engländerin mit ihrem Großvater sprach. Er war immer freundlich zu ihr und half ihr wo er auch konnte. „Aber Opa.... wieso ist Rue so gemein?“, wechselte Shaelyn dann recht schnell das Thema, da die Worte des Schwarzhaarigen sie einfach nicht in Ruhe ließen. Würde Watari es ihr wirklich nicht erlauben, wenn er nur kurz mit ihm sprach? Wieso respektierte ihr Großvater so sehr die Worte von Rue? War er denn irgendein besonderer Mensch, dem man so viel Anerkennung zollen musste? Soweit sie wusste ganz bestimmt nicht. Watari sah plötzlich überrascht aus, was Shaelyn kurz selbst verwunderte. „Was ist denn vorgefallen?“ „Er sagte, dass du mir nicht erlauben würdest zur Party zu gehen. Er vertraut mir überhaupt nicht! Er denkt, ich trinke und mach sonst was! Der will sogar einfach mit dahin, obwohl Emma ihn gar nicht eingeladen hat. Das ist unfair!“, klagte sie gekränkt und auch zuletzt etwas verstört, da Watari begann zu lächeln. Wieso lächelte ihr Großvater nun? Sie konnte seine Reaktion nicht verstehen. „Keine Sorge, Shaelyn. Ryuzaki ist nur um dein Wohlergehen besorgt.“, erwiderte der alte Mann freundlich auf ihre Worte hin, während sein Lächeln nicht nach ließ. „Ahja... ? Ist gar nicht nötig... Ich meine, Emma ist doch da und ihr netter Bruder. Ich glaube, denen kann man auch vertrauen...“ Watari zog sofort eine der beiden Augenbrauen hoch. „Weiß Ryuzaki von dem Umstand, dass Emma und ihr Bruder auf dich Acht geben, auch Bescheid?“ „Klar. Er hat ja einfach den Brief mitgelesen, den Emma mir geschickt hat! In dem Brief stand nur Gutes. Hat er selbst doch gesehen, dass Joel, also der Bruder von Emma, nett ist. Er hat mir sogar auch ein Geschenk gemacht! Also wieso ist Rue dann so gemein?“ Ein Augenblick blieb es still, ehe Watari sich räuspern musste und dabei eine Faust vor dem Mund hielt. „Ich verstehe.“ Watari verstand nun sogar recht gut, wieso Ryuzaki unbedingt seine Enkelin begleiten wollte. Es ging hier nicht nur darum, ob Shaelyn sich ordentlich benahm. „Sei nicht so streng mit Ryuzaki. Vergiss nicht, dass er sich nur sorgt. Versuche das Gute an diesem Abend zu sehen. Ryuzaki wird dich nicht daran hindern mit Emma und ihren Freunden zu reden.“, beruhigte er seine Enkelin sachte, erhielt daraufhin nur eine Schnute. „Trotzdem... das ist irgendwie doch fies. Er tut echt so, als ob ich sonst was anstelle... Er ist doch nicht mein Babysitter...“ Shaelyn klang traurig. Nur erneut waren Watari die Hände gebunden. „Hm... dann muss ich Emma wohl fragen, ob das überhaupt okay wäre, wenn ich Rue mitbringe.... Er ist ja nun nicht gerade eine Stimmungskanone. Die Anderen würden sich bestimmt eher beklemmt fühlen, wenn so ein verrückter Typ auftaucht.“, sprach sie teils resigniert und lachte trocken auf. Sie würden wohl alle denken, was sie für eine Vogelscheuche mitgebracht hatte. „Egal... ich muss jetzt eh erst seine Belohnung fertig machen. … Ich hab's ja schließlich gesagt und an mein Wort halte ich mich.“ Der alte Herr blickte seine Enkelin verwundert an. Was hatte sie damit gemeint? L knabberte nun schon geschlagene zehn Minuten an ein und demselben Keks, der nicht einmal einen Durchmesser von drei Zentimetern besaß. Er starrte beständig auf die zwei Geschenke, die nun unter dem fertig geschmückten Baum standen. Es war leicht zu unterscheiden welches von Emma kam und welches von Joel. Das Geschenkpapier von Emma war für einen männlichen Geschmack nämlich viel zu rosa und quasi mit Herzchen überschüttet. Somit war das Geschenk, was in dunklem Blau gehüllt war, ihm ein Dorn im Auge. Er wüsste es lieber nicht dort – fragte sich gleichzeitig was sich darin befand. Es gab zu viele Möglichkeiten, somit konnte er kaum etwas genau bestimmen. Was schenkte man Shaelyn? War alleine die Tatsache, dass sie etwas erhielt, nicht schon ausreichend genug für sie? Wäre demnach der Inhalt nicht gleich? L konnte es nicht ganz erfassen, da er selbst schenken und beschenkt werden, für nicht notwendig hielt. Was sollte schon ein Geschenk für einen Nutzen haben? Man zog daraus keine Vorteile, lediglich für einen Moment erfreute man sich daran und stellte es dann höchst wahrscheinlich zur Seite und würde ab diesem Zeitpunkt nicht mehr beachtet. Dennoch ärgerte ihn jetzt der Umstand, dass Shaelyn beschenkt wurde – von einem Mann, den sie erst einen Tag kannte. Und der Gedanke an sich, dass es ihr gefiel und ihm wohlgesonnener war, störte ihn. Seit er von der Existenz dieses Joels wusste, kreisten seine Gedanken nur noch darum. Leugnen war sinnlos. Er konnte sich in diesem Falle nichts Vormachen. L war gehandikapt. Sein Gesicht verfinsterte sich. Er war auf sich wütend. Nicht ein Deut lief so, wie er es vorgesehen hatte. In diesem Moment öffnete sich die Wohnzimmertüre, weshalb seine großen Augen gleich die eintretende Person fixierten, wofür er sich auch im Sessel extra herum drehte. Shaelyn blickte ihn gleich verwirrt an als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Komme ich ungelegen … ?“, verließ es sofort vorsichtig ihren Mund, woraufhin seine Mine sich veränderte, auch da ihm das Tablett aufgefallen war, was Shaelyn vor sich trug. Ein silberner Deckel verhinderte jedoch weitere Einsicht was sich auf dem Tablett befand. „Nein.... Was gibt’s?“ „Na, deine Belohnung.“, schnitt Shaelyn nun mit einem bedächtigen Lächeln an. Sofort hellhörig geworden, hob er schwach weiter den Kopf an, der nun besser über die hintere Sessellehne zu erkennen war. Sogleich fasste er auch mit den Händen auf die Lehne. Seine Augen lugten neugierig hervor. Die Schwarzhaarige kicherte kurz bei diesem Anblick. „Ich sagte ja, dass ich dir eine Belohnung gebe. Das hab' ich nicht vergessen. Was ich sage, halte ich auch.“ „Was ist darin?“ „Ich würde vorschlagen, dass du den Deckel selbst hochhebst und guckst.“ Wie es aussah, ließ er sich das nicht zwei Mal sagen, da er umgehend aufstand und leichtfüßig über die Lehne krabbelte. Shaelyn stand still als er zu ihr kam und unterdrückte dabei ein Lachen. Also so schnell hatte sie ihn bisher zu nichts gebracht. Außerdem sah er wirklich recht interessiert aus, was man an dem Zeigefinger am Mund wunderbar erkennen konnte. Ja, dieses Mal konnte sie klar sehen was er dachte und empfand. Kaum stand er vor hier, fasste er an den Griff des Deckels und hob diesen hoch. Ein Augenblick blieb es völlig still, in dem Shaelyn Rues Gesichtsausdruck musterte. Und mit Freude stellte sie fest, dass sie ihn abermals verwirrte. Irgendwie mochte sie es, ihn wenigstens ein wenig aus der Fassung zu bringen. „Na? Gefällt es dir nicht? Dabei war ich mir so sicher, dass es zu dir passt!“ Kurz konnte sie sich kein Kichern verkneifen, tat es aber, als er zu ihr aufsah. … Hatte sie ihn verärgert? Sein Blick durchbohrte sie fast. „Weshalb sollte ein Schwein zu mir passen?“ Jetzt lachte Shaelyn doch für einen Moment. „Naja, du bist halt manchmal ein Schwein! Also dachte ich mir, ich bastele dir aus Marzipan ein paar kleine Schweinchen! Ich finde, sie sind mir gelungen!“ L verengte kurzzeitig seine Augen. „Vor allem das rechts außen! Dem hab ich ganz große Augen verpasst! … Oder hätte ich dir lieber Hamster machen sollen?!“ „... Will ich den Grund wissen?“ Und ohne auf seine sarkastischen Worte auch nur zu achten, fuhr sie fort: „Du siehst manchmal auch wie einer aus. Du hast den Mund so vollgestopft,... wie ein Hamster, der sich sein Futter hortet. Hamsterbacken eben! … Ungefähr so...“ Shaelyn plusterte ihre Wangen auf und begann demonstrativ zu kauen, ehe sie paar Sekunden später damit aufhörte. „Gesehen?“, hakte sie noch belustigt nach und erhielt zunächst ein entnervtes Gesicht. „Ja... bedauerlicherweise.“ „Komm schon. Ich werd' dich ja wohl auch mal ärgern können, wenn du das immer bei mir tust! Stell dich also nicht so an und probier' mal ein Schweinchen. In jedem ist eine kleine Überraschung drin!“ Die Skepsis war in seinem Gesicht gut zu erkennen, was auch durchaus so beabsichtigt war. Die kleinen Marzipanschweinchen deuteten auf Geschick ihrerseits hin, allerdings darin noch etwas zu verbergen schien kaum möglich, da sie recht klein waren. Dennoch ging er dem gerne auf den Grund, weshalb er sich das erste Schwein vom Tablett nahm und es in seinen Mund verschwinden ließ – natürlich unter den neugierigen Blicken Shaelyns. Plötzlich weitete er mehr seine Augen. Ein anderer Geschmack dominierte in einem Mal in seinem Mund, der sich herrlich mit dem Marzipan vermischte. Vanille... „Na? Schmeckt dir das Schweinchen mit Vanille?! Die mag ich besonders gern...“ Shaelyn lächelte ihm offenherzig entgegen, stellte dabei den Kopf leicht schief, sodass wenige schwarze Strähnen zur Seite fielen. „Hoffentlich magst du Vanille auch?! Also soviel?!“, fragte sie auf einmal panisch und griff das Tablett an den Seiten fester. Sie wusste, dass er es auch aß, aber längst nicht so oft wie andere Süßigkeiten – und er aß schließlich fast nur Süßes. Und es war wirklich viel Vanille darin gestopft worden. Irgendwie hatte sie daran gar nicht gedacht! Doch begann Rue aus unbegreiflichen Grund schwach zu grinsen und blickte ihr dabei direkt in die Augen. „Ich liebe es.“ Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Öffnete sie gleich ihren Mund, verließ nur kein Ton ihre Kehle. Es waren Worte, die sie nie vermutet hatte, dass sie in seinem Wortschatz überhaupt vorkamen. Sie hatte vergessen was sie sagen wollte... Warum sagte in ihr etwas, dass es nicht alles war, was er damit ausdrücken wollte? Ratlos und überfordert schüttelte sie schwach den Kopf, öffnete nur weiter den Mund – aber es fiel ihr absolut nichts darauf ein! „... äh!“, kam dann doch ein Ton über ihre Lippen. Rue hob nur eine Augenbraue fragend an, kehrte seine übliche Mimik zurück. „Warum ... isst du dann so selten Vanille? Hab dich das so selten essen sehen...“, fand sie schließlich doch zu ihrem Verstand zurück und das war das erste, was ihr eingefallen war. „Ich hebe mir das Beste immer bis zum Schluss auf.“ Das Grinsen schlich sich erneut in sein Gesicht, was Shaelyn genau betrachtete. „Rue?“ „Ja?“ „Darf ich nicht doch über dich herfallen?“ Eine Reaktion folgte prompt, da man beobachten konnte wie er stutzte. Darauf schien er nicht vorbereitet gewesen zu sein. „Nein...“ „Schade... Ein Versuch war es wert. Dann lass dir deine Schweinchen mal schmecken! Ich muss noch Geschenke einpacken!“ Überhaupt nicht beeindruckt von seiner Abfuhr, lächelte sie ihm süß entgegen. Hielt sie ihm auch im selben Moment das Tablett hin, was er ihr ohne ein Wort abnahm, seine Augen dennoch auf Shaelyn ließ. „Auch dein Geschenk muss eingepackt werden. Glaub' nämlich ja nicht, dass du keines bekommst.“, meinte sie mit demselben Lächeln und verschwand aus dem Wohnzimmer, was seine schwarzen Pupillen genau verfolgten. Sein Geschenk? Wann hatte sie das gekauft? … Und was sollte diese Frage? Der 24te Dezember war ein besonderer Tag. Viele Menschen feierten ihn fast auf der gesamten Welt. Kaum ein Feiertag war so berühmt und ersehnt. Besonders Kinder erfreuten sich an diesen Tagen. War es doch auch ein Tag der Familien, schweißte es zusammen. So aßen ganze Generationen an einem Tisch. Großeltern, Eltern, Kinder und vielleicht sogar deren Kinder. Ein großes besinnliches Fest. Dieses Fest war für Shaelyn ein wichtiges Ereignis und dieses Jahr war es um einiges schöner. War ihr Großvater da, vertrug sie sich gut mit Rue, den sie damals zu diesem Zeitpunkt kaum gemocht hatte. Einen Augenblick blieb Shaelyn im Gang des Obergeschosses stehen, mit ihr trug sie zwei Geschenke. Was hatte sich seit damals alles getan? Sie war plötzlich ohne Eltern, hatte ein neues Leben beginnen müssen, lernte ihren Großvater kennen sowie auch Rue. Schließlich auch den blonden Jungen, der sie festgehalten hatte... War sie über ein halbes Jahr blind, begriff dabei wie wichtig es überhaupt war zu sehen. Die Welt war eine andere. Kam sie dabei Rue nahe. Erlebte vieles mit ihm, verliebte sich in ihn. Oder war sie schon viel früher in ihn verliebt gewesen? Shaelyn wusste es nicht. Aber all die Erinnerungen an vergangene Tage ließ sie milde lächeln. Sie konnte nicht sagen ob all das Gutes war, wie es bisher verlaufen war. Doch stand sie heute hier. Ging es ihr gesundheitlich wunderbar, wenn auch immer in den ruhigen einsamen Nächten die Gedanken an ihre Familie zurückkehrten. Niemals könnte sie ihren Vater, ihre Mutter oder ihren Bruder vergessen – und das wollte sie auch nicht. Wenn sie an diesem Tag den heilig Abend feierte, dann waren sie gedanklich bei ihnen. Nein, zu jeder Zeit. Zudem war Shaelyn nie wirklich alleine. Ihr Großvater war da und auch Rue. Ob er heute wieder frei nahm? Von was auch immer er sich frei nahm: Der Tag musste für ihn ebenso eine besondere Bedeutung haben. Was sie sich jetzt mehr bewusst wurde, als letztes Jahr. Mit nun einem strahlenden Lächeln, machte Shaelyn sich auf zur Treppe, die sie gleich hinabstieg um zur Wohnzimmertür zu gehen. Jene war schnell geöffnet und die Morgensonne erleuchtete den Raum in sanften Farben. Es war gerade einmal gegen Acht, doch konnte Shaelyn nicht lange schlafen. Sie hätte sich alle Zeit nehmen können – allerdings musste sie einfach die Geschenke, die sie am Vortag verpackt hatte, nun schon unter den Baum stellen. Als sie jedoch durch das Zimmer spähte, fielen ihr zwei Dinge auf. Zum Ersten war Rue nirgends zu sehen und zum Zweiten standen neben Emmas und Joels Geschenk noch ein weiteres. Verblüfft ging sie hinüber, stellte ihre ab und musterte das neue Paket. Es war ordentlich verpackt und in einem roten Papier gehüllt. Ob Rue das war...? Shaelyn verdrehte die Augen. Wahrscheinlich eher nicht. Aber ihr Großvater bestimmt! Da erkannte sie an der Seite ein Kärtchen, was, wie es aussah, an dem ebenfalls roten Bändchen des Paktes hing. Neugierig nahm sie das Kärtchen zwischen die Finger und las den Namen. Es war ihrer in einer alten englischen Schrift, was sie gleich verzauberte. Ein Klacken hallte schwach durch den Raum und sofort wandte sie sich herum. „Ah, du bist schon wach Shaelyn. Einen guten Morgen.“, begrüßte sie Watari freundlich und erhielt von ihr ein Lächeln. „Morgen, Opa. Du hast ein Geschenk für mich? Wieso weiß ich davon denn nichts?“ „Ist es denn nicht die Aufgabe des Geschenks eine Überraschung zu sein?“ Der alte Mann lächelte breiter, woraufhin die Schwarzhaarige kicherte. „Stimmt schon...“ „Möchtest du frühstücken? Dann werde ich das Esszimmer anrichten.“ „Gern... aber darf ich fragen wo Rue ist...? Ich meine, der ist doch normal immer hier oder vielleicht mal in der Küche. Aber selbst der Laptop ist aus und zugeklappt, was er ja eigentlich sonst nie ist.“ Watari hob beide Augenbrauen an. „Oh Ryuzaki hat sich vor einiger Zeit in sein Zimmer zurückgezogen. Er wird sich den Schlaf holen, den er sonst wenig genießt.“ Erstaunt blickte sie nun ihrem Großvater entgegen und setzte sich vom Boden auf. Rue schlief tatsächlich? Und das in seinem Zimmer? Wahrscheinlich auf einem Bett? … Ob sie sich in sein Zimmer schleichen sollte um sich das anzusehen? „Gut, ich komme dann gleich ins Esszimmer. Danke, Opa.“, meinte Shaelyn höflich und kurz darauf verließ Watari schon mit einem knappen Nicken den Raum. Unvermittelt breitete sich ein hämisches Grinsen in ihrem Gesicht aus. Der Plan war sofort gefasst. Sie würde Rue einen Besuch abstatten. Alleine um schon zu sehen, wie er denn schlief! Bei ihm war einfach nichts Gewöhnlich! Nachdem sie erfolgreich die Treppen hinauf tapsen konnte, ohne, dass es zu laut wurde, stand sie im Gang. Denn eigentlich hatte sie keine Ahnung, wo sich genau das Zimmer von Rue befand. Sie wusste das von ihr und ihrem Großvater... aber dann blieben noch vier Zimmer. Unschlüssig biss sie sich auf die Unterlippe. Wohl oder übel musste sie jedes Zimmer absuchen. Womit sie direkt begann und das erste Zimmer nahm, was in der Nähe war. Dieser Raum stellt sich als Niete heraus. So war das Bettzeug nicht benutzt, deutete auch sonst nichts auf einen gebrauchten Raum hin. Und immerhin würde es das wohl bei Rue. Der machte wo er war nur Unordnung. Wäre Watari nicht so ordentlich und erpicht darauf, dass alles seine Richtigkeit hatte und besaß sowie den Ehrgeiz, wäre dieser bestimmt schon verzweifelt. Erneut öffnete sie vorsichtig eine Türe, die zu ihrem verblüffen nicht knarrte. Gleich schon hielt sie automatisch für eine Sekunde den Atem an. Ihr Herz raste augenblicklich vor Aufregung, betrachtete sie für kurze Zeit das Bild was sich ihr bot. Ihr Blick haftete auf dem Bett, wo tatsächlich Rue lag. Das Licht drang ungehindert in den Raum, erhellte Rue, was ihn nicht zu kümmern schien. Lag er auch auf der Decke, nicht darunter, trug er auch noch immer seine üblichen Sachen, als würde er nur ein kleines Nickerchen machen. Zu ihrem Verblüffen jedoch lag er nur auf der Seite und hatte lediglich seine Beine leicht angezogen, mit dem Gesicht jedoch zur Bettkante in der Nähe. Leise schloss sie die Türe hinter sich, als sie hinein trat. Wollte sie unter keinen Umständen Rue wecken, was sicherlich Ärger geben würde. Schließlich, nachdem sie ein paar Zweifel über Bord geworfen hatte, schlich sie sich an das große Doppelbett heran, Rue dabei mit ihrem Blick fixierend. Jede Bewegung konnte bedeuten, dass er aufwachte – dennoch: Shaelyn musste einfach sein Gesicht sehen. Ob er vielleicht einmal einen entspannten Gesichtsausdruck hatte? Eben einen ganz natürlichen Ausdruck. Sie wollte es herausfinden. Das Adrenalin rauschte nur so durch ihren Körper und sie wusste, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte. Doch konnte sie nicht dagegen ankommen: Dem Drang, der viel zu stark war. Es war fast wie eine einmalige Chance – die genutzt werden musste. Aber was würde ihr blühen, wenn sie erwischt werden würde? Eigentlich hatte sie ihm versprochen, dass sie ihn in Ruhe lassen würde. Wenn nicht dieses große Aber wäre... Shaelyn war diesem Drang nicht gewachsen – machtlos der Liebe ausgeliefert. Ganz aus Reflex hielt sie die Luft an, während sie neben dem Bett auf die Knie ging. Allerdings entspannte sie sich gleich als sie in sein Gesicht blicken konnte, das fast von seinen wirren schwarzen Strähnen verdeckt war. Ein verträumtes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, betrachtete dabei weiter die schlafende Gestalt vor sich. Zum ersten Mal konnte sie beobachten, wie die Augen von Rue geschlossen waren und auch wie sonst sein Gesicht wirkte. Gelöst. Das war das einzige was ihr dazu einfiel. Ja, er musste einfach so aussehen. Der Schlaf tat jedem gut und er schlief einfach viel zu wenig. Was machte er auch bloß? Verzaubert lehnte sie sich vor, stützte sich an der Bettkante vorsichtig ab. Sie wollte ihm näher sein. Jetzt, mit diesem Gefühl der Leichtigkeit. Ihn so zu sehen, so dicht zu sein, ohne die Angst er könnte zurückweichen. Zurückweichen vor ihr, den Empfindungen, das was daraus entstehen könnte, wenn er nur zulassen würde. Wild pochte es in ihrer Brust, zeigte es ihr nur weiter auf, was Rue eigentlich alles anrichtete. In ihr, die Welt um sie herum. War sie denn noch zu retten? Sie war auf einem sinkenden Schiff und keiner half ihr vor dem Untergang! In das sie sich selbst manövrierte, da sie einfach nicht von Rue lassen konnte! In dem Fall von seinen weichen Lippen, die sie mit den ihren vorsichtig erreichte, als sie sich nur weit genug vorbeugte und den Kopf etwas schief stellte. Dieser Mann hatte etwas an sich, dass sie verrückt nach ihm machte – und den restlichen Verstand den sie besaß zunichte machte. Wie sollte man sonst erklären, dass sie wieder kopflos sich in Etwas verrannte? Es war nur ein sanfter Hauch, da sie nicht wagte weiter zu gehen. Reichte allein das schon aus, dass der Schmetterlingsschwarm in ihrem Bauch losbrach und sie weiter träumen ließ. Ein Traum, in dem auch er den zärtlichen Kuss erwiderte. Gab es denn kein Erbarmen mit ihr? War sie doch nur eine verlorene Seele, die nach Liebe verlangte. Wenn es einen Gott gab, so schien er ihr Flehen zu erhören. Fühlte sie einen milden Gegendruck, den sie nicht einordnen konnte. War sie jetzt tatsächlich am Träumen? War es die Realität? War das nicht egal? Rue erwiderte ihre Berührung in gleicher Zärtlichkeit und sie glaubte weit weggetragen zu werden. Einen Ort, der fernab jeder Wirklichkeit lag – und das Gefühl, dass es tatsächlich so passierte, festigte sich. Könnte er denn ihren Kuss erwidern? Er schlief, nicht wahr? Dieser Gedanke holte sie auf Anhieb ins Jetzt zurück. Öffnete sie gleich ihre Lider, die sie geschlossen haben musste, während sie begann davon zu schweben. Doch erblickte sie nicht seine dunklen Augen und dennoch spürte sie nun deutlich, dass er zurück küsste. Erschrocken zog sie plötzlich ihren Kopf zurück und hielt sich ihre rechte Hand vor dem Mund. Augenblicklich wurde sie rot im Gesicht und starrte auf Rue, der immer noch so aussah, als würde er schlafen. Als er sich dann jedoch regte, sprang sie panisch auf, was nicht ganz funktionierte und so ein paar hastige Schritte auf allen Vieren tat, ehe sie sich aufrichten konnte und aus dem Zimmer stürmte. Sie durfte bloß nicht erwischt werden! Und war das wirklich gerade echt gewesen?! L hatte sich auf den Rücken gedreht und die Beine angewinkelt, während er nun an die Decke des Zimmers starrte. Mit seinem Zeigefinger fasste er sich an den Lippen, welche er nachzeichnete und ein Grinsen trugen. Hochrot war Shaelyn in das Esszimmer geeilt, wo bereits ihr Großvater auf sie gewartet hatte. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie verschämt war. Das war ihr selbst klar und deshalb noch ein größeres Rätsel, wieso Watari nicht danach fragte.... Ob er es sich bereits dachte? Besser sie aß jetzt. Am Mittag saß Shaelyn im Wohnzimmer und drehte nervös Däumchen. Der Fernseher war eingeschaltet und doch blickte sie durch den Bildschirm hindurch, als sie wirklich achtete was sich dort Vorn abspielte. Es war klar worüber sie nachdachte und immer mehr staute sich die Aufregung, wenn sie daran dachte Rue wiederzusehen. Was sollte sie tun? Einfach abwarten, bis er was sagte? Ob er sie darauf ansprach, wenn er es doch mitbekommen hatte? Und warum um alles in der Welt hatte er ihren Kuss erwidert?! Verstört fasste sie sich an den Kopf, der bereits dröhnte. Seit diesem Vorfall hatte sie an nichts anderes denken können! Wobei die eine Frage sie mehr quälte, als all die anderen! War es denn möglich, dass er es einfach so getan hatte im Schlaf? Eben wie eine Reaktion? Träumte er etwas? Träumte er überhaupt?! Und wenn, was könnte das sein? … Von ihr wohl weniger. Oder war er wach gewesen? … Nein, sicherlich nicht. Dann hätte sie bestimmt Ärger bekommen und er hätte zu ihrer Sicherheit nicht erwidert. Das machte alles gar keinen Sinn! Und wieso musste sie ihn eigentlich immer, sobald die Gelegenheit sich bot, küssen?! Sie musste krank vor Liebe sein. War man wirklich so unzurechnungsfähig wenn man richtig verliebt war? Sie wäre wohl das beste Beispiel. In ihren Gedanken völlig versunken, bemerkte sie nicht, wie sich die Wohnzimmertüre öffnete und jemand das Zimmer betrat. Diese gewisse Person ging still durch den Raum und setzte sich einfach auf das Sofa, auf dem auch Shaelyn saß und gerade den Kopf festhielt, als würde er ohne ihr Festhalten einfach hinunter fallen. „Kopfschmerzen?“, fragte eine sehr wohl bekannte Stimme locker, was Shaelyn gleich herum fahren ließ. Ihre grünen Augen starrten den Schwarzhaarigen ein paar Sekunden still an, bevor sie panisch von ihm wegrückte, sodass sie an die Lehne des Sofas stieß. Ihre Augen waren weiterhin weit aufgerissen und ihr Brustkorb hob und senkte sich stoßartig. „Wo kommst du denn her?!“ „Aus dem Bad.“, folgte es weiterhin gelassen, woraufhin sie einige Male verstärkt blinzelte. In ihr tobte ein Orkan, den sie erst beruhigen musste. Natürlich sah sie, dass er aus dem Bad kam! Das war nicht zu übersehen, da seine nassen Haare einfach alles voll tropften. „... Das sehe ich.“ „So? Dann frage ich mich, warum du das wissen willst.“ Shaelyn verengte ihre Augen und musterten Rue scharf. Sein Verhalten war nicht anders als sonst, was doch nur heißen konnte, dass er nichts mitbekommen hatte. Oder? Er wirkte wie die Ruhe selbst und bediente sich gleich an den Süßigkeiten, die immer auf dem Couchtisch bereit standen. „Du... warst den ganzen Morgen nicht da...“ „Gut erkannt.“ Nun etwas verärgert über seine Antwort, die vor Sarkasmus nur so stank, rutschte sie näher und riss ihm den Lutscher aus der Hand, den er bereits von der Verpackung gelöst hatte. „Ey!“, meckerte sie. „Ich bin nicht doof. Ja?“ Der gewünschte Effekt, die Aufmerksamkeit von Rue zu erlangen, scheiterte jedoch. Dieser starrte kurz auf seine leere Hand, ehe er sich einen weiteren Lutscher vom Tisch nahm – erst dann blickte er zu Shaelyn hinüber, die schon eine verärgerte Schnute zog. „Weshalb so gereizt? Der Tag hat doch so gut begonnen...“ Rue grinste ihr nun entgegen und stopfte sich den Lutscher in den Mund, welcher natürlich vorher vom Einband entfernt worden war. Und er lag bei seiner Vermutung richtig, dass sie nun verlegen den Kopf wegdrehte und kein Wort darauf antwortete. Wahrscheinlich war sie nun ohnehin am Rätseln, was genau er damit alles meinen könnte. Zufrieden schleckte er an der Süßigkeit und beobachte sie weiter ungeniert. Selbstverständlich würde er ihr nicht sagen, dass er spätestens dann wach war, als sie sich zu ihm gekniet hatte. Schließlich hatte er daraus seinen Vorteil ziehen können, ganz ohne auch nur einen winzigen Verdacht aufkommen zu lassen – und zugegebenermaßen hatte er der Verlockung nicht widerstehen können. „Äh,... ja.“ Shaelyn kicherte unsicher auf, wandte sie sich ihm noch immer nicht zu. Selbst von der Seite konnte man ihre Röte nicht übersehen. „Wie... wie haben dir die restlichen Schweinchen denn gestern geschmeckt? Wir haben uns ja nicht mehr gesehen.“ „Gut.“ Nun riskierte sie doch einen flüchtigen Blick, da sie mit der Antwort – wie erwartet – nicht zufrieden war. „Gut? Geht es vielleicht ein wenig genauer?“ „Sehr gut.“, verließ es daraufhin seinen Mund mit einem kleinen Grinsen, das ihr nicht entging. Ihre Farbe im Gesicht nahm ab, schien sie nun wieder verärgert zu sein. „Wie war das mit den Wolken und dem Himmel?“, schnitt sie ein altes Thema an, während sie sich ihm wieder zuwandte. L hob eine Augenbraue an. „Die Marzipanschweine waren zart rosa. Das solltest du allerdings selbst gesehen haben. Was das aber mit dem Geschmack zu tun hat, ist mir nicht ganz klar.“ „Nargh!“, stieß sie teils wütend und verzweifelt aus, dabei zwei Fäuste ballend. „Das machst du mit Absicht! Du bist dran!“ L riss seine Augen in Schock auf, als sie sich wie eine Verrückte auf ihn stürzte und ihn auf das Sofa umwarf. So schnell er konnte packte er ihre Handgelenke, zerbiss dabei den Lutscher zu seinem Bedauern im Mund, und hielt Shaelyn halb in der Luft von sich fern, währenddessen sie halb auf ihm lag. Man konnte ihr rachsüchtiges Grinsen nicht übersehen. In diesem Moment betrat Watari das Wohnzimmer, jener in der Bewegung inne hielt und die Szene betrachtete – in seiner Hand ein Telefon haltend. Beide schwarzhaarige Köpfe drehten sich ihm zu, wobei L mehr den Kopf verdrehen musste. Der alte Mann hob das Telefon an sein Ohr. „Ich fürchte, Sie müssen später noch einmal anrufen. Ich werde meiner Enkelin ausrichten, dass Sie angerufen haben.“ Zu Ls und Wataris verblüffen ließ Shaelyn blitzartig vom Detektiven ab. „Ist das Emma?!“, rief sie gleich. „Nicht auflegen!“ Umgehend eilte sie zu ihrem Großvater und er reichte ihr das Telefon. „Emma?!“ „Ach, du bist doch zu sprechen?“, kicherte die Amerikanerin belustigt, während man im Hintergrund mehrere Personen lachen hörte. Emma rief sie wohl gerade von der Verwandtschaft an die das Fest ausgelassen feierten. „Ja... ich... schon gut.“, begann Shaelyn etwas verwirrt und blickte dabei ihren Großvater nach, der den Raum mit einem Lächeln verließ. „Frohe Weihnachten! Ich konnte mich gerade kurz davon drücken. … Du hast doch mein Paket bekommen?“ Begeistert nickte Shaelyn aus Reflex, was allerdings nur L erkennen konnte, der dies natürlich genau beobachtete. „Ja! Und dir auch frohe Weihnachten! Ich freue mich schon auf dein und Joels Geschenk. Kannst du ihm auch frohe Weihnachten von mir wünschen?“ „Mach das doch selbst. Der hat sich auch verdrückt, weil die Familie manchmal echt anstrengend ist. Also ich ruf dich eh die Tage noch mal an. Bis dann!“ „Danke!“, rief sie noch nach und hörte schon, wie der Besitzer des Telefons wechselte. „Hi?“, kam es unsicher vom anderen Ende der Leitung. „Hi, Joel.“, antwortete sie gleich freundlich, strich sich dabei eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich... wollte mich für dein Geschenk bedanken.“, lenkte sie nun betreten ein. „Kein Ding. Ist auch nicht groß. Hoffe es gefällt dir trotzdem.“ Unterdessen Shaelyn telefonierte, näherte sich L unbemerkt. „Ist doch nicht schlimm...“, lachte sie leise und spürte gleich, wie ihr das Telefon aus der Hand gezogen wurde. Unvermittelt wandte sie sich um und stierte dem Schwarzhaarigen ins Gesicht. Jener nun das Telefon an sein Ohr hielt und ihr dabei unverhohlen in die Augen starrte: „Shaelyn ist beschäftigt und hat daher leider keine Zeit mehr.“ Kaum war das gesagt, legte L auf – ganz unbekümmert, als wäre das sein gutes Recht gewesen. „... Was... was geht denn jetzt ab?!“, stotterte sie konfus und presste kurzzeitig ihre Handflächen an die Wangenseiten. Sie sah verzweifelt aus. Bei so viel Unverschämtheit fiel ihr einfach rein gar nichts mehr ein. „W-Wo bin ich denn beschäftigt und hab keine Zeit mehr?! Und überhaupt! Du machst mich verrückt! Bald lande ich in der Irrenanstalt!“ L war sich keiner Schuld bewusst und präsentierte sich dementsprechend. Zog dann unbefangen etwas aus seiner hinteren Hosentasche und hielt es Shaelyn vor die Nase, sodass sie die kleine durchsichtige Schachtel anstarrte. „Wa... Ein Kartenspiel...?“, folgte es prompt. Ihre Gedanken überschlugen sich. „Richtig. Du schuldest mir noch da noch etwas. Oder hast du dein Versprechen vom letzten Jahr bereits vergessen?“ Umgehend durchforstete Shaelyn ihr Gedächtnis, ehe sie sich an ein vages Versprechen letztes Jahr tatsächlich erinnerte. Sie stöhnte entnervt auf. Nein! Dann verlor sie ja wieder die ganze Zeit! Doch dann begann sie schwach zu grinsen. Vielleicht ja doch nicht. Direkt ergriff sie die Kartenschachtel. „Okay! Aber wehe du machst so was wie gerade noch mal, sonst … sonst wirst du dich noch umgucken!“, drohte sie ihm zuletzt entschieden. Ob L ihre Drohung ernst nehmen sollte? „Ach ja. Neues Spiel und andere Regeln...“, meinte sie anschließend listig und kassierte umgehend einen skeptischen Blick von L. Joel blickte auf das Telefon, das nur noch piepste. Wer zur Hölle war das eben gewesen? „Hey, was is' los?“, fragte ihn gleich seine Schwester, woraufhin er sie ansah. „Da war ein Typ am Telefon, der mich abgewimmelt hat. Ganz plötzlich während ich noch mit Shaelyn sprach.“ Emma zog beide Augenbrauen hoch. „Ein Typ? … Der dich abgewimmelt hat?“ Ein breites Schmunzeln trat in ihr Gesicht. „Ach, das war nur ihr verrückter Mitbewohner. An den muss man nichts Normal finden. Der ist von Natur aus seltsam. Vor dem gehst du alleine schon beim Anblick rennen. Der sieht aus wie eine Leiche...“ „Aha... Das ist aber nicht unbedingt beruhigend...“, meinte der Brünette nur und wurde im nächsten Moment feste auf dem Rücken geklopft. „Mach' dir keinen Kopf. Die süße Shaelyn wirst du noch oft genug sehen. Und spätestens an Silvester...“ Emma zwinkerte ihrem Bruder zu und verschwand durch die Tür. Warum wusste seine Schwester immer genau Bescheid? Die musste ein Ventil dafür haben. „Also unser Spiel heißt: Einundfünfzig.“, begann Shaelyn, nachdem sie es sich auf dem weichen Teppich neben dem Tisch bequem gemacht hatte. Ihr gegenüber hockte Rue, der aufmerksam zuhörte. „Das ist ein Kinderspiel, also ziemlich leicht. Außerdem musst du ziemliches Glück haben um zu gewinnen.“, fuhr sie fort und packte die französischen Karten aus. Dann eröffnete sie ihm auch gleich die Regeln und erklärte jede Karte einzeln. Nachdem sie das getan hatte, mischte sie den Stapel gut durch. „Aber.“, schnitt sie auf einmal an. „Diesmal will ich eine Liste führen. Wir spielen 15 Spiele und wer die meisten gewonnen hat, der darf etwas vom Anderen verlangen. Klar?“ L stellte den Kopf leicht schief und kaute vermehrt auf seinem Daumen. Misstrauisch musterte er das Gesicht von Shaelyn, die ein Grinsen im Gesicht trug. Er hatte gleich gewusst, dass etwas Ungewöhnlich war. „Keine Sorge. Ich verlange nichts von dir, dass du was mit mir machen musst, okay? Eigentlich kannst du gar nicht verlieren...“ Dennoch alarmierte ihn das nun raffinierte Grinsen ihrerseits. Das nicht verlieren klang verlockend, allerdings musste dabei ein Haken sein. Sie verfolgte einen Plan – auch wenn dieser nicht beinhaltete ihr bestimmte Wünsche zu erfüllen. Zudem musste sie sich sehr sicher sein, dass sie dieses Spiel beherrschte – oder sie war naiv genug zu glauben, dass Glück wäre auf ihrer Seite. Jedes Spiel hatte einen Trick und den würde er schnell durchschauen. Verlieren war ausgeschlossen. „Was ist jetzt? Stimmst du zu?“, hakte sie kampfbereit nach. „In Ordnung.“, erwiderte schließlich L locker. Er sollte sich schon einmal überlegen was er Shaelyn machen lassen sollte. „Super, dann hol ich noch eben ein Blatt Papier und einen Stift.“ Das Spiel konnte beginnen. Man spürte die Spannung, die im Raum längst Einzug gehalten hatte. Jeder war geistig ganz auf das Spiel fixiert. Keiner duldete eine Unaufmerksamkeit – zu Recht, denn war der Spielstand knapp. Nachdem Shaelyn die ersten Spiele regelrecht im Sturm gewann, ließ ihre Glückssträhne nach. Und immer mehr provozierte sie sein Grinsen, das pro gewonnen Spiel zunahm. Sie hätte es wissen müssen. Man sollte Rue nicht herausfordern und gleichzeitig eine Belohnung auf das Gewinnen aussetzen. Shaelyn lernte es nicht: Rue durfte man schlicht nicht reizen. Dennoch wollte sie sich kämpferisch zeigen – nein sie war nur naiv. Das traf es mit dem Nagel auf den Kopf, wenn es ganz nach L ging. Der Stand war nervenaufreibend. Sieben zu Sieben. Gleichstand und diese Runde entschied es. Den endgültigen Sieg, oder die Niederlage. Auch wenn Shaelyn sagte, dass es nichts zu verlieren gab. Obwohl sie langsam unsicher wurde was diese Ansicht betraf. Was könnte Rue sich alles ausdenken? Er war ein großer Denker und ihm fiel sicher etwas Schlimmes für sie ein. Als Rue dann eine Karte ablegte und sie eine neue vom Stapel nahm, glaubte sie ihren Augen kaum. Das war genau die passende um den Wert zu vervollständigen! Umgehend warf sie den Buben auf den aufgedeckten Kartenhaufen und schrie: „51!“ und das dermaßen in Freude, dass sie ihre restlichen Karten in die Luft warf. „Gewonnen! Ich hab gewonnen! Jawohl!“, jubelte sie unter dem Kartenregen. Direkt hob sie ihren Zeigefinger an und deutete auf den hockenden Gegenspieler, der nun unerfreulich aussah. „Ich habs dir voll gezeigt! Jetzt tust du alles was ich sage!“ „Ich glaube, du verwechselst da was.“, ließ er seelenruhig anklingen und legte seine restlichen Karten auf den Teppich. Ihr Enthusiasmus wurde abrupt beendet, da sie ihm schockiert ins Gesicht starrte. „Das war abgemacht!“ „Es war abgemacht, dass ich etwas mache, was dich nicht mit einbezieht. Keinesfalls alles.“ Shaelyn verdrehte ihre Augen entnervt. Er nahm es wirklich genau. „Ja, das wollte ich damit ja auch sagen. Ich halte mich schon an die Regeln. Was denkst du von mir?“, meinte sie zum Schluss doch ein wenig enttäuscht. „Ich mache das, was ich sage auch...“ Ein Schmunzeln machte sich unmittelbar in seinem Gesicht breit, was sie verwirrt blicken ließ. Nahm er das etwa nicht ernst? Bisher hatte sie sich doch an alles gehalten... „Schon gut.“, begann er und sein üblicher Gesichtsausdruck kehrte zurück. „Du hast natürlich Recht. Mit meiner Niederlage darfst du dir etwas Aussuchen. Was ist es?“ Shaelyn stellte den Kopf schief. Sie schien stark zu überlegen. „Also eigentlich hatte ich nichts Genaues im Kopf...“, gab sie mit einem kurzen Lachen von sich. „Ich überlege mir noch was... ist das Okay?“ Ihre Aussage verblüffte ihn tatsächlich für einen Moment. Weshalb wirkte sie dann vor dem Spiel so als wüsste sie schon, was sie wollte? Ging es nur alleine um die Gelegenheit? L hatte deutlich anderes erwartet. Allerdings war er sich sicher, dass sie sich etwas Besonderes einfallen lassen würde. Vielleicht sollte er ihr zuvor kommen. „Einverstanden. Gebe mir Bescheid wenn dir etwas Passendes eingefallen ist.“ „Alles klar.“ Shaelyn schenkte ihm ein sanftes Lächeln, sodass er sofort ihre vollen Lippen anstarrte. Nachdenklich hob er seine rechte Hand an und strich sich mit dem Zeigefinger, wie am Morgen zuvor, über die Lippen - was Shaelyn diesmal jedoch sehen konnte und neugierig stimmte. „Ist alles okay? … Hast du was?“, fragte sie augenblicklich, was L aus den Gedanken holte. „Nein.“ Resigniert seufzte die Engländerin auf. „Na gut, … ich räume dann mal hier das Chaos auf.“ Direkt fing sie damit an die Karten aufzuheben – wobei L ihr half. Immerhin hatte er ja die Karten erst mitgebracht und ein Spiel vorgeschlagen. Und es war letztlich keine schlechte Idee, da sie ihm wieder entgegen lächelte. Nachdem das kleine Chaos beseitigt war, betrat Watari das Zimmer – mit einer kleinen Tüte in der Hand und einem breiteren Lächeln als sonst. War das möglich? Am Abend war es fast wie in jedem Haus an diesem Tag. Die Familie saß bei Tisch, der reichlich gedeckt war – nur nicht ausschließlich mit 'normalem' Essen und dass eigentlich nur Shaelyn und Watari eine Blutsverwandtschaft hatten. Dennoch war Rue selbstverständlich mit am Tisch, verputzte ausschließlich nur Süßes und beteiligte sich nur selten am Gespräch, das der alte Herr mit seiner Enkelin führte. Ging es um Alltägliches. Ihr Sehvermögen, das mittlerweile ganz intakt war nur noch von der direkten Sonneneinstrahlung einige Zeit abgeschirmt werden musste. Oder auch das allgemeine Wohlbefinden und das Wetter zu dieser Jahreszeit. Nichts, was große Bedeutung hatte. Smalltalk, wie man es schön nannte – und daher für L ohnehin nicht wichtig genug um sich dazu zu äußern. Es sei denn, Shaelyn fragte ihn explizit, was allerdings kaum vorkam. So ging der Abend ruhig weiter und das Essen endete. Während Watari den Tisch abdeckte, begab sich L zurück ins Wohnzimmer, wohin Shaelyn ihm nach einigen Minuten folgte. Offensichtlich hatte sie ihrem Großvater beim Abdecken geholfen, wurde dann allerdings fortgeschickt, da der alte Mann den Rest alleine machen wollte. Demnach seufzte die Schwarzhaarige als sie die Wohnstube betrat. „Wieso ist Opa so wild aufs Putzen? Und will sich dann nicht weiter helfen lassen?“, klagte sie eher in den Raum, als wirklich an L gewandt, der sich auf dem Sessel eingefunden hatte. Jener zeigte daraufhin auch keine Reaktion, war mit seinen Gedanken mehr beschäftigt als mit seiner Umgebung. „Hey, Rue.“, fragte Shaelyn schließlich direkt, nachdem sie neben ihm trat. Seine Antwort ließ allerdings auf sich warten. „Hm?“ „Du bist schon den ganzen Abend so nachdenklich. An was denkst du?“ „Nichts Besonderes.“ Auch bei dieser Antwort wandte er sich ihr nicht einmal zu, was sie leicht verstimmte. Er mimte wieder den Geheimnisvollen. Was sie verärgerte und gleichzeitig traurig stimmte. Wieso war er nur so rätselhaft? Sie wollte, dass er auch Spaß an diesem Abend fand. Seit dem Kartenspiel schien er nämlich abwesend. „Komm schon. Sag es mir...“, bohrte sie weiter und setzte sich auf die Sessellehne, was er gut wahrnahm, da seine Pupillen kurz zu ihrer Seite wanderten. „Wenn du es mir nicht sagst und mich auch weiter so ignorierst, dann … .“ Auch wenn sie es halb kichernd meinte, so war es ernst. Er sollte besser gelaunt sein. Und ihre Drohung half – zumindest ein wenig, da er seinen Kopf zu ihr drehte. „Dann?“ „Gibt's Ärger mit mir. Du sollst gut gelaunt sein... Und so wie du gerade auf mich wirkst bist du es bestimmt nicht. Also wo ist dein Problem? Vielleicht kann ich dir helfen?“ Immerhin versuchte sie ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie mochte es nicht, wenn er so still war – auch wenn sie ihn dann gerne heimlich betrachtete. „Ich habe kein Problem. Folglich musst du mir nicht helfen.“ Mit diesen nüchternen Worten starrte er abermals geradeaus, was sie nun tatsächlich richtig verärgerte. „Das hätt' ich ja sogar bemerkt wenn ich noch blind wäre! Ich kenn' dich doch jetzt schon ein ganzes Jahr. Da werd' ich doch inzwischen wissen, wenn irgendwas komisch ist.“ Ein volles Jahr, in dem sie nur an ihm hing. Jeden Tag verbrachte sie in seiner Nähe. Ja, sie wusste einfach, wenn etwas anders war. Nur was, das war die Frage. Denn obwohl sie so viel Zeit nur mit ihm verbracht hatte, konnte sie noch immer nicht sagen, was wirklich mit ihm los war. Rue war … wie ein gefrorener See. Wies seine eisige Oberfläche ein paar kleine Risse auf, deuteten auf etwas hin, konnte sie jedoch nie in den tiefen See hineinblicken. Nirgendwo war ein winziger Spalt und die Eisschicht so dick, dass sie, egal wie oft sie versuchte an der Oberfläche zu kratzen, oder zu hämmern – es nicht brach. Warum … ? Würde es denn nie auftauen? „Alles ist bestens. Du solltest -“ Abrupt endete er als einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf spürte. Es schmerzte nicht, da es weich war, aber dennoch genug Wucht inne hatte, sodass er mächtig Mühe hatte seine Balance zu halten; da er ansonsten vornüber gefallen wäre. Umgehend, nachdem er seine Position wieder gefunden hatte, riss er regelrecht seinen Kopf zu ihr herum. Neben ihm eine wütende Shaelyn, die ihre Waffe in der Hand hielt – ihr Kissen, das im normalen Fall immer auf dem Sofa lag, falls ihr nach einem Nickerchen wäre. „Das war aber nicht nett.“, meinte L gleich und musste im nächsten Moment schon nach dem weichen Kissen greifen, da sie erneut zuschlug. „Hast du verdient! Und jetzt loslassen!“ „Nein.“, folgte es, woraufhin sie begann an dem Kissen zu zerren, was L wiederum gut festhielt. Das Resultat stellte sich schnell ein: Erst war ein Reißen von Stoff zu hören, ehe es Shaelyn zum zweiten Mal von der Lehne haute und weiße Federn durch die Luft wirbelten. „Uh... ich glaube, ich sollte demnächst immer einen Helm bei dir tragen...“, kam es trocken von Shaelyn, die sich langsam aufsetzte und sich den Hinterkopf rieb, während sie mit der linken Hand die Federn von ihren Beinen wegstrich. Das war doch nicht normal. Immer erwischte es sie – und immer ihren Kopf. Das konnte auf Dauer nicht gesund sein. „Weiß.“, erklang die Stimme von Rue seelenruhig, weshalb sie zum Sessel aufsah – direkt in das Gesicht von ihm, das zwar in ihrer Richtung gewandt war, aber seine Augen etwas Anderes fixierten. Verwirrt starrte sie hoch, bemerkte gleichzeitig dass er selbst von Federn überschüttet war – genau genommen der gesamte Bereich um den Sessel herum. Aber weiß? Die Federn? Und wohin stierte er denn so gebannt? „Du trägst ein weißes Höschen.“ Ein Satz, der sofort ihr Herz hart gegen die Brust schlagen ließ. Auf der Stelle blickte sie an sich hinunter und konnte ganz ohne Hindernis tatsächlich auf ihre Unterwäsche sehen. Blitzartig griff sie den Saum des Rocks und zog diesen, so weit es ihr möglich war, wieder hinunter. Gleich schon kniff sie ihre Augen zusammen. „Du Schwein!“, rief sie hochrot aus. „Man guckt einer Frau nicht unter den Rock!“ „Leider war es mir nicht möglich wegzusehen. Aber wenn du mich fragst, finde ich die Farbe nicht passend.“ Unverzüglich hob sie wieder ihren Blick und erkannte ein kleines Grinsen seinerseits. Was... bildete er sich eigentlich ein?! „Ich diskutiere doch nicht mit dir über meine Wäsche!“ „Warum nicht?“ Angesichts seines fast nüchternen Gesichtsausdrucks, blieb ihr nichts anderes übrig als ein paar Sekunden schlicht zu starren. „... Die Farbe, oder meine Wäsche allgemein geht dich nämlich gar nichts an.“ Dann fasste sie neuen Mut und grinste ihm frech entgegen. „Es sei denn, du bist mein Freund. Dann darfst du das gern wissen und mit mir darüber reden.“ „Wie ich sagte, die Farbe weiß ist nicht passend.“ Shaelyn, die diese Antwort nicht erwartet hat, da er eigentlich gar nicht auf ihr Gesagtes einging, blinzelte verstärkt. Hätte er nicht sonst sofort etwas dazu gesagt? War das wieder zu viel... ? Offensichtlich verstand Shaelyn seine Worte nicht. Ihr ratloser Ausdruck reichte aus um das sofort zu erkennen. Demnach seufzte er leise und wandte den Blick von Shaelyn ab, da er sich wieder in die gewohnte Position setzte. Somit nahm er nur am Rande wahr, wie sie sich ganz aufrichtete und sich die Federn abklopfte. „Vergessen wir das besser... Aber für die Zukunft glotz mir nicht unter den Rock.“, begann sie recht ernst, fuhr sie allerdings belustigt fort: „Und klopf dir mal die Federn ab! Du siehst aus als wärst du geteert und dann gefedert worden.“ Shaelyn lachte kurz auf und L blickte nun erst an sich herab. Sie hatte Recht. Folglich erhob er sich aus dem Sessel und strich sich die kleinen weichen Federn ab, die überall an seiner Kleidung regelrecht klebten. Zuletzt waren seine Haare an der Reihe. Als auch das schnell erledigt war, war er schon dabei sich zu setzen, stoppte jedoch nachdem Shaelyn zu ihm trat, sodass er sich ein Stück zu ihr drehte. „Du hast da noch ein paar in deinem wirren Haar...“, verließ es schwach ihren Mund, der ein sachtes Lächeln trug, war sie schon dabei ihren Arm anzuheben. Für einen Augenblick überlegte er sich, ob er sie fern halten sollte und den Rest an Daunen selbst entfernte – hob dafür auch schon leicht seine Hand an, bevor er plötzlich inne hielt. Herzrasen. Da war es erneut, sodass seine Gedanken zum Halt kamen. Gänsehaut breitete sich vom Kopf bis Fuß aus, das nur weil sie vorsichtig durch sein Haar fuhr. Sie tat nichts weiter als das und doch reichte es aus – noch immer. Noch immer, sei es nur ihre Nähe, versetzte es ihn in Unruhe. L verstand es nicht und er wusste, dass er dafür keine logischen Gründe fand. Längst hatte er aufgegeben, daran etwas Sinnreiches zu finden. Es war wie es war. Und es ließ nicht nach. Nein, im Gegenteil. Da er wusste, was sie wirklich empfand, machte es das schlimmer. Shaelyn stoppte, bemerkte sie den leeren Ausdruck seiner Augen. Rue schien geistesabwesend – und doch starrte er ihr genau entgegen. Was war denn plötzlich los? Erschrocken quietsche sie dann schließlich auf, als sie seine warme Hand an der ihren spürte. Er war wohl anwesend! „Das musst du nicht tun.“ Gleich jagte ihr ein angenehmer Schauer durch den Körper. Seine Stimme klang ernst, aber doch... vorsichtig. „I-Ich bin eh fertig.“ Ihre Lippen bebten als sie es nahezu flüsterte und zog eilig ihre Hand aus der seinen. In voller Aufregung versuchte sie ihre Gedanken zu sammeln, was ihr immer weniger gelang. Durchgehend heftete sein Blick auf sie; faszinierte es sie jede Sekunde mehr. „Ich glaub', ich geh besser. Ich muss eh Opa Bescheid geben wegen dem kaputten Kissen...“ So schnell sie konnte, suchte sie nach diesen Worten das Weite. Sie musste sich endlich zusammenreißen! Nachdem sie sich nicht mehr recht traute ins Wohnzimmer zurückzukehren, beließ es Shaelyn dabei und sagte lediglich nur ihrem Großvater Bescheid. Jener war zwar überrascht, würde sich aber darum kümmern. Und was machte sie noch an diesem Abend? Zumindest war beruhigen zunächst die beste Idee – denn selbst nach einer Stunde war sie noch vollkommen neben sich. Der 25te Dezember brach an und sicherlich waren schon viele Kinder daran die Geschenke zu öffnen, was auch nichts Ungewöhnliches war. Wohl der einzige Tag im Jahr, in dem die Kinder freiwillig früh aus den Betten stiegen – und Shaelyn war nicht anders. Die Neugierde hatte sie gepackt und sie wollte wissen was sie alles geschenkt bekam. Demnach, ganz gleich ob sie noch ihr Nachthemd trug, rannte sie förmlich durch den Gang, die Treppe hinunter und gleich ins Wohnzimmer. Sofort riss sie die Tür auf und erschreckte tatsächlich jemanden, da man kurz ein Klirren und ein Husten hörte. Rue, der nun aufstand, wandte seinen Kopf ungesund zu ihr: Er sah ein wenig verärgert aus. Man erkannte auch gleich den Grund als er sich ganz zu ihr drehte. Wo sein Shirt normal lupenrein weiß war, zierte nun ein brauner Fleck das Shirt, inklusive Hose, da er ohnehin immer hockte. Shaelyn ließ sich nicht beirren und lächelte keck. „Morgen! … Wie es aussieht musst du dich wohl umziehen.“, lachte sie vergnüglich. Rue verengte seine Augen kurzzeitig, musterte sie danach eindringlich. „Und wie ich bemerke, hast du dich noch nicht umgezogen. Ist es nicht ein wenig kühl?“ „Nö.“, folgte es prompt. „Mir ist eh warm...“, hing sie mit einem Grinsen an und schloss hinter sich die Türe. „Und seit wann kann man dich erschrecken? Ich war ja wohl laut genug...“, hakte sie gleich nach, nahm allerdings den Blick vom Schwarzhaarigen und richtete diesen stattdessen auf die Geschenke. „Ich habe nachgedacht.“ „Du denkst immer nach. Aber wirklich immer! … Egal jetzt. Die Geschenke warten!“ Freudig klatsche sie einmal in die Hände und ging zum Weihnachtsbaum hinüber. Sofort setzte sie sich nahe an den Baum – doch statt sie ihre Geschenke in die Hand nahm, hob sie das Geschenk für Rue hoch. L, der als Shaelyn sich an den Baum setzte, einmal das Shirt an seinen Fingerkuppen leicht anhob um den Fleck zu begutachten, wurde vom Rascheln aufmerksam. „Rue. Komm doch bitte her. Ich möchte, dass du zuerst dein Geschenk auspackst.“ Shaelyn lächelte ihm sanft zu, jene das Präsent für ihn schwach hochhielt. Er zögerte und je mehr er das tat, desto mehr veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie war betrübt. „Verstehe... Du magst also nicht.“, verließ es traurig ihren Mund, während sie ihre Hände absenkte, welche das Paket hielten. L begann an seinem Daumennagel zu kauen, seufzte gleichzeitig kaum hörbar. Blieb ihm denn diesmal eine Wahl? Und war er nicht doch ein wenig zu neugierig was sie ihm schenken könnte? Dennoch – L war unentschlossen. Das Präsent galt ihm persönlich, nicht die seiner Leistungen. Es war zu lange her, dass das der Fall war... Shaelyn hatte das Geschenk vor sich gelegt und widmete sich dann lieber den ihren. Es zog etwas in ihrer Brust. Die Enttäuschung über seine Reaktion hatte gesessen, somit war ihre Freude stark gedrückt. Trotz dessen versuchte sie fröhlich zu sein. Immerhin freute sie sich über ihre Präsente. Zuerst nahm sie das von Watari in die Hände, betrachtete noch einmal ihren Namen in dieser Schönschrift. Irgendwie sah es wirklich toll aus. Als sie schon das Paket auf ihren Schoß stellte, kamen zwei nackte Füße in ihr Blickfeld und hielten vor ihr an. Umgehend musterte sie kurz die Füße, ehe ihr Blick hoch wanderte und auf den von Rue stieß. Erwartungsvoll sah sie ihn an; und er starrte zurück. Es fiel nicht ein Wort und ihr Herz pochte mit jeder weiteren stillen Sekunde heftiger gegen ihren Brustkorb. Ihre Lippen öffneten sich, formten die erste Silbe, da machte er sich kleiner – und setzte sich tatsächlich vor sie. In einem Schneidersitz machte er es sich bequem, nagte dabei allerdings immer noch an seinem Daumennagel. Verwundert, dass er nun doch gekommen war und über seine Sitzhaltung, legte sie einfach nur den Kopf schief. „Möchtest du jetzt doch … ?“ Mehr brauchte sie nicht sagen, da er schon sein Geschenk hochnahm. Geradezu argwöhnisch betrachtete er erst alle Ecken, als sei er sich nicht sicher ob etwas Gefährliches irgendwo lauern würde – was Shaelyn sich skeptisch ansah. „Also da springt dich nichts an. Ist ganz harmlos...“, kommentierte sie konfus, woraufhin sie einen kurzen, aber aussagekräftigen Blick von ihm einheimste. Was hatte er denn? Sie würde ihm wirklich keine Bombe oder dergleichen schenken. Weshalb war er dann so vorsichtig? Als er dann endlich begann an dem weißen Bändchen zu ziehen, was er natürlich zwischen seinen Zeigefinger und Daumen anfasste, ließ er sich richtig Zeit. So lang, dass sie immer nervöser wurde. Immerhin wusste sie nicht, wie er das Präsent aufnehmen würde. Vielleicht dachte er, dass sie an ihm kritisieren würde... dabei dachte sie sich nur Gutes. Ein bisschen Abwechslung schadete keinem und gerade wäre es sogar recht passend. Beinah hätte sie selbst angefangen an einen ihrer Nägel zu kauen, weil er sie wieder wahnsinnig machte. Er spannte sie auf die Folter – wie immer. Als dann endlich das Geschenkpapier entfernt war, war nur noch die Schachtel da, dessen Deckel er abhob. Was sich ihm zeigte, schien ihn gleich misstrauisch werden zu lassen und Shaelyn gespannter denn je. Rue griff in die flache Schachtel und zog schwarzen Stoff heraus, den er anhob. Zum Vorschein kam ein schwarzes Shirt. Es hatte den gleichen Schnitt wie seine sonstige Oberbekleidung, war es nur komplett schwarz. „Ich dachte mir, dir würde eine andere Farbe vielleicht mal gut tun.“, schaltete sich Shaelyn zunächst behutsam ein. Rue senkte das Shirt, sodass sie in sein, zu ihrem Wundern, ausdruckslosem Gesicht blickte. Oh je... hoffentlich war das wirklich kein Fehlgriff. Aber sie wollte etwas anderes als Süßigkeiten schenken und sonst fiel ihr nichts ein. Immerhin wusste sie noch immer nicht was er gern hatte. Gab es so etwas überhaupt? „Und du bist zu dem Schluss gekommen, dass schwarz das passende ist?“ Die Engländerin kicherte leise. „Naja, ist doch ganz leicht wieso. Du bist manchmal echt gemein,... nein, eigentlich fast immer. Und hätte ich dir besser Shorts kaufen sollen? Oder noch besser... Socken?“ Prompt verriet sein verstörtes Gesicht ihr, dass er über Socken sicherlich nicht erfreut gewesen wäre. „Ich weiß ja nicht was du sonst so magst... da ist mir nur das auf die Schnelle eingefallen. Probiere es doch einfach mal an. Du musst es ja nicht immer tragen. Aber ich dachte...“ Shaelyn wich seinem Blick aus, kratzte sich einmal leicht über die Wange. „Ich dachte halt, dass es dir bestimmt auch stehen würde. Der Kontrast ist halt so schön... nicht nur weil du so gemein bist. Deswegen schwarz.“ „Danke.“ Sofort wandte sie sich ihm wieder zu. „Hast du... dich eben bedankt?!“, fragte sie unsicher nach. „Ja.“ Gleich strahlte sie über beide Wangen. „Das freut mich total!“ „Das sieht man...“, kommentierte der Schwarzhaarige nüchtern ihren Ausbruch an Freude, woraufhin ihr Gesicht sich prompt wandelte. „Lass mich doch. Wenn du schon kein freudiges Gesicht aufsetzt, mach ich es für dich mit!“ Shaelyn verschränkte ihre Arme vor der Brust und schenkte Rue einen kurzen finsteren Blick. Jener war wie immer unbeeindruckt. „Ich habe mich bedankt. Das sollte reichen.“ „Miesepeter.“ Erneut wie ein kleines Kind, streckte die Engländerin ihre Zunge heraus. „Mr. L. Oder wie war das? Zeig mal ein bisschen mehr Emotion. Bist manchmal wie ein Stein. Genauso undurchsichtig, grob und kühl. Es ist der 25te! Da musst du wenigstens ein bisschen Lächeln, hm? Versuch es doch mal! Oder soll ich helfen?“ Shaelyn redete abermals wie ein Wasserfall, was ihn nicht weiter interessierte, allerdings etwas sagte, was ihn in Alarmbereitschaft versetzte. Denn die Frage zuletzt klang wie eine ernsthafte Drohung – zumindest wenn man Shaelyn damit in Verbindung brachte. Zudem gefiel ihm seine Bezeichnung nicht. „So wie ich das Ganze bisher verstanden habe, bist du alles andere als gelangweilt von mir.“, rieb er ihr unter die Nase, die gleich mit ein wenig rot wurde. Ihr stieg dieser Satz sofort zu Kopf. Umgehend stützte sie sich mit einer Hand auf den Boden ab und hob die andere hoch, die sie auf seine Brust drückte. Ihre grünen Augen funkelten ihn an – wenn auch gleich sie etwas Verschämt schien. „Spar' dir das! Ich weiß, dass ich auf einen Idioten stehe und es ist fies mir das vorzuhalten. Wenn du auch … verliebst wärst, dann wüsstest du, dass das gar nicht so einfach ist so jemanden zu 'vergessen'. Kapiert?“ L enthielt sich hier jeglicher Antwort. Natürlich wusste er wie schwer es war. Das es selbst für ihn eine – bisher – unüberwindbare Mauer war. Er steckte fest … in diesem Malheur. „Willst du deine Geschenke nicht öffnen?“, überging er somit einfach ihre Frage, was sie zunächst verärgerte. Aber sie selbst bemerkte wohl, dass es hier sinnlos war zu diskutieren. Demnach schnaufte sie einmal um sich zu beruhigen und setzte sich wieder zurück. Ohne einen weiteren Ton nahm sie dann das Geschenk von Watari auf ihren Schoß. Noch leicht zornig zog sie an dem roten Bändchen. Rue war wirklich fies geworden! Was konnte sie denn dafür? Wieso hielt er es ihr vor? Das war überhaupt nicht fair gewesen... Als sie dann den kleinen Karton öffnete, lugt gleich etwas weiteres Rotes hervor. Ein schwaches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Shaelyn griff hinein und holte die rote Weihnachtsmütze aus dem Karton, den sie mit der anderen Hand zur Seite stellte. Es stimmte ja – sie hatte es sich selbst von Watari gewünscht. Was hätte er ihr auch anderes schenken sollen? Shaelyn brauchte schließlich nicht wirklich viel. Also wünschte sie sich eine rote Weihnachtsmütze, die sie als schönes Erinnerungsstück behalten konnte. Sogleich setzte sie die weiche Mütze auf, wobei sie den Blick von Rue streifte. Dieser betrachtete die Szene still – und mit einem leicht schief gestellten Kopf. „Willst du sie auch mal anziehen?! Die ist total flauschig!“ „Kein Bedarf...“ „Ach, komm!“ Der Ärger von nicht allzu langer Zeit schien schon vergessen. Wollte die Schwarzhaarige auch nicht die Stimmung weiter drücken. Rue hob beide Augenbrauen an. „Ich lehne dankend ab.“ Der eindeutig falsche Satz, wie Rue feststellen sollte. Ohne weitere Umschweife zog sie sich die Mütze vom Kopf und hastete nach Vorn um ihn die Mütze aufzusetzen – was ihr tatsächlich gelang, wenngleich er sie noch davon abhalten konnte auf ihn zu fallen, da sie das Gleichgewicht unterschätzt hatte. „So ist es gleich viel … Weihnachtlicher.“, kicherte Shaelyn halb in der Luft und grinste Rue entgegen. „Und wehe du ziehst sie ab! Das darfst du erst, wenn alle Geschenke ausgepackt sind...“ Nachdem sie sich, tatsächlich, freiwillig selbst wieder entfernte, fasste Rue an die Mütze. „Hey!“ „Solltest du sie nicht tragen? Immerhin... ist es dein Präsent das du dir gewünscht hast.“ „Ja, aber dir steht sie gut.“ Rue schien genervt, da er den Mund wieder in eine Gerade zog. Shaelyn kicherte daraufhin nur. „Bitte. Okay? Dann eben nur solang ich meine Geschenke auspacke, ja?“ Sie setzte ihr süßestes Lächeln auf und bettelte somit geradezu – das wohl Wirkung zeigte. Rue seufzte. „In Ordnung.“ Er wusste, dass sie ohnehin keine Ruhe geben würde. Ihre Trumpfkarte. „Gut, ich pack' dann auch die anderen zwei aus!“ Voller Enthusiasmus nahm sie das nächste Geschenk auf ihren Schoß – das rosa Geschenk, das offensichtlich von Emma stammte. Shaelyn öffnete den Einband, den Deckel und was ihr diesmal entgegen lugte, schien nicht nur Shaelyn neugierig zu machen. War das auch was zum Anziehen? Der Brief, der auf dem leicht durchsichtigen roten Stoff lag, wurde zunächst hochgehoben. ~ * ~ Frohe Weihnachten, Shaelyn! Ich hoffe du findest Verwendung für das hübsche Set? Es ist zwar nicht allzu aufwendig, aber ich denke es wird dir trotzdem gefallen! Es war wie für dich gemacht. Du musst es mir bei Gelegenheit mal vorführen! P.S.: Nicht so schüchtern. Alles Liebe, Emma ~ * ~ Aufregung machte sich breit. Wozu sollte sie nicht zu schüchtern sein … ? Mit Zögern blickte sie wieder in die Schachtel, die leer war?! Erschrocken, und panisch zugleich, blickte sie auf. Was sie sah, ließ ihr das Herz in die Hose rutschen. „Nett.“, erklang die Stimme Rues, während er zwischen seinem linken Zeigefinger und Daumen das Spitzenhöschen hoch hielt und auf der anderen Seite den passenden BH. Blitzschnell krallte sie sich regelrecht die Wäschestücke. Hochrot stopfte sie diese in die Schachtel zurück, die sie schloss. „P-Privat! Das ist privat!“ Hätte sie gewusst, was sich darin befand, hätte sie es niemals vor Rue geöffnet! Als Rue auch etwas Ansetzen wollte, warf sie ihm wie einst einen scharfen Blick zu. Die Diskussion über ihre Wäsche vor nicht allzu langer Zeit hatte gereicht. „Psst!! Sag nichts! Wage dich! Perversling!“, warf sie ihm schnell an den Kopf, jener sich leicht schief stellte. Fragend blickte er ihr entgegen. „Warum pervers?“ „Na... weil du nicht einfach an meine Wäsche sollst! Das macht man halt nicht! Genauso wenig wie man einer Frau unter den Rock linst!“ „Hm...“ Rue legte einen Zeigefinger an seinen Mund, welcher schwach ein Grinsen formte. „Die rote Wäsche wird dir sicherlich besser stehen.“ „Du... ! Du Schwein!“, entrüstete sie sich und griff im nächsten Moment frontal an – nichts womit der Schwarzhaarige nicht schon gerechnet hatte und geschickt zur Seite auswich, hing ihm nur jetzt der weiße Bommel von der Mütze im Gesicht. Nun hockte er auf allen Vieren neben Shaelyn, die auf dem Teppich landete. Jene strampelte wie ein Baby. „Ich hab gesagt, du sollst nichts sagen!“ Voller Scham drückte sie ihren heißen Kopf in den weichen Teppich. Rue sollte nicht so anzüglich werden, wenn er doch kein Interesse an ihr besaß! Das tat er nur wieder um sie zu ärgern! L kam vorsichtig näher, da Shaelyn einfach nur noch regungslos auf dem Teppich lag – mit noch immer dem Kopf zum Boden. Langsam streckte er einen Arm aus und tippte sie in die Seite. „Noch anwesend?“ „Nein, ich bin zurzeit leider nicht da. Hinterlasse eine Nachricht nach dem Piepton. Pieep.“, kam es nuschelnd von ihr. Einen Moment passierte gar nichts, ehe L ganz aufrückte und sie an die Seite fasste um sie umzudrehen. Direkt fasste sie mit beiden Händen an ihr Gesicht um es zu verbergen, während sie nun auf dem Rücken lag. „Lass mich doch bitte im Boden versinken!“ „Nein.“ „Rue... ganz ehrlich... Wenn du mir nicht an die Wäsche willst, dann musst du auch nicht davon reden. Oder überhaupt wissen was ich trage...“, erklärte sie sich und lugte anschließend zögerlich durch einen Schlitz ihrer Finger hindurch. „Wenn ich dir an die Wäsche wollte, dann wäre sie mir gleich.“ Als hätte der Blitz eingeschlagen saß sie plötzlich gerade und starrte ihn an. „Was... was soll das heißen?!“ Rue blickte nachdenklich kurz an die Decke. „Sagen wir es so... die Verpackung kann noch so ausgefallen sein: Der Inhalt zählt letztendlich. Und auf diesen kommt es schließlich an.“ Seine Augen durchbohrten die ihren förmlich. Gänsehaut breitete sich aus. Sagte er ihr gerade..., dass sie nackt immer noch am Schönsten wäre? Also... wenn er auf sie stehen würde?! Sie brauchte sofort eine kalte Dusche! Eine richtig eiskalte Dusche! „Ich muss weg!“ Während sie noch sprach, hetzte sie auf und gleich davon. L blickte ihr fragend nach. Hatte er ihr nicht gerade ein Kompliment gemacht? War es zu viel des Guten? Und das wichtigste überhaupt: Das Geschenk von Joel lag noch ungeöffnet unter dem Baum. Folglich wusste er noch immer nicht was sich darin befand und er musste die Weihnachtsmütze länger aufbehalten. Sollte er sich an die Abmachung halten? Die Tür klackte erneut, weshalb L zu dem Besucher blickte. Watari stand dort, zog die Augenbrauen höher. Ihm war zweifellos die Mütze aufgefallen. Aber eine Erklärung war trotz dieser abstrusen Szene nicht nötig – Watari kannte seine Enkelin mittlerweile. „Ah, Watari.“, begann der Detektiv schließlich, stellte sich dabei auf. „Ich habe eine Bitte an Sie.“ L führte sich seinen Daumen zum Mund, steckte die freie Hand in die Hosentasche. „Oder... mehr einen besonderen Auftrag.“ Ein Grinsen schlich sich in das Gesicht des Meisterdetektiven – und auf seinem Kopf thronte noch immer die rot-weiße-Mütze. Shaelyn gab den Versuch auf eiskalt zu duschen, brachte sie das kalte Wasser an den Beinen schon zum Quietschen. Ohnehin war es gleich. Ob kalt oder warm: Die Worte und dessen Bedeutung würde sie so schnell nicht vergessen. Dennoch ließ sich die Engländerin es sich nicht nehmen wieder ins Wohnzimmer zurückzukehren! Jetzt frisch geduscht, ordentlich angezogen – diesmal besser eine Hose als einen Rock – und den gleichen Gedanken, ging sie mutig in den Raum. Jener Raum wies gähnende Leere auf. Alles war so belassen wie sie es überstürzt verlassen hatte. Nicht einmal das Geschenkpapier war weggeräumt, nur das schwarze Shirt war verschwunden. War sie nicht ihrem Großvater vorhin begegnet? Fragend kratzte sie sich am Kopf, dachte angestrengt nach. Ihr Großvater war ihr auf jeden Fall entgegen gekommen. Er war sicher ins Wohnzimmer gegangen. Aber nun der Harken: Wäre die kleine Unordnung dann nicht längst verschwunden? Verwirrt blickte sie sich dann im Gang um, wo ebenfalls niemand zu sehen war. Rue konnte sich gerade umziehen, da er es – was sogar sie in der Zwischenzeit verstanden hatte – nicht mochte schmutzig herum zu laufen. Auch wenn er immer einen chaotischen Eindruck vermittelte, er war stets sauber. Roch er auch nie unangenehm, selbst bevor sie in ihn verliebt war. Etwas, das ihr erst jetzt wirklich klar wurde. Es gab immerhin genug Situationen, in denen er ihr nahe gewesen war um das zu wissen. Jetzt war das natürlich etwas vollkommen anderes. Doch bevor sie sich wieder in ihren Tagträumen begab, wollte sie wissen wo wenigstens ihr Großvater steckte. Sein Geschenk war nach wie vor nicht angerührt. Vielleicht wartete er darauf, dass sie dabei war. Die Suchaktion begann. Der erste Ort, an dem sie suchte, war die Küche, gefolgt von dem Esszimmer. Überrascht ihn dort nicht angetroffen zu haben, machte sie sich auf den Weg zu seinem Schlafzimmer. Eigentlich hatte sie dort nie angeklopft, aber so langsam war es ihr nicht geheuer. Normal war der alte Mann immer leicht anzutreffen. Als sie dann allerdings an dem Zimmer von Rue vorbei kam, hörte sie leise Stimmen. Da ihr Zimmer in der anderen Richtung lag, konnte ihr das zuvor gar nicht aufgefallen sein. Nun neugierig, schlich sie sich an die Tür und eine Stimme wurde deutlicher. Rue sprach. Zunächst undeutlich, dann aber hörbar als sie ihr Ohr an die Tür drückte. „Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie nicht eher damit beauftragt habe.“ Aufgeregt lauschte sie den Worten Rues. Über was wurde so heimlich gesprochen? Welchen Auftrag? Lag sie also richtig, dass ihr Großvater etwas Berufliches mit Rue zu tun hatte. „Allerdings haben sich Dinge kurzfristig geändert. Die Summe spielt keine Rolle, das versteht sich sicherlich von selbst. Sorgen Sie nur dafür, dass es schnell und diskret passiert. Alles andere ist unwichtig.“ „Sind Sie sich sicher, Ryuzaki? Das könnte eventuell Probleme verursachen. Auch wenn ich Sie vollstens unterstütze.“ „Alles ist unter Kontrolle. Das sollte ohnehin nicht Ihre Sorge sein. Beeilen Sie sich nur.“ „Wie Sie wünschen. Ich werde mich sofort auf die Suche begeben.“ Shaelyn zog hastig ihren Kopf von der Tür weg, suchte hektisch nach einem Versteck. Schritte waren zu hören, setzten sie weiter unter Druck. Kopflos entschied sie sich dafür zu ihrem Zimmer zu hasten. „Shaelyn.“ Gerade als sie die Klinke in der Hand hatte, ertönte die Stimme des alten Herren und sie gefror in der Bewegung. „...J-Ja?“ Watari trat zu ihr, weshalb sie sich zu diesem vorsichtig herum drehte. „Ich werde für ein paar Tage abreisen müssen. Falls dir etwas Fehlen sollte, frage Ryuzaki danach. Dennoch keine Sorge, ich werde pünktlich zu deinem Geburtstag zugegen sein.“ Ihr Großvater schien nichts bemerkt zu haben, was sie aufatmen ließ. Allerdings betrübte es sie, dass er wirklich wieder gehen musste. „Und... mein Geschenk? Magst du es nicht vorher öffnen?“ „Es tut mir leid, aber das wird warten müssen.“ Traurig blickte sie zur Seite. „Oh... Schade. Dann viel Erfolg.“ „Sei nicht traurig, Shaelyn. Ich werde es mir ansehen, wenn ich heimkehre.“ „Hmh, Okay. Bis dann.“ Als sich dann schließlich Watari noch verabschiedete und sie dort stehen ließ, grübelte sie stark. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum konnte Rue ihren Großvater so herumkommandieren? Um was für einen Auftrag handelte es sich? Und wenn Geld keine Rolle spielte... was konnte das heißen? Außerdem sollte es heimlich passieren. Shaelyn fing an etwas zu zweifeln. Rue versicherte ihr oft, dass er nichts mit Kriminellem zu tun habe. Er war sogar einmal recht verärgert deshalb gewesen. Aber das alles hörte sich so gefährlich an. „Hm, ich kann nichts Besonderes erkennen.“ Erschrocken fuhr Shaelyn herum, starrte auf das Seitenprofil von Rue, der auf den Boden stierte, wo sie vor wenigen Sekunden noch hingesehen hatte. Hatte er sich angeschlichen?! „Mein Gott!“, stieß sie aus und fasste sich an die Brust, wo ihr Herz außer Rand und Band war. „Du kannst mich auch nur Rue nennen. Das sollte reichen.“, erwiderte er matt, während er sie nun musterte. „.... Dazu sag ich jetzt einfach mal nichts. Aber kannst du dich denn nicht bemerkbar machen?! Stattdessen jagst du mir einen riesen Schrecken ein! … Und wo ist die Mütze?!“ „Oh.“ Rue fasste nach hinten an seine Gesäßtasche und zog die besagte Mütze heraus. „Hier. Da ich mich umgezogen habe, musste ich sie absetzen.“ „Los, wieder aufsetzen!“, wies sie ihn gleich ohne Umschweife an – und er tat es sogar auch ohne zu zögern oder einen Spruch dazu abzugeben. „Du hast das ja echt gemacht...“, erstaunte sie sich darüber. „Es war so abgemacht. Soweit ich mich entsinne.“ Shaelyn zog ihre Augenbrauen zusammen, machte einen Schritt auf Rue zu, spähte an jeder Seite einmal vorbei. „Wo ist Rue hin?“ Irritiert starrte jener sie an, woraufhin sie doch kurz kicherte und seufzte. „Du hast echt keinen Humor.“ „Das höre ich öfter. Wärst du nun also so freundlich und öffnest das letzte Geschenk damit ich die Mütze abziehen kann?“ „Ach! Darum geht es dir und hast es ohne Murren gemacht! Du Schnüffler willst nur schnell wissen was ich alles bekomme!“ „Erwischt.“ Rue grinste und sie schüttelte nur den Kopf. Der Gang zur Wohnstube war gar nicht so einfach gewesen, da Rue ihr fast im Nacken saß. Er wollte nur diese blöde Mütze loswerden! Verstimmt grummelte sie ein paar Mal, was er mit Sicherheit gekonnt überhörte. Nachdem dann erneut die Positionen besetzt waren, nahm sie sich das Geschenk von Joel vor. Irgendwie war es ihr unheimlich, wie Rue darauf stierte. „Bevor ich es aber aufmache... beantworte mir eine Frage.“ „Worum geht’s?“, folgte es keine Sekunde später. „Wo ist mein Opa denn schon wieder so schnell hin? Ich meine,... er sagte doch, dass er hier sein wird und jetzt muss er wieder los...“ „Eine dringliche Angelegenheit.“ Shaelyn wartete ein paar Augenblicke, doch sagte Rue dazu nichts weiter. „Das weiß ich auch... Schlaumeier.“ „Ich habe dir deine Frage beantwortet.“ Umgehend schnaufte die Engländerin. „Ich wollte wissen wohin er ist! Und was er macht!“ „Das wären dann schon zwei Fragen.“ Rue hob seine Hand an und demonstrierte ihr seine Zählkunst anhand seiner zwei Finger, die er hoch hielt. „Irgendwann komme ich nachts vorbei und erwürge dich!“ „Das wäre doch schade...“ Rue zog ein gespieltes argloses Gesicht, das sie nur weiter ärgerte. „Außerdem bezweifle ich stark, dass es dir gelingen würde.“, setzte er dann nüchtern nach. „Das glaubst auch nur du!“ „Falsch. Jeder würde das erkennen.“ „Du regst mich auf!“ „Ich sehs'.“ Sie war kurz davor sich wie ein wildes Tier auf Rue zu stürzen! Aber sehr wahrscheinlich rechnete er wieder damit – auch wenn er gelassen auf sie wirkte. Ruhe. Shaelyn musste Ruhe bewahren! „.... Fein! Ich öffne jetzt einfach das Geschenk vom netten und lieben Joel!“ Natürlich konnte sie nicht wissen, dass genau die Worte Rue nicht hören wollte. Weder den Namen, noch die Adjektive die sie damit verband. „Bist du dir sicher, dass er das ist? Du kennst ihn schließlich erst seit kurzem.“ „Und? Emma kenne ich auch noch nicht lange und sie ist eine super Freundin. Ihr Bruder ist fast genauso wie sie.“ „Folglich genauso offen? Wie ich selbst festgestellt habe, ist deine Freundin ziemlich aufgeschlossen.“ Fassungslos starrte sie ihn an. „Hast du nen Knall? Willst du mir damit sagen, dass Joel was von mir will und mich nur rumkriegen will?“ „Ziehst du es denn nicht in Betracht?“ „Nein! Er ist einfach nur genauso nett!“ „Rein objektiv betrachtet, Shaelyn, ist ein junger Mann nie ohne einen Hintergedanken. Das solltest du dir merken.“ „Aha... Tipps von einem der es wissen muss! Außerdem, auch wenn ich deinen Gedanken nicht nachvollziehen kann, wenn er was von mir wollte, glaubst du, dass ich so leicht zu haben bin?“ „Das sagte ich nicht.“ „Genau! Aber darum dreht es sich! Solang ich nichts will, läuft da auch nichts. Und du solltest am besten wissen, dass ich zurzeit auch kein Interesse an ihm haben sollte... Also hör damit auf.“ L öffnete seinen Mund einen Spalt, schloss ihn allerdings wieder. Er sollte sich wirklich nicht weiter dazu äußern. Das er das Gespräch schon so begonnen hatte, war heikel. Es war herauszulesen, dass er sich darum Gedanken machte. Gedanken, die er normal nicht haben dürfte, wenn sie nur eine Freundin wäre. Obwohl er hier immer auf Alan verweisen konnte. Nein, für Shaelyn war es nicht verdächtig. „Es ist deine Entscheidung.“ „Ja, aber wenn ich …. Vergiss' es.“ L wusste es insgeheim, was sie ihm sagen wollte – und es schmerzte ihn, wenn er daran dachte. Ja, wenn sie die Wahl hätte, dann würde sie sich lieber für Joel entscheiden. Er konnte es ihr nicht verübeln... Das war wohl die traurigste Erkenntnis daran. Dennoch konnte er nicht einfach still zusehen. L war ein zu großer Egoist. „Egal jetzt.“, sagte sie und öffnete gleich das kleine Paket. Das blaue Papier war rasch entfernt und sie hob den kleinen Deckel an. Wie auch bei dem Geschenk von Emma, lag ein Brief oben drauf – nur das dieser gleich das ganze Präsent verdeckte. Shaelyn holte den Brief heraus: ~ * ~ Hi Shaelyn. Frohe Weihnachten! Zwar ist es ein kleines Geschenk, aber wenigstens habe ich noch auf die Schnelle eins gefunden. Als ich mit meiner Schwester sprach und sie mich durch die Läden schleifte, meinte sie gleich, dass ich dir was Einfaches schenken sollte. Toll, dass es noch Mädchen wie dich gibt. Hätte ich nicht gedacht, aber umso schöner so ein Mädchen kennenzulernen! Da du ja erst frisch hergezogen bist, dachte ich, dass sich etwas an deinen Schlüsselbund gut machen würde. Hast du gleich ein Stückchen Heimat immer dabei. Grüße, Joel ~ * ~ Mit einem Lächeln legte sie den Brief beiseite, blickte in die kleine Schachtel worin der Schlüsselanhänger lag – der die Form einer englischen Flagge trug. Verzaubert holte sie diesen heraus. Ein kleines, aber sehr schönes Geschenk. Ja, ein Stück Heimat. „Schwach...“, kam es von L, das sie nicht wirklich im ersten Moment wahrnahm. „Hm, was?“ „Nichts.“ „Hm... Ich dachte gerade, du hast was gesagt.“ Shaelyn betrachtete den kleinen Anhänger, während L sich nachdenklich mit dem Daumen über die Lippen strich. Er hatte wesentlich mehr erwartet, aber wie es den Anschein machte, hatte es trotz dessen eine große Wirkung – was er mit Missfallen feststellen musste. „Du kannst jetzt die Mütze ausziehen, Rue.“, wandte sie sich dann direkt an ihn, weshalb er seine Aufmerksamkeit darauf konzentrierte. Sogleich zog er den weichen Stoff von Kopf, den sie schweigsam, und einem Lächeln, entgegen nahm. Es gefiel ihm absolut nicht. Die Tage flogen praktisch davon. Auch wenn Watari nicht anwesend war und Rue nicht mit der Sprache herausrückte, freute sie sich auf ihren Geburtstag. Am 28ten Dezember wurde sie endlich 18! Obwohl sie damit in Amerika nicht ganz als Volljährig galt, somit ein paar Dinge nicht tun konnte, war es doch ein besonderes Alter. Da sie sich damit beschäftigte, fragte sie sich auch immer mehr, wie alt genau Rue war. Und an welchem Tag hatte er Geburtstag? Sie würde es so gern wissen. Alleine um ihm einen Kuchen zu backen. Doch bisher war jeder Versuch vergebens ihn danach zu fragen. Wieso sagte er ihr es auch nicht? Was war so schlimm daran, wenn er es sagen würde? Jeder hatte doch einen Geburtstag und verriet ihn auch gern. Immerhin würde man an diesem Tag Glückwünsche hören, Geschenke bekommen... War selbst das Rue zu viel? Sagte er es nicht, weil er es selbst für zu unwichtig hielt? Wollte er einfach keine Glückwünsche hören? Dieser Typ war viel zu kompliziert! Am Abend vor ihrem Geburtstag, kehrte auch ihr Großvater heim – ganz so wie versprochen. Gleich begrüßte sie ihn freudig, wurde ebenso zurück gegrüßt ehe er sich schnell auf zu Rue machte. Ja, auch darüber hatte sie sich Gedanken gemacht. Der alte Herr sprang auf Anweisung von Rue. Verschwand einfach kurzfristig am 25ten, kehrte jetzt am 27ten am Abend wieder. Er sah dazu auch müde aus. Irgendwie abgekämpft. Ging es ihm gut? Er hätte nicht solchen Druck machen brauchen, falls er nur wegen ihr pünktlich zum Geburtstag wieder da sein wollte. Die Sorge bestätigte sich nicht. Als er wohl alles abgeklärt hatte, kam er zu ihr, sprach mit ihr und nahm endlich das Geschenk entgegen. Er freute sich natürlich über die Krawatte, die sie ihm gekauft hatte. Er würde sie so oft es ihm möglich war tragen, versicherte er ihr und sie kicherte. Ja, ihr Großvater freute sich wirklich. Und die Krawatte würde ihm gut stehen, da war sie sich sicher. Am Morgen holte sie ein Klopfen aus den Träumen, ehe sie richtig realisierte, dass die Türe aufschwang. „Guten Morgen, Shaelyn. Und herzlichen Glückwunsch zu deinem 18ten Geburtstag. Da gibt es noch jemanden, der dich sprechen möchte. Leider war es mir nicht möglich diese Person aufzuhalten.“ Noch ganz verschlafen musterte sie ihren Großvater, rieb sich dabei die Augen. „Shaelyn!! Herzlichen Glückwunsch! Und noch in den Federn?!“ Die bekannte Stimme hallte durch ihr großes Schlafzimmer und gleich war sie hellwach. Emma kam zum Vorschein und sprang ohne Vorwarnung auf das große Bett. „Das ist ja der reine Wahnsinn hier! Du hast wirklich überhaupt nicht übertrieben! Eher untertrieben! Und wie süß... du trägst ja Nachthemden.“ Der Redeschwall von Emma prasselte auf Shaelyn ein, die sich aufsetzte. „Ähm... Ja. Und Morgen... Träum' ich? Oder sitzt du wirklich auf meinem Bett?“ „Wenn das hier ein Traum wäre...“ Emma blickte sich nach Watari um, der sich unter dem Redeschwall von Emma längst verdrückt hatte. „Dann wäre Rue auf dem Bett, anstatt ich! Wahrscheinlich sogar nur knapp oder gar nicht angezogen.... nicht, dass ich mir das vorstellen will, aber das wäre wohl so.“ Sogleich lief Shaelyn rot an. „Du spinnst doch! Was soll er denn halbnackt, oder noch besser, nackt in meinem Bett?!“ „Was man da so tut, wenn man zusammen ist und so gut wie nichts anhat. Gib’s zu, du würdest ihn bestimmt nicht aus dem Bett verjagen!“ „Du bist ja verrückt...“ „Ne, nur direkt und realistisch.“ „Wo ist das realistisch?!“ „Im Traum schon... und du würdest ihn wirklich nicht aus dem Bett schmeißen! Obwohl, du bist ja noch so unschuldig...“ Die Amerikanerin grinste über beide Ohren. „Jetzt ist aber gut...“, unterband Shaelyn direkt das unangenehme Thema. Emma lachte auf und setzte sich an den Bettrand. „Meine liebe Shaelyn! Du kannst mir nichts Vormachen. Du wärst sofort Feuer und Flamme, glaub mir. Und jetzt aufstehen, anziehen und mir das Haus zeigen.“ Nach dem strengen Ton ihrer Freundin, schleifte die Schwarzhaarige sich aus dem Bett und umgehend ins Bad. „Hey, da ist ja die Wäsche, die ich dir geschenkt habe! Gefällt sie dir?!“, rief die Brünette aus dem Zimmer, während Shaelyn dabei war sich erst einmal die Zähne zu putzen. Diese Frage ließ sie allerdings gleich inne halten. Wenn sie da an gestern dachte... „Ja, sie gefällt mir!“, antwortete die Engländerin zunächst zögerlich. „Ist was passiert?“, kam es plötzlich von der Badezimmertür, sodass Shaelyn zusammenzuckte. Emma blickte sie besorgt an. „Wie... kommst du darauf?“ „Weiß nicht, hab so ein Gespür für. Beschäftigt dich was?“ Ehe Shaelyn etwas Erwiderte, beendete sie schnell das Zähne putzen. „Naja...“, begann sie dann nachdenklich. „Rue hat die Wäsche auch gesehen...“ Sie druckste – doch Emma war sofort neugierig. „Und?! … Gefällt sie ihm auch?“ „Ich denke schon... aber wenn ich ihn dann richtig darauf ansprach, meinte er, dass Wäsche eh egal wäre.“ „Oho.“, sang Emma schon fast wissend, das mit einem unübersehbaren Grinsen. „Da haste dir aber einen Typen ausgesucht! Der weiß, was er will...“ „Ja, mich leider nicht.“, vervollständigte Shaelyn den Satz seufzend. „Nicht aufgeben. Das wird schon... und wenn wirklich nichts daraus wird. Auch wenn sich das jetzt scheiße anhört: Es gibt genug andere Kerle. Rue ist einer von tausenden und hier gibt es auch bestimmt ein paar die dich toll finden.“ Shaelyn hob eine Augenbraue hoch. „Das hört sich echt scheiße an.“ Emma wusste eben nicht, was Shaelyn und Rue miteinander verband. So etwas konnte man einfach nicht verstehen. Das mit ihm war keine normale Begegnung... Nachdem die Engländerin ihrer Freundin soweit die Villa vorgeführt hatte, fehlte nur noch das Wohnzimmer – natürlich war dann auch Emma klar, dass dort Rue war. In keinen der Räume war er vorher anzutreffen gewesen. Ob Emma auch wirklich da hinein wollte? Bevor Shaelyn auch die Klinke in die Hand nahm, stoppte sie und wandte sich um. „Es gibt da was, was ich dich... leider... noch fragen muss.“ Hellhörig spitzte Emma die Ohren. „Rue besteht darauf mit zur Party zu kommen.“ Als hätte sie der Blitz getroffen, riss zu aller erst die Augen auf. „Was?! Der Typ will zu meiner Silvesterparty kommen? Sorry, wenn ich dir das so sagen muss, aber der wäre ja der reinste Stimmungskiller.“ „Ja, ich weiß! Aber wenn er nicht kommen darf, dann darf ich auch nicht! Der hat voll die Macke! Als ob ich sonst was tun würde. Er will sich nur als Aufpasser aufspielen. Mein Opa sagt auch, dass er weiter nicht stören würde...“ Emma schien auf einmal stark nachzudenken, was Shaelyn nur weiter panisch stimmte. Sie würde so gern auf die Feier, die Freunde von Emma kennenlernen und überhaupt ein Silvester mit vielen Leuten verbringen. „Okay. Er kann mit.“ Völlig überrascht, starrte Shaelyn ihre Freundin an. „... Echt?“ „Jo. … Zwar bin ich eigentlich nicht damit wirklich glücklich, weil er ja nicht so der Typ ist, der unter Leute ist, aber für dich wäre es gut. Außerdem will ich ja, dass du ein paar Freunde findest. Da kommen schon um die 30 Leute. Meine Eltern haben meinem Bruder und mir das Okay gegeben und sind weg... Das nutzen wir eben aus. Seine Freunde und meine kommen eben. Alle sind sie versammelt. Ich will echt nicht, dass du das verpasst.“ Gleich fiel Shaelyn Emma um den Hals. „Danke! Und sowieso Danke! Für alles bisher!“ Emma lachte leise und drückte ihre Freundin. „Gern doch. Und jetzt lass uns den Freak begrüßen... ich freu' mich schon.“ Die Schwarzhaarige ließ Emma los und kicherte vergnügt. „Auf in die Höhle des... Wolfs.“ Die Türe öffnete sich vorsichtig, lugten auch die zwei Mädchen in den Raum. Allerdings zur großen Verwunderung war Rue nirgendwo zu sehen. Direkt drückte Shaelyn ganz die Türe auf und sah sich genauer um. „Komisch...“, meinte sie auch schon. „Eigentlich sollte er hier sein.“ „Vielleicht auf seinem Zimmer?“ „Das wäre total ungewöhnlich.“ Die zwei jungen Frauen betraten ganz das Wohnzimmer. „Hey! Guck' mal da im Garten.“, machte Emma ihre Freundin darauf aufmerksam, dass dort jemand stand. „Was macht der denn draußen?“ „Ja, geh doch hin und frag ihn...“ „Mist, dann muss ich kurz hoch ins Zimmer und meine Sonnenbrille holen.“ „Gut, ich warte einfach hier.“ Gesagt, getan. Emma setzte sich auf das Sofa, betrachtete die Einrichtung des Wohnzimmers, während Shaelyn ihre Brille holte. Sie fand es sehr außergewöhnlich, dass Rue im Garten war. Ob es da was Besonderes zu bestaunen gab? Jedenfalls machte es sie unheimlich neugierig. Als sie auf die Terrasse einen Fuß setzte, war ihr erster Blick gen Himmel gerichtet. Nicht eine Wolke war weit und breit zu erkennen, warf die Sonne somit klar ihre Strahlen über die Erde. Es war sogar recht warm am Morgen, was sie doch erstaunte. Richtete Shaelyn demnach ihr Augenmerk auf Rue, der dort seelenruhig mit dem Rücken zu ihr stand und in den Himmel starrte. Lauer Wind wirbelten seine Haare nur weiter auf. Und das nächste was ihr auffiel war, dass er keine Schuhe trug. Barfuß stand er hinten im Gras, stierte ins unendlich Blaue. Irgendetwas war wirklich eigenartig. „Hey, Rue.“, sprach sie ihn an, nachdem sie hinter ihm zum Stehen kam. Er regte sich nicht. „Ist alles okay?“ „Geburtstage sind seltsam.“, begann er plötzlich ohne Zusammenhang. Irritiert stellte Shaelyn den Kopf schief. Er meinte sie, oder? „Warum?“ „Weshalb sollte es etwas Besonderes sein? Man wird jeden Tag älter, es schreitet so unaufhörlich weiter. Allerdings nur der eine Tag zählt.“ Nun wandte er sich zu ihr um, wobei sein stechender Blick sie gleich durchbohrte. Sie lachte unsicher. Wieso hatte er solche Gedanken? Und machte er sich die gerade zum ersten Mal? „Naja… da wurde man halt geboren. Und jeden Tag feiern ist doch auch blöd, oder? Da legt man sich halt auf diesen einen Tag fest. Eigentlich ist es wirklich doof, da man ja älter wird.“ „Richtig. Es zeigt uns nur auf, dass wir dem Tod näher kommen. Das jedes Leben seinen Kreislauf hat.“ „Irgendwie finde ich das jetzt überhaupt nicht charmant...“ Rue zog eine Augenbraue an. „Das sollte es auch nicht sein.“ „Na, noch besser.“, seufzte sie. „Aber sieh den Geburtstag so: An diesem Tag, also heute, wurde ich geboren. Das vor 18 Jahren. Das ist für die Menschen, die mich gern haben, ein schöner Tag. Denn ohne den würde es mich nicht geben. Ist es dann nicht also ein Grund ein wenig zu feiern?“, erklärte Shaelyn schließlich sachte und lächelte. Rue dachte daraufhin offensichtlich noch einmal kurzzeitig nach, da er wieder seinen Daumen zum Mund führte. Schließlich blickte er sie abermals direkt an. „Dieser Grund gefällt mir. … Dann wird es Zeit.“, verließ es dann locker seinen Mund. Wofür? Verwirrt zog sie ihre Augenbrauen zusammen, ehe Rue in seine rechte Tasche griff. „Dann wünsche ich dir einen wundervollen Geburtstag, Shaelyn.“, sprach er sogleich aus, was sie hingegen sprachlos machte – und noch viel mehr, als er seine Faust öffnete und auf seiner Handfläche eine Art schwarzer Würfel zum Vorschein kam. Es sah wie eine Schmuckschachtel aus! Aufgeregt fasste sie sich zunächst an die linke Brustseite, starrte kontinuierlich auf die Schachtel. „Ist... ist die für mich?“ „Ja.“ „V-Von dir?“ „Ja...“ „Zu meinem Geburtstag...?“ „Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch...“ Shaelyn blickte auf, in die großen runden Augen von Rue, die sie fragend anstarrten. Gleich lachte sie los. „Ich weiß, das klang jetzt alles doof, aber das ist so unglaublich. Ich hätte nie damit gerechnet!“ „Dann war die Überraschung perfekt gelungen.“, kam es in einem sarkastischen Tonfall von ihm, woraufhin sie kurz noch einmal kicherte. Doch als sie gerade das Geschenk an sich nehmen wollte, hielt sie inne. „Heißt... das jetzt eigentlich, dass du mich wirklich gern hast, wenn du mir was schenkst und mich beglückwünscht?“ Noch immer war sie sich nicht sicher in diesem Punkt. Rue wirkte mal so, dann so. Auch wenn er im Grunde nett war und ihr half. Das Geschenk machte er ihr, weil er an sie dachte, weil er wusste, dass sie sich freute. Glücklich lächelte sie ihm breit entgegen. „Offenbar...“, schenkte er ihr noch die Antwort, die nicht einmal genau ein Ja ausdrückte – dennoch ausreichte, sodass sie sich schnell ein wenig auf die Zehenspitzen stellte und ihm ein Küsschen auf die Wange drückte. Überrascht darüber, weitete er für einen Moment seine Augen, was sie natürlich beobachten durfte. „Vielen herzlichen Dank, Rue.“ Jener schien sich schnell wieder gefangen zu haben, das allerdings nur äußerlich den Anschein machte. „Willst du nicht erst hineinsehen?“, lenkte er demnach ein, da er tatsächlich – etwas – unruhig war. Shaelyn nahm ihm nun die Schachtel ab. „Nein, das muss ich nicht. Alleine, dass du mir etwas schenkst, macht mich total glücklich.“ L beließ es bei ihrer Aussage. Zwar war ihm bekannt, dass sie genügsam war, dennoch verblüffte ihn ihre Antwort leicht. Was wäre, wenn der Inhalt der Schachtel nur halb so kostbar wäre? Würde sie sich tatsächlich im gleichen Maß freuen? War das Geschenk, was dieser Joel ihr machte, also im gleichen Wert? Nein... Shaelyn lächelte vollkommen anders als sie es sonst tat – auch im Vergleich zum Vortag als sie das Geschenk des anderen öffnete. Was sie nun auch mit seinem tat. Sogleich sog sie erschrocken die Luft ein und hielt den Atem an, während sie in die Schachtel starrte. „W … Um Himmels Willen!“ Sie griff vorsichtig in die Box, holte den Schmuck hervor, der sich darin verborgen hatte. Ein Anhänger, an dem eine Kette hing. „Ist das... ?“ „Eine Vanilleblüte.“, half L ihr auf die Sprünge, betrachtete dabei, wie sie mit dem Daumen über den Anhänger strich. „Hmh.... ist das Silber... und der Stein da in der Mitte... das ist nur ne Attrappe, oder? Also so ein Strassstein, oder?“, hakte sie vorsichtig nach, blickte auch unsicher auf. Man erkannte an ihrem leichten Zittern, dass sie sehr aufgeregt war. „Weißgold. Und der Stein ist ein Brillant.“ „...“ Es war für wenige Sekunden völlig still. „Ein Brillant.... und Weißgold... bist du verrückt?! Das muss doch unglaublich teuer gewesen sein!“ L war nun daran überrascht zu sein. „Freut es dich nicht? Ich hörte, dass Frauen so etwas mögen.“ „... Wo hast du denn die Infos her? Ja, das ist sehr schön! Aber … aber... Mir hätte auch etwas Kleines gefallen.“ „Willst du sie also nicht?“ „... Doch ich nehme sie natürlich gern, aber ich will dir nur sagen, dass du nicht unbedingt Schmuck, dann auch noch so teuren, kaufen musst. Ich bin keine Frau, die so viel Wert darauf legt. Für mich zählt viel mehr der Wille. Auch wenn ich mich wirklich freue, dass du so etwas Besonderes ausgesucht hast. … Gab’s die Form denn wo angeboten? Ich hab noch nie eine Vanilleblüte als Schmuck gesehen!“ Shaelyn beäugte den Anhänger genauer, hob auch ganz die Kette aus der Box. „Ich habe sie anfertigen lassen.“ Noch teurer! Da hat er ihr extra dieses Stück von einem Goldschmied anfertigen lassen! Rue war wirklich wahnsinnig. Aber... war er ihr auch so kostbar, wie dieses Schmuckstück? War sie dem also wert? In seinen Augen musste das so sein, sonst würde er nicht ein Vermögen dafür ausgeben! Sie hatte sich tatsächlich die ganze Zeit umsonst Sorgen gemacht – Rue mochte sie wirklich. Alleine da er ihr überhaupt etwas schenkte. „... Magst du sie mir auch direkt anlegen?“ Sie lächelte nun wieder, wenn auch zahmer als zuvor. Rue jedenfalls schien zu überlegen, bevor er einen Schritt auf sie zu tat, ihr dabei die Kette aus den Fingern zog und um sie herum ging. Shaelyn, die schon nach oben griff, damit sie ihre Haare aus dem Nacken entfernte, stockte der Atem – denn waren die Fingerspitzen von Rue an ihrer Halsbeuge zu fühlen. Geradezu sachte fuhr er mit seinen Fingerkuppen an ihrem Nacken entlang – brachen damit ganze Schwärme gleichzeitig in ihrem Bauch los. Automatisch schlossen sich ihre Augen, fühlte sie wie sich jedes einzelne Härchen aufstellte. Er sollte gar nicht aufhören sie zu berühren... L konnte die Gänsehaut genau beobachten, hörte auch ihr ganz leises Seufzen, was ihr wohl selbst nicht einmal auffiel. Shaelyn genoss es sichtlich – setzte bei ihr schon Entspannung ein, da sie seicht die Schultern hängen ließ. Ohne Zweifel gefiel es ihm sie so zu berühren, allerdings verlockte ihr Nacken ihn zunehmend. Kam der Drang auf, seine Lippen an ihrem Hals hauchzart anzusetzen, darüber zu streichen, ihren süßen Duft dabei immer mehr in sich aufzunehmen. War es nun also mehr ein Kampf mit sich, als es ihn erfreuen konnte – außerdem war der Verschluss ein Hindernis, damit er Abstand nehmen konnte. So wie er die Dinge anfasste, war der kleine Verschluss schwierig einrasten zu lassen. Zudem war kein Nagel vorhanden, womit es um einiges leichter von Statten gegangen wäre. Dennoch gelang es ihm irgendwie – schließlich, da er sich konzentriert hatte. Shaelyn war schwer enttäuscht als seine Finger nicht mehr zu fühlen waren, fand sich jedoch damit ab. Dabei hatte sie nicht einmal mitbekommen, dass Rue länger gebraucht hatte. Dieser auch wieder in ihr Blickfeld trat, mit seinem Daumen am Mund. Er schien angestrengt an seinem Nagel zu kauen – wenn jedenfalls einer schon nachgewachsen wäre. Was stimmte ihn jetzt so nachdenklich? Sie schob die Frage beiseite, lächelte Rue dann auch zu. Und ehe er reagieren konnte, ohnehin hing er stark seinen Gedanken nach, stellte sie sich abermals etwas auf die Zehenspitzen um die andere Wange von ihm zu küssen. Rue starrte sie daraufhin direkt an und hielt sich die geküsste Wange. „Danke,... nochmal. Ich … geh dann mal wieder zu Emma.“ Die sie gerade in dem ganzen Durcheinander im Kopf völlig vergessen hatte! Hoffentlich war sie nicht böse! Shaelyn setzte sich schon in Bewegung, als ihr etwas einfiel. „Achja! Du darfst offiziell auch auf die Party kommen! Bis später dann!“, meinte sie noch, ehe sie auf den Weg ins Haus war – und einen L zurück ließ, der das mächtige Chaos im Kopf entwirrte. Und damit das perfekt war, wandte Shaelyn sich noch einmal um. Ihr Lächeln war einfach hinreißend. Die Engländerin lächelte noch immer, bekam erst ein paar Sekunden später mit, dass Emma am großen Fenster stand: Sie hatte zugesehen – und sie grinste. Wurde auch gleich von jener angesprochen als sie ins Wohnzimmer trat: „Ihr habt wie ein Paar gewirkt. … Und was ist das für eine Kette?!“ Emma war aufmerksam geworden und beugte sich zu dem Schmuck herunter. „Das... Geschenk von Rue. Und hey! Wir sind kein Paar und das hat bestimmt auch nicht so ausgesehen!“ „Hui... ein nettes Stück. Musste er wohl ordentlich blechen...“ Die Amerikanerin blickte auf, trug ein noch breiteres Grinsen im Gesicht. „Na und ob das so aussah... Ich korrigiere also meine Aussage mit den anderen Typen. Zwischen euch Zwei wird auf jeden Fall was laufen. Höre auf meine Worte! Eines Tages klebt ihr aneinander und könnt nicht voneinander lassen!“ „Ach... du spinnst doch...“ Emma lachte und schnappte sich den linken Arm von Shaelyn, die sie zu sich zog. „Aber wenn das passiert... bleibe mit den Detail aber bitte sparsam. Bei dem will ich mir das gedanklich nicht vorstellen, okay?“ Die Schwarzhaarige stieß die Luft schwer aus. „Okay...“ Emma stand ganz ohne Zweifel nicht auf Rue. „Gut! Dann ab in die Stadt!“ „Stadt?!“ „Ja, meinst du ich komm nur so an deinem Geburtstag vorbei? Du musst dir noch ein kleines Geschenk aussuchen. Ach ja. Mein Bruder übersendet dir alles Liebe zum Geburtstag. Der war leider schon verabredet, sonst wäre er mitgekommen. Also auf jetzt!“ Überrascht über den Tatendrang von Emma und auch ihrer Begeisterung, ließ Shaelyn sich mitschleifen. Ihre Gedanken kreisten allerdings die ganze Zeit um Rue und das Geschenk, welches sie immer wieder anfassen musste. Er war doch reich... Am Abend holte Watari schließlich Shaelyn von der Stadt ab. Es war ein lustiger Tag gewesen. Zeigte Emma ihre Lieblingseisdiele, dazu ein paar Läden, in denen man gut Kleidung oder andere kleinere Teile kaufen konnte. Vor einem Jahr hätte sie all das was jetzt passierte für nicht möglich gehalten. Doch spielte es sich alles vor ihr ab, war es real. Ebenso echt wie das Geschenk, was sie von ihrem Großvater Zuhause erhielt. Eine Anmeldung für den Führerschein, den sie bald antreten sollte. Dieser Tag konnte perfekter nicht gewesen sein – und selbst beim Schlaf behielt Shaelyn ihr Geschenk von Rue an. Heute stand die Silvesterparty an, weshalb Shaelyn mit einem großen Duschtuch bekleidet aufgeregt in ihrem Kleiderschrank wühlte – der viel mehr ein begehbarer Kleiderschrank war. In jedem Fach und selbst die Kleidung an den Haken war fast schon tadellos geordnet. Ihr Großvater sortierte alles fein säuberlich, sodass es unmöglich war auch nur irgendwo ein Anzeichen von Chaos zu entdecken. Im Normalfall respektierte Shaelyn diese fehlerlose Ordnung, doch nun konnte sie sich nicht entscheiden. Emma riet ihr, sie sollte einfach die Sachen anziehen, die sie noch von ihr hatte – was Shaelyn für eine gute Idee hielt, allerdings dann doch wieder nicht. Jedes Mädchen wollte hübsch aussehen, wenn ein besonderer Anlass vor der Tür stand. Trotzdem wollte sie nicht das gleiche Anziehen, was sie extra für Rue einmal getragen hatte. Es war dafür gedacht gewesen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr weiblichen Reize besser zur Geltung zu bringen. Eben ihm aufzuzeigen, was er verpasste. Das dann zur Party zu tragen fand sie nicht richtig. Nur Rue wollte sie wirklich beeindrucken – wenn man das so nennen konnte. Aber sie wollte nicht zu niedlich wirken! Während Shaelyn sich die Haare raufte, bemerkte sie nicht, dass jemand ihr Schlafzimmer betrat. „Das gibt es doch nicht!“, rief sie verärgert aus, kramte dabei in einem Fach. War denn nichts da, was sie zu einer solchen Party tragen konnte? Wieso machte sie sich nicht schon eher Gedanken darum? Wenigstens ein paar Sachen... sie sollte ihr Gespartes mal in der Stadt ausgeben. „Suchst du etwas Bestimmtes? Ich könnte dir behilflich sein.“, durchbrach es die Stille plötzlich. Unmittelbar verkrampfte sie sich. Langsam drehte sie ihren Kopf zur Tür, erblickte niemand anderen als Rue. Dieser stand dort lässig und beobachtete sie mit seinen großen, runden Augen – von oben bis unten. Sofort fasste sie an den oberen Saum des Handtuches, presste dieses mehr an ihren Körper. „Klopf' doch mal an! Und dreh dich gefälligst um!“, empörte sie sich. „Und was heißt hier 'behilflich sein'?!“, beschwerte sie sich lautstark weiter. L ließ das kalt – pulte auch gleich zur Demonstration in einem seiner Ohren. „Du musst nicht schreien, ich stehe so gut wie in demselben Raum.“, setzte er schonungslos an, hob auch gleich seine rechte Hand an und streckte den Zeigefinger hoch. „Außerdem … ist mir dein Körper bekannt.“ Man konnte wunderbar beobachten, wie die Farbe in ihrem Gesicht stärker zur Geltung kam. „Du Schwein! Raus hier!“ „Willst du denn nicht wissen, weshalb ich dich aufsuche?“ „Nein! Raus!“ Direkt griff Shaelyn in die offene Schublade neben sich und bewarf ihn prompt mit dem Inhalt – der nichts anderes als Socken waren. L wich den Geschossen geschickt aus, indem er locker abwechselnd zu den Seiten lehnte. Vor Wut leerte sie den kompletten Inhalt der Schublade – mit dem Ergebnis, dass sie ihn nicht einmal getroffen hatte und die Sockenballen überall verteilt herum lagen. „Das war nicht nett.“, kommentierte er umgehend, erhielt sofort ein wütendes Schnauben ihrerseits. „Und du auch nicht! Ich steh hier fast nackt und du drehst dich nicht mal um, so wie es sich gehört! Auch wenn du weißt, wie ich aussehe! Was noch viel schlimmer ist! Das ist unfair!“ Unfair? L zog eine Braue an. Jetzt wurde es interessant. „Was?“ „Na, ich kenn' dich nicht nackt! Aber Hauptsache du reibst mir unter die Nase, dass du mich so kennst!“ „Willst du, dass ich mich ausziehe?“ Als hätte der Blitz eingeschlagen, starrte sie ihn verstört an. Ihre Stimmung wechselte schlagartig. „Was.... was hast du eben gesagt?“ „Ich habe dich gefragt, ob ich mich ausziehen soll.“ Alle guten Geister verließen sie in diesem Augenblick. Hatte sie sich verhört? Das konnte nicht sein, da er es sogar ein zweites Mal sagte. Das konnte er aber unmöglich ehrlich meinen! „Du verarscht mich doch...“ „Nein.“ Ratlos stierte sie ihn an, biss sich unsicher auf ihre Unterlippe. Irgendetwas war doch faul an der Sache. Natürlich verriet auch nichts sein Gesichtsausdruck, der wie immer ohne eine Spur Emotion war. „Fein. Dann will ich, dass du dich ausziehst.“ Sie glaubte nicht daran, dass er es tun würde. Rechnete somit auch nicht damit, dass er sich an sein Shirt fasste und es einfach hoch zog. Ihr Herz setzte eine Sekunde aus. Er tat es tatsächlich! Sie bestaunte, begaffte regelrecht die blanke Brust von Rue, jener ohne weitere Regung an seinen Hosenknopf fasste, der auch rasch gelöst wurde. Wie erstarrt sah sie nur weiter dabei zu, wie er den Reißverschluss hinunter zog. Alleine das Geräusch ließ sie verzweifelt an den Kopf fassen – war sie nun endgültig zu der Erkenntnis gekommen, dass er sich ganz ausziehen würde! Was bezweckte er damit?! Er brachte sie komplett um ihren Verstand! Rue konnte sich doch nicht nackt vor ihr zeigen! Das war ein Witz gewesen! Als dann die Hose zu Boden glitt, fasste er sich an den Saum seiner Shorts: Ein Moment, in dem sie fast einen Hechtsprung nach vorn tat, um seine Hände festzuhalten. „Stopp!“, rief sie sofort aus, starrte dabei auf die hellblaue Boxershort von Rue, die einen Zentimeter schon hinunter geschoben wurde. „Das war nur ein Scherz gewesen! Ich dachte... Ich dachte ja nicht, dass du das wirklich machst!“, setzte sie atemlos nach. Ihre Brust fühlte sich an, als sprang ihr gleich das Herz heraus. „Es war so abgemacht, wenn ich mich nicht täusche.“, folgte es nüchtern von oben. Umgehend riss sie ihren Kopf hoch, blinzelte einige Male ihm entgegen, nahm auch ihre Hände von den seinen. Rue trug ein schwaches Grinsen im Gesicht! Und ihr fiel auf, weshalb... „Das... das...“, begann sie stockend, sortierte ihre Gedanken. Hatte Rue sie gerade hereingelegt?! L wusste selbstverständlich, dass Shaelyn vorher eingegriffen hätte – was auch letztendlich wie spekuliert eintraf. Das was er erreichen wollte, war erreicht: Sie hatte ihren Wunsch ihm gegenüber geäußert, dem er folge leisten musste – ganz wie es der Deal war. „Du hast mich reingelegt! Damit ich mir bloß nichts anderes überlege!? Das war voll gemein!“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ganz im Gegenteil. Ich habe dir erspart, dir etwas einfallen zu lassen. War das denn nicht freundlich?“ „Nein! Das war total fies! Ich wollte mir etwas Anderes ausdenken!“, gab sie zornig von sich. Sie war wirklich nicht erfreut darüber, dass er ihr die Entscheidung abgenommen hatte. „Das fällt dann wohl weg.“, meinte er prompt, was ihr noch weniger gefiel. „Ja, so schlau bin ich auch! Das war jetzt wirklich unfair! Ich will, dass das nicht zählt!“ „Ausgeschlossen.“ Shaelyn verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn böse an. „Das muss ich mir von dir echt nicht anhören.“, begann sie äußerst ernst. „Du weißt selbst, dass das eine miese Masche war. Ich will dich heute nicht mehr sehen.“ Doch ein wenig verblüfft über ihren nachdrücklichen Tonfall, hob er leicht eine Braue an. „Das ist ebenfalls ausgeschlossen. Es sei denn, du willst hierbleiben.“ „Ich werde alleine gehen. Es ist mir scheißegal was du sagst. Ich lass' mich hier doch nicht verarschen. Bin ich denn völlig bescheuert?! Ich hasse es, wenn jemand mich hintergeht! Und das gerade war ganz eindeutig nicht so gewollt. Du drehst es dir so wie es passt, also hast du dich nicht an das gehalten, was abgemacht war.“ Sie hielt eine Moralpredigt – eine wirklich ernst gemeinte. L konnte erkennen, dass sie verletzt war. Nur aufgrund einer Abmachung? Natürlich wusste er, dass seine Aktion wenig mit Nettigkeit zu tun hatte – sondern mehr seinen Absichten diente, dennoch rechnete er nicht mit so einer herben Abfuhr. Es war kein angenehmes Gefühl. „Das hat gereicht, Rue. Du bist falsch bei mir, wenn du denkst, dass du dir alles erlauben kannst. Das ist total enttäuschend. Du hast dir echt viel schon erlaubt, aber so was abzuziehen ist die Höhe...“ Das war sie tatsächlich; enttäuscht. War er zu weit gegangen? Lag ihr so viel daran? Nein, wie sie selbst sagte: Sie hasste es, wenn jemand sie hinterging. Und in gewisser Weise hatte er es auch, selbst wenn er es nicht nachvollziehen konnte. Dennoch hatte es starke Bedeutung für Shaelyn. Ob etwas dahinter steckte? Alleine schon der Wortlaut ‚hintergangen’, war eigenartig. Dann bückte sie sich, hob sein Shirt hoch, drückte es ihn entschieden gegen die Brust. „Nimm deine Sachen und verschwinde endlich.“ „...“ L wusste dazu nichts zu sagen. Viel mehr drängten sich Fragen in seinen Kopf, weshalb er gehen nicht in Betracht zog, nahm dennoch das Shirt gleichwohl an. Jeder Mensch wollte selbstverständlich nicht hintergangen werden, dass Shaelyn allerdings in diesem Maß reagierte, machte ihn aufmerksam. „Gibt es einen bestimmten Grund, warum du es hasst?“ Direkt wich sie seinem Blick aus, wirkte sie beklemmt. „... Das geht dich nichts an.“, kam es ihr kalt über die Lippen. Es war wie ein Messerstich in die Brustgegend – was man ihm jedoch nicht ansehen konnte. Rue war teilnahmslos wie eh und je. Hauptsache aber er konnte seine Neugierde befriedigen. Vielleicht hätte sie es ihm auch gesagt, wenn er netter gewesen wäre. „Außerdem bin ich jetzt bestimmt nicht in der Laune, gerade dir, etwas zu erzählen. Und wenn du nicht gehst, geh ich halt!“ Irgendwann würde er schon aus ihrem Kleiderschrank verschwinden. Shaelyn hatte einfach keine Lust mehr auf Rue, der sie anscheinend nur verarschen wollte. Auf direktem Wege drückte sie ihn zur Seite, schlüpfte an ihm vorbei – machte aber nicht die Rechnung mit seiner Hand, die sie am Unterarm zu packen bekam. Abrupt blieb sie stehen und wandte ihren Oberkörper halb Rue zu, schenkte diesem einen wütenden Blick. „Einverstanden.“ Nun war sie durcheinander, entgegnete also seinem starren Blick mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Womit?“ „Es zählt nicht.“ Überrascht öffnete sie weiter ihre Augen. Meinte er das ernst? Weshalb der schnelle Sinneswandel? Bestimmt verfolgte er wieder seinen Plan. „Warum plötzlich?“, kam es dann gefasster von ihr, während Rue sie nun freigab. „Es war nicht meine Absicht dich wütend zu machen.“ Fassungslos erwiderte sie seinen Blick, der unablässig auf sie lag. Dieser Moment war einer der seltensten, die sie mit ihm erlebte. Seine Stimme klang ehrlich und sie glaubte fest daran, die Wahrheit zu hören. Nie konnte man sich sicher sein, was er sagte, da er es anders meinte. Doch dieses Mal stimmte es überein. Zwar war seine Entschuldigung schön zu hören, daran arbeiten konnte er trotzdem – schließlich benahm er sich öfter mal daneben. Shaelyn seufzte, drehte sich ihm ganz zu. Die Wut wich tatsächlich rapide. „Also gut. Aber wehe du machst so was noch mal. Ich fand das wirklich gemein von dir.“ „Verstanden.“ Da hatte L noch mal die Kurve bekommen... er war einfach nicht daran geübt solche Konversationen zu führen – was viel mehr ein Streit eben war und sein erster dazu. Außerdem war das, was sie verschwieg für ihn interessanter zu wissen, als die Abmachung. So waren immerhin die Weichen gestellt noch einmal an diesem Tag nachzuforschen. „Trotzdem solltest du dich aber anziehen....“, wies sie ihn dann leiser darauf hin, dass er noch immer in Shorts vor ihr stand. „Nicht, dass ich was dagegen hätte, dass du so in meinem Zimmer stehst...“, fügte sie ferner hinzu, das sogar mit einem kleinen Schmunzeln. Ihre Laune hatte sich leicht gebessert. „Und ich, dass sich dein Tuch an der Seite löst.“, erwähnte er ergänzend mit einem Grinsen. Blitzschnell griff sie sich an das Duschtuch, gewann ihr Gesicht gleichzeitig an Farbe und stampfte sie einmal mit dem Fuß auf. „Und du bist doch ein Perverser! Und jetzt raus! Ich muss mich umziehen!“ „Was ein Jammer...“ Direkt hob sie die Sockenballen auf, die sie erst vor weniger Zeit hinausgeworfen hatte und bombardierte ihn damit erneut. Einer traf ihn prompt seitlich am Kopf, sodass er zusammenzuckte. Es war Zeit zu gehen. Kapitel 24: On your side ------------------------ Dieses Kapitel ist einer besonderen Person gewidmet. Ich muss leider ein zwei Zeilen dafür opfern, eine Bekanntmachung zu geben. Da ich zurzeit massive private Probleme habe, muss ich die Story vorerst 2-3 Monate pausieren. Ich hoffe, ihr habt dafür etwas Verständnis. Ebenso, dass ich leider nicht dazu kam das Kapitel zu Ende zu führen und daher gespalten wird. Danke für die Aufmerksamkeit. ____ Teil 1 des Kapitels Shaelyn entschied sich doch für die Sachen, die sie in ihrem Kleiderschrank fand. Wollte sie nicht das Dress anziehen, das Emma ihr geliehen hatte. Es war nur für Rue bestimmt gewesen, das demnach auf der Party anzuziehen, wäre falsch. Zwar wirkte sie nun eher wie ein niedliches Mädchen als eine junge Frau, doch blieb ihr kaum etwas anderes übrig. Nachdem sie fertig angekleidet war, war es auch langsam Zeit aufzubrechen. Emma hatte sie schon eher zu sich gebeten – warum, das wusste Shaelyn nicht. Daher schlug die Uhr knapp 16Uhr und sie machte sich aufgeregt auf den Weg hinunter in den Eingangsbereich – wo sie prompt Rue begegnete, der sie gleich mit seinem intensiven Blick erfasste. Aus reinem Reflex stoppte sie auf der letzten Stufe der Treppe, hob ihre Hand an die aufgeregte Brust. Sie hatte eindeutig nicht mit Rue gerechnet und natürlich brach wieder Chaos über sie hinein wenn er sie so anblickte. Doch fiel ihr einen Moment später etwas sehr Entscheidendes auf: Sein sonst so reines weißes Shirt war nun rabenschwarz – Er trug ihr Weihnachtsgeschenk! „Du... trägst ja das schwarze Shirt!“, rief sie umgehend aus und lächelte freudig, tat dabei den letzten Schritt von der Treppe; und schließlich weitere auf ihn zu. Rue zog lediglich kurz eine Braue an. „Gute Beobachtungsgabe.“ „Ach, komm, sei mal wieder nicht so sarkastisch! Ich freu' mich!“ Als er schon seinen Mund öffnete, kam sie ihm blitzschnell zuvor: „Jaja, 'das sieht man'.“, nahm sie ihm die Worte aus dem Mund, den er wieder schloss und in eine Gerade zog. Shaelyn hingegen begann zu kichern. Mittlerweile war es ihr sogar möglich an ein paar Stellen zu erkennen, was er denn nun sagen würde. Was nicht hieß, dass sie ihn durchschauen konnte. Das würde sie wohl niemals. „Aber wieso hast du es angezogen... willst du damit deine Entschuldigung unterstreichen?“ Rue hob nachdenklich, mit dem Daumen am Mund, den Kopf an, starrte für einen Moment an die Decke, ehe er sie erneut mit seinen dunklen Augen anblickte und antwortete: „Ja, da hast du fürchte ich Recht.“ „Dann hatte die ganze Diskussion ja sogar was Gutes.“, erwiderte Shaelyn ehrlich. „Wie man es betrachtet.“ Sein nüchterner Tonfall brachte sie nun abermals zum Kichern. Dann zwinkerte sie ihm offen zu, was er tatsächlich mit ein wenig Interesse beobachtete. Sicher fragte er sich jetzt, was kommen würde. „Dann verrate ich dir auch was. … Nicht nur du trägst etwas Geschenktes.“ Ein Satz, der ihn nicht nur sofort geistig auf voller Höhe brachte. Zeigte er sogar umgehend Regung im Gesicht, da er seine Augenlider ein Stückchen weiter öffnete als er es für gewöhnlich tat. Fakt war, dass sich Bilder in seinem Kopf formten, die nicht dort sein sollten. „Entweder bist jetzt geschockt über das was ich gesagt habe, oder dir ist plötzlich was komisches eingefallen. Oder beides?“, erstaunte sich Shaelyn über seine Reaktion, fing L auch gleich ihr neugieriges Mustern seines Gesichts auf. Doch bei den Dingen, die sich gerade gedanklich abspielten, war es ihm schwieriger seine übliche Maske aufzusetzen. Ein weiterer Beweis, dass Denkvermögen und rationelles Verhalten nichts mit Liebe gemein hatte. Wie konnte diese Gefühlsregung all seine Gehirnzellen lähmen? Eine normale Frau würde nicht im Geringsten diese Dinge in ihm auslösen. Bevor er Shaelyn kannte war er unempfänglich für derlei gewesen – es herrschte nur noch Chaos in seinem sonst klaren Kopf. Es war nur ein Gedanke und trotzdem hatte L eine innere Unruhe. „Hey...“ Shaelyn war sichtlich besorgt, weshalb sie vorsichtig ihre Hand auf die seine legte, die sich an seinem Mund befand und zog diese behutsam runter. Augenblicklich klärte sich sein Blick auf – sie hatte wieder seine Aufmerksamkeit. „Alles okay?“, fragte sie umgehend. „Ja.“, gab er ruhig von sich, doch sein Herz raste. Gerade so, als habe er vor wenigen Augenblicken einen Marathon gelaufen. L behielt äußerlich die Fassung bei. „Wir sollten gehen. Watari wartet bereits im Wagen.“ Überrascht blickte sie ihn an, öffnete zunächst ihre Lippen, die sie schnell wieder schloss, ließ sie auch seine Hand los. Ohne einen Ton zog sie sich schließlich ihre kleinen Stiefel an, was er still betrachtete. Sie hatte begriffen, dass Hinterfragen nichts brachte. „Shaelyn! Da bist du ja und dein... Mitbewohner!“, begrüßte Emma ihre Freundin herzlich und mit einem kleinen Lächeln an L gewandt, jener nur kurz die Hand als Begrüßung anhob, dabei die andere Hand in seine Hosentasche steckte. Shaelyn umarmte gleich ihre Freundin. Emma erwiderte knapp die Geste, ehe sie Shaelyn an den Schultern fasste, auf etwas Abstand ging und die Engländerin von oben bis unten inspizierte. „Wie ich es mir gedacht habe...“, seufzte die Brünette mit angezogener Augenbraue. Verwirrt starrte Shaelyn Emma an – und L jene ebenfalls. „Komm' rein und ab in mein Zimmer. Wir müssen was an deinem Outfit machen.“ Dann blickte Emma direkt L an. „Du wartest aber fein im Wohnzimmer.“, gab die Amerikanerin schroff von sich, dann lockerte sich ihre Mine auf. „Schließlich soll es ja auch eine kleine Überraschung werden.“ Sofort fing sich Emma einen bösen Blick von Shaelyn ein, welche sie auch gerne in die Seite gestoßen hätte, wenn sie denn nahe genug an Emma gestanden wäre. „Schon gut, Emma... lass uns einfach hochgehen.“, lenkte Shaelyn brummig ein, bekam gleich ein neckisches Grinsen von Emma zugeworfen. L konnte kurz darauf beobachten, wie die zwei jungen Frauen sich nach oben verzogen, wobei er noch die leicht verärgerte Stimme von Shaelyn schwach vernehmen konnte. Er hatte sich lieber aus dem Gespräch heraus gehalten. Sogleich betrat er das Haus, schloss hinter sich die Türe und sah sich genauer um. Es war bereits alles vorbereitet worden – indes ihm direkt in der Küche auffiel, dass wohl mehr als nur vier Personen an dieser Party teilnehmen würden. Die Masse an Essen und Getränken sprach für eine große Feier, was ihm natürlich nicht sehr passte. Je mehr Leute es waren, stiegen die Wahrscheinlichkeiten, dass etwas Vorfallen würde. Reichte schon der Gedanke, dass Joel teilnehmen würde. Er musste wachsam bleiben, weshalb er sich zunächst freiheraus ein wenig verzuckertes Weingummi aus einen der Schalen in der Küche nahm – Nervennahrung war nie verkehrt. Als er ins Wohnzimmer ging, konnte er ungehindert in den Garten schauen, der ebenso für die Feier vorbereitet war. Ganz wie es aussah, nutzte man das gesamte Grundstück, was ihm ein leises Seufzen abnötigte. Das Überwachen würde schwierig werden. Mit der Erkenntnis versuchte er sich anzufreunden, weshalb er sich zunächst wie gewohnt auf die Couch setzte – vorher natürlich die Schuhe auszog. Ging er gedanklich noch einmal alle Szenarien durch, die auftreten könnten – und auch jene, die bereits eingetreten waren. So hatte der letzte Satz von Emma gereicht ihm klar zu machen, dass Shaelyn ihrer brünetten Freundin alles gesagt hatte. Galt es nun allerdings nur weiter auf der Hut zu sein. Denn wenn Emma im Bilde war – eben von Shaelyn wusste, dass er nichts von ihr wollte – durfte er keinen noch so kleinen Verdacht aufkommen lassen, der das widerlegte. Shaelyn war durch lange Zeit hinweg darauf fixiert, dass es unmöglich war. Emma hingegen betrachtete es aus einer anderen Sichtweise. Ein Außenstehender besaß nun einmal einen anderen Sichtwinkel. Bisher war er nur Shaelyns Aufpasser. Das sollte auch so bleiben. Plötzlich tauchte etwas Orangenes in seinem Blickfeld auf, was L sofort aufmerksam werden ließ. Eine orange-getigerte Katze lugte schüchtern um die Ecke, starrte ihn regelrecht an und L starrte schlicht zurück. Gehörte die Katze Emma? Viel mehr war die Frage wichtig, was das Tier hier zu suchen hatte, wenn später eine Feier stattfand. Ein paar Momente regte sich niemand, dann jedoch schien das Tier Mut zu fassen und tapste langsam auf ihn zu. Währenddessen beäugte L das Tier genau. Die doch recht füllige Katze kam näher, sprang erstaunlich gelenkig auf den Kaffeetisch und setzte sich vor ihn. Kritisch betrachtete er das Verhalten der Katze, verhielt sich dabei ruhig. Eventuell war es ein Streuer, der durch die offene Tür hineingelangt war. Wobei eine dicke Katze als Streuner eher unwahrscheinlich war. Ein Schnurren war plötzlich zu hören und der buschige Katzenschwanz schwang von einer Seite zur Anderen. Er war unsicher, denn es war ihm jetzt nicht klar was genau das Tier wollte. Vielleicht wollte es von ihm gestreichelt werden? Zögerlich nahm er seine rechte Hand von seinem Knie und streckte sie nach der Katze aus. Diese erhob sich und sobald L nah genug war, rieb sie sich genüsslich an seiner Hand. Überrascht blickte er die Katze an, zog auch schon seine Hand zurück. Das Fell war weich gewesen und die Zuneigung war deutlich zu sehen. Es war offensichtlich kein Streuner, da das Tier sehr anhänglich schien. Direkt sprang die Katze auf den Sesselsitz neben ihm und schmiegte sich an seine Seite, während sie weiterhin laut schnurrte. Er hatte keinen Sinn für ein Tier, weshalb er vorsichtig die Katze am Bauch umfasste, sie anhob, sich weit nach vorn lehnte um schließlich das aufdringliche Tier auf den Boden zu setzen. Allerdings zerschlugen sich gleich seine Hoffnungen, dass das Tier nun Ruhe gab: Denn sofort hopste die Katze wieder auf die Couch, schmiegte sich auch gleich wieder an ihn. Unzufrieden, dass das Tier sich so aufdrängte, versuchte er nun die Katze zu ignorieren. Ein Mauzen drang in seine Ohren, spürte er die Pfoten an seinem Bein. Diese Katze wurde langsam zu penetrant, weswegen er sie etwas Verärgert anstierte. „Das ist Blümchen.“ L hob gleich seinen Kopf an, wandte diesen umgehend in Richtung der ihm sehr bekannten Stimme um. „Und wie es scheint, mag sie dich. Tiere sollen sich ja bekanntlich spüren, wenn der Mensch ein gutes Herz hat. Aber ich glaube, hier fällt nicht nur Blümchen auf dich herein.“ Joel stand an der Wohnzimmertür gelehnt, schenkte L einen geringschätzigen Blick. Der Brünette hatte es klar ausgedrückt was er von L hielt. Somit war es ungeschminkt erkennbar: Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit – von der ersten Sekunde an. Der Schwarzhaarige musterte den Brünetten, stellte auch sofort fest, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Joel war, wie man es so bekanntlich in Amerika nannte, ein Sunnyboy. Und ganz wie es den Anschein machte, wusste der Brünette gleich, wen er vor sich hatte. Jemand, der zwischen ihm und Shaelyn stand. Allerdings hatte er mit L eindeutig den falschen Gegenspieler. „Ich weiß, wer du bist. Du bist der komische Mitbewohner von Shaelyn.“, begann Joel wenig begeistert. „Ich hab echt' gedacht, dass meine Schwester übertreibt. Aber wie es scheint...“ L hatte sich noch während Joel redete, wieder an die Katze gewandt, was dem Brünetten offensichtlich sofort missfiel. Er wurde ignoriert. Zurecht – L war von Joels Gerede gelangweilt. „Bist du nicht ganz richtig im Kopf? Ich hab' dich angesprochen.“ Joel war verstimmt, da er es nicht leiden konnte, überhört zu werden. Außerdem war an diesem Mitbewohner von Shaelyn etwas zu seltsam – und nicht zu vergessen das unterbrochene Telefonat. Das hatte er nicht vergessen. „Oh?“, meldete sich L plötzlich unschuldig zu Wort, wandte seinen Kopf zu Joel, jener verwirrt zu ihm hinüber blickte. „Entschuldige.“ Joel seufzte Angesichtes des dunklen, gleichfalls nüchternen Tonfalls, als dann L eine Hand hob und ungeniert in seinem rechten Ohr puhlte. „Ich hatte nur ein störendes Pfeifen in den Ohren. Hast du das auch gehört?“, verließ es ruhig und äußerst gefühllos seinen Mund, begegnete er dem Blick des Brünetten mit einem intensiven Starren. Joel standen sofort die Wutfalten auf der Stirn. Sein Gegenspieler hatte ihn auf Anhieb verstanden. L grinste kaum merklich. Hatte er sich jetzt etwa bei Joel unbeliebt gemacht? „Joel?!“, wurde es von oben hinunter gerufen, woraufhin der junge Mann sofort seinen Kopf von L abwandte. „Komm' mal eben hoch!“, zitierte ihn seine Schwester laut zu sich. Mit einem noch knappen wütenden Blick auf den unfreundlichen Gast gerichtet und den Worten; „Wir sprechen uns noch.“, verschwand er dann die Treppen hoch – und ließ jemand völlig unbeeindruckten zurück. Die Gedanken an Joel verflogen allerdings im Nu, als jemand anders dafür die Treppe hinunter kam, was er direkt genauer durch die Tür besah. Während die Katze verzweifelt versuchte die Aufmerksamkeit von L zu ergattern, wurde sie nur nebensächlich mit einer Hand auf Abstand gehalten. Viel mehr war es in diesem Augenblick interessant anzusehen, wie Shaelyn durch die Tür kam – leicht verschüchtert blieb sie stehen, zupfte an an ihrem knielangen dunkelroten Kleid. Ihre langen Haare waren leicht verändert, sodass sie anders nach Vorn fielen – und um ihren Hals trug sie seine Kette, die schwach bei einer Bewegung im Licht glitzerte. Sie musste seinen Anhänger die ganze Zeit über getragen haben. „Meinst du, das geht so?“, fragte Shaelyn leise, hob den Kopf schwach an, sodass ihre ebenfalls mit Farbe angehauchten Wangen gut zum Vorschein kamen. Was sollte er sagen? Nicht ein schmeichelndes Wort würde dem gerecht werden. Er war niemand, der Komplimente verteilte – jetzt allerdings wäre es selbst für seine Verhältnisse angebracht. L entschied sich jedoch für das zweckdienlichere – das Umgehen. „Wird dir darin heute Nacht nicht kühl?“, stellte er somit nüchtern die Gegenfrage und erhielt ein kleinmütiges Gesicht – sie war etwas enttäuscht von ihm. Ihm jedoch verging ein wenig Laune, wenn er daran dachte, dass Shaelyn so vor dem Rest der jungen Männer herumlaufen würde. Sie stellte das zur Schau, worauf junge Männer es abzielten. „Nein, wenn es was kühler draußen wird, dann kann ich eine Jacke haben. Sonst sind wir ja meist drinnen....“ Ihr vorsichtiges Lächeln drückte ihr Unwohlsein aus. Shaelyn hatte mehr von ihm erwartet, oder zumindest einen kleinen Zuspruch, was gleich an seinem tatsächlich vorhandenes Gewissen nagte. „Es steht dir, Shaelyn.“, verließ es zusammenfassend und ruhig seinen Mund. Sofort hellte sich ihre Mine auf. „Ich hatte schon Angst, du magst es nicht!“ In einem gewissen Sinne gefiel es ihm auch nicht. Wäre es allerdings eindeutig, dass sie seine Freundin wäre... Das wäre ein völlig anderer Aspekt. Auch wenn Rue sich wie immer vage ausgedrückt hatte, so freute sie sich darüber. Wenn er der Meinung war, dass es ihr stand, würde sie es anziehen. Gleiches würde auch für einen schmucklosen Sack gelten... Solange es ihm gefiel, gefiel es ihr auch. Und so schlecht war es schließlich nicht und in ihrer Lieblingsfarbe. Plötzlich fiel ihr die Katze an der Seite von Rue auf, die ihre Pfoten abwechselnd gegen seine Seite drückte. Sie suchte offensichtlich Aufmerksamkeit. „Oh, da ist ja Blümchen!“ Shaelyn trat umgehend hinzu, setzte sich mit ein wenig Abstand zu ihm auf das Sofa; nahm auch gleich die Katze zu ihr auf den Schoß – was Rue natürlich alles mit seinen wachsamen Augen verfolgte. „Sie ist so niedlich! Warum haben wir keine Katze?“, fragte sie ihn mit einem Lächeln, während Blümchen schnurrte und es genoss, dass sie jemand nun streichelte. Rue allerdings starrte nur eindringlich Shaelyn an. „Kommt nicht in Frage.“ „Och! Warum denn nicht?! Außerdem mag Blümchen dich, so wie das ausgesehen hat! Sie ist ja regelrecht in dich verknallt, was? Du hast ja gleich noch einen Fan.“ Shaelyn hielt kurz inne und kicherte ihm offenherzig entgegen. „Willst du sie nicht doch mal streicheln?“ „Nein.“, antwortete er ohne Widerspruch zu dulden, das sie nur nicht zu beachteten schien. „Sie ist doch total weich und kuschelig. Außerdem hat sie einen guten Geschmack!“ Shaelyn grinste, strich nebenbei weiter durch das zarte Fell der Katze, die sich auf ihrem Schoß räkelte. „Isst du etwa auch gern Katzenfutter?“ Ihr Grinsen erstarb augenblicklich – und L neigte den Kopf leicht. „Sicher...“, meinte sie schließlich entnervt, woraufhin L schwach überrascht war. Hätte Shaelyn denn nicht normalerweise überreagieren müssen? Irgendetwas sagte ihm, dass hier was seltsam war. „Ist etwas Vorgefallen?“, hakte er auch umgehend nach. Nun war es an Shaelyn, die verwundert blickte, sogar den Kopf seicht schief stellte. „Das ist nicht deine übliche Reaktion.“, führte L nun tonlos aus. „Achso...“ Die Engländerin blickt sich zunächst kurz um, lehnte sich dann weit zu ihm vor. Unweigerlich spitzte er die Ohren. „Ich will mich benehmen.“, flüsterte sie ihm zu. „Wir sind ja hier nicht alleine. Das sieht blöd aus, wenn ich mich aufrege. Wir sind ja Gäste.“ Statt, dass seine Pupillen weiter die von Shaelyn erfassten, wanderte der Blick automatisch tiefer. Dort, wo nun seine Kette baumelte und man wunderbar den schönen Ausschnitt bestaunen konnte. Man gewährte ihm in der Position einen guten Einblick. War er sogar in der Lage etwas von der roten Spitzenwäsche zu erkennen... „Und wenn du gleich nicht deine großen Augen von meinem Ausschnitt nimmst, kleb' ich dir eine.“, zischte sie auf einmal leise, sodass L gleich aufsah – oder mehr zu ihr starrte. Sie hatte ein süßes Lächeln auf den Lippen – was allerdings bedrohlich wirkte. „Du kannst Zuhause pervers sein, aber nicht hier. Klar?“ „Folglich... Zuhause wäre es erlaubt?“ Shaelyn seufzte verärgert, lehnte sich dabei zurück. „Du kannst, aber du sollst es nicht sein. Du Schwein! Sag' mal, … warum tust du das eigentlich, hm? Wenn du doch gar nichts von mir willst.“ Sie schien beleidigt, da sie spöttisch reagierte. L begann trotz dessen kaum merklich zu grinsen. „Ich bin auch nur ein Mann.“ Jetzt wurde sie doch ein wenig Rot um die Nase. Eigentlich versuchte sie gelassen zu sein, oder es anders zu überspielen, was allerdings mit der Zeit immer weniger funktionierte. Seine Worte waren nun viel zu verwirrend! Sagte er ihr also, dass er sie attraktiv fand? Man schaute ja nur, wenn es einen interessierte. Vor allem, da er es nicht zum ersten Mal tat. Damals im Park und dann dieser Spruch... Sah er sie also wirklich auch als Frau? Das musste so sein, wenn ihre Reize ihn nicht kalt ließen. Shaelyn war vollkommen durcheinander! Sie wusste überhaupt nicht woran sie bei ihm war! „Und wer sagt, dass der Blick deinem Dekolleté galt?“ Umgehend blinzelte Shaelyn einige Male. „Was denn sonst?!“ „Na,...“ Rue hob schwach seinen Zeigefinger an, deutete in Richtung Hals. „Die Kette. Du trägst sie.“ „... Was eine schlechte Ausrede. Wieso sagst du nicht gleich wie damals ' Ich konnte einfach nicht anders, du hast dich mir aufgedrängt'?“ Natürlich kaufte sie ihm das nicht ab! Shaelyn war doch nicht begriffsstutzig. Dahin glotzen, war dahin geglotzt! Und zu jener Zeit hatte er ja schon mal bei ihr in den Ausschnitt gelugt. Das hatte sie ja sogar bemerkt, als sie blind war! „Wäre das eine klügere Wahl gewesen?“, fragte er dreist und sie biss sich schon auf die Unterlippe, um die Worte in ihrem Mund herunter zu schlucken. Aber sie konnte es einfach nicht! „Soll ich was Süßes aus der Küche holen und in meinen Ausschnitt legen? Oder noch besser Sahne rein sprühen?!“ Die Antwort folgte prompt von ihm, wenn nicht so, wie sie gehofft hatte. „Solange du meine Hose verschonst, darfst du das ruhig tun, auch wenn mir der Sinn des Ganzen nicht klar ist.“ „Nargh! Ist doch klar! Damit du perverses Schwein gar keine Ausrede mehr finden musst, um mir da rein zu glotzen! Bei Süßes kannst du ja nie widerstehen!“ „Oh, in dem Fall, werde ich offensichtlich hinsehen.“ Jetzt wusste sie nicht mehr, ob sie nur sauer sein, oder vor Scham im Boden versinken sollte. „Wobei...“, begann er. „ich mich dann frage, wer hier pervers sein sollte.“, setzte er nachdenklich nach, legte dabei wie üblich seinen Daumen an die Unterlippe. Spätestens jetzt riss der Geduldsfaden. Ruhig hob sie die Katze an, setzte sie auf den Boden und L ging ganz aus Vorahnung schon einmal in Alarmbereitschaft. Das jedoch völlig umsonst, da sie seelenruhig in den Garten ging – was er äußerst misstrauisch beobachtete. Das sollte alles gewesen sein? L saß grübelnd auf dem Sofa. Sollte er ihr nachgehen? Shaelyn war außer sich vor Wut, was ihr nicht schwer anzusehen gewesen war. Besser er ging seiner Verantwortung nach und vergewisserte sich, dass sie nichts anstellte. Somit erhob er sich, zog seine Schuhe an und ging zur Gartentür, die weit offen stand, wurde von Blümchen allerdings nicht verfolgt, jene auf dem Sofa nun ein verdientes Nickerchen hielt. L musste für einen Moment eine Hand gegen die blendende Abendsonne halten, während er hinaustrat. Shaelyn stand mit dem Rücken zu ihm gewandt. „Lass' mich einfach in Ruhe! Ich will mich abregen...“, sprach sie gleich aus, bewies ihm damit, dass sie ihn wahrgenommen hatte. „Und gerade du hilfst mir nicht damit! Also lass mich alleine!“ „Das kann ich in deinem Zustand nicht verantworten.“ Sie war nun einmal recht Ungestüm und scheute nicht vor eventuellen Folgen. Der Satz jedoch löste eine Katastrophe aus. Wäre er besser im Wohnzimmer geblieben. „Jetzt is' Schluss hier! Du machst mich total verrückt!“ Nein, L konnte nicht so schnell reagieren, wie sie den Schlauch zu ihren Füßen hochhob, sich zu ihm wandte und das Wasser aus dem Gartenschlauch schoss, den sie schnell an der Spitze aufdrehte: Lediglich konnte er seine Hände anheben, damit der Wasserschwall nicht zu stark in sein Gesicht schlug. Shaelyn hielt unbarmherzig den Schlauch weiter auf Rue, jener recht unbeholfen versuchte den Wasserstrahl abzuwehren. Von oben bis unten hielt sie den Wasserstrahl drauf, durchweichte den Schwarzhaarigen vollkommen, kam nun auch ein Lachen von ihr auf. Er hatte es nicht anders verdient! Und das war wie Erlösung! Rechnete sie allerdings nicht damit, dass er plötzlich durch den Wasserschwall hindurch zu ihr kam, den Arm ausstreckte und die Hand vor die Öffnung hielt, somit das Wasser an den Rändern übersprudelte. Unvermittelt schluckte Shaelyn: Seine Augen sahen schwarz und sehr böse aus. Wenn er wütend war, dann sicherlich stinkend wütend! „Ups!“, gab sie direkt von sich und wollte flüchten, indem sie den Schlauch los ließ und über den nächsten Busch springen wollte. „Das bist du aber selbst schuld!“, rief sie noch verstärkend, ehe Rue den Spieß umdrehte. Sogleich spürte sie den Wasserstrahl auf dem Rücken. Das Wasser war eisig kalt, schüttelte sie sich durch und erreichte die Nässe all ihre Körperstellen. „S-Stopp!“, schrie sie verzweifelt aus, das allerdings von Rue nicht beachtet wurde. Doch das Wasser versiegte trotzdem. Rue blickte irritiert auf den Schlauch, Shaelyn holte erst einmal tief Luft, schlang dabei ihre Arme um den Oberkörper und eine Emma stand an dem Wasseranschluss an der Hauswand. „Was geht denn mit euch zwei?!“, hakte sie schroff nach. „Ihr habt alles total nass gemacht! Und seht euch mal an!“ Die Engländerin drehte sich um, blickte betreten zu Boden, hob dann aber bibbernd den Zeigefinger an, deutete gleich auf Rue. Jener hatte bereits den Schlauch fallen lassen und kaute auf seinem Daumennagel herum – als sei er unbeteiligt, war aber mindestens so auf die Knochen durchnässt wie Shaelyn. „Er macht mich immer total wütend!“, verteidigte sich Shaelyn und starrte erbost auf Rue. „Ab ins Haus!“, verlangte Emma verärgert. „Sofort! Und dann raus aus den Klamotten!“ „Warum hast du mich nass gemacht?!“, fragte Shaelyn nach einer kleinen Stille schließlich ungehalten, jene mit einer dicken Decke bekleidet in dem Zimmer von Emma auf und ab ging. Sie blickte Rue schon die gesamte Zeit über wütend an, der es noch nicht einmal für nötig gehalten hatte, seine Haare zuvor abzutrocknen. „Es gilt Auge um Auge. ... Und wie mir scheint, hat dir eine Abkühlung ganz gut getan.“, erwiderte der ebenso nur in eine Decke eingehüllte Detektiv, der leider nicht an einen seiner Daumennagel nagten konnte, da er den Stoff an zwei Stellen geschlossen hielt. „Was ein blöder Vorsatz! Du hast sie doch nicht mehr alle! Jetzt müssen wir hier stehen und warten, bis der Trockner fertig ist!“, meckerte die Schwarzhaarige und stampfte einmal mit dem nackten Fuß auf. „Du hast es dir selbst zuzuschreiben, Shaelyn.“, erwiderte er monoton. L hatte in dem Fall keinen Mitleid. „Ach, du bist doch d... ?“ Shaelyn stoppte, beobachtete plötzlich interessiert seine Gesichtszüge – die sich immer weiter verformten: Er versuchte angestrengt irgendetwas. … Es sah so aus, als müsste Rue niesen. Haargenau das passierte im nächsten Moment, was ihn allerdings dazu veranlasste, dass er eine Hand löste, die er vor seine Nase hielt und die Decke ein ganzes Stück an seinen Schultern hinunter rutschte – das bis zu seiner Hand an der Hüfte. Shaelyn lief rot an, starrte ungehalten auf seinen blanken Oberkörper, an dem nun Wassertropfen hinunter perlten. „Ge-Gesundheit...“, faselte sie leise daher, versteckte ihren Kopf ein wenig vor Verlegenheit in die dicke Decke, die sie noch enger an sich zog. „Danke.“, folgte es dann neutral und sie zählte gedanklich ein paar Schafe, was sie langsam beruhigte. Sie durfte nicht darüber nachdenken, dass sie eigentlich auch nur eine Decke trug. Praktisch nackt war, wie es Rue war. Ja, sie hatte Rue erst vor weniger Zeit nur in Shorts gesehen... und sie hatte ja eigentlich auch nichts an, aber sie fühlte sich irgendwie beklemmt. Lag es daran, dass es keine gewohnte Umgebung war? Oder viel mehr daran, dass ihre Gedanken und Wünsche verrückt spielten? Eines war klar: Es war aufregend. Demnach klebte ihr Blick förmlich an die nackte Haut, die er ihr ungeniert zeigte. Sie konnte sich nicht satt sehen. Und wie es schien, hatte er kein Interesse mehr daran die Decke hochzuziehen, da er nun lieber an seinem Daumennagel knabberte. „Wolltest du noch etwas Bestimmtes sagen?“, wandte er sich dann an sie und sie zuckte wie ein verschrecktes Huhn zusammen. Was, wo? „Hm, was?!“ „Anscheinend nicht.“, führte er mit angezogener Augenbraue aus und sah sich dann genauer im Zimmer um, ging sogar zum nahestehenden Nachttisch hinüber. Das rüttelte sie etwas wach. „Hey! Was hast du vor?“ Shaelyn betrachtete die unverschämte Neugierde Rues kritisch und stellte sich dann direkt neben ihn. „Du kannst doch nicht einfach so hier herumschnüffeln! Das seh' ich dir doch an.“, flüsterte sie nun, während ihr Blick immer wieder zur Tür huschte. „Wenn sie uns hier einschließt, sollte sie damit rechnen.“ Bei so viel Dreistigkeit fiel nichts ein, sondern zog nur unzufrieden ihre Brauen zusammen. War er komplett übergeschnappt?! Was wollte er schon finden? Schlimme belastende Dinge? Panik kroch in ihr hoch. Was war, wenn Emma zurück kam und Rue beim Stöbern entdeckte? Sie steckte kopfüber mit drin! L zog an dem kleinen Knopf, der die Schublade aufzog. Eventuell ließe sich etwas zum Öffnen der Tür finden. Eine Haarnadel oder ähnliches reichte vollkommen aus – auch wenn er nicht der Meister im Schlossknacken war, reichte sein Wissen und Können aus. Denn gefiel ihm diese momentane Lage nicht. Langsam wurde es problematisch. Shaelyn verriet sich durch ihren interessierten Blick. Nicht lange und L hätte tatsächlich ein großes Problem. Direkt hob er ein Heft aus der Schublade an, um tiefer zu blicken, da wurde er am Arm gefasst. „Lass' es liegen! Du sollst nicht an ihre Sachen! Und mach die Schublade wieder zu!“, beschwerte sich Shaelyn, bevor er jedoch antwortete, löste sich etwas aus dem Heft und fiel zu Boden. Überrascht blickte Shaelyn ihm erst ins Gesicht, ehe sie auf den Boden sah, was L ihr gleichtat. Es sah wie eine silberne kleine Verpackung aus. Neugierig wie er war, ließ er zunächst das Heft in die Schublade zurückfallen, hob dann die kleine Verpackung auf. „Was zum...“, meldete sich die Schwarzhaarige zu Wort, beäugte es dann genauer, als er es vor sich hochhielt – oder mehr zwischen sich und ihr, und es schließlich wendete. Unvermittelt stieß Shaelyn einen kleinen Kreischer aus – sodass L erschrocken zusammenzuckte. Was war denn nun wieder? „Ein K-K-...“ „Kondom?“ Alleine bei dem Erwähnen dieses Wortes kniff sie die Augen zusammen. „Sag bloß nichts dazu! Sei still!“, kam es schon fast panisch von ihr. Er hatte doch noch gar nichts dazu gesagt. Die Tür wurde just in diesem Augenblick aufgeschlossen. Gleich fuhr Shaelyn geschockt herum, wandte L lediglich nur seinen Kopf in Richtung Tür. Emma betrat ihr Zimmer, besah zunächst die Situation ruhig, ehe ein sehr breites Grinsen ihr Gesicht einnahm. „Da lässt man euch mal ein paar Minuten alleine... Soll ich später wiederkommen?“, fragte sie salopp, wobei Shaelyn hektisch und hochrot den Kopf schüttelte. Aber sie sah tatsächlich so aus, als wäre sie bei etwas Ertappt worden. „Hmmm... Dann spart es euch für später auf. Eigentlich wollte ich euch nämlich sagen, dass die Sachen gleich fertig sind. Die ersten Leute kreuzen auch bald auf.“, führte Emma erst belustigt aus. „Aber! Dafür, dass ihr den Garten so unter Wasser gesetzt habt, den man jetzt nur noch bedingt benutzen kann, gibt es eine Strafe!“ Irritiert starrte nicht nur Shaelyn Emma an, die nun an ihre Hintertasche griff und etwas Zückte, das beide gleichermaßen entsetzte. Pinke, mit plüschüberzogene Handschellen baumelten an ihrem Finger herab. „Wa... Auf gar keinen Fall! Niemals!“, rief Shaelyn aus und noch bevor L seine Meinung dazu kundtun konnte, kam jemand anderes hinzu: Joel, der umgehend die Handschellen aus der Hand seiner Schwester riss. „Spinnst du?“ Emma blinzelte einige Male, schnappte sich dann ihr Eigentum zurück. „Halt dich da raus, Brüderchen. Das ist ne' Sache zwischen Shae, mir und Rue.“ „Ich lass nicht zu, dass du die Dinger an Shae legst und sie mit dem da verbindest!“ Joel schenkte L einen kurzen, aber aussagekräftigen Blick. Jener grinste raffiniert, nahm seinen Daumen vom Mund. „Wenn ich es mir recht überlege, eine Strafe ist mehr als angemessen.“ Alle starrten L an – vor allem Shaelyn, die entgeistert den Mund offen stehen hatte. „Na dann, wunderbar!“ Emma lachte vergnügt. „Aber zunächst solltet ihr euch anziehen...“, verließ es bedenklich den Mund der Amerikanerin, die besonders L musterte – nicht unbedingt sehr angetan. Shaelyn zupfte an dem plüschigen Etwas an ihrem Handgelenk, probierte, ob sie es nicht doch lösen könnte. „Das ist zwecklos.“, sagte der junge Mann entspannt, der mit ihr fortan verbunden war – zumindest für den Abend. Nun wieder in dem roten Kleid, das vor weniger Zeit noch nass war, und Rue in seiner Kleidung, wurden sie beide aneinander gekettet. Und die Kette war viel zu kurz. „Wieso hast du dem blöden Vorschlag zugestimmt? Das ist doch schwachsinnig! Was ist, wenn ich mal auf die Toilette muss?“ „Dann werde ich mitkommen müssen, ... falls das nötig sein sollte.“ Shaelyn hielt sich ihre freie Hand vor dem Gesicht. „Ja... sicher.“ Das war doch ein Albtraum! Sie wollte ihm doch nicht zu nahe kommen! Dann verlor sie immer die Beherrschung! Und wohl die wichtigste Frage; was hatte er mit ihr auf dem Klo verloren?! ... Zumindest hatte sie nur Ärger wegen dem Garten bekommen und nicht noch fürs Herumschnüffeln. „Steht da nicht wie angewurzelt. Ihr könnt euch auch aufs Sofa setzen.“, kam es freundlich von Emma, die schon ein paar Süßigkeiten auf den Couchtisch stellte und dann sofort wieder in die Küche verschwand – mit einem zufriedenen Gesicht. Shaelyn sollte ihr im Nachhinein dafür danken. Auch wenn das nicht sonderlich vorteilhaft für das Kennenlernen der anderen Gäste war – sie dachte in erster Linie an die Engländerin. Ihre Freunde konnte sie auch noch wann anders kennenlernen. Eine Chance musste genutzt werden, wenn sie da war! Das war ideal zum Näherkommen. Und ihr Bruder sollte sich zurückhalten – was sie ihm vielleicht noch einmal klar machen sollte. Solange Shaelyn ihren Traummann nicht aufgab, würde Joel zurückstecken müssen. Emma unterstützte ihre Freundin, egal welchen Typen sie nun verfallen war. Rue setzte sich auch direkt nach den einladenden Worten Emmas in Bewegung, um sich ein paar Naschereien vom Tisch zu nehmen – die er auch ohne das Auffordern in nächster Zeit genommen hätte. Allerdings stoppte er abrupt: Shaelyn hielt an den Schellen dagegen. „Hey, wir hängen aneinander! Also sei mal Nachsichtiger!“ „Ist das nicht genau das, was dir eigentlich vorschwebt?“ Gelassen wie eh und je trug er dies vor und ging nun ohne Zwischenfall zum kleinen Tisch, schnappte sich ein paar Bonbons - Shaelyn hatte sich ohne Protest mitziehen lassen. „Ach, sei' doch still...“, flüsterte sie zaghaft. Argwöhnisch beobachtete Joel die Szene zwischen Shaelyn und ihrem Mitbewohner vom Flur aus. Da war es wohl gewesen mit dem Gespräch zwischen ihm und der Vogelscheuche. Zudem schien er langsam zu verstehen, was seine Schwester ihm versuchte einzutrichtern - denn war Emma nicht ganz klar mit der Sprache herausgerückt. Nur hoffte er, dass sich die Befürchtung nicht bewahrheiteten würde. Da klingelte es jäh an der Haustür. Jetzt ging wohl die Feier los – die er am Liebsten mit Shaelyn verbracht hätte, das allerdings nicht möglich war, wenn der zwielichtige Typ an sie hing. Die Handschellen hatten mehr Vorteile, als Nachteile. Das war auch der Grund, weshalb er eingewilligt hatte. Das die Kette so kurz war, war nun einmal einer der Nachteile. Doch blieb Joel mehr oder weniger auf Abstand, wie auch die anderen Gäste. Zumindest, was den männlichen Anteil der Leute betraf – doch die Freundin von Shaelyn fungierte als Vermittlerin für die weiblichen Gäste. Einige Mädchen hielten trotz dessen gewissen Abstand. So lernte Shaelyn nur ein paar Freundinnen von Emma kennen – und er gleich mit. So war es ihm sofort möglich, einzuschätzen, im welchen Kreis sich Shaelyn fortan bewegen würde. So schritt die Zeit ein wenig voran – und je mehr Gäste kamen, desto ausgelassener war die Stimmung. Und eines musste L der Gastgeberin lassen: Der selbst gemischte, nicht alkoholische Fruchtsaft war sagenhaft süß, woran sogar Shaelyn gefallen fand. Er sollte nach dem Rezept fragen. Ein Ziehen an seinem verbundenen Handgelenk war spürbar. Umgehend wandte er sich Shaelyn zu, die ihm mit ihrer freien Hand andeutete aus dem lauten Wohnzimmer zu verschwinden – was sie auch gleich taten. Im Flur, etwas Abseits der Leute, holte sie schließlich tief Luft. „Ich muss mal aufs Klo... ich halt es einfach nicht mehr aus.“, seufzte sie, als ob sie sich geschlagen gab – L hingegen zog eine Augenbraue hoch. Warum sagte sie nicht schon früher etwas? „Jaja, Einhalten ist nicht gesund! Ich weiß, haste mir schon gesagt... aber ich geh' für gewöhnlich alleine … na du weißt schon wohin! Also bitte... halte mir keinen Vortrag...“, stellte sie klar und warf ihm einen scharfen Blick zu. Sie wollte offensichtlich nichts dazu gesagt bekommen. „Allerdings habe ich eine Frage.“, meinte er nicht aus der Ruhe gebracht, woraufhin sie die Augen verengte. „... Und was?“ „Warum fragst du nicht deine Freundin, ob sie für die Zeit die Handschellen löst? Immerhin... hat sie nichts Genaues dazu erwähnt.“ Prompt starrte sie ihn entgeistert an. Für wenige Sekunden kehrte Stille ein, in der L schlicht zurück stierte. „... Warum hast du mir das nicht eher gesagt!? Ich muss voll dringend aufs Klo!“ Er war sich ziemlich sicher gewesen, dass ihr der Einfall irgendwann einmal kommen würde. „Jetzt weißt du es.“, meinte er trocken. „Idiot!“ Verärgert wandte sie sich um und zog einfach an den Handschellen, sodass er ihr treu folgte. L grinste nur schwach; Shaelyn war mehr über sich selbst verärgert als das ihn die Schuld traf. Emma war unter der Menge trotz allem schnell zu finden, bettelte Shaelyn auch direkt darum, dass sie von den Handschellen wenigstens für die Zeit im Bad befreit würde – was Emma natürlich tat, wohl auch mit einem Lachen. Es war für sie selbstverständlich gewesen, sie hatte nie verlangt, dass Shaelyn mit ihm auf die Toilette gehen sollte. L behielt somit Recht, was die Engländerin nur weiter ärgerte. Als Shaelyn dann davon eilte, wurde L am Arm gepackt. „Ich muss mal mit dir reden, Rue.“, wandte sich Emma an ihn. „Es geht um Shaelyn. Lass' uns dafür an einen ruhigeren Ort.“ Interessiert hörte er sich die Worte der Brünetten an, die sehr ernst klangen. L folgte Emma in die erste Etage, wo zurzeit keiner der Jugendlichen standen. Direkt drehte sie sich zu ihm, verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich muss sagen, auch wenn ich Shaelyn jetzt noch nicht lang kenne, ist sie wirklich ein sehr nettes und liebes Mädchen. Sie ist unkompliziert, sie sagt was sie denkt und handelt sofort danach.“, begann Emma, was allerdings nicht sonderlich relevant für L war. Was sie ihm erzählte war ihm längst bekannt. „Kommen wir also zum Punkt, mein Freundchen.“, schlug sie plötzlich mit einem harten Ton an, das bei L auf Skepsis traf. „Ich will sie nicht traurig sehen. Das heißt für dich, dass du gut zu ihr sein sollst. Zwar hab' ich noch nicht raus, was wirklich zwischen euch läuft... und damit meine ich dich, aber für mich ist da was nicht ganz koscher. Das alles, das sag ich dir offen ins Gesicht, sieht nicht danach aus, als spielst du hier nur den Aufpasser. Das werde ich aus guten Gründen Shaelyn nicht sagen. Ich will sie damit nicht verunsichern, oder etwas in den Kopf setzen, was sie gleich verrückt werden lässt. Shaelyn ist nicht nur ein bisschen in dich verknallt. So wie ich sie erlebe merke ich einfach, wie süchtig sie ja schon fast nach dir ist. Also tu mir den Gefallen. Wenn du nichts von ihr willst, dann geh' auf Abstand. Sonst wirst du sie richtig heftig enttäuschen. Mädchen sind echt empfindlich, was Gefühle angeht. Und sie ist so unerfahren... Tu' ihr also nicht weh, sonst wirst du es wirklich sehr bedauern...“ L hatte begonnen an seinem Daumennagel zu nagen. Nicht da ihn ihre lasche Drohung Angst einjagte. Viel mehr war es ein anderer Grund, der ihn zum Nachdenken anregte. Denn wie er es bereits stark vermutet hatte: Emma musste eine Nase für solche Dinge haben und sie hatte ihm deutlich gemacht, dass sie seine Handlungen für seltsam hielt. Das war jedoch noch kein Grund beunruhigt zu sein. Zumal sie selbst erwähnte, dass sie es nicht Shaelyn verraten würde. Ihr Hauptaugenmerk schien viel mehr auf das Wohlergehen von Shaelyn zu liegen. Ihn dafür allerdings zur Seite zu nehmen und in einem solchen Ton mit ihm sprechen, war überflüssig. Wenn sie jedoch unsicher war, was die tatsächliche Beziehung von ihm zu Shaelyn anging; warum kettete Emma dann Shaelyn und ihn aneinander? Schadete die Brünette dann nicht mehr Shaelyn? Oder war das mehr ein Versuch? Ein Test um herauszufinden wie er zu Shaelyn stand? Auch die Situation zuvor im Zimmer, wie auch das verschließen. L schätzte Emma falsch ein: Sie hatte etwas Köpfchen. „Deine Sorge ist unbegründet.“, erwiderte er matt, erhielt auch augenblicklich einen misstrauischen Gesichtsausdruck von Emma. Sich hier in eine Diskussion zu verhaken brachte nichts – hatte er auch kaum Interesse daran. Dementsprechend war seine Antwort knapp ausgefallen. Wenn gleich ihm die Worte von Emma viel verraten haben. So konnte er Emma als Freundin für Shaelyn akzeptieren. Es war somit mehr ein Überprüfen von Emmas Absichten – die sie ihm schon so freiwillig lieferte. L fand keine Anzeichen für eine Lüge in den Worten der Amerikanerin. „Das hoffe ich doch. Ansonsten war's das auch schon.“ Nun lächelte sie ihm entgegen. „Aber wenn du auch was von der süßen Shae willst, dann warte nicht zu lang.“ Nun etwas aufmerksam geworden, jedoch äußerlich völlig uninteressiert, hob er eine Braue an, nahm dabei seine Hand herunter. „Und weshalb?“ „Das wirst du dann herausfinden... je länger du wartest. Falls du natürlich was von ihr willst...“ Ihr breites Grinsen konterte er durch eine emotionslose Mine. „Emma? …“ Shaelyn war die Treppe herauf gekommen, da ihr jemand der Leute sagen konnte, wo sie Emma fand, erblickte nun nicht nur diese, sondern auch Rue. Was taten die Zwei da? Es sah so aus, als ob sie sich unterhalten hatten. Verwirrt blieb sie stehen, bemerkten beide Shaelyn auch umgehend. „Da bist du ja wieder.“, begrüßte sie Emma lächelnd, zückte aber im selben Moment die Handschellen. „Ihr zwei müsst wieder an die Kette.“ Shaelyn lächelte gequält, jedoch mehr aus einem anderen Grund. Irgendwie fühlte sie sich miserabel. Das eben hatte mehr etwas mit einem geheimen Treffen gemein. Nachdem Emma ihr und Rue rasch die pinken Plüschketten erneut angelegt hatte, war diese wieder zu den Gästen zurückgekehrt. Aber Shaelyn fühlte sich unwohl, was sie nicht verstecken konnte. Ob Emma Rue irgendwas Wichtiges hatte sagen müssen, dass sie sogar hinauf in den Flur gingen? Das lag sicher an sie. Einen anderen Grund gab es auch nicht. Warum sollte ihre Freundin, die offensichtlich Rue nicht sonderlich leiden konnte, diesen soweit wegziehen und mit ihm reden? Über was hatten sie geredet? Machte es Sinn, Rue danach zu fragen? Er verriet auch sonst kaum etwas, wieso sollte er jetzt? Warum war es so extrem wichtig zu wissen, was zwischen den Beiden gesprochen wurde? War es nur alleine deshalb, weil sie wusste, dass es um sie ging? Oder... weil sie gesehen hatte, wie er seine Aufmerksamkeit einer anderen schenkte? Das war totaler Irrsinn! Emma war ihre Freundin, die noch dazu überhaupt kein Interesse an Rue besaß. Was aber wenn Rue... Ihre Gedanken liefen über! Wo war unten; wo war oben? War sie etwa... eifersüchtig? „Shaelyn.“, riss es sie aus dem Rausch, der sich in ihrem Kopf abspielte. Nur wenige Augenblicke später spürte sie eine warme Hand, an der ihren, die ihre vorsichtig anhob. Unvermittelt blickte Shaelyn Rue an, der ihre Hand gezielt besah. „Du blutest an der Handfläche.“ Ganz durcheinander starrte sie auf die Schnittwunde, schlug dabei ihr Herz bis zum Hals. „I-Ich... hab mich gerade im Bad... das war... eigentlich...“, stammelte sie zusammenhanglos, was ihn deutlich skeptisch stimmte, da er von ihr Handfläche aufsah – direkt in ihre Augen. „Ist alles in Ordnung?“ Fast hilflos erwiderte sie seinen stechenden Blick. „... Nein.“ „Wo liegt das Problem?“, hakte er recht sachgemäß nach, das sie im Moment vollkommen überhörte. „Ich glaub, ich bin eben eifersüchtig gewesen...“ Man sah deutlich, dass Rue umgehend interessiert die Augenbrauen anhob. „Auf Emma... das ist total der Schwachsinn und ich meine... du redest eigentlich mit keiner anderen und dann so zu sehen, wie du einer zuhörst, eben alleine mit ihr da stehst. Wie, als habt ihr euch vor mir versteckt. Das hat mir irgendwie weh getan. Ich … will nicht, dass du mit einer anderen Geheimnisse hast...“, verließ es aufgewühlt ihren Mund, gar nicht im Bewusstsein, dass sie es wirklich laut aussprach und vor allem Rue gegenüber. Viel zu sehr verdrehte sich alles in ihrem Kopf. Und ihr war viel zu heiß, was ihr noch weiter zusetzte. Dann realisierte sie beim nächsten Atemzug schlagartig, was sie eigentlich sagte, weshalb sie ihre Hand panisch zurückzog. „Schon gut! Vergiss' das! Ich bin nur durcheinander! Das ist eh Unsinn!“, verteidigte sie sich, wich allerdings seinem Blick aus. „Und das mit der Schnittwunde ist nicht schlimm! Das war nur ungeschickt von mir!“, lachte sie unsicher, wandte sich zum Gehen um, vergaß jedoch ein winziges aber doch entscheidendes Detail – die Plüschhandschellen. Ruckartig kam sie so schnell zum Stehen, da Rue ihr nicht folgte. „Du solltest nicht davonlaufen, Shaelyn.“ Es kribbelte überall auf der Haut. Seine Stimme klang tief, gleichermaßen ruhig. „Deine Annahme war korrekt. Es war Eifersucht.“, fuhr er im selben Ton fort, während sie weiterhin wie versteinert dort stand. „Allerdings ist sie völlig unbegründet.“ Unter seiner Stimme mischte sich etwas Anderes – etwas, als sei das was er sagte, aus voller Überzeugung. Kein Anzeichen einer Täuschung. Shaelyn sog direkt stärker die Luft ein. All ihre absurden Gedanken waren tatsächlich ganz grundlos? Auch der, dass Rue vielleicht eher etwas an Emma finden würde? Wie konnte er sich da sicher sein? Oder dachte er erst gar nicht daran? Und versuchte er sie so zu beruhigen? Seine Überzeugung beruhigte sie ein wenig, warf es jedoch nur mehr Fragen auf. „Also... ganz?“, fragte sie vorsichtig, drehte sie sich währenddessen zu ihm. Sein Gesicht war regungslos wie sonst auch. Nichts drückte eine Emotion aus, was sie doch kurz zweifeln ließ, ob sie auch wirklich seine Stimme richtig eingeordnet hatte. Sonst schien der Klang ebenso gefühllos wie seine jetzige Regung. „Ja, ganz.“, verließ es seinen Mund und es war als fiel ihr nicht nur ein Stein vom Herzen, sondern eine ganze Steinlawine, ganz gleich wie er sie dabei anstarrte. Die Erleichterung war kaum zu verbergen, weshalb sie einen Schritt auf ihn zu tat, damit die Kette wieder entspannt an den Handgelenken baumelte. Sie hatte das Gefühl ihm nicht nur so näher gekommen zu sein, wenn auch nur für ein Stück. Denn dass er ihr das so sagte, ließ es ihr Vertrauen etwas wachsen. Besser sie sagte es aber nicht ihrer Freundin, die würde sie glatt für komplett irre halten... Shaelyn entspannte sich, weshalb sich ihr Kopf wieder klärte. „... Der Himmel wird heute Nacht sternenklar sein. Denkst du nicht auch, dass es schön wird?“ L hob eine Augenbraue an, da der abrupte Themenwechsel ihn verwunderte. Doch ehe er dazu etwas Erwidern konnte, sprach Shaelyn weiter – mit einem versunkenen Lächeln. „Weißt du noch? Ich habe damals zu dir gesagt, dass man das mit Freunden feiert. Wir haben uns gestritten. Ich habe gedacht, dass ich alleine unten stehen werde.... du bist dann doch gekommen. Ich war dann so glücklich darüber. Aber dann auch so besorgt, weil du so luftig locker in den Schnee gestapft bist! Naja, du hast ja meinen Schal bekommen...“ Der nach Vanille geduftet hatte. Das war das erste, was ihm dazu in diesem Augenblick einfiel. Ja, er wusste noch, wie er dort in der Wohnung stand und verwundert an dem Stoff roch. Es war angenehm gewesen. War es da der erste Indiz? Die erste Spur? Er hatte es nicht wirklich wahrgenommen. Zurückdenkend war es für ihn sonnenklar. Sein Körper verkrampfte sich leicht, als Shaelyn noch einen Schritt näher kam – das mit einer schier begeisterten Mimik. Er konnte schwach ihren Atem im Gesicht spüren. Was folgte jetzt? „Ich hab's!“, kam es entflammt von ihr. „Ich weiß jetzt, was du machen sollst!“ Shaelyn machte Pause und mit jeder weiteren stillen Sekunde mehr, wuchs seine Ungeduld. „Und das wäre?“ Ihm schwebte angesichts ihrem Enthusiasmus nichts Gutes vor. „Du sollst mit mir Eislaufen gehen. Wenn wir schon so keinen kalten Winter hier in Los Angeles haben, dann will ich wenigstens in eine Eishalle und du musst mich begleiten.“ Verstört stierte er in die geradezu funkelnden Augen Shaelyns – sie meinte es ernst. „Das geht nicht.“ „Wieso?!“ „... Ich kann kein Eislaufen.“, gab er zu, versuchte damit, dass das sie von ihrer wahnwitzigen Idee abbrachte. Allerdings lachte sie nur verzückt. „Kein Problem! Ich bring es dir bei. Ist gar nicht schwer... ehrlich nicht.“ Ihm gefiel diese Vorstellung überhaupt nicht, weshalb er voller Unmut auf seinen Daumennagel biss. Musste er sich tatsächlich an diese Abmachung halten? „Gibt es eine Mö-“ „Nein!“, trommelte sie gleich entschieden. „Mein Wunsch ist es, dass du mich zum Eislaufen begleitest. Und das verstößt auch nicht gegen die Regeln. Weil...“ Sie hob ihren Zeigefinger an, drückte unerschrocken mit der Fingerkuppe auf seine Nasenspitze. „... du Eislaufen eigenständig kannst, wenn auch nach ein paar Versuchen. Ich fass' dich nicht an, wenn du das nicht willst. Demnach hat es nicht direkt etwas mit mir Zutun.“ Zufrieden nahm sie ihren Finger von seiner Nase und grinste. „Aber wenn man es genau betrachtet... ist es im Grunde so.“ Gleich plusterte Shaelyn ihre Wangen verärgert auf. „Falls du allerdings gewillt bist mir eine Auskunft zu geben, werde ich mich geschlagen geben.“, begann er kooperativ. Die Luft wich aus ihren Wangen, blickte sie ihn auch gleich konfus an. Seit wann war er so entgegenkommend?! Da war doch was faul. „Aha... und das ist?“ „Warum hast du eine so ausgeprägte Abneigung gegen das Hintergehen?“ Natürlich, jeder Mensch mochte es nicht, das konnte L nicht bezweifeln, sondern fiel eher warum Shaelyn so empfindlich darauf reagiert hatte. Und es steckte etwas Dahinter – das hatte sie schließlich selbst zugegeben. Nur was es war, das hatte sie ihm nicht preisgegeben, wo sie doch sonst so gesprächig war. L wartete, konnte dabei beobachten, wie sie bedrückt zur Seite blickte und sich seitlich am Hals strich. Es war ihr sehr unangenehm. „Das... ist keine schöne Geschichte, Rue.“, begann sie leise, das beinahe von der lauten Musik im Untergeschoss übertönt wurde. Just kamen zwei junge Frauen in die erste Etage, sodass Shaelyn noch weiter zögerte und die kichernden Mädchen betrachtete. Jene liefen an Rue und ihr vorbei, waren ganz in ein Gespräch vertieft. „Hast du gesehen, wie Steve dich angeglotzt hat?“ „Jaja! Meinste mit dem geht was?“ „Und so was von!“ Die Mädchen verzogen sich einfach ins Bad, aus dem dann ein junger Mann, mit ebenfalls brünetten Haaren heraus trat. Shaelyn achtete zunächst nicht auf diesen, war sie sich unsicher wie sie überhaupt beginnen sollte. „Hey, ihr seid doch die zwei, die oben in den Hills wohnen, oder?!“, kam es plötzlich freundlich von der Seite. Umgehend wandten sich Rue und Shaelyn zur Quelle um. Die Schwarzhaarige legte den Kopf schief. Es war der junge Mann, der zuvor aus dem Bad kam – er trug ein breites Lächeln in seinem schmalen Gesicht, selbst, als er Rue musterte. Der Engländerin fiel sein, mit nassen Flecken überzogenes, gelbes T-Shirt auf. „Ja...“, antwortete sie leicht konfus, gedanklich noch wo anders – Rue hielt sich nach wie vor zurück. „Ah, sorry,... wo sind meine Manieren? Ich bin Dustin, ein enger Freund von Emma.“, stellte Dustin sich nun mit einer kleinen Handgeste vor, was allerdings reichlich suspekt erschien; wie letztendlich nicht nur Rue feststellte. Irgendetwas war komisch an dem Typen. „Äh, Shaelyn. Das ist Rue.“ Sie zeigte gleich auf ihren Begleiter, der von Dustin kurz noch genauer gemustert wurde – jedoch mehr mit Interesse als mit Abneigung. „Ihr zwei seid ein Paar, oder?“, fragte er kichernd und sofort stierte sie Dustin mit großen Augen an. „… ähm... Es ist kompliziert...“, beantwortete Shaelyn schließlich sehr ungenau, heimste sich gleich einen, selbst für sie, seltsamen Blick von Rue ein – er schwieg allerdings weiterhin eisern zum Gespräch. Eben ein stiller Beobachter. „Hmh.... Wieso die schicken Handschellen?“ „Ach, das war Emma. Wir hatten Mist gebaut und als Strafe müssen wir die Dinger tragen.“ Dustin nickte mit einem Lächeln. Er schien zufrieden. „Aber ich hab' eigentlich eine andere Frage. Ich bin ein riesen Fan von Gordon McLee! Wohnt der zufällig bei euch in der Nähe? Habt ihr den schon mal gesehen?!“ Irritiert blickte sie Dustin an, der regelrecht entflammt schien. „Der wohnt nebenan.“, mischte Rue sich nun ein, was ihm sofort die volle Aufmerksamkeit des seltsamen jungen Mannes einbrachte. „Wer?“, fragte Shaelyn in die Runde. „Kennst du ihn?“, überhörte der Brünette die Frage von Shaelyn, was sie etwas gemein fand. „Nein.“, hielt sich Rue knapp. Gleich konnte man hören, wie Dustin seufzte. „Schade. In die Gegend kommt man so schwer, wenn man nicht unbedingt da wohnt, oder man mit einen da befreundet ist. Da wohnen ja nur echt Reiche.“ „Dustin!“ Die drei Köpfe wandten sich zur Mädchenstimme um. Eine junge Frau mit blonden lockigen Haaren rief ihm vom Absatz der Treppe zu. „Komm' mal wieder! Ich hab' da was, was dich bestimmt brennend interessiert!“ Sie winkte ihm zu, deutete an, dass er kommen sollte. „Ich geh' dann mal wieder. Vielleicht komm' ich ja gleich nochmal vorbei! War nett euch kennenzulernen.“ Beim letzten Wort allerdings schien er mehr Rue damit zu meinen, als Shaelyn. Jener beobachtete ohne Regung wie der Brünette zu der Blonden hinüber ging und beide die Treppe hinunter nahmen. „Kann das sein, dass ich zuletzt ignoriert wurde?“ „Ja, das ist sehr wahrscheinlich.“, folgte es nachdenklich. „Wer sollte also dieser komische McLee sein?“, wandte sie sich zu Rue um. „Ein zurzeit bekannter Fernsehstar.“ „Du ... kennst dich da aus? Und wieso weißt du überhaupt, wer alles unsere Nachbarn sind?“ „Es ist für mich selbstverständlich zu überprüfen, wer in dieser Gegend zurzeit residiert.“, meinte er gelassen, was ihm nur verstörte Blicke einbrachte. „Hey, ihr zwei!“ Eine bekannte Stimme näherte sich von der Seite, sodass sie sich abermals umdrehten. Emma, die breit lächelte und wieder die Stufen nach oben erklommen hatte. „Ich hab noch was vergessen zu sagen! Ein Freund von mir wollte euch unbedingt was fragen, weshalb er mich schon mehrmals angesprochen hat.“ Shaelyn zog die Augenbrauen an. „Dustin? Den hast du nur ganz knapp verpasst.“ „Achso?“ Als Bestätigung erhielt Emma ein Nicken – von Rue nur ein Starren. „Kann es sein, dass der irgendwie komisch ist?“, hakte dann Shaelyn nach, woraufhin Emma sehr breit zu grinsen begann. „Komisch? Noch nie einen schwulen getroffen? Er redet manchmal ein wenig wie ein Mädchen und macht so komische Gesten. Ist aber echt top. Mit dem kann man viel Spaß haben.“ Rue entglitten umgehend seine Gesichtszüge, das Emma misstrauisch betrachtete. Shaelyn fasste sich vor Schock an den Kopf. Jetzt wusste sie, warum sie so gut wie ignoriert wurde. Das hatte sogar sie auf Anhieb verstanden. „Was ist denn los?“ Die Brünette verstand nichts von dem, was sich gerade abspielte. „Hat... Dustin einen Freund? Also festen Freund?“, fragte Shaelyn weiter nach, hoffte, dass sie doch nur Gespenster gesehen hatte. „Nicht das ich wüsste...“ Emma überlegte. „Aber er ist auf der Suche. Warum?“ Die Amerikanerin blickte interessiert zu Shaelyn, jene lächelte vorsichtig. „Reine Neugierde.“ Emma schien zufrieden. „Okay gut. Denkt dran, bald ist es soweit. Schnappt euch dann einfach aus der Garage ein paar Knaller. Und seid schnell, sonst ist schon alles vergriffen.“, flüsterte Emma zuletzt den beiden zu, bevor sie sich dann wieder von dannen machte. „... Sag mir, dass ich nur zu viel Fantasie besitze, Rue. Hab' ich alles richtig verstanden?!“ Der Angesprochene kaute angestrengt auf seinem Daumennagel herum, während sich sein Blick verfinsterte. „Ich fürchte ja.“ „... Der wird wiederkommen! Hat er zumindest gesagt.“ „Ich weiß.“ „Und was machen wir dann da?“, fragte Shaelyn ratlos, blickte sie L von der Seite an. Er wusste es nicht. Jedenfalls empfand er es als sehr unangenehm. L's Pupillen richteten sich auf Shaelyn. „Du hast keine Bedenken?“ Sofort stutzte sie. „Worüber.... ? Dass ein Schwuler dich toll findet? Oder du glaubst doch echt nicht, dass ich da eifersüchtig werde... ?“ L legte seinen Kopf für wenige Momente in den Nacken, knabberte weiter an seinem Daumen. „Ja.,... unwahrscheinlich.“ Dann zog sie eine Augenbraue an, betrachtete ihn skeptisch. „Ist aber doch egal. Wenn die Party vorbei ist, dann siehst du ihn nie wieder.“ Sie hatte vermutlich recht. Somit tat er dieses Thema ab. Wenn jener Dustin zu lästig wurde, konnte er sich noch immer etwas Einfallen lassen. Etwas Anderes war ohnehin interessanter. „Du wolltest noch etwas Loswerden.“, sagte Rue dann, was sie erst einmal zum Erinnern anregte. Schließlich presste sie ihre Lippen unzufrieden zusammen. Natürlich wollte er es noch immer wissen. „Als Loswerden würde ich es jetzt nicht bezeichnen...“, gab sie zweifelnd von sich. „Aber du hast Recht... komm'“ Öffnete er gerade seinen Mund, um etwas zu Erwidern, fasste Shaelyn ihn an die Hand und zog ihn einfach ins nächste Zimmer. Sie wollte alleine mit ihm sein, wenn sie darüber sprach. Und schließlich sollte keiner stören. So schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich an dieser, ihre Augen gen Boden gerichtet. Das flaue Gefühl von vorher kehrte zurück. Alleine der Gedanke an das, was sie sagen würde, behagte ihr nicht. Aber sie wollte, dass er alles von ihr wusste – nur war nie der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Letztlich harkte er selbst nach. Wenn sie weiterhin schwieg würde es zu einem Geheimnis kommen. Eigentlich sollte kein Geheimnis zwischen ihnen stehen. Und war es wirklich so schlimm? Es war nur eine alte Geschichte. Shaelyn biss sich kurz auf ihre Unterlippe, ehe sie zögernd begann: „Ich hab' dir doch mal vor einem Jahr was gesagt, … naja eher hast du mich ja ausgefragt.“ Er hatte sie viel gefragt. Zu viel, um genau sagen zu können, was sie explizit meinte. L gab ihr die Zeit zum Antworten. „Tja... von wegen Freund und so.“ Sofort hoben sich die Augenbrauen von L an. Er erinnerte sich. „Ja, das war so. Ich war 15 und in einen Typen in meiner Klasse verknallt. Ich dachte, ich hab' gar keine Chance bei ihm, weil er so beliebt war. Aber dann hatte er mich mal angesprochen. Naja, wir kamen dann ziemlich schnell zusammen.“ L schwieg zu dem was sie sagte. Zumal dieses Thema begann ihm sehr zu missfallen. Die Vorstellung, Shaelyn fand jemand anderen anziehend, löste Verärgerung aus. Ganz gleich, ob es längst vergangen war. Ihm passte es überhaupt nicht. Eine neue Erfahrung, die er gern missen würde. „Jedenfalls hatte ich meinen ersten Kuss mit ihm und es war auch ganz schön.“ Die Schwarzhaarige seufzte, strich sich nervös ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Hingegen L mit Zurückhaltung weiter zuhörte. Doch Shaelyn blieb still. „Was ist vorgefallen?“ Sie zögerte. „Er wurd' mir dann zu aufdringlich.“ L nahm seinen Finger vom Mund, ließ die Hand sinken. „Er wollte halt schnell mehr von mir als nur Küssen. Ich hab ihn halt immer abgeblockt, weil ich mich nicht wohl fühlte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es so nicht richtig war.“ Es gefiel ihm immer weniger was sich hinter der Sache verbarg. „Dann auf einmal von einem Tag auf den anderen, hatte er nur noch wenig Zeit. Ich hab' mir total viele Vorwürfe gemacht! Hab ihn dann auch immer gefragt, wenn er mal wieder Zeit hatte, ob alles okay wäre... hab ihn ja sogar gefragt, ob er vielleicht eine andere hätte. Er hat immer gesagt, dass ich mir das einbilden würde. Ich hab ihm vertraut und wenn ich daran denke, hab ich ja auch nicht daran geglaubt, dass er eine andere hat. Er hat mir sein Versprechen gegeben. Dann wollte ich ihn besuchen. Keine Ahnung wieso genau ich zu ihm wollte. Mich entschuldigen, glaube ich. Dachte halt, ich hab alles kaputt gemacht, weil es immer weniger wurde. Zwar sagte er, er hätte jetzt viel zu tun, weil er noch wo Praktikum machen würde, aber ich hab doch gemerkt, dass da was nicht stimmte! Also bin ich dahin gefahren, wo er halt Nachmittags gern mal mit seinen Freunden war. Ende der Geschichte ist eben, dass ich ihn mit einer anderen gesehen habe. Die haben heftig geknutscht und sich befummelt. Das war total widerlich! Ich war dann ein paar Tage zuhause und hab mir die Augen aus dem Kopf geheult. Mein Bruder hatte mich dann wieder aufgemuntert, gemeint, dass der Penner es doch gar nicht wert wäre und ich wen besseres verdienen würde.“ Shaelyn lächelte schwach in sich hinein, wich für wenige Momente seinem Blick aus. Die Gedanken an ihren Bruder schienen sie kurz träumen zu lassen. „Dann bin ich halt nächsten Tag zur Schule.“, fing sie schließlich nach einer kleinen Besinnung wieder an, begegnete seinem Blick allerdings mit leichter Scheu. „Da ich mir dann fest vorgenommen hatte Schluss zu machen, hab ich ihn dann in der Pause zur Seite genommen. Hab ihm direkt gesagt, dass er sich 'verpissen' soll. Er hat nur kalt mit den Schultern gezuckt und gemeint: Du warst eh total langweilig. Dann ist er gegangen... später hab ich dann mitbekommen wie er zu seinem Kumpel meinte, dass ich prüde wäre, er sich viel mehr versprochen hat und dass ich nur reine Zeitverschwendung war. Und... man könnte mich total einfach verarschen. Er hatte wenigstens da seinen Spaß gehabt. Weil geliebt hat er mich eh nicht.“ Der letzte Satz endete mit einer Träne, die sie sich schnell aus dem Gesicht wischte. An diesem Punkt angekommen, war L unschlüssig was er tun sollte – oder viel mehr wie er reagieren sollte. Er wusste mit derlei Dingen nicht umzugehen. Es fehlte ihm an Kenntnis in dieser Ebene. Stellte er jedoch fest, was für ein mieses Schwein Shaelyn benutzt hatte und wie sehr es sie heute noch verletzte. Und es schmerzte ihn sie so zu sehen. Mitgefühl war das, was er im Moment empfand. Ein Umstand, der ihm noch immer viel zu fremd war, um es handhaben zu können. „Schon gut. Ist ja lange her und du hast deine Frage beantwortet bekommen.“ Sie winkte ab, als wäre es ihr egal – konnte L allerdings weiterhin etwas Anderes erkennen. „Wir gehen besser wieder hinunter, bevor Emma auf die Idee kommt uns zu suchen und uns im Gästezimmer sieht. Wer weiß, auf was sie wieder für Sachen kommt. Sie ist viel zu hellhörig.“ Abermals trat sie die Flucht an, indem sie sich umdrehte und an die Türklinke fasste. „Ich stimme deinem Bruder zu.“, meinte L schließlich, was sie regelrecht einfrieren ließ. „Shaelyn, du solltest es aus einem anderen Blickwinkel betrachten.“, begann er sachlich – war der Sinn doch viel tiefer verstrickt als es seine Tonlage verriet. „Dieser junge Mann hat letztendlich nicht das erreicht, was er wollte. Es war richtig von dir so zu handeln. Demnach solltest du den Fehler nicht bei dir suchen. Er war lediglich frustriert, deshalb die haltlosen Anschuldigungen. Und ich bin davon überzeugt, dass er seinem Freund nur etwas Beweisen wollte.“ „W-Was meinst du damit?“ Vorsichtig wandte sie sich erneut um, begegnete seinem aufmerksamen Blick mit Verwirrung. „Indem er dich schlecht redet, steigt seine Anerkennung. Gehen wir davon aus... dass seine Worte der Wahrheit entsprechen würden. Sein Freund denkt nun, dass du auf nichts Anspringen würdest. Folglich wäre es niemanden gelungen, aber er hat dennoch sein Glück versucht. Das lässt den Respekt des anderen gegenüber steigen. Mache dir demnach darüber keine Gedanken mehr. Das er dich betrogen hat, war nur ein Zeichen, dass es ihm zu unbequem wurde. Und hier kann ich mich nur wiederholen. Das du ihn nicht zum Zuge hast kommen lassen, war klug von dir. Du hast damit bewiesen, dass du kein leichtes Mädchen bist. Du solltest lernen Meinungen zu ignorieren. Besonders eine Frau wird schnell für Dinge angeklagt, die nicht der Wahrheit entsprechen. Nur ein kleiner Hinweis.“ Für wenige Sekunden blieb es still, in der sie deutlich begann nachzudenken. „Also … hatte er es eigentlich gar nicht so gemeint?“ Ihre Stimmung war dabei sich etwas aufzuhellen. „Die Frage kann ich dir nicht beantworten, allerdings könnte ich dir von meiner Erfahrung berichten.“, lenkte er geschickt ein, um schließlich das Thema aufzulockern – und ebenso ihre Stimmung. Es zeigte unverzüglich Wirkung. Ihr war die Neugierde anzusehen. „Und die ist?!“ „Geheim.“, vervollständigte er mit einem kleinen Grinsen. Jedoch passte er ihr natürlich nicht. Shaelyn zog verärgert eine Schnute. „Komm schon! Du kannst mich doch nicht erst so darauf aufmerksam machen und mich dann fallen lassen! Das ist nicht fair!“, bettelte und meckerte sie gleichzeitig – sie hatte das vorherige Thema erst einmal beiseite geschoben. „Sei nicht so geheimnisvoll!“, hing sie an. L legte den Kopf seicht schief. „Wenn ich es allerdings gern bin?“ Angesichts seiner Worte, blieben die ihren buchstäblich im Halse stecken. Unzufrieden grummelte sie zunächst. „Unfair! Ich will ja alles von dir wissen, aber du sagst ja nie was! Und dann nicht mal deine Meinung über mich. Fies...“ Der Detektiv hob seinen Zeigefinger an, den er vor ihr Gesicht hielt, jener auch gleich von ihr angeschielt wurde. „In Ordnung. Ich verrate dir eine Kleinigkeit.“ Hellauf begeistert nickte sie schon. „Darf ich mir auch aussuchen was?!“ „Nein.“ Schlagartig flaute ihre Begeisterung ab. „Aber wieso denn nicht? Warte! Ich mach dir einen Vorschlag!“ Interessiert hob L eine Braue an. „Ich höre.“ „Also ich stell dir eine Frage nach der anderen. Wenn du eine nicht beantwortest, geh ich zur Nächsten. Und wenn du mir eine Frage davon beantwortet hast, hör ich auf. Quasi frag' ich solange, bis du eine einzige Antwort gegeben hast. Okay?“ Er legte den Daumen an den Mund, begann ihren Vorschlag zu überdenken. Zu verlieren hatte er nichts und er würde sich aus reiner Neugierde ihre Fragen anhören. Allerdings hatte er auch eine. „Willst du denn nicht meine Meinung über dich hören? Statt mich etwas Persönliches zu fragen?“ „Egal! Das kann ich auch noch wann anders und eigentlich weiß ich ja, dass du mich zumindest magst. So schlecht kann deine Meinung also nicht sein. Jetzt muss ich erst mal meine Chance nutzen!“ „Gut, ich bin einverstanden.“ „Hm... verrätst du mir deinen Vornamen?“, begann sie als erstes, auch wenn sie schon vermutete, dass er gerade die Frage nicht beantworten würde – behielt sie auch recht damit. Er hielt es nicht einmal für nötig überhaupt eine Antwort zu geben, so ging sie direkt zur Nächsten über. „Wann hast du Geburtstag?“ Wieder blieb es still, und sein Blick weiterhin stumpf. „Tja... als was arbeitest du? Du sitzt ja immer so vor dem Laptop und Opa hat ja auch irgendwas mit dir zu tun.“ Erneut erhielt sie nicht mehr als ein Starren. Direkt entfuhr ihr ein Seufzen. Vielleicht sollte sie oberflächlicher fragen. Jedenfalls brachte das so nichts. Aber wenn sie zu oberflächlich etwas wissen wollte, erhielt sie im Nachhinein nicht viel mehr als weitere Fragen. Ihr musste unbedingt etwas Gutes einfallen! Nur auf die Schnelle fiel ihr rein gar nichts ein. So brach eine kleine Pause an. „War das schon alles?“, hakte Rue nun nüchtern nach und sie verzog den Mund. „Nein! Ich muss nur überlegen! Gib mir noch was Zeit. Das ist gar nicht so einfach...“, erwiderte sie nachdenklich, kaute anschließend nervös auf ihre Lippe herum. Es gäbe so viel was sie ihn fragen würde. Aber ihr blieb eine einzige – und jene sollte gut gewählt sein, denn wenn sie zu lasch fragte, war ja die Chance vertan. Sollte sie ihn über seine Vergangenheit ausfragen? Gäbe er ihr da auch nur eine Erwiderung? Den Punkt, ob er eine Freundin schon einmal hatte, erübrigte sich schon von alleine. Die Unterhaltung im Musikzimmer hatte ihr deutlich gemacht, dass er bisher keine hatte – weil er einfach kein Interesse daran besaß. Was an sich schon verrückt klang. Sollte sie nun also fragen, woher er kam? Selbst das war ein Rätsel. Gut, sie konnte schon sagen, dass nicht aus einem arabischen Land kam, oder eben der asiatische Raum. Er war in der Lage viele Sprachen fließend zu sprechen. Nein, da käme sie nicht weiter. Eigentlich interessierte sie sich am Meisten für seinen Vornamen – den er ihr einfach nicht nannte. Dann für seinen Geburtstag, da sie dann auch gleich mit ihm feiern konnte. Obwohl er bisher auch da kein Interesse zeigte. Was war das nur für ein Kerl?! „Kannst du mir wenigstens sagen, wie alt du bist, wenn schon nicht das Datum?“ Sie erwartete keine Reaktion seinerseits, verlor sie langsam der Wille überhaupt mehr herauszufinden. Jetzt hatte sie Gelegenheit und eigentlich doch nicht, weil es so sehr einschränkte. Das nervte sie. Dementsprechend überraschte es sie, dass er seinen Mund öffnete. „21.“ Direkt zählte sie zurück. „Also von 1982?“ „Das wäre dann die zweite Frage.“, meinte Rue neunmalklug. Ein weiteres Grummeln verließ ihre Kehle. „Ja, schon gut. Aber immerhin... jetzt weiß ich, dass du drei Jahre älter bist.“ Das erste Mal, seitdem sie das Gästezimmer betreten hatten, lächelte Shaelyn wieder. „Ich wusste doch, dass du gar nicht so viel älter bist!“, band sie ihm stolz auf die Nase, ehe sie dann plötzlich verlegen zur Seite sah – was er sofort mit Interesse verfolgte. „Aber, Rue. Ich weiß deine Worte zu schätzen, wegen... du weißt schon. Ich fühl' mich deswegen echt nicht mehr so schlecht. Du bist eigentlich sehr aufmerksam...“ Blickte sie im selben Moment auf, wie sie den letzten Satz aussprach. L biss sich unmittelbar angespannt auf seinen Daumen. Ein bezauberndes Lächeln wurde ihm geschenkt – und noch viel mehr als das; denn ein Blick verriet mehr als tausend Worte. Ohne Zweifel drückte sie auf diese Weise vollends ihre tiefe Zuneigung aus. Sollte jemals eine Ungewissheit existiert haben, so war sie nun völlig im Keim erstickt. „Danke.“, flüsterte Shaelyn dann sanft zum Abschluss. L spürte daraufhin zu deutlich seinen rasenden Herzschlag – und auch die helle Aufregung in der Magengegend. War er geradezu ohnmächtig angesichts der Flut der Empfindungen. „Rue … ?“, fragte Shaelyn vorsichtig an, überkam ihr dabei eine Gänsehaut. Sein Blick … er sah sie ganz genau an. So intensiv, dass ihr der Atem wich und der Puls in die Höhe schoss. Als er dann seinen Mund schwach öffnete, rechnete sie fest mit Worten – doch verließ nichts seine Kehle. Wagte sie es sich nicht etwas weiteres zu sagen, oder auch nur zu denken. War sie auch nur noch kaum dazu in der Lage. Alles spielte verrückt. Flucht war sinnlos. Die Handschellen taten ihren Sinn. Wie sollte sie nun schon widerstehen können? Fortsetzung folgt... Kapitel 25: Showdown -------------------- Hallo und da bin ich wieder, nach einem halben Jahr Pause. Ich langweile euch mal nicht damit, was bei mir alles so los war. Daher habt einfach viel Spaß mit dem neuen Kapitel :) Und die Wortanzahl wird erst einmal eine Ausnahme bleiben... 27.000 Wörter sind doch arg viel. ____ Teil 2 des Kapitels „Rue … ?“, fragte Shaelyn vorsichtig an, überkam ihr dabei eine Gänsehaut. Sein Blick … er sah sie ganz genau an. So intensiv, dass ihr der Atem wich und der Puls in die Höhe schoss. Als er dann seinen Mund schwach öffnete, rechnete sie fest mit Worten – doch verließ nichts seine Kehle. Wagte sie es sich nicht etwas weiteres zu sagen, oder auch nur zu denken. War sie auch nur noch kaum dazu in der Lage. Alles spielte verrückt. Flucht war sinnlos. Die Handschellen taten ihren Sinn. Wie sollte sie nun schon widerstehen können? Ganz als wusste Rue es, wandte er sich urplötzlich um, sodass sie irritiert auf die Rückseite seines schwarzen Shirts starrte. Erst musste sie realisieren was gerade passierte – oder auch passiert wäre. Dementsprechend fiel ihr überhaupt nichts ein, was sie sagen oder machen konnte. Sie stierte einfach nur auf seinen Rücken, den er weiterhin zur Schau stellte. Als dann doch eine kleine Weile verging, ohne, dass etwas stattfand, nahm Shaelyn sich zusammen. Ein leises Räuspern verließ ihren Mund. „... ähm... Rue?“ Das Schweigen des Schwarzhaarigen erfüllte nach wie vor den Raum. Biss sie sich umgehend nervös auf ihre Unterlippe. Was sollte sie tun? Vorsichtig hob sie ihre freie Hand an, streckte sie nach ihm aus. Vielleicht ging es ihm auch nicht gut? Viel zu schnell sorgte sie sich um die Menschen, die sie gern hatte – oder auch so bedingungslos wie Rue liebte. Es stimmte einfach etwas nicht mit ihm. Das spürte sie tief in ihrem Herzen. Hätte er nicht ganz anders reagiert, wenn er alles so wie immer wäre? Wieso sagte er bloß nie etwas? Warum war Rue nur so kompliziert? L knabberte angestrengt an seinem Daumennagel, an dem es eigentlich rein gar nichts mehr zu knabbern gäbe. Er brauchte dringend eine Auszeit – eine für seinen Kopf und auch Selbstbeherrschung. Plötzlich rasselte die Kette leise, bemerkte er wie die Spanne zwischen den Schellen kleiner wurde. Viel zu spät jedoch für eine Reaktion, da schon ihre Hand vorsichtig seinen Rücken berührte. Strich sie sachte mit ihren Fingern bis hinauf zu seiner Schulter – jagte ihm ihre zarte Berührung Schauer über den Körper. Jede einzelne Faser war wie angeregt, wartend darauf, dass nächste Berührungen folgten. Ließ L es sich schließlich gefallen, als sie ihn mit sanfter Gewalt zu sich umdrehte. Sofort blickte sie ihn überrascht an, was ihn augenblicklich wachsam stimmte. „Du... hast ja ein bisschen Farbe im Gesicht...“, folgte es perplex von Shaelyn. „Ist dir nicht gut? Ist es vielleicht zu warm?!“ Automatisch nahm sie ihre Hand von seiner Schulter, fasste ihm an seine Wange. Sie war warm. Und alleine die Tatsache, dass er überhaupt Farbe im Gesicht annehmen konnte, war eine Besonderheit. Was war nur los? „Ha...s...“ Sie hielt gleich den Atem an, als sie den unruhigen Blick von Rue auffing – und ihr Herz überschlug sich. Es begann heftig in ihrem Magen zu kribbeln. Das vertraute Gefühl von Leichtigkeit – das Gefühl, dass einfach alles um sie herum egal war. Spürte sie das übermächtige Pochen in ihrer Brust und jede noch so kleine Gänsehaut die über ihren Körper hereinbrach. Ihre Lippen bebten. Und jeglicher Gedanke war weit entfernt. Ein Wunsch jedoch blieb. Jener, der sich zu erfüllen schien. Fühlbar nah. So wie sein warmer Atem ihrem Gesicht. Eine sachte Verbindung wurde geschaffen, die fast zerbrechlich wirkte. Behutsam und liebevoll. Kaum mehr als ein Hauch – dennoch existent. Shaelyn schloss versunken ihre Augen, ließ sich einfach ins Unendliche treiben. Sogleich fuhr sie mit ihrer Hand von seiner Wange an den Nacken, zog ihn ein Stückchen näher – nur um den Kuss etwas zu verstärken, den er ebenso sehnlich erwiderte. Wie sollte sie jetzt noch seinen Worten glauben schenken? Er musste mehr für sie empfinden... viel mehr. War es denn möglich solch einen zärtlichen Kuss vorzutäuschen? Sie spürte, dass er sie auch begehrte. Zu deutlich, da es nicht bei dieser zurückhaltenden Berührung blieb. So ließ er einen Moment von ihren Lippen ab, nur um sie danach erneut mit den seinen zu versiegeln. Jedes mal ein wenig inniger, jedes Mal ein wenig ungestümer. Es war, als vergewisserte er sich, ob sie jeden seiner einzelnen Küsse erwiderte – und sie tat nichts lieber als dem nachzukommen, schließlich auch als er ihren Mund ganz in Besitz nahm. Es war so süß. So süß, wie damals schon einmal... Ein leises Keuchen klang in seinen Ohren nach, verriet es ihm nicht nur ihre Gefälligkeit – sondern auch seine Anfälligkeit ihrerseits. Viel zu verlockend war der Impuls sich ihr weiter zu nähern, alles zu kosten was sie ihm willig anbot. Denn wäre ihm ein Gedanke geblieben, hieße es, dass er noch Verstand besaß – was der Situation entsprechend kaum wahrscheinlich war. War es viel mehr der Drang auszuleben, was er unterdrückte. Das, was er schon zu lang ersehnte und nicht im Stande war es zuzulassen: Ihre Nähe. Unweigerlich Nähe, die er niemals zuvor gebraucht hatte. War es nun sein tatsächlicher Wunsch und Drängen sie ganz für sich zu haben – und das für immer an seiner Seite. Sie sollte nur ihm gehören. Wenn es da nicht eine Schwierigkeit gäbe. Eine sehr große, die ihn dazu zwang auf Abstand zu bleiben. Trotz dessen, und vielleicht gerade deshalb, war es die Liebe, die alles in Vergessenheit brachte – zumindest für diese Augenblicke. So war auch L eine bloße Marionette der Liebe. Wie viele große Menschen vor ihm. Geblendet, eingenommen, schließlich verführt und endgültig erliegen. Und das wohl schlimmste daran war, dass L all das bewusst erlebte – und trotz dessen nichts dagegen ausrichten konnte. Erschrocken sog Shaelyn die Luft heftiger ein, als Rue seinen Arm um ihren Rücken legte und sie an sich drückte – sich dabei aufrichtete, sodass der leidenschaftliche Kuss nur für eine Sekunde unterbrochen wurde. Stellte sie sich ein wenig auf die Zehenspitzen, hob den Kopf an. Zeigte es ihr erst jetzt, wie groß Rue tatsächlich war. Wie groß er die ganze Zeit über gewesen war... „Sicher, dass sie hier oben waren?“, hakte Joel nach, der das ratlose Gesicht von Dustin betrachtete. „Aber ja doch! Genau hier.“ Dustin deutete verwirrt auf die Stelle vor sich. Joel standen die Sorgenfalten auf der Stirn. Ihm war gar nicht wohl. Irgendwas war hier los. Er konnte Shaelyn weder unten, noch oben finden. Es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Seltsam genug, da Neujahr nicht mehr als zwei Stunden entfernt war. Das war nicht die Zeit jetzt schon die Biege zu machen. Dustin quietschte auf. „Was ist, wenn sie in einem der Zimmer sind und unartige Dinge tun?“ Gleich hielt sich der Junge die Hand dramatisch vor dem Mund. Angesichts der Aussage, stand Joel nun der Schock im Gesicht. Das konnte nicht wahr sein. War das nicht völlig idiotisch? Noch am Abend wirkte alles harmlos. Nicht ein Kuss, eine Annäherung oder sonstiges in der Richtung war zu beobachten gewesen. Und ja, er wusste mittlerweile, dass Shaelyn in diesen seltsamen Typen verknallt war. Er hätte blind sein müssen um das nicht über den Abend bemerkt zu haben. So wie Shaelyn den Kerl angesehen hatte, bestand kein Zweifel. Dennoch kein Grund, dass sie plötzlich so weit ging. Oder war sie zu naiv? Der Typ spielte ganz sicher mit ihr und sie bemerkte es nicht einmal. Umgehend drehte er sich um und riss voller Aufregung die erste Türe auf. Und hinter dieser Tür verbarg sich nichts. Das Elternschlafzimmer war noch immer so unangetastet wie als das Zimmer verlassen wurde. Gleich schloss er die Tür wieder und ging auf ein anderes Zimmer zu, nun verfolgt von Dustin, dem die Neugierde im Gesicht stand. „Du stehst auf die Kleine, oder?“, wandte sich dann dieser an Joel, der kurz inne hielt. Dustin lächelte breit. „Sieht man dir an der Nasenspitze an. Jetzt wirst du sogar ganz rot!“ „Lass' das.“, kam es dann Joel verärgert über die Lippen. Er konnte dem Getue nichts abgewinnen. „Also ich hab nichts dagegen, dass du auf das Mädchen stehst. Ich hab da eh eher Interesse an dem Typen.“, meinte Dustin gelassen und wurde sofort von Joel entrüstet angestarrt. „Das ist ja ekelhaft!“ Angewidert verzog der Brünette das Gesicht. Denn die Vorstellung war einfach nur widerlich. Das wollte er sich bestimmt nicht weiter anhören! Joel schüttelte sich einmal. „Na, nicht so gemein sein. Ich beschwere mich auch nicht über das dickbrüstige Mädchen.“ Dustin stemmte seine Hände an die Hüfte, war er dabei etwas beleidigt. Was Joel allerdings ignorierte und einfach die nächste Tür öffnete – woraufhin er gleich von allen guten Geistern verlassen wurde. Er traute seinen Augen nicht. Und er hörte knapp hinter sich ein panisches Luftholen. Da standen sie. Eng umschlungen, wild herum knutschend und ließen sich nicht einmal davon stören, dass jemand hereingeplatzt war. Der Wut war fast nicht standzuhalten, wie sie Joel traf. „Ey!“, rief er umgehend laut dazwischen, das auch anzukommen schien. L ließ von Shaelyns Lippen ab und wandte seinen Kopf zum Störenfried – was auch Shaelyn tat. Dustin lugte vorsichtig hinter Joel vor. Momente, in denen der Kopf wieder begann richtig zu arbeiten. Zumindest war das bei L der Fall, weshalb er kurz regelrecht einfror. Er brauchte eine sofortige Bedenksekunde. Denn war die Lage und auch die Konsequenzen des kurzen Intermezzos problematisch. „W-Wenn es nichts Wichtiges ist, kannst du dann wieder gehen … ?“, fragte Shaelyn hastig und etwas unsicher. Offensichtlich war sie noch ganz verwirrt. „Damit er dich weiter verarscht?!“, wetterte Joel lautstark, bekam jedoch gleich einen scharfen Blick von Shaelyn zugeworfen. Nun war sie voll bei der Sache. Überraschenderweise nahm L seinen Arm von ihr und hob ihn an; so als würde er sich melden. Alle starrten ihn unmittelbar an. „Es ist üblich, dass man zuvor anklopft.“, kam es L ungeniert über die Lippen, woraufhin alle verstärkt blinzelten. Ein kurzes Schweigen breitete sich aus. Ehe Joel den Kopf schüttelte und versuchte es zu ignorieren. Sogleich setzte er zum Sprechen an. Schnitt jedoch L prompt dazwischen. „Dieses Zimmer ist besetzt.“, verließ es hart, aber ruhig seine Kehle, ehe er eine unschuldige Miene aufsetzte. „Deswegen würde ich vorschlagen, dass du und deine Begleitung ein anderes aufsucht.“ Ein winziges, aber dennoch vorhandenes Grinsen zeichnete sich auf den Lippen des Detektiven ab. „Ich steh nicht auf Dustin! Klar?!“ „Was gibt es dann für ein Problem?“, hakte L seelenruhig nach. „Du!“, rief Joel noch immer in Rage. „Lass' deine schmierigen Finger von Shae! Du nutzt sie nur aus!“ L fixierte Joel, ehe ihm die Sicht genommen wurde. Shaelyn hielt ihre Hand vor seinen Augen. „Ruhe!“, schnaufte sie und L fasste direkt an ihre Hand und zog sie hinunter. „Er nutzt mich nicht aus, klar?! Und was geht dich das an, Joel?! Ich kann selbst auf mich aufpassen!“ „Plötzlich knutscht ihr herum? Überleg' doch selbst mal. Der will dich nur ins Bett kriegen! Sonst will der doch nichts!“ „Du spinnst doch!“, fauchte Shaelyn, nun ebenfalls wütend. „Falsch.“, durchbrach die deutliche dunkle Stimme Ls die aufgeheizte Stimmung – abermals richteten sich alle Augenpaare auf ihn. „Sie ist meine Freundin.“ Für einen flüchtigen Moment, war es totenstill – zumindest zwischen den Dreien, denn im Erdgeschoss wurde munter weiter gefeiert. Plötzlich meldete sich Dustin zu Wort. „Was mach ich dann noch hier?“ Mit einem Schulterzucken verließ er die Truppe und ging zur Party zurück. Joel allerdings stand dort, wusste nicht, was er sagen oder denken sollte. „Ist... das wahr?“ Noch während Joel diese Frage stellte, fiel Shaelyn L glücklich um den Hals. „Ja, ist es.“, bestätigte der Schwarzhaarige noch einmal betonend – und keine Sekunde später wandte sich Joel um und verließ das Zimmer mit einem lauten Knall der Türe. Umgehend fasste er an die Schulter von Shaelyn und brachte sie so zum Abstand nehmen. Verstört blickten ihn die waldgrünen Augen an. „W-Was?“, brachte sie konfus über die Lippen. L zögerte tatsächlich für wenige Sekunden. Es war wohl sein Gewissen, das an ihn appellierte. „Das war eine Lüge.“ Umgehend verlor ihr Gesicht jeglichen Ausdruck. Shaelyn stierte ihn an, öffnete etwas ihren Mund. Für wenige Momente war sie völlig weggetreten. „Heißt das,...“, begann sie mit atemloser Stimme. „dass das gerade alles … nichts bedeutet hat? Aber du...“ Sie fasste sich an den Kopf, blickte verwirrt von einem Punkt im Raum zum Nächsten. Er schwieg dazu. Wusste der Detektiv auch nicht, was er hätte dazu sagen sollen. Zählte lediglich die Klarstellung der Sachlage. Plötzlich riss sie sich von seiner Hand am Arm los und starrte wütend in seine Augen. „Du hast mich doch geküsst!“, führte sie ungehalten an. „Und nicht nur einmal! Du hast es immer wieder gemacht! Das kannst du nicht abstreiten!“ L begann in alter Manier entspannt an seinem Daumennagel zu kauen. „Das tue ich auch nicht.“ „Warum hast du es dann gemacht?!“ „Ich habe mich hinreißen lassen.“, bekam sie die nüchterne Antwort vorgesetzt, woraufhin sie gleich voller Entsetzen die Augen weit aufriss. „Bitte was?!“ „Warum so verärgert?“, setzte er nun fraglich an – das auf wenig Verständnis traf. „Tickst du noch richtig?! Warum ich so verärgert bin?! Is' das nicht klar?! Du spielst ja tatsächlich mit mir!“, schrie sie, presste dabei ihre Hand auf ihre Brust. „Bin ich nur ein Spielball für dich?! Glaubst du, dass du einfach machen kannst, wonach dir ist?! Ich habe Gefühle! Gefühle für dich! Und gerade deswegen tut es mir so weh, wenn du mich verletzt!“ Und abermals brachte er sie zum Weinen. „Es ist okay, wenn du mich ignorierst! Wenn du gemein bist, und es ist okay, wenn du abblockst! Aber was nicht okay ist, wenn du so grausam zu mir bist! Das habe ich nicht verdient, Rue... Ich will nur fair behandelt werden...“ Shaelyn wischte sich eilig ein paar Tränen aus dem Gesicht, schluchzte sie auch hastig. Wenn es je einen Moment gab, an dem er sich überfordert gefühlt hatte, dann war jener spätestens heute eingetroffen. Auch wenn er längst wusste, wie er das Blatt wendete, fühlte er so etwas wie Ratlosigkeit. Eine emotionale Aufwallung, die er mehr als unangenehm empfand. L kratzte sich am Hinterkopf. Er würde derartiges wohl niemals erfassen können. Eine frustrierende Feststellung. „Shaelyn.“, begann er ruhig, was jedoch die Schwarzhaarige sofort unterbrechen wollte. Sie hob ihre Hand an und winkte ab. „Lass es einfach. Lass mich einfach zukünftig in Ruhe. Damit bin ich am Glücklichsten.“, kam es ihr gefasster über die Lippen. „Und ich werde Opa einfach fragen, ob ich irgendwo eine kleine Wohnung bekomme, oder in eine WG ziehen kann. Ich will nicht mehr und ich kann auch nicht mehr. … Du bist so ein kalter … so eine kalte Maschine.“, besserte sie sich zuletzt aus. Ihre Hoffnungen schienen nun vollkommen gebrochen zu sein. L war endgültig zu weit gegangen – dennoch wäre es nicht typisch für ihn das einzusehen. Ebenso der stechende Schmerz im Brustkorb, der jedoch viel zu präsent war um es ignorieren zu können – was ihm bewies, dass ihre Worte ihn nicht absolut kalt ließen. „Du solltest mir zuhören.“, schnitt er trotz allem unerschrocken an. Nicht eine Regung verriet ihn. „Ne, danke. Ich bin bedient. Und ich werde Emma bitten die dämlichen Handschellen abzunehmen. War sowieso eine blöde Idee.“, sprach sie einfach und lachte bitter auf. „Ich weiß sowieso nicht was ich an dir finde. Bescheuert, das ich daran geglaubt habe, dass in dir ja vielleicht doch mehr Gefühl steckt. Was dir wichtig ist, ist doch nur deine was-weiß-ich-Arbeit und deine Pflichten, die du brav einhältst. Und sonst machst du dir einen Spaß aus mir und was ich empfinde.“ Sie sprach ihm gegenüber offen – und wenn er all die Punkte einmal genauer betrachtete, besaß sie im Grunde Recht. Allerdings machte er sich daraus keinen Spaß. L wusste nicht richtig damit umzugehen. Er konnte es nicht kontrollieren, so wie sonst alles in seinem Leben. Es war ein ewiges Hin und Her. Als sie sich dann abwenden wollte, packte er umgehend ihr Handgelenk. Direkt wehrte sie sich heftig. „Fass' mich nicht an!“ Erschrocken gluckste Shaelyn auf, als er ihr näher kam. Schienen auch all ihre Versuche sich loszureißen, zu scheitern. Das ohnehin sinnlos war – noch immer waren sie aneinander gekettet. „Ich mag es nicht, wenn man mir nicht zuhört.“, verließ es ernst den Mund des Detektiven, während er sie anstarrte. „Schön für dich!“, zischte sie unbeeindruckt und starrte dabei eisern zurück. „Mich kannst du einfach so herum schubsen! Das lass ich mir nicht gefallen!“ „Beruhige dich.“ „Ich denk' gar nicht dran!“ Shaelyn steigerte sich immer weiter hinein. „Wenn du dich beruhigen würdest, wärst du in der Lage nachzudenken. Dann würde dir etwas wichtiges Auffallen.“ Nun verstört schüttelte sie den Kopf, musterte genauer das weiterhin regungslose Gesicht von L. „Was soll ich da nachdenken? Ist liegt doch alles klar auf der Hand.“ „Wenn ich, laut deiner Aussage, eine kalte Maschine bin, wie hätte ich mich dann hinreißen lassen können?“ Perplex von seiner Äußerung, zog sie ihre Augenbrauen stark zusammen. „... Das ist doch total egal. Du hast gelogen! Gelogen damit, dass du mein Freund bist!“ „Richtig.“, stimmte er entspannt zu und ließ ihr Handgelenk los. Abermals verließ jeglicher Ausdruck ihr Gesicht – diesmal jedoch, da sie begann zu verstehen. „Was willst du genau damit sagen?“, hakte sie eilig nach. An dieser Stelle konnte L sich ein kurzes Seufzen nicht verkneifen. „Was gibt es daran nicht zu verstehen? Dass es mich hat hinreißen lassen, sollte dir Aussage genug sein. Ich bin nicht unempfänglich für … so etwas.“ L sprach es offensichtlich nicht gern an. Unerwartet blickte sie ihn erbost an, sodass er aufmerksam wurde. „Aha. Das heißt, du willst mich doch nur für irgendwelche Schweinerein?! Wäre ich nur dafür gut genug?!“ Angesichts dieser Mitteilung zog er seinen Mund in eine Gerade. Es machte wohl keinen Sinn ihr das so darzulegen. Die Zeit war reif für direkte Worte – oder eher Worte, die sie verstand. „Es könnte die Wahrscheinlichkeit bestehen, dass ich mich in dich verliebe, Shaelyn.“ Jene Schwarzhaarige fror für Sekunden ein. Entweder wollte sie tief im Boden versinken, oder auf Wolke Sieben schweben. Sogleich hielt sie sich die Stirn, ganz so als ob ihr der Kopf schmerzen würde. „I-Ich... muss mich setzen.“ Ohne auf Rue zu achten, setzte sie sich in Bewegung und nahm auf der Bettkante platz – wie Rue es ihr gleich tat. Eine peinliche Stille trat ein. Zumindest empfand es Shaelyn so. Konnte sie auch nicht anders als erst einmal zu schweigen. Wenn sie nur daran dachte, was sie ihm wieder an den Kopf geworfen hatte. Natürlich war sie auch jetzt noch etwas wütend, jedoch mehr auf sich selbst. Rue hatte Recht. Ja, sie hatte nicht nachgedacht. Aber wieso musste er es auch genau so sagen, dass sie es zwangsläufig missverstand. Warum sagte er nicht gleich was los war? „Rue... Ich...“, begann sie, mied dabei seinen Blick, den sie deutlich auf sich spürte. „Ist das … also meinst du das ernst?“ Verunsichert biss sie auf ihre Unterlippe. Was war schon Wahrheit? Für Rue war die Wahrheit etwas Anderes. Außerdem log er ohne Rot zu werden, oder auch nur mit der Wimper zu zucken. Wer sagte ihr also, dass er es diesmal ernst meinte? Wollte er sich nur aus der Affäre ziehen? Und er sagte schließlich auch, dass die Möglichkeit bestand, nicht, dass sie eintreten würde. Sie stieg da nicht durch! Aber wenn sie doch an den Kuss dachte... Es musste schon etwas daran sein, dass es ihm gefiel. „Ja.“ „Also hast du mich geküsst, weil es dir gefallen hat … ?“ Zögerlich wagte sie mit kribbelnden Bauch einen Blick zur Seite, kreuzte unmittelbar den seinen. „... Das ist anzunehmen.“ Ein schwaches Lächeln schlich sich gleich in ihr Gesicht. „Und weil es dir gefällt, glaubst du, dass mehr aus uns werden könnte?“ „Wahrscheinlich.“ „Das sind ziemlich undeutliche Antworten.“ „Ja.“ „... Ein 'Ja' ist in dem Zusammenhang auch ziemlich undeutlich.“ „Dann ein...“ Rue musterte kurz die Zimmerdecke, ehe er sich erneut an sie wandte. „'Stimmt'.“ Umgehend musste sie leise kichern. „Das ist dasselbe!“ Rue gab ihr keine Antwort darauf. Stattdessen hoben sich für kurze Zeit minimal seine Mundwinkel. Es sah fast so aus als lächelte er. Viel zu schwach um es genau sagen zu können. Allerdings für Shaelyn deutlich genug. Laut stieß sie die Luft aus. Jedes Mal aufs Neue schaffte er es sie zu beschwichtigen. Selbst mit solch ungewisse Aussagen – oder mit einem so milden Lächeln, das er viel zu selten zeigte. „Warum aber hast du gesagt, dass ich deine Freundin bin?“, wollte sie umgehend wissen. Immerhin sagte man so was nicht einfach so. Er musste doch wieder einen wichtigen Grund haben. Soviel wusste sie immerhin schon. „Die Gelegenheit war gegeben.“ Überrascht hob sie die Augenbrauen an. „Hm? Wie meinst du das? Damit sollte man eigentlich nicht scherzen...“ Das zeigte der Streit zuvor. „Dustin“, meinte Rue dann, was sie noch weiter verwirrte. „Dustin? … Dustin!“ Natürlich! Aber wieso sollte er dann wirklich sagen, dass sie ein Paar wären? Joel war dabei und das führte nur zu weiteren Lügen. Er dachte jetzt immerhin ebenfalls, dass sie mit Rue zusammen war. Sowieso machte Shaelyn gerade mit Rue gemeinsame Sache – so sah es jedenfalls aus. „Du willst also ein Liebespaar vorspielen? Wieso der Ganze aufwand?“ „Wie bereits gesagt: Es war günstig.“ „Du bist echt bekloppt. Ich kapier' das alles nicht....“, sprach sie mit einem knappen Kopfschütteln. Ehe sie begann zu grinsen – Ein so breites Grinsen, das Rue mit Bedenken beäugte. „Dafür, dass die Lüge aufrecht gehalten werden soll, verlange ich was! Wäre ja ganz schön blöd von mir, wenn ich daraus nicht auch meinen Vorteil schlage!“ „Das gefällt mir nicht.“, legte der Schwarzhaarige offen, zog dabei auch ein kaum begeistertes Gesicht. „So sind die Regeln. Also dafür, dass Dustin, Joel und der Rest der Leute denken, dass wir ein Paar sind, muss auch was dafür getan werden. Und auch als Entschädigung... Tust du das nicht, wirst du noch sehen was du davon hast.“ Shaelyn grinste weiter vor sich her – wenngleich ihre Gesichtszüge mehr gefährliches anmutete. Wenn Rue meinte, er könnte mit ihr tun und lassen was er wollte, dann sollte er auch die Retourkutsche dafür kassieren. Wie er bereits vermutet hatte, kam nichts Gutes dabei heraus. Shaelyn verlangte mehr. Viel mehr, als er sich leisten konnte. Und ihre Reaktion sagte ihm, dass er auf der Hut sein musste. War sie immer wieder in der Lage Dummes anzustellen – und er musste dafür gerade Stehen. Allerdings konnte er ihre Drohung nicht ignorieren. Oft genug hatte sie bewiesen, dass er sie nicht unterschätzen sollte. Sollte er auf ihren Vorschlag eingehen, war es zu steuern. Unabsehbar allerdings wenn sie Rachegelüste verspürte. L wog einen Moment ab. „Für die Dauer des Aufenthaltes werde ich deinen Partner mimen.“, lenkte er schließlich rational ein, während er misstrauisch beobachtete, wie sie sich mehr zu seiner Seite setzte. Seine Intuition schlug Alarm. „Allerdings solltest du es nicht-“ Shaelyn lehnte sich, ohne seine Worte zu beachten, an seine Seite und legte ihren Kopf an seine Schulter. Sofort war ihre Körperwärme deutlich zu fühlen. Leicht erschrocken darüber und auch etwas verkrampft, starrte er auf ihren Kopf an seiner Schulter. „Auch wenn es gemein von dir war, Rue... Es tut mir leid.“, sprach sie leise. „Was ich gesagt habe war … nicht gut.“, hing sie bedrückt an, während sie sich leicht regte. Konnte L gleich darauf wahrnehmen, wie sie sachte mit ihren Fingerkuppen über seinen Handrücken strich, was er umgehend gezielt mit seinen schwarzen Pupillen verfolgte. Löste das Streicheln einen angenehmen Schauder aus. L senke schwach seine Augenlider. „Du hast eine ziemlich große Hand, Rue. Meine sieht neben deine so klein aus.“, kam es etwas vergnügt von Shaelyn. Urplötzlich fasste Rue nach ihrer Hand, sodass sie kurz zusammen zuckte – und auch mit dem Streicheln automatisch stoppte. Direkt blickte sie erschrocken auf und entgegnete seinem starren Augenpaar. Hatte sie etwas Falsches getan? War er vielleicht böse auf sie? Warum sagte er nichts? Wieso konnte sie bloß nur so selten eine Regung in seinem Gesicht erkennen? Unsicher wartete sie auf eine Antwort, oder überhaupt auf einen Laut seinerseits. Jener jedoch ausblieb. Das Luftholen wurde schwer und die Aufregung stieg ins Unermessliche. ... Was war los? Öffnete sie gerade ihren Mund, wandte er seinen durchdringenden Blick ab, wusste sie auch sofort warum. Die Kette rasselte leise, als Rue ihre Hand anhob, drückte er danach seine Handfläche gegen die ihre. Nun war der Unterschied klar zu sehen – ihre Hand war so klein im Vergleich zu seiner. „Das liegt sehr wahrscheinlich daran, dass du eine Frau bist.“, ließ er nüchtern, mit Blick auf die Hände gerichtet, verlauten und sie stutzte, starrte ihn dann direkt an. Rue, jener sich ihr dann wieder zu wandte, erwiderte daraufhin ihr Stieren. „Ach? Echt?“, sprang sie trocken auf seinen Kommentar an. „Hätte ich ohne deine Feststellung gar nicht bemerkt.“, sprach Shaelyn nun sarkastisch. „Und ich hätte ohne deine Bemerkung nicht bemerkt, dass es einen Unterschied zwischen der Größe unserer Hände gibt.“, konterte er doch tatsächlich mit einem regungslosen Ausdruck, jedoch genauso voller Sarkasmus. „Pah!“, rief sie eingeschnappt und zog ihre Hand hastig von der seinen, jedoch nicht bedenkend, dass diese kleine Kette sie noch immer verband. Dementsprechend gab Rue einen unzufriedenen Laut von sich als sie seine Hand ruppig mitriss. „Das war unnötig.“ „Dann sei nicht so frech zu mir.“ Shaelyn streckte ihm kurz ihre Zunge raus, ehe sie sich abwandte. Rue war wirklich taktlos. Dabei hatte sie doch gar nichts schlimmes getan. Aber je mehr sie so abweisend dort saß, desto mehr stieg der Zweifel an. Denn eigentlich wollte sie die Stimmung in eine andere Richtung lenken. Da er nun so reagiert hatte, kroch die Angst hoch, er habe ihr nicht verziehen. Was sie gesagt hatte, war gar wirklich unfair gewesen. Zwar hätte er es viel eher auflösen können, trotzdem rechtfertigte das nicht ihr Gesagtes. Shaelyn seufzte. Sie musste einsehen, dass ihre Sturheit gerade falsch war. Infolgedessen drehte sie sich um. „Ich...“, begann sie dann zögerlich, wurde allerdings in der nächsten Sekunde von Rue unterbrochen: „Schon gut. Mittlerweile bin ich daran gewöhnt.“ Überrascht blickte sie ihn abermals an. War das jetzt so leicht gewesen, zu erkennen, was sie ihm sagen wollte? Und was sollte das überhaupt bedeuten; er war mittlerweile daran gewöhnt?! Da wollte sie sich abermals entschuldigen und bekam so eine Antwort! Er hätte sie ja wenigstens ausreden lassen können! Immerhin hatte es sie Überwindung gekostet. „Du bist echt ein Blödmann!“, warf sie ihm an den Kopf. L verzog nicht eine Miene. „Daran bin ich ebenfalls mittlerweile gewöhnt.“ „Was ist das denn für ein Scheiß? Das ist doch nicht ernst gemeint gewesen, oder?“, meinte Emma perplex und starrte auf den Ring, welchen Amber ihr vor die Nase hielt. „Doch!“, meinte jene, während sie den Ring ihrer Freundin gab. „Das geht mal gar nicht!“, beschwerte sich die Brünette und blickte verärgert auf den Plastikring. „Der hat dir echt so einen Schrott geschenkt? Der hat aber Nerven.“ „Ja und das beste daran war, dass er noch meinte, ich soll mich jetzt glücklich schätzen. Nicht alle Freundinnen bekommen Schmuck von ihrem Macker geschenkt.“ Fassungslos gab Emma den wertvollen Ring zurück. Dieser verschwand schnell in der kleinen Handtasche der Blonden. „... Da fehlen ja selbst mir die Worte... Da kann man mal sehen wie viel du ihm wert bist. Ich hoffe du hast ihm einen Arschtritt verpasst.“ „Und ob! Seh' ich so aus als ob ich das nötig habe? Es gibt genug Typen mit denen ich Ausgehen kann.“ Emma fasste sich an die Schläfe. Wie konnte Ambers Freund nur so eine Nummer abziehen? So viel Dummheit hatte sie selten gesehen. Bei dem Stichwort, gesehen, zischte auch schon Joel an ihr vorbei, sodass sie aufmerksam wurde. Ihr Bruder sah wütend aus. So wütend, dass sie den Eindruck hatte, er würde gleich mit dem Kopf durch die Wand. „Warte mal kurz. Ich glaub, ich muss mal kurz nach meinem Bruder sehen.“ Amber sah sich kurz nach jenem in der Menge um, nickte daraufhin nur. Gleich nahm die Amerikanerin die Verfolgung auf. „Joel?!“, rief sie ihm nach, schien nur nicht bei der lauten Musik anzukommen. Dann in der hintersten Ecke des Hauses, stoppte er schließlich und sie trat mit Vorsicht zu ihm. „Joel?“ Der junge Mann wandte sich auch gleich sauer an sie. „Hau' ab!“ „Was ist denn passiert?“, hakte sie besorgt nach. „Lass' mich einfach in Ruhe!“, blaffte er sie aufgebracht an, sodass sie die Hände anhob. „Wow, halt jetzt mal. Komm' mal runter. Ich hab' dir nichts getan.“ „Dieser Typ! Dieses Arschloch!“ Emma standen buchstäblich die Fragezeichen in den Augen. Welcher Typ? Meinte er nun seinen allseitsbeliebten Klassenkameraden? „Ist Gordon hier aufgetaucht? Oder wen meinst du jetzt?“ „Diese Vogelscheuche! Er spielt mit ihr! Und sie ist so naiv und fällt auf den Typen rein!“, kam es ungehalten von ihm, woraufhin Emma sofort ganz bei der Sache war. „Rue? Was war los?“ „Er hat mit ihr geknutscht! Und wer weiß was er noch alles getan hätte und gerade mit ihr tut! Das ist ekelhaft!“ Völlig verwirrt blinzelte die Brünette zunächst einige male. Rue hat mit Shaelyn geknutscht? „... echt?“ Irgendwie wollte sie nicht recht daran glauben. Auch wenn sie ihre Freundin mit ihm verkuppeln wollte, dachte sie, dass es noch dauern würde. Allerdings schienen sie doch schon recht schnell bei der Sache zu sein. Na, so unschuldig war das kleine Mäuschen gar nicht. „Nein! Ist alles nur Fantasie! … Natürlich! Wie ich es dir gesagt habe!“ „Also... du hast sie dabei erwischt wie sie geknutscht haben?“ Joel zog seine Augenbrauen noch enger zusammen. „Ja?! Was sage ich denn die ganze Zeit?!“ „Okay, erst mal kommst du was runter. Rue ist zwar echt... seltsam, aber so wie ich ihn bisher kennengelernt habe ist er nicht so der Typ der mit Frauen spielt...“ Und wenn er es doch tat, dann blühte ihm die Strafe des Jahrhunderts! Was sie jedoch weniger dachte. „Sie wäre jetzt wohl seine Freundin... was weiß denn ich?!“ Noch weiter überrascht über das Ganze öffnete sie die Augen mehr. Das war ja allerhand. „Jetzt lass mich einfach in Ruhe! Dieser Penner kotzt mich so an!“ Entgegen dem Wunsch ihres Bruders blieb Emma. Joel war verletzt und natürlich wütend. So wollte sie ihn dort nicht zurücklassen. Also stellte sie sich still neben ihrem Bruder. Was sollte man auch dazu sagen? Emma freute sich für Shaelyn. Aber es war auch traurig, dass Joel eben doch keine Chance bekam. „Sieht denn keiner was für ein Mistkerl er ist? Der lügt doch wenn er den Mund aufmacht! Er ist herablassend, eingebildet und eiskalt!“ „... aber er ist der, den Shaelyn liebt.“, beendete Emma ruhig seine Aussage, woraufhin er auch direkt die Faust ballte. Ja, es tat ihm sehr weh – aber es war die Wahrheit. Daran konnte er nichts ändern. „Wenn er Shaelyn auch nur ein Haar krümmt, brech' ich ihm sämtliche Knochen!“ Emma klopfte ihrem Bruder auf die Schulter. „Dann machen wir das zusammen! Darauf kannst du wetten!“ Für einen flüchtigen Moment lächelte er. In der Zwischenzeit hatte Shaelyn Rue dazu überredet nach den Feuerwerkskörpern zu schauen. Immerhin wollte sie dieses Jahr gebührend hinein feiern. Und das ging natürlich nicht ohne ein ordentliches Feuerwerk! „Also viel Auswahl ist ja echt nicht mehr hier...“, seufzte Shaelyn und besah sich die Kisten in der Garage, in denen fast gähnende Leere herrschte. Bis auf wenige Knaller und zwei Pakete Knallfrösche, die auch noch geöffnet waren, war nichts mehr da. Ausgenommen der Raketen, die nicht jeder so mit sich herum tragen konnte. Selbst als sie sich bückte und unter den anderen Kisten blickte, war es dasselbe. „Für den Zweck wird es genügen.“, gab Rue plötzlich von der Seite zum Besten. Umgehend wandte sie ihren Kopf zu ihm. „Welchen Zweck? Das Feiern des neuen Jahres? Man knallt doch immer mit viel Krach.“ Rue blickte sie überrascht an. Nun war sie verstört. Verstand sie etwas falsch? „Richtig. Das hat seinen Ursprung. Kennst du diesen nicht?“ Es klang fast wie ein Vorwurf, weshalb sie mit der Zunge schnalzte und sich aufrichtete. „Man knallt, weil es halt Tradition ist?“ „Du feierst diesen Tag, ohne den tatsächlichen Anlass zu kennen?“, hakte er weiter nach, während er wieder damit begann an seinem Daumennagel zu knabbern. „... anscheinend. Könntest du mich also mit deiner Allwissenheit beglücken? Oder willst du noch weiter fragen wieso und warum und überhaupt?“, meinte Shaelyn genervt und wandte sich Rue nun ganz zu. Jener war, natürlich wie sonst, unbeeindruckt von ihrem Gesagten. Lässig begann er zu sprechen: „Der Ursprung liegt im Animismus. Zu den damaligen primitiven Zeiten war es ein Fest zum Vertreiben böser Geister. Deshalb dieser Krach. Und es wird wohl ausreichend sein, wenn du etwas dazu beiträgst. Schließlich ist es doch im Ganzen gedacht. Deine Freunde hier haben sich offensichtlich schon gut mit Schwarzpulver eingedeckt.“ Einerseits überrascht über diese Erklärung und doch etwas eingeschnappt angesichts seines Tonfalls, blieb sie zunächst ruhig. In dieser stillen Minute starrte sie ihn schlicht an – was er ebenso erwiderte. „Okay, ich weiß du hast was im Köpfchen... aber ich hab ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass du das weißt. Immerhin hast du auch letztes Jahr nicht den Eindruck gemacht, dass es dich interessiert.“ Sie konnte sich gut daran erinnern. Er hatte daran überhaupt kein Interesse gezeigt. Sie musste ihn sogar mehr oder weniger überreden. „Man schnappt so einiges auf.“, antwortete er letztlich nüchtern. Ja, gerade so, als wäre es das normalste auf der Welt. „Wenn ich irgendwas 'aufschnappe', dann ist das aber nicht lange im Kopf.“ „Alles eine Sache des Denkvermögens.“ Shaelyn verengte ihre Augen, trat auch einen Schritt näher. „Willst du mir etwas mitteilen?“ „... Das ist anzunehmen. Immerhin ist die Sprache ein Mittel des Kommunizierens.“ Ihr Mundwinkel zuckte. Hielt er sie für doof? Abermals reizte er sie. Warum tat er das? Hatte sie ihm etwas getan? Er musste doch wissen, dass er sie damit verärgerte! „Irgendwann... irgendwann Rue, dann werde ich einen fürchterlichen Rachefeldzug führen. Und DU bist auf meiner roten Liste ganz oben!“, wetterte sie todernst und bohrte ihren Zeigefinger in seine Wange – Rue blieb ausdruckslos, wenngleich er seinen Mund öffnete. „Das ist unangenehm.“ „Ja, das hoffe ich doch! Du sollst es spüren! Das ist keine leere Versprechung!“, drohte sie ihm mit Nachdruck. „Wenn deine Rache genauso überlegt wie dein jetziger Schachzug ist, dann werde ich wohl nichts zu Befürchten haben.“ … Sprachlos starrte sie ihn für einen Moment an. Was hatte er eben emotionslos von sich gegeben?! Er legte es darauf an! Was hatte er nur, dass er heute so … unausstehlich war?! Sie zog ein Stück ihren Finger zurück. „Kann es sein, dass du ein klein bisschen streitsüchtig bist?“ „Möglich.“ Verwundert und auch verwirrt über seine Antwort, legte sie den Kopf etwas schief. Seit wann war er denn launisch? Sie hatte fest mit einem Nein gerechnet, selbst wenn das eine Lüge gewesen wäre. Da stimmte etwas nicht. Ob es sich diesmal lohnte ihn danach zu fragen? Die Wut wich der Unsicherheit. „Dann muss es ja etwas gewaltiges sein. Für gewöhnlich bist du schnell wieder gefasst. Und vor allem nicht launisch oder gereizt.“, stellte sie laut fest, was ihn aber nicht zu interessieren schien. Shaelyn hatte den Eindruck, dass er gar nicht da war. Er blickte sie genau an und doch nicht. Oder war es nur eine Einbildung? Hatte er auch wieder begonnen an seinem Daumennagel zu kauen. Sollte sie sich nun wirkliche Sorgen machen … ? Die Unruhe legte sich nicht. Ein Zustand, der ihn nicht klar denken ließ. Für die Zukunft sollte L sich merken, dass er sehr empfänglich für ihre Reize geworden war. Mehr als die Tage und Wochen zuvor. Anscheinend bewirkte die Annäherung zuvor nur einen Anstieg seiner Begierde. Anders konnte sich das der Detektiv nicht erklären. Denn alleine nur der Anblick ihres Rückens und Gesäßes brachte ihn auf Gedanken, die er für klüger hielt zu unterdrücken. Je länger sie vor seiner Nase herum tanzte, wurde die Verlockung größer – und er wusste um den unvergleichlichen süßen Geschmack. L stieß an seine Grenzen. Bisher konnte er keiner so süßen Versuchung widerstehen. Unruhig biss er sich auf den Daumennagel – wusste er doch, dass Shaelyn ihn ebenso begehrte. Ihr Keuchen wiederholte sich in seinem Kopf. Nicht nur dieses, denn schließlich bestand die Anziehung nicht alleine aus körperlichem Verlangen. Ihr Lächeln im Garten war ebenso unvergessen. Zerstreut über die vielen Erinnerungen, die durch seinen Kopf jagten, biss er erneut in seinen Daumennagel. Dieses Mal knackte es lautstark. Jetzt war die Aufregung nur angestiegen. L musste gezielter seine Gedanken beherrschen – wenn es denn möglich war. Der Meisterdetektiv hegte ernsthafte Zweifel. „Rue? … Noch da?“, sprach sie ihn vorsichtig an, was ihn etwas aus den Gedanken holte. „... Ja.“, verließ es äußerst ruhig seinen Mund. Er besaß die Gelegenheit alles zu ändern. Und doch war er sich bewusst, dass es unmöglich war – noch dazu das er immer schwächer wurde. Das Glas, welches sie trennte, bekam Risse. Shaelyn war dabei dem legendären L Bedenken in seiner Lebensweise aufzuzeigen. War er bereits an einem Punkt wo er sich fragte, ob es nicht noch eine zweite Seite gab. Ein privates zu seinem beruflichem Leben. Nein, das war keine Option. L durfte keine Zweifel an seiner Lebensweise haben. Ein Gefühl war vergänglich. Seine Lebensaufgabe nicht. Davon abgesehen, dass es für Shaelyn große Gefahr darstellte – oder er sie jemals einweihen konnte. L war nicht in der Lage zu entscheiden – hatte er es bereits lange vor Shaelyn entschieden. „Ich hab aber nicht den Eindruck...“, meinte sie ehrlich. „Bist du dir sicher, dass du nicht mit mir darüber sprechen magst?“ „Ja.“, folgte es prompt von ihm, sodass sie stutzte. „Das ging ja schnell...“ Nun wirkte sie traurig, da sie enttäuscht die Mundwinkel nach unten zog. L betrachtete es kurz, nahm schließlich seinen Daumen vom Mund und setzte ihn sachte an ihrem Mundwinkel an, den er leicht nach oben zog. Er mochte es nicht, wenn sie betrübt war. „Du solltest lächeln.“ Überrascht über seine Reaktion, blickte sie stumm an, fasste auch gleich behutsam nach seiner Hand. „Kann ich nicht, wenn ich weiß, dass du mir nichts anvertraust. Es ist traurig, wenn du mich anschweigst. Ich weiß so wenig über dich und dann sehe ich, dass dich etwas beschäftigt. Aber du willst immer alles alleine mit dir ausmachen. Warst du immer so allein? Hat dir nie jemand einfach nur zugehört? Oder hast du auch schon so früh damit aufgehört mit dem Erzählen? … Ich würde nie etwas weitererzählen was du nicht willst, Rue.“ L wich ihrem traurigen und zugleich liebevollen Blick aus. Sie mochte damit recht haben, dennoch ging er kein Risiko ein. Es war ausgeschlossen. L würde und konnte es nicht aussprechen. Bevor er dies verriet musste er sich zu 100 Prozent sicher sein, dass es notwendig war – und die Wahrscheinlichkeit war schwindend gering das dies je eintreffen würde. Shaelyn umfasste seine Hand deutlicher und ließ sie mit der ihren sinken. „Ja... ich weiß schon. Du magst einfach nicht. … Ich kann dich ja schlecht dazu zwingen...“, lachte sie zuletzt freudlos leise auf. „Du bist wirklich sehr still, Rue. Ich würde wirklich gerne so viel über dich wissen... Eigentlich alles...“ Mit Zögern blickte L sie erneut an, musste dabei feststellen, dass sie den Boden betrachtete. Es trat eine Stille ein – denn würde L nichts auf ihre Worte erwidern. Es war ein merkwürdiges Gefühl Shaelyn derart traurig zu sehen. Es schmerzte zum zweiten Mal an diesem Tag in seiner Brustgegend. Es änderte jedoch trotz allem nichts an seiner Haltung. Shaelyn verstand es nicht. Was mochte nur in der Vergangenheit alles passiert sein? Wieso war er so geworden wie er heute war? Durch das Jahr hatte sie einen guten Einblick von ihm gewinnen können, doch noch längst nicht genug. Hatte sie beobachten können wie zurückgezogen er lebte. Völlig abgeschnitten vom Rest der Welt … . Geradezu so als flüchtete er vor dem Leben. Als wäre er unsichtbar. Nicht existent für alle Menschen. Dennoch war gerade er es, um der sich ihre Welt drehte. Für sie war er da. Und sie wollte an seinem Dasein teilhaben. Ein Stückchen seiner seltsamen Welt werden. Wollte sie den Weg durch seinen bizarren Irrgarten finden – ganz gleich ob sie sich an einer der Dornenbüsche schnitt. War sie entschlossen den langen Pfad zu gehen. Ob sie sich überhaupt bewusst war, was genau Rue ihr bedeutete? Shaelyn konnte es nicht erfassen. Zu tief reichte dieses Gefühl der Verbundenheit. War sie zu naiv? Vielleicht war sie das – doch kümmerte es sie wenig. Alles was sie wollte war Rue – mit all seinen seltsamen Marotten. Ja, wie konnte sie sich nur in so einen schrulligen Kerl verlieben? „Shaelyn, sieh mich an.“, vernahm sie die ruhige Stimme Rues. Allerdings wollte sie nicht aufsehen. Viel zu viel war in ihrem Kopf. Und letztlich wollte sie nicht in seine großen Augen sehen, die sie immer wieder um den Finger wickelten. Ja, vielleicht war sie ja wirklich auch nur eine Spielfigur. Eine, die er steuern konnte wohin er wollte. Das war ein merkwürdiges Gefühl. „Nein... ich mag nicht.“ „Folglich willst du für den Rest des Abends auf den Boden sehen?“ „... Ja.“ Sie selbst wusste, wie blöd es sich anhörte! Aber was sollte sie schon anderes sagen. Er hatte ja recht. Sie konnte es nicht den gesamten Abend über und sie liebte seine Augen ebenso wie den Rest an ihm. Als er seine Hand von der ihren löste, besah sie sich diese umgehend. Gleich war ihr klar weshalb er dies getan hatte, da kniff sie schon in Panik ihre Augen zusammen. Rue hob ihr Kinn mit Bedacht an, sodass sie eigentlich in seine dunklen Tiefen hätte sehen müssen. „Warum hast du deine Augen geschlossen?“, kam nun die Frage von ihm und sie konnte eindeutig Verwirrung heraus hören. Was sollte sie antworten? Besser sie blieb bei der Wahrheit, alles andere durchschaute er sowieso. Trotzdem kam es ihr schwer über die Lippen. Voller Nervosität zögerte sie. „Weil … ich nicht in deine Augen gucken will!“ „Weshalb? Stimmt etwas mit ihnen nicht?“ „Nein.... Es ist nur... Ich finde sie schön! Deshalb!“, meinte sie prompt und war versucht einen Moment lang zu spähen, da Rue seine Hand von ihrem Kinn nahm. Voller Herzrasen wartete sie auf ein Wort von ihm, jedoch gab er darauf nichts wider. Zumindest ließ er ein paar Sekunden verstreichen. „Was spricht demnach dagegen?“ Rue war die Neugierde anzuhören. Shaelyn hatte seine ganze Aufmerksamkeit. „Dann bekommst du mich nur wieder 'rum und steuerst mich so wie es dir passt. Das will ich nicht...“, meinte sie mit einem Murren und hörte ein undefinierbares Geräusch, das auf jeden Fall von Rue stammen musste. War das eine Art Seufzer? Ganz neugierig geworden öffnete sie ein Augenlid langsam. Zu Gesicht bekam sie ein sehr seltenes Ereignis – was sogleich noch heftigeres Herzschlagen auslöste und auch meldeten sich die Schmetterlinge aufgeregt in ihrem Bauch. Waren ihre Augen schlagartig beide offen. Rue zeigte ihr ein Lächeln. Ein Lächeln, was sie nie zuvor gesehen hatte. Er wirkte ehrlich amüsiert – auch wenn es nur ein kleines Lächeln war, aber es war eins! Ganz deutlich zu erkennen! Kein Grinsen was er hin und wieder zeigte. In diesem Moment fühlte sie sich ihm viel näher als all die Wochen und Monate zuvor. Endlich lächelte er sie an. Offen und aufrichtig. Es war ein Rue, wie sie ihn bisher nie gesehen hatte und es gefiel ihr zweifelsohne. Direkt erwiderte sie seine Geste. Der Ärger war verflogen, wie auch ihre Traurigkeit. Geblieben war diese unbeschreibliche Wärme. Die Sonne ging sprichwörtlich auf. Hatte sie es vielleicht geschafft ihn weiter aufzutauen? Jedenfalls hatte er sie zum Lächeln gebracht – so wie er es gewollt hatte. Diese Tatsache bestärkte ihre Mimik. Egal ob es nur seine Augen, seine Worte oder Gestik war: Er bekam sie immer herum. Eine Erkenntnis die sie längst nicht mehr wütend stimmte. Warum auch? Sein Lächeln versiegte, blieb ein nichtssagender Ausdruck zurück als ob er immer da gewesen wäre, der Shaelyn trotz allem nicht weiter davon abhielt ihn traumhaft anzulächeln. Auch wenn seines zuvor eher intuitiv zum Vorschein gekommen war, so hatte es geholfen. Sie war beruhigt. Ein einfacher Gesichtsausdruck, der viel Wirkung zeigte. L müsste sich erst noch daran gewöhnen. Schließlich war seine Arbeit nicht mit derlei Dingen zu bewältigen. Und er musste zugeben, dass es doch recht entspannend war – was allerdings nicht hieß, dass er es ab jetzt ständig tun würde. Es bliebe eine Ausnahme. Dennoch war es fremdartig. „Weißt du was, Rue?“ L zog seine, kaum unter der Haarpracht auszumachenden, Augenbrauen an. „Was?“ „In Zukunft werde ich etwas ändern müssen! Ich kaufe mir eine Kamera und halte alle seltenen Momente fest.“ Ihr Lächeln nahm an Sanftheit zu. „Dann hätte ich jetzt dein wunderschönes Lächeln auf ein Foto. Und weißt du was ich damit machen würde?“ Der Schwarzhaarige blickte Shaelyn starr an. „Du wirst es mir ohnehin sagen.“, kam es neutral aus seinem Mund. Und statt dass sie verärgert reagierte, lachte sie vergnügt auf. „Wie recht du hast. … Aber nur wenn du näher kommst verrate ich es dir.“ L erinnerte sich augenblicklich an den Park. Damals stellte sie ebenfalls die Bedingung, dass sie es ihm nur ins Ohr flüstern würde. Heute musste er um einiges mehr auf Hut sein als zu diesem Zeitpunkt. „Das halte ich für keine gute Idee.“, gab er direkt nüchtern seinen Teil dazu, woraufhin sie eine kleine Schnute zog. „Na, wenn du meinst... Dann verrate ich eben nicht was ich damit machen würde.“ Es war eine komplett belanglose Sache – und trotzdem interessierte es ihn. War es nicht unter normalen Umständen völlig gleich was sie mit einem Bild von ihm anstellte? Nun wollte er selbst das wissen. Eine derart unbedeutende Angelegenheit. Was konnte man auch mit einem solchen Foto anstellen? L war etwas konfus darüber. „Also ich weiß nicht was du denkst, aber du tust es ziemlich offensichtlich.“, ließ es ihn wach werden. „Ich fragte mich, was daran so bemerkenswert sein sollte.“, versuchte er sie etwas anzustacheln, was jedoch ganz seinen Effekt verfehlte. Umgehend musste der Detektiv feststellen, dass Shaelyn in Stimmung war. Ihr Grinsen jedenfalls mutete doch stark dazu an. „Hm... Ja, das wüsstest du ja dann. Zu schade, dass du es nicht interessant findest.“ Es war ein Kinderspiel heraus zu hören, dass sie wusste, dass es ihn doch interessierte. Alleine das er darauf eingestiegen war, war der beste Beweis. … Und wer sagte, dass er es nicht bewusst tat? Zwar mochte diese Gefühlsregung stark sein, doch verlor L nicht vollständig die Kontrolle. Zumindest was diese Art von Reaktionen betraf. L hob seine freie Hand an und deutete mit dem Zeigefinger auf sein Ohr. „Dann solltest du dir nicht zu viel Zeit lassen um es mir mitzuteilen.“ Shaelyn war überrascht. „Wie jetzt? Jetzt muss ich zu dir kommen? Ich dachte, du willst was von mir wissen?“ Natürlich lag seine Vermutung von beginn an richtig: Sie war in Stimmung. „Verstehe. Dann muss ich allerdings ablehnen.“ Ein Schnauben war von ihr zu hören, woraufhin sich seine Mundwinkel schwach anhoben. Im selben Zug senkte er seine Hand. „Das ist nicht fair!“ „So? Was spricht dagegen zu mir zu kommen?“, betonte er bewusst. Und Shaelyn biss an – sie war interessiert. „Naja, wenn du das so sagst... aber dann bekommst du ja wieder deinen Willen, obwohl du ja was von mir willst und ich eigentlich ja was will!“ „Scharfsinnig.“, kommentierte L sie ungeniert. Umgehend bekam er einen bösen Blick zugeworfen, rechnete aber nicht damit dass sie sein schwarzes Shirt am Brustkorb packte und ruppig zu sich riss. Ihr heißer Atem war unmittelbar am Ohr zu spüren, ebenso ihre Lippen, welche sie daran lehnte. In diesem Moment war das kraftvolle Schlagen seines Herzens fast unerträglich. „Wer ist jetzt zu wem gekommen?“, flüsterte sie zart gegen sein Ohr, strich nur weiter mit ihrem warmen Luftzug darüber. Starr geworden, probierte der Detektiv seine Gedanken und Empfindungen zu ordnen. Stieg ihm nur ihr süßer Duft in die Nase, was es etwas schwieriger gestaltete. „Willst du mir nichts sagen? ... Oder dich wehren?“, lauschte er gebannt ihren Worten, ehe ein leiser sehnlicher Seufzer von ihr zu vernehmen war. Stellten sich unmittelbar die kleinen Härchen im Nacken auf. Diese Frau trieb ihn immer wieder aufs Neue an seine Grenzen – und er ließ es zu seinem eigenen Überraschen und Verhängnis zu. L war für gewöhnlich um einiges konsequenter – wenn es sich denn nicht um Shaelyn handelte. Ihm war längst die Sicht, mit der er sonst alles klar erkennen konnte, genommen. Alles gelang ihm weiterhin problemlos. Nur dieses Eine nicht... L musste mittlerweile einsehen, dass er es nicht bezwingen konnte. Es mussten sich andere Wege finden lassen. „... und dann riechst du noch so gut.“, wisperte sie hingerissen und sog hörbar die Luft ein. War es an dem Punkt nicht nur Shaelyn welche berauscht war. Unweigerlich war es jene tiefe Anziehung, die ihm seinen einzigen Schwachpunkt offenbarte. Der unaufhörliche Kreis des Lebens. Nur dafür geschaffen den Fortbestand der Menschheit zu garantieren. War diese Gefühlsregung im Grunde nichts anderes als das und er war vollkommen machtlos dagegen. Das alles konnte L wahrnehmen, darüber stundenlang sinnieren, allerdings niemals dagegen ankämpfen. Oft genug hatte er dies versucht. Die Niederlage war auf ganzer Linie zu erwarten. „Scheiße!“ Ein Wortlaut, der sowohl L als auch Shaelyn aufschreckte. Im Türrahmen stehend eine Emma, die ihre rechte Hand an die Wange legte. Sie sah geschockt und gleichermaßen ratlos aus. Doch viel mehr beschäftigte L die Frage, weshalb permanent jemand hineinplatzte – nicht, dass er dies jetzt verfluchen würde. Immerhin war es bekanntlich Rettung in letzter Sekunde. „Los! Ab ins Auto! Ich will jetzt nicht, dass Joel euch so sieht...“ Und ohne dass es Wiederworte hätte geben können, kam die Brünette auf sie zu und scheuchte sie regelrecht in Richtung Geländewagen. Shaelyn war in heller Panik und leistete gern den Anweisungen von Emma folge, doch L blieb felsenfest stehen, da half auch kein Ziehen an der Kette. Er verstand die Aufregung nicht. Dementsprechend kam es schnell zum Stopp. „Was machst du denn da?!“, verließ es hektisch den Mund von Shaelyn. „Warum die Hysterie?“ „Na, du hast doch selbst gesehen wie wütend er war! Wir müssen ja nicht noch Öl ins Feuer gießen.“, erklärte sich Shaelyn rasch, was für L allerdings erst recht kein Grund war in das Auto zu steigen. „Genau! Ungünstig! Ihr könnt auch noch Zuhause oder in sonstigen ungesehenen Ecken übereinander herfallen!“, pflichtete Emma bei. Angesichts der Wortwahl blickte L sie schief von der Seite an, was den Frauen allerdings nicht gefiel. „Na mach schon! Ich mach euch auch die Handschellen los... die braucht ihr ja eh nicht mehr. Also auf!“ Das jedoch hörte sich nach einem guten Argument an, weshalb sich der Detektiv mit Ruhe in Bewegung setzte. Shaelyn öffnete den Geländewagen an den Hintertüren und schlüpfte mit L durch. Kaum war er im Gefährt, wurde die Türe geschlossen. Mit einem Handzeichen der Brünetten sollten sie sich ducken. Nicht zu spät, da sich jemand in die Garage begab. „Was machst du da?“, fragte auch gleich Joel seine Schwester, jene am Wagen stand. Emma lachte nervös auf. „N-Nichts! Ich hatte nur eben noch mal im Wagen nachgesehen ob auch alle Knaller und so hier stehen.“, war es gedämpft von Außen zu hören. Shaelyn starrte Rue unentwegt in die großen Augen, die ihr ziemlich nahe waren. Geduckt verweilten sie nun also auf der Hinterbank – und noch immer mit den Handschellen an. Draußen fand ein kleines Gespräch statt, was jedoch in den Hintergrund rückte. „Ich glaube, dass das -“ Shaelyn legte Rue sofort die Hand auf den Mund. Trotz allem sprach er weiter, wenn auch genuschelt: „nicht nötig ist.“ „Psst!“ „Das ist ein sehr unreifes Verhalten.“ Verärgert darüber, dass Rue nicht seinen Mund hielt und was er überhaupt wieder sagte, nahm sie ihre Hand von diesem und drückte ihm aus reinem Impuls ihre Lippen auf. Stille trat auf jeden Fall ein, allerdings beruhigte sie sich dadurch nicht sonderlich – und Rue sah entsetzt aus. Als er sich auch von der überstürzten Aktion wieder befreien wollte, fasste sie grob an seinen Nacken. Drückte ihn somit nur mehr an sich. Hoffentlich kassierte sie dafür nicht Ärger. Aber was hielt er auch nicht seinen Mund?! Da musste sie eben schnell etwas machen! Schritte waren zu hören, welche näher ans Auto kamen. „Warte! Ähm wir brauchen nicht noch was kaufen fahren!“ „Was ist denn los mit dir? Nervös oder so? Ist doch keine große Sache eben noch was einkaufen zu fahren.“ „Doch... wir haben wohl noch genug davon gebunkert!“ „... Warum sagst du das nicht sofort?“ „Vergessen. Also lass uns jetzt die richtigen Getränke mixen gehen! Geh schon mal vor, ich wollte noch mal was abchecken.“ „Wenn du meinst. Aber komm mal was runter. Die Leute reißen schon nicht das Haus ab... naja noch nicht.“ Sobald die Garagentür wieder ins Schloss fiel und Shaelyn locker ließ, nahm L eilig Abstand. „Du hast doch einen Knall!“, meckerte Shaelyn ihn direkt an. Blinzelte er umgehend einmal in Unverständnis. Im Angesicht dieser Situation hätte er alles Recht sich zu beschweren – nicht sie. „Da sollen wir hier ruhig sein und du plapperst 'rum!“ „Das ist kein Grund dazu dich so aufzudrängen.“, entgegnete L. „W-Was?! Wenn du nicht deinen Mund halten kannst, ist das nicht mein Problem!“ „Gut, ich verstehe. Dann sollte es auch nicht mein Problem sein, wenn Joel diese Schmierenkomödie mitansieht.“ „... Bitte was? Schmierenkomödie?“ L konnte sofort sehen, dass es Shaelyn gekränkt hatte. Nun, vielleicht hatte er sich unpassend ausgedrückt. Für wenige Sekunden starrte sie regungslos in sein Gesicht, ehe sie traurig begann zu sprechen: „Ich wusste ja, dass es keine tolle Show ist... aber dass du es so abwertend siehst... Dann können wir es auch gleich ganz lassen.“ „... Hallo? Leute?“, mischte sich Emma ein, jene an der geöffneten Autotür stand. „Alles klar bei euch?“ „Nein. Überhaupt nichts ist okay.“, flüsterte Shaelyn verletzt. L kaute auf seinem Daumennagel. Es war nicht seine Absicht gewesen sie zu kränken. Was sollte er jetzt weiter dazu sagen? Höchst wahrscheinlich verschlimmerte es das nur. „Ähm ... kommt mal raus, dann mach ich die Dinger ab.“ Nachdem die Handschellen klickten und abgenommen wurden, rieb L sich zunächst das geschundene Handgelenk. Zwar war es mit Plüsch überzogen gewesen, trotz allem auf Dauer sehr unbequem. Shaelyn allerdings eilte gleich aus der Garage, was der Schwarzhaarige still beobachtete. Ein Klatsch auf den Hinterkopf folgte fast zeitnah, sodass er sich entsetzt an die Stelle fasste und sich nach Emma umdrehte. Jene sah sauer aus. Leidvoll rieb er sich den Hinterkopf. „Was hab ich dir gesagt? Du sollst sie nicht verletzen! Ich weiß nicht was du angestellt hast, aber wenn du ihr nicht gleich nachläufst, setzt es noch was! Geh' dich sofort entschuldigen! Und wenn du das nicht machst, sag ich meinem Bruder Bescheid. Er kümmert sich sicherlich gern um Shae.“ Verstimmt hatte er sich den Vortrag angehört. Mochte er es nicht, wenn man so mit ihm sprach – insbesondere wenn es sich um eine fremde Person handelte. Und noch weniger gefiel es ihm, dass sie ihn versuchte zu erpressen. Er war L, demnach kam man seinen Aufforderungen nach – nicht umgekehrt. „Du solltest dich daraus halten.“, verließ es äußerst ernst seinen Mund, woraufhin Emma ihn entgeistert anstarrte. „Diese Angelegenheit übertrifft bei weitem deine Autorität. Folglich wärst du mir sehr verbunden, wenn du es in Zukunft unterlassen würdest dich einzumischen. Und … noch etwas.“ L bedachte Emma mit einem strengen Blick. „Solltest du nochmals auf die Idee kommen, mir zu nahe zu kommen, werde ich es zu verhindern wissen.“ Ohne auf eine Antwort ihrerseits zu warten, verließ er den Raum. Beim ersten Vortrag war er noch tolerant gewesen, nun streckte sie zu weit den Arm heraus. „... alles klar. Der war sauer.“, meinte Emma völlig verstört und blickte auf die Türe, durch die er gerade eben gegangen war. Dieser Mann war keinesfalls harmlos und sie hatte kurze Zeit die Angst in sich gespürt. Besonders das intensive gefährliche Starren hatte dazu beigetragen und zuletzt nicht auch seine Drohung. Vielleicht war er auch nur gereizt, weil es einen Streit zwischen Shaelyn und ihm gab. Aber sie hatte deutlich gefühlt wo ihr Platz war. Und langsam bekam sie einen Einblick wie kompliziert das alles schien. Es war laut, es roch nach Zigaretten und es waren ausschließlich Idioten um ihm herum als er nach Shaelyn Ausschau hielt. Seine Laune war auf einem Tiefpunkt und offensichtlich war mit dem Mixen das Ausschenken alkoholischer Getränke gemeint gewesen. Dies war fest eingerechnet, auch wenn Shaelyn von einer Feier ohne das Rauschmittel geworben hatte. Es war eine Feier unter Jugendlichen. Nicht mit dem Spiritus zu rechnen wäre schlichtweg dumm gewesen – und nur ein weiterer guter Grund gewesen sie zu begleiten. Denn die Hemmungen der Leute schwand rapide und er mitten in der Menge. Er war versucht der Party ein Ende zu bereiten – schließlich war Alkohol unter Minderjährigen und auch jung Erwachsenen in den USA verboten. Die Polizei hatte gerade ohnehin viel zu tun. Es war nicht der einzige illegale Alkoholkonsum in dieser Nacht. Dennoch: Es wäre für L ein Fingerschnipsen. Dafür müsste er sich lediglich an die richtige Stelle wenden, auch ohne seinen gewichtigen Namen, den er dafür ohnehin nie gebrauchen würde. Mit dem Betreten des Flurs war Shaelyn in der Küche geortet – und zu keiner Überraschung Joel an ihrer Seite. Was ihm jedoch gleich unangenehm aufstieß war das Glas in ihrer Hand. An die Leute im Gang vorbei, schlich er sich gewissermaßen von Hinten an und schnappte Shaelyn gleich das Glas aus der Hand, in der eine dunkle Flüssigkeit schwappte. Die Engländerin wandte sich umgehend erschrocken um, wie es Joel tat und L roch erst einmal misstrauisch an dem Getränk. „Hast du sie noch alle?! Was willst du hier?!“, spie Shaelyn erbost. L allerdings überprüfte noch skeptisch das Getränk, überging somit ihre wütenden Worte. „Was ist darin?“, war somit seine kühle Frage. „Cola! Was denn sonst?!“ „Lass' sie in Frieden.“, mischte sich Joel ein, woraufhin der Detektiv sein Augenmerk auf jenen richtete. „Ich glaube, das Ganze geht dich nichts an. Demnach solltest du dich zu deinen trinkenden Kumpanen gesellen.“, meinte L fast beiläufig während er doch der Flüssigkeit einen kleinen Geschmackstest unterzog. Es war tatsächlich nur Cola. Shaelyn schien noch vernünftig genug gewesen zu sein, weshalb er es zuließ dass sie ihm das Glas wieder entriss. Trat plötzlich Joel einen Schritt auf ihn zu, sodass L doch seine volle Aufmerksamkeit dem Brünetten schenken musste. Dementsprechend wich er mit Leichtigkeit dem Packen des Jüngeren nach hinten aus. L hob seinen Zeigefinger an, mit welchem er schwach schwenkte und tadelnd meinte: „Na, Na. Ich würde es an deiner Stelle nicht machen.“ In diesem Moment schnitt Shaelyn ein, indem sie Joel am Arm fasste und ihn damit zurück hielt. „Seid ihr übergeschnappt oder so?! Ihr wollt euch doch nicht ernsthaft prügeln, oder?!“ L führte seinen Zeigefinger zum Mund, beobachtete das Geschehen mehr als er sich angesprochen fühlte. Er war nicht derjenige der Derartiges begonnen hatte. „Dem muss man mal sein arrogantes Maul stopfen!“, kam es in Rage vom Brünetten. Längst waren ein paar Gäste in der Küche aufmerksam geworden, wie auch im Flur hinter L. „Ist das unter euch Kerlen so?! Immer gleich draufhauen?!“ „Eine andere Option steht ihm auch nicht zur Verfügung.“, kommentierte L es gelassen, spielte darauf deutlich auf die Intelligenz von Joel an. Was Wiedererwarten zum Wutstau bei Joel führte. Wie der bekanntliche Tropfen der das Fass zum Überlaufen brachte - da konnte Shaelyn Joel auch nicht zurückhalten. Mit einem Mal riss jener sich von ihr frei und schlug nach L. Der Detektiv allerdings duckte sich blitzschnell tief, sodass Joel durch die Wut, die kein Ziel fand, die Balance verlor. Ein gekonnter Griff an die Hüfte und L beförderte Joel über seinen Rücken mit einem lauten Poltern auf den Boden. Joel war nach wie vor kein nennenswerter Gegner für ihn – auf keiner seiner Ebenen. Einige Leute kamen angelaufen und besahen sich das Spektakel. „Ey, Alter! Der Freak hat dich voll abzogen!“, lachte sofort einer der Jungs auf, während er auf Joel hinab blickte. L jedoch interessierte sich weder für die Sprüche, die einsetzten, noch das Gelächter – denn Shaelyn bedachte ihn mit einem solch verabscheuenden Blick, dass er alles andere ausblendete. Sie trat die wenigen Schritte auf ihn zu und kaum hatte er sich erhoben, verpasste Shaelyn ihm eine Ohrfeige, anschließend schleuderte sie ihm das restliche bisschen Cola ins Gesicht. „Widerlich.“, sprach sie hart und ging an ihm vorbei. Mit roter Wange und mit Cola überschüttet, blickte L ihr nach, hielt sich dabei die Wange. „Tja, da ist wohl keiner ein Gewinner, was?“, meinte ein anderer vergnügt. „Sei' doch nicht so fies! Was kann denn der komische Typ dafür, wenn Joel auf ihn losgeht?“, meinte ein Mädchen zu dem jungen Mann zuvor. Auch das ignorierte L. In diesem Fall hatte Shaelyn nicht das letzte Wort – und wieder musste er ihr hinterherlaufen. „Verdammte Scheiße!“, schrie Joel auf, jener sich längst aufgesetzt hatte sich aber das Handgelenk hielt. „Was is'?“, fragte ein anderer Brünetter, der sich zu Joel kniete. „Ich hab mir das beschissene Handgelenk beim Aufprall angeknackst! Dieser Wichser!“ „Komm' runter. Wir sollten dann mal lieber zum Krankenhaus.“, antwortete der junge Mann. Umgehend starrte Joel ihn an. „Bist du bescheuert, Ethan? Ich kann doch nicht im Krankenhaus hocken, wenn das neue Jahr anfängt.“ Ethan fasste an das Gelenk von Joel. Ein Aufschrei war unmittelbar zu hören. „Pech gehabt. Muss aber sein.“ „Das wird dem Penner noch leid tun.“ Ethan sah ihn schief an. „Nach der Aktion würd' ich eher meinen, dass du aufpassen sollst. Ein gut gemeinter Rat von mir. Und jetzt los.“ L war Shaelyn durch die Haustür gefolgt, bekam sie auf dem Rasen vor dem Haus zu fassen. „Hau' ab! Lass' mich in Ruhe!“ „Nein.“ „Doch!“ Sie wehrte sich erbittert, auch wenn sie schon lange wusste, dass es nichts brachte. Wie schon so oft. „Was habe ich falsch gemacht?“, fragte L in Unverständnis, was Shaelyn dazu brachte sich umzudrehen und ihn wütend anzufunkeln. „W-Was du falsch gemacht hast?!“, stutzte sie aufgebracht. „Alles! Den ganzen Tag schon!“ Das war L zu hoch. Weshalb plötzlich der ganze Tag? Er fand darin keinen Sinn. Ebenso weshalb sie so aufgebracht war. „Was ist nur los mit dir?!“, schrie sie ihn unter Tränen an. L war tatsächlich etwas verstört, was sich an seinem Ausdruck zeigte. Die Frage konnte er besser an sie richten. „Mal bist du so und mal so! Ich versteh' das alles nicht! Und zu guter Letzt prügelst du dich auch noch!“ „Das war nicht mein Verschulden.“ „Oh doch! Du hast ihn doch provoziert! Oder nicht?! Hm?!“ Ja, das musste er einräumen. Und ihm war klar gewesen, dass Joel darauf nur so antworten würde – immerhin hatte er es zuvor ausgesprochen. „Wie zwei Streithähne, die aufeinander einhacken müssen! Warum?! Wieso müsst ihr das?!“ „Ich halte ihn für keinen guten Umgang.“, meinte L entspannt, unbeeindruckt von ihrer Lautstärke. Shaelyn blickte ihn umgehend entgeistert an. „Kein guter Umgang? Tickst du noch richtig?! Was soll an Joel nicht okay sein?! … Oder bist du einfach nur eifersüchtig?! Erträgst du es nicht, dass ich mit anderen Männern Kontakt habe?!“ „Deine zweite Theorie ist sehr unwahrscheinlich.“, erwiderte er nüchtern. „Ja?! Warum dann der ganze Aufstand?! Emma ist immerhin okay, obwohl sie ja die Schwester ist! Sag es mir einfach! Dann findet sich eine bessere Lösung als so miteinander umzuspringen!“ L schwieg dazu. Ohnehin machte es so kaum Zweck weiter zu diskutieren. Shaelyn musste sich zunächst beruhigen. „Was soll das?! Wieso sagst du plötzlich nichts mehr?!“ „In deinem Zustand macht eine Unterhaltung kaum Sinn. Daher solltest du dich erst etwas beruhigen.“ Entgeistert starrte sie ihn an. „Ach? Und du denkst, wenn du das sagst, wird es besser, oder was?! Vergiss' es einfach!“, warf sie ihm vor den Kopf, sodass er kurz inne hielt. „... Vermutlich hast du Recht. Entschuldige mich.“, kam es resolut von ihm. L ließ, unter ihrem fassungslosen Blick, von ihrem Arm ab. „Was... heißt das?“, fragte sie plötzlich wankend im Gemüt, da sie den ernst seiner Worte deutlich verstand – was L allerdings nicht beachtete. Es war Zeit für einen anderen Weg, jenen er hätte längst einschlagen sollen. Mit Wut und doch Angst sah sie mit an, wie Rue einfach mit den Händen in den Hosentaschen an ihr vorbei lief – geradewegs auf den Bürgersteig zu. Völlig unbeteiligt. Als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Was hatte er vor?! Und was sollte das alles überhaupt?! Warum ließ er sie hier stehen? Shaelyn wusste nicht mehr weiter. Was sollte sie tun? Er ging ohne weiter auf sie zu achten weg. War es das Ende? Reichte es ihm endgültig mit ihr? War sie zu streng gewesen? Zu viele Fragen drängten sich gleichzeitig in ihren Kopf, fühlte sie dazu den stechenden Schmerz ihres Herzens. Rue hatte so gleichgültig geklungen... und es tat ihr so sehr weh. Sie wollte doch nur verstanden werden. Und doch waren all ihre Worte umsonst. Rue erfasste so wenig von dem, was in ihr vorging. Es war, als redeten sie weit aneinander vorbei. Wieso aber hatte es dazu kommen müssen? War sie am Ende doch Schuld daran? Hatte sie den ganzen Tag über nur das was sie wollte gesehen? Vielleicht war er gar nicht so anders als er es sonst war, sondern war ihre Sicht total durcheinander gekommen. Von seinen Zurückweisungen und doch wieder Annäherungen. Waren seine Worte nicht gewesen, dass sie Chancen bei ihm besaß? Waren jene nun völlig vertan? Mit einem so sinnlosen Streit? Es fühlte sich ganz danach an und verstärkte nur weiter das starke Ziehen in ihrer Brust. Natürlich wusste Shaelyn, dass Rue sich nur verteidigt hatte. Doch war sie noch so sauer. Und selbstverständlich reagierte er so. Seine Worte waren immer recht dreist. Daran war kein Unterschied zu sonst. Hatte sie schlicht überreagiert? Gereizt von all den Situationen? Es war nie einfach mit Rue und wenn sie an all die Dinge in der Vergangenheit dachte, war sie diejenige gewesen, die Fehler gemacht hatte. Rue besaß immer einen Grund. … Ja, sie hatte eine riesen Dummheit begangen. Und wenn sie sah, wie alleine er den Bürgersteig entlang ging, kam es ihr noch dümmer vor. Er war alleine. Immer zu war er einsam. Wie konnte sie da erwarten, dass er mit Gesellschaft gut zu recht kam? War er geprägt von ständigem Misstrauen. Dass er nun also ihr Begleiter an diesem Abend war, zeigte doch nur, dass er sich sorgte, auf seine eigene Art – obwohl er solche Veranstaltungen nicht mochte. Sie musste ihn zurück holen und sich letztendlich entschuldigen. Wie oft hatte sie dies schon bei ihm getan … Ob es je ein Ende finden würde? Allerdings hatte sie nun ein Problem. Die Schuhe besaßen etwas Absatz, mit denen sie kaum Rennen konnte. Notgedrungen zog sie diese aus und warf sie unbeachtet auf den Boden. Das Gras an ihren nackten Füßen war kühl, jedoch stellte das noch lange keinen Grund dar sie jetzt aufzuhalten. Mit einem Sprint war sie auch schon nach wenigen Sekunden bei ihm, fasste auch sofort nach seinem Shirt am Rücken. Etwas außer Atem, zog sie daran. „Warte... Rue.“ Der Schwarzhaarige wandte sich nicht zu ihr um, was sie nur weiter verunsicherte. Aber zumindest hatte er angehalten. „Es tut mir leid.“, sprach sie leise. „I-Ich bin nur so durcheinander und weiß nicht weiter. Erst sagst du so schöne Dinge, dass mir ganz warm wird und dann sagst du, dass es nur eine Schmierenkömodie sei. Das hat mir weh getan. Ich seh das alles überhaupt nicht so. Weil... auch wenn es gespielt ist, bedeutet es mir was. D-Dann hast du noch … Naja ich meine, dann warst du nicht so freundlich und hast Joel so aufgezogen. War ja dann klar, dass er auf dich losgeht und ich fand es halt nicht toll. Es tut mir leid. Ja? Bitte rede mit mir.“ Unruhig schluckte sie einen Kloß in ihrem Hals hinunter. Verging Zeit. Und sie dachte es wären Stunden, dabei nur Sekunden die verstrichen. Trotz allem eine sehr lange Zeitspanne. Sie fühlte sich schrecklich. „Bitte geh' nicht weg... Bleib hier...“, flehte sie nach dieser endlos langen Stille. „I-Ich mach auch alles was du willst! Aber bitte bleib bei mir.“ Ein Satz, der ihn anscheinend erreichte. Langsam wandte er seinen Kopf samt Oberkörper zu ihr um – und das so, dass sie nicht den Eindruck gewinnen konnte, es sei gesund. Rue hob seinen Zeigefinger an. „Es gäbe da eine Sache.“, führte er ruhig an, als habe er nur auf diese Gelegenheit gewartet. Umgehend blinzelte sie einige Male hektisch. „Was?“ Eine weitere Pause entstand, in welcher er sie mit seinen großen dunklen Augen anstarrte. Nervös biss sie sich auf ihre Unterlippe. Er machte das extra so spannend! „Ich will diese Marzipanschweine. Allerdings diesmal deutlich mehr davon.“, äußerte er seinen Wunsch mit einem kleinen Grinsen, weshalb sie irritiert kurz darauf stierte. Die Marzipanschweine. Sie schienen ihm gut geschmeckt zu haben... Aber das war alles? Das konnte nicht alles gewesen sein. „Tja, äh... sicher.“ „Und mit mehr Geschmacksvariationen.“ „... Ist das alles?“ „Fürs Erste, ... ja.“, meinte er nachdenklich, woraufhin sie doch kurz die Augen verdrehte. Sie wusste es. Besser sie freundete sich jetzt schon mit dem Gedanken an, dass sie dafür noch längere Zeit geradestehen musste. Bestimmt wollte er sich Zeit nehmen um sich etwas richtig gemeines einfallen zu lassen. Verdient hätte sie es ja. Das musste sie zähneknirschend zugeben. „Gibt es einen besonderen Grund, weshalb du keine Schuhe trägst?“, deutete Rue nun mit dem Finger auf ihre nackten Füße. Shaelyn ließ verwundert von seinen Shirt ab, sodass er sich endlich zu ihr drehen konnte. „Wie soll ich dir denn schnell nachkommen, wenn ich Schuhe mit Absätze trage? Da würde ich ja nur hinfallen.“, antwortete sie wahrheitsgemäß und erntete einen interessierten Blick von ihm. „Warum trägst du dann derartige Schuhe? Wären bequeme nicht folglich nützlicher?“ Shaelyn stemmte die Hände an die Hüfte. „Klar, soll ich solche ausgelutschten Teile wie du tragen?“ „Die sind außerordentlich bequem. Willst du es mal ausprobieren?“ Direkt hob sie ihre Hände an und winkte ab. „Ne, vielen Dank.“, schoss es ihr aus dem Mund. „Hm...“, verließ es versunken die Kehle von Rue. Fragend blickte Shaelyn den Schwarzhaarigen an, jener wiederum ihre Füße musterte. „Allerdings ist es nicht ratsam barfuß über die Straße zu laufen.“ Umgehend stutzte sie. „Das sagt mir ausgerechnet der Mensch, der ständig barfuß herumläuft?“ „Hast du einmal beobachten können, dass ich barfuß vor die Türe gehe?“ „Hab ich je gesehen, dass du vor die Tür gehst?“, konterte sie direkt, was Rue aufblicken ließ. Seine schwarzen Opale fesselten sie gleich. Eine Gänsehaut breitete sich überall aus. Ob er wusste, dass er sie einfach nur so ansehen musste und sie alles vergaß? „Offensichtlich nicht oft genug. Obwohl ich mich doch an ein paar Momente erinnern kann, bei denen du mitanwesehend warst.“, zerriss es ihre Traumwelt. Kurz orientierungslos blinzelte sie. „Weißt du,... das ist so lange her. Hin oder her. Wie wäre es, wenn du öfter mal mit mir raus gehst? Dann kannst du mich gleich davon -“ „Abgelehnt.“ „Du hast mich ja nicht einmal aussprechen lassen!“ „Das würde nichts an meiner Aussage ändern.“, gab er ungerührt zurück. Shaelyn schnaufte einmal. „Na gut, dann halt nicht.“, meinte sie geschlagen. Sie wollte sich jetzt nicht wieder wegen so einer Kleinigkeit mit ihm streiten. Denn trotz allem fühlte sie sich erleichtert. Er schien zumindest nicht mehr böse zu sein – oder was auch immer er gewesen war. Auch wenn sie das Gefühl beschlich, dass das alles viel zu leicht war. Ob sich mehr dahinter versteckte? Nein, sie dachte besser nicht darüber nach. Als Rue schließlich einen Schritt auf sie zu kam, weitete sie die Augen. Und mit einem kleinen Aufschrei und rasendem Herzen fand sie sich schon auf seinen Armen wider. Geschockt von der schnellen Aktion, starrte sie hoch in sein Gesicht – was keinerlei Reaktion aufwies. „Ähm... Was m-machst du da?!“, fragte sie hastig während sie in sein Shirt griff. „Ich trage meine Freundin.“, meinte er gelassen und sie sog heftig die Luft ein. Sie musste sich verhört haben. „Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du dir eine Erkältung zuziehst.“, erklärte er nun rational, was sie völlig durcheinander brachte. Rue schenkte ihr einen kurzen Blick. „Watari wäre nicht erfreut.“, hing er an, was bei ihr nun das besagte Klingeln auslöste. Er machte das nur, weil er sonst Ärger von ihrem Großvater bekam! Und dann machte er sich auch noch einen Spaß! „Du bist ja richtig nett und total selbstlos.“, grummelte Shaelyn scherzhaft. „Danke. Ich fasse das als ein Kompliment auf.“, erwiderte er trocken. Shaelyn seufzte. „Wie auch immer...“ Und entgegen jeder Erwartung, zeichnete sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen ab – zum zweiten Mal an diesem Abend. Rue war eben ganz anders. Weshalb sie die kurze Strecke auf seinen Armen umso mehr genoss. Zu gern wäre sie wirklich seine Freundin. Ganz egal wie oft und stark sie sich stritten – an ihrem Gefühl würde sich nie etwas ändern. Und genau mit diesem guten Gefühl lehnte sie ihren Kopf stärker gegen seine Schulter. Nahm sie dabei nur deutlicher seinen Geruch auf. Minze, welche noch immer faszinierend duftete. Ob es wohl sein Shampoo war? Oder er einfach nur zu viele Pfefferminzbonbons naschte? Neugierig blickte sie an seinem Hals hinauf. Die vielen wilden Strähnen hingen ihm vors Gesicht und verdeckten auch sein Ohr, auf welches sie schauen müsste. Sie brauchte nur seinen Kopf etwas zu sich herunter ziehen und einmal an den Haaren schnuppern. Unschlüssig biss sie sich auf die Unterlippe. Sollte sie? „Du... Rue?“, flüsterte sie weiterhin in Richtung Ohr, hatte auch gleich seine Aufmerksamkeit. Sein Kopf war leicht zu ihr gewandt, sodass die Haare durch die Bewegung sie mehr im Gesicht kitzelten. „Ja?“ „Das war schon alles. Danke.“, erwiderte sie vergnügt und ehe er angemessen darauf reagieren konnte, streckte sie sich etwas vor und roch an seiner unbändigen Mähne. Rue blieb auf der Stelle stehen, wovon Shaelyn wenig wahrnahm. Es war sein Shampoo... „Was machst du da?“, war seine, sehr offensichtlich, konfuse Frage. Shaelyn musste kichern. „Ich beschnuppere meinen Freund, weil der nämlich gut riecht.“ Rue wandte plötzlich seinen Kopf ab und sah wieder vor sich. „Hey, nicht abhauen.“, beschwerte Shaelyn sich milde und hob ihre Hand an, mit jener sie unter den Strähnen an seinem Ohr strich. Verwundert schob sie die erstaunlich weichen Haare beiseite – sodass sie gleich die vielen kleinen aufgestellten Härchen am Hals bemerkte. „Hast du Gänsehaut?“, fragte sie umgehend aus reinem Reflex und Überraschung. „Nein.“ „Wieso seh' ich dann eine?“ Es entstand eine kleine Pause. In der die Schwarzhaarige schmunzelte, sah dabei zu, wie seine Gänsehaut schwand. „Fällt dir keine Lüge mehr ein?“, stichelte sie etwas und erhielt keine Antwort. Keine Antwort war eben auch eine und sie wollte es genau wissen. Abermals streckte sie sich vor und berührte mit heftig klopfenden Herzen diesmal mit ihren Lippen seinen Hals. Sachte und sanft, kaum mehr ein Hauch – und doch war die Reaktion um ein vielfaches deutlicher. Konnte sie spüren, wie Rue sich für einen winzigen Augenblick durchschüttelte. Shaelyn war sprachlos. Das hatte sie nicht erwartet. Mit der Gänsehaut, die folgte, natürlich, aber nicht damit. „... Rue?“, verließ es mit Aufregung ihren Mund, den sie nicht ganz schließen konnte. Warum reagierte er so heftig darauf? War es nur die Stelle... oder sie? Oder beides? „Bitte unterlasse das.“, bat er sie im ruhigen Tonfall, das selbst sie vollkommen erstaunte. Nach der Reaktion konnte er kaum gelassen sein! „... Bist du so empfindlich am Hals?“ „Möglich. Allerdings unterlasse es bitte.“ Das war nun schon das zweite Bitte in zwei Sätzen. Selbst Shaelyn war das suspekt, aber so wie er es sprach, war es ihm ernst. Jetzt war sie verunsichert. Am liebsten würde sie weitermachen. Aber sie wollte ihn nicht verärgern. Besser sie ließ es bleiben. „...E-Entschuldige.“, gab sie leise von sich und zog ihre Hand zurück. Rue setzte sich für das letzte Stück wieder in Bewegung. „Ich war nur so neugierig... tut mir leid.“ L schwieg zu ihrer aufrichtigen Aussage – ihm saß noch immer die Attacke in den Knochen, weshalb er sich versuchte zu beruhigen. Er wusste, dass sie Tatendrang besaß und ohne Nachdenken handelte, dennoch hatte er nicht mit derartiges gerechnet. Es würde in Zukunft ein Memo an sich selbst sein; doch L musste Shaelyn zu den Schuhen tragen. Störte ihn die Tatsache sehr, dass sie sich schmutzig an den Füßen machte. Ganz abgesehen von Watari, der nicht erfreut wäre, wenn sie erkältet im Bett lag. Es war um diese Uhrzeit recht kühl. Jedoch wenn er ihre Körpertemperatur fühlte, war ihr sicher alles andere als kalt. „Du Rue... ähm.“, begann Shaelyn auf seinen Armen vorsichtig. Auch wenn es nicht danach aussah, hörte er aufmerksam ihren Worten zu. „Wenn man dich so sieht. Also allgemein, dann käme man nicht auf die Idee, dass du eigentlich total reinlich bist. Ich hab am Anfang ja genauso gedacht. Wie jetzt eigentlich all die anderen die dich nicht so kennen wie ich.“ L warf Shaelyn einen kurzen, aber stechenden Blick zu. Woraufhin sie gleich nervös zurück starrte. „War nicht böse gemeint! Nur du siehst halt nicht so aus, der viel wert auf Körperhygiene legt... Ich hab mich das schon oft gefragt und mich gewundert. Besonders... dass du wirklich penibel mit dir selbst bist.“ „Ich lege wert auf Sauberkeit, allerdings nicht auf die Meinung anderer. “, gab er tonlos als Antwort. „Folglich ziehe ich das an, was es mir gefällt. Deswegen solltest du die Menschen nicht nach ihrem ersten Erscheinungsbild beurteilen. Sieh genauer hin. Wenn du das berücksichtigst, wirst du schneller erkennen wie dein Gegenüber tickt.“ L stoppte bei ihren Schuhen auf der Wiese und war dabei Shaelyn abzusetzen, wenn sie sich nicht fest an ihn klammerte. „Warte!“, rief sie auch prompt dazwischen, weshalb er sie starr ansah. Ihre grünen Augen blickten ihn neugierig an. „Ich... Ich habe dich so oft beobachtet und genau hingesehen. Aber trotzdem weiß ich immer noch nicht wie du drauf bist...“, führte sie an, ehe sie begann ihn lieblich anzulächeln. „Denkst du, ich werde eines Tages einmal alles von dir wissen?“ L hielt den Augenkontakt aufrecht, musste dabei feststellen, dass selbst ihre Augen ihn anzulächeln schienen. Fragte er sich in demselben Moment ob dies möglich war. Vielleicht war es einfach nur ihre natürliche Art, die jede Unwahrheit gleich im Keim erstickte und ihr Gemüt zum Ausdruck untermalte. „Möglich.“ Und das war eine glatte Lüge. Ob es nun Gewohnheit war zu lügen, oder einfach nur ihr Lächeln war, das ihn dazu verleitete eben genau das zu sagen: Es war alles nur eine einzige Lüge. Es gab keine Zukunft mit Shaelyn. Und diese wieder aufgerufene Erkenntnis schmerzte in seiner Brust. „Du siehst irgendwie … traurig aus. Deine Augen sind so seltsam leer. Geht es dir gut?“, fragte die junge Frau auf seinen Armen besorgt, welche trotz allem ein gutes Gespür für seine Innenwelt besaß. Wie sie es immer schaffte, zu bemerken, wenn ihn etwas beschäftigte – es war für den Detektiven rätselhaft. „Ich habe nachgedacht. Nichts weiter.“ „Meinst du es ist wirklich okay?“ „Ja. Und langsam solltest du loslassen, damit ich dich absetzen kann.“, meinte er trotz ihrem Blick, jener nichts anderes als Unglauben ausdrückte. Doch sie erwiderte nichts, sondern ließ still von seinem schwarzen Shirt ab. Nachdem L Shaelyn abgesetzte hatte, zog sie ihre Schuhe schnell an. Dabei entging selbst dem unsensiblen Meisterdetektiv nicht, das etwas in der Luft lag. Gleich begann er wieder damit an seinem Daumennagel zu kauen. Es stimmte ihn nachdenklich. Das eben gesagte wie auch erlebte. Allerdings, auch wenn er noch so nachdenken konnte, war Shaelyn noch immer an einigen Stellen unüberschaubar, trotz ihrem ehrlichen Charakter. Diese junge Frau war selbst L ein kleines Mysterium – welches er zumindest teilweise gelöst hatte. Andererseits verstand er in der jetzigen Situation ihre Stimmung nicht. Überhaupt stimmte etwas seit geraumer Zeit nicht – das sagte ihm sein eigenes Gespür. „Also kann ich davon ausgehen, dass du für heute immer noch mein Freund bist?“, durchbrach sie schließlich die Stille. L zog eine Augenbraue an. Sie machte einen Themenwechsel. „Ja. Abgemacht ist abgemacht.“ „Oh, das freut mich.“, lachte sie mit einem breiten Lächeln. L war konfus. Eben noch war er der Ansicht gewesen, dass sie nicht gut aufgelegt war. Er würde es herausfinden. „Allerdings...“, begann er und ihr verging schlagartig das Lächeln. War er auch dabei ein Wort in seinem Mund zu formen, als in seinem Augenwinkel Joel auftauchte. Jener begleitet von einem anderen jungen Mann. Sie verließen das Haus, fiel L auch umgehend auf wie Joel seine Hand hielt. Ehe Shaelyn seinem Blick folgen konnte und bemerken würde, dass Joel sich verletzt hatte, fasste er an ihren Nacken und drückte ihr seine Lippen auf. Nicht sonderlich sachte, aber reichte es aus um sie träumen zu lassen und seinen Plus sprunghaft zu beschleunigen. Es war der Blick des jungen Mannes, der ihm unter dem Kuss ein Grinsen entlockte. Mit der Tatsache, Joel würde denken, dass Shaelyn ihm einfach verzieh und sich nicht einmal um seine Verletzung kümmerte, gab er sich zufrieden. Es war dem besten Detektiv und mächtigsten Mann der Welt eine Genugtuung der ganz anderen Art. Und rein menschlich – und männlich – gesehen, kennzeichnete L nur seine Frau. Wenn auch mit unfairen und unsittlichen Mitteln. Denn ungeachtet seinem Entschluss, sie nicht an seiner Seite zu haben, war er zu selbstsüchtig sie einem anderen zu überlassen. Der Kuss dauerte kaum mehr als wenige Augenblicke und war ein perfektes Mittel zum Zweck, musste L doch Shaelyn kurzzeitig festhalten. Beinahe wäre sie ihm weggeknickt. Völlig atemlos schnappte sie unverständlicherweise nach Luft. „Wenn du mich nochmal so überfällst, sterbe ich...“, hauchte sie mit hoch roten Wangen. Ihr ganzes Gesicht signalisierte ihm, dass sie alleine von dieser Berührung berauscht war, was er nur zu genau studierte. Sie machte sich nicht einmal Gedanken weshalb er so handelte. Viel mehr warf sie ihm einen verlockenden Blick zu. Spätestens jetzt ließ er urplötzlich die Finger von ihr. Shaelyn war prompt die bloße Enttäuschung anzusehen. „Gibt es keine Fortsetzung?“ „Nein.“ „Warum?“, verließ es mit einer Schnute ihren Mund. L deutete nebensächlich auf das Auto an der Straße, welches gestartet wurde. „Das Publikum fehlt.“ Nun konnte sie auch nicht mehr ausmachen, wer genau sich in dem Wagen befand. „Heißt das...“, wandte sie sich nun mit einem Grinsen an ihn. „Dass wenn wir wieder im Haus sind, du weitermachst?“ „Unwahrscheinlich.“ „War ja klar... Wäre zu schön gewesen.“ „Kann es sein, dass du dir nicht im Klaren darüber bist, was ich alles bedenkenlos mit dir anstellen könnte?“, fragte er unerschrocken, erhielt daraufhin nur ein zweideutiges Grinsen. „Wer weiß? Du hast es ja bisher nicht getestet.“ Entweder sie lud ihn geradezu dazu ein es wirklich herauszufinden, oder sie testete seine Reaktion. L hielt ersteres für wahrscheinlicher und gleichermaßen versetzte es ihn in große Skepsis. Hatte sie wirklich nichts getrunken? Shaelyn war im Normalfall nicht derart direkt. Das würde auch ihre Reaktionen und Aktionen seit dem verlassen des Hauses erklären. „Kann es unter Umständen sein, dass du doch etwas getrunken hast?“ „Und wenn?“ Das war für ihn ein eindeutiges Geständnis. Ihre Gesichtsregung zeigte es ihm zu genüge. Ihre tägliche Medizin bewirkte offensichtlich eine Beschleunigung der Wirkung des Alkohols. In diesem Falle war es gefährlich. Außerdem war sie nicht an Alkohol gewohnt. „Wie viel?“, hakte er ernst nach und sie grinste frech. „Der Herr weiß also gleich, dass ich was getrunken habe? Die Cola war doch ohne Alkohol. Hast du selbst getestet.“ L verstand keinen Spaß darin. Es gab genug Möglichkeiten. Schließlich hatte er sie nicht sofort gefunden – Zeit war demnach genug vorhanden gewesen. „Shaelyn, ich wiederhole mich ungern. Wie viel?“ „Ach, nur son' kleines Fläschen. War echt süß. Wirkt so was so schnell? Es war doch nur ganz wenig.“ Die Wirkung des kleinen Fläschens war immer deutlicher zu erkennen. „Deine Medikamente hat es um ein viel Faches beschleunigt und verstärkt. Hinzu bist du nicht an Alkohol gewohnt. Daher solltest du nun ins Bett.“ „Was?! Kommt nicht in Frage! Ich trinke auch nichts mehr, macht ja dann keinen Unterschied! War doch nur ein kleines Bisschen.“ „Das reicht aus. Ich werde Watari verständigen -“ Ohne, dass er überhaupt zu ende sprechen konnte, griff sie in seine Hosentaschen – und fischte sein Handy heraus. „Ohne mich! An diesem Abend gehörst du alleine mir! Und das lass ich mir bestimmt nicht nehmen!“, meckerte sie freiheraus, während er versuchte sich sein Mobiltelefon wieder anzueignen. Die Szene erinnerte an die Schale, die er damals versuchte wieder zu ergattern. Und er scheiterte ebenso. „Nichts da! Aber du kannst ruhig länger so nah bleiben.“, äußerte sie kichernd und nahm etwas Abstand. „Und damit du nicht auf blöde Ideen kommst, werde ich mal das Handy verschwinden lassen.“ L glaubte nicht daran, was er dann sah. Ohne zu zögern ließ sie das Handy in ihrem Ausschnitt verschwinden. Verärgert starrte er auf ihr Dekolleté. „Also, du hast die Wahl. Du fasst mir an die Brust, oder du spielst für den Rest des Abends meinen Freund.“ Und L hatte den Eindruck, dass ihr beides lieb gewesen wäre. Wütend auf sich, dass er nicht genug auf sie Acht gegeben hatte, biss er auf seinen Daumennagel. Ihr an die Brust zu fassen war sicher nicht die beste Lösung... allerdings wäre es eine Option. „Ich bin nicht der einzige, der ein Handy mit sich führt. Außerdem befindet sich ein Telefon im Haus.“ „Untersteh' dich! Was ist schon so schlimm daran meinen Freund zu mimen und gleichzeitig, dass ich was angeschwipst bin?! Komm' schon... sei kein Spielverderber.“, meinte sie vergnügt, das ihn weniger amüsiert stimmte. „Das ist nicht witzig, Shaelyn. Sollte deine Medikamente schon eine solche Wirkung zeigen, wäre es ratsam, dass du dich ausruhst und im Notfall ins Krankenhaus gefahren wirst.“ „Ach was, so schlimm ist es schon nicht. Und du bist doch die ganze Zeit bei mir, was soll mir also schon passieren? Also bitte, lass uns hier wenigstens bis kurz nach Neujahr bleiben.“ Sie machte ihm hübsche Augen – was unter den Umständen jedoch keine Wirkung zeigte. „Nein. Du wirst mit mir nach Hause fahren.“, erwiderte er streng, duldete somit keine Wiederworte. Ihr Ausdruck veränderte sich schlagartig. Mit einem bösen Blick, verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Und ich sage, dass wir bleiben.“, sagte sie stur, unbeeindruckt seiner deutlichen Anweisung. „Was willst du schon machen. Mich verschleppen oder was? Du weißt, dass man mir besser nicht krumm kommt.“ Es war ein Ton ihm gegenüber, an dem L nicht gewohnt war und auch nicht tolerierte. Shaelyn war trotzig – jetzt um einiges hartnäckiger. „Das wäre eine Idee und ich werde deinen Großvater davon in Kenntnis setzen müssen, dass du dich weigerst.“ „Du kannst mir so viel mit Opa drohen wie du willst.“ Sie streckte ihm kindisch die Zunge heraus. „Selbst Opa ist lockerer als du. Der sieht das alles gar nicht so engstirnig.“ „Für dein Alter solltest du dich erwachsener benehmen, Shaelyn. Und du täuscht dich. Er wird es nicht dulden, dass du dich betrinkst.“ L senkte kurz den Blick und steckte sich die Hände in die Hosentaschen, holte aus seiner rechten etwas Süßes heraus – das Shaelyn ihm gleich abnahm, sodass er sie mit seinen Augen fixierte. Zu seinem Überraschen blickte sie ihn nun konfus an. „Willst du mir eigentlich gerade sagen, dass du es sonst Opa verheimlichst?“ „Ja.“ „... Du bist ganz schön gerissen. Was ist wenn Opa dich danach fragt?“ „Lasse ich ein paar unwichtige Details aus.“, fügte er gelassen an und kramte nach dem nächsten gleichen Bonbon in der Tasche. „Du bist eigentlich echt voll der Mistkerl. ….“, begann sie verdächtig ruhig, ehe sie anfing zu grinsen. Das war wie üblich kein gutes Zeichen. Schnell ließ er das neue Bonbon in den Mund verschwinden. „Machen wir einen weiteren Deal.“ Der Detektiv hob eine Augenbraue an. Jetzt war er neugierig was sie ihm überhaupt anbieten konnte. „Du wirst hier mit mir bis kurz nach Neujahr bleiben. So wie gehabt mein Freund mimen. Und Opa nichts sagen.“ Soweit hatte sie ihre Bedingungen gestellt, folgte der nun der interessantere Teil. „Im Gegenzug... gib ich dir die Garantie, dass ich mich, sofern es mir immer möglich ist, von Joel distanziere. Na? Deal?“ Aufgeschlossen hob L nun beide Augenbrauen an. Das war tatsächlich etwas, woraus er seinen Nutzen ziehen konnte. Nun musste nur abgewogen werden. Zum Einen behielt sie recht damit, dass er ohnehin an ihrer Seite wäre, falls etwas vorfallen sollte. Zudem war es kaum mehr eine Stunde, die es zu überbrücken galt. Des weiteren konnte er ihre Worte genau herausfiltern. Die Betonung lag deutlich auf; wenn es ihr möglich war. Das garantierte unter keinen Umständen eine völlige Abwendung. Dennoch war er davon überzeugt, dass zumindest ein Quäntchen Wahrheit in ihren Worten steckte – ganz abgesehen von ihrem angetrunkenen Zustand. Schließlich wollte sie ihm gefallen und hätte es im Nachhinein auch ohne diesen Deal getan – wenn wohl nicht so direkt. Und sie hielt sich an ihre Abmachungen. Eine Verpflichtung die sie damit einging und ihm tatsächlich gewährleistete, dass sie es durchzog. Gut, er war überzeugt. „Einversta-“ L zog den Vokal in die Länge, da sich Shaelyn um seinen Hals fiel und ihn schließlich einmal ungestüm auf den Mund küsste. Fast einen Herzanfall erleidend, stellte er weiterhin fest: Sie war sehr enthemmt im angetrunkenen Zustand. „Guck nicht so geschockt! Du bist heute mein! Da gibt es nichts zu meckern.“, lachte sie amüsiert auf. „Ein Geben und Nehmen, richtig?“, fügte sie breit lächelnd hinzu, woraufhin L die Augenlider zur Hälfte senkte. „Richtig.“ „Und weißt du was?“, kam es begeistert von ihr. „Was?“, kam es dann wiederum weniger begeistert vom Detektiven. „Ich werde auch brav sein.“, meinte sie mit einem Lächeln, während sie sich wieder normal vor ihm stellte. Ohne dass er etwas darauf antwortete, hob er seine Hand an, kurz darauf auch seine andere, was sie gleich aufmerksam verfolgte – bis hin zu ihrem Ausschnitt, den er mit einem Zeigefinger etwas aufzog und mit dem anderen Zeigefinger und Daumen zwischen ihrem Busen auf Tuchfühlung ging. Nicht nur, dass sich ihr Herz überschlug, sondern sie es kaum mehr wagte zu atmen. Er fasste ihr tatsächlich an den Busen – seelenruhig und gelassen. Ehe er das Handy aus ihrem Dekolleté fischte, glaubte sie gleich ohnmächtig zu werden. Jede Stelle die er auch noch so flüchtig berührte, hinterließ eine heiße Spur auf ihrer Haut. Es war die Hitze, dir ihr immer mehr zu Kopf stieg und völlig benebelte – und sie hatte das Gefühl er ließ sich mehr Zeit als er brauchte. Setzte ihr Atem für wenige Sekunden aus, als er nicht nur sein Handy zu fassen bekam. Gefesselt von seinen dunklen Augen, die sie förmlich durchbohrten als er sie anblickte, wurden ihre Knie weich. Hilflos keuchte sie fast nach Luft. Und obwohl Rue es nur aus Rache tat – wollte sie, dass er nicht aufhörte. Ganz gleich ob es das richtige war. Ihr Kopf war voll von Dingen, die sie längst nicht mehr steuern konnte. „Das brauchst du nicht mehr für mich zu tragen.“, waren seine Worte, als er seine Finger von ihr nahm und das Handy in die Tasche zurück steckte. Mit Faszination betrachtete L ihr Gesicht. Lag in ihrem Ausdruck eine Mischung aus Verwirrung, Scham und beim Letzteren öffnete er etwas weiter die Augen. War es Sehnsucht, die er deutlich herauslesen konnte. Bei nun dieser Erkenntnis darüber, knabberte er gleich angestrengt an seinem Daumennagel. „Wir sollten hinein gehen.“, gab L umgehend beherrscht von sich. Die Situation begann kritisch zu werden – denn selbst L nahm diese seltsame Aufregung wahr, die ihn nun einzuholen schien. Fast greifbar wie schwer die Luft wurde als sie für einen Moment auf ihre Unterlippe biss. Gespannt starrte er auf ihre Lippen während sie begann jene zu öffnen. „Küss mich. Jetzt.“, flüsterte sie auffordernd, ging sie schon einen Schritt auf ihn zu – doch bevor sie ihm nahe genug kam, reagierte L. Mit einem Ausweichschritt nach hinten, und rasendem Puls, brachte er genug Abstand. „Nein.“, verdeutlichte er noch seine Geste, welche Wirkung ihr gleich stark anzusehen war. Enttäuscht wich Shaelyn seinem Blick aus und verschränkte die Arme vor der Brust. L versuchte sich zwischenzeitlich zu besinnen. Rechnete er jedoch nicht mit ihrem schnellen Abgang, den sie unvermittelt Richtung Haus antrat. Erneut hatte er sie gekränkt, weshalb er sich unschlüssig am Hinterkopf kratzte. Und nicht zuletzt flüchtete sie ein weiteres Mal vor ihm – was sie allmählich unterlassen sollte. Emma hatte schon nach Shaelyn Ausschau gehalten als sie diese sah, wie sie die Treppen, mit einem bedrückten Gesichtsausdruck, hoch stieg. Da war wieder was vorgefallen und das war sicherlich nicht nur wegen ihrem Bruder, der auf dem Weg ins Krankenhaus war. Überhaupt? Was hatte sich Joel dabei gedacht? Wenn sie ihrer Freundin richtig zugehört hatte, dann war er selbst daran schuld gewesen. Aber ganz offensichtlich brauchte Shaelyn gerade jemanden der ihr zuhörte, weshalb sie diese Gedanken erst einmal beiseite schob. Denn glücklich, oder zumindest zufrieden, sah anders aus. Demnach bahnte Emma sich den Weg nach oben frei. Aus reiner Intuition klopfte sie erst bei sich am Zimmer an, ehe sie langsam die Türe öffnete. Fand Emma wie erwartet die Engländerin auf ihrem Bett vor, mit dem Rücken zu ihr liegend und die Beine angezogen. „Shae …. ?“, fragte sie vorsichtig an und erhielt ein Schniefen als Antwort. Langsam trat die Brünette ein und schloss hinter sich die Türe. War die Stimmung beklemmend und Behutsamkeit gefragt. So setzte die Amerikanerin sich auf das Bett, legte dabei ihre Hand auf Shaelyns Schulter. „Was ist denn los?“, war somit ihre erste Frage. „... Ich möchte alleine sein.“, kam es schwach zurück, womit Emma jedoch bereits gerechnet hatte. Die Brünette seufzte leise. „Das glaube ich dir nicht. Möchtest du nicht lieber darüber sprechen?“ „Nein...“ Ein weiteres Schniefen folgte und Emma öffnete gleich den kleinen Nachttisch, aus welchem sie ein Paket Taschentücher holte. „Hier, nimm erst mal ein Taschentuch.“, sagte Emma und hielt ihr hilfsbereit das Paket hin, das gleich von Shaelyn in die Hand genommen wurde. Sogleich setzte sich die Schwarzhaarige auf und Emma konnte in ihr verweintes Gesicht blicken. „Was hat er wieder getan? Erst gehst du wütend aus der Garage und jetzt sitzt du hier und weinst.“ Shaelyn sah sie kurz von der Seite an, ehe sie die Tränen mit einem Tuch wegwischte. „Wir sind gar nicht wirklich zusammen.“, gab die Schwarzhaarige leise von sich, woraufhin Emma sie irritiert ansah. Wie meinte sie das jetzt? „Nicht zusammen?“ „Ja, nicht zusammen. Das war nur eine Lüge von ihm....“ Prompt stand die Wut in Emmas Gesicht. Wie konnte er Shaelyn nur so etwas antun?! „Was fällt dem Arsch ein?! Dem... werd' ich es zeigen!“ „Schon gut, Emma!“, beschwichtigte Shaelyn sie direkt und hielt Emma zurück. „Ich habe mich selbst darauf eingelassen...“ Zunächst blinzelte die Brünette einige Male. „ … Trotzdem! Damit macht man keine Spielchen! Er weiß doch, dass du ihn liebst. Langsam glaube ich wirklich, dass du die Finger von dem Arsch lassen solltest.“, meinte Emma in Rage und schlug die Beine übereinander. Shaelyn lächelte für einen kurzen Augenblick gequält. „Eigentlich ist er ein guter Mensch.“ Ganz gleich, wie oft er sie zurückwies – sie liebte ihn. Nur tat es ihr so weh, wenn er so deutlich seine Ablehnung zeigte. Wie konnte er dann so kühl und unnahbar sein? Wenn sie doch schon öfter erlebte, dass er anders sein konnte. Shaelyn verstand es nicht. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto verwirrter war sie. „Ein guter Mensch? Wo? Hab' ich bisher nicht gesehen. Alles was ich gesehen habe war ein Kerl, der gerne seine Spiele treibt und das auf deine Kosten!“ Ein wissendes Lächeln lag kurz auf Shaelyns Lippen. Dass Rue gern seine Spiele machte, wusste sie. Dennoch besaß er auch schöne Seiten. Seiten, die wohl kaum jemand kennenlernte. „Kannst du dich an die Blumen im Krankenhaus erinnern... ?“, fragte Shaelyn schließlich mit einem zarten Lächeln an. Alleine der Gedanke hellte ihre triste Welt auf. Kam gleich ein Brummen von der Brünetten. „Ja, das war lieb von ihm und-“ „Ich habe dir das bisher nie erzählt... aber er hat mein Leben gerettet. Er hat sein eigenes Leben dafür riskiert. … Wenn er also nicht wäre, wäre ich heute nicht mehr da.“, verließ es in Erinnerung schwelgend ihren Mund. Der Gedanke alleine schnürte ihre Brust ein. Ein so unangenehmes Gefühl, dass sie kurz kräftig Luft holte. „Was... was ist passiert?“, schnitt Emma entsetzt an. „Ich wurde gefangen genommen. Gefesselt in einem Keller liegend, war der einzige Gedanke mein Tod. Haben sie mir die Rippen gebrochen, mir Drogen verabreicht. Rue konnte nicht wissen wo ich war, doch trotzdem fand er mich und befreite mich. Ganz alleine. Und überwältigte die zwei Typen, als wir flohen. Da verlor ich mein Augenlicht... und hier.“ Shaelyn rückte den Träger des Kleides zur Seite und offenbarte eine kleine Narbe. „Hier wurde ich angeschossen.“, endete Shaelyn und sofort fasste Emma sich fassungslos an die Wange. „Unglaublich... und er hat dich wirklich ganz alleine da raus geholt?“ Die Engländerin nickte und setzte den Träger wieder auf die richtige Stelle. „... Unfassbar. Ich meine, ich wusste ja nicht... Ich muss kurz nachdenken.“ „Weißt du, Rue ist ein wirklich guter Mensch. Er hat zwar viele Macken, aber das macht nichts. Weiß ich ja, dass er oft gemein ist, aber er meint es sicher nicht so. Jedenfalls glaube ich das, weil sicher kann man sich ja nie bei ihm sein.“ Das Lächeln kehrte in ihrem Gesicht zurück. „Alleine dass er mir die Kette geschenkt hat, zeigt viel von ihm. Er weiß, dass ich Vanille gern hab'. Außerdem hält er nicht viel von Geburtstagen und Geschenken, macht mir aber trotzdem eins.“ Shaelyn lachte leise auf. „Und er kann so schön Lächeln. Gerade weil er es so extrem selten tut, ist es was so besonderes. Dann ist er offen. Zeigt, was er wirklich fühlt. Sonst verschleiert er es immer. … Rue ist kompliziert und überhaupt so schwer zu verstehen. Er meint es einfach nicht böse. Ich will nur viel mehr von ihm und kann mich nicht zurückhalten.“ Ja, sie konnte sich nicht zusammennehmen. Wenn er bei ihr war, wollte sie ihm nahe sein. Wollte sie seine Aufmerksamkeit für sich alleine. Es war kaum zu steuern was sie tat – und das musste Rue einfach überfordern. Er fühlte nicht so wie sie und statt dass sie ihm den Freiraum ließ, bedrängte sie ihn weiter. Besonders, wenn sie durch den Alkohol noch weiter berauscht wurde. So konnte nie etwas aus ihnen werden – oder überhaupt etwas. Und das war das Traurige, was sie gerade hatte weinen lassen. War es doch jede einzelne Sekunde, die sie immer mit ihm zusammen sein wollte. Immer das warme Gefühl zu spüren, wenn er sie berührte. Rue traf keine Schuld. „Ja, ich verstehe dich langsam, Shae.“, waren schließlich die Worte von Emma zu vernehmen, die sie aus den Gedanken rissen. Die Amerikanerin blickte sie ernst an. „Rue ist nicht einfach irgendjemand für dich. Nicht nur, weil du in ihn verliebt bist, sondern weil das noch ganz andere Wurzeln hat. Euch verbindet etwas mehr. Das habe ich glaube ich eingesehen.“ Zufrieden lächelte Shaelyn, stoppte allerdings, als Emma den Finger drohend hob. „Auch wenn ich das eingesehen habe, sollte sich Rue mal warm anziehen. Das gibt ihm aber trotzdem noch nicht das Recht dich so zu behandeln. Egal was für Macken der Kerl hat, der muss doch sehen, dass er dich damit verletzt. Er sollte dich sanfter behandeln.“ Kurz verwirrt über die Ansage ihrer Freundin, lachte Shaelyn letztendlich auf. Nun war Emma verwirrt und öffnete abermals die Lippen. „Was ist daran so komisch?“ „Emma... Rue kann einfach nicht anders. Ich weiß das mittlerweile. Der ist so. Ich muss nur lernen besser damit klarzukommen.“ Misstrauisch wurde Shaelyn beäugt. „Du willst dich ihm also anpassen?“ Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf, während sich ein versunkenes Lächeln auf ihre Lippen schlich. „Nein,... ich will ihm entgegenkommen.“ Emma lächelte nun ebenfalls. „Was anderes. Was war denn da los gewesen zwischen Joel und Rue?“ Überrascht hob Shaelyn ihre Braunen an. „... Rue hatte deinen Bruder provoziert und der ist dann auf Rue los. Der ist nur ausgewichen und hat Joel über den Rücken auf den Boden geworfen.“ „Hm... Und dann bricht Joel sich gleich das Handgelenk?“ Geschockt darüber, riss die Engländerin ihre Augen auf. Joel hatte sich dabei das Handgelenk gebrochen?! Das wusste sie gar nicht! „Was?!“ „Du wusstest das nicht? Er ist doch zum Krankenhaus. Wird das neue Jahr mit Warten beginnen.“ „Oh... Mist. Das... wollte...“ Da fiel ihr urplötzlich der Kuss mit Rue ein. War das also Joel gewesen, der wegfuhr? Kurz zuckte ihre rechte Augenbraue. Jetzt stellte sie sich die Frage, ob der Kuss deshalb war. Rue hatte kurz weggesehen, bevor er sie überfallen hatte. Nun ja, es gehörte mit zur Tarnung gerade vor Joel zu küssen. Trotzdem. Sie hätte ja sofort gesehen, dass es ihm nicht gut ging. Hieß das nicht auch, dass es Rue gesehen und gewusst haben musste? „Ja?“ „S-Schon gut.“ Besser sie vergaß ganz schnell die Gedanken. Vielleicht dachte sie sich einfach nur zu viel dabei. „Ich sollte mich dann besser bei ihm entschuldigen, wenn ich ihn das nächste mal treffe.“ „Hm?“, fragte Emma verwundert an. „Naja, ich bin halt Joel über den Weg gelaufen und dann habe ich mit ihm gesprochen. Wäre ich ihm nicht über den Weg gelaufen, hätte er jetzt ein gesundes Handgelenk.“, gab sie ein wenig schuldig von sich, woraufhin aber Emma begann zu lachen. „Shae! Also echt. Wenn hier einer Schuld hat, dann ist das Joel, oder dein toller Kerl. Aber du bestimmt nicht.“ Ein scharfer Seitenblick traf die Brünette. „Hey, sag das nicht so gemein. Rue ist toll.“ „Ja ja, ich weiß schon.“, antwortete Emma belustigt. „Der Typ, in dem man verliebt ist, ist immer toll.“ Ein erneuter strenger Blick später, hob die Brünette ergebend ihre Hände hoch. „Das stimmt schon... aber du hast auch Recht, Shae.“ Bei diesen Worten legte die Angesprochene den Kopf leicht schief. Emma fuhr mit einem sachten Lächeln fort: „Dass er sein Leben für dich riskiert hat, zeigt wirkliche Selbstlosigkeit. Es beeindruckt mich echt. Außerdem zeigt er damit, dass du ihm am Herzen liegst. Immerhin riskiert man nicht für irgendwem sein Leben, oder?“ Shaelyn begann verträumt in sich hinein zu lächeln. Hatte auch ihr Herz einen großen Sprung getan. Denn das was Emma sagte, machte ihr weiter bewusst, dass sie tatsächlich etwas Besonderes für Rue sein musste. Sie war nicht irgendjemand in seinem Leben. Ohne Vorwarnung wurde die Türe geöffnet, sodass beide junge Frauen zusammenzuckten. Eine gebückte, sehr unzufriedene Person, die beide jungen Frauen mit einem intensiven Starren strafte, stand dort. Direkt schluckte Shaelyn einen dicken Kloß herunter. Hoffentlich war er nicht allzu sauer. Besser sie riss sich jetzt zusammen. Bevor auch Rue etwas sagen konnte, erhob sich Emma. „Ähm, ich lass euch besser mal alleine!“, meinte sie schnell und ging zur Türe, quetschte sich gleich darauf an Rue vorbei – jener ohne Regung weiterhin im Türrahmen stand. Sein stechender Blick galt Shaelyn, die völlig erstarrte. Sie hatte Angst, dass wenn sie sich bewegte, er eventuell nur böser wurde. Sah sie schließlich krampfhaft mit an wie er in den Raum trat und seelenruhig hinter sich die Türe schloss. Irgendwie hatte sie gar kein gutes Gefühl – weshalb sie sich die dünne Decke schnappte und kurzerhand diese über sich zog. Es war als würde sie damit versuchen die bösartigen Geister abzuhalten. Oder zumindest den bösen Rue daran zu hindern, sauer auf sie zu sein. „Shaelyn.“ Seine dunkle Stimme veranlasste sie gleich dazu sich den Saum der Decke enger zu sich zu ziehen. Sie wusste nicht was sie tun oder sagen sollte. Es tat ihr leid, dass sie sich abermals so dumm benommen hatte. Und auch jetzt tat sie wieder etwas unüberlegtes. Was sollte diese dünne Decke schon abhalten? Rue bestimmt nicht – doch tat sich nichts. Kam nicht einmal ein Geräusch von ihm. Unsicher, ob er wirklich noch da stand, begann sie auf ihrer Unterlippe zu beißen. Ob sie nachsehen sollte? Ob das vielleicht nur eine Falle war um sie hervorzulocken? War er dann überhaupt wütend auf sie, wenn er sich so Zeit ließ? … Konnte er wirklich einfach gegangen sein? Verwirrt über die Fragen und auch Zweifel in ihrem Kopf, ließ sie ihren Griff um die Decke lockerer. War es jetzt verkehrt nachzusehen? Entgegen ihres miesen Bauchgefühls, zog sie die Bettdecke etwas hoch, sodass sie genau auf das sehen müsste, was vor dem Bett stand – und dort war nichts. Erschrocken darüber, riss sie gleich die gesamte Decke von sich. Ungläubig starrte sie in die Leere des Zimmers, lehnte sich dabei weit vor, sodass sie sich auf beiden Händen auf dem Bett abstützte. „W-wo...“, entwich es ihr leise und vollkommen desorientiert. Wenn er gegangen wäre, dann hätte sie es doch hören müssen?! Fantasierte sie jetzt schon?! Aber Emma war doch extra wegen Rue gegangen. Sie musste ihn auch gesehen haben! Entsetzt hielt sie den Atem an. Ohne Vorwarnung rückte ein wilder Haarschopf hervor - und ebenfalls lugten zwei dunkle Augen über dem Bettrand hervor. Rue hatte sich vor dem Bett versteckt?! Ungläubig kreuzte sie den festen Blick von Rue. Wie hatte das überhaupt gepasst? Ein seltsames Bild formte sich in ihrem Kopf, sodass sie unwillkürlich grinsen musste. Was machte er da unten? „Gut, du scheinst wieder bei Laune zu sein. Wäre nun ein Gespräch im Bereich des Wahrscheinlichen?“, verließ es fast schon sarkastisch seinen Mund, woraufhin sie plötzlich kichern musste. „Du bist verrückt!“, lachte Shaelyn. „Was machst du da unten?“ Rue zog eine Augenbraue an, verließ seine Position aber in keinster Weise. „Gegenfrage: Was hast du versucht mit der Bettdecke zu bezwecken?“ Verdutzt setzte sie sich auf, ehe sie verlegen beiseite sah. Er hatte schon Recht. Ihre Aktion war genauso verrückt gewesen, wie sein Versteckspiel. „Na,... ich wollte mich halt verstecken. Ich weiß, war auch blöd von mir...“ Ein winziges Grinsen zeichnete sich auf seinen schmalen Lippen ab. Ja, sie hatte es begriffen. „Wunderbar.“, meinte er schließlich und erhob sich, nur um sich kurz darauf auf das Bett zu setzen. „Ich mache dir einen Vorschlag, Shaelyn.“ Gleich besah sie Rue von der Seite, der grübelnd an die Zimmerdecke starrte. „Du läufst nicht mehr davon und hast für den Rest des Tages noch etwas Spaß, ganz ohne ein Kommentar zu dem was sich vorhin abspielte. Im Gegenzug...“ Nun wandte er seinen Kopf zu ihr, bedachte sie mit einem ernsten Blick. Jetzt schluckte sie automatisch. „Im Gegenzug wirst du dich benehmen, mir keine Probleme verursachen und die Sache mit dem Schlittschuhlaufen vergessen.“ Irritiert blinzelte sie. Die Sache mit dem Schlittschuhlaufen? Aber... das war doch eine Abmachung! „Ich verstehe ja die ersten zwei Punkte, aber mit dem letzten bin ich definitiv nicht einverstanden! Das war eine Abmachung. Ich habe gewonnen und durfte mir was aussuchen.“ „Dann suche dir von mir aus etwas anderes aus.“, meinte er nebensächlich, während er an seinem Daumennagel nagte, was sie für wenige Augenblicke fassungslos machte. War er so strikt dagegen? Hatte er vielleicht Angst davor? Eigentlich hielt er sich an die Abkommen – dass er es jetzt aber wieder aufrollte und die Gelegenheit nutzte es rückgängig zu machen, stimmte sie nun mehr nachdenklich als wütend. Natürlich hatte sie sich darauf gefreut. Schließlich ging sie gern Eislaufen, besonders dann mit Rue. Aber es schien im gar nicht zu gefallen. Warum? Ob das Nachfragen klappen würde? „... Wieso kein Eislaufen?“ Sein Starren war eisern und sie konnte sich an diesem Punkt sicher sein, dass er keine Antwort geben würde. Es machte sie etwas traurig. War vielleicht doch mehr dahinter, dass er es nicht wollte? Shaelyn seufzte. „Schade, … eigentlich habe ich mich sehr darauf gefreut. Aber wenn du es so sehr nicht willst.“ Es war deutlich an ihrer Stimme und auch Gesichtsausdruck auszumachen, dass sie enttäuscht war. Aber was sollte sie schon tun? Dann sollte sie besser etwas anderes wählen. Nur was? „Naja dann... ah! Ich habs!“, meinte sie schließlich enthusiastisch. „Hollywood! Ich will den Walk of Fame mit dir sehen! Ist doch hier in Los Angeles und wollte ich sowieso mal hin. Außerdem gibt es da bestimmt auch so viele schöne Dinge zu gucken. Was sagst du? Ist doch okay, oder nicht?“ Ob das 'Okay' war, daran zweifelte sie wenige Momente später. Er schien scharf nachzudenken. Aber was sollte daran nicht in Ordnung sein? Es war nur ein Tag, an dem sie zusammen umherliefen und redeten. Vielleicht in das ein oder andere Geschäft gingen. „Einverstanden.“, ließ er schließlich verlauten, was sie vor Vorfreude lächeln ließ. Und wenn sie es gründlich bedachte, war das doch besser als das Eislaufen. Ein ganzer Tag war länger als ein-zwei wenige Stunden Eislaufen! Ob er das auch mit bedacht hatte … ? Seit dem Beschluss, es ginge nun zum Walk of Fame, statt in die Eishalle, lächelte Shaelyn ununterbrochen. War ihr somit von Beginn an klar gewesen, dass sie nun mehr Zeit zur Verfügung hatte. Dies war selbstverständlich mit eingerechnet gewesen, denn so war das Angebot für sie noch verlockender. Dennoch hatte er kein Anzeichen einer Gefahr entdeckt. Ein Tag in der Stadt war angenehmer als auf dem Eis zu stehen. L wählte demnach das kleinere Übel. Und sie hatte weiterhin die Bedingung bedacht, dass es nicht direkt mit ihm zu tun hatte. Demnach würde er sie ebenso in die Stadt begleiten, wie eigentlich zum Eislaufen. So oder so: Er musste für seine Niederlage geradestehen. Ebenso für die Abmachungen, die für diesen Abend galten. So folgte er still Shaelyn, jene den Weg zur Garage anschlug. Als sie dann vor den Kisten stand und hineinsah, seufzte sie lautstark. „Da ist jetzt ja nur npch ein Paket Knallfrösche... Und jetzt?“, wandte sie sich zuletzt an ihn, auch wenn sie sich selbst mehr die Frage stellte als ihm. „Dann hab' ich das richtige für euch!“, mischte sich eine bekannte Stimme ein, die L sowie Shaelyn aufmerksam machten. Emma stand am Nebeneingang der Garage und grinste. „Die Anderen waren halt schneller als ihr....“, setzte sie fort, ehe sie näher trat und auch weiter sprach: „Aber zum Glück bin ich ja noch da.“ L verzog keine Miene darauf. Shaelyn hingegen war begeistert. „Seht mal her...“ Mit einem breiten Grinsen zückte sie eine längere Schachtel, die sie wohl in die hintere Tasche gesteckt haben musste. Misstrauisch beäugte L die Schachtel, als schon Shaelyn seufzte. „Das sind doch nur Wunderkerzen...“ „Eben. Genau das richtige für euch...“ „Du meinst wohl, die nimmt kein anderer, hm?“, meinte Shaelyn etwas verärgert. Emma grinste unbeeindruckt weiter. „Doch, klar! Aber das passt doch zu euch!“ „Hm... weil man sich an den Dingern verbrennen kann? Versteh den Wink schon...“, kommentierte die Engländerin, woraufhin L etwas grinsen musste. „Siehst du. Rue grinst schon, also kann es ja nur stimmen.“, ärgerte Emma Shaelyn mit einem Lachen. Gleich fing der Detektiv sich einen kurzen gefährlichen Seitenblick von Shaelyn ein – was ihn unbeeindruckt ließ. „Also entweder die tollen Kerzen, oder die Knallfrösche. Was darfs sein?“, fragte Emma nun konkret, sodass Shaelyn tief ausatmete. „Ja, die Kerzen. Gib schon her.“ Zufrieden übergab Emma die Wunderkerzen, allerdings nicht ohne einen Kommentar. „Das ist eure weitere Strafe. Dafür, dass ihr den Garten unter Wasser gesetzt habt.“ „... unfair. Dafür waren doch die Handschellen gewesen.“ „Die ich euch abgenommen habe, weil ich dachte, ihr wärt ein Paar.“ Umgehend wanderten die dunklen Pupillen Ls zu Shaelyn, die sich auf der Stelle sichtlich unwohl fühlte. „Äh... ja. Schon gut! Danke!“, lachte die Schwarzhaarige unsicher. „Alles klar, dann bis gleich zum Showdown.“ Emma ging zügig – und ehe L seinen Mund öffnete, kam Shaelyn ihm zuvor. „Tut mir leid! Ich hab's ihr gesagt... ja! Ich weiß, es sollte ja keiner wissen, dass das ein Schauspiel ist... aber ich hab's ihr einfach gesagt, okay?! Bitte nicht böse sein!“, flehte sie ihn direkt an. Wenn es Emma wusste, war auch bald Joel eingeweiht. Ein logischer Schluss, der ihn missmutig stimmte. „I-Ich hab halt ein wenig Frust abgelassen und dann hab ich es ihr gesagt... Ist doch jetzt nicht so schlimm oder? Ich meine, wir machen das doch eh nur wegen Dustin... ?“ L kramte in seiner Hosentasche nach einem Bonbon, den er gleich darauf fand und zu erst einmal unter den flehentlichen Augen Shaelyns verputzte. Nach einer kleinen Pause, setzte er zum Sprechen an: „Sie wäre ohnehin bald von selbst darauf gekommen.“ Das wäre sie spätestens beim nächsten Besuch. Dennoch nicht all zu bald. Doch sich daran nun aufzuhängen, war unnütz. Außerdem wäre es nur verdächtig etwas anderes zu sagen. Stand die Erleichterung Shaelyn direkt im Gesicht. „Es war keine Absicht... Wirklich nicht.“ „Schon gut, Shaelyn.“ Ihm wurde ein süßes Lächeln geschenkt, das ihn dazu zwang die nächste Süßigkeit zu sich zu nehmen. „Sag mal, wie viel hast du noch von dem Süßen in deinen Taschen?“, fragte sie dann irritiert, während sie zusah, wie er sich mit Nascherein vollstopfte. Sie wusste ja, dass seine Taschen riesig waren, trotzdem musste doch irgendwann mal Schluss sein? Und irgendwie hatte er in den letzten 30 Minuten verstärkt daran gearbeitet den Vorrat aufzubrauchen. War er nervös? Oder wie sollte sie das verstehen? Seine Augen starrten sie still an, sodass sie es einfach nur erwidern konnte. „Willst du auch?“ Es war eine sehr ruhige, dunkle Stimme, die sie verunsicherte. Wie sollte sie das verstehen? Da war das starke Gefühl, er meinte eigentlich etwas völlig anderes. Dabei war die Frage eindeutig. Auf irgendeine Weise wurde sie nervös, verstärkend trug sein Blick dazu bei. „I-Ich weiß nicht?“ Ein winziges und vor allem geheimnisvolles Grinsen legte sich auf seine Lippen. Dann griff er abermals in seine Tasche und hielt ihr die geschlossene Hand vor, die gleich besah. Zaghaft hob sie die ihre an, zuckte kurz zurück als er die Finger löste. Auf seiner Handfläche lag ein einzelnes, in Papier gehülltes, Bonbon. „Die letzte Süßigkeit.“, vernahm sie seine Stimme, ehe sie aufsah und das sichtlich aufgeregt. „D...Dann lieber-“ „Es ist ein Vanille-Bonbon.“, unterbrach er sie, woraufhin ihr Herz nur heftiger schlug. Vanille. Warum hatte alles mit Vanille zu tun? Warum betonte er es so? Und warum machte es sie so nervös? Es war nur eine Süßigkeit, die er ihr vorhielt! Mit roten Wangen und einem stockenden Atem, lächelte sie zögernd. „Willst du das Bonbon denn nicht?“ Was sie dann hörte, verwunderte sie nur mehr. „Wie ich bereits einmal sagte: Das beste hebe ich mir bis zum Schluss auf.“ Shaelyn holte tief Luft. Ja, er hatte es schon einmal gesagt. Und auch wie damals hatte sie das Gefühl, es sei etwas anderes gemeint gewesen. Sie versuchte ihre Aufregung zu überspielen. Es war ohnehin komisch, wieso sie wegen so etwas so nervös wurde. „Dann hast du ja jetzt die Gelegenheit.“, meinte sie weiterhin lächelnd. „Ja. Allerdings ...“ Rue schloss seine Finger wieder um das Bonbon. Aufgeregt blickte sie auf seinen Mund, der sich nochmals öffnete: „wäre es auch ein Jammer.“ Konfus starrte sie hoch zu ihm. „Wieso?“ „Wenn ich das Bonbon jetzt essen würde, dann wäre nichts mehr für später übrig. So genieße ich noch etwas mehr diese Süßigkeit.“ Mit diesen Worten steckte er die Süßigkeit wieder in die Tasche und grinste dabei. Vollkommen verwirrt, dachte sie über das eben gesagte nach. Was zur Hölle hatte er damit gemeint?! Als er sich dann zum Gehen abwenden wollte, packte sie ihn am Arm. „Warte mal! Und was ist, wenn ich das Bonbon jetzt gern haben würde?“ Ein Seitenblick von ihm ließ sie nur mehr grübeln – Er amüsierte sich. Über was auch immer! Sie wollte es auch wissen! „Dieses Bonbon ist alleine für mich reserviert.“ Argwöhnisch zog sie ihre Augenbrauen zusammen. „Und wieso?“ „Weil ich darüber verfüge.“ „Und wer sagt das?“ „... Ich. Und alleine ich entscheide, was damit passiert. Wann ich es esse, wie lange ich mir dafür Zeit nehme oder es überhaupt vernasche.“ „Wieso... solltest du die Süßigkeit nicht essen?“ Seine Augen blitzten kurz auf, sodass sie nur noch neugieriger wurde. Irgendwas lief hier. „Das ist mein Geheimnis.“, antwortete er schließlich. Sprachlos ließ sie von seinem Arm ab und brauchte ein paar Sekunden zum Nachdenken. War das größte Geheimnis eigentlich er selbst. Wieso machte er nun so ein großes Thema aus diesem Bonbon?! Sollte er es doch einfach essen, wenn es doch für ihn ist. Er konnte sich doch genug andere solcher Bonbons kaufen und haufenweise essen. Jetzt wollte sie dieses Bonbon unbedingt! Natürlich kam Shaelyn nicht dahinter – denn ansonsten hätte L dieses Thema niemals angeschnitten. Obwohl es streng genommen nicht schwer war das zu begreifen. Zumindest aus seiner Sicht. „Halt mal. Sagtest du nicht, dass ich auch was haben kann?“ L zog eine Augenbraue an. „Ja.“ „Ja, also her mit dem Vanillezeug.“ „Das war nicht auf dieses Vanillezeug bezogen.“ „Ah?“ „Wenn du willst, kannst du Zuhause alles haben.“ „... aber nicht dieses Bonbon?“ „Richtig.“ „Das ist gemein! Erst machst du mich wild auf das Zeug und dann bekomme ich es nicht!“ L musste zugeben, dass es ihm etwas Spaß bereitete. „Das ist nicht mein Problem.“, kam es dennoch ohne eine weitere Miene zu verziehen. „Ach komm! Sei kein Frosch!“ „... Frosch?“, fragte nun L tatsächlich irritiert. „Sagt man so. Lenk' nicht ab. … Oder muss ich mir den Bonbon selbst holen?“ „Soll das ein weiterer Versuch sein mir nahe zu kommen?“ „... Vielleicht?!“, meinte sie nun kampflustig, das ihn in Bereitschaft versetzte. L hatte sehr wohl gelernt bei derartigen Situationen mit Shaelyn auf der Hut zu sein. Wäre nicht das erste Mal, dass sie sich auf ihn stürzte. „Ich bin der Meinung, dass du dich etwas zügeln solltest.“ „Wieso? Du bist noch mein Freund.“ L griff nur kurz darauf die Hand von Shaelyn, welche sie nach ihm ausstreckte. Bei dieser Gelegenheit wandte er sich zu ihr um. Jedoch war L überrascht als er den herausfordernden Gesichtsausdruck von Shaelyn las. „Irgendwie mag ich es ja, wenn du so konsequent bist.“ Das war sicherlich nicht das was er erwartet hatte. Sie lächelte ihm frech ins Gesicht, machte dabei keine Anstalten ihre Hand zu befreien. „Was ist, wenn ich meine andere Hand ausstrecke? Hältst du sie dann auch so fest? Was willst du dann gegen den Rest von mir unternehmen?“ Eine ausgesprochen gute Frage, die L nicht beantworten konnte. War es weder seine Absicht sie zu verletzen, noch nahe kommen zu lassen. Plötzlich lachte Shaelyn auf und zog ihre Hand vorsichtig zurück – was L auch zuließ. „Ich seh' schon, du bist entsetzt.“, sagte sie amüsiert. „Ich hole mir das Bonbon schon noch. Aber nicht hier... Immerhin habe ich genug Zeit. Du solltest dich aber darauf einstellen, dass es bald sein wird!“ Eine klare Ansage ihrerseits, die er tatsächlich ernst nehmen musste. Praktisch musste er jede Minute, gar Sekunde damit rechnen. Und das würde er auch, denn käme niemals Infrage ihr das Bonbon auszuhändigen. „Da du dazu wohl nichts mehr zu sagen hast, lass und besser wieder ins Haus gehen. Ich habe schrecklichen Durst. Und achja...“ L war schon dabei seine Tasche zu verteidigen, als sie ihm dann lachend die Schachtel hin hielt. „Nervös?“ Shaelyn machte sich einen großen Spaß daraus, was ihn nur unzufrieden den Mund verziehen ließ. „Die Schachtel, Rue. ... Die solltest du nehmen. Du hast zumindest Platz dafür.“ Mit einem Kichern von Shaelyn begleitet, nahm er die Schachtel an sich und steckte sie in die hintere Hosentasche. Dass sie sich so auf seine Kosten amüsierte, würde nicht ohne Folgen bleiben. „.... Richtig.“, ließ er gelassen anklingen, sodass sie aufmerksam wurde. „Denn nur mein Handy ist gerade klein genug, um in deinen Ausschnitt zu passen.“ Augenblicklich fasste sie sich an ihr Dekolleté, als würde sie seine Blicke damit blocken wollen. Außerdem schien ihr plötzlich ziemlich warm zu sein. Ihre Wangen nahmen einen Rotton an. Wich Shaelyn auch gleich seinen Blick aus. „... Lass uns einfach gehen.“ „Eine brillante Idee.“, kommentierte er mit einem Grinsen und erhobenen Zeigefinger eifrig, erhielt daraufhin auch nur einen Seitenblick. Sie sollte mittlerweile wissen, dass er sich nichts gefallen ließ. Mit einem kräftigen Schluck unter den prüfenden Blicken Rues, trank sie von dem Colaglas in ihrer Hand. Die Gedanken waren erfolgreich vertrieben gewesen, seit Rue jedoch wieder mit dem Handy ankommen musste, waren sie abermals da. Aber sagte er denn nicht, dass er das nicht kommentieren würde? Ja, was eigentlich? Auf was hatte er das bezogen? Geschlagen seufzte sie. Er sagte, zu dem was sich abgespielt hatte. Zählte die Busenattacke dazu? Shaelyn wusste es nicht. Hätte sie denn nicht längst lernen müssen genauer nachzufragen? Viel zu voreilig stimmte sie dem allen zu. „Was beschäftigt dich?“, holte sie die neutrale Frage von Rue aus den Gedanken. Gleich blickte sie zu ihm. „Nichts.... Es ist nur, dass du eigentlich alles bekommst, was du willst. Und ich nur zu blöd bin. Immer manipulierst du mich und ich merke das, wenn überhaupt, erst viel später.“ „Und wie kommst du zu diesem Schluss?“, hakte er interessiert, mit dem Zeigefinger am Mund, nach. „Na, das mit dem Handy gerade in der Garage. Du sagtest in Emmas Zimmer zu mir, dass du nichts davon kommentierst. Dabei … hast du es getan. Nur hast du gar nicht genau gesagt, was du kommentierst und was nicht. Ich bin einfach nur darauf eingestiegen ohne Nachzufragen, weil von meiner Sicht aus alles klar war.“, berichtete sie ihm ihr Leid, ganz ignorierend, dass noch weitere in der Küche standen. Obwohl es auch ganz egal war. Die ganzen Leute waren mit sich selbst oder anderen beschäftigt – und die Musik noch immer laut war. Rue nahm seinen Finger von seinem Mund und tippte nur kurz darauf auf ihre Stirn. Irritiert versuchte sie auf die Hand über ihr zu starren. „Du hast dazu gelernt.“, war sein erster Satz, den sie unter Umständen auch negativ auslegen könnte... „Du beginnst damit die Dinge zu hinterfragen und dein Handeln in Zukunft zu verändern.“ Rue senkte seinen Zeigefinger, sodass sie erneut in seine emotionslose Miene blicken konnte. „...Wieso meinst du, dass das besser ist?“ „Es ist nie verkehrt zunächst an etwas zu Zweifeln, Shaelyn. Das hindert dich daran etwas Dummes anzustellen.“ Nachdenklich blinzelte sie einige Male, blickte dabei zur Seite. Das alles hieß einfach nur, dass sie mehr Fragen stellen sollte um sich zu vergewissern. Um wirklich sicher zu gehen, damit sie wirklich nichts Dummer mehr anstellte. Ja, wenn sie zurück dachte, dann hatte sie mit der Zeit schon was dazu gelernt. Und das auch nur, weil Rue bei ihr war. Mit einem breiten Lächeln wandte sie sich ihm wieder zu. „Ja, du hast Recht, Rue! Danke, dass du mir das so... klar sagst. Das hilft mir wirklich sehr.“ Und wenn Shaelyn sich nicht irrte, dann schienen seine Mundwinkel zumindest ein klein wenig nach oben zu wandern. „Play time!“, rief auf einmal jemand durch die Küche. Verdutzt drehte Shaelyn sich um und sah wie die Anderen begeistert die Küche Richtung Wohnzimmer verließen. War nun los? Unsicher blickte sie Rue an, der nur fragend zurück stierte. Die Musik vereppte. Ein kleines Piepsen war zu hören und kurz darauf, wie jemand ein Mikrofon in die Hand nahm. „Ist das Ding jetzt an?“, fragte Emma wohl jemanden zu ihrer Seite, ehe sie kicherte. „Also Leute! Kommt mal alle ins Wohnzimmer!“ Neugierig geworden folgte Shaelyn dem Ruf – und Rue natürlich daraufhin auch. „Es ist jetzt Play Time! Und auch wie dieses Jahr, gibt es was zu gewinnen!“ Emma stand auf dem Couchtisch, der zur Seite geschoben war, sodass die Mitte des Wohnzimmers mehr Platz bot – wenn nicht schon viele Partygäste dort stehen würden. Ein paar der Jungs grölten auch gleich los. Shaelyn versuchte durch die Menge hindurchzusehen, sah allerdings nur den Kopf von Emma. „Heute gibt es einen Gutschein von 30$ zu gewinnen! Im Kaufhaus in der Innenstadt. Also ist für jeden was dabei!“ „Und was müssen wir machen?!“, schrie einer der Jugendlichen durch die Menge, der gleich einen Klaps auf den Hinterkopf bekam. „Idiot. Das sagt sie schon noch.“, mischte sich ein anderer Kerl daneben ein. Emma lachte. „Das Spiel für dieses Jahr heißt: Mumien wickeln! Bildet Zweiergruppen und jede Gruppe bekommt eine Klopapierrolle! Einer von der Gruppe wird so schnell es geht von dem anderen eingewickelt! Wer am Schnellsten fertig ist, bekommt den Gutschein. Alles klar? Die Leute, die keinen Bock haben, solange bitte in den Garten.“ Eine Ansage, der gleich ein paar Jugendlichen folgten. Etwas übersichtlicher, konnte nun Shaelyn auch ganz ins Wohnzimmer treten. Emma sprang vom Tisch herunter und überreichte dem jungen Mann an der Anlage das Mikrofon. Schließlich drehte sie sich um und besah sich die Leute, die übrig waren. „Also, alle die Mitmachen, zu mir.“, trommelte sie die restlichen Partygäste ein. Unschlüssig, ob Shaelyn da überhaupt mitmachen sollte, blieb sie zunächst stehen. Eigentlich hätte sie schon Lust daran teilzunehmen. Ob sie Rue fragen sollte? Ein scheuer Blick nach Links und prompt öffnete Rue seinen Mund: „Nein.“ Völlig überrascht und von seinem deutlichen Nein angestachelt, wandte sie sich mit den Armen vor der Brust um. Und sowieso?! Wie konnte er das mitbekommen haben?! „Ich habe nicht einmal gefragt.“ „Es bleibt bei einem Nein.“ „Ich hab nur geguckt.“ „Ausreichend genug.“, folgte es umgehend. Dann endlich drehte er auch seinen Kopf in ihre Richtung. „Außerdem frage ich mich, was du mit 30$ willst. Ich denke, dein Taschengeld ist zureichend genug.“ Skeptisch legte sie den Kopf schief. „Als ob es mir um die 30$ ginge. Alleine der Spielspaß zählt doch. Könnte also genauso gut ein Gutschein mit 1$ sein....“ Sie versuchte es wenigstens ihn zu überzeugen. Auch wenn das eigentlich sinnlos war. Ihn nun deswegen die ganze Zeit über zu nerven, brachte nichts – immerhin begann das Spiel gleich. Rue sah unerwartet zur Seite, woraufhin Shaelyn seinem Blick folgte. „Na, ihr Zwei? Interesse an dem Spielchen?“ „Ja – Nein.“, kam es im Chor von Shaelyn und Rue. „Uneinig?“, lachte Emma und hielt eine Papierrolle hoch. „Macht doch einfach mit. Ist doch nur ein kleines Spiel, was die Stimmung weiter auflockert.“ Rue sah wenig angetan aus, was Shaelyn für einen Moment daran zweifeln ließ, ob sie es ihm wirklich zumuten sollte. Wollte sie deshalb gerade absagen, da kam Emma ihr zuvor. „Wenn ihr mitmacht, dann zeige ich euch einen Platz, wo ihr ganz ungestört seid und den besten Ausblick auf das Feuerwerk haben werdet. Weil wenn es bald losgeht, ist im Garten die Hölle los. Zumal schon ein paar betrunken sind. Ein Tipp, geht nicht auf die Toilette hier unten...“ Die Amerikanerin lächelte zuletzt zurückhaltend – was fast völlig in Vergessenheit geriet. Hörte Shaelyn das Wort Ungestört und den besten Ausblick. Blitzschnell wandte sie sich zu Rue um und fasste an seinem Arm. Erschrocken riss Rue seine schon großen Augen weiter auf. „Bitte!“, flehte sie. Entgegen jeder Hoffnung erhielt sie nur ein weiteres deutliches: „Nein.“ „Ach komm! Bitte! Ja? Bitte!“ Als darauf nicht einmal ein Nein folgte, machte sie eisern weiter. „Bitte! Bitte! Bitte! D-Du kannst auch das Bonbon kampflos haben, ja?!“ Verstört über die Aussage Shaelyns legte nun Emma den Kopf schief. „Wie ich bereits sagte. Nein.“, äußerte Rue einen Ton schärfer. „So kaltherzig zu seiner eigenen Freundin?“, mischte sich plötzlich eine ganz andere Person ein – die niemand geringeres als Dustin war. Alle Augenpaare auf ihn gerichtet, zog er eine Augenbraue an. Shaelyn grinste. Blieb Rue denn jetzt noch eine Wahl? Dustin war wie vom Himmel geschickt – jetzt zumindest! L konnte mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Abend zunehmend an seinen kostbaren Nerven zerrte. Gab es bisher wenig Situationen in denen er sich so geschlagen geben musste – und das schien nicht das Ende des Ganzen zu werden. Alleine der Gedanke, an einem ganz ungestörten Ort mit Shaelyn zu stehen, warf berechtigte Bedenken auf. Langsam keimte die Befürchtung auf, das Leben selbst war das, was ihm Probleme verursachte. Keineswegs seine Arbeit, der er gewissenhaft nachging und das bisher ohne einen einzigen Makel. Gab es auch keine Herausforderung in diesem Bereich. Seine Herausforderung lag offenkundig bei … einer Gefühlsregung. „Ich wickele dich also ein, Rue.“ Als einer seiner Namen fiel, klärte sich sein Blick auf. Shaelyn stand mit der Papierrolle in der Hand vor ihm und grinste. Bei diesem Anblick, besserte sich nicht im Geringsten seine Laune. „Oder willst du das lieber machen? Also mich einwickeln?“ „...“ L blieb still – gefiel ihm weder das eingewickelt werden, noch das Einwickeln selbst. „Was ist? Sag schon.“ „Es ist mir gleich.“, kam es frustriert vom Detektiven, der seine Gemütsregung damit offen zur Schau stellte. Shaelyn lächelte daraufhin vorsichtig. „So schlimm ist es schon nicht. Halte einfach den Anfang von der Papierrolle fest, dann geht es ganz schnell.“ Ohne einen weiteren Mucks, folgte L schließlich Shaelyn auf die Startposition neben den anderen Teilnehmern. „Und ähm... noch eine Bitte. Könntest du dich gerade hinstellen? So gebückt wie du bist, kann ich das schlecht...“ „Sonst noch eine Bitte?“, hakte er trocken nach, was sie eher als Anlass sah zu lachen. „Ein Kuss wäre nicht schlecht!“ L stellte sich daraufhin, ihren Satz ignorierend, aufrecht und bei der Gelegenheit knackte diesmal lautstark seine Wirbelsäule, was gleich ein paar verstörte Blicke anzog. „Ich glaube, du solltest dich mal öfter Strecken...“, meinte Shaelyn skeptisch, während sie ihm das erste Stück des Papiers hinhielt, welches er mit dem Zeigefinger und Daumen festhielt. „Und ich glaube, du wirst in Zukunft keine Party mehr besuchen.“ Verdutzt starrte sie in seine Augen. „Was? Wieso? Willst du... nicht mehr meinen Aufpasser spielen?“ „Das auch.“ Sie setzte zu einem Wort an, wurde jedoch von Emma unterbrochen: „Also, alle bereit? Die Regeln sind ja wohl klar! Die Mumie darf nur das Papier halten. Das gilt für alle! Sollte wer schummeln, wird derjenige sowieso disqualifiziert. Tja, ansonsten wer am Schnellsten die ganze Rolle verbraucht hat, der gewinnt. Dann.... Drei …. Zwei …. Eins. Los!“ Dem würde sie es zeigen! So ein fieser Kerl! Shaelyn rollte direkt das Papier um Rue, hocharbeitend zum Kopf. War auch gleich sein verärgerter Gesichtsausdruck unter dem weißen Toilettenpapier verschwunden, als sie es um seinen Kopf rollte. Ganz gleich, ob sie Zeit dadurch verlor und sich aufstellte! Einzig seine Nase schaute aus den Lagen heraus und sie musste doch für einen Moment kichern, bevor sie den Weg wieder nach unten einschlug. Neben sich hörte sie, wie einer seinen Partner anheizte, er sollte schneller machen, während ein anderer auf fluchte, weil er das Papier gerissen hatte. Auch Shaelyn hätte es beinahe geschafft es einreißen zu lassen als sie Rue doch ziemlich nahe kam. Fast drückte sie jedes Mal ihren Kopf an seine Brust, als sie um seinen Rücken wickelte, da er sich wieder ein Stück bückte. Nervös geworden, fiel ihr fast die Rolle aus der Hand als schon einer schrie, dass er erster wäre. „Ende! … Wir haben einen Gewinner!“, rief auch umgehend Emma durch den Raum. Etwas Grimmig, riss sie die Rolle ab. Es wäre nicht so, dass sie das Geld unbedingt wollte, sondern sie verloren hatte. Gleich befreiten sich die Mumien aus ihren Papiergefängnissen, doch Rue rührte sich kein Stück, was Shaelyn vorahnen ließ. Ob sie ihn jetzt befreien sollte? Wieso machte er das nicht selbst? … Ob er böse war? Zaghaft hob sie ihre Hand an und zog an einen der Lagen im Gesicht – hervor kam ein starres Augenpaar, dass das ihre fixierte. Nur selten löste noch sein Blick Unbehagen aus... jetzt war ihr sehr unwohl. Shaelyn wich einen Schritt zurück als Rue sich dazu entschloss das restliche Papier zu entfernen. Langsam nahm er ein längeres Stück nach dem nächsten in die Finger, ehe er alle Lagen zwischen seinen Fingern gesammelt hatte – ohne ein Wort, und noch immer mit solch intensiven Starren, ließ er das Papier über Shaelyn los. Verstört, und sehr verwirrt, starrte sie zu Rue. „W-Was...? Und vor allem wieso?“ „Spaß an der Freude.“, antwortete er unüberhörbar sarkastisch, mit demselben durchbohrenden Blick, dass ihr nur einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagen ließ. Die Grenze der Toleranz war offensichtlich bei ihm erreicht. Hätte sie ihn doch besser nicht dazu bringen sollen? Shaelyn wich seinem Blick aus und sah betreten zu Boden, während sie das Papier langsam vom Kopf strich. „Na?! Hat wohl nicht geklappt, was?“, kam Emma dazwischen – allerdings erstarb ihr Grinsen, als sie die Stimmung aufschnappte. „Alles klar bei euch?“ Die Engländerin schüttelte den Kopf und fasste sich an den Nacken. „Jaja, alles klar.“ Jeder Idiot hätte bemerkt, dass etwas nicht stimmte – dennoch hielt sich Emma diesmal daraus. Allgemein hatte sie den Eindruck, dass die beiden mehr miteinander sprechen sollten. Ideal dafür war jetzt der Ort, an den sie die beiden genau jetzt schicken würde. „Ich seh schon, da hängt eine gewaltige Gewitterwolke über euch. Wir wärs, wenn ihr Zwei dann mal hinauf auf den Dachboden geht? Ein klasse Ort um mal über alles zu sprechen und das Feuerwerk zu genießen. Und keine Angst, dahin verirrt sich für gewöhnlich wirklich niemand.“, versuchte es Emma versöhnlich, was allerdings nicht den gewünschten Effekt erzielte, oder sie das Gefühl hatte, dass Rue ihr überhaupt zugehört hatte – Er starrte nach wie vor die Engländerin an. Shaelyn zumindest lächelte vorsichtig in ihre Richtung. „Danke, Emma.“ Es war die bedrückte Tonlage, der der Amerikanerin mehr Sorge bereitete. Ob die beiden tatsächlich zueinander passten? Ständig hatten sie sich in den Haaren. Und dann plötzlich gab es den Anschein, sie wären das ideale Paar. Emma wusste bei dieser komplizierten Beziehung nicht weiter. Und bei Rue wusste sie ohnehin nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Sie musste seufzen. „Hört mal. Auch du, Rue.“, sprach sie ihn nun direkt und deutlich genug an – was ihr allerdings nur einen kleinen Seitenblick von ihm einbrachte. Zumindest hatte sie nun das Gefühl, er hörte zu. Auch wenn ihre Anwesenheit ihn wohl offensichtlich störte. „Ihr Zwei solltest mal offen miteinander reden. Das sollte ein wenig eure Probleme bessern.“ „Die Wahrscheinlichkeit, es brächte etwas, ist … unbedeutend gering.“, meldete sich unerwartet Rue mit einem skeptischen Tonfall zu Wort und hob seine Hand an. Er deutete mit dem Zeigefinger nebensächlich auf Shaelyn. „Sie ist die Wurzel allem Bösen.“ Umgehend war Shaelyn verdutzt, ehe sie sich wütend zu ihm drehte und seine Hand zur Seite schubste. Rue blickte sie erneut an. „Das ist doch Schwachsinn! Du bist doch der, der total daneben ist! Ständig verwirrst du mich, weil du nicht klar sagst, was Sache ist! Du stichelst mich doch erst an! Und von deinen bekloppten Ideen mal abgesehen, hm?! Oder deine seltsamen -“ „Ich denke, das ist tatsächlich nicht der richtige Ort, um derartiges zu besprechen.“, unterbrach Rue sie ruhig, dennoch bestimmt. Zuhörer waren das, was L mit gewisser Sicherheit nicht wollte. Weder ihre amerikanische Freundin, noch der Rest des Pöbels sollten ein Wort davon mitbekommen. Jedoch interessierte es Shaelyn weniger – zu seinem großen Missfallen. „Nicht? Du fängst doch schon wieder an! Obwohl ich schon ein schlechtes Gewissen dir gegenüber hatte! Und dann muss ich meinen Mund halten, wenn du mich als Wurzel allem Bösen bezeichnest?! Sehe ich nicht ein!“, meckerte sie starrköpfig, während sich seine Augenbrauen immer weiter zusammenzogen. Allerdings war ihm ihr schlechtes Gewissen neu. Bisher war er der festen Ansicht gewesen, es bereitete ihr schon den gesamten Abend Spaß. „Dann guck' dir doch eine neue Blöde aus!“, provozierte sie ihn weiter und dies laut genug, sodass ohnehin schon mehr neugierige Idioten ihre Nasen in seinen privaten Angelegenheiten steckten. „Was willst du schon machen, um mich am Ausplaudern zu hindern, hm?!“ Es reichte ihm endgültig. Sie wollte es offensichtlich nicht anders. Gleich und völlig ohne Vorwarnung packte er die aufschreiende Shaelyn an den Seiten und hievte sie gnadenlos über seine linke Schulter. „Bist du bescheuert?! Runter! Lass mich sofort runter!“ Unerbittlich trommelte sie auf seinen Rücken, hielt er sie allerdings konsequent fest. Mit einem kurzen Blick auf Emma gerichtet, die völlig überrumpelt dort stand, öffnete er seinen Mund: „Entschuldige uns. Es müssen Probleme unter vier Augen besprochen werden.“ Irritiert und unter den Rufen von Shaelyn, nickte Emma. „Ähh... zum Dachboden geht es durch die Tür oben am Ende des Ganges. Eine kleine Wendeltreppe...“ Es wäre nicht Shaelyn gewesen, wenn sie nicht weiterhin versuchte sich zu befreien – und das über den ganzen Weg hinauf. Er zwang sie dazu mit ihm zu kommen! Ganz egal ob sie das wollte oder nicht! Was bildete er sich ein?! Rue sollte sie loslassen! „Rücksichtsloser Kerl! Lass mich runter! Das wirst du noch bereuen! Das schwöre ich dir!“ Von ihm kam natürlich, wie die unzähligen Rufe und Drohungen zuvor, keine Antwort zurück. Er schleppte sie einfach hoch! Sie kam sich wie ein großer Sack Kartoffeln vor! „Unglaublich, dass ich mich in so einen Mistkerl wie dich verliebt habe! Skrupellos, egoistisch und total dreist: Das bist genau du!“ Shaelyn konnte hören, wie er die Türe öffnete. Sicherlich würde er die Türe auch noch abschließen! Nur damit sie nicht entkommen oder jemand anderes herein kommen konnte! Sie hatte schließlich auch recht damit, als er sich halb umdrehte und sie zur Seite blickte, war der Schlüssel auch schon im Schloss gedreht. Den Schlüssel steckte er sich natürlich ein! Noch wütender als zuvor, verengte sie ihre Augen zu Schlitzen. Direkt zog sie sein schwarzes Shirt am Rücken hoch und kniff ihn dort – allerdings staunte sie nicht schlecht, als nicht einmal ein Mucks von ihm kam. Also wiederholte sie es noch einmal. „Das wird dir nicht helfen, Shaelyn.“, war seine dunkle und gefühllose Stimme zu hören, was ihr durch Mark und Bein ging. Sie musste schlucken. Angst mischte sich nun unter die Wut. Verzweifelt probierte sie abermals sich zu befreien, scheiterte sie ein weiteres Mal schmählich. Als Rue dann die Wendeltreppe in Angriff nahm, schwärmte ihr immer schlimmeres. Selbst wenn ihr jetzt danach war, ihn zu erwürgen, wollte sie gleichzeitig davon rennen. Doch wie sollte sie flüchten, wenn er schon den Fluchtweg vorsorglich verriegelt hatte?! Oben angekommen knarrte gleich eine alte Holzdiele, die ihre Panik und auch Wut weiter schürte. Die Türangel quietschte als Rue die Türe zum Dachboden öffnete, und flog ihr gleich der Staub in die Nase. Urplötzlich stoppte er – und sie fand sich mit einem kleinen Aufschrei mit ihrem Gesäß auf etwas Weichem wider. Zunächst irritiert, befühlte sie den Untergrund, der sich als ein altes Sofa mit einer Stoffplane herausstellte. Und das viel wichtigere war, dass er sie quasi von seiner Schulter gepackt nach unten geworfen hatte! Weicher Untergrund hin oder her! Er hat sie geworfen! Der Zorn überwog. „Spinnst du eigentlich?! Ging es nicht etwas sanfter?!“ Sein intensives Starren schüchterte sie demnach nicht im Geringsten ein. Rue begann an seinem Daumennagel zu kauen. „Du bist bequem gelandet. Wo ist das Problem?“ „Mein Problem bist du! Was soll das?!“ „Mir gefällt nicht, wie du dich benimmst. Insbesondere mir gegenüber. Ich erwarte mehr Respekt von dir.“ „Sagt der Richtige! Ich behandele dich mit so viel Respekt, wie es mir passt! Du hast nämlich auch keinen vor mir! Wieso sollte ich dir da welchen huldigen?! Ich, und ich meine ich, habe ja schon Bedenken gehabt und wollte mich entschuldigen, dich zum Spiel quasi gezwungen zu haben! Aber du …. du versaust es nur!“ Shaelyn stand vom staubigen Untergrund auf und wollte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust drücken, schnappte nicht Rue blitzschnell ihre Hand. „Ich kann es nicht leiden, wenn man mich abschätzig behandelt – und das schon zum wiederholten Male an diesem Tag.“, verließ es scharf seine Kehle, was Shaelyn zurück zucken ließ. Er war L. Nicht irgendjemand gewöhnliches. Ihm zollte man Achtung und jene war es, die er nun wenigstens etwas von Shaelyn einforderte. Ihre Spielchen vom gesamten Tag reichten ihm. Zu oft hatte er es bei ihr durchgehen lassen. Sie musste einige Dinge an ihm respektieren. Darunter zählte stark seine Privatsphäre, die er sonst mit keinem außer seinem Vertrauten und mittlerweile etwas mit Shaelyn teilte. „Es geht absolut niemanden etwas an, was wir untereinander vereinbart noch ausdiskutiert haben. Folglich behalte alles für dich was mich betrifft.“ Sie war verstummt, erwiderte stumpf sein Stieren. Man konnte ihr ansehen, dass sie begann nachzudenken und ihre Wut immer mehr schwand. „War das verständlich genug?“, fragte er nachdrücklich nach, das sie nicht recht mitzubekommen schien. „... Warum?“, kam es dann leise von ihr, was ihn skeptisch stimmte. „Was?“ „Warum ist dir das so wichtig? Wieso ist es so ein riesiges Geheimnis was wir miteinander beredet haben?“ „Ich habe meine Gründe.“ „Ist das alles, was du dazu sagen kannst? … Ich könnte dich viel besser verstehen, wenn ich wüsste, wer du wirklich bist. Dann verärgere ich dich bestimmt nicht mehr so sehr und weiß wie ich mich zu verhalten habe. Aber wenn du alles im Dunkeln lässt, kann ich nie wissen was ich machen soll. Du hast mir zum Beispiel nie gesagt, dass es dir so unglaublich wichtig ist, dass ich meinen Mund über alles was dich betrifft halten soll. Sonst war es dir auch immer egal, hast ja wirklich ungerührt gewirkt. Wie soll ich das alles wissen?“ „Bisher waren unsere Gespräche privat. Und für gewöhnlich hält man derartiges auch privat.“ L überging wie sonst auch ihren Versuch mehr über ihn herauszufinden. Er würde ihr unter keinen Umständen von seiner Verpflichtung berichten. Weder zu diesem Zeitpunkt, noch jemals in der Zukunft. Aber sie besaß Recht damit. Es wäre eine völlig andere Perspektive, wenn sie von seiner Berufung wüsste … und auch von seinem Namen. Rue war nur ein weiteres Pseudonym. „Beantworte mir meine Frage jetzt ehrlich.“, begann sie ruhig und zog ihre Hand zurück. Rue blickte sie aufmerksam an. „Wenn ich von deinem großen Geheimnis wüsste. Egal wie auch immer. Denkst du, ich würde immer noch an deiner Seite sein wollen?“ Ja, das wollte sie wissen. Wäre es ein so schlimmes Geheimnis, sodass sie ihn nicht mehr haben wollte? Auch wenn es für sie unmöglich schien – vielleicht war es ja doch so fatal. Würde es so extrem ihr Leben ändern? Was sollte das sein? So oft dachte sie darüber nach. Und das tat auch Rue, jener anscheinend nachdenklich ins Leere starrte. Wenn er so darüber nachdenken musste, musste es doch was fatales sein, oder? „Diese Frage kann ich dir nicht beantworten.“ „Weil du nicht kannst, oder nicht willst?“ „Weil ich es nicht kann.“ Verwirrt darüber schüttelte sie unmerklich ihren Kopf. Ganz so, als wolle sie die Gedanken abschütteln. Gelang es ihr nur kaum. Es war enttäuschend, tief verletzend. Hatte sie mit einem Ja, oder zumindest Nein gerechnet. Aber nicht wieder mit einer Antwort, die absolut nichts aussagte. Selbst wenn sie ihn noch immer so stark liebte, waren Zweifel in ihrem Kopf. Was konnte so gravierend sein, dass es einfach alles änderte? Ihr und auch sein Leben? Wieso konnte er es nicht einfach sagen? Das war das, was sie nicht verstand, was sie immer aufs Neue so verletze. Hatte sie das Gefühl umherzuirren. Nicht wissend, wo das Ziel lag, welches im tiefen Nebel verborgen war. Bedrückt wandte sich Shaelyn von Rue ab, ging durch den schmalen Gang, an all den zugedeckten Dingen vorbei, zum großen Fenster, welches teilweise von Spinnweben verdeckt war. Dennoch ließ es genug Licht hinein – und Emma hatte nicht gelogen. Die Aussicht war sehr schön, wenn sie das Grau zumindest von der Scheibe ignorierte. Waren schon ein paar bunte Lichter in der Ferne zu sehen. Es gab eben überall auf der Welt Menschen, die gerne schon vorher ins Jahr starteten. Und wie auch im Jahr zuvor kam sie sich allein vor. Vielleicht sogar ein Stück mehr. Nachdenklich starrte L auf die staubigen Holzdielen zu seinen Füßen, knabberte währenddessen angestrengt auf seinen Daumennagel. Shaelyn hatte ihm eine Frage gestellt, die er sich noch immer versuchte selbst zu beantworten. Doch ganz gleich wie die Antwort lautete, es war eine überflüssige Frage. Trotz dieser Erkenntnis konnte L diese eine Frage nicht unbeachtet zur Seite schieben. Es war wie sonst auch seine Selbstanalyse die ihm aufzeigte, dass derartige Themen einen gewissen Raum in seiner Welt einnahmen. Ganz gleich ob es ein sinnloser Gedankengang war. L verschwendete schon seit längerem Gedanken an derartiges. Sein Blick glitt langsam zu Shaelyn hinüber. Dort, im Mondschein stehend, blickte sie bedrückt aus dem Fenster. Es war ein unangenehmes Ziehen in der Brust zu spüren – änderte es jedoch nichts an seinem Wille. Ein Kompromiss war unmöglich einzugehen. Galt es auszuharren – zu warten, bis seine starke Neigung zu ihr schwand. Und das würde sie. Irgendwann einmal. Darauf spekulierte der Detektiv zumindest. Anderes wäre unzulässig. So wenige Augenblicke vor dem neuen Jahr und Shaelyn kämpfte mit sich. Wieder einmal, diesmal jedoch aus einem anderen Grund. Auch wenn er nichts genaues sagen konnte, so wusste sie genug, dass es die Art von Beziehung, die sich wünschte, wohl nie existieren wird. Ihr Traum wie eine Seifenblase platzte. Obwohl er ihr selbst erst an diesem Abend so viel Hoffnung machte... Warum tat er das, wenn er selbst wusste, dass es niemals passieren würde? Wieso nur küsste er sie, immer wieder. Und das so bestimmend, als wüsste er genau was er tat? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es nur gespielt war. Dass er nur mit ihr spielte. Wieso sollte er das tun? Er war jemand, der gern seine Spiel trieb. Doch … nicht so? Was wusste sie schon genau von ihm? Es war genau der Punkt. Vielleicht fiel sie wirklich nur auf ihn hinein – aber wieso wollte sie immer noch in seinen Armen liegen? Trotz seiner Antwort gerade und der Einsicht, dass er ihr fälschliche Hoffnungen gemacht hatte, wollte sie ihn nach wie vor. Kein Stück weniger. Shaelyn hielt sich kurz die Hand vor dem Mund und gluckste auf. Liebe machte auf alle Fälle blind und dumm. Alleine diese Erleuchtung besserte ihre Laune. Aber was sollte sie schon gegen ihre Gefühle tun? Es war, wie es war... Das Knarzen hinter ihr ließ sie über die Schulter blicken. Rue kam, wie immer gebückt und Händen in den Hosentaschen, näher, bedachte sie gleich mit seinem unverkennbaren starren Blick. Hätte er sein weißes Shirt angehabt, wäre ihr der nächste Gedanke sicher nicht eingefallen. So schien ihm die Schwärze fast zu folgen. „Weißt du, wenn du so auf mich zukommen würdest und ich dich nicht kennen würde, dann würde ich voller Panik aufschreien. Man könnte dich mit einem wahnsinnigen Killer verwechseln.“ Sein Ausdruck änderte sich, während er neben ihr zum Halt kam. Er sah etwas verstört aus. „Wie kommst du zu diesem Schluss?“ Sie lachte für einen Moment auf. „Rue... du weißt ganz genau, wieso ich das gesagt habe.“ „Ja, … ich schätze schon.“, gab er, offensichtlich, gespielt nachdenklich von sich. „Und wäre ich tatsächlich dieser Jemand, so säßest du wie ein Vogel im Käfig.“ „Oder wie ein Insekt in deinem Spinnennetz. Oder einfach nur in deiner Falle.“, ergänzte Shaelyn leicht amüsiert. Sie müsste nur ein wenig albern und es war fast als gäbe es all die Probleme nicht. „Bin ich das nicht sowieso?“ Sein Mundwinkel zuckte für einen winzigen Augenblick. „Ich bin dir ganz hilflos ausgeliefert. So oder so.“ Rue antwortete nicht, reichte schon der Ausdruck in seinem Gesicht. Ein kleines aber aussagekräftiges Grinsen. Zumindest war er jetzt amüsiert. Eigentlich, wenn sie jetzt daran dachte, dann zeigte er ihr häufiger wenn in ihm überhaupt was vorging. Das sollte sie doch positiv auffassen, oder nicht? Es hieße doch, dass er ihr gegenüber offener war. Es fühlte sich gut an. Shaelyn lächelte ihn unbefangen an, was er unerwartet entspannend fand. Sagte es ihm, dass sie bei besserer Laune war. Was natürlich auch ihre Aussagen ausgedrückt hatten. Dennoch war dieser Druck leichter, der auf seinen Brustkorb gedrückt hatte. War die Tatsache, dass es rein durch ein Lächeln gemindert wurde, seltsam. L versuchte schon nicht mehr, diese Art von Empfindung zu hinterfragen. Es lief immer wieder auf ein und dieselbe Frage hinaus, deren Lösung nicht zu finden war. Beschäftigte jedoch den Meisterdetektiv weiterhin exzessiv die Frage, weshalb er wankelmütig wurde. Seine Beschlüsse nichts bedeuteten, wenn es zu bestimmten Situationen kam. Es war keine Charaktereigenschaft die er besaß. Sein Wille war fest – bei ihr allerdings in manchen Momenten zu schwach. Das war das, was L unter keinen Umständen verstand und immerzu missbilligte. „Sag, wie viel Uhr haben wir jetzt? Da werden immer mehr Raketen in den Himmel geschossen.“, drang es an seine Ohren, was ihn aus den Gedanken holte. Sie sah aus dem Fenster, schien nur wenig erkennen zu können, da sie nahe an die Scheibe ging. L holte geistesgegenwärtig ein Tuch aus seiner Tasche, mit dem er einmal über die verstaubte Glasscheibe wischte. Ein Kichern war zu hören. Umgehend drehte er seinen Kopf in Shaelyns Richtung. Waldgrüne Augen blickten ihn neugierig und vergnügt an. „Was hast du denn noch alles in der Tasche? Und seit wann überhaupt ein Taschentuch... das so aussieht, als ob es meinem Opa gehören würde?“ „Gut erkannt.“, kam es nüchtern vom Detektiven, der nun das von Staub überladenen Taschentuch an seinen Fingerspitzen festhielt und kritisch begutachtete. Das könnte er sicher nicht mehr in seine Tasche stecken. „Und wieso hast du es jetzt in der Tasche?“ „Reine Sorgfalt deines Großvaters. Und es war tatsächlich einmal nützlich.“, meinte er anschließend überrascht. Ihr helles Lachen veranlasste ihn dazu sie abermals anzusehen. „Passt zu ihm. Und was hast du jetzt mit dem schmutzigen Tuch vor? Verbrennen vielleicht?“ „Das ist eine Überlegung wert.“, verließ sarkastisch seinen Mund, woraufhin Shaelyn erneut lächelte. „Gib halt her das Teil. Ich staub' es was ab und dann ist es wie neu.“ L hatte da seine Zweifel, überreichte aber gern das schmutzige Tuch. „Und in der Zwischenzeit guckst du mal auf die Zeit.“, meinte sie ernster und nahm sich den Stoff vor. Ein paar mal klopfte sie mit ihrer Hand darauf, was den grauen Dunst wieder im Raum verteilte. Stellvertretend dazu tat L ihr den Gefallen und holte sein Handy hervor. „Noch fünf Minuten bis Mitternacht.“ „Gu-“ Ein kräftiges Niesen ließ L zusammenzucken. Gleich besah er Shaelyn, jene sich mit dem Handrücken die Nase rieb. „Man... die Scheibe ist bestimmt schon seit Jahren nicht mehr saubergemacht worden. Unglaublich, das Tuch ist immer noch voll schw-“ „Gesundheit.“ Shaelyn blickte ihn erstaunt an. „D-Danke.“ Sie hatte nicht damit gerechnet – und er auch nicht. Misstrauisch über seine selbsttätige Reaktion, hob er eine Augenbraue an. Untypisch. Rue nahm ihr plötzlich das Stofftuch ab, berührte dabei flüchtig ihre Hand. Ein flüchtiger Kontakt, der ihr Herz stolpern ließ. In Unverständnis biss sie sich auf ihre Unterlippe und nahm den Blick von Rue, jener sich das Tuch nun doch in die Tasche steckte. Es war gerade gar nichts aufregendes passiert und ohnehin war es ein beiläufiges Berühren. Wieso war sie plötzlich so nervös? Weil er ihr Gesundheit gewünscht hatte? Es klang zwar vollkommen emotionslos, dennoch war es ihm über die Lippen gekommen, auf welche sie einen kleinen Blick warf. „Ähm... wie viele Minuten waren das noch gleich?“, versuchte sie ihre Gedanken beiseite zu drängen, hatte dabei wirklich schon vergessen, welche Zahl er ihr genannt hatte. „Fünf.“ „Fünf...“, kam es nachklingend von ihr, sodass sein Ausdruck zur Verwirrung wechselte. Und wenn sie sich nicht irrte, dann fühlte sie plötzlich irgendwas an ihrem Bein?! Aufgeschreckt, sprang sie Rue gewissermaßen auf die Arme, der sie aus Reflex gerade noch halten konnte. „DA!“, kreischte sie außer sich fast in sein Ohr. „Was?!“ L wäre beinahe an einem Herzanfall gestorben, noch dazu schmerzte sein Ohr. „DA WAR WAS AN MEINEM BEIN!? BESTIMMT EINE FETTE SPINNE!“ L hielt seinen Kopf etwas von dem ihren fern, da sie das Schreien nicht unterlassen konnte, suchte allerdings umgehend den Boden nach einer besagten Spinne ab – denn unrecht hatte Shaelyn nicht. Es waren vereinzelte Vogelspinnenarten in Kalifornien angesiedelt. Nur gab es ein Problem. Es war nicht hell genug um ein so dunkles Tier zu sehen. Außerdem waren diese Tiere sehr flink. „Ich will sofort vom Dachboden runter!“, rief sie weiter, ehe auch L die Augen weitete. Da war auch was an seinem Bein. Deutlich genug an seiner Wade. Direkt drehte er sich um und entdeckte das Tier. „Was ist?! Was ist?!“, fragte Shaelyn panisch, während sie sich noch fester an ihn krallte. „... Das vermeintliche Spinnentier ist eine Katze.“ Ihr Klammern um seinen Hals ließ schlagartig nach. Shaelyn entspannte sich deutlich. „...Was?“ „Es ist diese rote Katze.“ „...Blümchen? Was macht sie hier oben?“ Sie lehnte sich zur Seite, sodass sie hinunter sehen konnte. „Ja... das ist sie.“ „Da das geklärt ist, besteht auch kein Grund mehr dich zu tragen.“, kam es neutral vom Detektiven und stellte Shaelyn auf ihre eigenen Füße. Gleich strich sie sich verlegen den Oberarm und wich seinem Blick aus. Sofort begann L wieder an seinem Daumennagel zu knabbern. „Tut mir leid. Nur so dicke Spinnen machen mir angst. Und bei den ganzen Spinnweben hier oben... Du bist halt mein Retter...“ Ihre grünen Iriden suchten vorsichtig nach Blickkontakt – jenen sie mit einem hinreißenden Lächeln fand. Und es traf genau in sein Herz. Wehrlos, fasste er sich an die linke Brustseite, die so stark pochte, dass er nur noch das wahrnahm. Diese Empfindung raubte ihm mit Leichtigkeit seinen hoch geschätzten Verstand. Es kribbelte überall auf ihrer Haut. Irgendetwas passierte gerade. Eine Spannung, die sie kaum Luft schnappen ließ. Rue starrte sie wie sonst auch an. Es war verrückt, wenn sie sich jetzt dabei dachte, etwas in seinen großen schwarzen Augen erkennen zu können. Drückte doch der Rest seines Gesichts Teilnahmslosigkeit aus. Und trotz dessen war sie so versucht ihn nochmals mit einem Kuss zu überfallen. Jetzt, kurz vor dem Ende dieses Jahres. So viel hatte sie an diesem Tag falsch gemacht – und warnte sie inständig ihre innere Stimme – doch konnte sie nichts für das so heftige Gefühl, dass sie hilflos machte. Wie konnte sie ihre Liebe ihm gegenüber verleugnen? Sie konnte den Drang nicht aushalten – ihre Willensstärke reichte dafür niemals aus. Shaelyn wollte seine Nähe und Wärme spüren. Und wie konnte es auch jemals falsch sein, wenn man sich so unsäglich zu jemanden hingezogen fühlte? Ohne auch nur einen Augenblick länger zu versuchen standzuhalten, beanspruchte Shaelyn voller Leidenschaft den schwarzhaarigen jungen Mann vor sich. Jener die Augen sofort vollkommen aufriss und wie gelähmt dort stand. L fühlte ihre warmen vollen Lippen auf die seinen, ihren heißen Atem auf seinem Gesicht. Zog sie ihn mit ihren Armen um den Hals nur mehr zu sich – presste ihm stärker ihre Lippen auf. Wie könnte L je widerstehen, wenn ihm die süßeste Sünde alles offen darbot. Sich dazu aufdrängte, das Verbrechen zu begehen. Und schließlich war es ebenso sein verborgener Wunsch, ihr jetzt ein wenig näher zu kommen – wenigstens für diesen kurzen Moment. Entgegen aller seiner am Tag, oder vor wenigen Minuten, beschlossenen Vorhaben. So erlitt er wieder einmal eine herbe Niederlage – gegen sich selbst. War er nicht fähig der Verlockung zu entkommen. Demnach war ihr glücklicher Seufzer nur zu erwarten, als er ihre temperamentvolle Geste im selben Maß erwiderte. Regelrecht dazu zwang, den von ihr begonnenen Kuss zu vertiefen und das noch während er sie in seine Arme zog. Und war es nicht nur ihr hilfloses und sehnsüchtiges Keuchen, das sich in sein Gedächtnis brannte, sondern auch ihr gleichzeitiges Fordern nach mehr. L konnte seine Finger nicht von dieser Frau lassen. Sie musste fantasieren – und doch stieg sie vollkommen darauf ein. Egal was das alles zu bedeuten hatte: Sie wollte niemals aufhören und es am Liebsten noch weiter steigern. Dachte sie längst nicht mehr nach, sondern ließ sich von Rue führen. Gab er die Richtung vor, bestimmte das Tempo. Welches sich plötzlich abschwächte. Unsicherheit ergriff sie sofort, öffnete sie daraufhin etwas ihre Augenlider. Begegnete sie unmittelbar seinem Blick. Einem Blick, der sie von der ersten Sekunde an fesselte und nicht daran zweifeln ließ, dass er es doch so schnell beenden wollte. Nein, es war nun ein sanftes, warmes Gefühl. Genau das, was diese Berührung in diesem Augenblick war. Ein zärtlicher Hauch, jener sie nochmals davon treiben ließ und ihr aufs Neue bewies, wie sanft Rue sein konnte. Saßen all ihre Hoffnungen darin, dass er auch fortan diese Seite mit ihr teilen würde. Was würde sie alles dafür geben, wenn er ihr nur einmal flüsterte, dass er sie liebte. Das genauso sehr wie sie ihn... L ließ von ihren verbotenen süßen Lippen ab, besah ihr Gesicht, welchem ihm so nahe war. Shaelyn war leicht benommen, blickte sie ihn verträumt und sehnlich an. Erwartungsvoll, so als erhoffe sie sich mehr. L hatte eine weitere Dummheit begangen. Sein größter Feind war er selbst. Lernte er aus allem – nur beging er immer wieder erneut diesen einen verhängnisvollen Fehler. Als Shaelyn ihren Mund öffnete, lauschte er aufmerksam in die ungewöhnlich laute Nacht. „M-Möchtest du nicht weitermachen?“, kam es ihr über die zitternden Lippen, die er daraufhin vorsichtig mit dem Daumen berührte. Shaelyn schloss daraufhin schwach ihre Augen, schien seine behutsame Annäherung sehr zu genießen, was er mit Vorliebe beobachtete. „Du kennst meine Antwort, Shaelyn.“ Der dunkle Ton seiner Stimme vibrierte in ihren Ohren wider und brachte eine Gänsehaut mit sich. Auch wenn sie langsam seine Worte begriff, so war sie noch völlig in ihrer Traumwelt. Natürlich kannte sie die Antwort. Doch war es nie verboten zu träumen. Ja, es mag für ihn kein bedeutungsvoller Kuss gewesen sein, doch war er es für sie. Ja, sie hatte Rue nur wieder zu etwas gedrängt, was er gar nicht so wollte. Was aber sollte sie tun? Und sogar jetzt war er noch so nah. Spürte sie seinen warmen Atem im Gesicht... als sie jäh verschreckt zusammenzuckte. Ein lauter Knall nahe dem Fenster war ohrenbetäubend und hatte selbst Rue aufschrecken lassen. Geschockt stierte sie direkt aus dem Fenster und musste feststellen, dass überall bunte Lichter zu sehen waren. Der ganze Himmel war erfüllt von glitzernden Formen und Farben. Es war Neujahr! Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Denn das neue Jahr konnte schließlich nicht besser anfangen … und sie hatte es gar nicht bemerkt. Als L die geistige Abwesenheit von Shaelyn wahrnahm, nutzte er die Gelegenheit und nahm Abstand. Zunächst hatte es den Anschein, sie beachtete es nicht und sah dem Spektakel draußen zu. „Weißt du, Rue. Wenn du in Zukunft nicht aufpasst, fresse ich dich noch auf.“, meinte sie schließlich vergnügt und schenkte ihm ein ebenso belustigtes Lächeln. Und wahrscheinlich behielt sie mit dieser Aussage recht – wenn er sie nicht vorher fraß. „Das werden wir sehen.“, kam es ihm somit geheimnisvoll über die Lippen. Shaelyn lachte kurz auf, ohne zu wissen, was wirklich in diesem Satz steckte. Denn anderenfalls wäre sie ihm abermals um den Hals gefallen. Allerdings war es bedenklich, was er für einen Gedanken hegte. L traute in diesem Falle sich selbst nicht mehr. Denn nach wie vor hatte er nicht vor eine Bindung mit ihr einzugehen. „Hol mal die Wunderkerzen raus! Ich will auch ein bisschen Krach machen!“, kam es dann hastig und mit einem Grinsen von ihr, woraufhin er die längliche Schachtel aus seiner hinteren Hosentasche zog und ihr kommentarlos reichte. Shaelyn öffnete direkt die Schachtel und holte zwei Kerzen und die Streichhölzer heraus. „Was ist dein Vorsatz fürs neue Jahr?“, fragte sie ihn noch beim Anzünden der Kerzen. L blickte kurz nachdenklich in die Luft, ehe er seinen Mund öffnete: „Was ist deiner?“, war die Gegenfrage, die sie aufblicken ließ. „Meiner? Hm... Dass alles so klappt, wie ich es mir vorstelle! Und dafür leg ich mich ins Zeug!“ Shaelyn übergab ihm mit einem kleinen Zwinkern eine Wunderkerze und lächelte offen. L zog nur eine Augenbraue an. Ihre Ehrlichkeit war ehrenwert, allerdings machte es das nicht besser. Das alles bedeutete eine menge Arbeit für ihn. „Eine Frage noch, Rue.“ Interessiert blickte L von der Wunderkerze auf, die er zwischen seinem Daumen und Zeigefinger hielt. „Warum hast du wieder zurück geküsst und das auch noch so … leidenschaftlich?“, stellte sie ihm neugierig die Frage, mit der er schon vorher gerechnet hatte. „War das nicht meine Pflicht als Alibifreund?“, stellte er schuldlos die Gegenfrage, woraufhin Shaelyn umgehend auflachte. „War ja klar... Komisch nur, dass hier gar kein Publikum ist.“ Und bei diesem Wort, mischte sich jemand vollkommen anderes ein: Blümchen, jene sich am Bein von L rieb und laut schnurrte. ____ Kapitel 26: Regen ----------------- Wie sollte Shaelyn jemals Rue verstehen können? Es war der dritte Tag des neuen Jahres und Shaelyn lag grübelnd in ihrem Bett. War das Licht durch die großen Vorhänge in ihrem Zimmer gedämmt. Normalerweise wäre sie längst aufgestanden. Zeigte der Wecker fast Mittagszeit, war ihr jedoch mehr nach einem Tag im Bett als nach einem schönen Tag in der warmen Sonne. Es war diese seltsame Stimmung, die sie seit Silvester befiel. All die Fragen, die ihr Kopfschmerzen bereiteten. Vor allem der Kuss zuletzt brachte ihre ohnehin schon wirre Gefühlswelt noch weiter durcheinander. Selbstverständlich wusste sie, dass Rue es getan hatte, weil sie ihn wieder dazu angestiftet hatte. Und sicherlich musste es ihm wieder gefallen haben... Aber sie konnte so schwer akzeptieren, dass sonst kein weiteres Gefühl dahinter steckte. Und küsste man jemanden, den man nur mochte, so oft? Die Engländerin seufzte schwer und zog die Decke enger an sich. Die Gedanken erdrückten sie fast und es war, als gäbe es auf der Welt kein anderes Thema als ihren Liebeskummer. Konnte man das so nennen? Zweifellos war sie unglücklich, vor allem da sie seit dem Ende der Party kaum mehr Kontakt zu Rue hatte. Das klang verrückt. Er wohnte mit ihr in einem Haus! … Aber in einem so großen und jedes Mal, wenn sie das Wohnzimmer betreten hatte, war keine Spur von ihm. Lediglich ein zwei Mal in der Küche war er zu sehen gewesen – dann, wenn er mal kühles Süßes aus dem Kühlschrank holte. Und seit gestern Abend fragte sie sich wirklich, ob Rue ihr aus dem Weg ging. Hatte sie ihn denn so dermaßen verschreckt? Sie war deprimiert. Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufschauen, sodass sie die Tür direkt gegenüber von ihrem Bett betrachtete. Es war bestimmt ihr Großvater, der schon am Morgen versuchte sie aus den Federn zu holen. Gespannt achtete sie darauf was sich tat. Die Türe schwang auf und es war tatsächlich das Gesicht ihres Großvaters zu sehen – Shaelyn hatte wirklich für einen Moment darauf gehofft, dass es Rue wäre. Ihr Großvater schenkte ihr ein mildes Lächeln während er eintrat. „Möchtest du noch immer nicht aufstehen?“, war es gleich zu hören, woraufhin Shaelyn sachte mit dem Kopf schüttelte. Watari kam näher und setzte sich auf den gepolsterten Stuhl neben dem Bett. Er nutzte die Gelegenheit und zog zu seiner Seite den Vorhang beiseite. Nun sah es so aus, als erstrahlte ihr Großvater im Licht. „Lastet etwas auf deinem Herzen?“, fragte er nun vorsichtig und sie wich seinem sanften Blick aus. Selbstverständlich wusste er, dass sie etwas belastete. Er hatte sofort verstanden, dass sie etwas bedrückte. Dennoch fragte er sie zunächst. „Ich verstehe Rue nicht.“, nuschelte sie zurück. „Er macht Dinge, die ich so verwirrend finde. Mal ist er so, dann ist er so.“ „Niemand ist in der Lage Ryuzaki zu verstehen. Selbst dein Großvater nicht.“ Sofort blickte Shaelyn den alten Mann an, jener lächelte. „Er macht, was er für richtig hält.“ „Verstehe ich nicht. Wie kann das richtig sein, was er tut? Wenn er all das bewusst macht...“ Wie konnte er sie bewusst so behandeln? Das würde nur bedeuten, er wäre doch ein kaltherziger Mensch. Dass er mit ihr umging, wie er es lustig fand. Shaelyn wollte nicht daran glauben. Lieber versuchte sie daran zu glauben, dass er doch mehr für sie empfand als er zugab – denn so war der Gedanke nicht zu schmerzlich für sie. Der alte Herr wusste nicht, was genau geschehen war. Denn auch L war seit der Rückkehr der Feier etwas verändert. Jedoch schwieg der Detektiv zu den Ereignissen. Der junge Mann versuchte es mit sich selbst auszumachen, auch wenn Watari ihm Hilfe anbot. „Manchmal ist das Richtige nicht gleich das Gute.“, antwortete er nach einer kleinen Pause, die auch Shaelyn zum Nachdenken genutzt hatte. „Aber warum …“ Ruhe legte sich auf die betrübte Stimmung. Ehe der alte Herr sich dazu entschloss Shaelyn von etwas ganz Besonderem zu erzählen. „Ich möchte dir eine alte Geschichte erzählen, Shaelyn.“, begann er gefasst, sodass seine Enkelin gleich aufmerksam blickte. „Es geht um Bethany, deine Großmutter.“, führte Watari ruhig fort und gleich war Shaelyn völlig überrascht. „O-Oma?“ „Sie war eine wundervolle Frau. Ich traf sie im Frühling 1954 in einem Londoner Teegeschäft.“ Diese längst vergangene Erinnerung war lange verborgen. Ein Schmuckstück seines Lebens. Es war an der Zeit seiner Enkelin diese Geschichte anzuvertrauen, die er sonst mit niemanden geteilt hatte. „Mit meinen jungen 19 Jahren war ich in diesem Geschäft eine gewöhnliche Aushilfe. Dazu ein junger Bursche mit kaum Mitteln. Zu jener Zeit zählte dies als untere Schicht der Gesellschaft. Die Aufteilung zwischen wohlhabenden und armen war ein großer Spalt. Größer als es heute der Fall ist. Es ist nun wichtig, dass du dir das vor Augen führst, Shaelyn. Denn deine Großmutter, die liebevolle Bethany, war eine Frau vom gehobenen Stand. Dies erkannte ich sofort als sie damals das Geschäft betrat und auch, dass sie Unterschlupf vor dem starken Regen suchte.“ Es lag ein so unbeschreiblich schönes Lächeln auf den Lippen ihres Großvaters, dass Shaelyn automatisch mit ihm lächeln musste. Und natürlich lauschte sie gebannt seinen Worten. War es doch die Geschichte ihrer Großmutter, die sie kaum gekannt hatte. Schon als sie ganz klein war, wurde ihr ihre Großmutter genommen. Doch nach den Erzählungen ihrer Mutter, war sie eine sehr liebe und herzensgute Frau. Doch nie hatte sie die Geschichte von dem Kennenlernen ihrer Großmutter und ihrem Großvater gehört. Nein, wenn sie recht daran dachte und sich jetzt erinnerte, konnte ihre Mutter ihr nie eine Antwort auf die Frage nach ihrem Großvater geben. Ohnehin hatte Oma nie einen Mann an ihrer Seite gehabt. Warum? Ob Großvater das jetzt alles erzählte? „Als sich schließlich die Blätter färbten und von den Bäumen fielen, besuchte sie schon oft das Geschäft in dem ich noch immer eine kleine Aushilfe war. Ich wagte es nicht auszusprechen, doch wusste ich, dass Bethany auch Gefallen an mir gefunden haben musste. War sie doch ausschließlich zugegen, wenn ich meine Arbeit antrat. So wurde mehr aus dieser befangenen Verbindung. Denn eines Tages sprach ich mir Mut zu und lud mit meinem spärlichen Gehalt Bethany zum Essen ein. Dies war ein törichtes Handeln, doch war es von Erfolg gekrönt. Sie stimmte mit ihrem bezaubernden Lächeln zu.“ Shaelyn setzte sich auf und lächelte begeistert. „Also warst du eigentlich ganz schüchtern?“ „Zurückhaltend. In jener Zeit war der Umgang pfleglich. Einer Lady zeigte man Respekt. Und besonders einer Lady, die nicht zu erreichen schien. Sie war aus gutem Hause, gebildet und schicklich. Mein Ursprung war hingegen beschmutzt und von der unteren Gesellschaft.“ Überrascht zog Shaelyn beide Brauen an. Konnte das der Grund dafür sein, dass ihr Großvater nicht mit ihrer Großmutter zusammen war? Praktisch gar nichts von Watari zuvor wusste? „Wie ging es weiter?“, fragte Shaelyn vorsichtig, schon ahnend, dass es nicht so glücklich weitergehen musste. „Es dauerte nicht lang und ihre Zuneigung war offenkundig. Wir erfreuten uns daran. Es war eine wunderschöne Zeit. Dennoch verboten. Niemand sollte davon erfahren. Eine öffentliche Bekundung war unmöglich. Wir beide wussten es und trotz dessen war es die schönste Zeit meines Lebens. Das Glück währte kaum mehr als ein paar wenige Monate. Ich sah sie zuletzt eines Abends, denn am nächsten Tag wartete ich vergebens am Treffpunkt.“ Shaelyn versuchte ihre Tränen zu unterdrücken und schniefte ein paar mal. „Du hast sie nicht einmal mehr gesehen?“ „Nein. All meine Versuche sie noch einmal zu erblicken scheiterten.“ „M-Moment. Heißt das nicht, dass Oma schwanger war? … Die Familie hat sie einfach weggesperrt und dir nicht einmal Kontakt zum eigenen Kind gewehrt? Wie krank ist das denn...“ „Bis ich von dir erfuhr, wusste ich nicht, dass Bethany ein Kind erwartete. Das was deine Großmutter tat, hatte die Familie sehr entsetzt. Es war zu jener Zeit verpönt von einem Mann schwanger zu sein, der nicht ihr Ehegatte ist. Noch dazu von einem Mann, der nicht aus einem guten Kreis stammt.“ „Das ist doch einfach nur verrückt. Wenn man sich liebt, dann liebt man sich.“ „Nein, Shaelyn. Damals galt dies nicht.“ „Hast du denn Oma je aufgegeben?“ „Niemals. Ich arbeitete mehr und begann viel zu lernen. Meine Absicht war es ein besseres Einkommen und mehr Bildung vorzuweisen. So lange, bis ich Bethany für mich beanspruchen konnte. Als mir schließlich eine gute Erfindung gelang und begann viel Geld zu verdienen, hörte ich, dass sie längst einem anderen Mann anverheiratet wurde.“ „Das... ist so grausam und traurig, Opa.“, schluchzte Shaelyn beklemmt und wischte sich die Tränen weg. Und trotz der traurigen Erzählung lächelte ihr Großvater schwach. „Es war eine sehr schöne Zeit, die ich mit Bethany teilte. Sei nicht traurig darüber, Shaelyn. Und vielleicht verstehst du jetzt ein wenig mehr, das Richtige zu tun, auch wenn es nicht gut ist.“ „H-Heißt das, ich soll nicht aufgeben und für mich das Richtige tun?“ „Jeder geht es mit seinen ganz persönlichen Gründen an. Ganz gleich ob sie falsch oder richtig sind.“ Wie genau sollte sie das verstehen? War alles was ihr Großvater ihr erzählte auch vielleicht auf sie bezogen? Aber das er es nun erzählte, musste sicherlich einen Grund haben. Schließlich hatte er vorher nicht ein Wort darüber verloren. Jedenfalls war es eine sehr traurige Geschichte und sie hätte nicht vermutet, dass das alles dahinter steckte. Wer dachte schon an so etwas? Und war die Zeit wirklich so schlimm gewesen? „Du, Opa.“, begann sie behutsam und spielte an dem Saum der Bettdecke. „Das ist wirklich schlimm was passiert ist. Und ich wusste das ja nicht. Meine Mutter sagte mir das nie… Aber warum genau hast du das zu mir gesagt? Ich meine, ich verstehe schon, was du mir ungefähr sagen willst. Das eben jeder seine Gründe hat, aber deine Geschichte bezieht sich doch auch auf zwei Liebende...“ „Ja, du hast Recht.“, pflichtete ihr Großvater ihr bei, was sie bedrückt den Blick senken ließ. „Jedoch, Shaelyn. Deine Geschichte noch nicht zu Ende.“ Es war mehr als ein Hauch von Hoffnung, der Shaelyn ein unsägliches Glücksgefühl bescherte und völlig überrascht aufblicken ließ. Wenn ihr Großvater das eben gesagte ernst meinte, dann hielt er es doch für möglich, dass aus ihr und Rue mehr werden könnte. Sie konnte also noch etwas bewirken. Bewirken, dass aus ihnen auch eine Liebesgeschichte wurde. Allerdings mit einem ganz anderen Ende – einem hoffentlich guten. Shaelyn begann breit zu lächeln. Natürlich einem guten Ende! Oder eher Anfang. Wie das wohl aussehen würde, wenn Rue und sie ein Liebespaar wären? Öfter fragte sie sich das, aber es waren nur Fantasien – aber gerade in diesem Moment schien es ein Stückchen näher zu sein. Es war ein überwältigendes Gefühl. „Danke, Opa.“ Was sollte sie auch weiter dazu sagen? Er verstand sie, gab ihr mehr Hoffnung. „Möchtest du nun etwas zu dir nehmen?“, fragte er sie dann, woraufhin sie ein paar mal blinzelte. Wenn sie es recht überlegte; warum nicht. „Ja, gern.“ „Dann werde ich jetzt das Essen vorbereiten.“ Shaelyn nickte schnell, während ihr Großvater sich erhob. Somit sah sie mit an, wie er den Raum verließ – ohne ein weiteres Wort. Und was hätte er schon großartig sagen sollen? Alles was er bisher gesagt hatte, reichte völlig aus. Shaelyn fühlte sich bestärkt – und sie wollte endlich Rue wiedersehen! Mit vollem Elan schwang Shaelyn sich aus dem riesigen Bett, ehe sie zum begehbaren Kleiderschrank lief und ein paar Sachen heraussuchte. Es wäre doch gelacht, wenn sie Rue in diesem großen Haus nicht finden würde! Irgendwo auf dem Anwesen musste er ja sein – dazu nicht fern von seinem Laptop. Die Engländerin hielt kurz inne. Ja, aber was sagte sie denn dann zu Rue, wenn sie ihn gefunden hatte? War das nicht egal? Hauptsache sie würde ein paar Worte mit ihm wechseln. Waren diese drei Tage eine Ewigkeit ohne ihn. Ordentlich angezogen und mit guter Laune, verließ sie ihr Zimmer. Wo sollte sie mit ihrer Suche beginnen? Shaelyn hielt es für das Beste zunächst im Wohnzimmer nachzusehen – wenn sie nicht schon direkt auf dem Gang stoppte und jenen jungen Mann sah, der ihr Herz gleich höher schlagen ließ. Rue. Er verließ ebenfalls sein Zimmer weiter auf dem Flur entlang. Unwillkürlich musste sie lächeln. Das Suchen ging einfacher als gedacht. Mit jenem Lächeln auf den Lippen, setzte sie sich wieder in Bewegung. Rue hatte sie noch nicht bemerkt, sondern war damit beschäftigt die Türe zu schließen. Wäre da nicht ein lautes Knarren, was sie letztlich verriet. Umgehend wandte Rue sich ihr zu – bedachte sie mit seinem unbeirrbaren Blick, der ihr gleich Gänsehaut bescherte. Für einen Moment vergaß sie, was sie eigentlich sagen wollte. Hatte sie eigentlich etwas, was sie sagen wollte? Shaelyn kam die letzten Schritte auf ihn zu und räusperte sich. „Hey, da bist du ja.“, begrüßte sie ihn dann mild. „Was gibt’s?“, fragte er direkt ungerührt, woraufhin Shaelyn leise seufzte, dann doch begann liebevoll zu lächeln. „Nichts. Ich wollte dich sehen.“ Was sollte sie auch anderes sagen? Es war die Wahrheit. Es war wirklich das, was sie wollte. Ihn sehen. Rue schwieg zu ihrem Gesagtem. Irgendwie hatte sie jetzt den Eindruck, er dachte nach. Sie lächelte vorsichtig. „Irgendwie warst du die letzten drei Tage so schwer zu erwischen...“ „Durchaus möglich.“, gab er prompt zurück, das sie still zur Seite blicken ließ. Irgendwie war es gerade schwer mit ihm zu reden. Sie hatte doch nichts Falsches gesagt? „Weißt du... -“ „Es gibt da etwas, was einer Unterhaltung bedarf.“, schnitt er nüchtern dazwischen, woraufhin Shaelyn irritiert aufsah. Sein Ausdruck war wie bisher ohne Emotion, was sie innerlich etwas zurückschrecken ließ. Hieß das nun gutes oder schlechtes? „Setzen wir uns an diesem Tag in den Garten. Ich werde Watari in Kenntnis setzen.“ Rue wandte sich um, steckte die Hände in die Hosentaschen und schritt einfach voran. Unsicher blickte die Schwarzhaarige ihm nach. Rue hatte ihr aufgetragen sich schon einmal in den Garten unter dem Pavillon zu setzen und war anschließend zu ihrem Großvater gegangen. Sie tat, was ihr gesagt wurde – und es war auch angenehm. Es wehte lau der warme Wind, die Palmenblätter raschelten und Shaelyn saß auf dem dunklen hölzernen Stuhl im Schatten. Die Vögel stimmten fröhliche Lieder und sie seufzte. Bisher hatte sie diese Ecke des Gartens nicht betreten. Ohnehin gab es noch viel zu sehen auf diesem Anwesen, aber sie hätte diese kleine Nische schon eher besuchen sollen. Es war ein Stückchen Paradies, welches natürlich mit vielen Blumen bepflanzt war. Somit lauschte sie dem Wind, atmete die frische Luft und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch vor sich ab. Ruhe und Entspannung fand man hier wirklich. Allerdings nagte der Gedanke daran was folgen würde. Was gab es wichtiges zu besprechen? Ob es etwas mit der Silvesterparty zu tun hatte? Bestimmt. Wieso musste es so ernst klingen? Es wäre hier so ein schöner Ort für romantische Träume... „Bist du nicht der Meinung, du hast genug geschlafen?“, war die dunkle Stimme von Rue zu hören, was sie mit dem Kopf hochfahren ließ. Während sie ihre Gedanken sammelte, beobachtete sie, wie er sich auf den Stuhl ihr gegenüber setzte. Schließlich legte er seinen Daumen an die Unterlippe. „Ist doch egal. Noch habe ich Ferien. Die Schule geht erst nächste Woche los …“, meinte Shaelyn als sie sich richtig hinsetzte. Ehe sie überrascht eine Augenbraue hob. „Woher willst du das überhaupt wissen?“ „Dein Großvater.“ „Opa? Wieso sollte er das einfach so sagen?“ Meinte sie das nur, oder blitzten seine Augen gerade interessiert auf? „Er macht sich Sorgen.“, antwortete er ruhig, sodass Shaelyn seufzte. Sie wollte sich jetzt nicht in solche Diskussionen mit ihm stürzen. Wollte sie doch mehr wissen, was es so unbedingt zu bereden galt. Auch wenn es sie neugierig gemacht hatte, woher er das genau wusste. Ihr Großvater war keine Plaudertasche. Ja, sie hatte dazu gelernt. „Schon gut. Ich möchte eher wissen, was du unbedingt besprechen willst.“ „Oh, ja. Richtig.“ Ungläubig beäugte sie seine überraschte Haltung, dann jedoch neugierig was er hinten an seiner Hosentasche machte. Ein Schriftstück kam zum Vorschein, welches er auf den Tisch legte. Davon abgesehen, wie schlecht es zusammen gefaltet war, wollte sie schon danach greifen, ehe seine Hand die ihre ergriff. Gleich blickte sie in seine dunklen großen Augen. Doch kein Wort verließ seinen Mund. Er starrte sie an – und doch hatte sie das Gefühl er sagte ihr damit etwas. Nervös erwiderte sie den Blick, wagte es kaum den Blickkontakt abreißen zu lassen. Unschlüssig öffnete sie ihre Lippen, erschrak jedoch als sie eine Stimme von der Seite wahrnahm. „Hier, etwas Tee.“ Ihr Großvater war hinzugetreten, mit einem Tablett in den Händen. Sofort spürte sie, wie die Wärme von ihrer Hand schwand. Rue hatte die seine zurückgezogen. Das tat Shaelyn dann ebenfalls, woraufhin Watari das Tablett abstellte und die Tassen samt Untersetzer abstellte. Eine seltsame Stille lag in der Luft – und das sachte Lächeln ihres Großvaters irritierte sie. Es war, als würde er versuchen sie damit aufzuheitern. Irgendwas ging vor sich. Schließlich, nachdem Watari das Tablett mit sich nahm und sie wieder allein waren, öffnete sie ihren Mund: „Was ist denn los?“ Sie fühlte sich beklemmt. Es war wie eine böse Vorahnung. Allerdings schenkte Rue sich zunächst Tee ein, was sie weiter auf die Folter spannte. Einen Streit anzufangen war jetzt sicher nicht das Richtige. Ein wenig Geduld und sie würde schon hören worum es ging. Aber was ließ er sich so Zeit?! Denn befüllte er kurz darauf die Tasse mit mehr Zucker als allem anderem, was er genau beobachtete. „Du bist nun Volljährig, Shaelyn.“, kam es dann unerwartet von Rue, woraufhin sie hellhörig wurde. „Ja...“ „Dann ist es jetzt an der Zeit dir etwas zu sagen.“ Machte er das mit Absicht? Wieso sprach er um den heißen Brei? Shaelyn war furchtbar gespannt – er dagegen schien gelassen. Er rührte mit Ruhe den Tee, ehe er aufsah und sie dann mit einem stechenden Blick anstarrte. Unbewusst setzte ihr Atem aus. „Möchtest du nicht auch etwas Tee?“ Verstört blinzelte sie. Eindeutig hatte Shaelyn etwas anderes erwartet. „Nein... Ich möchte wissen, was das hier soll.“ Ihr wurde letztlich ein prüfender Blick unterzogen. „Einverstanden.“ Es kam ihr daraufhin wie eine Ewigkeit vor, bevor Rue erneut zum Sprechen ansetze. Sein Blick war geradezu … nichtssagend. „Es geht um den Nachlass deiner Familie.“ Mit einem Schlag waren ihre gesamten Gedanken ausgelöscht. Und auch alles andere war ausgeblendet. „Du hast geerbt, Shaelyn.“ L gab ihr einen Moment zum Nachdenken. Denn offenkundig war sie gerade geistig nicht anwesend. Er wollte so fair sein und ihr die entsprechende Zeit geben. Es war nach wie vor kein einfaches Thema für sie. Somit nahm er einen Schluck von seinem Zuckertee und beobachtete bedachtsam Shaelyns Regung. Ihr Blick war leer. Ihre Gesichtsfarbe war blass. Und ihr Mund öffnete sich, was L direkt interessiert studierte. „W-Was?“ „Deine Volljährigkeit befähigt dich nun über das Erbe zu verfügen. Daher wird es Zeit mit dir darüber zu entscheiden was du damit anstellen willst.“ Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und stützte sich mit den Ellbogen vom Tisch ab. „... Aber es ist doch alles abgebrannt. Restlos...“, flüsterte sie fassungslos und stierte auf den Tisch. Und es war ihr ohne Zweifel anzusehen: Das verheerende Ereignis wiederholte sich vor ihrem inneren Auge. L hatte diese Angelegenheit bisher nach Möglichkeit vermieden. War es natürlich noch immer schockierend. Wahrscheinlich würde Shaelyn niemals wirklich darüber hinweg kommen. „Ja, was das Haus deiner Eltern betrifft. Allerdings ...“ L brach eine Pause an, die Shaelyn schleichend wahrnahm. „Nicht das Anwesen deiner Großeltern; das deinem Vater gehörte.“ Ihre grünen Iriden suchten Blickkontakt. Nahm sie gleich die Hände vom Kopf. Nun blickte sie ihn überrascht an. „D-Das verstehe ich nicht... Papa hatte nie etwas davon gesagt...“ Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, sodass selbst L kurz verblüfft war. „H-Halt! Ich weiß noch, wie traurig mein Papa gewesen war, als Opa und Oma gestorben sind! Dann hatten sich meine Eltern unterhalten... im Schlafzimmer und die Türe war angelehnt. Da war die Sprache von irgendwas gewesen, was es noch in Japan gäbe... Da war ich aber noch so klein.“ Sie biss sich nervös auf der Unterlippe herum. Anscheinend wühlte sie angestrengt in ihren Erinnerungen. „Warst du einmal dort?“, fragte er als aufmerksamer Zuhörer. „Nein... Ich habe sie nie gesehen. Aber sie schickten mir immer zum Geburtstag etwas. Einmal war es eine kleine Puppe. In so einem traditionellen Kimono. Mein Papa sagte, die Puppe wäre sicher sehr teuer gewesen. Und er sagte mir immer, dass er mich unbedingt nach Japan bringen und mich Opa und Oma vorstellen würde. Er wäre so stolz auf sein kleines Mädchen...“ Shaelyn wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. L konnte ihren Schmerz verstehen, den sie unweigerlich fühlen musste. „M-Mein Bruder würde er natürlich auch mitnehmen, nur er war irgendwie nie so begeistert. Er wollte lieber in England bleiben. Und deswegen sind wir nicht gefahren. Mein Papa sagte, wenn Ryu alt genug wäre, dass er eine Weile alleine sein kann, würde er mit mir nach Japan. Meine Mama war genauso gespannt. Sie sagte auch, dass Oma und Opa sehr sehr nett wären und sehr traditionell leben würden. Dann hatten sie wohl natürlich auch ein Haus... Warum ist mein Vater dann nach der Beerdigung nicht nochmal nach Japan gegangen? Wenn ihm doch das Haus gehörte... Denkst du, er konnte es nicht ertragen dorthin zurückzukehren?“ „Sehr wahrscheinlich, Shaelyn. Aus diesem Grund wird er das Haus auch verschwiegen und nicht verkauft haben.“, sagte er ruhig zu dieser betrüblichen Geschichte. „Aber... das ist doch so schade... also dass Papa es nicht wieder besucht hat. Auch wenn er so einen kleinen Schrein im Wohnzimmer aufgestellt hat und immer dort für ihre Seelen gebetet hat.... W-Wo steht denn das Haus?“ L nahm das Schriftstück zwischen die Finger und hielt es Shaelyn entgegen, welche das Papier still an sich nahm. Konzentriert faltete sie es auf und begann es zu lesen. In der Zwischenzeit nahm L weitere Schlücke von der Tasse, welcher er dann wieder auf den Untersetzer stellte. „... Was steht da?“, meldete sich plötzlich Shaelyn zu Wort, die ihm unmittelbar das Papier vorhielt und mit dem Zeigefinger auf eine Passage deutete. Japanische Schriftzeichen waren für sie ein Rätsel. „Towada. Das liegt in der Tōhoku Region. Der nördliche Teil Japans.“ „Aha...“ Sie zog das Schriftstück zurück und besah es sich erneut. „Hier steht, dass es 1994 auf meinem Vater überschrieben wurde. Da war ich gerade mal acht Jahre alt. So lang ist das schon her...“ „Was willst du nun mit dem Grundstück anstellen?“, brachte L es wieder auf den Punkt, um diese Unterhaltung abzuschließen. Nicht, dass ihm nichts an ihrer Vergangenheit liegen würde. Shaelyn war einfach noch nicht in der Lage über ihre Familie zu sprechen. „Tja, ich weiß nicht... Das kostet doch Geld das Haus instand zu halten, oder nicht? Außerdem ist es solange her. Wenn da keiner solange gewohnt hat, muss es doch in keinem guten Zustand sein... ?“ „Das heißt es nicht zwangsläufig, Shaelyn.“ Jene Angesprochene legte das Papier auf den Tisch. Sie hing ihren Gedanken nach. „Watari hat die bisher entstandenen Kosten für dich übernommen.“, gab er ihr preis, woraufhin sie entsetzt die Augen weitete. „Was?“ „Da deine Mündigkeit erst seit kurzem in Kraft getreten ist, hat er sich um die Angelegenheit gekümmert. Es bleibt deine Entscheidung, was du jetzt damit machen willst. Solltest du dich dafür entscheiden es zu behalten, wäre ein Gespräch mit deinem Großvater notwendig. In dem Fall, du willst es verkaufen, werde ich es in die Wege leiten. Das Geld wirst du selbstverständlich erhalten.“ Zu viele Informationen auf einmal! Shaelyn fasste sich an den Kopf. Als ob sie nicht schon genug Chaos zu bewältigen hatte. Was sollte sie mit dem Haus machen? Es stand so weit weg. In einem Land, das sie nicht wirklich kannte – geschweige denn besucht hatte. Dennoch. Es einfach zu verkaufen wäre nicht richtig. Darin war ihr Vater aufgewachsen, lebten ihre Großeltern ihr Leben lang. Jetzt war es an ihr darüber zu verfügen. Die Engländerin brauchte einen klaren Kopf. „D-Darf ich mir noch was Zeit für die Entscheidung nehmen? Oder... muss das jetzt sein?“ „Nimm dir die Zeit, die du dafür brauchst.“, verließ es nebenher den Mund von Rue, während er sich erneut Tee einschenkte. Erleichtert stieß sie die schwere Luft aus. Unmittelbar hob Shaelyn eine Augenbraue an. Verwundert über diese schwere Luft, erhob sie sich sogleich von ihrem Stuhl, stellte sich an den Rand des Pavillons und blickte in den Himmel. Der Horizont war in einem dunklen Grau gehüllt – und dies fiel ihr erst jetzt auf. Wo doch alles um sie herum an Farbe abgenommen hatte, die Vögel nicht mehr zwitscherten und der Wind ein wenig auffrischte. Zu sehr war sie in Gedanken versunken gewesen. „Vielleicht sollten wir rein gehen...“, meinte Shaelyn geistesabwesend und beobachtete weiter den wolkenverhangenen Himmel. „Warum?“, folgte es plötzlich von Rue, jener kurz darauf lautstark von seinem Tee schlürfte. Verwundert wandte sie ihren Kopf zu ihm. „Na... es regnet gleich.“ „Wo ist das Problem? Unter dem Pavillon bleibt es trocken. … Außerdem“, begann er und erwiderte nun ihren Blick. „ist es nicht zu deiner Freude?“ Shaelyn zog beide Augenbrauen an. „Hm?“ „Soweit ich mich erinnere, gefällt dir das nasse Wetter. Du solltest es genießen.“ Da Rue ein Gespräch begann, und ihm die Situation nicht zu beeindrucken schien, setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Neugierig musterte sie ihn. Sowieso? Wieso fing er ein Gespräch an? Zumindest lenkte es von den Gedanken ihrer Familie ab. „Wieso?“ „Die Niederschlagsrate ist in Los Angeles gering.“ „Ach so. Dann hast du wohl recht. … Ich sollte es genießen.“ Ein geheimnisvolles Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Natürlich wusste sie, dass sie damit sein Interesse weckte – oder wecken sollte. Denn schien er eher darüber nachzudenken. Müsste er es nicht wissen? Die Bedeutung, die noch hinter diesem Satz steckte? Denn es war umso schöner, dass er mit ihr hier sitzen blieb – und darauf wartete dass das Plätschern begann. Und noch schöner, jetzt diese Zeit mit ihm zu verbringen. Immerhin hatte sie ihn, nach ihrem Gefühl, ewig nicht mehr gesehen. Jeder Augenblick schien kostbar. Sein Blick veränderte sich, der ihr verriet, dass er verstanden hatte. Oder vielleicht hatte er es von Anfang an gewusst und nur über etwas anderes nachgedacht? Wenn sie so überlegte, dann schien das Zweite doch eher bei ihm zuzutreffen. Anderes war wirklich idiotisch. Wie konnte er je etwas nicht verstehen? Doch... war es seltsam. Er schwieg, blickte sie starr an. Sollte er normal nicht etwas dazu sagen? Und sollte sie nun etwas sagen? Es war anders als sonst. Nein, er war anders als sonst. Rue war ferner. Warum wirkte er nun so... unerreichbar? Betrübt blickte sie zur Seite. Dabei war sie so guter Dinge gewesen. Nach der Silvesterparty hatte sie gedacht, es lockerte sich weiter auf. Irgendwie war das Gegenteil eingetreten. Ob sie es tatsächlich übertrieben hatte? Wenn sie an alles dachte, war sie schon sehr launisch an dem Tag gewesen. Aber selbst die Erkenntnis darüber würde es wahrscheinlich nicht verbessern. Shaelyn war, wie sie war. Vielleicht lernte sie irgendwann sich mehr unter Kontrolle zu haben. Seit wann war das überhaupt so? Früher, als ihre Familie noch lebte, hatte sie nie solche Probleme gehabt. Natürlich, hin und wieder war sie launisch. Aber niemals so stark. Ob es damit in Verbindung stand? „Sag mal...“, verließ es leise ihren Mund. „Stimmt etwas nicht?“ „Nein.“, folgte es natürlich vom jungen Mann gegenüber, der sich entspannt einen weiteren Löffel Zucker in den Tee tat. „Was sollte nicht stimmen?“ Er klang nüchtern. Viel zu distanziert. Gleichgültig. Shaelyn strich sich unsicher den linken Arm. Machte es nun Sinn ihn weiter zu fragen? Wahrscheinlich blieb es bei einem Nein – selbst wenn sie so stark spüren konnte, dass er verändert war. Sie behielt recht mit ihrer Befürchtung, die sie schon seit zwei Tagen hatte. Was war nur passiert? Es war ein Schritt in die falsche Richtung. Ein Schritt zurück. Regen. Er prasselte laut auf den Dachpfannen – ging einher mit dem frischen Geruch von Gras und Holz. Und zum ersten Mal war Shaelyn kaum imstande es richtig wahrzunehmen. Lauschte sie ihrem Herzen – und es weinte. Kapitel 27: Qual ---------------- Bevor das Kapitel beginnt, möchte ich etwas Anmerken: Für all die, die es natürlich bemerkt haben: Ich lade seit Kapitel 25 ohne einen Betaleser hoch. Die Gründe möchte ich nicht nennen, jedoch möchte ich euch darauf verweisen, dass es zu vermehrten Fehlern kommt. Schließlich kann ich meine Fehler nicht alle sehen. Entschuldigt also bitte, wenn ihr auf einen Fehler aufmerksam werdet. Ich versuchte mein Bestes um die Fehler so gering wie möglich zu halten. Ansonsten viel Spaß und danke für die Aufmerksamkeit. ________ Heute war der erste Tag. Der erste Tag, an dem sie wieder zur Schule gehen würde und Shaelyn konnte nicht behaupten, dass sie sich darauf freute. Eine neue Schule bedeutete Probleme. Anerkannt zu werden war schwierig, auch wenn sie darauf nicht aus war. Aber ein Teil der Klassengemeinde sollte man sein. Zumindest wenn man nicht gehänselt werden wollte. Das war ihre Angst. Jeder hatte wohl Angst davor, aber der Gedanke half ihr wenig. Auch wenn sie hatte auswählen können auf welche Schule sie ab jetzt ging – es war Anfangs immer dasselbe Spiel. Demnach saß sie missmutig und fertig angezogen auf ihrem Bett. Gleich würde ihr Großvater kommen und sie zur Schule fahren. Aber wenn sie an die Schule dachte, war das nur das geringere Problem. Etwas anderes fraß sie fast auf. Bescherte ihr Albträume. Versetzte sie in die furchtbarsten Vorstellungen. Rätselte sie immer über dieselbe Frage: Was war nur mit Rue passiert? Seit dem Tag unter dem Pavillon hatte sich rein gar nichts verändert. Das Gefühl ihn verloren zu haben lähmte sie. Jeden Tag mehr. Es war jede Sekunde, Minute und Stunde zu spüren. Und das bereits fast eine ganze Woche. Rue mied sie. Ignorierte sie fast vollständig. Alles brach um sie herum zusammen. Was hatte sie um alles in dieser Welt nur getan, dass er sie plötzlich so behandelte? War sie wirklich viel zu weit gegangen? War das etwa eine verdiente Strafe? Es war grausam. Kaltherzig und brutal. Vollkommene Qual, die ihr Herz langsam in Stücke riss. Wie sollte sie das ertragen können - Wenn doch der Mensch, der ihr alles bedeutete, sie rücksichtslos in den Abgrund stieß? Sie hätte nie auf diese Feier gehen sollen. Vielleicht wäre dann heute alles okay. Das jedoch würde nichts an ihrer jetzigen Situation ändern. Nun war es so. Und Shaelyn konnte nur zusehen wie sich alles in die falsche Richtung entwickelte. Das, was sie nur weiter in die Verzweiflung trieb. Kraft hatte sie bisher viel aufwenden müssen. Seine Aufmerksamkeit war nicht leicht zu erhaschen. Wie viel Zeit war vergangen? Sicherlich. Nur ein paar wenige Wochen, seitdem sie selbst erst wusste, was er wirklich für sie war. Dass er ihr Leben war. Ein Leben abseits all der schwarzen Gedanken. Ließ es sie vergessen. Den Schmerz, der noch immer tief in ihrer Seele saß. Jedoch was war er für sie? Ein Mensch? Ein Objekt? Ein Spielball? Ihr Verstand war von schrecklichen Einbildungen vergiftet. Kaum mehr glaubte sie an ein gutes Ende. Alles war eine Lüge. Seine Worten waren pure Täuschung. Sein Verhalten berechnet. Shaelyn war depressiv. Längst war ihre Innenwelt gestört. Das Gefühl den Boden unter den Füßen, abermals, zu verlieren war kaum zu bewältigen. Nicht ein zweites Mal wollte sie alles in ihrem Leben verlieren. Das würde sie nicht durchstehen. Sollte sie also versuchen sich zu verändern? Versuchen so seine Aufmerksamkeit zurückzuholen? Ohnehin führte sie sich auf wie ein verrückt gewordener Teenager. Der Gedanke an die Feier ließ sie schaudern. Sie hatte Rue bedrängt. Ihm ständig ihre Launen aufgezwungen. Vielleicht sollte sie in Zukunft versuchen ruhiger zu werden. Ja, vielleicht. Denn vielleicht gefiel sie ihm so besser. Was sollte sie sonst tun? Auch wenn es falsch war sich zwanghaft zu verändern – Shaelyn wünschte sich nichts sehnlicher als Rue an ihrer Seite, selbst wenn er sie gerade so behandelte. Liebe war nicht immer ein wunderschöner Traum. Manchmal war es mehr ein Leiden – denn einfach aufzuhören zu lieben war unmöglich. Und manchmal bedeutete nur der Tod das Ende einer Liebe. Es war ein Klopfen, das sie aus den tiefen Gedanken holte. Unmittelbar blickte sie zur Türe, die sich langsam öffnete. Jemand trat ein und es war natürlich ihr Großvater, er ihr entgegen lächelte. „Bist du fertig?“, fragte er freundlich und Shaelyn nickte nur, während sie sich erhob. Bald würde es sich zeigen. War sie in der Lage einen Weg zurück zu Rue zu finden? Als ihr Großvater sie zur High School fuhr, blieb es still. Weder er noch sie sagten etwas. Was sollte Shaelyn auch großartiges sagen? Ihr Großvater bemerkte doch ihren starken Kummer, aber auch er konnte nichts daran ändern. Es zur Sprache zu bringen half nicht. Und Shaelyn hatte längst bemerkt, dass ihr Großvater an seine Grenzen gestoßen war. Oft war Rue zur Debatte geworden, aber nie war ihr Großvater imstande gewesen ihr zu helfen. Höchstens aufzuheitern, was dann doch in Ernüchterung umschlug. Und sich letztendlich auf ihren Großvater zu verlassen war ebenso falsch. Es war eine Sache zwischen ihr und Rue. Der Wagen hielt und sie stieg mit einem kleinen Danke aus dem Auto. Jenes Auto fuhr davon und sie wandte sich um. Sie stand vor einem großen Gelände, in dessen Mitte ein Gebäude stand. Es war gewaltig. Auf dem kleinen Bild in dem Ordner, den ihr Großvater ihr zusammengestellt hatte, sah es winziger aus als es war. Unbewusst und aufgeregt griff sie stärker am Band der Umhängetasche, in der schon jetzt jede Menge Bücher waren. Sofern sie aufgeklärt wurde, würde sie ihren eigenen Spind bekommen. Außerdem hatte sie gleich ein Gespräch mit dem Betreuungslehrer, der sie zunächst testen und dann einteilen würde. Anschließend würde sie Kurse wählen, an denen sie teilnehmen würde – sofern sie die Tests bestand. Hoffentlich schaffte sie es einigermaßen. Bisher waren all ihre Leistungen im Mittelbereich. Weder gut noch schlecht. Aber ein ganzes Jahr ohne Schule hatte natürlich ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht musste sie sogar Nachhilfe nehmen. Wie sollte sie das sonst schaffen? Ja, ganz bestimmt musste sie Nachhilfe nehmen. „S-Shaelyn?“, war eine überraschte, ihr bekannte, Stimme von der Seite zu hören, sodass sie gleich herum fuhr. Die Engländerin blickte in das verblüffte Gesicht eines jungen Mannes. Seine brauen Augen musterten sie ebenso verwundert. Irritiert strich sie sich hastig ihre Haare aus dem Gesicht und starrte einige Sekunden. Joel? Ging er hier zur High School? „H-Hi.“, brachte sie hervor und blinzelte noch einige Male um sicher zu gehen, dass er da wirklich vor ihr stand – mit Gips um die halbe Hand und um den Arm. Sollte sie dazu etwas sagen? War sie nicht etwas schuld an seinem Unfall? „Was ein Zufall.“, lachte der junge Mann offen, sodass die Sorge ein wenig verflog. Es wäre sowieso klüger, wenn sie es so beließ wie es war. Shaelyn zog dann ihre Augenbrauen zusammen, da ihr etwas anderes einfiel. „Es ist doch das letzte Jahr für dich, oder?“ Er war so alt wie sie. Also musste er ins letzte Jahr gehen. „Tja wie es aussieht ist dieses Jahr nicht so mein Fall.“ Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf, ehe sie erneut den Mund öffnete: „Also hast du noch ein Jahr vor dir?“ Joel nickte und schenkte ihr ein süßes Lächeln. In diesem Augenblick ließ es sie ihren Kummer für eine Sekunde vergessen. Eigentlich sollte sie sich freuen, was sie auch irgendwie tat. Da war jemand den sie kannte und auch mochte. Jemand, der ihr hier alles zeigen konnte – und auch helfen würde. Wäre da nur nicht der Gedanke an das Versprechen, was sie Rue gegeben hatte. Es waren Gewissensbisse, die sie fortan auch mit sich herum trug. Es war bereits spät am Abend, als Shaelyn vor ihren unzähligen Unterlagen saß. Sie konnte so viel wählen und hatte bis zum nächsten Tag Zeit. Außerdem musste sie lernen. Die amerikanische Geschichte schien hier wirklich sehr streng genommen zu werden. So sehr, dass sie erst etwas über diese Geschichte lernen musste, um angenommen zu werden. Grundstoff, wie es der Lehrer sagte. Doch wäre das Lernen nicht schon genug, kreisten dazu ihre Gedanken um Joel und das Versprechen. Sollte sie davon erzählen? Rue erzählen, dass Joel sehr wahrscheinlich mit ihr ein paar Unterrichtsstunden teilte? Auch wenn sie damit ein Gesprächsthema hätte, worauf er sicherlich etwas sagen würde. Besser sie beließ es dabei solange sie nicht gefragt wurde. Sie wollte Rue damit nicht verärgern... Ihn damit weiter auf Abstand bringen, wie ohnehin schon. Watari trug Sorge mit sich herum. Das selbstverständlich dem Detektiven nicht entging. Jener selbst stapelte auf dem Tassenrand und dem Henkel einige Zuckerwürfel. „Was ist mit Ihnen, Watari?“, sprach er schließlich den alten Mann an, der nachdenklich seinen Tee am Tisch zu sich nahm. „Entschuldigen Sie, Ryuzaki. Es bereitet mir starke Sorge meine Enkelin so zu sehen.“ Ein Thema, das L sicher nicht gern hörte – und darüber sprach. Dennoch schien es endlich an der Zeit zu sein etwas darauf wiederzugeben. „Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass sich etwas an der Lage ändern sollte?“ Watari stellte seine Tasse auf den Untersetzer. „Darf ich offen zu Ihnen sprechen?“, kam es natürlich höflich von Watari, sodass L zunächst eine Augenbraue anhob und beim Stapeln inne hielt. „… Nur zu.“ Was folgen sollte, damit rechnete selbst der Meisterdetektiv nicht. Es war tiefste Nacht. Und doch brannte eine kleine Tischlampe in Shaelyns Zimmer. Sie saß noch immer über ihre Unterlagen und das in ihrem Nachthemd. Es wäre nicht so, dass sie nicht schon fertig wäre, doch konnte sie keinen Schlaf finden. Das Bett war der beste Beweis. Völlig zerwühlt lag alles verteilt. All die Gedanken hielten sie wach. Shaelyn fühlte sich einfach nur schlecht. Was sollte sie tun? Warum fand sie keine Ruhe? Ein leises Klacken war zu hören und gleich drehte sich die Engländerin auf dem Stuhl herum. Ihr Gehör war etwas geschärft – ein Überbleibsel ihrer vergangenen Blindheit. Perplex sog Shaelyn die Luft ein als ein schwarzer Wuschelkopf zum Vorschein kam. Rue lugte um die Tür herum zu ihr – gefolgt von einem prüfenden Blick auf ihr Bett. Nur wenige Sekunden später durchbohrte er sie erneut mit seinem leeren Blick. Es schnürte ihr die Kehle zu. Er kam zu ihr? Was … wollte er? „Du solltest schlafen.“, gab er ihr ruhig den Rat und Shaelyn war der festen Überzeugung er wollte sie auf den Arm nehmen. War er nur hier um ihr das zu sagen? Was tat er ohnehin in der Nacht auf dem Gang? „Oder es zumindest weiterhin versuchen...“, meinte Rue weiterhin und legte seinen Zeigefinger an den Mund. Sollte er sich Sorgen gemacht haben? Im selben Gedankenzug klang es lächerlich. Wenn er wirklich um sie besorgt wäre, würde er ihr die grausame Qual der Isolation ersparen. Bedrückt strich sie sich den rechten Oberarm. „Bist du nur hier um mir das zu sagen?“, fragte Shaelyn leise, da sie ihre Stimme irgendwie verlassen hatte. Rue blickte sie schief an, ehe er eine Hand anhob und sie ans Ohr hielt. Shaelyn nahm ihren Blick von ihm. „Was machst du hier?“, fragte sie lauter, sodass Rue es diesmal verstanden haben musste. „Ich bin dem Licht gefolgt.“ „Dann mach' ich es aus, wenn es dich stört.“, sagte sie unglücklich. Direkt schaltete Shaelyn die Tischlampe aus, als sie schon hörte, wie sich die Türe wieder schloss. Das war es also. Er war nicht wegen ihr gekommen. Was hatte sie auch in der hintersten Ecke ihres Herzens gehofft? „Auch wenn das nicht der ursprüngliche Grund war, ist es nun angenehmer.“ Erschrocken zuckte sie zusammen. War Rue nicht nur geblieben, sondern auch ziemlich nahe hinter ihr. Sofort riss es sie im Stuhl herum. In der Reflexion des spärlichen Lichts von Außen schienen seine Augen fast schwarz zu glänzen. Er starrte sie an. Sie verschluckte sich fast an ihrem Speichel. „Ist etwas?“ „N-Nein. Ich meine doch. Sag' doch bitte etwas, wenn du reinkommst...“ Sollte sie sich nun freuen, dass er doch geblieben war? Ihr Herz raste. Was sollte sie von all dem halten? „Es war deine Annahme, ich sei gegangen. Folglich war es nicht mein Fehler.“ „Trotzdem...“, meinte sie dennoch. Shaelyn war verwirrt. Warum war er hier? Auf einmal? Nach so endlos langer Zeit. Diese Tage kamen ihr wie Jahre vor. Und er begann ein harmloses Gespräch. Als wäre nichts gewesen. Als hätte er ihren Kummer nicht bemerkt. „Also... Warum bist du gekommen?“ „Wie gesagt, ich bin dem Licht gefolgt. Und zu so einer späten Stunde solltest du im Bett liegen.“ „Ich weiß... wegen der Schule...“ Joel. Es war das Erste, was ihr einfiel und sie deshalb die Augen geschockt öffnete. Sie durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben! Umgehend sah sie zur Seite, wich Rues wachsamen Blick aus. „Gibt es etwas, was ich wissen sollte?“ Ohne zu zögern schüttelte sie eifrig den Kopf. Ihre Reaktion war zu offensichtlich. Ein schmerzlicher Biss auf die Zunge linderte diesen Fehltritt nicht. „I-Ich hab nur an die Tests gedacht und mir fiel ein, dass ich eigentlich total schlecht bin und zu wenig gelernt habe.“, antwortete sie rasch und hoffte inständig, dass Rue ihr glaubte. Um nichts in der Welt wollte sie ihn nun verärgern. „... Und deshalb sitzt du noch vor dem Schreibtisch?“ Ein Nicken folgte. „Ich habe so viel im Kopf, dass ich mich nicht konzentrieren kann.“ Plötzlich war eine Hand im Blickfeld zu entdecken, welche die Tischlampe wieder anschaltete. Kurz geblendet, schloss sie die Augen. „Die Amerikaner sind eigen was die Geschichte ihres eigenen Landes betrifft.“, war die nachdenkliche Stimme von Rue zu vernehmen, sodass Shaelyn aufmerksam zu ihm blickte. Er hielt ihren Notizblock hoch. „Ist das so kompliziert?“, wollte sie weiter wissen und beobachtete, wie Rue in ihrem Heft die Seiten studierte. „Nein. Allerdings zeitaufwendig. … Ist das alles an Notizen?“, wandte er sich zuletzt an sie, woraufhin sie stutzte. Reichte das nicht? „J-Ja.“ „Damit solltest du den Einstiegstest bestehen. Vorausgesetzt ...“ Stille setzte ein, in jener er weiter die Seiten des Buches betrachtete. Oder mehr eine einzelne. „Ja?“ „Du schläfst noch etwas. Ohne eine Ruhepause wird sich dein Kopf nichts einprägen können.“ Shaelyn atmete leise aus. Ein klein wenig Spannung fiel von ihren Schultern ab. Es war wirklich nicht viel was der Lehrer verlangt hatte. Eben ein paar Grundlegende Dinge, dennoch hatte sie Angst es zu vermasseln. „Von wem stammt die Notiz am Rand?“ Rue hielt ihr unerwartet die Seite vor der Nase, an dessen Rand etwas Kleines geschrieben stand. Ein weiteres Mal riss sie ihre Augen auf. Großer Gott, das Geschriebene stammte von Joel! Das hatte er ihr dahin geschrieben, als es Pause war und mit ihr in die Bibliothek ging! Joel war hartnäckig geblieben und musste ihr unbedingt helfen! Sie konnte ihn gar nicht abwimmeln! Jetzt war alles zu spät. L starrte Shaelyn an, die nervös auf ihre Unterlippe biss. Sie war schuldig. Denn eine andere Handschrift zierte den sonst makellosen Rand des Notizbuches. Dazu eine, die eindeutig nicht von einem Mädchen stammte. Folglich musste ihr irgendjemand der männlichen Schülerschaft geholfen haben. Noch dazu jemand, der es sich erlauben konnte. Sie musste demjenigen vertrauen. Konnte Watari womöglich mit seinem Gesagtem recht haben? Das gefiel dem Detektiven nicht. „Ä-Ähm tja, das ist eine schwierige Sache...“, druckste sie herum und rieb sich sichtlich unwohl die Wange. Er hatte sofort die Vermutung, es war etwas vorgefallen als sie vor wenigen Momenten die Augen soweit aufriss und von der Schule sprach. Etwas, was sie ihm verschweigen wollte. Es war auch nicht schwer für sein Auge das zu erkennen. Die Notiz war der Beweis. Er hatte es sprichwörtlich schwarz auf weiß. L ließ das Notizbuch sinken. „Da war halt jemand, der hat mir gleich geholfen. Das war auch wirklich sehr nett...“ „Von ihm.“, beendete L den Satz für sie. Prompt starrte sie ihn entgeistert an. „W-Woher weißt du, dass das ein Er war?“ „Das tut nichts zur Sache.“ „Sei nicht so streng... Opa findet es bestimmt auch okay. Er hat mir ja nur geholfen, weil ich neu bin. Und mich nicht begrapscht.“ … das sollte sich dieser Jemand auch gut überlegen. Shaelyn öffnete erneut ihren Mund. „Was ist auch schlimm daran? Wieso muss ich mich dafür rechtfertigen?“ „Es gab schon einmal einen jungen Mann, dem du leichtfertig dein Vertrauen geschenkt hast.“ Da hatte er sie. Ein unwiderrufliches Argument, das sie nicht in Frage stellen konnte. Es war deutlich in ihrer Gesichtsregung zu erkennen. Shaelyn schluckte schwer. Selbstverständlich war L nicht der Meinung, dass alle jungen Männer Verbrecher waren – und es gerade auf Shaelyn abgesehen hatten. Dennoch sollte ihr das als absolute Begründung reichen. Ganz gleich ob es tatsächlich sein Beweggrund war. „N-Nicht jeder ist so ...“ Ihre Lippen bebten und waren noch geöffnet, als sie den nächsten Satz noch einmal überdachte. „A-Außerdem. Mit wem soll ich mich sonst unterhalten und unterrichten lassen?“ „Was ist mit deiner Busenfreundin?“, kam es umgehend von ihm – und der Satz zeigte eine Wirkung, die unerwartet war. Eingeschüchtert sah sie weg und legte die Hände in den Schoß. „.... Nein. Nicht Emma. Auch wenn ich es fies finde, wie du sie gerade genannt hast. Eigentlich dachte ich an dich. Du bist so intelligent... Ständig weißt du alles. Gerade selbst hast du es wieder gezeigt. Aber du willst keinen Kontakt mehr zu mir. Wie soll ich dich da fragen? Und du... lässt nichts mehr von dir hören. Ich bin nur noch Luft. Und plötzlich tauchst du hier auf. Tust so als wäre gar nichts gewesen. Bitte erkläre mir das, Rue.“ Trübsal hüllte den Raum ein. Es war ein ruhiger und gleichzeitig trauriger Ton, der letztlich Stille in die Nacht brachte. Kein wütendes Gebrüll. Wie es sonst zu erwarten gewesen wäre und erzielte es nicht einmal eine Veränderung der Stimmung. L sagte zu all dem nichts. Es wäre auch gleich. Egal was er sagen würde, es würde es nicht bessern. Seine Stärke lag nicht in der zwischenmenschlichen Ebene. Oder gar im Umgang mit genau einer Frau, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Und ihn zu Dingen trieb, die er sonst unter keinen Umständen billigte. „Ist das also alles, was du dazu sagen willst? Nichts? Nicht einmal eine Entschuldigung? Und wenn du jetzt gleich wieder gehst, wird es dann morgen wieder so sein wie in den letzten Tagen?“ Shaelyn zeigte ihm ihr trauriges Gesicht. Es versetzte ihm einen Stich in der Brust. Waren ihre Fragen denn nicht berechtigt? Wie konnte er erwarten, dass alles beim Alten wäre? Eine Woche war eine lange Zeit. Und in dieser er sich nicht gemeldet hat. Ganz so als existierte sie nicht. Ganz so als wäre sie völlig uninteressant geworden. Ein Gegenstand, an dem man die Lust verloren hatte. Da war es doch natürlich, dass sie ihm diese Fragen stellte. Sie wollte Antworten – die sie offensichtlich nicht bekam. Nicht einmal ein Wort. Nichts. Shaelyn wandte sich ab. „Geh jetzt bitte, Rue. Ich will allein sein...“ Es dauerte keine Minute und jener junger Mann legte das Notizbuch auf den Tisch - und ging. Er verschwand ohne einen einzigen Ton und schloss hinter sich die Türe. Was hatte Shaelyn auch erwarten können? Aufgelöst verbarg sie ihr Gesicht hinter ihrer Hand. Wieso nur? Was war nur los? Warum tat es so weh? Ohne Schlaf, sehr betrübt und geistesabwesend rauschte Shaelyn durch den Test. Ständig musste sie an das Gespräch denken. An einen Rue, der vollkommen anders war. Ein Rue, der mit ihr umging, wie er gerade wollte. Vielleicht war das alles wirklich ein Albtraum und sie wachte bald auf. Denn es schien nichts davon real zu sein. Wollte Shaelyn nicht daran glauben. Wie konnte all das so schief laufen? So plötzlich? Ohne die leiseste Vorwarnung? Es zerriss sie weiter in der Brust. „D-Du siehst furchtbar aus, Shaelyn...“, war die schockierte Stimme Joels neben ihr wahrzunehmen, während sie still auf einer Bank in der Schulbibliothek dasaß. „Hast du nicht geschlafen? … Und geweint?“ Er setzte sich neben ihr auf die Bank und besah sie besorgt. „Ich hab' nicht bestanden.“, nuschelte sie versunken und starrte auf den länglichen Tisch vor sich. „Aber das macht doch nichts! Das Jahr hat ja noch nicht wirklich angefangen. Du schreibst dich ja fürs Jahr im Sommer ein und würdest jetzt nur ein halbes Jahr hier dich einleben. Du wiederholst den Test doch.“, versuchte Joel sie aufzuheitern, doch schien er damit kein Glück zu haben. Nur ein Blick von ihr und Joel konnte kaum Atmen. Voller Trauer, Verzweiflung und Ratlosigkeit blickte sie zu ihm her. Was war los mit ihr? Was konnte er tun?! So traurig hatte er sie nie gesehen. „Shaelyn...?“ Erschrocken gluckste er auf, als sie ihm in die Arme fiel und begann laut zu weinen. Zunächst völlig verwirrt wusste er nicht was er tun sollte. „Ist etwas schlimmes passiert?“, fragte er leise und legte mit Bedenken seine Arme um ihren Rücken. Natürlich gefiel es ihm, dass sie in seinen Armen war. Sein Herz raste voller Aufregung. Allerdings konnte er kaum dessen glücklich sein. Shaelyn suchte Trost bei ihm. Es machte ihn genauso traurig sie so zu sehen. „Warum?“, weinte sie gegen seine Brust, sodass Joel durcheinander drein sah. „Was ist denn los?“ Shaelyn schluchzte plötzlich leise und blieb still. Wieso sagte sie ihm nicht was mit ihr war? Joel hatte wirkliche Sorgen um sie. „E-Entschuldige! Ich wollte dich damit nicht belästigen.“, kam es unerwartet von ihr und sogleich nahm sie panisch Abstand. „Vielleicht kann ich dir ja helfen?“ „Nein, das geht nicht.“ „Ist es wegen dem ...Typ da?“, hakte er gleich nach und erhielt einen kurzen Seitenblick. War klar, dass der Freak daran schuld war! Warum sonst sollte Shaelyn sich die Augen aus dem Kopf heulen?! „Vergiss' ihn. Er ist ein Arschloch. Komm' ich nehm' dich mit nach Haus. Emma kommt zwar erst gegen Mittag, aber du bist nicht so allein.“ Die Engländerin sah mit verweinten Augen auf. „Hm? Aber du hast doch Unterricht...“, piepste sie leise und wischte sich mit dem Handrücken die Nase. „Schwänz' ich halt. Das macht nichts.“ Ein winziges Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. „Danke...“ Es tat sich ein Sprung in seinem Herzen. Joel freute sich, dass sie sein Vorschlag annahm. „Aber ich muss dein Angebot ablehnen, Joel.“ Shaelyn konnte ihm gleich die Enttäuschung ansehen. „Warum?“, war somit seine irritierte Frage. Er suchte nach Antworten. Doch war Shaelyn nun daran damit zu Hadern. Wie sollte sie Joel von dem Versprechen erzählen? Es würde ihn verletzten. Und dass sie sich gerade nicht hatte beherrschen können, machte es schlimmer. Fast unerträglich tat es ihr leid. Warum tat ihr das leid, wenn Rue sie so schlecht behandelte? Wieso fühlte sie sich dessen schuldig sich bei Joel einen Moment ausgeweint zu haben? Wenn doch Rue für sie da sein sollte? „Ich kann einfach nicht... Außerdem kommt gleich schon mein Opa und holt mich ab. Er will wissen, wann ich mit dem Unterricht anfange...“ Der zunächst gar nicht stattfinden würde. Der Lehrer war unzufrieden mit ihrer Leistung und trug ihr auf eine Woche lang zu lernen. Erst nächste Woche bekam sie die Chance sich neu einzuschreiben. Genug Zeit, sagte der Betreuer. Aber wie sollte sie es ihrem Opa sagen? Er war sicherlich noch mehr enttäuscht als der Lehrer. „Ich muss jetzt viel lernen … Ich möchte meinen Opa nicht nochmal hängen lassen. Ich will, dass er stolz auf mich ist.“ Sie versuchte es zumindest. So erreichte sie es nicht. Auch wenn Rue in diesem großen Haus war, sie auf keine anderen Gedanken kam – Shaelyn konnte es probieren. Joel sah sie still an, erhob sich von der Bank und kratzte sich an der Wange. Ein unbeholfenes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Schon gut. Ich wollte nur helfen. Und es ist ja nicht verkehrt sich für etwas ins Zeug zu legen. Aber wenn du Hilfe brauchst, dann sag' bitte Bescheid.“ „Joel... das werde ich. Und du hast mir ein wenig geholfen.“ Das hatte er. Joel war ein guter Freund – ganz egal was Rue sagte. Joel war nicht mit... Alan zu vergleichen. Shaelyn trat an das schwarze Auto von ihrem Großvater. Jener kam, wie gewohnt, um das Gefährt herum und fasste an die Hintertüre, um diese zu öffnen. Wäre ihr nur nicht das anders wirkende Lächeln ihres Großvaters aufgefallen. Bestimmt freute er sich auf eine gute Nachricht. Eine Nachricht, die sie ihm nicht überbringen konnte... Bedrückt blickte Shaelyn zur Seite. Hoffentlich würde sie ihn nicht zu sehr kränken. Wollte er doch stets das Beste für sie. Und sie schaffte nicht einmal die leichten Tests um ihm wenigstens etwas Freude zu bereiten. Schließlich öffnete ihr Großvater die Türe, sodass sie sich hineinsetzen konnte. Gefror sie in der Bewegung als sie auf die andere Seite des Rücksitzes sah. Ihre Atmung setzte aus. Ein starres Augenpaar blickte sie hinter wirren schwarzen Strähnen an. Rue. Er saß auf dem Rücksitz. Es dauerte etwas bis sie es verinnerlichte und letztlich auftauen ließ. „Setz' dich.“, forderte Rue sie auf und sie kam langsam seiner Anweisung nach. Watari schloss die Türe und sie schnallte sich angsterfüllt an. Sie wagte es nicht in Rue seine Richtung zu schauen. Viel zu sehr bangte es in ihr. Würde nicht nur gleich ihr Großvater von ihrem Misserfolg erfahren, sondern Rue gleich mit. Was tat er eigentlich hier? Wollte sie das wirklich wissen? Die Fahrertür öffnete sich und ihr Großvater setzte sich an seinen üblichen Platz. Jedoch setzte das Motorengeräusch nicht ein. Was ging hier vor sich? „Es ist an der Zeit, Shaelyn.“ Unmittelbar sah sie panisch zu ihm hinüber und kreuzte seinen ernsten Blick. Wofür war es an der Zeit? Rue öffnete seinen Mund. Kapitel 28: Veränderung ----------------------- Rue öffnete seinen Mund. Sekunden der Angst. Sekunden in denen eine grausame Vorstellung die nächste jagte. Was würde Rue ihr sagen? Konnte es noch viel schlimmer kommen? „Ich bin zu einer Erkenntnis gelangt.“, begann er und starrte sie unbeirrbar an. Ihr fehlte augenblicklich die Luft zum Atmen. Welche Erkenntnis? Shaelyn konnte nicht sagen, ob sie dieses mal seine dunkle Stimme wirklich hören wollte. „Meine Haltung dir gegenüber, Shaelyn, war nicht korrekt. Dafür möchte ich mich offiziell entschuldigen.“ Ein stiller Moment verging. Fassungslos blickte sie in sein blasses Gesicht. Ein Augenblick, in dem sie versuchte seine Worte zu realisieren. Worte vollkommen ohne Emotion. Worte ohne einen Wimpernschlag. War das hier echt? Eine Entschuldigung? War es die Wahrheit? Sie öffnete ihre Lippen, doch kam nichts über jene. In ihrem Kopf war völlige Leere. Verwirrt zog Shaelyn ihre Augenbrauen zusammen. Schließlich siegte ein Gedanke. „M-Meinst du das ernst? Die Entschuldigung. War sie ernst gemeint?“, fragte sie heiser, als sie versuchte den Kloß in ihrem Hals herunter zu schlucken. Konnte sie sich seiner Worte schon sicher sein, selbst wenn er es bejahen würde? Rue zeigte keine Regung – schien er in Gedanken versunken zu sein. Musste er tatsächlich erst darüber nachdenken? „Ja.“, folgte es schließlich wohl überlegt und ebenso sicher, was sie wiederum verunsicherte. Konnte sie nun einfach seine Entschuldigung annehmen? Sie spürte noch immer den tiefen Schmerz in ihr. Etwas, was sie nicht einfach ignorieren konnte. Was Rue getan hatte war sehr verletzend gewesen. War er so skrupellos? Erwartete er nun, dass sie ihm wirklich verzieh? Wie sollte er das wieder gut machen? Oder … wollte er das gar nicht? War das die traurige Realität? „Shaelyn.“, schüttelte ihr Großvater sie regelrecht mit ihrem Namen wach, sodass sie nach Vorn sah. Watari blickte sie warum durch den Rückspiegel an. „Du solltest Ryuzakis Entschuldigung annehmen.“ Abermals fragte Shaelyn sich ob das alles wirklich passierte. Ihr Großvater ergriff das Wort? Und er riet ihr, dass sie ihm einfach so verzeihen sollte? Rasch warf sie Rue einen Seitenblick zu - jener sie noch immer anstarrte. Unerschütterlich mit seinen dunklen Augen; als wartete er ganz auf ihre Antwort. Ihr Herz tat einen Sprung. „I-Ich weiß nicht...“, meinte sie weiter zaghaft. Ihr war absolut nicht wohl. Völlig überfordert, wusste sie nicht wohin mit ihren Gedanken und Gefühlen. Natürlich wünschte sie sich von Herzen eine Versöhnung – aber es blieb die Angst erneut enttäuscht zu werden. Würde er es noch einmal tun, wenn ihm danach war? Zählte das? Sie wünschte sich doch, dass er auf sie zu kam. Ihr ganzes Ich sehnte sich nach ihm. Jeder weitere Tag ohne ihn war unerträglich. Ganz egal was ihr Verstand sagte, wie blind sie war – sie wollte auf ihr Herz hören. War doch Rue es, der ihr Herz so hoch schlagen ließ. Wie in diesem Moment. Rue bewegte sich leicht, was sie etwas aus der Starre löste. Stumm beobachtete sie wie er sich für einen Moment richtig hinsetzte, nur um in seine rechte Vordertasche zu greifen. Mit geschlossener Hand holte er etwas hervor und hielt ihr kurze Zeit später jene entgegen. „Ich schenke es dir.“ Shaelyn zögerte. Besah zunächst seine Hand, ehe sie langsam ihre Handfläche darunter hielt. Was wollte er ihr schenken? Vor allem jetzt? Die Antwort befand sich schon in der nächsten Sekunde auf ihrer Handfläche. Verwirrt blinzelte sie einmal bevor sie es erkannte. Und schließlich bescherte ihr dieses kleine Geschenk tatsächlich ein kleines Lächeln. Eine, in buntem Papier gehüllte, Süßigkeit lag auf ihrer Handfläche. War es wirklich das, was sie sich dachte? Hatte er es so lange in seiner Tasche aufbewahrt? Das würde an ein Wunder grenzen. „Ist das … ?“ „Ja.“ Ja, es war das Vanillebonbon von Silvester. Das, was er ihr unter keinen Umständen geben wollte und erbittert verteidigt hatte. Und er hatte es bis heute nicht gegessen. Shaelyn umfasste das Bonbon und blickte zu Rue auf, der wie gewohnt einen Daumen an seinen Mund führte. Natürlich sagte sein Gesichtsausdruck nichts aus. Allerdings dafür sein Geschenk umso mehr. Dieses Bonbon war eine schöne Erinnerung. Auch wenn es wohl für einige nicht verständlich war. Es war ein Symbol, das auch er nicht vergaß. Ein Zeichen, das ihr etwas Hoffnung gab. Die Aussicht auf einem vielleicht besseren Start. Konnte Shaelyn von Vorn beginnen? Sah sie viele ihrer Fehler, wenn auch nicht alle. Es war an der Zeit für eine Veränderung. Und kamen solche Erkenntnisse nicht immer erst nach schlimmen Dingen? Sie hatte Rue überfordert. Zu Sachen gezwungen, die er so nicht wollte. Die Zeit sollte ab jetzt ihr Trumpf sein. Rue brauchte einfach nur mehr Zeit. Diese sollte er bekommen. Allerdings zweifelte sie an ihrer Geduld. Nicht, dass sie nach einem halben Jahr vollkommen verzweifelte und ihn irgendwann doch überrumpelte. Doch... für Rue war es wert zu warten. Egal wie lang das sein würde. Sie war demnach mehr als bereit Rue eine Chance zu geben. Es war das sanfte Lächeln von Shaelyn, das unmittelbar sein starkes Interesse weckte. Aufmerksam verfolgte er ihre Regungen - Die noch so kleinste Veränderung wurde wahrgenommen. Doch lag sein schnell schlagendes Herz nun an der Tatsache dass sie ihm verzieh, oder dass sie ihn anlächelte? Oder war es beides zugleich? Es war L suspekt – nach wie vor. Sicher war allerdings die Erleichterung die er verspürte. Ebenso wie den Schmerz in seiner Daumenkuppe, auf der unruhig gebissen hatte. „Ich kann dein Geschenk nicht annehmen, Rue.“, verließ es ihren Mund, was ihn überraschte. Hielt Shaelyn ihm dann ihre geöffnete Hand entgegen. „Warum?“, folgte es skeptisch von ihm. „Es ist ganz allein dein. Du sollst es vernaschen. Wann immer du es auch vorgehabt hast. Oder... ob du es überhaupt tust.“ … L unterband die Gedanken die sich einschlichen. „Wenn du willst, dann schenke mir etwas anderes. Aber das kann ich wirklich nicht annehmen.“ Fragend zog er eine Augenbraue an. „Was schwebt dir als Ersatz vor?“, fragte er salopp, obwohl er schon bedenkliches vermutete. Streckte L auch gleich seine Finger nach ihrer Hand aus. „Mir wäre ein Neuanfang lieb. Lass uns einen Neustart machen.“ Kurz hielt er inne und musterte ihr Gesicht. L wusste was das bedeutete. Shaelyn schöpfte Glauben. Eine Zuversicht, auf die er gut acht geben müsste. Trotz dessen musste er etwas zugeben: Shaelyn besaß Kampfgeist. Sie gab nicht auf. Sie gab ihn nicht auf. Seine Neugierde war geweckt. So nahm L sich die Süßigkeit mit den Worten: „Einverstanden.“ Es war ein stummes Versprechen an ihr. Es gäbe eine Möglichkeit auf eine gemeinsame Zukunft. L konnte nicht einschätzen ob es gut oder schlecht für ihn war. Shaelyn freute sich. Endlich wieder, weshalb sie breiter Lächelte. Es war nicht nur die Erleichterung und Freude, die sie überwältigte. Wenn sie im nächsten Moment nicht an die Schule dachte. Eigentlich hätte sie keinen Grund sich nun zu freuen. Schließlich musste sie von ihrem Versagen in der Schule berichten. Schnell wandte sie sich ab und kratzte sich beschämt an der Wange. Papier raschelte, ein Schmatzen war zu hören und ließ sie nicht daran zweifeln, dass gerade Rue Süßes verputzte. „Keine Sorge.“, war es dann nach einem Schmatzer zu hören, sodass sie in seine Richtung blickte. Rue leckte sich die rechte Daumenkuppe ab. „Wir sind bereits im Bilde.“ Über was? Sie brauchte einen Moment, bevor sie den Faden fand und es böse in ihr dämmerte. „Was... ?“, tastete sie sich vorsichtig heran. „Du hast die Aufnahmeprüfung nicht bestanden.“, meinte Rue entspannt. Ihr Herz setzte vor Schock eine Sekunde aus. Erschrocken stierte sie Rue neben sich an. Woher wussten sie davon?! Ihr Großvater? Panisch blickte sie nach Vorn. Ihr Großvater ließ nun den Motor an. „Opa... das...“ „Mach dir darum keine Gedanken, Shaelyn.“ Komplett verwirrt zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Jetzt hatte sie tatsächlich das Gefühl im falschen Film zu sein. War sie doch fest davon überzeugt gewesen, dass ihr Großvater enttäuscht sei. „Und... das ist nicht schlimm?“, wandte sie sich an ihren Großvater, der ihr einen kurzen warmherzigen Blick im Spiegel zuwarf. „Ryuzaki wird sich jetzt deiner annehmen.“ Verdutzt warf sie Rue ihren Blick zu – Er wirkte gelassen. „Ich denke, … das wird für dich kein Problem darstellen.“, meldete sich Rue zu Wort, woraufhin Shaelyn ihn prompt perplex anblinzelte. „Ja... ich meine Nein.“ Shaelyn war wirklich fassungslos. Jetzt war Rue ihr Lehrer? Wie lange würde er das machen? Nur für die Prüfungsaufnahme? Was sollte das alles bedeuten? „Und für wie lange, … Herr Lehrer?“ Wenn sie sich nicht versah, dann schienen seine Mundwinkel leicht nach oben zu wandern. Ob ihm das Spaß machte das sie ihn so nannte? Oder hatte das etwas anderes zu bedeuten? „Das werden wir feststellen müssen.“ „Und wann fangen wir damit an?“ „Sofort.“ Shaelyn lehnte sich ergeben gegen die Rückenlehne. „Sofort? Nicht Zuhause?“ „Nein. Wir werden zunächst einen kleinen Ausflug starten.“ „... und wohin?“ „Das wirst du noch erfahren.“ Baff öffnete sie ihren Mund. Wieso wurde sie das Gefühl nicht los, das bereits alles geplant war? Aber beschweren wollte Shaelyn sich sicher nicht. Immerhin versprach das jede menge Zeit mit Rue. Was er wohl alles wusste und ihr beibrachte? Wo sie wieder bei der bereits oft gestellten Frage war: Wie schlau war Rue? Sie musste es mit einem Genie zu tun haben. Watari bog in eine weitere Straße ein und Shaelyn versuchte gleich einen Anhaltspunkt für das Reiseziel zu finden. Das tat sie nun schon seit gefühlten Stunden. Wohin brachte Großvater sie? Oder viel mehr; sie und Rue. Und was konnte Rue gemeint haben? Bisher hatte er nicht mit seinem Unterricht begonnen. Also wartete er doch bis zum Ziel der Reise – das offensichtlich außerhalb der Villa lag. Shaelyn war nervös. Was würde sie erwarten? Sah sie immer höhere Gebäude. Ragten sie so hoch in den Himmel, dass sie nicht einmal das Ende von ihrer Fensterseite sehen konnte. Gingen unzählige Leute die breite Straße entlang. War sie in der Innenstadt? Noch nie hatte sie derart viele Menschen gesehen – noch diese großen Wolkenkratzer. Es gab noch so viel zu entdecken und es war überwältigend. Führte der Weg jedoch weiter, vorbei an den gewaltigen Gebäuden, den Massen von Menschen, geradewegs in eine ruhigere Gegend. Bäume säumten die Allee, in der ihr Großvater einbog. L. A. war doch ein seltsamer Ort. Gigantisch und vielfältig. Von den Villen in den Hills, über die unglaubliche Innenstadt und diesen fast parkähnlichen Ort, der aber keinesfalls einer war. Es war... wie ein großzügiger Platz. Das Auto fuhr langsamer und bog in die andere Seite der Straße ein, sodass Shaelyn ihren Blick auf jene Seite richtete. Unmittelbar fing sie das Starren von Rue ein. … Wie lange wurde sie schon von ihm beobachtet? Rue unterbrach sein Stieren nicht. Nein, er hielt es aufrecht. Es war ihm egal, ob sie ihn bemerkte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Dachte er nach? Shaelyn biss nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie war sich unsicher was sie sagen oder tun sollte. Oder sollte sie gar nichts tun? Er fing sie mit seinem Blick ein und ließ sie nicht gehen. Eine Flucht war unmöglich. Schien es fast so als wäre sie unfähig etwas anderes anzusehen. Stockend hob und senkte sich ihr Brustkorb. Das Atmen war schwerer geworden. Was wollte Rue? Im Grunde wollte L damit nichts bezwecken. Es war ein reines Beobachten. Allerdings reagierte Shaelyn fast wie in Trance darauf. Ihre aufkommende Aufregung konnte man ihr ansehen, rührte sie sich jedoch nicht. Shaelyn blieb still. Ein Umstand, der ihm etwas zu denken gab. Ohnehin gab es ein paar ungeklärte Fragen. Dessen Antworten er allerdings schon bald bekam. Schließlich trat der Detektiv in Aktion – aber niemals ohne einen bestimmten Grund. Der Wagen hielt. Das Ziel war somit erreicht, registrierte Shaelyn dies nur nicht. War ihre volle Aufmerksamkeit noch immer auf Rue seine Augen gerichtet. „Wir sind da, Shaelyn.“, merkte Rue unter seinem Starren an, sodass sie doch kurz irritiert blinzelte. „Auch wenn deine ungeteilte Aufmerksamkeit meinerseits für dein Lernen nur Vorteile schafft, solltest du es darauf beschränken.“ Shaelyn zog ihre Augenbrauen zusammen. Wie sollte sie das jetzt verstehen? „Du solltest dich auf das Wesentliche konzentrieren. Nur ein gut gemeinter Tipp.“, fügte er an, woraufhin sie schwach grinsen musste. Das Wesentliche? Rue war für sie das Wesentliche. „Das Lernen, Shaelyn.“, bekam sie den Verweis von Rue, als ob er ihre Gedanken lesen konnte. Was bei ihm kein Grund zur Verwunderung war. Ein Lächeln stand ihr im Gesicht. „Ja, was denn auch sonst?“ Natürlich wusste sie, dass er sich damit nicht ablenken ließ und er die Wahrheit kannte. Aber wenigstens gab sie ein klein bisschen Kontra. Bei dem ganzen Trubel hatte sie gar nicht bemerkt, dass ihr Großvater längst außerhalb des Wagens stand. Genau genommen an ihrer Tür, die er vorsichtig öffnete und ihr seine Hand entgegen hielt. Wie es sich eben als wahrer Gentleman gehörte. Demnach fasste sie nach seiner Hand und stieg aus dem Wagen. Gleich wusste sie, worauf der Ausflug abzielte. Ein riesiges Museum, an dessen Pforte die amerikanische Flagge im lauen Wind wehte. Was hätte sie auch anderes erwarten können? Es wäre der beste Ort für ein paar freiwillige oder unfreiwillige Unterrichtsstunden. Erfreut lächelte sie. Es wäre wohl das erste Mal, dass sie sich freiwillig und gern unterrichten ließ. Ob ihr Großvater mitkam? Ein Blick zu jenem und er schenkte ihr einen freundlichen Gesichtsausdruck. „Ich wünsche dir einen angenehmen Vormittag und zögere nicht Ryuzaki um Hilfe zu bitten.“ „Danke...“ Ihre Frage wurde somit beantwortet. Ein ganzer Vormittag allein mit Rue. Wenn das nicht vielversprechend war, dann wusste sie auch nicht weiter. Die perfekte Gelegenheit sich in Geduld zu üben. „Wir haben wenig Zeit zur Verfügung. Daher sollten wir anfangen, Shaelyn.“, kam es plötzlich von der Seite, sodass Shaelyn prompt zu Rue blickte. Wenig Zeit... ? L ging voraus. Es blieben exakt zwei Stunden und neununddreißig Minuten. Bis dahin sollten die wichtigsten Dinge erklärt und verinnerlicht werden. Zumindest fürs Erste. „Halt! Warte doch mal!“, rief Shaelyn ihm nach. Der Detektiv wandte sich mit dem Oberkörper um und konnte beobachten wie sie die Treppen hastig hinaufstieg um zu ihm aufzuschließen. „Was soll das heißen; wenig Zeit?“, fragte sie als erstes aufgeregt, als sie eine Treppenstufe unter ihm zum Stehen kam. „Die Zeit ist begrenzt.“, antwortete er geradeheraus und sie verzog das Gesicht. „Ja... das weiß ich auch. Aber wieso?“ L hob einen Finger an, sodass sie aufmerksam darauf blickte. „Es gibt noch andere Dinge zu erledigen.“ Direkt starrte sie ihn wieder an. „Das klingt gar nicht nett... so wie du das gesagt hast.“ „Wir sollten die verbliebene Zeit nutzen.“, verließ es knapp seinen Mund und überging somit ihre Anschuldigung, steckte die Hand wieder in die vordere Hosentasche und wandte sich nach Vorn. Eine Diskussion mit ihr zu beginnen war keine gute Idee. Jene Diskussionen führten meist zu Problemen, die er gern vermeiden wollte. Und es blieb erstaunlich ruhig. Keine Wiederworte. Shaelyn folgte ihm still ins Gebäude. Shaelyn drückte das Band der Umhängetasche fest in ihrer Hand zusammen. Es kostete sie einiges an Beherrschung nicht Zunder auf seine provokative Antwort zu geben. Jedenfalls empfand sie es als provokant. Schon der Satz, er habe noch andere Dinge zu erledigen, klang überhaupt nicht nett. Als sei sie ein weiteres 'Ding', was man auf der Liste abhaken müsste. Oder war es gerade nur die Wut, die ihr das einredete? Immerhin war sie neugierig und wollte wissen was er noch vor hatte. Es kam selten genug vor, dass er sagte, er müsste etwas erledigen. Und sie wusste auch immer noch nicht, was er so erledigte. Sie musste seufzen. Um ihren neu gefassten Plan in die Tat umzusetzen, brauchte es nun einmal Ruhe. Sicherlich war es unmöglich immer ruhig zu bleiben, aber versuchen konnte sie es. Und war es nicht Rue, der ihr schon oft riet, sich in Beherrschung zu üben? Sie musste es endlich lernen – und natürlich nicht nur das. Rue kaufte die Einzeltickets und wies sie an ihm zu folgen. Bei dieser Gelegenheit besah sie die große Eingangshalle. Ihr stand sprichwörtlich der Mund offen. Nicht nur der gewaltige Innenraum, sogar auch der Boden war ein Blick wert. Sie konnte sich im hellen, fast weißen, Marmor selbst erkennen. Spiegelglatt, ohne nur einen Makel zog sich der gesamte Boden durch die Halle. Fast wäre sie auf die Knie gegangen und hätte den Steinboden einmal angefasst. „Ich sehe nichts Interessantes.“, kam es nachdenklich von der Seite und natürlich von keinem anderen als Rue. Shaelyn musste mit den Augen rollen und besah den gebeugten jungen Mann neben sich. „Also ich konnte da unzählige Bilder und Formen erkennen. Siehst du es nicht?“ Der Schwarzhaarige starrte sie nun skeptisch an. „Nein. … Aber vielleicht sollte man deine Augen noch einmal untersuchen lassen. Nur zur Vorsicht.“ „Nein, das liegt einfach nur daran, dass du gar keine Fantasie hast.“ Shaelyn erinnerte sich da gern an die Wolken am Himmel. Sie musste grinsen. „Wenn man will, sieht man überall schöne Sachen.“ „Mit anderen Worten, du bist selbstverliebt.“, meinte Rue gelassen, woraufhin sie in Unverständnis die Augenbrauen zusammenzog. „Wieso das denn?“ „Ich sehe nur mein Spiegelbild auf dem Boden.“ Abermals musste sie seufzen. „Vergiss' es... Du weißt eigentlich ganz genau was ich meine.“ „Vielleicht.“ „Ganz vielleicht. Und waren deine Worte vor nicht gerade wenigen Minuten, dass wir keine Zeit haben? Immerhin hast du viel zu erledigen.“ Rue zog, aus ihrer Überzeugung bewusst, überrascht seine Augenbrauen an. „Richtig.“ Nach der kleinen Diskussion, ging Rue in eine Richtung, in der sie selbstverständlich folgte. „Wo liegt dein Hauptproblem?“, wandte er sich überraschend beim Gehen an sie. Shaelyn überlegte kurz. „Eigentlich alles. Die Verfassung aber schlimmer. Da blicke ich nicht richtig durch.“ Rue blieb urplötzlich stehen, sodass sie fast stolperte als sie es ihm gleich tat. Er deutete auf ein großes Bild. Sie sah es sich aufmerksam an. Ein altes Gemälde, auf der lauter Menschen aus der Renaissance Zeit etwas zu diskutieren schienen. Dieses Bild hatte sie auch in ihrem Geschichtsbuch gesehen. „Du solltest dir ab jetzt Notizen machen.“, gab er ihr den Hinweis, den sie sich zu Herzen nahm. Aus ihrer Umhängetasche kramte sie den kleinen Notizblock und fischte sich einen Kugelschreiber aus der Mappe. Bereit für Notizen, blickte sie ihn ernst an. „Ich bin bereit, Herr Ryuzaki.“ Natürlich war seine Reaktion diesmal anders: Er starrte sie schlicht an. Immerhin hatte sie ein wenig Spaß daran gefunden. Er begann mit den grundlegenden Dingen und es entwickelte sich mehr wie ein Frage- und Ratespiel, als dass Rue direkt mit den Antworten heraus rückte. So zog es sich fast anderthalb Stunden hin und ihr Notizblock sah nie unordentlicher aus. Ständig wurde etwas gestrichen, an den Seiten eilig etwas hineingekritzelt und letztendlich doch wieder gestrichen. Entnervt und schon mit leichten Kopfschmerzen bestraft, setzte sie sich auf einer der Banken im schier endlosen Museum. „Eine Pause bitte.“, ächzte Shaelyn, während sie ein paar verirrte Strähnen aus dem Gesicht wischte. In diesem Augenblick wurde ihr das Notizbuch aus der Hand gerissen. Überrascht blickte sie zu Rue an ihrer Seite hinüber, der ihre teilweisen unleserlichen Texte überflog. Vorsichtig strich er mit den Fingerkuppen über die aufgeschlagene Seite. Er dachte wohl nach. Das nahm Shaelyn jedenfalls an. „Es sieht ganz danach aus, als wäre die Stunde erfolglos verlaufen.“ Man konnte sogar Unzufriedenheit aus seiner Stimme entnehmen. Shaelyn war sich allerdings keiner Schuld bewusst. „Sei nicht so streng. In der Zeit hast du so viel von irgendwas gesprochen, dass ich nicht mitkam.“ „Irgendwas. Ich verstehe.“, ließ er grübelnd nachklingen und bedachte sie mit einem fast strafenden Blick. Shaelyn zuckte mit den Schultern. „Du verwirrst mich. Kaum habe ich eine halbwegs richtige Antwort gegeben, beginnst du mit Neuem. So schnell kapier ich das einfach nicht.“, gab sie ehrlich von sich. Sie wollte ja lernen. Und liebend gerne von ihm. Aber er war zu schnell. Viel zu viel in der kurzen Zeit. Er konnte und wusste viel. Aber zum Lehrer schien er nicht geboren zu sein. „Ich...“, begann sie entschuldigend und nahm mit Bedacht, und unter genaues Beobachten seinerseits, das Notizbuch wieder an sich. „will es ja können. Ich freue mich, dass du mir das beibringst. Aber ich brauch Pausen.“ Shaelyn lehnte sich etwas vor und besah ihn weiter von der Seite. Er entgegnete ihr mit einem nichtssagenden Ausdruck. Doch ein Lächeln zierte ihr Gesicht. „Wenn du also einverstanden bist, lass' uns das langsam angehen. Mir bleibt ja noch genug Zeit für die nächste Prüfung.“ Sie ließ kurz Stille einkehren, ehe sie erneut den Mund öffnete. „Hiermit verspreche ich, dass ich die nächste Prüfung dank deiner Hilfe ohne Probleme schaffen werde. Klingt das ausreichend genug für dich?“ Rue hatte ihre ganzen Worte mit Aufmerksamkeit verfolgt. Anscheinend dachte er über all das nach, denn eine Antwort von ihm brauchte einen Moment. „Und in dem Fall, dass du es nicht schaffst?“ Überrumpelt blinzelte sie einige Male. „Werde ich schon nicht. Und wenn doch...“ Jetzt überlegte sie selbst angestrengt. Was fragte er auch danach? Und wenn er so misstrauisch war, dann überließ sie ihm die Wahl der Strafe. „Dann kannst du dir eine Strafe ausdenken. … Naja. Ich denke, das enttäuschte Gesicht von meinem Opa wäre Strafe genug...“ Shaelyn sah auf den makellosen Boden, in dem sich die gläserne Kuppel über ihr spiegelte. Natürlich wäre ihr Großvater total enttäuscht und das allein würde ausreichen. Sie wollte ihn nicht noch einmal hängen lassen. Ihr Fehlschlag heute nagte an ihr. Wie sie so hatte durchfallen können. Der Blick des Lehrers war beschämend gewesen und die ständigen Gedanken an Rue. Vor wenigen Stunden noch saß sie völlig fertig in der Bibliothek und weinte. Plötzlich war das Gesicht von Joel vor ihrem inneren Auge. Sie fühlte gleich seine Arme um ihren Körper. Direkt strich sie sich unwohl ihren linken Arm. Es war falsch gewesen Joel so nah an sich heran zu lassen. Es fühlte sich an, als habe sie etwas sehr schlimmes getan. Dabei hatte er sie nur trösten wollen. Aber es war so, als hätte sie Rue hintergangen. Shaelyn kannte dieses starke, seltsame Gefühl nicht. „Shaelyn.“, sprach L die sichtlich abwesende Shaelyn an. Da gab es weiterhin etwas, was sie beschäftigte. Shaelyn verheimlichte ihm was. Sie blickte ihn beklemmt von der Seite an, ehe sie versuchte es zu kaschieren. Ein aufgezwungenes kleines Lächeln lag auf ihren Lippen. „Schon gut. Ich dachte nur an... den Test und Opa.“ Sie war eine ausgesprochen schlechte Lügnerin. „Gibt es etwas, was du mir sagen willst?“, fragte er ohne Hemmungen, woraufhin sie seinem Blick auswich und sich unsicher einige schwarze Haarsträhnen hinters Ohr strich. „Ehrlich gesagt will ich nicht darüber reden. Wäre das okay?“ L gab sich damit nicht zufrieden. Wenn sie Probleme hatte, was sie ganz offensichtlich hatte, sollte sie darüber sprechen. Belastungen ließen sich nicht durch reines Schweigen lösen. Zumindest galt dies für Shaelyn. Sie sollte sich auf ihre schulischen Leistungen konzentrieren. „Ich denke nicht, Shaelyn.“ Die Engländerin blickte traurig zu ihm hinüber. Ein Umstand, der ihn weiter misstrauisch werden ließ. Es hatte deutlich etwas mit ihm zu tun. Das sagte nicht nur seine Spürnase. „Es ist ja sowieso sinnlos dich davon überzeugen zu wollen, dass alles halb so wild ist. Aber ich möchte wirklich nicht darüber sprechen. Bitte akzeptiere das.“ Ihre Worte waren klar. Sie war nicht bereit über das Problem zu sprechen. Und wenn der Detektiv in solch einer Situation ohnehin nicht schon genug überfragt war, trieb ihn seine Neugier weiter dazu nachzuhaken. L konnte es nicht für sich beruhen lassen. Vor allem da er selbst involviert schien. Shaelyn fühlte sich zunehmend in die Ecke gedrängt. Rue würde wohl nicht aufhören nachzufragen. Sie konnte es sogar etwas verstehen. Immerhin wollte sie auch wissen was los war, wenn ihn etwas beschäftigte. Oder sogar bedrückte. Was bisher nur einmal vorkam, aber es änderte nichts daran. Doch trug sie tiefe Angst in sich. Was, wenn sie davon erzählen würde? Käme er sich dann betrogen vor, weil sie ihr Versprechen gebrochen hatte? Aber war es nicht das Mindeste ihm davon zu erzählen? Sie wollte ihn nicht kränken. Und eigentlich hielt sich sich an ihre Versprechen. Dass Joel ausgerechnet auf diese Schule ging, konnte sie unmöglich vorher wissen. Es hatte sie auch nie interessiert wo er zur Schule ging. Er war ein Freund mit dem sie hin und wieder sprach. Außerdem war Schule nie ein Thema, über das man gerne sprach. Wie sollte sie es also wirklich vorher wissen? Dann ließ er sich ebenso wenig abschütteln wie Rue. Nein, eigentlich war Rue der schlimmere, aber Joel war mit seiner Freundlichkeit kaum abzuwehren. Sie müsste ihn heftig vor dem Kopf stoßen. Und das hatte er nicht verdient. Was sollte sie tun? Was verlangte Rue von ihr? Er erwartete noch immer eine Antwort. Still beobachtete er sie. Shaelyn wäre wohl niemals in der Lage etwas vor ihm zu verheimlichen. Sie spürte die Schuld ihm gegenüber. Von Anfang an wusste sie, dass die Zeit dafür kommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Und jene war natürlich sehr schnell gekommen. „Lass uns das bitte woanders klären, okay? Nicht hier im Museum. Wenn wir Zuhause sind, dann sag ich dir was los ist. Wärst du damit einverstanden? Ich sage dir alles, was du wissen willst.“, sagte sie langsam und mit viel Unwohlsein. Welches sich nicht besserte. Denn Rue rührte sich nicht. Nicht einmal ein Blinzeln war zu sehen. Dachte er wieder einmal nach? Aber was hätte er für eine Wahl? Er konnte sie schlecht zwingen gerade hier und jetzt davon zu erzählen. Doch über was musste er so nachdenken? Und das wieder an diesem einen Tag? Unsicher kaute sie auf ihrer Unterlippe. Spannung baute sich auf. Und das mit jeder weiteren schweigenden Sekunde. Und endlich schien er antworten zu wollen, weshalb sie auf seine Lippen sah. Plötzlich begann der Boden zu vibrieren und die Bilder an der Wand klapperten. Auf der Stelle riss Shaelyn ihren Kopf um und klammerte sich an die ebenso bebende Bank. Ein paar Menschen schrien erschrocken auf. Blickte sie sich panisch um und konnte kaum auf der Bank ruhig sitzen. Unerwartet wurde sie am Oberarm gepackt und auf die Beine gezogen. Sie blickte voller Furcht in das konzentrierte Gesicht von Rue, der vor ihr stand. Ohne weiter darüber auch nur nachdenken zu können, fasste er schließlich ihre Hand und zog sie eilig mit sich. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Was passierte hier?! Sie hatte Mühe sich richtig auf den Beinen zu halten. Im Freien angekommen, und das keine zwei Minuten später, stoppte Rue. Wie auch all die anderen Menschen, die aus dem Gebäude geflüchtet waren. Das Beben war langsam vereppt. Shaelyn schnaufte extrem aufgeregt und außer Atem. Rue war so schnell gewesen, dass ihre Lungen weh taten. Allmählich klärte sich ihr Verstand. War das ein Erdbeben gewesen?! So plötzlich, ohne auch nur eine Vorwarnung! Sie dachte, gleich würde alles einstürzen! Was war Kalifornien für ein fürchterlicher Ort?! Shaelyn sah sich um und erkannte noch ein paar andere, die so in Panik geraten waren. Kleine Kinder weinten und hielten sich an ihre Mütter fest. Und unter all den aufgeregten Menschen wirkte Rue fehl am Platz. Er war sehr gefasst, als wüsste er einfach damit umzugehen. Als wüsste er genau, was man machen müsste. Er hatte die Situation sofort erkannt und gehandelt. „Was... was war das?! Ein Erdbeben, oder?“, wandte sie sich an Rue, der vor ihr stand. Natürlich war es eines gewesen, aber sie konnte es kaum fassen. Es ging so schnell. Es kam so unerwartet. Rue richtete sein Augenmerk nun auf sie. „Ja.“ „Das... ist ja schrecklich.“, hauchte sie noch immer mit rasendem Herzschlag. In England war so etwas nie vorgekommen. Da hörte man es aus Nachrichten und Zeitungsberichten. Aber hautnah ein Erdbeben zu erleben war unglaublich. Und sicher kein Ereignis, was man gern erlebte. „Kein Grund zur Sorge.“, sagte Rue und es stieß gleich auf Unverständnis bei ihr. „Wie? Also ich fand das schon sehr besorgniserregend! Da wünsch' ich mir mein England zurück!“ „Das war ein sehr schwaches Erdbeben. Und hier nicht unüblich, Shaelyn.“ Seine dunkle Stimme war ruhig und sein Blick teilte ihr ebenso Gelassenheit mit. Dennoch war sie noch zu sehr durch den Wind. „Was soll das heißen? Das kommt hier mal öfter vor? Und noch sehr schwach? Das fand' ich gar nicht!“ „Richtig. Du solltest dich daran gewöhnen. In der letzten Nacht gab es ein kleines Vorbeben.“ Davon hatte sie gar nichts mitbekommen. War das möglicherweise genau dann, als sie ein wenig schlafen konnte? Sicher. Sonst wäre sie voller Panik nach unten gerannt und hätte nach Rue gesucht. Aber es musste wirklich ein kaum vorhandenes Beben gewesen sein. Bei dem leichten Schlaf wäre sie sicher sofort aufgeschreckt. Ob sie sich je daran gewöhnen könnte? Es klang, als wäre ein Erdbeben alltäglich. War es das hier? Die Menschen um sie herum wirkten nicht so als wäre es so häufig. Shaelyn versuchte sich zu beruhigen. Als sie dann nach ihrer schief sitzenden Tasche greifen wollte, fiel ihr schließlich etwas auf. Irritiert starrte sie auf die Hand von Rue, die ihre noch immer hielt. War er doch nicht ganz bei der Sache? Er hätte doch sonst sicherlich bemerkt, dass er sie noch immer an der Hand hielt. Beschweren wollte Shaelyn sich bestimmt nicht. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie am liebsten von ihm in den Arm genommen werden. L rechnete jeden Moment mit einem minimalen Nachbeben. Das mit garantierter Wahrscheinlichkeit auftreten würde. Weshalb er auf der Hut war, jedoch Shaelyn nicht davon unterrichtete. Er musste ihre Panik nicht noch steigern. „Du guckst so konzentriert...“, ließ sie anmerken und L hob eine Augenbraue an. Sie musterte sein Gesicht genau. Offensichtlich rätselte sie, was ihn beschäftigte. Ehe der Grund wieder erzitterte. Ein kurzes und einmaliges, aber deutliches, Beben. Ebenso deutlich wie ihr überstürzter Überfall um seinen Hals. Panisch drückte sie ihr Gesicht gegen seine Brust und atmete schwer. Für einen Moment erstarrte er. Sie suchte Sicherheit bei ihm. In diesem Fall verwehrte er ihre Nähe nicht. L belog sich wieder einmal selbst. „... Ich will wieder Heim.... nach England.“, nuschelte sie angsterfüllt, das ihn augenblicklich zum Nachdenken anregte. L konnte ihre Aussage verstehen. Ihre Heimat war frei von derartigen Katastrophen. Heimat. Ein Wort, das er selbst seit einiger Zeit nicht mehr so betrachten konnte, wie er es jetzt tat. Das Erdbeben war ein Anstoß. Dennoch war Shaelyn es, die ihm dieses Wort anders nahe brachte. Die Bedeutung war simpel und auch nie ein Gedanke wert gewesen. Und trotz dieser einfachen Bedeutung nahm es eine andere Sichtweise bei ihm an. Shaelyn lehrte ihm die richtige Betrachtungsweise. L zog seine Augenbrauen leicht zusammen. Ein befremdlicher Gedanke. Ein Klingeln riss sie und Rue aus den Gedanken. Gleich fasste er an ihren Oberarm und zeigte ihr, dass sie loslassen sollte. Zögerlich folgte sie seiner Aufforderung und nahm widerwillig Abstand. Natürlich wollte sie weiterhin sein Herz an ihrem Ohr schlagen hören. Seine Wärme spüren und seine Geborgenheit genießen. Sie konnte sich bei ihm geschützt fühlen. Eine Stütze, bei der sie bei jeder Erschütterung sicheren Halt fand. Es war ihr schwer gefallen loszulassen. Rue griff in seine Hosentasche und holte sein Handy heraus. Shaelyn konnte sich denken wer jetzt anrief und verhielt sich ohnehin ruhig. Ihr Großvater hatte sich bestimmt Sorgen gemacht. Nach ein paar wenigen Worten war das Gespräch schon beendet, woraufhin Rue das Handy wieder wegsteckte. „Geht es Opa gut?“, fragte sie und fühlte sich unbehaglich. „Ja. Watari wird uns gleich abholen.“ Überrascht blinzelte Shaelyn. „Schon? Gehen wir nicht wieder rein und lernen weiter?“ „Nein. Wir werden es aufschieben müssen.“ „Aha... und wann kann ich wieder auf deine Hilfe zählen?“, hakte sie interessiert nach und sah mit an, wie er wieder seine Daumenkuppe an den Mund führte. „Gegen Abend ließe es sich einrichten. Genau wie ein weiterführen des Gespräches.“ Shaelyn schluckte gleich. Das war aber nicht das, was sie wollte. Er hatte es nicht vergessen – sie bei der Aufregung dafür umso mehr. Kapitel 29: Scherben -------------------- Es war vergebens. Alles was Shaelyn anfasste ging schief. Ständig fiel ihr etwas aus der Hand oder sie stolperte über ihre eigenen Füße. Seitdem Beben, und ohnehin dem Versprechen, konnte sie sich nicht konzentrieren. Hingen ihre Gedanken an die Worte, die sie bald aussprechen musste. Wie es Rue aufnahm? Nervös blickte sie auf die digitale Uhr auf ihrem Nachttisch. Der Abend näherte sich. Es fühlte sich wie ein Countdown an – dabei wusste sie nicht einmal wann genau er zu ihr kommen würde. Aber das änderte eben nichts an der Gewissheit, dass er kommen würde. Er wollte wissen was es war. Es machte sie vor Sorge ganz verrückt. Hatte sie sich doch eben erst mit ihm Versöhnt. Sie musste sich die Haare raufen. Das alles war doch viel zu kompliziert. Längst stieg sie nicht mehr durch. Machte das Gefühlschaos nicht schon so genug Ärger. Sie musste versuchen sich zu beruhigen. Das ging jedoch weder mit Fernsehen, Lesen oder dem kläglichen Versuch ein wenig Schlaf nachzuholen. Seit Stunden hockte sie regelrecht auf heißen Kohlen. Wo sollte sie anfangen zu erzählen? Es klopfte und Shaelyn sprang augenblicklich vom Bettrand auf. Jetzt war wohl die Zeit gekommen! Sie musste hart schlucken. Vielleicht sollte sie einfach immer sofort sagen wenn etwas passiert war. Die Tür öffnete sich und sie hielt unbewusst den Atem an. Eine Person lugte hervor und Shaelyn blinzelte mit den Augenlidern. „E-Emma?“ Vollkommen verwirrt starrte sie auf die brünette junge Frau an ihrer Tür. Shaelyn hatte natürlich mit jemand anderen gerechnet. Ihre Freundin lächelte ihr entgegen. Allerdings versiegte das Lächeln schnell wieder und Emma betrat ganz das Zimmer. Nachdem das Schloss einrastete kam Emma auf Shaelyn zu. Fast grob wurde sie an den Schultern gepackt. Verstört warf sie Emma einige Blicke zu. „Wie geht es dir?!“, folgte es direkt von Emma. „... g-ganz okay. Was ist denn los?“, stotterte Shaelyn überrumpelt. „... Sicher? Mein Bruder war total in Sorge. Er hat mir von heute morgen erzählt! Wieso sagst du denn nichts? Was ist los?! Du hättest mich ruhig auch auf meiner Arbeit anrufen können“ Die Schwarzhaarige wandte gleich ihren Kopf von ihrer Freundin ab. Sicher musste Joel gleich davon erzählen. „Naja... schon gut. Es gab ein paar Probleme mit Rue. Wollte dich damit nicht stören... Du hast doch so viel um die Ohren, weil du einen Job hast.“ Nein. Wenn Shaelyn ehrlich war, dann lag es nicht nur daran. Es war, als wäre alles in Vergessenheit geraten. Somit auch Emma... „Ach Quatsch! Wenn du Probleme hast, sollst du mich doch sofort anrufen. Egal ob ich mitten in der Arbeit stecke. Ist doch nur ein kleiner Nebenjob...“ Überraschend wurde Shaelyn in die Arme geschlossen. „Ich bin immer da. Muss mir denn erst mein Bruder davon erzählen?“ Shaelyn erwiderte das Umarmen schwach. Sie musste unweigerlich an Joel denken, weshalb sie doch Abstand nahm. Ihr war unwohl, was natürlich Emma nicht entging. „Was ist denn los? Komm' wir setzen uns erst einmal.“, wies Emma an und setzte sich gleich als Zeichen auf das große Bett. Shaelyn setzte sich widerwillig daneben. „I-Ich hab nur bisschen Mist gebaut. Das war eigentlich schon alles...“ „... Shae, ich seh' doch, dass da mehr ist.“ Emma war eine gute Freundin. Und wenn sie extra herkam, würde Shaelyn auch alles erzählen. „Wegen Rue.“, begann Shaelyn , während sie sich ihren Arm strich und anschließend auf ihrer Unterlippe biss. „Das war klar. Was hat er wieder gemacht?“ Emma klang missmutig. Und irgendwie musste Shaelyn kurz lächeln. Worum sollte es sich sonst drehen? Es war immer Rue. „Es fing nach Neujahr an. Er ignorierte mich und ging mir aus dem Weg. Irgendwie so als wäre ich total fremd. Ich wäre niemand. Das hat ziemlich weh getan...“ Die Tränen in ihren Augen verrieten, wie sie sich fühlen musste. Emma legte behutsam eine Hand auf die ihre und drückte sie einmal. „I-Ich hab' versucht damit umzugehen. Das war schwer. Es hat nicht geklappt.“, endete die Schwarzhaarige mit einem tiefen Atemzug. Emma nahm ihre Hand von der ihrer Freundin und strich Shaelyn ein paar wirre Strähnen aus dem Gesicht. „Das war also los... aber Shaelyn, warum sagst du denn nichts? Du kannst immer mit mir reden. Wenn du willst, kannst du sogar bei mir schlafen.“ „Danke... aber ich habe das Gefühl ich muss hier bleiben. Hier bei Rue. Wenn ich gehe verliere ich ihn vielleicht ganz. Ich weiß nicht warum, Emma. Aber es ist fast so als müsste ich dran bleiben.“ Die Brünette schüttelte ihren Kopf leicht in Unverständnis. „Wie meinst du das?“ „Rue ist … scheu.“ Shaelyn setzte einen Moment aus und man sah ihr an, dass sie nach einem anderen Wort suchte. „Nein, er ist verschlossen. Wenn ich jetzt gehe, dann habe ich ihn verloren. Ich kann nicht aufgeben. Auch wenn er mir so weh getan hat.“ Als Antwort bekam Shaelyn ein breites Lächeln geschenkt, auf das sie kurz irritiert sah. „Du liebst ihn wirklich sehr. Hör mir jetzt gut zu, Shae.“, führte Emma aufheiternd an. „Du brauchst dir wegen nichts Gedanken machen. Du versuchst dein Bestes. Das, was du mit dir selbst vereinbaren kannst. Versuche nicht zurückzublicken, sondern nach Vorn. Hast du nicht gesagt, dass er schon ein wenig offener war? Sieh' mal. Vielleicht war sein Ignorieren eine Reaktion. Vielleicht weiß er selbst nicht weiter. Das tat er nicht ohne Grund. Aber sicher nicht um dir so zu schaden. Soweit habe ich das auch geblickt. Er hält seine Hand über dich. Eigentlich kann man schon meinen ihr habt eine Art Beziehung. Ihr seid euch nicht so fern wie du es vielleicht siehst. Ich hab' so was auch noch nie gesehen. Da ist was... anders. Verstehst du das, Shaelyn?“ Die Engländerin veränderte ihren Gesichtsausdruck im Sekundentakt. Vieles rauschte durch ihren Kopf. So wie es Emma beschrieb hörte es sich nicht verkehrt an. Wusste sie allerdings schon vorher, dass es einen Grund geben musste. Aber das Skrupellose hatte ihr Angst gemacht. Selbst wenn es ihm selbst nicht gefiel, so tat er es trotzdem. Ihr hat es geschadet und darauf nahm er, für sie eine lange Zeit, keine Rücksicht. Shaelyn verstand nicht warum. Es war immer das Warum. Warum erzählte er nichts? Sie seufzte und blickte in Emmas braune Augen. „Ich weiß. Aber das macht die Sache auch nicht besser. Eher schlimmer. Das ist kompliziert, Emma. Ich habe so viel darüber nachgedacht. Und jetzt ist es eh egal.“ Gleich hoben sich die Brauen von Emma an. „Was soll das heißen?“ „Rue hat sich heute entschuldigt. Wenn auch kurz, aber er hat es getan. Opa hat sicher auch was damit zu tun. Das war seltsam. Aber ich habe mich für einen Neustart entschieden. Ab jetzt werde ich es ruhiger angehen. Rue war auch einverstanden.“ Ein Seufzen war von Emma zu hören. „Ich hoffe für dich, dass es das Richtige ist.“ „Ganz bestimmt.“, kam es bestimmend von Shaelyn. Sie war sich sicher. Irgendwie musste es doch funktionieren. Irgendwie musste sie sein Herz doch erobern können. „Ach... wenn wir eh schon über den Kerl sprechen. Der hat mir vorhin die Tür geöffnet.“ „Rue...? Nicht Opa?“ Emma schüttelte ihren Kopf. „Der war nicht zu sehen. Nur der noch seltsamere Blick von Rue.“ Emma lachte kurz auf. Shaelyn jedoch kam ins Grübeln. Ihr Großvater war weg. Rue öffnete Emma einfach so die Türe? Nicht, dass er sonst wohl den Zugang verwehrt hätte. Aber sie selbst durfte heute nicht bei ihm sein. Nicht hören, was er Wichtiges zu tun hatte. Besuch war dann sicher unerwünscht. Wie erlaubte er dann Emma den Eintritt? Es war verwirrend. … Oder war es nur gut gemeint? Vielleicht erlaubte er es, weil er wusste, dass Emma ihr gut tat. Was sollte es auch anderes sein? „Shae.“, wurde sie von der Seite angesprochen, was sie aus den Gedanken holte. „Hm?“ „Mein Bruder meinte, dass du vielleicht mit ihm in eine Klasse kommst. Warum hast du nicht gesagt, dass du auf seine Schule gehst? Er freut sich.“ Shaelyn lächelte vorsichtig. „Das war Zufall... ich wusste ja selbst nicht, dass er auf diese Schule geht.“ „Ist doch gut, dann hast du jemanden, der dir alles zeigt und der Einstieg ist viel leichter. Auch wenn mein Bruder nicht so die Leuchte ist. Er hilft ja trotzdem gern und er hat viele Freunde dort. Auch ein paar Gesichter von der Party sind dabei.“, meinte die Brünette mit einem Lächeln und fügte leise hinzu: „Pass' nur auf. Auf der Schule sind ein paar Playboys. Auch wenn du praktisch vergeben bist, können die sehr aufdringlich sein. Besonders schmücken die sich gern mit hübschen Ausländerinnen.“ „Emma!“, folgte es gleich entsetzt von Shaelyn. Die Amerikanieren war sich keiner Schuld bewusst und zuckte mit den Schultern. „Sag nicht, ich habe dich nicht gewarnt. Aber man sieht dir doch an, dass du anders bist. Die schwarzen Haare, die grünen Augen, dein Name. Und vergiss' die Zwei anderen wichtigen Argumente für einen Playboy nicht.“ Shaelyn sprang entrüstet, und rot im Gesicht, auf und hielt sich die Arme vor der Brust. „Lass' das. Das hat niemanden zu interessieren -“ „Außer deinen Ritter in strahlend weißer Rüstung.“, lachte Emma ausgelassen und traf damit den Nagel auf den Kopf. Shaelyn grummelte leise vor sich her. Warum musste Emma gerade damit anfangen? Es war ihr unangenehm. Außerdem mochte sie es nicht, wenn Emma ihn so nannte. Das tat sie immer wieder mal um sie zu ärgern. „Lächel' doch mal. War doch nicht böse gemeint. Aber wenigstens kommst du auf andere Gedanken. Wieso warst du eigentlich so geschockt als ich ins Zimmer kam?“ Prompt verzog Shaelyn das Gesicht. Von einem unangenehmen Thema zum nächsten. „Ich habe auf Rue gewartet.“ „Warum das?“ „Weil.... weil ich ihm was zu beichten habe. Er hat's ja sowieso schon gemerkt und ich sollte es einfach sagen.“ Überrascht zog Emma beide Augenbrauen an. „Was denn?“, war die Frage und Shaelyn atmete einfach durch. „Na... dass Joel auf dieselbe Schule geht und... und...“ Pause setzte ein. Wenn es jetzt schon schwer über die Lippen zu bringen war, wie wäre es erst bei Rue? „Ich weiß zwar nicht, was schlimm daran sein sollte, dass du mit meinem Bruder auf einer Schule gehst... aber nun sag's schon.“ „Dass ich heute morgen von ihm getröstet wurde. E-Er nahm mich in den Arm und ich weinte halt.“ Nun war es an Emma, die einen Moment brauchte. In der Zwischenzeit setzte sich Shaelyn wieder, und das reichlich nervös. „Das... ist alles? Aber jetzt verstehe ich natürlich auch noch etwas von meinem Bruder...“, nuschelte die Brünette gegen Ende. „... Hm?“ „Ach, nichts.“, winkte Emma ab und hing kurz ihren Gedanken nach, ehe sie erneut ihren Mund öffnete. „Das ist doch nichts, was man gestehen muss, Shae.“ „D-Doch...“ Emma wusste nichts von dem Abkommen mit Rue. Und Shaelyn wollte es auch lieber nicht sagen. Es war Emmas Bruder. Außerdem würde Rue damit nur schlechter bei Emma dargestellt werden. Besser sie behielt es für sich. Es war ohnehin etwas zwischen ihr und Rue. „Hast du etwa mit meinem Bruder geknutscht?“ „Nein! Natürlich nicht.“ „Na also. Eine harmlose Umarmung. Er hat dich doch nur getröstet. Und selbst wenn du mit ihm rumgemacht hättest... Du bist Single. Da brauchst du dir keine Gedanken machen. Aber wenn du es ihm unbedingt sagen musst, weil du ein schlechtes Gewissen hast, dann mach' es. Hauptsache du fühlst dich danach besser. Und sieh' es mal so. Eigentlich hätte Rue dich trösten müssen. Mach' dir darum keine Gedanken. Du hast daran keine Schuld.“ „Hm... ja.“ L hatte genug gehört, weshalb er sein Programm für die Sprachanlage abschaltete. Längst war die Sonne untergegangen und hatte Platz für den Mond geschaffen als Emma sich verabschiedete. Shaelyn schloss die Haustür langsam und fühlte die aufkommende Aufregung. Es war schon fast Mitternacht. Sicherlich wartete Rue nur darauf, dass Emma verschwand. Jetzt, nachdem sie weg war, konnte er nur zu ihr kommen. All die guten Ratschläge und Worte halfen Shaelyn nun nicht weiter. Sie konnte nur an das Geständnis denken und auch der Gedanke, sie war ganz allein hier mit Rue in diesem großen Haus, besserte es nicht. Wenn etwas schief ging, war sie allein. Ihr Großvater konnte sie nicht trösten. Und sollte sie weiterhin warten? Vielleicht war es besser direkt auf ihn zuzugehen. Zögerlich nahm sie ihre Hand von der Türklinke und blickte in den geräumigen Gang hinter sich. Das kleine Licht an der Haustürwand erhellte nur etwas den Raum. Es hinterließ einen unheimlichen Schauer bei ihr. Dort hinten lag die Türe; im Dunkeln. Dort wartete er vielleicht schon. Wie ein Schlag holte sie eine alte Erinnerung ein. Der erste Tag an dem sie auf Rue traf. Es war auch dunkel. Sie konnte eine schwache Bewegung in der Schwärze wahrnehmen. Wie sehr sie sich damals gefürchtet hatte. Ein schwaches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Heute hatte sie auch Angst, jedoch aus völlig verschiedenen Gründen. Und was sollte es schon? Je länger sie zögerte, desto mehr verließ sie der Mut. Emma besaß recht. Eine Umarmung war nichts was man beichten müsste. Eigentlich. Leisen Schrittes näherte sie sich der Wohnzimmertür und horchte zunächst an dieser. Es war Stille und das für einige Momente. Gleich fragte sich Shaelyn, ob er überhaupt im Wohnzimmer war. Direkt öffnete sie die Türe und blickte in einen vollkommen düsteren Raum. Die Vorhänge waren zugezogen und ließen nicht einmal das Mondlicht hinein. „... Rue?“, ließ sie anklingen und es folgte keine Antwort. Ob er in einem anderen Zimmer war? Aber wo in dieser Villa? Oder war er womöglich im Garten? Wieso sollte er mitten in der Nacht im Garten stehen? Shaelyn war ernsthaft verwirrt. Sie konnte sich nicht für einen möglichen Ort entscheiden. Als sie zum Lichtschalter fasste, hielt sie urplötzlich inne. Was war, wenn er hier schlief? Sie würde ihn mit dem grellen Licht sicherlich wecken. Aber zumindest sollte sie die Vorhänge zur Seite schieben, weshalb sie fast blind auf die erhellte Stoffwand zuging. Zwar kannte sie das Haus nicht ohne Licht, aber trotzdem hatte sie einige Erfahrungswerte, die ihr den Weg erleichterten. So ging sie vorsichtig voran und bekam die Sofalehne an ihrer linken Hand zu spüren, ebenso den Couchtisch an ihrem Bein zur rechten Seite. So war der Weg von der Tür bis zur Mitte des Raumes gemeistert. Wäre nicht ein leises Knirschen zu hören und dem einhergehen höllischer Schmerzen an ihrem linken Fuß. Prompt schrie sie kurz auf und trat aus Reflex einen Schritt zurück – was den Schmerz allerdings steigerte. Gleich setzte sie sich im Dunkeln auf das Sofa, hob ihren linken Fuß an und versuchte an die schmerzende Stelle zu fassen. Was war das gewesen?! Waren das Scherben gewesen?! Mit Tränen in den Augen bekam sie einen Splitter zu fassen und biss sich auf die Unterlippe. Was sollte sie jetzt machen?! Alleine das Anfassen bereitete ihr fürchterliche Schmerzen. Und weder war Rue noch ihr Großvater da. L war sich sicher gewesen einen Schrei gehört zu haben, weshalb er eine Sekunde inne hielt. Zweifellos war es einer gewesen. Und der Schluss war logisch – Er musste von Shaelyn stammen. Im nächsten Moment öffnete er seine Augen weiter. Augenblicklich ließ er von der kleinen Kammer in der Küche ab und eilte in Richtung Wohnzimmer. Er hätte sofort sein Missgeschick beseitigen müssen. Als er die Türe zum Wohnzimmer aufriss, fand er allerdings Dunkelheit vor. Ein leises Jammern klang jedoch durch die Dunkelheit. Kurz konfus darüber betätigte er sogleich den Lichtschalter. Und dort saß sie, hielt sich den Fuß und blickte quälend zu ihm hinüber. „Rue! D-Da bist du ja! Mach' was!“, rief sie verzweifelt. Ihr Fuß blutete offensichtlich, da ihr Socken Rot gefärbt war. Sie war in die Scherben getreten. Ohne einen weiteren Moment verstreichen zu lassen, lief L zu ihr hinüber und ging vor ihr in die Knie. Zunächst musste er sich die Wunde ansehen, bevor er weitere Vorkehrungen traf. Denn es kam ganz auf die Tiefe der Wunde an. „Zeig mir deinen Fuß.“ Zögerlich hielt sie ihm ihren verletzten Fuß hin und er fasste ihn vorsichtig an. Der Splitter war deutlich zu sehen, schien allerdings mehr breit als tief in das Fleisch zu schneiden. Ein Arzt musste er demnach nicht konsultieren. Er brauchte in jedem Fall Desinfektionsmittel und einen Verband. L war in diesem Moment Watari sehr dankbar. Der alte Mann sorgte für alles vor. Folglich blickte der Detektiv auf und kreuzte den besorgten Blick von Shaelyn. „Ist es schlimm?!“ „Nein. Allerdings brauche ich für deine Wunde einen Verband und Desinfektionsmittel.“ Shaelyn nickte gleich verständnisvoll. „Warte hier.“, meinte er als er aufstand und bekam sofort einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Ganz gleich: L ließ sie für eine kleine Weile auf dem Sofa sitzen und besorgte die nötigen Dinge. Grummelnd sah sie Rue nach. Sein Humor war manchmal wirklich unnötig. Was suchten überhaupt Scherben auf dem Boden? Jene musterte sie kurz auf dem Teppich. Es war ganz klar eine Tasse gewesen – zersprungen in viele Einzelteile. Irgendwie passte das nicht zu Rue. Unachtsamkeit war sicher keiner seiner Eigenschaften. Was also hatte das zu bedeuten? Auch schien sein ganzer Arbeitsplatz chaotischer zu sein als sonst. Der Laptop war aus, aber aufgeklappt, die Süßigkeiten teilweise über dem Tisch verteilt und einige Zuckerwürfel zu kleinen schiefen Türmen gestapelt. War das vielleicht ein Anzeichen? Ging es ihm womöglich schlecht? Oder beschäftigte ihn wieder etwas? Ein Piepen war zu hören und der Bildschirm des Laptops sprang an. Sofort neugierig, den Schmerz dabei etwas vergessend, blickte sie auf den weißen Hintergrund mit wenigen Symbolen. Da blinkte was, öffnete sich jedoch nicht. Überhaupt sah sie zum ersten Mal etwas auf dem Bildschirm. Aufregung überkam sie. Ob sie vielleicht mal gucken sollte? Ob da die Antwort all ihrer Fragen lag? Shaelyn haderte mit sich. Das wäre nicht in Ordnung und Rue wäre dann bestimmt erst recht sauer. Aber die Chance zu erfahren, was wirklich hinter all seiner Stille steckte, reizte sie. Es gab jedenfalls auf den ersten Blick keinen Anhaltspunkt. Sein Desktop war erstaunlich aufgeräumt. Bei ihm hätte sie mehr Unordnung erwartet. Nein, sie behielt ihre Finger besser bei sich. Sein Geheimnis war für sie natürlich sehr verlockend, aber sie riskierte besser nichts. Irgendwann war wohl Zeit für sein Geheimnis. Irgendwann würde sie es sicher wissen. Zumindest hoffte sie das stark. So saß sie ruhig auf dem Sofa, hielt sich den Fuß hoch und versuchte nicht an die Schmerzen zu denken, oder nicht auf den Bildschirm zu blicken. Es dauerte ein paar Minuten ehe Rue zurückkehrte – mit einem kleinen Kasten. Ohne ein Wort kniete er sich erneut vor sie, nahm ihren Fuß sachte in seine Hände. Es schmerzte schon als er vorsichtig an den Splitter fasste, und noch mehr als er ihn mit einem Mal herauszog. Shaelyn schrie vor Schreck und Schmerz auf. War er denn wahnsinnig einfach so den Splitter heraus zu ziehen?! Ehe sie etwas dazu sagen konnte, fasste Rue an ihren Socken und zog ihn langsam von ihrem Fuß. Für einen Moment vergaß sie den Schmerz als er mit seinen Fingern über ihren Fuß strich. Er schien sich kurz das ganze Ausmaß genauer anzusehen. Jedenfalls wirkte er nachdenklich und besaß sich die Wunde. Es war ein sehr stiller Moment. Und irgendwie hatte Shaelyn das Gefühl, das etwas nicht stimmte. Würde Rue nicht noch mehr sagen? Hätte er nicht auch vorhin etwas mehr gesagt? Als Rue nach dem Verbandskasten griff und etwas heraus holte, ließ Shaelyn es auf einen Versuch ankommen. „Rue... dein Laptop, der-“ Es war nicht einmal ein ganzer Satz gefallen und prompt wandte er sich zum besagten Gerät um. Gleich hob er seine Hand an und klappte den Laptop zu. Sein nachfolgender Blick ließ sie erstarren. Geradezu rutschte ihr das Herz in die Hose. „I-Ich hab' nicht geguckt oder so! Der ist vorhin einfach angegangen...“ Er schwieg dazu, was sie verunsicherte. Glaubte er ihr nun? Warum nur war diese Situation so seltsam? Er widmete sich wieder ihrem Fuß. „Ist etwas?“ „Gegenfrage. Hast du mir nicht etwas zu erzählen?“ Gleich saß ihr ein dicker Kloß im Hals. Natürlich... das. Als Rue mit dem Desinfektionsmittel die Wunde reinigte, sog sie scharf die Luft ein. Sie musste es sagen. Und war sie nicht genau deswegen hier? Aber sie wusste nicht wo sie beginnen sollte. Einfach direkt und ohne Umschweife? „... Weißt du noch das Abkommen? Auf der Party?“ Rue blickte nicht auf, hielt aber kurz inne. Leider war ihr die Sicht auf sein Gesicht durch seine vielen Haare versperrt. „Ja.“, folgte es nach einer kurzen Verzögerung. „I-Ich habe mich nicht dran halten können. Es... ist so.“, begann Shaelyn und zauderte den Namen jenes Amerikaners auszusprechen. „Joel. Er geht auf dieselbe Schule und -“ „Die Notizen stammen demnach von ihm.“, erklang seine ruhige Stimme, die sie mit viel Skepsis entgegen nahm. Es war eine laute Feststellung seinerseits. Allerdings klang er absolut nicht überrascht. Ob er es sich schon gedacht hatte? Aber woher denn? „J-Ja... Er wollte mir unbedingt helfen und hat sich nicht davon abbringen lassen. Und vielleicht komme ich mit ihm in eine Klasse...“ „War das alles, was du zu sagen hast?“, folgte es von ihm und diesmal blickte er auf. Seine Augen wirkten leer. Irritierte sie das und ebenso seine Frage. „Nein... und du darfst das nicht falsch verstehen! Ich fühlte mich so allein und da war jemand, der mich trösten wollte und... Er hat mich in den Arm genommen. Ich fühle mich immer noch furchtbar schlecht deswegen. … Aber es hat gut getan. Zumindest in diesem Moment. Es tut mir leid, Rue.“ Er brach den Blickkontakt ab, griff zum Verband in dem Kasten. „Schon gut, Shaelyn.“ „Nein! Das ist nicht gut. Ich war so fertig. Es tut mir leid. Ich habe das Gefühl dich betrogen zu haben.“ Ihr Mund war schneller als ihr Verstand, weshalb sie gleich den Atem anhielt. Rue stoppte, sah auf. „Das würde eine Beziehung voraussetzen, Shaelyn. Da wir keine unterhalten, ist deine Entschuldigung nicht nötig. Ich traf diese Vereinbarung mit dir, da ich Joel für keinen guten Umgang halte. Und du warst diejenige, die ein Neuanfang wollte. Alles davor ist nichtig. Somit auch unsere Vereinbarung.“ Seine Worte waren wie Steine in ihrem Herzen. Wie konnte er ihr so deutlich sagen, dass es zwischen ihnen nichts gab? Natürlich gab es das nicht. Doch die Wahrheit so unverkennbar auszusprechen tat weh. Sehr sogar. Wieder einmal war sie den Tränen nahe. L wickelte mit Bedacht den Verband um ihren Fuß. Sie würde anfangen zu weinen. Es war abermals seine Schuld. Und auch war er es gewesen, der sie in die Arme eines anderen trieb. Es war ganz sein Versagen. Er hätte es bedenken müssen. Die Möglichkeit, Joel könnte genau zur rechten Zeit aufkreuzen, war so gering, das selbst L es für unmöglich hielt. Und doch war es heute eine Tatsache. Eine, die so banal war, und ihn doch so aufwühlte. Was hatte er noch alles nicht bedacht? War Liebe so unberechenbar? Alles was damit in Verbindung stand war ein einziges Ärgernis. Kleinste Veränderungen trugen Spuren mit sich. Nachdem er fertig war, erhob er sich und betrachtete kurz das niedergeschlagene Gesicht von Shaelyn. Zögerlich fasste er ihr unter die Kniekehlen und legte einen Arm um ihren Rücken. Überrascht, und mit nassen Augen, blickte sie zu ihm auf. Er nahm sie hoch zu sich auf den Armen. „W-Was machst du da?“, schniefte sie. „Ich bringe dich auf dein Zimmer.“ „... Danke.“ Shaelyn war still. Die gesamte Zeit über als er sie trug. Einzig lehnte sie ihren Kopf an seine Brust, zog kaum fühlbar an seinem Shirt. Erst nachdem er sie sachte aufs Bett setzte, schien sie ihre Worte zu finden. „Es... tut mir leid, dass ich mich verliebt habe.“ Leise und doch hörbar drang es an seine Ohren. L überlegte kurz, ehe er sich zu ihr setzte. „Dafür musst du dich nicht entschuldigen, Shaelyn.“ Sie wandte sich ihm mit einem traurigen Gesicht zu. „Nein?“ „Und du musst dich nicht für deinen Versagen entschuldigen.“ Unsicher entgegnete sie seinem Blick. Sie war offensichtlich überrascht das zu hören. „Es war mein Fehler.“ Dies zuzugeben glich einer Niederlage. Doch schien es angebracht zu sein. Wurde er auch sofort mit einem schwachen Lächeln belohnt. „Ist das dein Ernst?“ „Ja.“ „Das heißt... du bist mir nicht böse? Auch nicht, das ich es verschweigen wollte?“ L knabberte in alter Manier an seinem Daumen. Er überdachte ihre Worte kurz. „Mir gefällt es zwar nicht, allerdings ist es akzeptabel. Du hattest deine Gründe.“ Ihr Lächeln wurde verlegen. „Danke, Rue. … Und eigentlich wäre ich viel lieber von dir im Arm genommen worden. Aber... das weißt du bestimmt.“ „Ja, ich weiß.“, antwortete er ruhig. Shaelyn blinzelte einige Male beschämt, blickte immer einmal zur Seite, ehe sie ihren Mund öffnete: „Weißt du … und es wäre noch nicht zu spät dafür.“ Der aufgeregte Stolpern in seiner Brust überschlug sich mit seinem Verstand. Unentschlossen blickte er auf den Boden. L konnte es nicht abstreiten. Er wollte sie in den Arm nehmen. Ein einfaches Bedürfnis und doch schwer zu erfüllen. Oder dem nachzugeben. Doch letztendlich siegte der Gedanke damit Joel auszustechen. Shaelyn würde fortan nur seine Umarmung in Erinnerung rufen. „A-Also?“ Shaelyn wusste nicht, ob es eine gute Idee gewesen war. Doch hatte sie so starkes Verlangen danach. Einfach nur eine Umarmung. Und doch eine Umarmung von dem Mann, den sie liebte. Man könnte es mit nichts vergleichen. „Einverstanden.“, kam es von der Seite und sie hätte beinahe ihren Ohren nicht getraut. Aufgeregt zupfelte sie an der Bettdecke und erwartete jeden Moment seine Nähe – was ausblieb. Er verharrte noch immer so auf seiner Position, wenn gleich seine Augen volle Aufmerksamkeit verrieten. Wollte er, dass sie sich näherte? Oder … traute er sich womöglich nicht? Verwirrt darüber, rückte sie schließlich etwas auf. „Du... musst schon richtig sitzen und... deine Arme...“ Ihre Nervosität war kaum auszuhalten. Besonders als er sich wirklich richtig hinsetzte. Rue tat so, als würde er nicht wissen was er tun müsste. Verrückt. Hatte er sie doch schon öfter im Arm gehalten. Er wusste doch, wie man es machte. Warum zögerte er? Dann, langsam, hob er seinen Arm an und legte ihn um ihren Rücken. Fühlte sie seine Wärme erneut und ebenso seine Stärke, als er sie sanft aber bestimmend zu sich zog. Gleich legte sie ihre Arme um seinen Hals, atmete seinen angenehmen Duft an seinem Nacken ein. Sein anderer Arm legte sich um sie, drückte sie weiter an sich, sodass sie seinen Oberkörper an ihrem fühlen konnte. Sie hätte ewig so in seinen Armen verweilen können. Kapitel 30: Von Früh bis Spät ----------------------------- Kritisch betrachte Shaelyn das Oberteil in ihren Händen. Sie wendete es einige Male. Eigentlich gefiel ihr das Shirt nicht. Doch Emma lächelte sie ermutigend an. „Das wird dir sicher stehen, keine Angst. Du solltest wirklich mehr Mut zur Farbe zeigen.“ Die junge Engländerin stand unschlüssig im Modegeschäft. Das grelle Gelb war nicht so ihr Fall. Emma nahm ihr das Oberteil ab und hielt es ihr an die Brust. „Guck doch. Das sieht toll aus. Probier es doch mal einfach an. Oder willst du es lieber in grün? Würde dir auch stehen. Passt zu deiner Augenfarbe.“ Unzufrieden verzog Shaelyn das Gesicht. „Kein Grün. Ich mag die Farbe gar nicht.“ Emma seufzte und legte das gelbe Oberteil in das Regal zurück. „Was ist passiert? Du bist schon die ganze Zeit so... komisch.“ Diesmal war es an der Engländerin zu seufzen. „Ich mag das Shoppen einfach nicht. Wir haben doch mal ein paar Klamotten gekauft.“ „Die reichen aber nicht ewig. Außerdem gibt es bei dir noch so viele Sachen auszuwechseln. Oder gefällt dir dieses graue, braune, mit Blumen verzierte niedliche Zeug wirklich so sehr? Dir würde so gut die heutige Mode stehen. Und es hatte dir doch schon gefallen als ich dich ein wenig herausgeputzt habe... Also kann es am Shoppen schon mal nicht ganz liegen.“, stellte Emma fest. Die Schwarzhaarige verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Freundin ließ nicht locker – und sie hatte natürlich recht. Aber Shaelyn dachte nicht, dass es so stark auffallen würde. Ergebend atmete sie durch. „Du hast ja Recht, Emma. Lass' uns aber erst mal aus dem Laden gehen.“ Zustimmend nickte Emma ihr zu und verließen das Geschäft. Auf dem breiten Gang der Shopping-Mall, suchte Shaelyn sich eine Bank, auf die sie mit Emma platz nahm. „Ist es wieder Rue?“, fragte Emma gleich, jedoch schüttelte Shaelyn ihren Kopf. Überrascht hob die Brünette ihre Augenbrauen an. „Was? Nicht?“ Irgendwie musste Shaelyn lächeln. Ja, es war mal nicht Rue. Mit dem sie zwar auch keine Fortschritte machte, aber es auch nicht Rückwerts ging. Wobei drei Wochen auch keine lange Zeit war. „Ich habe doch mit dem Führerschein angefangen.“ „Und es klappt nicht so, wie du es dir vorstellst?“, vervollständigte Emma vorsichtig. „Die Theorie ist überhaupt kein Problem. Aber gestern hatte ich meine erste Fahrstunde...“ Leidig warf sie Emma einige Blicke zu, die sie richtig zu deuten schien. „Du hast es voll vergeigt?“ „Und wie. Der Fahrlehrer war nachher total Niedergeschlagen. Irgendwie müsse ich mehr Gefühl dafür entwickeln. Aber ich bin so nervös und ich weiß ja auch nicht.“, gab Shaelyn leise zu. Es war ihr unangenehm. Warum gelang ihr nicht etwas auf Anhieb? Ein Lachen erklang neben ihr. Irritiert starrte sie auf Emma. Lachte sie sie aus? Eigentlich dachte sie so nicht von ihrer Freundin. „Aber Shae, das muss dich nicht frustrieren. Meine erste Fahrstunde war auch katastrophal.“ Verwundert legte Shaelyn ihren Kopf schief. „... Ja?“ „Aber ja! Mein Lehrer brach die Stunde sogar ab und meinte, er würde nie mehr mit mir in einen Wagen steigen. Ich sei zu... energisch.“ „Aber du kannst heute wirklich gut fahren. Also ich hatte keine Angst bei dir.“ Das wunderte sie wirklich sehr. Schließlich war sie heute mit ihr in die Stadt gefahren. „Siehst du.“, meinte Emma. „Alles eine Sache der Übung.“ Daran zweifelte sie. So blöd, wie sie sich angestellte hatte? „Mein Fahrlehrer sagte, ich brauche vielleicht ein wenig Zeit um ruhiger zu werden. Meine nächste Stunde ist also erst in zwei Wochen. Aber am liebsten würde ich gar nicht mehr hingehen.“ Obwohl sie natürlich gern den Führerschein haben würde. Aber sie hatte das Gefühl es wieder zu versauen. „Ach, das wird schon werden, Shae. Du musst es nur schaffen wollen.“ Emma lächelte ihr aufmunternd entgegen. „Aber wenn du von der nächsten Zeit sprichst. … Was hast du am Valentinstag vor?“ Vom Themenwechsel überrumpelt, blinzelte sie. „Hm? Ja... nichts.“ Was denn auch sonst? Rue würde sie sicher nicht mit einem Strauß roter Rosen empfangen und was mit ihr machen wollen. Alleine die Vorstellung war total absurd. „Dann komm zu mir. Ich lad' ein paar andere Singles ein und wir machen uns 'nen schönen Tag, oder Abend. Vielleicht gehen wir ins Kino.“ Skeptisch biss sich die Engländerin auf die Unterlippe. Ein paar andere Singles? „Wer denn?“ „Ach, das weiß ich noch nicht. Vielleicht ein reiner Mädelsabend. Die Jungs können einen schon mal den ein oder anderen Abend vermiesen.“ Bei diesem Argument brauchte Shaelyn nicht lange nachdenken. „Okay, ich komme.“, meinte Shaelyn lächelnd, ehe sie ihren Blick abwandte und begann an ihrer Tasche herum zu zupfen. Die aufkommende Frage interessierte sie schon länger. „Sag mal, Emma. … Willst du eigentlich keinen Freund?“ „Was? Oh nein. Zurzeit bestimmt nicht. Aber wenn ich mich verliebe, dann wohl schon. Aber bisher waren alle Scheißkerle. Ob ich nun mit ihm zusammen war, oder nicht. Also würde ich sagen... grundsätzlich bin ich glücklich als Single.“ Ob Shaelyn das auch wäre? Glücklich, wenn sie nicht in Rue verliebt wäre? Erschrocken japste sie nach Luft, als sie von Emma einen Klaps auf den Rücken bekam. Gleich blickte sie zu ihrer Freundin – die breit grinste. „Was soll die Frage, hm? Und vergiss deine Gedanken mal schnell. Man sieht dir ja gleich an, was du denkst. Es ist zwar bei dir kompliziert und zugegeben, dein Kerl ist schon gewöhnungsbedürftig, aber trotz allem ist er nicht verkehrt. Wenn du dir den gekrallt hast, Süße, dann wirst du ihn nie mehr los. Glaub mir.“ Die Engländerin begann schwach zu lächeln. Emma besaß Recht. Rue war nicht verkehrt – Er war eben anders. Und ob er wirklich für immer an ihrer Seite bleiben würde, wenn sie es geschafft hatte ihn für sich zu gewinnen? Bisher gab es keinen Grund über so etwas nachzudenken. Aber es war zweifellos ein schöner Gedanke. „Wie sieht's mit der Schule aus? Hast du nicht auch übermorgen den Aufnahmetest?“, wechselte Emma plötzlich das Thema, sodass Shaelyn verwundert aufblickte. „Ja.“ „Und? Kannst du den Stoff jetzt?“ Gleich nickte Shaelyn zufrieden. „Ja, schon. Ich habe mich ja oft genug hingesetzt.“ Shaelyn strich sich mit einem verlegenen Lächeln die Haare nach hinten, was Emma direkt mit einem interessierten Augenaufschlag aufschnappte. „Was ist los?“ „Hm... Nichts.“ „Komm schon.“, lachte Emma und stieß sie mit der Schulter an. „Naja,... Rue fragt mich morgen noch mal ab. Ich habe ihm versprochen, dass ich es schaffen werde. Eigentlich wollte ich mit ihm zusammen lernen... aber nachher dachte ich mir, er lenkt mich doch zu sehr ab. Also hab ich ihm gesagt, dass er sich keine Gedanken machen muss und er mich vorher kontrollieren kann.“, verriet sie ihrer Freundin mit einem Lächeln. Emma seufzte. „Kann es sein, dass er ziemlich was drauf hat?“ „... Da kannst du dich drauf verlassen. Ich könnte ihn alles fragen und er hätte auf alles eine korrekte Antwort.“ „Nicht schlecht, der Kerl.“, meinte Emma beeindruckt. Shaelyn begann zu grinsen. „Stimmt.“ Emma lachte. Das Zimmer war fertig aufgeräumt. Alles lag gut geordnet an seinem Platz und trotzdem hatte Shaelyn das Gefühl, es herrschte noch Unordnung. Vielleicht lag es an der inneren Unruhe. Gleich wollte sie runter zu Rue und ihm zeigen, was sie alles gelernt hatte. Eigentlich brauchte sie keine Bedenken haben. Sie konnte das geforderte Wissen aufweisen. Aber bei Rue war sie eben nervös. Schließlich wollte sie sich nicht blamieren. Er zählte darauf, dass sie genug lernte. Und immerhin tat sie es auch für ihren Großvater. Das alles nützte nichts! Es würde schon funktionieren! Also ließ sie von ihrem Schreibtisch ab, nahm ihr Notizbuch auf und ging entschlossen zu ihrer Zimmertür. Jetzt müsste sie Rue nur einmal beeindrucken. L betrachtete in alle Ruhe die braune Brühe in seiner Tasse. Es gab in der letzten Zeit viel worüber er sich den Kopf zerbrach. Nichts forderte seinen Verstand mehr. Ein großes gespanntes Netz, dessen Fäden in der Mitte den Punkt aller Überlegungen darstellte. Die Dinge nahmen einen unerfreulichen Verlauf. Er war sich dessen bewusst, dennoch war er unfähig sich dem Netz zu entziehen. L verspürte Unsicherheit. Sein Grund war längst nicht mehr so fest, wie er einst war. Sich zu fragen, ob das alles einen Sinn hatte, so war die Antwort offensichtlich: Dahinter verbarg sich kein Sinn. Eine Tatsache, die den Detektiven zusätzlich zu schaffen machte. Es war nicht begreiflich – und das nach vielen Stunden des Nachdenkens. Er weigerte sich aufzugeben. Es war nicht seine Natur. Doch wie konnte eine einzelne junge Frau seine ganze Denkweise so durcheinander werfen? Das bisher größte Rätsel seines Lebens. Eine wirkliche Herausforderung. Denn, wie konnte er so viel darüber nachsinnen, wenn er längst wusste, dass das alles nichts brachte? Es war verschwendete Zeit. L, der Meisterdetektiv, würde niemals dahinter steigen. Das war frustrierend. Ruckartig wurde die Wohnzimmertüre aufgerissen, woraufhin L erschrocken aufgluckste und den Kaffee fast verschüttete. Direkt starrte er zum Ursprung seines Schocks. Mit aufgerissen Augen, und hart pochendem Herzen, starrte er zu jener jungen Frau hinüber, die all das Chaos in seinem Kopf verursachte. „Ich bin bereit!“, rief sie entschieden. … Irritiert blickte sie zu Rue hinüber. Er sah ernsthaft schockiert aus. War sie doch zu grob an die Sache gegangen? Sie hatte Angst, sie würde ihren Tatendrang und Mut verlieren, wenn sie es nicht sofort tat. Unschlüssig schloss sie die Türe hinter sich und ging zur Couch hinüber – unter den wachsamen Pupillen des Schwarzhaarigen. Allmählich nahm sie auf dem Sofa platz. Er stellte die Tasse weg, legte seinen Daumen an den Mund und wartete offensichtlich auf eine Regung von ihr. „Ich dachte mir, ich zeige dir, was ich alles gelernt habe. Morgen ist die Prüfung...“, begann sie mit einem zurückhaltenden Lächeln zu erklären. Sie war nervös. Hoffentlich würde sie gleich alle Fragen richtig beantworten. „Ich verstehe. Das ist also der Grund für dein … Auftreten.“ Shaelyn wich kurz seinem intensiven Stieren aus. Ja, sie war zu ruppig gewesen. „Tut mir leid. Ich war nur aufgeregt.“, entschuldigte sie sich gleich. „Weil du mein Urteil fürchtest?“ Shaelyn hob aus Überraschung ihre Augenbrauen an. „Nein! Ich habe ja viel gelernt und es verstanden. Also gibt es eigentlich nichts zu befürchten.“ „Dann...“, begann er und griff nach hinten an seine Hosentasche. Verwundert beobachtete sie dies und war erstaunt, als er ein kleines Stück Papier hervorholte. „wird es dir nichts ausmachen, dieses Blatt Papier zu bearbeiten.“ Rue hielt ihr das unordentlich gefaltete Papier entgegen, was sie mit verdutztem Gesichtsausdruck an sich nahm. „Was.... ist das?“ „Deine Überprüfung“ Ein Moment verstrich, in dem sie ihn nur anblickte. War das sein ernst? Ein Blatt Papier? Eine Arbeit? „Ich dachte, du befragst mich...“ „Nein. Es wäre eine gute Gelegenheit damit deine Rechtschreibung und Grammatik zu prüfen.“ Sprachlos klappte ihr leicht der Mund auf. Was hat er noch alles mit einem Blick auf ihre Notizen feststellen können? „Deine Notizen wiesen einige Fehler auf.“, bestätigte er ihre Gedanken und bediente sich an den Süßigkeiten auf dem Tisch. Shaelyn räusperte sich. „...Okay. Und wie viel Zeit habe ich dafür?“ Rue hob den Kopf leicht an und besah sich die Decke. Nachdenklich gab er einen kleinen Laut von sich, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder Shaelyn schenkte. „Du hast bis heute Abend zeit.“ Entrüstet riss sie die Augen auf. Wie viel stand auf dem Zettel?! Sofort entfaltete sie das Stück Papier und erschrak. Das gesamte Blatt war voller Fragen! Und schon die erste Frage war nicht mit einem einfachen Satz geklärt. „Das ist ja fast wie Strafarbeit.“, kam es von der schockierten Engländerin, die den emotionslosen Blick von Rue zu spüren bekam. „Hast du jetzt doch etwas zu befürchten?“, fragte Rue und umging somit den Einwurf ihrerseits. Es klang deutlich wie eine Herausforderung. Sie würde bestimmt nicht kneifen! „Nein! Ich mach das!“, gab sie fest von sich. „Du wirst dich noch wundern!“ L hob eine Augenbraue an. Sie war einverstanden und sogar voller Eifer. Umso besser. „Dafür mach ich es aber direkt hier.“, warf sie schließlich ein, woraufhin sie die Schüsseln auf dem Tisch zur Seite schob. „Hast du denn eine Wahl?“, kam es von Rue. Shaelyn hielt inne und sah zu ihm hinüber. „Heißt das... du denkst, ich würde schummeln, wenn ich es aufs Zimmer gewollt hätte?“ Seine großen runden Augen waren auf sie fixiert. Misstraute er ihr so sehr? Was für einen Grund hätte sie? Dachte er wirklich, sie würde betrügen? Nicht einmal in so etwas Unwichtigem schenkte er ihr Vertrauen? Es war mit jeder schweigenden Sekunde verletzender. „Rue... du würdest mir das also wirklich zutrauen?“ Sein Mund öffnete sich und sie befürchtete ein eindeutiges Ja. „Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich.“, antwortete er schließlich monoton, woraufhin ihr gleich leichter ums Herz wurde. Schwer stieß die Schwarzhaarige die Luft aus. Auch wenn er mit seiner Aussage noch einen gewissen Freiraum ließ. Es passte zu ihm. „Solltest du auch...“, kam es ihr mit einem Lächeln über die Lippen. Dann konnte sie jetzt mit ihrer Arbeit beginnen. Es war schwierig sich zu konzentrieren, wenn sie seinen Blick förmlich spüren konnte. Seit sie begonnen hatte, wurde sie praktisch nicht aus den Augen gelassen. Diesmal war sein Blick wirklich unangenehm. Konnte er sich nicht denken, dass er sie damit völlig nervös machte? Lautstark legte sie den Stift beiseite und stellte sich wacker seinem starren Blick. „Schon fertig?“, fragte er gleich interessiert und sie zog den Mund kraus. „Das wäre schön... Aber wenn du mich die ganze Zeit so anstarrst, kann ich nicht nachdenken.“ „Warum?“ Warum? War das eine Fangfrage? „Ist das nicht klar?“ „Nein.“ „Es macht mich nervös.“ Sonst wurde sie nie fertig. Rue konnte sie sonst immer beobachten – was er auch gern tat – aber gerade jetzt war es ihr unmöglich, so die Arbeit zu beenden. „Du wirst noch oft die Gelegenheit haben mich zu beobachten... So wie ich dich kenne, lässt du sowieso keine Gelegenheit aus. Aber jetzt kann ich mich schlecht konzentrieren und werde bis heute Abend bestimmt nicht fertig.“ Irritiert stierte Shaelyn auf seinen Mund. War das ein Grinsen? War das ein gutes Zeichen? Shaelyn glaubte nicht wirklich daran. „Wobei denn?“, kam es neugierig von ihm; was absolut nicht zu seiner Mimik passte. Er wollte sie veräppeln, oder? „... Bei allem? Es ist egal was ich mache, du hast immer ein Auge darauf. Oder nicht?“ Man sah Shaelyn ihre Unsicherheit an. Sie verstand nicht, worauf Rue hinaus wollte. Denn es sah ganz danach aus, als ob etwas dahinter steckte. Was er sich wohl wieder dachte? „Dafür benötige ich allerdings ein besseres Überwachungssystem. Wärst du also einverstanden, wenn ich Kameras installiere?“ Kaum war das letzte Wort gefallen, öffnete sich ihr Mund voller Schreck. „Läuft noch alles Rund in deinem Kopf?“, kam es errötet und empört von ihr - und Rue schlürfte reichlich amüsiert an seinem Kaffee. „Nein. Es war nur eine Überlegung, da ich offensichtlich auf alles ein Auge habe. So würde es mir leichter fallen. Und dabei dachte ich, es würde zu deinem Gefallen beitragen.“ Das Ticken der Uhr im Wohnzimmer verdeutlichte die Ruhe, die schließlich nach seinem Satz einkehrte. Shaelyn brauchte einen Moment zum Nachdenken. Denn reichlich baff starrte sie zum Grund ihrer Sprachlosigkeit. Sie versuchte an seinen Worten irgendwas Positives zu finden. Denn was zum Teufel sagte er da? Es würde ihr gefallen, wenn er ihr überall zusah? Wie sie nackt umher lief, oder die Toilette benutzte? Ging es Rue noch gut? „Ganz sicher nicht!“, verteidigte sie sich nach der Schweigeminute hochrot. „Das geht dich nichts an. … Du bist echt ein Schwein.“, hing sie aufgeregt an und sog scharf die Luft ein. Ihr war so heiß, dass sie schon dachte, sie hätte Fieber. Von ihrem Rauschen in ihren Ohren zu schweigen. Rues Augen blitzten auf. „Seltsam. Ich war der Auffassung, dass es in deinem Sinne wäre.“, meinte er nachdenklich und strich sich mit seinem Daumen über die Lippen. Egal worauf er hinaus wollte – Das Thema war extrem unverschämt. „... Manchmal will ich gar nicht wissen, was alles in deinem Kopf vorgeht. Und jetzt würde ich lieber gerne die Arbeit fertig machen als über so verrückte Sachen zu reden. Aber bitte diesmal ohne permanentes Anstarren.“, kam es ihr eisern über die Lippen. Wenngleich ihre Wangen noch immer den Rotschimmer trugen und ihr Kopf voll von grotesken Vorstellungen war. Es war besser, wenn sie dazu nichts weiteres sagte. Das konnte sich mehr zuspitzen, als ihr – oder ihm – lieb war. Sie wollte fertig werden und nicht mehr über so seltsames Zeug nachdenken. Das war wirklich mehr als absurd. Wie kam er auf die Idee, dass es ihr gefallen würde? Shaelyn schüttelte kaum merklich den Kopf und blickte auf ihr Aufgabenblatt. Ehe sich ihre Nackenhaare aufstellten. Aus ihren Augenwinkeln konnte sie beobachten, wie Rue vom seinem Sessel aufstand und sich in ihre Richtung in Bewegung setzte. Ihr ganzer Körper spannte sich an. Was hatte er vor? Sie umfasste ihren Bleistift fester und war beinahe dabei die Augen zuzukneifen - bevor Rue aus ihrem Blickfeld verschwand und das Sofa hinter ihr ein verdächtiges Geräusch von sich gab. Hatte er sich gerade hinter sie gesetzt? Entsetzt wandte sie ihren Oberkörper um und sah tatsächlich in das Gesicht von Rue. Er verzog keine Miene. „Was machst du da?“, stellte sie gleich verstört die Frage, woraufhin Rue seinen Kopf leicht schief stellte. „Ich beobachte.“, verließ es neutral seinen Mund, was sie nun begann zu provozieren. „Ja... und warum setzt du dich dann unbedingt hinter mich?“ „Damit du nicht siehst, wie ich beobachte.“, meinte er salopp. Gleich zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Er nahm sie doch auf den Arm! Er hatte es von Anfang an darauf angelegt. Sie hätte wissen müssen, dass er sie einfach nur ärgern wollte. Als ob ein Sinn hinter seiner seltsamen Idee von vorhin steckte! Und als ob das jetzt irgendwas bessern würde! So wusste sie nicht nur, dass er sie anstarrte, sondern auch noch im Nacken saß. „Du machst das mit Absicht. Warum machst du das?“, kam es noch erstaunlich ruhig von Shaelyn, in der schon der Vulkan zu köcheln begann. „Es gibt keinen besonderen Grund.“ Wie dreist er war! Shaelyn versuchte sich weiter in Beherrschung zu üben. Sie entgegnete seinem emotionslosen Blick mit einem bösen Funkeln. „Wie bitte?“ Es war mehr eine Aussage ihrer Entrüstung als eine Frage – was Rue nicht daran hinderte es als eine solche zu betrachten. „Es gibt keinen besonderen Grund. Mir war danach.“ Der Biss auf ihrer Unterlippe linderte nur schwach die aufkommende Wut. Ihre Augenlider formten sich zu einem Schlitz. „Wenn du mich nicht in Ruhe lässt, kannst du dir die Arbeit in die Haare schmieren! Mach einfach was anderes. Irgendetwas, was nicht mit mich beobachten und auf die Nerven gehen zu tun hat!“, machte sie ihrem Ärger Luft. Er konnte doch nicht von ihr verlangen eine Arbeit unter seiner Nase zu schreiben, wenn er sie nebenbei nur ablenkte – Nein, ärgerte! „Abgelehnt.“, betonte er es schließlich so nachdrücklich wie sie, sodass sie abermals die Luft scharf einzog. Der Vulkan stand vor dem Ausbruch. Mit voller Wut schlug sie den Bleistift auf den Tisch. „Du machst mich wahnsinnig! Musst du mich immer so ärgern?! Was soll der ganze Mist?! Wie soll ich so deine Aufgaben lösen?!“, brüllte sie fast. Wütend stand sie auf und verschränkte die Arme vor ihm. Sie war kurz davor ihm an die Gurgel zu springen. Rue sah das offensichtlich locker, da er nach wie vor ungerührt schien. Seine dunklen Augen verrieten nichts von seinem Denken. Letztlich nahm er seinen Finger vom Mund und begann sich zu regen. Rue richtete sich auf und Shaelyn trat einen Schritt zur Seite. Mit einem unheimlichen Ausdruck in den Augen trat er vor ihr. Jedem anderen wäre in dieser Situation ein eiskalter Schauer über dem Rücken gefahren, doch Shaelyn hielt seinem Blick stand. Rue konnte ihr keine Angst mehr einjagen und gerade war sie wirklich sauer. Sie verstand einfach nicht, was das sollte. „Sag schon. Warum machst du das? Da muss doch ein Grund dahinter stecken, wieso du dich so komisch aufführst. Schon seit ich hier bin, bist du so seltsam. Hab ich was falsch gemacht? Gefällt dir was nicht? Gibt-“ Weiter kam Shaelyn nicht. Rue hatte an ihre Nasenflügel gefasst und drückte sie zu. Das brachte den gewünschten Effekt. Shaelyn atmete lieber als wie ein Wasserfall zu plappern. „Du solltest ab und zu Luft holen.“, meinte L und machte keine Anstalten seinen Zeigefinger und Daumen von ihrer Nase zu nehmen, ganz egal wie energisch sie versuchte sich seinem Griff zu entreißen. „Lass los!“, brachte sie dumpf über die Lippen, während sie mit ihren Händen versuchte seine zu lösen. „Es wäre eine Überlegung wert.“ An ihrer Nase festhaltend, verzog Shaelyn ihren offenen Mund. „Wenn?“ Ihre Tonlage verriet ihren Unmut, was der Detektiv jedoch ignorierte. „Du mir versicherst, deine Stimme zu schonen.“ Das gefiel ihr absolut nicht. Ihr Ausdruck sagte mehr als sie im Augenblick sagen konnte. „Ne.“, sagte sie zu seiner tatsächlichen Überraschung, die sich durch ein Augenbrauen anziehen äußerte. „Erst wenn du dir die Augen verbindest.“, hing sie an. „Warum sollte ich das tun?“ „Damit du mich in Ruhe arbeiten lässt. Mehr will ich gar nicht von dir. Und das ist doch auch nicht zu viel verlangt, oder? Wäre es okay?“ Ihre Stimme normalisierte sich gegen Ende, da er langsam sein Zudrücken nachgab. Shaelyn wusste nicht was sie sagen sollte. War das eine Zustimmung ihres Vorschlags? Oder warum ließ er plötzlich von ihrer Nase ab? Verwirrt blickte sie in die nahezu leeren Augen ihres Gegenübers. Unsicherheit beschlich sie. Irgendetwas war gerade unangenehm. Allerdings wusste sie nicht woher das stammte. Sicher bildete sie sich nur wieder etwas ein. Shaelyn fasste sich an ihren linken Arm, während sie dem undefinierbaren Starren auswich. „Ich denke, das ist also ein Ja?“ „Ja.“, folgte es monoton. Ihre Alarmglocken schrillten: Da stimmte etwas nicht. Hatte sie nun tatsächlich etwas Falsches gesagt? Unmittelbar sah sie hastig doch zu Rue hinüber, der sich jetzt allerdings umdrehte. War sie dabei ihren Mund erneut zu öffnen, als sie sich selbst stoppte. Sollte sie ihn fragen, ob alles in Ordnung war? Würde ihn das stören, wenn sie fragte? Sicherlich würde er wie sonst nicht darauf antworten. Bestimmt war es besser, wenn sie still blieb. Gegen ihr starkes Bedürfnis, ihn zu fragen, kam sie nur schwer an. Jedoch siegte der Gedanke, dass es besser wäre zu schweigen. Schließlich musste sie lernen seine Privatsphäre zu akzeptieren. Lernen geduldig und beherrscht zu sein. Das war ihr Vorsatz, an den sie sich bis vorhin gut gehalten hatte. Nicht aufdringlich sein. Warten, bis Rue etwas tat. Aber nicht ganz aus seinem Blickfeld verschwinden. Im Moment war es wirklich sehr schwer sich zu zurück zu halten. Sie hatte das Gefühl, sie müsste ihn aufmuntern. Warum, das wusste sie selbst nicht wirklich. Als Rue allerdings nicht auf seinem Sessel platz nahm, sondern an diesem vorbei ging, stutzte die Engländerin. Was tat er da? „Wo gehst du hin?“, stolperte sie ihm einen Schritt nach. „Du hast nach wie vor bis heute Abend Zeit. Bis dahin werde ich mich zurückziehen.“ Shaelyn verstand nicht was das zu bedeuten hatte. Wieso reagierte er so? Warum ging er? „Aber ich dachte...“ Rue hielt kurz vor der Tür inne und wandte seinen Oberkörper zu ihr um. Sein Ausdruck wirkte unnahbar. „Ich vertraue dir.“ Worte, die Glück auslösen sollten – doch große Sorge hinterließen. Shaelyn spürte stark, dass etwas nicht richtig war. Rue bedrückte was. Bevor sie nun doch fragen konnte, klackte die Türe des Wohnzimmers. Er war gegangen. Shaelyn begann zu zweifeln. Was konnte sie falsch gemacht haben? Oder hatte er verstanden, dass sie Ruhe brauchte? Aber er wollte doch dabei sein. Und dieser Ausdruck... Hatte das vielleicht rein gar nichts mit ihr zu tun? Wieso konnte sie so schlecht einschätzen, was er dachte und fühlte? Konfus ließ sie sich auf das Sofa nieder. Wäre Nachlaufen eine gute Idee? Ihr Gesicht versank in ihren Händen. Die Schatten im Raum wurden immer länger und breiter. Die tief stehende Sonne verriet den Abend und schließlich auch, dass es langsam Zeit für Shaelyn wurde. Nach dem seltsamen Gespräch, konnte sie sich weiterhin schlecht konzentrieren. Demnach brauchte sie tatsächlich bis zum Abend um die letzte Aufgabe in aller Ausführlichkeit aufzuschreiben. Einigermaßen zufrieden blätterte Shaelyn durch die Seiten, die sie dafür benötigt hatte. Was Rue von ihr verlangt hatte, war bestimmt das 20 Fache von dem, was der Lehrer wissen wollte. Aber sie hatte es endlich geschafft. Und als Belohnung dröhnte ihr Kopf. Mit einem Seufzen legte sie die vollgeschriebenen Seiten beiseite und gönnte sich ein paar süße Snacks aus den Schüsseln vom Tisch. Gleich würde bestimmt Rue kommen. Weswegen sie versuchte ruhig auf ihn zu warten und ließ ihren Blick über den Tisch schweifen. Schon lange wunderte sie sich nicht mehr. Es war Alltag so viel Süßes zu sehen. Und es war jedes Mal erstaunlich, was sich alles an Süßes finden ließ. Nicht immer dieselben Leckereien. Manches sah aus, als ob es von einem fernen Land kam. Demnach besah sich Shaelyn die bunte Masse an Süßigkeiten genauer an. Eine Schüssel sah verdächtig leer aus. Nur ein paar kleine weiße Kugeln lagen noch darin. Rue musste sie wohl besonders gern haben, was ihre Neugier anfachte. Mit einem Griff in die Schüssel, stellte sie sofort fest, dass es weißes Puder war, das an den Kugeln haftete. Allerdings ehe sie die Kugel verputzte, roch sie daran und stellte etwas Weiteres mit einem Lächeln fest. Natürlich war es Vanille. Aber was noch darin war? Vorsichtig biss sie in die Vanillekugel und war überrascht als es leicht knackte. Sie schmeckte gleich eine unverwechselbare Mischung. Die Kugel war mit Kirsche gefüllt. Verblüfft besah sie sich die übergebliebene Hälfte. Es war lockere Kirschcreme, ummantelt mit einer Waffel und außen herum mit Vanillepuder bestäubt. Rue hatte wirklich einen guten Geschmack. Weshalb es nicht nur bei der einen Kugel blieb, die sie aß und dabei in Ruhe nochmals sein Arbeitsblatt ansah. Mit Erstaunen, und vollem Mund, bemerkte sie erst jetzt, dass alles von ihm handgeschrieben und schön leserlich war. Rue hatte sich extra ein wenig Zeit dafür genommen. Shaelyn seufzte und fasste sich kurz an die Nase. Er tat mehr, als man auf den ersten Blick sah. Jetzt war ihr schlechtes Gewissen noch größer. Als Shaelyn die Schüssel geleert hatte, stellte sie beunruhigt fest, dass Rue noch immer nicht da war. Langsam fragte sie sich wo er blieb. Denn sie musste mittlerweile das Licht anschalten gehen, damit es nicht zu dunkel war. Nachdem sie den Lichtschalter betätigt hatte, hielt sie in der Bewegung inne. War es doch viel schlimmer gewesen als sie dachte? Shaelyn hatte angenommen, dass sie nur wieder zu viel hineininterpretierte – oder hatte versucht es sich einzureden. Außerdem wollte sie ihm Ruhe geben. Da fiel ihr etwas ein. Er sagte, er wollte sich zurückziehen. Hieße das vielleicht, dass er schlief? War er eventuell nur müde gewesen? Ihr Herz machte einen Sprung. Sie erinnerte sich an das letzte und eigentlich erste Mal, als sie ihn schlafen sah. Natürlich hatte sie nicht widerstehen können und küsste ihn gleich. Der völlig überraschend den Kuss auch noch erwiderte. Shaelyn lächelte in sich hinein. Wenn sie so darüber nachdachte, klang das seltsam schön. Wie ein Traum selbst, aus einer langen vergangenen Zeit. Ob Rue zu dem Zeitpunkt etwas geträumt hatte? Sollte sie jetzt zu seinem Zimmer gehen und einmal nachsehen? Aber würde das nicht wieder gegen ihren Vorsatz sprechen? Nein. Sie hatte einen guten Grund ihn aufzusuchen. Die Aufgaben waren alle fertig und bereit zur Begutachtung. Außerdem war Abgabetermin. Mit Bedenken, ob das alles wirklich richtig war, machte sie sich auf in den ersten Stock. Auf dem Weg dahin schaltete sie überall das Licht an. Es war in manchen Ecken im Dunkeln viel zu unheimlich. Das ganze Haus schien bei Dunkelheit eine ganz andere Seite zu haben. Aber viel mehr Sorgen bereitete ihr das Zusammentreffen auf Rue. Shaelyn schüttelte ihren Kopf. Sie würde es gleich sehen. Die Türe knarrte leise, als Shaelyn sie aufdrückte. Es war wie vermutet stockfinster, denn selbst die Vorhänge waren zugezogen. Leider brachte das schummrige Licht vom Gang auch nicht sehr viel. Allerdings horchte sie auf. Sie hörte eindeutig das Rascheln einer Kleidung. „Was gibt es?“, durchzog es die Schwärze, was sie zusammenzucken ließ. Rue war hier. Shaelyn konnte nicht ausmachen woher seine Stimme stammte. „Ich bin fertig mit deinem Aufgabenblatt...“, gab sie schwach zurück. Noch immer hatte sie die Türklinke fest im Griff. Sie fühlte die Anspannung deutlich. „Komm rein und setz' dich.“, vernahm sie nun deutlich näher. Gleich sah sie sich genauer um – auch wenn das nichts brachte. Warum saß er mitten in der Dunkelheit in seinem Zimmer? „Naja, eigentlich liegt die Arbeit unten.“ „Dann sollten wir dort hin gehen.“ Plötzlich blendete sie das Licht des Zimmers, weshalb sie die Augen zukniff. L studierte das Gesicht von Shaelyn, welche langsam die Augen öffnete. Ehe er sich ein Urteil über ihre Körpersprache bilden konnte, fiel ihm etwas sehr Prägnantes auf. Unschlüssig starrte er auf ihren Mund, teils ihre Wange und Nase. War das Puder? „W-Was ist?“, fragte sie als erstes, als sie seinen Blick bemerkte. L hob seine Hand an und deutete mit seinem Zeigefinger auf ihr Gesicht. „Du hast da was im Gesicht.“ „Oh!“, kam es erschrocken von ihr und sie wischte sich gleich das Puder von den Wangen und Mund. „Tut mir leid... ich habe diese Vanillekugeln entdeckt. Die waren so lecker, dass ich sie gleich alle gegessen hab.“, meinte Shaelyn mit einem Lächeln entschuldigend, was sein Interesse weckte. „Das waren die letzten.“, gab er gewollt traurig von sich, das Shaelyn einen regelrechten Schock versetzte. „Tut mir leid! Ich dachte... Eigentlich habe ich gar nicht daran gedacht.“ „Demnach ...“ L hob seinen Kopf an, besah sich kurz die Decke, ehe er Shaelyn erneut anblickte. Sie wartete gespannt auf seine Worte. „schuldest du mir etwas.“ Gleich änderte sich ihr Ausdruck. „Das ist gemein!“ Shaelyn versuchte ihn mit einem gekränkten Blick zu tadeln, was allerdings fehlschlug. Es war tatsächlich der letzte Rest gewesen – mit einer Ausnahme. L ließ es auf einen Versuch ankommen. Es war eine passende Gelegenheit. Als Rue seine Hand hob, blickte sie diese irritiert an. Was hatte er vor? Unsicher prüfte sie kurz den Ausdruck Rues, der jedoch vollkommen ungerührt schien. Ihr Herz begann wild zu klopfen. Kein Moment später strich er behutsam mit seinem Daumen abwärts über ihre Nasenspitze und berührte, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick, darauffolgend ihren Mund. Von Schmetterlingsschwärmen in ihrem Magen benommen, registrierte Shaelyn nur halb, dass Rue wenig später über jenen Daumen leckte, der sie so sachte berührt hatte. Ihr Kopf war leergefegt. „Du hattest da etwas vergessen.“, kommentierte Rue gelassen seine Geste und hielt sie mit seinem Blick gefangen. Irgendwie konnte sie darauf nichts erwidern. Still nickte sie hastig und versuchte das wilde Pochen in ihrer Brust zu überstehen. Rue stellte ihre Geduld und Beherrschung auf eine sehr sehr harte Probe. Wie erwartet, hatte Rue gleich ihre Blätter studiert und kam später zu dem Ergebnis, dass sie, in seinen Augen, gerade so bestanden hätte. Wenngleich er ihr die Note 'Befriedigend' gab. Sie hatte resigniert und nahm seine harte Kritik zur Kenntnis. Rue war eben ein strenger Lehrer, der sehr viel Wert auf Genauigkeit und Sorgfalt legte. Als schließlich der richtige Test am darauffolgenden Tag anstand, war sie kaum nervös. Und die Aufregung verschwand völlig, als sie die wenigen Aufgaben vom eigentlichen Lehrer bekam. Somit war das Ergebnis tadellos und der Lehrer war mehr als zufrieden. Ihr Unterricht würde in einem Monat beginnen und ihr Zeit geben, noch alte Kenntnisse aufzufrischen. Man erwartete von ihr, dass sie gleich dem Unterricht folgen konnte, weshalb man ihr eine ganze Mappe an Unterlagen überreicht hatte. Jetzt hieß es; noch mehr lernen. Niedergeschlagen saß Shaelyn an ihrem Schreibtisch und betrachtete die Uhrzeit auf ihrem Wecker. Es war Morgen und sie hatte gestern ihre weitere Fahrstunde hinter sich gebracht – mit einem nicht verbesserten Ergebnis. Sie sei zu verkrampft. Was man am besten beobachten konnte, wenn sie Minuten versuchte, den Wagen zu starten. Die Theorie war absolut kein Problem, aber die Praxis war niederschmetternd. Und selbst der Gedanke, dass morgen Valentinstag war, verbesserte es nicht. Emma hatte sich doch dazu entschlossen, ein paar auserwählte Jungs einzuladen. Ihrer Meinung nach, waren sie ganz okay und sie würden für Spaß und Abwechslung sorgen. Demnach war es eine kleine Gruppe. Zwar mehr Mädchen als Jungs, aber es waren welche dabei. Mit einem lauten Seufzen, setzte Shaelyn sich letztendlich auf und betrachtete das Magazin, welches vor ihr auf dem Tisch lag. Sie hatte vor, heute noch ein wenig zu backen. Eigentlich tat sie das schon immer zu Valentinstag. Letztes Jahr war durch ihre Blindheit ausgefallen und davor... da war noch ihre Familie da. Ihr Vater mochte ihr Gebäck in Herzform immer am liebsten. Diesmal hatte sie sich aber nicht für Gebäck, sondern für reine Schokolade entschieden, mit ein paar Überraschungen. Es war einfach eine Tradition etwas zu dem Ereignis zu machen. Das stammte hauptsächlich von ihrem Vater und ihre Mutter wollte immer, dass sie ihr half – was sie immer gern getan hatte. Mit einem traurigen Lächeln, versuchte sie nach Vorn zu sehen. Sie würde es einfach weiterführen. Und Rue würde sich bestimmt darüber freuen. Auch wenn das Backen und Schokolade machen bisher nicht unbedingt romantische Hintergründe hatte, war es zum ersten Mal zum Teil so. Jetzt war sie doch etwas aufgeregt. Konnte sie denn ohne Hintergedanken Rue beruhigt Süßes in Herzform schenken und das an einem Valentinstag? Annehmen würde er es garantiert – immerhin war es Süßes. Nachdem Shaelyn die Küche betrat, sah sie ihren Großvater an der Theke stehen. Gleich wandte sich der alte Mann zum Gast um. „Hallo, Shaelyn.“ begrüßte er sie höflich. „Hallo, Opa.“, erwiderte sie gleich mit einem breiten Lächeln. „Hast du alles bekommen?“ Ihr Großvater nickte. „Ja.“ Freudig stellte sich sich ihrem Großvater gegenüber an die Theke. „Dann kann ich ja heute Abend loslegen.“, kam es erheitert über ihre Lippen. Aber hoffentlich kreuzte Rue nicht auf. Er besuchte natürlich gern die Küche. „Gibt es etwas, was ich wissen sollte?“ Wenn man vom Teufel sprach. Augenblicklich wandte sich Shaelyn um. Der Schwarzhaarige beäugte die Situation mit wachen Augen, während er die Küche betrat. „Nein...“, versuchte sie ihr bestes und bekam nur einen skeptischen Blick zugeworfen. Er roch einfach, wenn etwas vor sich ging. „Nur eine kleine Unterhaltung mit meinem Opa, nichts weiter.“ Eigentlich log sie nicht gern, aber es war zu einem guten Zweck, weshalb sie vergnügt lächelte. Und konnte man es ihr im Nachhinein übel nehmen? Es sollte eine kleine Überraschung werden. Zumindest für Rue. Ihr Großvater wusste bescheid, bekam aber natürlich auch etwas. Jetzt musste sie allerdings nur noch Rue von ihrer Unschuld überzeugen. Nicht, dass er doch noch etwas heraus bekam. Watari war mindestens genauso geschickt darin seine Mimik zu kontrollieren wie L, wenngleich der alte Herr es gezielt zum Einsatz brachte. Allerdings verriet die Körpersprache von Shaelyn genug, um seinen Verdacht zu bestätigen, weshalb er ihr schließlich auch gefolgt war. Nervös ließ sie von der Theke ab und strich sich ein paar Strähnen hinter ihr Ohr. „Möchtest du etwas?“, fragte sie ihn freundlich und er ließ sich es sich nicht zwei mal sagen. „Ein Stück Erdbeertorte“, bekam sie als Antwort, woraufhin sie gleich mit den Worten: „Ich hol dir eben eins.“, zum Kühlschrank ging. Watari hielt sich komplett im Hintergrund, was nicht das erste Mal war. Trotz der uneingeschränkten Treue und dem Vertrauen, wusste L, dass seine rechte Hand auch auf der Seite seiner Enkelin stand. Watari saß zwischen den Stühlen und hielt sich so gut es ging bedeckt – wobei L selbstverständlich wusste, was der alte Herr gern sah. Unter anderem gerade eben jene Situation. L war sich sicher: Watari betrachtete all das mit einem wissenden Lächeln. Als Shaelyn ihm einen Teller mit dem gewünschten Stück Torte hinhielt, besaß sie noch immer das liebliche Lächeln. „Hier, bitte.“ „Danke.“, kam es neutral von ihm und nahm ihr den Teller ab, nur um direkt unter ihrem überraschten Ausdruck ein Stückchen Torte zu verputzen. Unschuldig entgegnete er auf ihre Mimik: „Ihr könnt fortfahren.“ „Willst du nicht lieber ins Wohnzimmer essen gehen? Oder im Esszimmer?“ „Nein, hier ist es viel geselliger.“ Ihr Gesichtsausdruck änderte sich einige Sekunden gar nicht, ehe sie tatsächlich etwas zu lachen begann. Offensichtlich besaß sie gute Laune – was ihn nur neugieriger stimmte und er sich eine weitere beladene Gabel in den Mund steckte. „Du bist zu neugierig, Rue.“ „So?“ „Ja. Keine Sorge, was ich mit Opa besprochen habe, ist nichts schlimmes.“ „Und was?“, fragte er prompt. „Möchtest du noch etwas Kaffee oder Tee zum Verhör?“, hakte Shaelyn freundlich nach, was ihn, mit der Gabel am Mund, kurz grübeln ließ. „Kaffee.“ Er könnte dieses Spielchen den ganzen Tag lang betreiben. Shaelyn seufzte ergeben. Rue machte sich einen Spaß daraus. Sobald er auch nur ein kleines Geheimnis roch, war er voll bei der Sache und ließ nicht locker. Trotzdem würde sie nichts verraten! Vielleicht sollte sie das ganze Thema auf etwas anderes lenken, oder... „Morgen ist Valentinstag.“ Rue gab keine Regung von sich, sondern aß weiter munter an seinem Stück Torte. Sein unbeirrbarer Blick lag auf sie. Jetzt wurde sie wieder nervös. Es war vielleicht doch die falsche Entscheidung auf offensiv zu gehen. Doch! Sie hatte noch gar nichts von der Verabredung gesagt! Irgendwie war das in Vergessenheit geraten. Es war auch eigentlich nichts Schlimmes. „Ich gehe morgen aus.“ Rue, der sich gerade die nächste Ladung in den Mund stopfen wollte, hielt inne. Fragend beobachtete sie sein bewegungsloses Starren. „Ich wurde eingeladen und habe zugesagt.“, meinte sie ehrlich und wich dann seinem, noch immer, starren Blick aus. „Ist doch nichts Verkehrtes, oder?“ Eigentlich wünschte sie sich, er würde es jetzt bejahen. Aber sie wusste, dass das im Grunde gar nicht möglich war. Es war nur eine schöne Vorstellung. Ebenso, wenn er etwas mit ihr unternehmen würde. Was würde sie alles dafür geben... „Shaelyn, dürfte ich dich zuvor um Etwas bitten?“ Verwundert wandte sie sich ihrem Großvater zu, der sie freundlich anlächelte. „Natürlich. Was denn?“ „Übermorgen findet deine nächste Fahrstunde statt.“, begann ihr Großvater und sie schluckte augenblicklich. Sie ahnte nichts Gutes. „Dein Fahrlehrer macht sich große Sorgen und hat mich über deinen Fortschritt in Kenntnis gesetzt.“ Nervös biss sie auf ihrer Unterlippe herum. Das Thema zuvor war völlig vergessen. „Dein Lehrer hat vorgeschlagen, privat mit einem Fahrer zusätzlich etwas zu üben. Ich halte das für einen hervorragenden Vorschlag.“ Sie rieb sich unsicher ihren linken Oberarm. Es war ihr peinlich, dass ihr Opa es ansprach und das noch vor Rue, welcher vollkommen still war. „Und wie machen wir das? Und wann soll ich üben?“ „Hier auf dem Gelände. Das gute Stück von der Garage hinunter zum Tor. Da es Privatgelände ist, darf man auf eigenes Risiko mit einem Fahrer üben.“, erklärte er Shaelyn ruhig und freundlich. „Da deine Schwierigkeit beim Anfahren und dem Gänge schalten liegt, kannst du hier leicht ein paar Fortschritte machen.“ „Hmh... okay. Und wann machen wir das? Jetzt?“ „Nicht mit mir, Shaelyn. Ryuzaki wird dir zeigen, wie das von statten geht.“ Kaum war der Name gefallen, war ein klirrendes Geräusch zu hören und Shaelyn, wie sie erschrocken aufgluckste. „Rue... ?“, meinte sie misstrauisch und drehte sich zu ihm. Irgendwie sah er genauso geschockt aus wie sie? War das nicht abgesprochen? Und überhaupt... Rue? Sie wusste, dass er Autofahren konnte, aber... Das war doch abstrus. Außerdem half das ihrem Problem nicht weiter! Sie wäre sicher nur nervöser als vorher! „B-besser nicht.“ „Warum?“, gab Rue nun doch einen Ton von sich. Er sah skeptisch aus. „Ich mach so viel falsch und … ich bin einfach aufgeregt! Wenn du mir über die Finger schaust, wird das eher schlimmer als besser. Außerdem bist du so kritisch und … das klappt nicht.“ „Gib Ryuzaki eine Chance. Ich bin mir sicher, er wird dir eine Hilfe sein.“, war es von Watari zu hören und sie hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Es war im Grunde gut, was ihr Großvater tat. Sie würde Zeit mit Rue verbringen. Das wollte sie mehr als alles andere. Aber sie wollte ihn mit ihrem Können beeindrucken und nicht anders herum... Fertig angeschnallt und alles eingestellt, saß Shaelyn wenig später am Steuer des englischen Wagens ihres Opas. Rue saß, ebenfalls angeschnallt, neben ihr. Fest umfasste sie das lederne Lenkrat. Schon jetzt erkannte man ihre verkrampfte Haltung. Es rasten so viele Fragen durch ihren Kopf, dass sie wie versteinert einfach nur am Steuer saß. „Shaelyn.“, wurde sie von der Seite angesprochen, sodass sie stark zusammenzuckte als wäre sie bei irgendwas ertappt worden. Direkt starrte sie zu Rue hinüber, der seinen Zeigefinger ziemlich nah vor ihr Gesicht hielt. „Die erste Regel: Entspanne dich. Zweite Regel: Das Auto tut nichts, solange du nichts tust. Folglich reagiert es auf deine Bewegungen. Daher dritte Regel: Deine Bewegungen werden durch Gefühl gesteuert. Jeder Wagen lässt sich minimal anders Anfahren und auch Steuern. Demnach, wenn du lernst deine Aufregung zu kontrollieren, wird dir auch der Rest gelingen. Eine simple Sache der Übung.“ Shaelyn nickte schwach. Soweit war sie schon. Zumindest hatte sie sich das denken können, aber die Umsetzung stockte stark. Der Finger senkte sich, sodass Shaelyn wieder Rue besah. Er saß dort ganz normal, wie es jeder andere tun würde. Ein seltsamer Anblick. „Und wenn wir schon hier sitzen, solltest du den Wagen starten.“, warf er nun monoton und den Vorschlag ein, woraufhin Shaelyn direkt an das Zündschloss fasste, in dem der Schlüssel steckte. Mit dem Blick auf den Kiesweg vor sich gerichtet, drehte sie den Schlüssel und der Wagen startete. Jetzt, nachdem der Wagen leise brummte, wurde sie nur nervöser. Es wurde ernst. „Langsam die Kupplung drücken und den ersten Gang einlegen.“, gab er vor und sie versuchte ihr bestes. Und sie tat ihr bestes – sie würgte den Wagen ab. Schon jetzt wäre sie gerne im Erdboden versunken. Natürlich. Also versuchte sie sich am zweiten Versuch, der wenig später auch in einem Desaster endete. Und der dritte Versuch versprach auch nicht mehr. Beim vierten Anlauf schien es fast geschafft, ehe der Wagen doch nach Hilfe schreiend aufgab. Sie war mit jedem Versagen nervöser. An dieser Stelle angekommen, ergriff Rue wieder das Wort. „Ruhiger. Und wenn du es geschafft hast, den Gang einzulegen, wieder langsam von der Kupplung und auf das Gas.“ Rue hörte sich recht neutral an, weshalb sie einen Blick riskierte und seinen Blick aufschnappte. Er wirkte so gelassen. „Noch eine Frage?“ „I-ich kann mich nicht beruhigen.“ „Das war keine Frage.“ „Rue!“, rief sie mehr Hilfe suchend als erbost. Sie brauchte ernsthaft Hilfe. „Einverstanden. Mach den Wagen aus.“ „Was?“ „Mach den Wagen aus.“, wiederholte er. Ohne Wiederworte zu geben, tat sie schließlich, was Rue wollte. Perplex sah sie dann mit an, wie er sich abschnallte und aus dem Wagen stieg. Großer Zweifel machte sich breit. War sie doch so schlecht, dass Rue aufgab? Sie hatte sich völlig lächerlich gemacht. Als sie mit dem Kopf auf dem Lenkrad lag und sich selbst aufgab, hörte sie, wie die Türe hinter sie geöffnet wurde. Gleich setzte sie sich auf und blickte in den Rückspiegel. Rue hatte auf dem Sitz hinter ihr platz genommen. „Lehne dich zurück und schließe deine Augen.“, wies er sie ruhig an und ihr Herz sprang fast aus der Brust. Sie sollte was machen? Zögerlich befolgte sie auch diesen Befehl und schloss die Augen. An Nichts denkend, fühlte sie kaum später, wie ihre Haare am Nacken fort gestrichen wurden und ihr ganz flüchtig ein wohliges Seufzen entlockte. Seine Finger berührten sie sachte am Nacken, bescherten ihr eine Gänsehaut, brachte ihr Puls zum Explodieren, wie es längst das Gefühl in ihrem Bauch war. Als Rue sanft begann ihren Nacken zu massieren, spürte sie jede einzelne Faser ihrem Körper zittern. Jeder Nerv war perfekt getroffen und löste eine Verspannung nach der nächsten. Ganz zu schweigen von ihren Gedanken, die er damit auch einfach auflöste. Shaelyn dachte nichts. Sie fühlte nur. Und das waren seine geschickten Finger an ihrem Nacken, wie sie immer wieder auf und abwanderten und dabei keine Stelle ausließen. Ihr blieb keine Wahl. Sie musste immer wieder glücklich Seufzen und ließ sich vollkommen fallen. Rue konnte einfach alles... Es setzte eine Erholung ein, die selbst dem Detektiven neu erschien. Shaelyn war vollständig im Dämmerzustand, das ihm bewies, wie viel Vertrauen sie ihm schenkte. Diese Technik war nur erfolgreich, wenn man sich darauf einließ und das tat sie mehr als bereitwillig. Jedoch konnte L sich bei ihrem Seufzen zunehmend nicht mehr konzentrieren. Es traf bei ihm auf ungewollte Reaktionen und auch Gedanken. Folglich ließ das Massieren nach und endete schließlich. „Rue, mach doch weiter... Du kannst das so... fantastisch.“, verließ es hingerissen ihren Mund, was seinen Herzschlag weiter beschleunigte. Entgegen seinem starken Bedürfnis, zog er seine Hände zurück. „Ich denke, du bist genug entspannt. Wir sollten jetzt fortfahren.“, sagte er unbeeinflußt und erwischte sich dabei, wie er kurz an seiner rechten Hand roch. ... Ganz wie vermutet duftete seine Hand nach ihrem Shampoo. Nachdem Rue wieder links neben ihr Platz nahm, realisierte sie, dass der Traum irgendwann ein mal ein Ende finden musste. Aber sie fühlte sich unbeschreiblich. Erholt und voller Leben. Ob das nur an der Massage lag? Shaelyn lächelte kurz in sich hinein, ehe sie zu dem Ergebnis kam, dass es sicher auch zum Teil an Rue selbst lag. Bei keinem anderen hätte das Berühren so viel angerichtet. Außerdem war sie ihm schon lange nicht mehr so nahe gewesen... Shaelyn fühlte sich, als könnte sie Bäume ausreißen. „Alles klar. Jetzt muss es ja klappen, oder?“, meinte sie begeistert, auch wenn sie natürlich teilweise noch aufgeregt war. Aber Rue seine Mühe von eben sollte nicht umsonst gewesen sein. Es wäre doch wirklich gelacht, wenn sie es nicht wenigstens schaffte fünf Meter voran zu kommen. Rue sagte nichts, sondern wartete anscheinend auf ihre Initiative, welche sie ergriff. Mit einem tiefen Luftzug drehte sie den Schlüssel um und probierte ihren nächsten Anlauf. Shaelyn schaffte es tatsächlich den Gang einzulegen und ein wenig aufs Gaspedal zu drücken, ohne dass der Wagen ruckartig zum Stehen kam. Allerdings war es noch zu früh für ein so breites Lächeln, wie es Shaelyn im Gesicht stand. Das war die Meinung von L, der kritisch ihre Bewegungen beobachtete und auch den Weg im Auge behielt. Einige Meter waren langsam gemeistert und L fand, es wäre ein guter Test um ihr Gefühl für die Bremse zu testen. „Halte jetzt vorsichtig an.“ Allerdings hörte sie diesmal nicht genau auf seine Anweisung und drückte die Bremse zu stark. Augenblicklich gab es einen heftigen Ruck und L war froh um den Gurt, auch wenn ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde. „Vorsichtig.“, betonte L nachdrücklich und mit dem Schock im Gesicht geschrieben. Shaelyn lächelte ihm schief entgegen. „Entschuldige...“, lachte sie schwach. „Ich... probiere es einfach noch mal.“ „... Ja.“ Als eine halbe Stunde vorbei war und in derer noch viele vergebliche Versuche getan wurden, fühlte L sich erschöpft. Die Schaukelei schlug auf seinen Kopf, weshalb ihn Kopfschmerzen plagten. L brauchte dringend eine Pause. „Das reicht für heute, Shaelyn.“, merkte er an, während er seinen Nasenrücken massierte. Sie schaltete den Motor ab. „Geht es dir gut?“, fragte sie, da sie aufmerksam geworden war. „Schon gut. Nur etwas Kopfschmerz.“ „Tut mir leid... Ich habe mein Bestes versucht.“ Bedrückt seufzte sie. „Es waren gute Anläufe dabei.“ Sofort hellte sich ihre Miene auf. „Dann heißt das, ich habe Fortschritte gemacht?“ „Das kann man durchaus sagen.“ „Toll!“, freute sie sich, schnallte sich unter seinen misstrauischen Blick ab und kam über dem Sitz zu ihm gekrochen. Mit einem Überschlag seines Herzens, stellte er erschrocken fest, dass er quasi in der Falle saß. Schließlich wurde er mit einem Kuss auf die Wange überfallen. „Das ist immer wieder toll, wie du mir hilfst.“, strahlte sie ihn an und setzte sich zurück auf ihren Platz. Überrascht hielt er sich die Wange. „Was ist? So geschockt? Ich freue mich. Und ich dachte, ihr zeige dir das...“, kicherte sie vergnügt. „Und wegen morgen. Keine Sorge, Emma hat mich und ein paar Mädchen eingeladen... und zwei völlig ungefährliche Jungs.“, zwinkerte sie ihm zu. „Wollen wir dann zurück laufen?“, fragte Shaelyn mit einem bezaubernden Lächeln. L musste feststellen, dass es bisher keinen Moment gab, in dem er sich so erleichtert gefühlt hat Kapitel 31: Sweet Lips ---------------------- Es war angenehm warm als Shaelyn aus dem Schlaf erwachte. Mit müden Augen setzte sie sich auf und streckte sich. Das goldene Licht blendete die junge Frau leicht, weshalb sie ihre rechte Hand gen Sonne hochhielt und ein Auge zusammenkniff. Und trotz der langsamen Wiederkehr ihrer Gedanken, wusste sie eines sofort. Unwillkürlich umspielte ein Lächeln ihren Mund. Heute war Valentinstag. Das versprach schon am Morgen ein schöner Tag zu werden. Nicht nur die Sonne spendete eine angenehme Wärme, sondern auch ihre verträumten Gedanken. Gleich ließ sie sich wie ein kleines Mädchen kichernd ins Bett zurückfallen und zog die Decke bis unter die Nase. Shaelyn musste an die Schokoherzen denken, die sie am gestrigen Abend noch gemacht hatte. Rue war natürlich neugierig gewesen und wollte spionieren kommen, was sie ihm mit einem Abschließen der Türe verhindert hatte. Ob er nun bescheid wusste? Sie war sich nicht sicher. In England, oder auch hier in Amerika, war es nicht üblich, dass Mädchen den Jungs Geschenke machten. Es war ein Brauch aus Japan, wovon ihr Vater immer regelrecht geschwärmt hatte. Aber selbst wenn Rue davon wusste, gedulden musste er sich. Obwohl die Engländerin sich nicht sicher war, ob sie es ihm wirklich schenken sollte. Mit roten Wangen zog sie nun ganz die Decke über dem Kopf. Es war irgendwie aufregend. Shaelyn genehmigte sich zunächst ein Bad. Somit machte sie sich erst in aller Ruhe fertig für den Tag, bevor sie hinunter zum Frühstücken ging. Da sie am Tag zuvor den Wetterbericht noch angesehen hatte, wusste sie, was sie anziehen konnte. Ein hübsches Sommerkleid, das sie erst vor kurzem mit Emma eingekauft hatte. Aber für den Abend würde sie einen langen Mantel nehmen, da sie doch erst nach Sonnenuntergang nach Hause käme. Als sie soweit war, ging sie barfuß hinunter. Mit einem Lächeln betrat sie das sonnen geflutete Esszimmer und traf unerwartet auf Rue, der dort saß. Überrascht blinzelte sie einige Male, ehe sie neben ihm zum Stehen kam. „Guten Morgen, Rue.“, begrüßte sie ihn gut gelaunt und nahm auf dem Stuhl zu seiner Seite Platz. Er saß natürlich am Kopfende. Der Angesprochene schenkte ihr anfangs einen prüfenden Blick, bevor er wieder ins Starren überging. „Guten Morgen, Shaelyn.“ Er klang irgendwie nicht so gut gelaunt. Die junge Frau stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und blickte ihn fragend an. „Ist was passiert? Und was machst du hier? Wartest du auf Opa?“ „Watari ist in den frühen Morgenstunden gefahren.“, antwortete er ohne Emotion und wollte sich etwas aus der Kanne einschenken – doch aus der Kanne kam nichts heraus. Er seufzte. Shaelyn sah sich das einen Moment an. Was Rue wohl hatte? Er sah, so wie sie das einschätzte, irgendwie niedergeschlagen aus. Aber weswegen? Und wo war ihr Großvater plötzlich? Es war nichts Ungewöhnliches mehr, dass ihr Großvater mal ein paar Stunden fehlte, aber sie fragte sich trotzdem wo er war. „Was möchtest du haben? Kaffee oder Tee?“, fragte sie freundlich und stand von ihrem Sitz auf. „Tee, bitte.“ Gedankenverloren kochte Shaelyn etwas Wasser auf. Ob sie ihn gleich noch mal fragen sollte, was passiert sei? Sie machte sich schon ein wenig Sorgen. Mit einem Griff öffnete sie den Schrank, in dem sehr viele Teesorten zur Auswahl standen. Kurz grübelte sie, welchen sie Rue machen sollte. Er hatte sich keine spezielle Sorte gewünscht, weshalb sie das erste nahm, was ihr unter die Finger kam. Einen Früchtetee. Sie befüllte die Kanne mit dem heißen Wasser, tat aus dem Tütchen ein paar Löffel Früchtetee in einen Beutel, verschloss ihn und hing ihn in das Wasser. Während der Tee zog, machte sie sich ein Brot, schnitt ein wenig Obst zurecht, nahm sich anschließend selbst eine Tasse aus dem Schrank und kam mit allem auf einem Tablett zurück ins Esszimmer. Rue saß genauso da, wie sie ihn verlassen hatte - Nachdenklich an seinem Daumen kauend. Er schien sie erst bemerkt zu haben, als sie ihm die Kanne hinstellte. „Was ist denn los?“, hakte sie besorgt nach und setzte sich an ihren Platz. Rue sah sie von der Seite an. „Nichts.“ „Dann ist dieses Nichts aber ganz schön deprimierend.“, merkte sie an und aß von ihrem Frühstück. Rue zeigte keine Regung. Er tat, was er sonst immer tat – starren. Es war nun an Shaelyn zu seufzen. „Man kann dir nicht helfen, wenn du so schweigst.“ Und sie würde ihm wirklich gerne helfen. Rue nahm seinen Finger vom Mund und bediente sich wortlos an dem Obst, was sie geschnitten hatte. Sie sagte nichts dazu. Er konnte sich so viel nehmen wie er mochte und es war ihr immerhin schon bekannt. „Ich habe alles abgesucht.“, kam es schließlich ernst von ihm, woraufhin sie verwirrt die Augenbrauen zusammenzog. Was gesucht? „Was hast du denn gesucht? Vielleicht kann ich dir helfen.“ Bevor er antwortete, schenkte er sich den Tee ein und tat ordentlich Zucker hinein. Beim Umrühren warf er ihr einen stechenden Blick zu. „Das, was du gestern gemacht hast.“ Augenblicklich verschluckte sich Shaelyn und musste husten. Er hatte die Schokoladenherzen gesucht! Er wollte sich das Süße einfach klauen! So ein … Dieb. Wie gut, dass sie es gleich mit aufs Zimmer genommen und bei sich in der Sockenschublade versteckt hatte. Bestimmt suchte er dann später auch in ihrem Zimmer danach. Sie traute ihm ja so gut wie alles zu. „... Wer sagt, dass das für dich war.“, meinte sie mit einem frechen Grinsen und musste doch noch mal kurz husten. Ihr Grinsen verging, als er fast schon traurig aussah. Der Kerl war doch echt wahnsinnig nach Süßem. Natürlich wusste sie, dass ihm ihr Gebäck und generell Süßes gut gefiel. Jetzt hatte sie beinahe Mitleid. Aber nur beinahe. Er sollte sich gedulden und nicht versuchen es heimlich zu stibitzen. Nur weil er jetzt traurig aussah, würde sie ihm es nicht eher geben. „Rue... auch wenn du furchtbar traurig aussiehst. Deswegen gib ich dir das nicht eher.“ Prompt blickte er wieder neutral auf seine befüllte Tasse. „Ein Jammer.“, ließ er verlauten. Dieser Kerl versuchte wirklich alles! Dennoch musste Shaelyn lachen. Irgendwie war es süß. Nachdem Shaelyn mit Rue zu Ende gefrühstückt hatte, ging sie mit ihm zusammen zum Wohnzimmer. Er war außergewöhnlich Gesprächsbereit. Ob das auch eine Masche war, um an ihr Süßes zu kommen? Sie vermutete es. War das vielleicht auch eine Chance mehr herauszufinden? Viel Zeit blieb ihr dazu nicht. Und sie glaubte nicht wirklich daran. Auch wenn er mehr sprach, waren es normale Themen. Die Fahrlektion vom Vortag, dann noch ein paar Tipps dazu. Wie sie beim Lernen voran kam und all solche Dinge. Er gab nichts Privates preis. Rue blieb eben schweigsam. Denn wie oft sie sich schon vorher mit ihm unterhalten hatte – selten kam etwas aus seiner Vergangenheit ans Licht. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit. Seine schwarzen Pupillen wanderten zu Shaelyn hinüber, als jene auf die Uhr blickte. „Wann wirst du heute Abend wieder kommen?“, fragte er interessiert nach, woraufhin Shaelyn überrascht zu ihm sah. „Gute Frage... Ich weiß nicht genau. Wir gehen nachher essen und dann ins Kino. Irgendwann am Abend. Zwischen acht und neun, denke ich.“ Das war ein langer Zeitraum. „Verstehe.“ Es kehrte Ruhe ein und L nahm einen Lutscher zur Hand, den er gleich auspackte und anschließend nachdenklich an seiner Zunge drehte. „Ich werde dann gleich abgeholt.“, nahm sie das Gespräch auf, woraufhin er den Lutscher aus dem Mund zog. „Und hast du nicht noch etwas vergessen?“ Shaelyn dachte für einen Moment nach, ehe sie grinste. „Du bekommst nichts... jedenfalls nicht jetzt. Dann musst du dich noch bis heute Abend gedulden.“ L starrte sie verstört an und Shaelyn lachte erneut an diesem Tag. „Komm' zieh nicht so ein Gesicht. Du lässt auch nicht locker! Was ist dir die Süßigkeit denn wert?“ Er hob keine Minute später seinen Zeigefinger an und deutete auf seine Wange. „Du darfst mir auch ein Küsschen geben.“, meinte er mit einem Grinsen, das ihr vergnügtes Gesicht regelrecht ausradierte. „Nur auf die Wange? Das ist ein schlechter Deal.“, gab sie keck zurück und er zog seinen Mund in eine gerade Linie. Sie war ein harter Verhandlungspartner. „Hast du einen anderen Vorschlag?“, hakte sie neugierig nach, was ihn nicht zufriedener blicken ließ. „Nein.“ „Ein Jammer.“ Sie streckte ihm leicht die Zunge raus und stand auf. „Wenn du mich entschuldigst. Ich gehe mir jetzt Schuhe anziehen und verschwinde dann.“ Wenig begeistert biss er auf den Lutscher in seinem Mund. „Viel Vergnügen.“ „Das werde ich haben. Aber nächstes Jahr kannst du mich ja einladen. Dann bin ich nur für dich ganz allein da.“, meinte sie mit einem Augenzwinkern, ehe sie aus seinem Sichtfeld verschwand. L gab geschlagen zu: Die Vorstellung gefiel ihm recht gut. Emma wartete schon mit dem Auto vor dem Tor der Villa. Und es war bis auf einem Platz alles belegt. Zwei weitere junge Frauen saßen im Auto, die Shaelyn schon auf der Feier gesehen hatte. Sie unterhielten sich gerade ziemlich angeregt, weshalb nur Emma ihr entgegen lächelte. Dann konnte das Ausgehen beginnen. Die männliche Begleitung stellte sich als wirklich harmlos heraus. Am Treffpunkt wartete unter anderem Dustin, mit einem Freund, der derselben Ausrichtung war. Aber alle hatten eines gemeinsam: Sie waren Single. Weswegen das Hauptthema selbstverständlich bei jungen Kerlen lag, die der ein, oder dem einen, den Kopf verdrehte. Allerdings wurde Shaelyn die ganze Zeit schief von Dustin angesehen. Es war immer derselbe Blick, den er ihr zuwarf: Was tat sie hier? Eine berechtigte Frage, denn eigentlich wäre sie mit Rue zusammen. Demnach nicht Single und ohnehin hatte sie das Gefühl, sie war ein Dorn im Auge. Dustin konnte sie einfach nicht leiden, weshalb er sie meist ignorierte. Hingegen war der mitgebrachte Freund von Dustin ganz anders. Er versuchte öfter ein Gespräch mit ihr zu finden. Er hieß Mike und er war auch wirklich nett. Wenn sie ihm so begegnet wäre, würde sie denken, er stünde auf Mädchen. Mike verhielt sich komplett normal. Und Shaelyn musste zugeben, dass er wirklich gut aussah. Außerdem besaß er einen tollen Humor. Shaelyn konnte sich super vorstellen, dass viele Mädchen ihm hinterherliefen. Aber wie die Welt war, war sie ungerecht. Wie sie heraus fand, hatte Mike nur Pech. Denn wie die Mädchen ihm vergebens hinterherliefen, so lief er vergebens den Jungs hinterher. Nicht, dass er aufdringlich war, aber sie waren einfach nicht an Männern interessiert. Shaelyn überlegte, dass sie sich mal mit Mike treffen sollte. Denn je später es wurde, desto mehr redete sie mit ihm. Emma mischte sich auch öfter unter, oder gleich noch eine Freundin. Mit denen sie insgesamt leider wenig sprach. Meist taten sich Natalie und Sofia zusammen und diskutierten wild. Man merkte, dass die beiden auch so viel miteinander zu tun hatten. Aber das machte rein gar nichts aus, da Shaelyn auch einfach mal nur zuhörte. Es wurde viel beim Essen gelacht und herumgealbert, bis es dann Zeit fürs Kino wurde. Eigentlich wusste Shaelyn nicht, in welchen Film es ging und es war auch egal. Hauptsache sie war mal wieder im Kino. Als alle versammelt vor dem Kino standen, zog Shaelyn sich schon ihren Mantel über. Es wurde am Abend schnell kalt, weshalb sie sich in den Stoff kuschelte. „Hey, Joel!“, rief Sofia plötzlich an Shaelyn vorbei. Kaum war der Name gefallen, wandte die junge Engländerin sich um. Und dort war Joel, welcher gerade die Straße überquerte. Gleich beschlich Shaelyn ein seltsames Gefühl. Grundsätzlich freute sie sich, aber wäre nicht der Gedanke an Rue. „Hi, zusammen.“, begrüßte er locker die Runde und blieb einen Moment mit seinem Blick an Shaelyn hängen. Sie war dabei. Seine Schwester hatte ihm von dem kleinen Gruppentreffen erzählt und er hatte natürlich mit gewollt. Leider musste er gerade heute mittags aushelfen. Und an sich hatte seine Schwester ihm davon abgeraten mitzukommen. Aber er konnte nicht anders, weshalb er eben später dazu kam. „Hi, Joel.“, kam es etwas zurückhaltend von Shaelyn, die ein kleines Lächeln auf den Lippen trug. Gleich lächelte Joel zurück, wurde allerdings durch ein Packen am Arm aus seiner Traumwelt gerissen. Emma zog ihn ein Stückchen von der Gruppe weg. „Wieso hörst du denn nicht auf mich?“, klagte sie an und Joel grinste verschmitzt. „Das ist doch klar.“ „Du hattest doch was vorgehabt, oder nicht?“ „Das klappt nicht. Ich hab' sie seit Wochen nicht mehr gesehen. Ich muss einfach kommen.“ Seine Schwester seufzte. „Komm nicht wieder an und bitte mich verzweifelt um Hilfe.“ Joel nickte. Der misstrauische Blick sagte alles. Natürlich würde er wieder zu seiner Schwester gehen, wenn er Probleme mit der Liebe hatte. Denn so schnell kam er nicht von der schwarzhaarigen Engländerin los. Dann konnte der Spaß endlich losgehen. Shaelyn fühlte sich irgendwie unwohl. Natalie hat es lustig gefunden die Kinokarten zu mischen und somit jeder zufällig einen Platz zugewiesen bekam. Neben ihr schlürfte lautstark Dustin an seinem Getränk, dem der Sessel es gar nicht gefiel und an der anderen Seite saß Joel, der sie ständig anlächelte. Selbst Protest, dass wenigstens noch mal zufällig verteilt wird, wurde allen voran von Joel nicht akzeptiert. Demnach machte sich die Engländerin recht klein in ihrem Sessel und versuchte peinlichst nicht in Kontakt mit Dustin zu kommen. Wahrscheinlich würde er sie sonst gleich laut anknurren und kurz darauf beißen. Aber sie wollte ja auch nicht bei Joel auf dem Schoß landen, weshalb ihr nur die Wahl der unbequemen Sitzposition blieb. Mit dieser Position und einem gereizten Dustin direkt neben ihr, konnte sie sich kaum auf die Liebeskomödie an der Leinwand konzentrieren. So verging der Film und sie fühlte sich komplett verspannt. Was bei der Heimfahrt auch nicht nachließ. So schön der Tag war, aber der Kinobesuch war furchtbar. Nun saßen sie insgesamt zu fünft im Auto. Joel fuhr mit, saß aber Vorn. Also quetschten sich die übrigen drei nach hinten. „Du hast doch gesagt, dass du Süßes gemacht hast, oder?“, sprach sie Sofia von der Seite an, sodass sie zu jener sah. „Ja.“ „Warum hast du nichts zum Probieren mitgebracht?“ Überrascht zog Shaelyn ihre Brauen an. „Ähm... Ich weiß nicht.“ „Ist total schade. Hab noch nie selbstgemachte Süßigkeiten probiert. Und warum hast du welche zu Valentinstag gemacht? Solltest du nicht eher damit beschenkt werden?“ „Das ist so ein Brauch bei mir in der Familie gewesen...“ „Achso... sorry. Das ist nur so ungewöhnlich.“, lachte Sofia und stieß Shaelyn leicht in die Seite. „Der ganze Süßkram ist doch für deinen Freund, oder?“ Augenblicklich schluckte Shaelyn und lächelte schief. Dustin war schuld daran, dass die zwei Mädchen jetzt dachten, sie hätte einen. „Nicht ganz... ich habe auch was für meinen Opa gemacht.“ „Essen die denn viel Süßes? Also meine Typen mochten das alle nicht.“ „Ich mag gern Süßes.“, mischte sich Joel von Vorn ein. Gleich richteten sich sämtliche Blicke auf ihn. „Was ist?“, zuckte er mit den Schultern. „Schmeckt doch super.“, verteidigte er sich. „Da bist du aber eine Ausnahme, Joe.“, kicherte Natalie. „Nenn' mich nicht so!“, rief Joel beschämt, was ihm nur ein weiteres Kichern von Sofia einbrachte. „Wieso Joe?“, fragte Shaelyn verwirrt. „Ist sein Zweitname.“, erklärte Emma mit einem Grinsen zum Geschehen. Dann hieß er richtig: Joel Joe Andrews? Das klang im Ganzen schon komisch. „Sag ihr das doch nicht!“, meckerte er seine Schwester an. „Ich find' den Namen Joe gar nicht schlimm.“, äußerte Shaelyn sich mit einem Lächeln. Daraufhin erwiderte Joel nichts mehr und das Thema war beigelegt. „Aber eine Frage noch.“, meinte Sofia im Anschluss. Shaelyn blickte sie fragend an. „Deine Kette, die du da trägst. Ist die echt? Und kann man die irgendwo kaufen?“ Verlegen fasste die junge Frau sich an ihre Kette. „Die war ein Geschenk. Und sie ist echt.“, antwortete Shaelyn mit einem verträumten Lächeln. Sofia kicherte. „Ah... die kommt von deinem Freund. Ein echt tolles Geschenk.“ Ja, das war es – und sie hatte sie bisher jeden Tag getragen. Nachdem Emma an der Villa von Shaelyn hielt, verabschiedete sich die Engländerin und sah mit einem Seufzen dem Wagen hinterher. Schließlich blickte sie in den dunklen Himmel. Jetzt würde sie Rue ihre Schokolade schenken. Warum hatte sie ihm das Süße auch nicht schon am Morgen gegeben? Sie wollte ihn ein wenig zappeln lassen. So, wie er es immer mit ihr machte. Die Rache war eben in dem Fall wirklich bitterlich süß. Mit einem Lachen stellte sie sich nah genug ans Tor, was sich prompt öffnete. Ein kleines Winken in die Kamera an der Auffahrt und sie schritt den Weg entlang. Sie hatte doch gewusst, dass er schon wartete. Als sie die Haustüre aufschließen wollte, fiel ihr auf, dass der Wagen ihres Großvaters noch immer fehlte. War er doch den ganzen Tag über weg. Das war schade, da sie ihm doch auch ein paar Herzen schenken wollte. Es waren sogar andere, als die für Rue. Ihr Großvater aß nicht wirklich gern Vollmilch, weshalb sie bittere Schokolade nehmen musste. Gedanklich abwesend, zog sie ihren Mantel in der Eingangshalle aus und auch gleich ihre Schuhe. Mit nackten Füßen ging sie hinauf ins Zimmer und inspizierte erst einmal alles mit einem kurzen Blick. Es sah nicht danach aus, als habe Rue seine Suche fortgesetzt. Oder er konnte es perfekt verbergen. Wie dem auch sei, warf sie den Mantel aufs Bett und ließ die Schuhe auf den Boden fallen. Gleich ging sie an die Sockenschublade und kramte die schmale Schachtel von ganz unten heraus. Es war der wohl sicherste Platz im ganzen Haus. Zumindest vor Rue seiner Schnüffelnase. Shaelyn grinste. Und beinahe hätte sie die Schachtel zerdrückt, als sie einen Atem in ihrem Nacken spürte. „Verstehe. Sehr gut gewähltes Versteck.“ Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Auf der Stelle riss es sie herum. Rue starrte sie mit seinen großen runden Augen an. Wo kam er auf einmal her?! „Lauer mir nicht so auf...“, schnaufte sie atemlos und hielt sich mit der freien Hand die linke Brustseite. Der Schock saß ihr in den Knochen. Sie hatte ihn wirklich nicht bemerkt. Kein Knarren im Holz, kein Rascheln der Kleidung. „Meine Güte. Gib doch einfach einen Laut von dir.“ „Piep.“, meinte er trocken und legte seinen Zeigefinger an den Mund. Shaelyn kräuselte die Lippen. Er war unmöglich. Und sein Blick wanderte zur Schachtel, die er damit regelrecht fixierte. „Ich seh' schon. Du kannst es nicht mehr erwarten.“ Wie ein Kleinkind, das sich schon seit Tagen auf sein Weihnachtsgeschenk freute und das Haus danach absucht – wie er es am Morgen getan hatte. Kichernd überreichte sie ihm die weiße Schachtel, die er höchst interessiert entgegen nahm. Fast ehrfürchtig zog er an dem roten breiten Band, das die Box verschloss. Unbeachtet fiel jenes Stückchen Stoff auf den Boden und Rue öffnete die Schachtel. Ganz nervös beobachtete sie seine Regung – wenn denn eine vorhanden gewesen wäre. Shaelyn wurde unsicher. Gefiel es ihm nicht? „Rue...?“ Er blinzelte einmal, ehe er zu ihr aufsah und ihr den Atem raubte. Er schenkte ihr ein unvergleichliches Lächeln, sodass sie fast selbst dahin schmolz. Es waren wenige Sekunden und doch stand die Zeit still. Gut, dass Rue sich wieder dem Süßen widmete, sonst wäre sie in Ohnmacht gefallen. „Sind die gefüllt?“, stellte er die Frage und holte ein Schokoladenherz heraus, welches noch mit kleinen weiteren weißen Streusel-Herzen auf der Oberseite verziert war. Shaelyn versuchte ihre Stimme wiederzufinden. „... Ja. Welche mit Pfefferminzcreme, manche mit Erdbeercreme und dann noch die ganz besonderen.“ Ihr Lächeln konnte gar nicht größer sein. Sie fühlte sich himmlisch. Rue sah gespannt auf. „Na, mit Vanillecreme. Das sind die, mit den Streusel-Herzen. Was du gerade zwischen den Fingern hältst.“, erklärte sie glücklich und konnte kaum still stehen. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen und hätte ihn stürmisch geküsst. „Hast du sie probiert?“, wollte er als nächstes wissen und sie schüttelte den Kopf. „Also nicht im Ganzen. Die Creme und die Schokolade schon. Und die Streusel sind aus weißer Schokolade! Es schmeckt dir bestimmt total gut.“ Sie versicherte ihm, dass das alles schon schmeckte. Obwohl sie nicht glaubte, dass er daran dachte. Nur, damit er zu hundert Prozent wusste, dass das probiert war. „Dann...“, begann er und sie konnte die Spannung überall fühlen. Hoffentlich gefiel ihm die Süßigkeit. Allerdings führte er das Schokoladenherz nicht zu seinem Mund, sondern kam ihr damit nahe. Sanft legte er das Herz an ihre schwach geöffneten Lippen. „teile ich mit dir.“ Es war mit Abstand der schönste Valentinstag in ihrem Leben. Kapitel 32: Sommerfreuden ------------------------- Es war friedlich – und das gefiel dem Detektiv. Zurückgezogen im Garten unter dem Pavillon, trank er seinen überzuckerten Tee. Nicht, dass er gestresst war, oder gar überfordert, er suchte schlicht die Ruhe, welche er im Schatten des Pavillon fand. Es war Sommer und die Temperaturen waren deutlich gestiegen. Es ließ sich wunderbar gut im lauen Wind aushalten. L brauchte ein wenig Zeit um zu Reflektieren. Seit Valentinstag hatte sich spürbar etwas verändert. Bewusst wahrgenommen und angenommen. L genoss Shaelyns Anwesenheit mehr denn je. Was genau dazu führte, war ein erneutes unlösbares Rätsel. Fakt war, dass er es ein Stück weit aufgegeben hatte. Irgendwann war es selbst ihm zu anstrengend – denn die Vermutung diese missliche Lage würde sich von selbst lösen, eine große Fehleinschätzung. Gefühle waren flüchtig, aber anscheinend nicht die seine. L starrte auf den Grund seiner Tasse, die er in seiner typischen Weise mit zwei Fingern am Griff hoch hielt. Was sollte er tun? Ideal wäre es gewesen, wenn sich seine Gefühle auflösten. Da sich dies aber, leider, nicht bewahrheitete, blieb ihm nichts anderes als weiter nach einer Lösung zu suchen. War es demnach die richtige Frage, was er tun sollte? Nein, das war die falsche Frage. War er noch in der Lage zukünftig alles zurückzuweisen? Das war genau der Punkt, an dem er sich jetzt befand. Die Antwort war so ernüchternd, dass er die Luft hörbar ausstieß und die Tasse auf den Untersetzter stellte. L konnte eben nicht vor sich selbst davon laufen. Nein. Der legendäre L lief nicht davon. Es stellte jedoch trotzdem eine kleine Option dar. Bisher gab es keine Situation, in der er nur darüber nachgedacht hätte. Aber diese eine junge Frau schaffte genau das. L drückte nachdenklich seinen Daumen gegen den Mundwinkel. Nicht einmal seine Arbeit verschaffte Ablenkung, was ohnehin daran lag, dass daran nichts Forderndes war. Alles woran er die letzte Zeit dachte war ausschließlich sie. „Rue!“ L zog augenblicklich verschreckt die Schultern an und wandte seinen Oberkörper zur Seite. Seine schwarzen Pupillen suchten und fanden sogleich geweitet ihr Ziel. Sein Mund öffnete sich einen Spalt. „Es ist Zeit für den Pool. Was ist, willst du nicht auch eine Abkühlung?“, rief Shaelyn mit einem breiten Lächeln vom Pool hinüber – und sie trug einen Bikini. „...“ Er schüttelte langsam den Kopf, was Shaelyn mit einem enttäuschten Gesicht zur Kenntnis nahm und sich offensichtlich nicht damit zufrieden gab. Sie kam zu ihm hinüber und lehnte sich über den freien Stuhl neben ihm. L bemühte sich den Augenkontakt aufrecht zu erhalten. Eine weitere lästige Sache, die Stress in ihm hervorrief. „Komm schon. Nachdem Opa den Pool endlich ganz fit gemacht hat, kann man reingehen. Willst du ihn nicht mit einweihen?“ „Nein.“ „Und... was ist, wenn ich dich einfach mit mir ziehe?“ „Wärst du denn dazu in der Lage?“, stellte er die berechtigte Frage, die sie kurz grübeln und etwas seitlich blicken ließ. L nutzte die Gelegenheit. „Irgendwie bestimmt. … Gib dir einfach einen Ruck! Zu zweit macht das viel mehr Spaß und Opa hat mir sogar einen Ball gegeben.“ Ls Augen blitzten auf. Er sollte mal wieder ein Gespräch mit Watari führen. „Ich lehne ab.“ „Warum?“, wollte sie nun betrübt wissen. „Kein Interesse.“, wies er sie mit einer Stimme ab, die keinen Widerstand duldete. Das letzte was er jetzt noch brauchte war ein feucht fröhliches Erlebnis. Shaelyn stellte sich auf und schenkte ihm einen prüfenden, sehr langen Blick. „Schade...“ Und mit diesen Worten – unter seinem überraschten Ausdruck - entfernte sie sich. Er folgte ihr mit seinem misstrauischem Blick. So leicht gab Shaelyn auf? Sein Gespür schlug deutlich an. Das war mit Sicherheit nicht das Ende der Diskussion. Alles was L jetzt tun konnte war in Ruhe seinen Tee trinken, abwarten – und natürlich beobachten. Als Shaelyn in der Nacht aufwachte hatte sie das Gefühl zu verdursten. Direkt rollte sie sich an das eine Ende ihres Bettes und griff an die Seite – fand aber nur gähnende Leere. Mit einem lauten Murren setzte sie sich auf. Sie hatte ganz vergessen sich eine Wasserflasche mitzunehmen. Jetzt musste sie natürlich in die Küche. Ein kleiner Blick auf die digitale Uhr zeigte kurz nach drei. Die perfekte Zeit um jetzt aus dem kuscheligen Bett zu steigen. Es half alles nichts – sie war wahnsinnig durstig. So konnte sie bestimmt nicht mehr einschlafen. Seufzend schlug sie die dünne Decke von den Beinen und stellte sich auf. Müde rieb sie sich die Augen und stellte nebenbei fest wie hell es im Zimmer war. Normalerweise war es doch ziemlich dunkel? Neugierig ging sie an das große Fenster heran und schob sie die weiße Gardine beiseite. Gleich erkannte Shaelyn einen sternenklaren Himmel samt Vollmond. Kurz vom schönen Anblick gefesselt stand sie dort und blickte still in den Himmel. Auch wenn es schon knapp ein halbes Jahr her war, erinnerte sie sich noch gut daran wie sie öfter versuchte genau solch ein Bild zu sehen. Es klang seltsam, aber egal wie lang man zuvor sehen konnte, konnte man sich wenn man blind war nicht an solche Szenen erinnern. Es waren wage Vorstellungen. In der Dunkelheit verblasste jegliche Farbe und Form. Shaelyn schätzte heute das Sehen viel mehr als früher. Selbst wenn es alltägliche Bilder waren. Wahrscheinlich konnte sich das nur jemand vorstellen, der in der selben Situation wie sie steckte. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Im Nachhinein war es eine gute Erfahrung. Als Shaelyn sich abwenden wollte, sah sie für einen Moment hinunter in den Garten und blinzelte überrascht einige Male. Stand dort Rue am Pool? Das sah aus, als ob er über den Sinn und Zweck eines Pools nachdachte. Zumindest stand er am Beckenrand und starrte bewegungslos in seiner gebückten Haltung in das beleuchtete Wasser. Irritiert ließ sie von der Gardine ab. Rue war wirklich seltsam... Plötzlich traf sie die Erleuchtung. Mit einem breiten Grinsen machte sie sich im Nachthemd leise auf den Weg. Es war Zeit für ein Attentat – und vor allem für ihre Vergeltung! Es war reiner Nervenkitzel! Ihr Puls war nicht aufzuhalten und schnellte noch höher, als sie sehr leise und langsam die Wohnzimmertür öffnete. Vorsichtig spähte sie durch den Spalt und überzeugte sich davon, dass Rue noch immer am Pool stand. Dank der geöffneten Gardinen konnte sie sich einen Blick verschaffen. Sogleich tapste sie mit nackten Füßen über den hölzernen Boden und Teppich; dabei immer Rue im Blick behaltend. Er regte sich kein Stück. Fast dachte man, er wäre eine Statue. Aber Shaelyn wusste, dass er aufmerksam war. Niemals sollte man ihn unterschätzen. Nur ein Laut und er wäre alarmiert. Dann wäre ihr gesamter Plan zunichte gemacht... Aber bis jetzt bemerkte er nicht wie sie sich weiter heran schlich. Kurz an der offenen Gartentür halt gemacht, schätzte sie noch einmal die Lage ab. Rue stand ideal nah am Beckenrand. Jetzt stellte sie sich noch die Frage ob sie nach Vorn stürmen sollte oder doch bis zuletzt heran schlich und ihn stieß. Plötzlich bewegte sich Rue und Shaelyn duckte sich. Sogleich drehte sie sich um und flüchtete an einen nahegelegenen Gestand, hinter dem sie sich versteckte. Benommen fasste sie sich an ihre linke Brustseite. Ihr Herz raste. Und... hatte er sie jetzt gesehen? Hatte er sich überhaupt umgedreht? Aufgeregt lugte sie um ihr Versteck, das sich als Kommode herausstelle, und nahm keine Bewegung an der Tür wahr. Ob sie wieder zu ihrer Position konnte? Shaelyn ließ es darauf ankommen. Wer wusste schon wie lange er vielleicht da noch stehen würde – wenn er es noch tat. Auf allen Vieren bewegte sie sich sachte vorwärts. Ein weiterer prüfender Blick und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Rue stand noch immer so da – mit dem Unterschied dass er seine rechte Hand an seinen Mund gehoben hatte. Shaelyn zögerte. Vielleicht war das nur ein Trick. Bei ihm wusste man nie was er vorhatte. Eventuell hatte er sie längst bemerkt und tat jetzt so als wüsste er von nichts. Sie traute ihm alles zu. Aber vielleicht wusste er nichts von ihrer Anwesenheit... In jedem Fall riskierte sie es. Schnell und vor allem leise hastete sie von der Tür los und setzte alles damit auf eine Karte. Mit dem letzten Schritt trat sie laut auf den Fliesenboden, verriet sich damit – doch war es längst zu spät für Rue. Mit einem kräftigen Schubs gegen den gebeugten Rücken und Rue fiel, mit den Armen rudernd, kopfüber mit einem Platscher ins Wasser. Sofort streckte Shaelyn freudestrahlend die Faust in die Luft: „Ja! Geschafft!“ Kaum wenige Sekunden später tauchte der schwarze Haarschopf mit einem heftigen Einatmen aus dem Wasser auf. Rue stand bis knapp unter dem Hals im Wasser. Shaelyn grinste zufrieden. Es war die gerechte Strafe dafür, dass er sie so streng abgewiesen hatte. Da kam die erste Frage auf. Müsste ihm das Wasser nicht eigentlich bis zum Bauch gehen? Wieso lugte nur sein Kopf heraus? Als Rue seinen Kopf im Wasser drehte, starb ihre Freude über den Erfolg augenblicklich. Seine nassen Haare verdeckten viel von seinem Gesicht – doch seine Augen blitzten gefährlich aus einem Spalt Haare heraus. Sollte sie jetzt besser fliehen und hoffen, dass er sie nie finden würde? Rue verharrte auf der Stelle – und er sagte nichts. Das war mit Sicherheit kein gutes Zeichen. Shaelyn schluckte schwer. Sollte sie jetzt etwas sagen? Würde das überhaupt helfen? Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee gewesen ihn in den Pool zu schubsen... So etwas fiel ihr grundsätzlich immer später auf. Das Wasser begann Wellen zu schlagen. Angespannt beobachtete sie, wie Rue sich aufstellte – und ihr Herz tat einen Sprung. Von seinem blassen Gesicht perlte das Wasser ab, welches auf sein weißes Shirt tropfte, jenes an ihm klebte und wenig Spielraum an Fantasie gab. Atemlos biss sie sich auf die Unterlippe. Eindeutig konnte sie nicht ihre Augen von ihm nehmen. Jetzt würde sie ihn gern berühren...Verlegen wandte sie schließlich doch den Blick ab. Und das nicht zuletzt, da sie sich bei den gewagten Gedanken ertappte. Was sollte sie tun? Ihr Puls raste und die Bilder in ihrem Kopf lösten sich nicht auf. ... Es war aufregend daran zu denken. Bei all den Gedanken bekam Shaelyn nur am Rande mit, dass Rue an ihren Beckenrand zum Stehen kam. Urplötzlich ein harter Griff um ihre Hand, was sie in die Realität beförderte und geradewegs in das darauffolgende kühle Nass. Abrupt tauchte sie nach Atem japsend nahe dem Beckenrand auf. Entsetzt starrte sie an sich hinunter. Ihr Nachthemd war nicht nur durchnässt, sondern auch komplett transparent! Eben so ähnlich wie das Rues. Mit einem Unterschied! Sie war eine Frau! Mit hochroten Wangen verschränkte sie die Arme vor der Brust, ehe sie sich wütend umdrehte. „Was soll das?! Du-“ Fassungslos brach Shaelyn ab. Rue war dabei einfach aus dem Pool zu steigen! Er hatte es sogar schon fast geschafft! Gleich griff sie hinten an sein Shirt, an dem sie rücksichtslos zog - was natürlich zur Folge hatte, dass er ein weiteres Mal, nur dieses mal rücklings, ins Wasser fiel. Erneut mit den Armen vor der Brust, wartete sie bis Rue auftauchte und sich zu ihr drehte. Er sah alles andere als glücklich aus. Das jedoch kümmerte Shaelyn in ihrer Situation wenig. „Ich hab' nur ein Nachthemd an! Wie kannst du mich da in den Pool ziehen?!“, meckerte sie ihn an und schnürte ihre Arme noch enger um die Brust, da Rue diesen Fakt überprüfte. Verärgert und vor Scham berührt, stellte sie sich etwas seitlich. „Lass das Glotzen! Das hast du doch vorher gewusst!“ Rue hob aus dem Wasser seine Hand an, legte seinen Daumen an den Mund. Er ließ sich für eine Antwort sehr viel Zeit. „Und wenn?“ Gleich schnappte Shaelyn empört nach Luft. „Du Schwein!“ „Soweit waren wir schon einmal. Allerdings sind wir, wie ich sehe, jetzt quitt.“ Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie ihn gehauen. Aber eben nur hätte. „Nein! Das war nicht fair!“ „Wie auch immer.“, meinte er gelassen, nahm den Daumen vom Mund und grinste. Ja, er grinste. Wie dreist! Und noch dreister war es, als er seinen Blick schweifen ließ. „Hör' auf damit!“, forderte sie ihn verlegen und gleichermaßen verärgert auf. Allerdings schien ihn das überhaupt nicht zu kümmern. Er starrte ganz offensichtlich und ohne Zurückhaltung! Es war ihm komplett egal! Und was sollte sie davon halten? Tat er es nur wieder um sie zu provozieren? Shaelyn war es mehr als unangenehm, weshalb sie ihm voller Scham den Rücken kehrte. Angriff war jetzt keine gute Idee – obwohl ihr wirklich danach war. Es ginge nur wieder nach hinten los. Wie jeder ihrer genialen Einfälle. „Könntest du vielleicht deine Augen schließen? Nur solange, bis ich aus dem Pool und ins Haus verschwunden bin.“, bat sie ihn diesmal ruhiger und erhoffte sich somit zumindest so etwas wie Respekt. Was sie bekam, war mehr als das. Shaelyn wurde unsicher. Sie hörte eindeutig, wie Rue sich hinter ihr im Wasser bewegte. Was tat er? Kurz war sie versucht zu spähen, als sie bemerkte wie dicht Rue hinter ihr zum Stehen gekommen war. Sie spürte deutlich seinen warmen Atem an ihrem Ohr, was ihr Herz hart gegen ihre Brust klopfen ließ und ihr Gänsehaut bescherte. Ihr Verstand stellte ihr so viele Fragen, dass sie kaum einen richtigen Gedanken fassen konnte. Erst recht nicht als sie in der schemenhaften Reflexion des Wassers sah, wie Rue seine Hand hob. Shaelyn wusste, dass Rue nichts tun würde, was ihr schadete. Es war die Ungewissheit – welche sich kaum wenige Sekunden später in Luft auflöste. Mit einem Mal wurde es ziemlich schwer auf ihrem Kopf. Gleich fasste sie danach und stellte mit großem Erstaunen fest, dass es sich um nassen Stoff handelte. Verblüfft zog sie den Stoff von ihrem Kopf und erkannte sofort sein weißes Shirt. „Entschuldige.“, vernahm sie nah am ihrem Ohr, sodass sie abermals eine Gänsehaut bekam. Hatte er sich gerade bei ihr entschuldigt? Mit seinem Shirt in der Hand, wandte sie sich direkt um. Seine Nase berührte fast die ihre und sein warmer Atem strich ihr Gesicht sachte. Shaelyn versuchte gefasst Luft zu holen. Sie hatte seine volle Aufmerksamkeit. „D-Danke.“, brachte sie gerade so über ihre bebenden Lippen. Was sollte sie tun? Sein Blick hielt sie gefangen. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Sie sehnte sich nach seiner Nähe. Nur ein paar Zentimeter trennten sie von seinen Lippen, welche sie am liebsten im Sturm erobern wollte. Aber ihr Verstand signalisierte deutlich etwas. So stark, dass sie sich selbst stoppte. Es war unmöglich. Sie durfte nicht. Zu oft hatte sie den Fehler begangen und erlebte eine Abfuhr. Es sollte nicht noch einmal so sein. Außerdem hatte sie sich fest vorgenommen stark zu bleiben. So lange zu warten, bis es wirklich an der Zeit war. Shaelyn war durcheinander. Und das schlimme daran war, dass Rue absolut nichts von sich gab. Er stand vor ihr, blickte sie an und tat nichts. War das vielleicht sogar ein Test? Wollte er sie prüfen? Oder was sollte sie von seinem seltsamen Verhalten halten? Wann war sein Verhalten normal? Wartete er vielleicht sogar genau auf einen Kuss? Nein. Niemals. Warum sollte er das wollen? Sicher war nur, dass er oft versuchte sie zu reizen. Egal was es war. Er tat es immer aus einem Grund. Damit holte er sich die Antworten, die er brauchte. Shaelyn wusste nicht wo sie bei ihm stand. Dabei musste er sie nur fragen... Unsicher und überfordert trat Shaelyn schließlich einen Schritt zurück. Sie entzog sich widerstrebend seiner Nähe und wich seinem Blick aus. Damit setzte sie ein sichtbares Zeichen – für sie eines, das sie seine Gefühle respektierte und warten würde. Doch empfand es L anders. Jener junger Mann blinzelte einmal perplex. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Hatte er eine bestimmte Reaktion erwartet, sogar erhofft? Und war es gerade eine Zurückweisung? L wusste nicht mit dem neuen Gefühl umzugehen. Es fühlte sich wie ein tiefer Stich in seine linke Brustseite an. Denn so wie er sie einschätzte, hätte sie diese Gelegenheit ausgenutzt. Und warum konnte er ihre Gesichtsregung nicht lesen? Es schmerzte ihn. Ihm ist der objektive Blick verloren gegangen. Er begann zu zweifeln. Und auch eine Vermutung brannte sich förmlich in seinen Kopf. Er war einen Schritt auf zu zugegangen und sie einen zurück. „T-Tut mir leid. Ich gehe jetzt besser... danke für dein Shirt.“ Ihre Stimme war sehr leise. Fast hätte L sie nicht verstanden, allerdings war ihre Handlung danach klar genug. Schnell zog sie sich sein Shirt über, ging an den Beckenrand und stieg aus dem Pool. Mit einem ratlosen Blick beobachtete er, wie sie eilig ins Haus verschwand. Zurück blieb er allein im Wasser. So schnell sie konnte ging sie hinauf in ihr Zimmer und das angrenzende Bad, wo sie sich gleich ein großes Handtuch aus dem Regal holte. Die nassen Sachen tropften alles voll – doch galt viel mehr der Gedanke Rue. Er hatte zuletzt seltsam anders gewirkt. Beinahe würde sie sagen traurig, oder enttäuscht, oder besorgt. Was sollte das bedeuten? Bildete sie sich das wieder ein? Seine Entschuldigung klang echt. Aber das schien nichts damit zu tun gehabt haben. Es kam auf... als sie sich von ihm entfernt hatte. Energisch schüttelte Shaelyn ihren Kopf. Warum sollte er traurig sein, wenn sie Abstand hielt? Es müsste ihm doch lieber sein. Verwirrt rieb sie sich langsam mit dem Handtuch ihr feuchtes Gesicht trocken und trank anschließend noch immer durstig ein wenig aus dem Wasserhahn. Shaelyn seufzte leise. Was auch immer ihn wieder grübeln ließ – fast hätte sie ihn wieder mit einem Kuss überfallen. In Zukunft musste sie mehr Willensstärke zeigen. War das überhaupt möglich? Sie hatte gerade praktisch die Feuerprobe bestanden – und deshalb zitterten ihre Hände noch immer ganz stark. Bevor sie sich trocken, in einem neuen Nachthemd, wieder ins Bett legte, lugte sie noch einmal in den Garten. Von Rue war nichts mehr zu sehen. Schade. In all der Eile und Aufregung hatte sie gar keinen richtigen Blicke auf ihn werfen können. War das gestern die Realität gewesen? Das war ihr erster Gedanke, als sie aus ihrem Schlaf erwachte. Sie lag seitlich und blickte stumm auf die Uhr auf dem Nachtisch. Es erschien ihr unwirklich. Wie ein seltsamer Traum. Vielleicht war es auch einer gewesen? Im Moment konnte sie es nicht sagen. Einzig sein weißes Shirt im Bad würde es mit Sicherheit verraten. Und wenn es die Wirklichkeit war; wie könnte sie ihm jetzt in die Augen sehen? Leise stieß sie die Luft kurz aus. Warum sollte sie ihm nicht in die Augen sehen können? Ja, das war die bessere Frage. Es war rein gar nichts passiert – außer dem mulmigen Gefühl, Rue lag etwas auf dem Herzen. Wie auch immer. Früher oder später lief sie ihm schon über den Weg. Und sie sollte sich auf den heutigen Tag freuen. Emma hatte sie zum Strand eingeladen. Es war an der Zeit, laut Emma, dass sie ihr ihren Bikini mal vorführte. Immerhin waren Sommerferien. Da blieb genug Zeit am Strand. Und Shaelyn musste sagen, dass sie sich schon freute. Mit jenen guten Gedanken drehte sie sich um – und starb fast an einem Herzinfarkt. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in ein anderes Paar Augen, dass im gleichem Maß zurück stierte. Rue saß neben ihr auf dem Bett! Und starrte sie mit seinen großen runden Augen an! Ihr blieb die Sprache im Halse stecken. „Guten Morgen, Shaelyn.“, begrüßte er sie nahezu monoton. „Ausgeschlafen?“ Das klang sarkastisch und außerdem beängstigend. Wie lange saß er dann schon so da? Und überhaupt?! Sie war geschockt. „Wie... Wie lange...“, brachte sie hingegen nur stockend hervor. „Lange genug.“ Shaelyn musste einen Moment nachdenken und blinzelte daher einige Male entsetzt. Sie war viel von Rue gewohnt, aber das gerade sprengte alles. „Was machst du hier? Was willst du?“ Konfus über sein Verhalten konnte sie nicht anderes als still dabei zuzusehen, wie er hinten an seine Hosentasche griff und etwas hervorholte. Einen Lutscher, den er seelenruhig auspackte und sich in den Mund schob. Ging es ihm noch gut?! Shaelyn setzte sich mit der Decke an die Brust hochzogen hoch und wandte sich seitlich an ihn. Ihr Gesicht war von Unverständnis gezeichnet. „Sag mal,... dir ist schon klar, dass das hier mein Bett ist und dass ich geschlafen habe?“ Sie war dabei ihre Sprache wiederzufinden. „Ja.“, meinte er gelassen und drehte den Stiel seines Lutschers gleichmäßig im Mund. „Kam dir nicht einmal in den Sinn, dass das total unverschämt ist, dass du einfach so in mein Zimmer kommst, dich auf mein Bett setzt und mich ewig und drei Tage anstarrst?“ Shaelyn gab sich Mühe ihn zu verstehen – aber irgendwie fiel ihr nichts ein, was das eben erklären sollte. „Doch.“, antwortete er schlicht und sie zog die Augenbrauen zusammen. Hat ihn das also absolut nicht gestört? „Doch? Geht es auch ein wenig ausführlicher? Kannst du mir in ein paar Sätzen erklären, was das soll?“ Ihr Ärger schürte sich. „Ich dachte,...“, begann er ruhig und fasste sich an die andere Hosentasche, aus der er etwas weiteres hervorholte. Wieder etwas Süßes? Shaelyn war sich sicher, dass er sie zum Narren halten wollte. Doch in der Hand hielt er ihr nun nah genug zwei Karten entgegen. „das hier könnte dich interessieren.“ Skeptisch musterte sie erst Rue, bevor sie einen genaueren Blick auf die hochgehaltenen Karten warf. Augenblicklich weiteten sich ihre Augen ein weiteres Mal und gleich entriss sie ihm die zwei Karten. Um noch einmal sicher zu gehen, betrachtete sie es aus der Nähe. „Das... ! Das sind ja zwei Tickets?! Für die Universal Studios Hollywood?! VIP?!“ Aufgeregt sog sie die Luft ein. Waren die Tickets echt? Gleich wandte sie die Karten einige Male und prüfte jede Stelle. Sie wollte doch unbedingt die berühmten Stellen in Los Angeles sehen! Sie hielt inne. Verstört starrte sie auf das Datum zu welchem die Tickets zugelassen waren. „Das ist ja heute?! Wieso sagst du mir das jetzt erst?! Wir haben doch schon nach Zehn!“ In Panik schlug sie die Decke von sich und stand hastig auf. „Und i-ich muss Emma absagen!“ Nun hellauf begeistert, legte sie die Karten aufs Bett und rannte aus dem Zimmer. Zurück blieb abermals L, der allerdings mit einem zufriedenen Grinsen nochmals seinen Lutscher im Mund drehte. Im Wohnzimmer begegnete sie ihrem Großvater, der sie überrascht anblickte. „Morgen, Opa! Das Telefon. Wo ist es?“ „Guten Morgen, Shaelyn.“, begrüßte er sie zunächst freundlich und nahm vom Gemälde Abstand, welches er gerade mit einem Wedel entstaubt hatte. Anschließend fasste er in seine Jacketttasche und reichte ihr das gewünschte Telefon. „Darf ich fragen, was dich so glücklich stimmt?“ Shaelyn hielt prompt inne und sah vom Telefon auf. Ihr Großvater wusste gar nichts von Rue sein Vorhaben? Dabei dachte sie immer, diese zwei verbargen nichts voreinander. Irritiert hob sie eine Augenbraue an. „Rue hat VIP Tickets für die Hollywood Studios.“ Der alte Mann war ein zweites Mal überrascht, ehe er milde lächelte. „Ich verstehe. Wann soll es stattfinden?“ „Gleich... schätze ich. Das Ticket ist für heute.“ Shaelyn hatte ein so seltsames Bauchgefühl, dass ihre Freude herbe gebremst wurde. War das alles wirklich als eine Überraschung gedacht gewesen? Eine so große, dass er nicht einmal Watari eingeweiht hatte? Steckte etwas anderes dahinter? Rue... Shaelyn schüttelte ihren Kopf. Rue hatte sie eingeladen. Das war genau das, worauf sie sich nun konzentrieren sollte. Nicht mehr ganz so enthusiastisch, begann sie zu lächeln. „Ich schätze, Rue hat mal wieder den Joker ausgespielt.“, gab sie wissentlich von sich. Langsam begann sie ein wenig zu verstehen. Wenn nicht direkt etwas – allerdings doch etwas. Wie immer war alles was mit ihm in Verbindung stand kompliziert. „Dann werde ich das Auto vorbereiten und im Hof warten.“ Ja, ihr Großvater wusste auch gleich was er zu tun hatte. Als der alte Herr das Zimmer verließ, wählte Shaelyn die Nummer von Emma. Jetzt war sie doch wieder etwas aufgeregt. Das Freizeichen war zu hören und wenige Sekunden später hob auch schon jemand ab. „Ja?“, meldete sich direkt die richtige Person. „Emma! Ich kann es nicht fassen!“, rief sie freudig. „Was?! Was ist passiert?!“ „Ich kann heute nicht zum Strand kommen. Rue hat mich in die Studios eingeladen. VIP Tickets! Ich muss mich ganz schnell anziehen.“ Eine Pause trat ein. „... Echt?“ „Ja! Ich bin aufgeregt.“ „Dann muss Rue das aber schon eine Weile planen.“, gab Emma verblüfft von anderen Ende der Leitung preis, was Shaelyn gleich stutzen ließ. „Wieso?“ „Also VIP Tickets sind echt lange vorher ausgebucht. Also entweder hat er gute Kontakte, oder hat das schon lang geplant.“, erklärte die Amerikanerin offen und seufzte schließlich. „Man, hast du ein Glück. Glaub mir, das ist echter Luxus. Nicht nur, dass du alle Fahrgeschäfte ohne Warteschlange sofort betreten kannst, sondern kannst du zu sämtlichen Shows. Hast immer einen extra Platz. Da werd' ich ja neidisch.“ Emma lachte offenherzig, doch Shaelyn nickte schlicht am Telefon. Die Gedanken vor nicht all zu langer Zeit schlichen sich wieder an. Es war eine Pause, die von Emma bemerkt wurde. „Shae? Noch dran?“ „Ja... ich bin dran.“ „Ist etwas? Freust du dich nicht mehr?“ Die Engländerin schüttelte erneut ihre Gedanken ab. „Nein, schon gut. Habe nur an etwas gedacht. Ich freue mich natürlich. Holen wir das dann mit dem Strand nach?“ „Sicher! Hab viel Spaß in den Studios. Musst mir dann alles später berichten.“ „Alles klar. Mach ich. Ich meld mich dann!“ Shaelyn legte auf und starrte einen Moment auf das Telefon in ihrer Hand. Egal was Rue mit dieser Aktion bezwecken wollte – sie sollte Spaß haben. Und schließlich waren die Studios genau dafür da. Dennoch konnte sie sich nicht mehr ganz so freuen. Irgendetwas war seltsam. Nachdem sie die Türe zu ihrem Zimmer öffnete, stellte sie verblüfft fest, dass Rue noch immer auf ihrem Bett war. Nein, er lag sogar darauf und starrte an die Zimmerdecke. Was machte er bloß auf ihrem Bett? „Rue?“, ließ sie anklingen als sie die Türe hinter sich schloss. Der Schwarzhaarige bewegte sich nicht. „Was gibt es?“ „Was tust du da... auf meinem Bett?“ „Nichts.“ … Nichts. Rue benahm sich wirklich komisch. „Ich muss mich umziehen, damit wir los können. Opa lässt schon mal den Wagen an.“ Rue setzte sich im Schneidersitz auf, woraufhin sein Blick sie traf. Er wirkte entspannt. „Was ist? Soll ich mich jetzt noch vor dir umziehen?“, stichelte sie in alter Manier mit einem süßen Grinsen, das er aufmerksam studierte. Plötzlich lächelte er sehr schwach, das ihr gleich einen Herzsprung bescherte. „Ich frage mich...“ Für kurze Zeit setzte er aus, was sie aufhorchen ließ. „ob es jeden Morgen so aussehen würde.“ Shaelyn hielt unbewusst den Atem an, woraufhin ihr laut schlagendes Herz nur deutlicher wurde. Meinte er genau das, was sie dachte, oder wollte er, dass sie genau das dachte? War es ein Test? Sollte sie ehrlich darauf antworten und wieder einmal eine Liebesbekundung aussprechen? Sie testete sich vorsichtig heran. Ihre Neugier war geweckt. „Was meinst du?“, fragte sie und betrachtete genau seine Gesichtsregung. Allerdings mehr als ein Starren konnte sie nicht ausmachen. „Nichts Wichtiges.“, kam es ihm nüchtern über die Lippen, das sie kritisch die Arme vor die Brust verschränken ließ. Eigentlich war dazu gerade keine Zeit, aber Rue legte es abermals darauf an. Mit der Haltung trat sie ans Bett, was Rue beobachtete. Er wusste genau, dass er sie damit mehr anstachelte. „Nein, wird es nicht. Denn ich werde in Zukunft mein Zimmer abschließen. Damit solche aufdringlichen Männer nicht mein Bett besetzen.“ „Aufdringlich?“, harkte er unschuldig nach und sie grinste. „Aufdringlich. Oder wie würdest du es sonst bezeichnen mein Bett in Beschlag zu nehmen und mich stundenlang anzustarren. Das ohne mich zu fragen.“ Rue begann sie durchdringend anzusehen. „Hättest du Ja gesagt?“ Es wurde interessant. Warum genau wollte Rue das jetzt wissen? „Ich weiß nicht. Sag du es mir.“ Offensichtlich begann ihn das Gespräch ebenso zu interessieren. Rue legte seinen Zeigefinger an seinen Mundwinkel. „Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass du mir ein Ja gegeben hättest.“ „Hm... vielleicht.“ Er zog eine Augenbraue an, während Shaelyn begann zu grinsen. „Vielleicht?“ „Vielleicht.“, bestätigte sie. Es schien, als sei sie diesmal diejenige, die ihr Spiel trieb. Oder eventuell war sogar auch das ein Teil seines Plans. „In jedem Fall solltest du jetzt von meinem Bett und aus dem Zimmer.“ „Und wenn ich mich weigere?“ „Ziehe ich diesmal meine Schlüsse daraus.“ „Die wären?“ „Du spielst gern mit mir, oder?“ „Das war nicht die Antwort auf meine Frage.“, gab er prompt von sich. Er wollte unbedingt auf seine Art und weise diskutieren. Es bewies ihr, dass es zumindest kein ein einfaches Gespräch darstellte. Der Kerl wollte wieder etwas herausfinden. Sie stieg auf das Spiel ein. Er hätte sie auch sonst einfach fragen können. „Was ist, wenn ich jetzt schweige?“ „Interessanter Ansatz. Dann bekommen wir beide nicht das, was wir wollen.“ „Oh? Dann wären wir ja beim Kernthema.“ L war beeindruckt. Treffender hätte Shaelyn es nicht ausdrücken können. Es spiegelte alles wider. In gewisser Hinsicht hatte er damit einen Teil seiner Fragen geklärt. Man könnte es als zufriedenstellend bezeichnen. Außerdem amüsierte ihn das Gespräch. Shaelyn hatte dazu gelernt. „Vielleicht.“, antwortete er nun, das sie zum Lachen brachte und ihn grinsen ließ. „Ich verstehe, Rue. Aber mal ernsthaft jetzt. Wenn ich dich noch einmal in meinem Bett erwische, bekommst du es mit mir zu tun. Solange du ein Freund bist, hast du hier nichts zu suchen. Das ist nicht nur gruselig, sondern wirklich aufdringlich und total seltsam.“ Solange er nur ein Freund war. Ja, im Grunde waren sie Freunde. L blinzelte als sie begann erneut zu sprechen: „Es sei denn du weckst mich gleich mit leckeren Sachen.“ Ihr vergnügtes Lachen erfüllte den Raum. Shaelyn war offenbar wieder besser gelaunt. „Die wären?“ „Na, was wohl. Diese Vanillekugeln! Die waren ein Traum...“, schwärmte sie und stand schließlich auf. „Aber... da du mich wahrscheinlich nicht damit wecken wirst, weil du ja auch gar keinen Grund dazu hast, bleib meinem Zimmer in der Nacht fern. Ein gut gemeinter Rat.“ Ob er diesen befolgen würde? Bisher hatte er es auch nie darauf angelegt erwischt zu werden. Shaelyn öffnete die Türe zum Schrank. „Jetzt husch. Oder ich bewerfe dich wieder mit Socken. Am besten mit getragenen aus dem Wäschekorb im Badezimmer.“ Sofort riss er seine Augen verstört auf. „Einverstanden. Ich gehe.“ Shaelyn kicherte. So schnell konnte man ihn vergraulen. Socken. Was hatte er nur gegen Socken? Sie waren doch bequem... Mit wiederkehrender Freude machte sie sich für den langen Tag bereit. Mit nur einem roten Rock, einem ärmellosen Oberteil und einer Überjacke sollte es auch bequem genug sein. Schließlich wäre sie den ganzen Tag auf den Beinen. Immerhin war es nicht nur das Studio, sondern auch mit einem Freizeitpark zu vergleichen. Shaelyn fragte sich, ob Rue es sich gut überlegt hatte. Immerhin musste er alles mitmachen. Ja, der Tag versprach richtig gut zu werden. Kapitel 33: Nur ein Augenblick ------------------------------ „Sie haben sich also doch für diesen Schritt entschieden?“, wandte sich der alte Mann an L, welcher neben dem Wagen ebenso auf Shaelyn wartete. Kurz besah der Detektiv prüfend seinen Vertrauten. „Ja. Es hat sich so ergeben.“ Watari wusste in diesem Moment, dass mehr als nur eine Absicht hinter den Handlungen des jungen Mannes steckte. „Dann bitte ich Sie um Vorsicht, L.“ Es war eine lange Zeit her, dass Watari den Namen des Schwarzhaarigen genannt hatte. Das blieb natürlich nicht unbemerkt. L wandte seinen Kopf zum alten Herren um, während er seinen Daumen an den Mund legte. „Seien Sie unbesorgt. Ihre Enkelin ist in guten Händen.“ L blickte auf den Boden vor sich. „Im Gegensatz zu mir.“, beendete er nachdenklich. Watari nickte wissend. Als die Haustüre geöffnet wurde und Shaelyn mit einem Lächeln heraus trat, begrüßte Watari sie ebenso. Sie kam eilig heran. „Es kann losgehen.“, meinte sie freudig. „Gut.“, kommentierte der Detektiv allerdings nüchtern und setzte sich prompt in den Wagen, was sie mit gewissem Argwohn beobachtete. „Sag mal, Opa.“, meinte sie an jenen gerichtet. „Ja?“ „Der ist doch heute irgendwie komisch drauf, oder?“ Watari lächelte milde. „Habe viel Spaß. Und ich versichere dir, Ryuzaki wird ihn ebenfalls haben.“ Seine Enkelin betrachtete zunächst still seine Mimik, ehe sie nickte. „Ich glaube, ich verstehe was du sagen willst.“ Sie würde sich Mühe geben, dass er ebenso viel Spaß haben würde wie sie. Je näher Shaelyn dem Ziel kam, desto mehr versuchte sie alle Eindrücke in sich aufzunehmen. Man erkannte von der hoch gelegenen Straße aus das große Gelände, das sie erwarten würde. Es war ein Freizeitpark und die Studios in einem, die jedoch getrennt wurden. In dem einen Teil wurden all die berühmten Filme und Serien gedreht, ebenso die besonderen Effekte programmiert. In dem anderen war ein typischer Freizeitpark gestaltet. Viel hatte Shaelyn nicht darüber gelesen, jedoch zählten die Universal Studios zu einem Muss, wenn man schon in der Gegend wohnte. Ebenso wie der Walk of Fame, den sie aber zu einem anderen Zeitpunkt besuchen würde. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie mit Rue dorthin gehen würde. Doch die Studios waren ein noch viel besseres Ziel. Obwohl sie sich mittlerweile fragte, ob der Walk of Fame nicht besser für ihn gewesen wäre. Sie konnte sich schlecht vorstellen, wie Rue so neben ihr saß – das in einer Wasserbahn, oder Achterbahn. Ob er überhaupt Spaß daran finden würde? Shaelyn hegte berechtigte Zweifel. Ohnehin, was das alles sollte. Ja, sie traute dem Ganzen noch nicht recht. Misstrauen war etwas, was Rue ihr unweigerlich beigebracht hatte. Ein vorsichtiger Blick zu ihrem Sitznachbar blieb nicht unentdeckt. Direkt starrte Rue sie an. Für einen Moment sagte sie nichts. „Was ist es diesmal?“, fragte er sie als konnte er ihre Gedanken lesen – so wie immer. Besser sie sagte gleich was sie beschäftigte. „Ich weiß nicht recht... ich versteh nicht genau wieso du mich dahin einlädst.“ „Was spricht dagegen?“ Die Engländerin blinzelte kurz irritiert, ehe sie unsicher an ihrem roten Rock zu spielen begann. „Eigentlich alles. Ich habe nicht den Eindruck, dass es dir so gefallen könnte. Zumindest wie ich dich kenne...“ Es setzte eine Pause ein, in welcher er sie schlicht anblickte. Seine großen Augen wirkten leer. Offensichtlich dachte er nach. „Du hast Recht.“, gab er ruhig zu, woraufhin sie verblüfft ihre Augen weitete und ihr Herz tief sank. Rue setzte versunken fort. „Es ist nicht so, dass ich es absolut ablehne. Allerdings...“ Er legte seinen Daumen an den Mund. „ist es neu für mich.“ Shaelyn öffnete zögerlich ihren Mund: „Heißt das; was du nicht kennst, kannst du nicht beurteilen?“ „Exakt. Folglich wird es sich zeigen, ob ich im Nachhinein noch derselben Meinung bin.“ Er erklärte es entspannt. Allerdings war sein Blick seltsam. Shaelyn hatte ein eigenartiges Gefühl. „Okay... aber warum gehst du überhaupt den Schritt?“ „Ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht.“ Eine Antwort, die sie nur halb zufrieden stelle. Im Gegenteil – es warf mehr Fragen auf. Warum tat er das jetzt? Ein Gedanke traf sie so hart, dass sie ihre Lippen einen Spalt öffnete. Vielleicht war das ein Schritt, der sie näher an Rue brachte. Vielleicht war er dabei sich ihr zu nähern. Nein, wahrscheinlich einfach nur ein Signal, dass er langsam zu etwas Mehr bereit war. Oder irrte sie sich hier gewaltig? Sollte es tatsächlich der Fall sein, dass er ihr gegenüber offener war, dann... . Rue legte seinen Kopf schief und beäugte sie wachsam. „Ja?“ Offenbar erwartete er Etwas von ihr. Eventuell deshalb, weil es so aussah, als könnte sie jeden Moment Etwas von sich geben. „Ich... Ich...“ „Ja? ... Ja?“, entgegnete er bei jedem ihrer Worte und sie begann plötzlich zu lachen. Verstört starrte Rue sie an, was sie jedoch noch mehr zum Lachen brachte. Ihre Anspannung fiel ebenso wie ihre Sorgen. Eigentlich war das Alles ein gutes Zeichen und sie machte sich Sorgen. „Was ist so witzig?“ „Nichts!“, versuchte sie sich zu beruhigen und strich sich Tränen aus den Augenwinkeln. Das verstand Rue selbstverständlich nicht, weshalb der Ausdruck auf seinem Gesicht blieb. „Zieh' nicht so ein Gesicht, Rue. Du musst nicht alles verstehen.“ „Offensichtlich.“, antwortete er trocken, das sie glucksen ließ. „Ich kauf dir später Zuckerwatte, dann bist du bestimmt wieder glücklich.“ An dieser Stelle zog er seine Lippen in eine Gerade und starrte sie durchdringend an. Augenblicklich wurde sie still. Das war ein eindeutiges Zeichen, dass es ihm missfiel. Sie war zu weit gegangen und hatte ihn verärgert. Das wollte sie sicherlich nicht. Als er erneut den Mund öffnete rutschte ihr sprichwörtlich das Herz in die Hose. „Kommt auf die Menge an.“, kam es dann von ihm und ihre Augenbrauen zogen sich in die Höhe. Er hatte es nur geschauspielert! Sie war ihm auf dem Leim gegangen. Er wollte sie wohl im Gegenzug dafür ein bisschen ärgern. Shaelyn schmunzelte. „So viel wie du willst.“ Natürlich traf dieser Satz auf seine Zustimmung, was sich an seinen schwach angezogenen Mundwinkeln erkennen ließ. Shaelyn schenkte ihm ein offenherziges Lächeln. Es war ein schönes Gefühl ihn so zu sehen. Vielleicht war sie ihm tatsächlich schon näher gekommen und war nur zu vorsichtig, um es richtig zu genießen. Shaelyn klebte förmlich an der Autoscheibe, als sich die Straße weiter den Berghang entlang zog. Von dieser Position konnte sie jetzt bereits die Studios in der Ferne erkennen. Es war ein riesiger Komplex und die Vorfreude stieg dementsprechend sprunghaft an. Ob ein ganzer Tag für die Studios ausreichte? Wenn sie es so betrachtete, war sie sich nicht sicher. Damals war sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einem Vergnügungspark gewesen, der jedoch bei weitem nicht so riesig war. Selbst dort war es mit der Zeit knapp geworden. Shaelyn stoppte in ihrer Überlegung. Eigentlich lag das nur daran, dass sie ewig für ein Fahrgeschäft angestanden hatten. Aber mit diesem VIP-Pass war es anders. Sie konnte so oft sie wollte ein Fahrgeschäft besuchen – ohne eine Warteschlange. Das war wirklicher Luxus. Man erkannte gleich, dass VIP-Gäste anders behandelt wurden. Gesondert von all den normalen Gästen, stiegen sie an einem extra Eingang aus. Und Shaelyn musste feststellen, dass die Temperaturen während der Fahrt angestiegen waren. Von der Hitze, trotz Schatten spendenden Bäumen, getroffen, zog sie als aller erstes ihre Überjacke aus. Vielleicht sollte sie die Jacke besser im Wagen lassen. Die Entscheidung musste warten, da Watari zu ihr trat. Ein freundliches Lächeln lag auf seinen Lippen. „Du solltest die Jacke behalten, Shaelyn. Vielleicht wirst du sie noch brauchen.“ Das klang wie eine Warnung, weshalb sie verwundert blinzelte. Außerdem wusste ihr Großvater gleich worüber sie noch nachgedacht hatte. Waren ihre Gedanken für alle so offensichtlich? Shaelyn nickte ihrem Großvater zu und band sich kurzerhand die Überjacke um die Hüfte fest. Es konnte immer mal wieder etwas passieren und so schwer und lästig war die Jacke auch nicht. „Wir sollten gehen.“ Rue stellte sich kurzerhand dazu und wirkte konzentriert. Hatte sie etwas verpasst? Seine Stimmung schien jedenfalls verändert. „Dann wünsche ich einen angenehmen Tag.“, sprach Watari freundlich und stieg schließlich wieder in den Wagen, der kurz darauf davon fuhr. Für einen Moment sah sie dem Wagen nach, ehe sie realisierte, dass sie mit Rue alleine stand. Mit einem sachten Lächeln drehte sich die Schwarzhaarige zu ihm. „Wie sieht es mit dir aus? Ist dir nicht warm bei dem langen Shirt?“ Er sah sie daraufhin an, als verstehe er ihre Worte nicht. Shaelyn seufzte gelassen. Was hatte sie nur erwartet? Aber eine Sache interessierte sie noch bevor es los ging. „Wie lange hast du geplant heute hier zu sein?“ So viel Geld hatte sie nun doch wieder nicht mitgenommen, auch wenn ihre Spardose noch was hätte hergeben können. Solche Parks waren ausgesprochen teuer. Und bestimmt würde sie bei dem Wetter viel trinken wollen. Rue schien kurz nachzudenken. „Solange wie es nötig ist.“, meinte er dann und Shaelyn zog eine Augenbraue an. „Nötig?“ Rue reagierte. „Entschuldige. Das war unglücklich ausgedrückt. Ich meinte damit; solange es dir Spaß bereitet.“ Sie seufzte schwer. Rue konnte einem echt die Freude nehmen. „Weißt du eigentlich, dass du manchmal eine totale Spaßbremse bist?“ „Nein.“ „Dann weißt du es ja jetzt. Aber ich zeige dir heute mal, dass man Spaß haben kann.“ „Dann bin ich mal gespannt.“, kam es in einem, für sie, zweifelhaften Ton. „Höre ich da Ironie?“, fragte sie. „Vielleicht.“ Kurze Zeit war es still und sie blickte in seine starren Augen, die sie ebenfalls im Fokus hielten. „Du bist unmöglich.“ Nachdem dieses Thema besprochen war, ging Shaelyn mit Rue zum Eingang, an dem ein Mitarbeiter wartete. Jener kontrollierte die VIP-Pässe und zeigte ihnen den Weg durch das angrenzende Gebäude. Neugierig blickte Shaelyn sich um. Es war alles sauber und auch sehr gut gepflegt. Sie hatte nicht den Eindruck, dass sie durch ein viel besuchtes Gebäude ging. Als der Mitarbeiter eine größere Tür öffnete, fielen Shaelyn fast die Augen aus. Ein kleines Buffet war im Raum aufgestellt, auf dem so viele leckere Sachen standen, dass sie sich nicht sattsehen konnte. Ihr Brauch grummelte. Der junge Mitarbeiter lächelte. „Nehmen sie zunächst das Frühstück zu sich. Wenn sie fertig sind, folgen sie den Schildern. Dort erwartet sie um 12Uhr ihr Studiotour-Führer. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.“ Der Mann ging und gerade als Shaelyn sich wieder umdrehte, stellte sie verblüfft fest, dass Rue neben ihr fehlte. Prompt blickte sie sich um und entdeckte ihn, natürlich, am Buffet. Er bediente sich großherzig am süßen Gebäck. Sofort trat Shaelyn zu ihm. Mit dem Blick auf dem tollen Essen gerichtet, öffnete sie ihren Mund. „Ich wusste gar nicht, dass wir ein Frühstück bekommen.“ „Alles im Preis inklusive.“ Shaelyn lächelte. „Das ist ja toll. Und es sieht echt fantastisch aus...“, schwärmte sie und nahm sich einen Teller, auf dem sie ein kleines Obsttörtchen stellte. Und auch sonst nahm sie sich eine Schale mit frischem Obst und setzte sich zu Rue an den runden Tisch, auf welchem jeweils ein Krug mit frischem Organgensaft und eine Kanne Kaffee stand. Rue prüfte, kaum hatte sie Platz genommen, ihre Ausbeute. Und wie sie es gewohnt war, stahl er mit seiner Gabel das Obst aus ihrer Schale. Wahrscheinlich müsste sie, wenn sie dann fertig mit ihrem Törtchen war, eine neue Schale holen. Im Laufe des Frühstücks kam noch ein Mitarbeiter und stellte einen Krug Wasser auf den Tisch. Shaelyn fühlte sich wirklich sehr gut behandelt. Allerdings war Rue absolut still – und es war eine seltsame Stille. Mittlerweile wusste sie ihn viel besser einzuschätzen. Vorsichtig lugte sie immer mal zu Rue, welcher ungehindert weiter aß. Entweder er ignorierte sie, oder war vollkommen weggetreten. Immerhin musste er einfach ihre Blicke bemerken – so wie zuvor im Wagen. „Ich schaffe es schon viel besser mit dem Fahren...“, schnitt Shaelyn ein beliebiges Thema an und wartete auf seine Reaktion. Als er dann mit der Gabel erneut Obst stehlen wollte, hielt sie ihre Hand über die Schale. Endlich bekam sie seine Aufmerksamkeit. Seine dunklen Augen fixierten die ihre. „Hast du gehört was ich gesagt habe?“ Rue blinzelte einmal. Er wirkte tatsächlich überrascht. „Entschuldige. Könntest du es wiederholen?“ Shaelyn legte ihre Kopf leicht schief. Was war denn los mit ihm? Und so höflich? Er war sonst so aufmerksam. Und offensichtlich störte es ihn nicht, dass sie es bemerkte. Nein. Er bemühte sich nicht es zu verstecken – so wie er es sonst tat. Was bedeutete das? „Was ist denn los? Du hast doch sonst so viele Augen und Ohren, dass du einfach alles merkst.“ L musste sich konzentrieren. Es gab viele Dinge, die er bedenken musste. Unter anderem die Dinge, die er nicht einplanen konnte. Shaelyn war ein unberechenbarer Faktor. Als er schließlich keine Antwort auf ihre Frage gab, seufzte sie und nahm ihre Hand von der Schale. Die Chance nutzte er und schob sich einige kleine Obststücke in den Mund. „Okay, du willst mal wieder nichts sagen.“ L erkannte Enttäuschung in ihrem Gesicht. Offenkundig war ihre Vorfreude auf diesen Tag gehemmt. Er schluckte den Obstbrei hinunter und blickte sie direkt an. „Ich habe mir Gedanken zu den Aktivitäten hier gemacht.“, meinte L, mit der Gabel am Mund haltend, gelassen. Und dabei log er nicht einmal. Shaelyn nahm seine Aussage mit einem überraschten Gesicht auf. „Und... was ist dabei heraus gekommen?“ „Ich richte mich ganz nach dir.“, begann er, legte die Gabel beiseite und hievte sich vom Stuhl. „Aber zunächst werden wir die Tour antreten.“ „Ja, okay. Aber warum stehst du jetzt auf?“ „Ich gehe noch kurz auf die Toilette.“ Shaelyn nickte ihm zu und sah ihm nach. Kaum hatte er den Raum verlassen, steckte er seine Hände in seine Hosentasche. Shaelyn nutzte die Zeit und holte sich eine neue Schale mit Obst, da Rue ihre vollkommen verputzt hatte – ganz wie gewohnt. Nachdem Rue zurückgekehrt war und sich neben sie stellte, hatte sie fertig gegessen und trank vom Orangensaft in ihrem Glas. Sie sah zu ihm auf. „Wir sollten uns auf den Weg machen.“, verließ es seinen Mund und abermals nickte sie nur. Es war Zeit für die Tour. Voller Vorfreude wartete Shaelyn mit noch weiteren wenigen Personen auf den Beginn. Die Gruppe war überschaubar klein. Darunter waren sogar Personen, die ganz offensichtlich aus China kamen. Die Sprache war für Shaelyn einfach nicht zu überhören. Ob sie überhaupt Englisch sprachen und somit den Tourführer verstehen würden? Es kamen wohl Menschen aus allen Ecken der Welt und besuchten diesen einen Park. Überhaupt. Wenn sie all die Menschen genauer betrachtete, sah keiner so aus, als käme er aus der Umgebung. Die Vermutung bestätigte sich, als sich ein Paar in einer anderen Sprache unterhielt, die sie nicht einmal kannte. „Du, Rue...“, flüsterte Shaelyn in seine Richtung und gleich neigte er seinen Kopf etwas näher zu ihr. Sein wirres Haar kitzelte sie leicht am Ohr. „Kann es sein, dass wir die einzigen aus der näheren Umgebung sind?“ Und damit meinte sie fast ganz Amerika. Zumindest Menschen, die englisch sprachen. Shaelyn neigte ihren Kopf ebenfalls zu Rue und traf prompt auf seinen Blick. Er war ihr wirklich sehr nah gekommen. Kurz tat ihr Herz einen Hüpfer. Ihr Puls beruhigte sich ab diesem Punkt kaum noch. „Ja.“ „Weißt du, was die zwei da gesprochen haben?“, versuchte sie ruhig zu fragen. Es waren nur ein paar Zentimeter die sie von seinem Gesicht trennten. „Portugiesisch.“, antwortete er neutral und Shaelyn staunte. Nicht nur, dass sie die Sprache nie gehört hatte, sondern Rue sie auch noch erkannte. „Meinst du, sie verstehen überhaupt was der Tourführer sagen wird?“, fragte sie neugierig. „Ist das relevant?“, stellte er die Gegenfrage, woraufhin sie stutzte. Eigentlich hatte er recht. Zwar waren Erklärungen hilfreich und schön anzuhören, aber es zählte schließlich was sie sahen. Es war Hollywood. Aber jetzt brannte ihr eine weitere Frage auf der Zunge. „Was für Sprachen kannst du eigentlich von den acht?“ Ab diesem Zeitpunkt nahm Rue wieder Abstand ein und Shaelyn blickte ihn verwirrt an. Hatte sie ihn mit der Frage verschreckt? Seine Nähe war so angenehm gewesen. Sie versuchte es sich nicht ansehen zu lassen, dass sie enttäuscht darüber war. Jedoch wollte sie schon lange wissen, was er für Sprachen konnte. Damals, als er ihr erzählte, er konnte acht Sprachen fließend, war die Neugierde da. Jetzt war der gute Zeitpunkt gewesen genauer nachzufragen. L dachte für einen Moment nach. Im Grunde sprach nichts dagegen, dass er es ihr verriet. „Französisch, Spanisch, Deutsch, Japanisch, Russisch, Mandarin-Chinesisch, Hindi und Englisch. Arabisch und Portugiesisch noch nicht fehlerfrei.“ Als er ihr wieder ins Gesicht sah, weitete er selbst etwas die Augen. Er hatte sie tief beeindruckt. Bisher war es ihm nicht so stark aufgefallen, dass das eine beeindruckende Leistung war. Es war sein Alltag. Es war auch zu keinem Zeitpunkt ein Thema gewesen. „Wahnsinn... I-Ich meine unglaublich.“ Shaelyn lächelte ihm verschämt entgegen. „Und ich quäle mich schon mit einer zweiten Sprache...“ L wandte seinen Blick gen Boden. „Jeder hat seine Stärken und Schwächen.“, verließ ruhig seinen Mund. Er erhielt eine Antwort, die ihn erneut zu Shaelyn blicken ließ. Sie lachte leise. „Bisher wüsste ich nicht, was ich besonders gut könnte.“ „Bist du dir sicher?“ Eine Frage, die sie nachdenklich werden ließ. „Eigentlich schon.“ Ihre Stimme wankte. „Du hast ein außergewöhnliches Talent.“, offenbarte er ihr und sie zog ihre Augenbrauen skeptisch zusammen. Redete er wirklich von ihr? „Und das ist?“, wollte sie neugierig wissen. Ein schwaches Grinsen zierte seinen Mund. „Ich wüsste niemanden, der bessere Marzipanschweine macht als dich.“ Stille. Shaelyn betrachtete nur ruhig das Gesicht von Rue, welcher ihr weiterhin ins Gesicht grinste. War das jetzt ein ernstgemeintes Kompliment oder wollte er sie ärgern? Oder beides? Sie wusste es nicht einzuordnen. „Meinst du das ernst?“, fragte sie sichtlich verwirrt. Besser sie zog keine voreiligen Schlüsse – schließlich wusste man bei ihm nie genau. Sein Grinsen verschwand. Es ruhte nur noch sein durchdringender Blick auf sie, der sie natürlich nervös machte. „Ja.“, antwortete er ohne eine weitere Mine zu verziehen. Ab da konnte sie sich sicher sein. Er hatte es ernst gemeint, weshalb ihr Atem für eine Sekunde aussetzte. Warum genau, das wusste sie nicht einmal. Es fehlte ihr schlicht die Luft zum Atmen. Vielleicht, weil sie seine Aussage wirklich als ein Kompliment auffassen konnte? Ein Kompliment von Rue... das klang seltsam schön. Rue blickte sie weiterhin mit seinen großen Augen an. Geradeso als erwartete er noch etwas von ihr. Und damit hatte er Recht. „Heißt das... du hast mir ein Kompliment gemacht?“ „Durchaus möglich.“, drückte er sich vage aus, während er seinen Zeigefinger an seinen Mundwinkel legte. Ein Lächeln lag angedeutet auf seinen Lippen, das ihrem Herzen einen heftigen Schubs gab. Ja, er hatte ihr ein Kompliment gemacht. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie mit einem Kuss das ausgedrückt was sie tief in ihrem Herzen für ihn fühlte. Ehe sie etwas Weiteres dazu sagen oder tun konnte, trat der Tourführer zu ihnen. Er begrüßte die Gruppe freundlich und wies sie an ihm zu folgen. Doch bevor sie folgte, warf sie Rue noch einmal einen sanften Blick zu – was er aufmerksam beobachtete. Wie sich herausstellte, konnte der Tourführer viel erzählen und das tat er außerordentlich gern. Dabei waren sie erst auf dem Weg zum Tourbus. Shaelyn bereute schnell, dass sie keine Kamera hatte. All die Erinnerungen, die sie nun erlebte, hätten sich schön in einem Album gemacht. Sie sollte sich bald eine Kamera kaufen. Als es dann in den Tourbus ging, setzte sie sich schnell in eine hintere Reihe. Rue nahm neben ihr in gewohnter Haltung Platz und fischte lieber ein paar Süßigkeiten aus seinen Taschen, als dass er dem Tourführer Aufmerksamkeit schenkte. Interessiert sah sie dabei zu, wie er einen Lutscher aus der Verpackung holte – den er ihr wenig später plötzlich unter die Nase hielt. Seine ausdrucksvollen Augen sahen sie an, als hätte er genau gewusst, dass sie auch einen haben wollte. Shaelyn lächelte. Er wollte seine Süßigkeiten mit ihr teilen. Wie sollte sie jemals Nein sagen, wenn er sie so anblickte? Selbst wenn sie nichts gewollt hätte, würde sie sein zuvorkommendes Geschenk annehmen. Ohne wirklich darüber nachzudenken, nahm sie die süße Kugel sachte zwischen ihre Lippen und zog so vorsichtig den Stiel aus seinen Fingern. Prompt bemerkte sie, wie seine wachen Augen auf ihre Lippen starrten, woraufhin es heftig in ihrer Brust zu klopfen begann. Warum blickte er so auf ihre Lippen? Hatte sie etwas so Seltsames getan? Erst Sekunden später sah er ihr wieder in die Augen – und sie hätte für den Anblick sterben können. Eine Gänsehaut breitete sich über den gesamten Körper aus. Ein bisher nie gesehener intensiver Augenausdruck, der allerdings so schnell endete, wie es gekommen war und ihr leider keine Zeit gab es weiter einzuordnen. Was war das eben gewesen? Er blickte wieder auf seine andere Handfläche, auf welcher die Süßigkeiten lagen. Und sie musste sich benommen an ihre linke Brustseite fassen. Aufgeregt ging Shaelyn nur eines durch den Kopf: Warum? Nervös von seiner Tat, konnte sie nur halbherzig den Worten vom Tourführer folgen. War das nicht genug: Viel mehr huschte ihr Blick immer mal wieder zu ihrer rechten Seite. Man saß schließlich auf Sitzen in einem kleinen Bus. Da berührte sie bei der Bewegung des Busses öfter seinen Arm oder Schulter. Es machte sie völlig verrückt! Unruhig spielte sie am Verschluss ihrer Überjacke. Denn längst war der Lutscher aufgegessen. Sprichwörtlich. Sie hatte ihn mehr kaputt gebissen, als geschleckt. Sie konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen. Wieso war sie nur so aus dem Häuschen, obwohl er sie nur ab und an zufällig berührte? Nein. Sie musste immer wieder an diesen einen Blick denken. Shaelyn hielt sich verlegen mit der rechten Hand über den Mund und blickte aus dem großen Fenster. All die Kulissen zogen nur wie im Nebel vorbei. Sie konnte nur an Rue denken. Dabei war nicht einmal etwas Wirkliches passiert. L sagte nichts. Er spürte deutlich ihre Aufregung und das verursachte selbst bei ihm etwas Unruhe. Gedankenverloren strich er sich mit dem Daumen über seine Unterlippe. Für einen Moment waren seine Gedanken an ihren weichen Lippen hängen geblieben, welche er schon so oft mit den seinen berührt hatte. Der letzte Kuss lag lange zurück. Und obwohl es nur ein simpler Akt, ein Kuss, war, misste er es. Ja, es war ein starkes Bedürfnis geworden. Es war ein Eingeständnis, das ihn schwach fühlen ließ. Übertroffen von den Empfindungen und Gedanken, die sich wie selbstverständlich eingespielt hatten. Doch das wirklich Unglückliche war, dass Shaelyn seinen Blick bemerkt hatte. Langsam entglitt ihm zweifelsohne die Kontrolle. Er konnte sich nicht mehr Etwas vormachen. Ihre Nähe begann massiven Einfluss zu nehmen. Die Besichtigung nahm ihren Anfang. Der Tourführer bat alle Teilnehmer darum auszusteigen und das tat Shaelyn mit Rue. Sie waren an einem Gebäude angekommen, das offenbar gerade nicht benutzt wurde. Wenn sie nach rechts und links sah, waren die Studios wohl gerade in Benutzung. So erklärte es auch der Gruppenleiter. Sie waren an einem Set, das eine der derzeit vielen Fernsehserien in den USA war, jedoch bald umgestaltet wurde, weil der Platz anders genutzt werden würde. Somit war deshalb eine kleine Drehpause entstanden und zugänglich für die VIP-Besucher. Da Shaelyn allerdings kaum Serien sah, war ihr das alles unbekannt. Dementsprechend verhielt sich sich ruhig und blickte sich still um, dabei fiel ihr Rue an ihrer Seite auf. Er war aufmerksam, bemerkte daher keine Sekunden später, dass sie ihn ansah. Es war reiner Blickkontakt. Kein Wort wurde gewechselt. Auch dann nicht als der Leiter sie in das Gebäude bat. Es machte sie unruhig. Warum war er so aufmerksam? War Rue an dieser Serie interessiert? Das konnte sie sich kaum vorstellen. Wenn er Fernsehen sah, dann waren es Nachrichten. Oder hatte sie etwas verpasst? Denn auch als sie einen Film in seiner Gegenwart sah, interessierte es ihn nicht. Es wäre auf jeden Fall sehr seltsam. Als der Tourführer schließlich im Inneren zum Stehen kam, waren sie mitten in einem sehr echt wirkenden Wohnzimmer. Doch nachdem Shaelyn hoch blickte, konnte sie so viele Lichter und andere Dinge gar nicht zählen, die alle an der Decke hingen. Natürlich konnte man sich all das denken, aber es so zu sehen war bizarr. Wie eine völlig andere Welt. Es war hier sicher nicht so leicht vor der Kamera zu stehen. Vor allem den Text zu behalten und dann so viel Emotion hinein bringen, dass es echt wirkte. So genau dachte man schließlich nie über solche Dinge nach, wenn man einen Film sah. Während sie weiter die Szene studierte und der Tourführer sie in die nächste Kulisse führen wollte, wurde sie plötzlich am Handgelenk festgehalten. Shaelyn drehte sich prompt um und blickte verwundert in das Gesicht von Rue. Er hielt sich den Zeigefinger vor dem Mund, was deutlich machte, dass sie still sein sollte. Was hatte er vor? Auf jeden Fall hatte er nicht vor dem Gruppenleiter zu folgen, der bereits mit den anderen VIP-Gästen die nächste Kulisse besichtigte. Es war nicht erlaubt ohne Beaufsichtigung hier herum zu laufen. Was also wollte er stattdessen tun? Sie waren jetzt auf sich gestellt. Aufregung machte sich breit. L ließ das Handgelenk von Shaelyn los und begab sich leise vom Set. Und sie war ihm dicht auf dem Fersen, was er besonders spürte, als er an einer Ecke stehen blieb und die Lage überprüfte. Sie fasste ihm hinten ans Shirt, das ein Zeichen ihrer Unsicherheit war. Es war derselbe Vorgang, den er schon oft erlebt hatte als sie blind war. Allerdings war ihm keine andere Möglichkeit geblieben als sie mit sich zu nehmen. Wenn er sich ohne sie entfernt hätte, wäre sie ihm unachtsam nachgelaufen. So konnte er ihre Schritte kontrollieren, wie auch den Rest um ihn herum. Nachdem es still blieb und niemand auszumachen war, bog er rasch um die Ecke und benutzte einen engen Seitengang, der zwischen den einzelnen Kulissen entstanden war. Viele Kabel lagen auf dem Boden und einzelne Balken ragten aus den Wänden. Langsam und mit Acht bahnte er sich den Weg, der mit jedem Schritt dunkler wurde. Bald war die gewünschte Stelle erreicht. Je finsterer es wurde, desto mehr bemerkte L wie Shaelyn Probleme hatte nicht zu stolpern. Sie musste den Kontrast nicht sehr gut erkennen können. Somit hielt er für einen Moment an und wandte sich in der engen Gasse um. Ihr Gesicht zeichnete Angst aus. „I-Ich sehe kaum was...“, flüsterte sie schwach und bestätigte damit seine Annahme. Der Feinschliff der Sehkraft dauerte einen langen Prozess und sie befand sich mitten darin. Er musste kurz überlegen. Hier konnte L sie nicht stehen lassen, oder sie zurück schicken. Ihm blieb keine Wahl, weshalb er seinen Arm hob und sie an der Hand nahm. Unerwartet spürte er ein schwaches Drücken an seiner Hand, was ihn verwunderte. Ihr Ausdruck veränderte sich. Sie lächelte mild. „Ich vertraue dir, Rue.“ L vergaß für einen Moment was er gedacht hatte. Shaelyn wusste nicht wohin es ging und vor allem warum, aber Rue war bei ihr. Und er nahm sie bei der Hand. Warum sollte sie dann weiter Angst haben? Es gab keinen Grund mehr welche zu haben. Und es geschah etwas Seltsames – er drückte im Gegenzug einmal kurz ihre Hand. War das ein Zeichen dafür, dass sie keine Angst haben musste, weil er bei ihr war? Es war schwierig genau zu sagen, weshalb er es tat, aber es fühlte sich gut an. Ihr Herz war leichter und doch erfüllter. Rue drehte sich wieder achtsam um und setzte seinen Weg zusammen mit ihr fort. Und er ließ nicht einmal ihre Hand los. So schien Rue auch am Ziel angekommen zu sein, da er plötzlich stoppte. Für Shaelyn war es die komplette Schwärze in der sie sich befand. Und ganz im Gegensatz zu ihr, sah Rue wohl noch genug. Ansonsten konnte sie sich nicht vorstellen, dass er unbeschadet voran gehen konnte. Schließlich spürte sie an der Hand, dass er sich bewegte. Offenbar suchte er etwas mit seiner linken Hand ab. Plötzlich drang ein schwacher Lichtstrahl aus der Wand neben ihr und Rue ließ von ihr ab. Dann waren leise Stimmen zu hören. Verwundert horchte Shaelyn hin und konnte sehen, wie Rue durch das kleine Loch spähte. Irgendwas ging auf der anderen Seite vor sich. Ob dort gerade gedreht wurde? Oder waren sie gar nicht mehr in dem Teil, in dem gedreht wurde? Nein, sie mussten immer noch in derselben Halle sein. Und dort, so hatte es der Tourführer gesagt, waren gerade keine Drehaufnahmen. Alles was Shaelyn ausmachen konnte waren Stimmen, die nicht klar genug waren. Es war aufregend, auch wenn man nicht wirklich diese Männer belauschen konnte. Sie hatte dennoch das Gefühl etwas Verbotenes zu tun! Nein. Sie taten mit Sicherheit etwas Verbotenes. Immerhin war es nicht erlaubt auf eigene Faust sich umzusehen. Aber viel mehr stellte sie sich die Frage, wie Rue das hier wissen konnte. Er hatte das alles bisher ganz gezielt gemacht. Vielleicht lag sie doch falsch. Rue hatte doch so etwas wie eine Lieblingssendung oder sogar Schauspieler und wollte spionieren gehen. Das hörte sich immer noch total verrückt an. Aber ihr fiel nicht ein einziger vernünftiger Grund ein, wieso er das hier tun könnte. Schließlich waren sie in den Studios. Was könnte man hier anderes wollen? Also war seine Einladung nicht so spontan, sondern hatte es geplant. Ganz so wie es Emma schon gesagt hatte. Wahrscheinlich wollte er ihr nur nicht den richtigen Grund nennen. Aber egal was es war – es war in jedem Fall spannend. Somit mit reichlich viel Neugierde, hielt sie ihren Kopf neben seinem. In der Hoffnung ebenfalls einen Blick durch das Loch werfen zu können, rückte sie weiter auf. Solang, bis Rue seinen Kopf ihr zu wandte. Er blickte sie aus der Nähe prüfend an und ließ sie schließlich gewähren, da er ihr Platz machte. Sofort spähte sie durch das Loch und erkannte drei Männer, wie sie sich unterhielten. Außerdem schien es eine Art Hintergasse zu sein, in denen diese Männer standen. Aber sie konnte keinen davon wiedererkennen. Vielleicht waren es einfache Angestellte, die etwas zum Set beredeten. Oder es waren tatsächlich Schauspieler oder ein Produzent dabei. Sie konnte es einfach nicht sagen. Als Shaelyn sich wieder von dem kleinen Spähloch entfernte, kam sie doch ins Grübeln. Warum wollte Rue das sehen? Denn beim Sehen blieb es. Die Stimmen waren zu leise gewesen, als dass man etwas verstanden hatte. Außerdem woher wusste er, dass hier ein Spähloch war? Und wusste er, dass sich diese drei Männer genau jetzt und hier unterhielten? Oder war das reiner Zufall gewesen? Ehe sie sich eine weitere Frage stellen konnte, spürte sie den Finger von Rue an ihrer Schulter tippen. Gleich wandte sie sich im Dunkeln um. Das spärliche Licht vom Loch ließ sie wenigstens etwas von seinem Gesicht erkennen. Seine großen Augen glänzten schwach in der Dunkelheit. „Wir sollten zurück.“, flüsterte er mit seiner tiefen Stimme, sodass sie eine angenehme Gänsehaut bekam. Das erste Mal, dass sie ihn überhaupt flüstern hörte. Der Rückweg gestaltete sich einfacher, da es immer heller wurde. Und viel mehr hatte Rue sie erneut bei der Hand genommen, auf welche sie öfter blicken musste. Er hatte weiterhin daran gedacht sie an der Hand zu nehmen... Bestimmt hörte er über dem gesamten Weg ihren lauten Herzschlag, der für den Moment alle Fragen beiseite schob. Nachdem sie am Ende des langen Ganges ankamen und Rue um die Ecke blickte, um sich wohl zu vergewissern, dass wieder niemand in Sicht war, ließ er ihre Hand los. Jetzt fand es Shaelyn schade, dass der enge Weg nicht länger dauerte. So folgte sie ihm schließlich bis vor dem Studio, wo sie alleine am Tourbus standen. Verwirrt blickte sie sich um und stellte sich zu Rue in den wohltuenden Schatten. Warum war er hierher zurückgekehrt und hatte nicht wieder aufgeschlossen? Shaelyn schüttelte gedanklich den Kopf. Es war sogar besser so. Jetzt konnte sie ihm Fragen stellen. Unmittelbar wandte sie sich an ihn und bemerkte abermals wie er nachdenklich an seinem Daumennagel knabberte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was hatte das alles zu bedeuten? Ihr wurde mulmig. „Rue.“, sprach sie ihn laut genug an, sodass seine schwarzen Pupillen zu ihr wanderten. „Warum … Warum haben wir das eben getan?“ Sie wusste selbst nicht wie sie genau beginnen sollte, da ihr Kopf voller Fragen war. Sein starrer Blick schien sie förmlich zu durchbohren. Was kam jetzt? Sie war gespannt darauf wie er all das erklären würde. Er nahm seinen Daumen vom Mundwinkel. „Das kann ich dir leider nicht verraten.“ Überrascht hob sie ihre Augenbrauen an. Sie würde gar keine Erklärung erhalten? „... Also ist es ein Geheimnis?“ „Richtig.“ Shaelyn blickte auf den Boden vor sich und begann nachdenklich an ihrer Unterlippe zu kauen. Das hieße, es hatte was mit ihm persönlich zu tun. Oder lag sie mit der Vermutung falsch? Was für einen Grund sollte es sonst geben? Ein Nachfragen war jedenfalls sinnlos – das wusste sie mittlerweile sehr gut. Shaelyn seufzte laut. Natürlich besaß er viele Geheimnisse. Es wäre nur schön gewesen, wenn er wenigstens eines mit ihr teilen würde. Doch daran hatte sie sich gewöhnt. Sie musste es so hinnehmen. Mit einem sachten Lächeln sah sie geradewegs wieder in seine Augen, die sie wohl die ganze Zeit über sorgfältig beobachtet haben. „Ich weiß, dass du viele Geheimnisse hast. Und du weißt, dass ich da nicht mehr nachfragen werde. Aber...“, begann sie vorsichtig und strich sich unsicher eine schwarze wirre Strähne hinter ihr Ohr. Sein Blick hatte etwas an sich, dass sie nervös machte. „Aber... wieso hast du das eben nicht alleine getan? Ich meine, du brauchst mich dazu doch gar nicht. Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn du allein herkommst und das eben gemacht hättest?“ Rue überdachte ihre Worte, da er kurz angestrengt in den wolkenlosen Himmel stierte. Ein kurzer Luftzug wehte seine unordentlichen Haare auf, was sie still betrachtete. „Das ist richtig. Es wäre so einfacher gewesen.“, gab er nach, wohl, reichlicher Überlegung ruhig zu und bedachte sie mit einem emotionslosen Blick. Ihr Lächeln ließ etwas nach. Wie sie es sich gedacht hatte. Er war nur deshalb hier. Nun schmerzte ihr Herz. Sie hatte sich so darauf gefreut mit ihm herzukommen. „Allerdings...“, begann er entspannt, sodass sie aufmerksam wurde. „Wäre es auch nur halb so spannend gewesen.“, endete er, was sie abermals überraschend blinzeln ließ. War das eben ein Versuch gewesen sie aufzuheitern? Nein, das war kein Versuch. Er war geglückt – zumindest etwas. Shaelyn grinste Rue schwach entgegen. „Was auch immer das gerade mit dem herum schleichen sein sollte, spannend war es wirklich.“, pflichtete sie ihm bei und lachte sanft. „Du bist ja schon fast wie ein richtiger Detektiv.“ Prompt bekam sie von ihm ein kleines Grinsen zu sehen, während er seinen Zeigefinger zum Mundwinkel führte. „Da könntest du Recht haben.“ Shaelyn seufzte zufrieden. „Aber jetzt wo du deine 'Ermittlung' durchgeführt hast, Mister Detektiv, wie sieht es mit dem jetzt Folgendem aus?“ Shaelyn untermalte mit einer Gestik und einem Lächeln das Wort Ermittlung. Jetzt konnte sie es viel leichter nehmen. Auch wenn das sein ursprünglicher Grund war, so hatte er sie mitgenommen – auch auf die 'geheime Aktion'. Was auch immer das bedeutete, er hatte es mit ihr gemeinsam getan. Das war in gewisser Hinsicht sogar ein kleiner Erfolg. Es gab ihr ein gutes Gefühl. Rue grinste noch immer, nahm sogar den Finger von seinem Mund. „Das entscheidest du.“ „Oh? Ich habe hier die Führung?“ „Ja.“ „Egal was und du machst es mit?“ An diesem Punkt hob er kritisch eine Augenbraue an. Gleich lachte Shaelyn und trat einen Schritt auf ihn zu als er gerade seinen Mund öffnete, welchen er direkt wieder schloss. Ein weiterer leichter Windzug war zu spüren, weshalb sie sich ihre Haare an der Seite festhielt. Der Wind brachte angenehme Kühle. „Komm schon. Du hast mich neugierig gemacht und speist mich mit einem Geheimnis ab. Da werde ich dich wohl im Gegenzug ein wenig ärgern können, oder nicht?“ Rue zog seinen Mund in eine Gerade. Es gefiel ihm offensichtlich nicht, stimmte aber mit Schweigen zu. „So handzahm heute?“, stichelte sie mit einem süßen Lächeln. „Der Klügere gibt nach.“ L konnte gut aus der Nähe erkennen, wie sie ihre Wangen aufblies. Was allerdings nicht lange anhielt und sie direkt wieder lächelte. „Tja... da kann mal wohl nichts machen.“, kam es ihr über die Lippen, auf welchen er mit seinem Blick hängen blieb. Es war eigenartig. Seit dem gestrigen Abend zweifelte er, ob er das alles noch so weiterführen wollte wie bisher. Das Interesse hatte sich verändert. Ob es daran lag, dass sie begann sich zurückzuziehen? War das eine natürliche Reaktion? War es nun sein Impuls sich ihr zu nähern? Der Gedanke, dass er die Verbindung zu ihr verlor war stärker geworden. Wollte er sich noch entfernen? Nein. Denn alles was er seit dem gestrigen Abend getan hatte, sprach das genaue Gegenteil. Dennoch war sein Misstrauen da. Nicht Shaelyn gegenüber, sondern sich selbst. L war sein eigener Feind. Wenn er eine Beziehung mit ihr begann, bedeutete das, dass er sich sich selbst stellen musste. Der Wahrheit ins Gesicht blicken. Und zwar sein anderes Ich. Das, was verborgen lag. Er würde ihr sein Inneres präsentieren – und er hatte bereits keine Bedenken mehr ihr gegenüber. Shaelyn akzeptierte ihn wie er war. Mit all seinen Geheimnissen. Sie war bereit dafür. Doch konnte er es auch von sich selbst behaupten? Konnte er zu so etwas fähig sein? L kam zu keinem vernünftigen Ergebnis. Er verstand es nicht – und sich selbst seit gestern erst recht nicht mehr. Als Shaelyn sich umdrehte und einen Schritt zur Seite machte, griff Rue erneut plötzlich ihr Handgelenk. Verwundert blieb sie auf der Stelle und wandte sich zu ihm um. Abermals erfasste sie eine Gänsehaut und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Rue blickte sie mit seinen großen Augen aufmerksam an. Es war derselbe Ausdruck, den er ihr im Bus zugeworfen hatte. Doch dieses Mal sah er nicht weg - sondern erhielt diesen einen Blick aufrecht. Es begann in ihrem Bauch zu kribbeln und ihre Lippen zitterten. Alles was sie noch wahrnahm war sein warmer Atem auf ihrem Gesicht, seine verwirrten Strähnen die sie an der Stirn kitzelten und nicht zuletzt seine Hand, welche sie noch immer bei ihm hielt. Shaelyn schloss voller Erwartung ihre Augen. War es Rue der sich näherte, oder war sie es? „Entschuldigen Sie.“, durchschnitt es die Stille und prompt schlug sie ihre Augen auf. Sie befand sich wieder in der Realität. Verstört blinzelte sie und starrte Rue an, der kaum mehr einen Fingerbreit entfernt war. Sein Atem war hektisch und seine Augen drückten ebenso wie sie Verwirrung aus, ehe er zur Quelle der Störung blickte. „Es wurden zwei Personen bei der VIP-Tour als abwesend gemeldet. Und die Beschreibung trifft auf Sie beiden zu.“, begann ein Mann streng, weshalb sie sich ebenfalls abwendete. Ein Sicherheitsangestellte vom Park. Und neben ihm stand noch einer, der sein Walkie-Talkie zur Hand nahm und durchgab, dass sie gefunden wurden. „Es ist Ihnen nicht erlaubt alleine das Studio zu besichtigen.“, schritt der Mann fort. Shaelyn spürte, wie Rue seine Hand von ihr nahm. „Ihr wurde übel.“, log er. Erstaunt blickte sie zu ihm hinüber. Rue hatte nicht eine Mimik verzogen. Der Kerl log wirklich ohne Rot zu werden. Der Mann überprüfte mit einem Blick die Richtigkeit seiner Aussage, weswegen sie nervös lächelte. Doch das schien dem Herren augenscheinlich zu genügen. „Dennoch sollten Sie sich beim Tourführer abmelden. Es wird nicht gern gesehen, wenn Gäste verschwinden.“ „Wir werden das nächste Mal daran denken. Haben Sie vielen Dank.“ „Der Tourführer ist in Kenntnis gesetzt und wird nach der Besichtigung aufschließen. Ich bitte Sie solange hier beim Bus stehen zu bleiben. Sollten Sie jedoch ein weiteres Mal fehlen, werden Sie dem Park verwiesen.“, verließ es die Kehle des Anderen, woraufhin Shaelyn stutzte. Es waren tatsächlich sehr strenge Auflagen. Und als die Männer sich entfernen wollten, überfiel sie Panik. Sie wäre wieder allein mit Rue und dieser... seltsamen Situation. Bestimmt hatte sie wieder die Kontrolle verloren und wollte ihn erneut mit einem Kuss überfallen! Das war doch sie gewesen? Sie war komplett verwirrt! Aufgeregt blickte Shaelyn auf den Boden vor sich. Sie brauchte dringend einen ruhigen Kopf und vor allem einen Plan. Was sollte sie ihm sagen? Sich entschuldigen? Oder sollte sie überhaupt was sagen? Was, wenn er sie darauf ansprach? Angestrengt biss sie sich auf ihre Unterlippe. Dabei wollte sie ihm doch gar nicht mehr so nahe kommen! Urplötzlich hielt sie inne. Und wenn es doch Rue war? Wenn sie zurückdachte hatte sie nicht das Gefühl sich bewegt zu haben. Alleine wenn sie zurückdachte begann ihr Herz heftiger zu schlagen. Wenn sie sich wirklich vorstellte, dass er es war... dann konnte das nur Eines bedeuten. Es raubte ihr fast den Verstand. Warum war das alles nur so verwirrend?! Noch immer zitterte ihr Körper. L biss sich noch weiter den Daumennagel ab als es ohnehin schon möglich wäre. Er konnte es sich selbst nicht erklären, aber er hatte wie schon zuvor befürchtet die Kontrolle verloren. Hätte es keine Unterbrechung gegeben, so hätte er sie geküsst. Direkt blickte L in ihre Richtung. Shaelyn sah errötet gen Boden. Zweifel nagte an ihm wie er an seinem Daumen. Er war ratlos, weshalb er unzufrieden seinen Mund verzog. Diese Gefühle waren absolut störend und unbrauchbar. Es war unmöglich die Gedanken zu unterdrücken. L erreichte ein neue Ebene der Frustration. Wie lange konnte er noch widerstehen? Shaelyn atmete tief durch und setzte ein Lächeln auf. Jetzt oder nie. Direkt hob sie ihren Kopf und sah ihm in die Augen, die unverkennbarer nicht sein konnten. Rue stand dort und stierte sie an. Sie begann unsicher zu lachen. „Ich dachte, wir bekämen jetzt richtig Ärger...“ Das ging schon einmal daneben, weshalb sie sich gedanklich schlug. Was Besseres war ihr aber nicht eingefallen. „Offenbar nicht.“, antwortete er monoton. „Hm... Ja.“, meinte sie und wollte so schnell es ging die unangenehme Situation loswerden. Der Wind ließ erneut ihre Haare aufwirbeln. „Ganz schön windig geworden, oder?“ Sein Blick veränderte sich etwas. Jedoch konnte sie nicht sagen, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht war er einfach froh, dass sie nichts sagte. Rue hob seinen Kopf an. „Ja.“, kam es ruhig von ihm, während er in den Himmel blickte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Rue sagte absolut nichts mehr, was die Situation nicht angenehmer machte. Aber ihr fiel auch kein Thema ein, das sie hätte ansprechen können. Viel mehr kreisten die Fragen in ihrem Kopf. Immer wieder dieselben. Und eine ganz besonders: Wie kam es dazu? Was wollte Rue von ihr als er sie festhielt? War es vielleicht etwas Wichtiges? Fragen, die sie jetzt bestimmt nicht mehr beantwortet bekam. Vielleicht war es auch besser so und sie sollte das schnell vergessen. Aber diesen Blick würde sie bestimmt nicht mehr vergessen. Somit blieb es still, bis der Tourführer mit der Gruppe zurückkehrte. Und natürlich rechnete Shaelyn mit einigen Worten des Gruppenleiters – die jedoch ausblieben. Verwundert also setzte sie sich wieder auf ihren Platz und Rue neben sie. Die Tour ging weiter und schließlich erklärte der Tourführer der Gruppe, dass sie ab jetzt still in den Sitzen bleiben sollten. Eine echte Führung durch ein King-Kong-Set, was Shaelyn neugierig aus dem Fenster neben sie blicken ließ. Der Bus fuhr in ein Gebäude, weshalb es ziemlich dunkel wurde. Dann ging das Tor vor dem Bus auf und er fuhr geradewegs in die Dunkelheit – aus der schon Sirenen zu hören waren. Begeistert beobachtete Shaelyn das Treiben auf dem Set, welches vollkommen maschinell betrieben wurde. Der große Gorilla war einige Male in verschiedenen Szenen zu sehen und im Tourbus auf den Anzeigetafeln wurde sogar von den Angriffen des Gorillas berichtet. Es war fast so, als wäre man tatsächlich dagewesen. Vor allem das echte Feuer war beeindruckend, mit dem nicht gespart wurde. Nachdem die Tour durch das Gebäude fertig war, musste sie zunächst die Augen zukneifen. Das helle Licht blendete für einen Moment. Jedoch ging es danach zügig weiter. So fuhren sie etwas Außerhalb für die Sets. Dort war ein kleines Dorf und es wurde sogar kurz von einer Flut heimgesucht. Da sie allerdings sicher im Bus saßen, konnte man es gut beobachten wie es durch die Straßen zog. Alles in einem war es eine interessante Tour, in welche Shaelyn sich vertiefte. Hollywood hautnah. Es war eine schöne Erfahrung – auch wenn Rue wieder nichts sagte. Er war die ganze Zeit über ein stiller Beobachter gewesen. Der Gruppenführer setzte die Gäste schließlich wieder am Haupteingang ab und wünschte allen einen schönen Tag. Ab jetzt waren sie im Freizeitpark auf sich allein gestellt. Das erste was Shaelyn von einem Mitarbeiter in die Hand gedrückt bekam als sie den Park betraten, war die Parkkarte und noch die zusätzliche Showliste, die sie zunächst Rue an ihrer Seite übergab. Mit Neugier öffnete sie die große Karte und in großer Schrift stand dort, dass eine neue Akttraktion geöffnet wäre. 'Die Rache der Mumie' so wie es dort unübersehbar angekündigt wurde. Gleich weitete sie ihre Augen. Diesen Film kannte sie doch! Da musste sie 13 oder 14 gewesen sein, als sie den Film mit ihrem Bruder gesehen hatte. Prompt senkte sie entschlossen die Karte. „Wir gehen zu aller erst zu dieser Bahn!“ Mit Eifer hielt sie gerade so mit einer Hand die Karte hoch und deutete mit ihrem Finger auf dem Fleck, an dem sich die Achterbahn befand. Rue betrachtete kurz die Karte, ehe er sie nichtssagend anstarrte. Shaelyn lächelte daraufhin breit. „Das wird dir schon gefallen.“, merkte sie auf seinen Ausdruck hin an und erntete gleich einen misstrauischen Blick. Als Shaelyn gerade los wollte, bemerkte sie im Schaufenster ein paar Meter Entfernt einige Dinge. Darunter Etwas, das ihr Gesicht vollkommen aufhellte. „Warte kurz hier. Bin sofort wieder da.“, sagte sie eilig und ohne zu zögern betrat sie den Shop weiter Vorn. L stand neben dem Laden und wartete geduldig auf Shaelyn. Während dem Warten beobachtete er die Menschen, die an ihm vorbei gingen. Es war sehr voll, was er gleich feststellen musste. Viele Familien, Paare und Gruppen von Jugendlichen tummelten sich auf der Straße herum. Was ihn zu der Frage brachte, ob es tatsächlich dermaßen Spaß bereitete einen Freizeitpark zu besuchen. Nein, für ihn war das kein Spaß. Vielleicht lag es schlicht daran, dass er weder Menschenmasssen noch derartige Attraktionen mochte. Einzig die vielen Süßigkeiten die angeboten wurden waren etwas Gutes. Und er wusste wovon er sprach. Schließlich hatte er sich bereits einmal in einem Freizeitpark umgesehen. Reine Neugierde – die er im Anschluss als Zeitverschwendung abgetan hatte. Ein eigenartiges Geräusch erhaschte sofort seine Aufmerksamkeit. Prompt wandte er sich um und blickte einer Shaelyn entgegen, die eine Kamera hoch hielt und kaum eine Sekunde später den Auslöser betätigte. Verstört starrte er sie an. Sie hatte ihn eben fotografiert. „Ich hab genau den richtigen Moment erwischt!“, lachte sie freudig und trat zu ihm. „Du hast total überrascht ausgesehen.“ L war weniger erfreut. „Ich bin auch überrascht.“, meinte er trocken. Shaelyn lachte weiter. „Sag ich ja. Genau der richtige Moment. Ab jetzt solltest du dich aber auf ein paar Bilder gefasst ma... Hey!“ Gleich nahm er ihr die Kamera aus der Hand und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. „Wa-Was machst du denn da?!“, fragte sie nun überrascht und verdutzt. „Ist konfisziert.“ „Wieso das denn?! Ich will doch nur ein paar Bilder von dem Tag hier machen.“ „Ich mag es nicht, wenn man mich fotografiert.“, gab er schlicht an und stieß bei ihr auf Unverständnis. „Wieso...? Aber du siehst doch gut aus.“ An dieser Stelle legte L interessiert seinen Zeigefinger an den Mund. „Findest du?“ „... Ja? Natürlich?“, brachte sie mit einem verschämten Lächeln hervor. „Ich dachte, das weißt du längst...“ Sein Puls stieg. L sollte das Thema wechseln. „Ich werde dir die Kamera trotz dessen nicht aushändigen.“ Direkt zog sie einen Schmollmund. „Och, bitte. Dann mache ich eben ab jetzt keine Fotos mehr von dir...“ Shaelyn seufzte schwer. Offenbar entfiel ihr Hauptgrund Fotos zu schießen. „Auch wenn ich bisher kein einziges Foto habe. Ich hätte halt gern eines gehabt, aber eben auch gern von dem Park hier. So als Erinnerung eben.“ Kurz überdachte er ihre Worte, ehe er zu Etwas ansetzte. „Einverstanden.“ Sofort hellte sich ihr Gesicht auf. „Allerdings unter einer Bedingung.“, begann er nur kurz darauf und ihre Begeisterung starb. „War klar, dass das nicht ohne Bedingungen ist. Was willst du?“ „Ich schieße die Fotos.“ Irritiert zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Das hatte sie nicht erwartet. „Du?“ „Ja.“ „Wieso?“ „Darum.“ „Was ist das denn für ein Grund?“ „Du stellst zu viele Fragen.“ „Und du gibst mir einfach zu wenig Antworten!“ L grinste. „So könnte man es auch sehen. Da gebe ich dir Recht.“ Es gefiel ihm sie zu necken. Ihr allerdings weniger. Shaelyn verengte ihre Augenlider zu einem Schlitz und ihre Wangen hatten an Farbe gewonnen. Sie war wütend. „Manchmal könnte ich dich so... argh!“ „Ja?“ Sie schnaubte bedrohlich. „Pass auf wenn wir Zuhause sind.“ L sollte ihre Drohung ernst nehmen und sie nicht weiter reizen. Seine Gesundheit lag ihm doch sehr am Herzen. „Fein.“, gab sie beleidigt von sich und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Rue tat es immer wieder! Er musste einfach Spaß daran haben sie zu ärgern. „Dann schießt du halt die Fotos... aber wehe du machst den Film nicht voll!“ Shaelyn wandte sich abrupt um und seufzte abermals schwer. Der Kerl brachte sie um den Verstand! Was war denn schon dabei, wenn sie ihn fotografierte? Klar wollte sie auch ein paar Bilder von ihm... Zumindest eines, was sie sich heimlich unter ihr Kopfkissen tat. Sie hätte es stundenlang ansehen können, ohne dass es aufgefallen wäre – oder es jemanden störte. Aber was sollte sie tun? Die Kamera war weg. Somit auch das perfekte Bild von Rue. Vielleicht sollte ihm nicht böse sein. Wenn er es nicht mochte, mochte er es nicht. „Rue... Ich-“ Noch während sie es sprach, drehte sie sich um und fand sich in derselben Situation wider wie Rue. Nur drückte er diesmal den Auslöser. Es war als fingen ihre Wangen augenblicklich Feuer. „W-Was machst du denn da?! Du sollst mich doch nicht fotografieren!“, beschwerte sie sich mit einem roten Gesicht und wollte ihm nun die Kamera aus der Hand reißen. Allerdings hielt er sie schnell zur Seite. Sein Gesicht drückte Unschuld aus. „Warum nicht?“, fragte er neugierig und sie blinzelte einige Male verwirrt. „Weil... ich das nicht mag?“ „Tatsächlich?“ Sie wagte es nicht mit einem Ja zu antworten, weshalb sie schnaubte. Ja, sie verstand ihn schon! „Ist ja gut. Ich hab es verstanden. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen...“, seufzte sie und atmete im nächsten Moment ein. „Dann lass uns jetzt zur Bahn.“ Vielleicht konnte sie ihm im Nachhinein noch davon überzeugen ihr das Bild auszuhändigen. Ihr musste nur etwas Gutes einfallen. Aber zu aller erst würde sie zur Achterbahn gehen! Mit der Karte in der Hand suchte und fand Shaelyn schließlich ihr Ziel. Mit beeindruckenden großen, alten ägyptischen Statuen war der Eingang zur Bahn gekennzeichnet. Aufgeregt faltete sie die Karte klein und steckte sie sich zwischen Überjacke und Rock. „Na, was sagst du? Wäre das kein Schnappschuss wert?“, wandte sie sich an Rue neben ihr. Jener zog ohne Kommentar die Kamera und fotografierte die Szenerie. Bei dem Anblick rollte sie mit den Augen. „Also echt. Ein Gespür fürs Fotografieren hast du jedenfalls nicht.“ Rue blickte sie nachfolgend nüchtern an. „So würde ich das nicht sehen.“ „Nein?“ Rue hob seinen Finger an. „Nicht jeder Fotograf sucht sich dasselbe Motiv.“ Sie kam ins Grübeln. „Das heißt, du findest es nicht Wert davon ein Foto zu machen.“ „Anders ausgedrückt; ja.“, meinte er und legte seinen hochgehobenen Finger an den Mund. „Die Originale in Ägypten sind durchaus beeindruckend.“ Sofort blickte sie ihn neugierig an. „Du warst schon mal in Ägypten?“ Kaum war die Frage gestellt, fixierte er sie mit seinen Augen. „Nein.“ „Hm... Das klingt aber so, als würdest du dich dafür interessieren. Willst du dort mal hin?“ „Vielleicht.“, sagte er ruhig und bekam dafür ein Grinsen als Antwort. „Also ein Ja. Aber ich wusste gar nicht, dass dich Geschichte so interessiert. Weil die Amerikanische kannst du auch.“ Plötzlich schien er stark zu überlegen und kam wenig später zu einem Schluss. Shaelyn spitzte ihre Ohren. „Wenn du es so sagst, könnte es durchaus stimmen.“ Verdutzt blickte sie ihn an. Es kam ihr so vor, als ob er all die Dinge gar nicht so wahrgenommen hatte. Als ob er sich nie Gedanken darum gemacht hatte. Er wusste all die Dinge, wusste aber nicht weshalb. Das klang äußerst bizarr. Eventuell hatte er so viel Zeit mit Lernen verbracht, dass er sich so etwas nie fragte – oder jemand ihn danach. Urplötzlich weitete sie ihre Augen. Er war allein gewesen. Was sollte er sonst tun, außer sich mit all dem zu befassen? Alles was sie bisher mit ihm erlebte sprach dafür. „Was beschäftigt dich, Shaelyn?“ Seine dunkle Stimme ließ sie leicht den Kopf schütteln. Darüber sollte sie jetzt nicht nachdenken. „Nichts. Ich... hab nur über Etwas nachgedacht.“, lachte sie stumpf. „Lass uns zur Achterbahn.“, lenkte sie ein, ehe Rue weiter nachbohren konnte und lief vor. Der VIP-Pass war Goldwert. Ohne Umschweife betrat Shaelyn mit Rue das Gebäude, welches im Inneren schon an eine ägyptische Gruft erinnerte. Überall Wandverzierungen und Säulen. Mit einem breiten Lächeln konnte sie gleich mit Rue in die nächste Bahn einsteigen. Obwohl ihr ein Moment nicht wohl bei der Sache war. Die regulären Gäste, welche wirklich lange schon anstanden, warfen ihnen neidische Blicke zu. Dennoch war dies schnell vergessen! Die Sicherheitsbügel wurden hinunter gedrückt, sodass sie fest im Wagen saß. Ein kurzer Blick zur rechten Seite und sie konnte Rue sehen, wie er unzufrieden auf den Bügel starrte. Natürlich musste ihm der Sitz unbequem erscheinen. Aufrecht, mit Füßen auf den Boden war er im Sitz festgehalten. Mit einem Lachen erhaschte sie seine Aufmerksamkeit. Er sah aus, als würde er leiden. „Die Fahrt dauert bestimmt nicht so lang.“, baute sie ihn noch schnell auf, ehe der Wagen sich langsam in Bewegung setzte. Der erste Abschnitt wurde durch ein Tor betreten und es war die komplette Dunkelheit. Man hörte in der Ferne einige Schreie und Geräusche, doch nichts in der Umgebung – bis zu ihrer linken Seite unerwartet rote Augen aufleuchteten und kurz darauf eine halb bandagierte Mumie im Licht zu sehen war. Erschrocken von dem Anblick, griff sie den Bügel in ihren Händen fester. Hinter ihr begann jemand zu lachen. Bevor sie sich die Gestalt genauer ansehen konnte, fuhr die Bahn weiter und über sie an der Decke war ein großer Bildschirm. Ein Mann in einer archäologischen Uniform schrie: „Rennt um Euer Leben! Der Fluch ist real! Imhotep lebt!“, ehe der Mann von Käfern überfallen wurde und der Bildschirm ausblendete. Im nächsten Raum erschienen an den Seiten im Halbdunkeln neue Mumien. Und als aus der Decke knapp über sie Hände nach ihnen griffen, schrie sie kurz auf. Mit rasendem Puls drückte sie sich weiter in den Sitz, als die Bahn weiterfuhr. Diesmal wurde sie vom Licht leicht geblendet und sie fand sich in einer Schatzkammer wider. Überall lagen goldene Schmuckstücke verteilt, welche von Spinnenweben überzogen waren. Die Wände waren abermals mit schönen Hieroglyphen überzogen und Statuen säumten den Raum. Abermals schaltete sich eine Leinwand ein. Imhotep sprach: „Dient mir und genießt die Reichtümer des ewigen Lebens.“ Plötzlich wurde der Raum in ein tiefes dunkles Grün getaucht und die Mumie fuhr fort: „Und schließe dich uns beim ewigen Tod an.“. Die Bahn fuhr in den nächsten Abschnitt und der untote Priester war auf einem Podest zu sehen. „Akum ra Akum de.“, begann die Gestalt auf altägyptisch. „Jetzt gehören mir eure Seelen... für immer!“ Dann wurden alle Fahrgäste in die Tiefe gerissen. Gekreische und Stimmen vom Priester mischten sich unter der rasenden Fahrt, welche durch die Dunkelheit führte. Blitzende Illusionen von Bildern waren zu erkennen und gestalteten die scharfen Kurven umso intensiver. Als der Wagen langsamer wurde, standen sie schließlich vor einer Wand, die sich als Bildschirm herausstellte. Man erkannte wie Käfer über die Wand liefen und plötzlich spürte sie wie sie leicht Etwas berührte. Für einen Moment dachte sie, die Käfer befielen sie – stellte es sich doch als harmloser Nieselregen heraus. Unerwartet setzte der Wagen plötzlich zurück und führte so seine Fahrt rückwärts fort. Geführt durch viele enge Kurven und ein einziges Auf und Ab, verlangsamte sich der Wagen. Welcher wenige Augenblicke später wieder gedreht wurde und Nebel die blinkende Kulisse erfüllte. Erneut erschien Imhotep auf einem Bildschirm und schrie: „Nein!“. Und so schnell dies vorbei war, wurde ein Tor geöffnet und Shaelyn sah das Ende der Bahn. Das erste was sie tat war Lachen. Es hatte ihr unheimlich viel Spaß bereitet! Am liebsten würde sie noch einmal fahren. Direkt im Anschluss! Als sie dann aber nach rechts blickte, starrte sie schon Rue mit großen Augen an. Ihm hatte es wohl nicht gefallen...  Ein Grund ihn zu Ärgern. „Na, noch eine Runde?!“ „Nein.“, kam es entschieden von ihm, woraufhin sie kicherte. Es war als hätte er gewusst, dass sie dies fragen würde. „So schlimm war das doch gar nicht.“, verteidigte sie die Achterbahnfahrt mit einem Lächeln, was seine Meinung absolut nicht zu ändern schien. Im Hellen angekommen, reckte sich Shaelyn erst einmal. „Ich fand es toll. Ganz anders irgendwie als Zuhause!“ L äußerte sich dazu nicht. Er empfand die ganze Fahrt als entsetzlich. „Oh! Sieh mal da! Es wurden ja sogar Schnappschüsse gemacht!“ Sofort lief sie zu einem Stand, an dem sich schon einige Leute versammelt hatten. L folgte ihr. „Guck mal!“, lachte sie, während sie sich nach ihm umsah und deutete auf ein nummeriertes Bild in der Ecke der Bildschirme. „Das sind wir! Und du siehst total lustig aus...“, kam es weiterhin lachend von ihr und er folgte ihrem Deuten. Tatsächlich. Ein Foto von ihnen beiden in der Bahn. L drehte seinen Kopf etwas und betrachtete den Schnappschuss aus einem anderen Winkel. Sein Gesicht war schockiert. Ja, das beschrieb gut seinen Gemütszustand. „Wir sollten weitergehen.“, kam es weniger amüsiert von ihm. Unerwartet fasste Shaelyn nach seiner Hand. Sie zog ihn etwas von der Masse weg und senkte die Hand. „Lass uns doch etwas Süßes essen. Vorhin hast du sicher auch den Eiswagen in der Nebenstraße gesehen. Wie wäre es damit?“, schlug sie mit einem bezaubernden Lächeln vor. Ls Lippen öffneten sich einen Spalt. Gleich stand ihr das Fragezeichen im Gesicht geschrieben. Rue wirkte seltsam. Sie hatte aber sicherlich etwas, für ihn, Vernünftiges vorgeschlagen. Doch bevor er ihr eine Antwort gab, blickte er auf ihre Hand, die noch immer seine hielt. Als habe sie sich verbrannt zog sie ihre zurück. „Tut mir leid. Das war...-“ „In Ordnung.“, verließ es gelassen seinen Mund als sei nichts gewesen, weswegen sie verwirrt blinzelte. Sie verstand ihn manchmal wirklich nicht. „Alles klar, dann lass uns gehen.“, meinte sie schließlich und ging ein Stück vor. Blieb jedoch für einen Augenblick stehen und wandte sich mit einem fröhlichen Lächeln um. „Ein Eis ist bei dem Wetter jetzt genau das Richtige! Da wirst du mir bestimmt nicht widersprechen.“ Mit einem verspielten Zwinkern unterstrich sie ihre Worte und schritt wieder voran. Sie hatten Glück. Gerade war so wenig los, dass sie gleich dem Mann hinter dem kleinen Wagen ihre Wünsche nennen konnten. Natürlich entschied sich Shaelyn für Vanilleeis und Rue für ein gemischtes Fruchteis. Als Shaelyn den Mann bezahlen wollte, kam ihr Rue dazwischen. Mit einem überraschten Ausdruck nahm sie schließlich auch die Eiswaffel von Rue an. Er hatte ganz selbstverständlich für sie gezahlt und ihr die Waffel gereicht. Konfus schaute sie auf ihr Eis in der Hand. Es war das erste Mal, dass sie sah, dass er Etwas für sie kaufte. War es auch die erste Situation, in der sie wirklich allein mit ihm war. Niemand den sie kannte war in der Nähe. Sicher, sie hatte es auch zuvor gewusst und nervös gemacht. Aber es fühlte sich auf einen Schlag vollkommen real an. Es war... als würde sie mit ihrem Freund ausgehen und Spaß haben. War es seltsam so einen Gedanken zu haben? „Shaelyn?“ Prompt blickte sie auf. Rue sprach sie an, während er an seinem Eis leckte. „...Ja?“ „Was ist es?“ „Nichts.“ Man erkannte, wie er eine Augenbraue hob. „Wieder dieses Nichts.“, dachte er laut nach, was sie schwach grinsen ließ. „Ja, dieses Nichts.“ Was konnte sie ihm schon sagen? Er würde es wahrscheinlich gar nicht verstehen. Aber es unterschied sich heute deutlich von all den anderen Tagen, die sie schon mit ihm erlebt hatte. Sie würde den ganzen Tag allein mit ihm verbringen – und er schenkte nur ihr Aufmerksamkeit. „Dein Eis schmilzt.“, gab er gelassen von sich und holte sie erneut aus ihrer Gedankenwelt. Erst jetzt bemerkte sie den wilden Herzschlag in ihrer Brust. Irgendetwas fühlte sich anders an als sonst. Schnell versuchte sie eine Katastrophe zu verhindern, indem sie über die Ränder der Waffel schleckte. Eine klebrige Hand war nicht unbedingt das, was sie wollte. Dabei fiel ihr die leere Bank im Schatten gegenüber auf, die sie sogleich ansteuerte. Still setzte sie sich darauf und Rue tat es ihr gleich. Zunächst blieb es still. Doch dann gewann der Gedanke diese Stille zu brechen. „Das Vanilleeis schmeckt wirklich gut.“, sagte sie lächelnd an ihn gewandt. Rue blickte daraufhin zu ihr. Sein Ausdruck verriet Neugier. Er hob seine freie Hand an und deutete auf ihr Eis. „Darf ich mal probieren?“ Entrüstet starrte sie ihn an. Meinte er das ernst?! „Ich hab' aber keinen Löffel...“ „Das habe ich mir fast gedacht.“, verließ es monoton seinen Mund, sodass sie doch kichern musste. Sie mochte seinen trockenen Humor. „Du willst einfach so mein Eis ablecken? Was ist, wenn ich ein Problem damit hab?“ „Warum solltest du?“ Geradezu unschuldig stellte er die Gegenfrage, was sie unkommentiert ließ. Stattdessen hielt sie ihm ihr Eis hin. Besser sie gab wieder widerstandslos auf. Er würde sich so oder so sein Süßes holen – mit oder ohne ihre Zustimmung. Aber brachte es ihrer Fantasiewelt nicht näher? Machten das nicht Paare? Sie hielt im Gedanken inne. Nein. Die Erinnerung von der Schokoladensoße ziemlich am Anfang der Bekanntschaft sagte alles aus. Für Rue besaß es offenbar keine Bedeutung – für sie jedoch umso mehr. Demnach sah sie verschämt mit an, wie er eine Bahn mit seiner Zuge zog. Konnte sie ihr Eis danach noch ohne Hintergedanken essen? Als er genug hatte setzte er einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf. „Ja, es schmeckt tatsächlich sehr gut.“ Nervös blickte sie auf sein Eis. Wenn er durfte, wieso auch nicht sie? „Darf ich auch mal dein Eis probieren?“, fragte sie einfach darauf los und bekam einen nichtssagenden Blick zugeworfen. „Nein.“ Direkt rutschte ihr Herz tief ab. Sie hatte zu viel erwartet. „Ich habe einen besseren Vorschlag.“, begann er nur wenig später. „Wir tauschen.“ Verblüfft zog sie ihre Augenbrauen an. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Schmeckt dir deines nicht?“, stellte sie zunächst die Frage. „Doch. Allerdings schmeckt mir deines besser.“, antwortete er ruhig und blickte sie genau an. Sie biss sich auf ihre Unterlippe. Ganz schnell musste sie den Gedanken unterbinden mehr in seiner Aussage zu sehen als dort war. Und es fiel ihr unendlich schwer! Hochrot entgegnete sie seinem neutralen Ausdruck. „I-Ich weiß gar nicht wie deines schmeckt. Ist der Handel dann nicht unfair?“ Mit Mühe versuchte sie Ruhe zu bewahren. Es war schon ohnehin sehr privat gewesen an ihrem Eis zu lecken. Aber es auch noch zu tauschen hatte eine noch größere Bedeutung – für sie. Interpretierte sie zu viel hinein? Ganz bestimmt. Aber es waren die kleinen Dinge. Und es zählte für sie definitiv zu etwas, was Paare taten. Sich gegenseitig füttern und solche süßen Dinge tauschen. „Stimmt.“, pflichtete er bei, tat jedoch nichts Weiteres. „Lass uns einfach aufessen.“, verließ es ihre Lippen, welche schwach ein Lächeln formten. „Und wenn wir fertig sind, kannst du dir ja auch ein Vanilleeis holen.“ Unmittelbar veränderte sich sein Ausdruck. Sie konnte Überraschung erkennen. Hatte er also fest damit gerechnet, dass sie ihm ihr Eis gab?  Rue blickte auf sein Eis und fuhr mit seinem Schlecken fort. Hatte sie Etwas falsch gemacht? Nach diesem, wieder, seltsamen Vorfall, holte sie ihre Karte heraus. Irgendetwas musste sie tun. Warum nicht die nächste Attraktion aussuchen? Und am anderen Ende des Parks machte sie Interessantes aus. Van Helsing: Festung Dracula . Das klang spannend, weshalb sie sich das als Ziel nahm. Obwohl sie die Showliste nicht vergessen sollte. Immerhin wurden einige Szenen aus Filmen gezeigt. Nein, sie war eher jemand, der sich in die Attraktionen stürzte. Also kam dies auch zuerst. „Wollen wir dann weiter?“, wandte sie sich an Rue, der sich dann als deutliches Zeichen von der Bank hievte. Der Eingang allein sah schon gruselig aus! Shaelyn betrachtete das große Tor, welches aus dicken alten Steinen gebaut war. Zwei Schädel verzierten den Namen des Hauses. Außerdem stieg weißer Rauch an den Seiten hoch. Aufgeregt grinste sie. „Vergiss nicht ein Foto zu machen!“, rief sie ihm noch zu und lief vor. Kaum war sie durch das Tor gegangen, erkannte man wieder die deutliche Aufteilung. Ein Mitarbeiter kontrollierte auch sorgfältig ihren VIP-Pass, ehe er sie den exklusiven Bereich betreten ließ. Getrennt von der langen Warteschlange, wartete Shaelyn geduldig auf ihren Begleiter. Der Mitarbeiter kontrollierte natürlich auch Rue und gewährte ihm ebenfalls Zutritt. Als die Leute begannen still zu stehen, weil es zu viel Andrang war, ging sie im freien Bereich weiter. Der Anblick war eigenartig. Sie kam sich wichtiger vor als all die Menschen, die das Haus ebenso sehen wollten wie sie. Dabei war sie genau einer von ihnen. Es war schön, dass sie sofort Zutritt hatten. Aber sie empfand es auch als unangenehm. Vor allem, da sie von allen Seiten angestarrt wurde. Es war dasselbe Gefühl gewesen, als sie in der Achterbahn gewesen war... Ein weiterer Mitarbeiter stand vor dem endgültigen Eingang, der sie beide passieren ließ. Es war alles dunkel und Schreie waren zu hören. Ab diesem Punkt kreuzten sich wieder die Wege der normalen Personen, wie die der VIP-Gäste. Fahles rotes Licht wies schwach den Weg und schon von Weitem erkannte sie Schädelhaufen in einer Art Fenster. Automatisch griff sie nach Rues Hand. In der Dunkelheit und bei den vielen Leuten, die sich wie eine Schlange durch die Gänge zog, wollte sie nicht verloren gehen. Und wie es schien, akzeptierte Rue ihre stille Bitte nach Sicherheit und Führung. Als der Schreck vorbei war und Shaelyn wieder frische Luft atmete, ließ sie von Rue ab. Sie lächelte vorsichtig. „Tut mir leid, dass ich deine Hand genommen habe.“, begann sie behutsam. „Und... auch, dass ich dich einmal angesprungen habe.“ Was war ihr auch anderes übrig geblieben?! Da sprang so ein komischer Typ mit gruseliger Maske aus einem Schlitz an der Wand – mit irgendetwas Großem in der Hand! Und nicht nur sie war erschrocken. Selbst Rue stand der Schock im Gesicht geschrieben. Davon abgesehen, dass natürlich auch der Rest in der Nähe zusammenzuckte und aufschrie. „Schon gut...“ Ja, er wirkte immer noch etwas mitgenommen. Das musste ihn tief getroffen haben. „Aber eigentlich war es doch lustig, oder?“, lachte sie vergnügt. Rue bedachte sie mit einem undefinierbarem Gesicht. Sein Starren war geradezu stechend. „Nein.“, kam es ausdrücklich von ihm. Jetzt konnte sie nicht mehr sagen was ihm mehr zugesetzt hatte. Die Achterbahn oder doch das Haus? In jedem Fall war es witzig ihn so zu sehen. Endlich zeigte er mal auf so vieles Reaktion. Vor allem konnte er sich auch richtig erschrecken. Fast dachte sie, er wäre dagegen immun. So gleichgültig wie er sonst tat und handelte. Aber vielleicht sollte sie ab jetzt lieber ruhigere Attraktionen besuchen, weshalb sie ins Grübeln kam. Eine Vorführung wäre jetzt vielleicht das Richtige. Zufrieden lächelte sie ihm zu. „Könntest du mir die Showliste geben? Auf den Schreck brauch ich erst mal eine actionreiche Show.“ Die Vorführung war schnell entschieden – und zwar die nächste, die laut Uhrzeit stattfinden sollte. Eine Szene aus dem Film Waterworld – mit der Warnung versehen, dass man in der untersten Reihe Nass werden könnte. Demnach war es besser, wenn sie die ersten Reihen nicht nahm. Doch zuvor kaufte sie sich noch etwas Zutrinken. Es war später Mittag und die Sonne brannte unaufhörlich. Ob Rue sich in dem langen Shirt überhaupt noch wohl fühlte? An ihm war keine Veränderung zu sehen. Begeistert von der genialen Vorführung an Stunts und spezialen Effekten, konnte Shaelyn nicht anders als nur mitzufiebern. Die Bühne war riesig! Es wurde geschossen, Feuer brach aus – es war, als würde die Bühne explodieren! Dazu die Angreifer, die auf ihren Jetskis durchs gigantische Becken kurvten. Es war ein absolutes Highlight. So etwas hatte sie bisher nicht gesehen. Leider schien Rue daran wenig Interesse zu besitzen. Er saß neben ihr, blickte schlicht auf das Geschehen und kaute auf seinem Süßen herum, das er in wenigen Abständen aus seiner Hose fischte. Jedoch wollte Shaelyn sich nicht beschweren. Er saß immerhin neben ihr und fotografierte ein- zweimal Szenen der Show. Ob ihm langweilig war? Als die Show ihr Ende fand, musste sie erst all das verarbeiten. Dabei war das gerade einmal eine der Shows. Und es stand mindestens noch eine Fahrt an. Ob sie all das überhaupt schafften? Es war der Nachmittag angebrochen. Nach einer Toilettenpause und nochmals etwas zu Trinken, ging es schließlich weiter. Sie besuchten noch eine Simulationsfahrt: Zurück in die Zukunft, was natürlich abermals nicht nach Rue sein Geschmack war. Außerdem gab es noch eine Tiershow, die Spezialeffekte Vorführung, Terminator 2 3-D und allerhand Kleines. Im Großen und Ganzen hatte es Shaelyn absolut gefallen. Jetzt stünde nur eine weitere Fahrt mit der Achterbahn an – aber das machte Rue bestimmt nicht noch einmal mit und sie wollte ihn nicht draußen allein stehen lassen. Mit Fußschmerzen setzte sie sich schließlich auf eine Bank in der Nähe. Es war bereits Abend geworden. „Ich bin schon lange nicht mehr so lange gelaufen.“, meinte sie beiläufig, während sie seufzte und vor sich blickte. Schade, dass sie mit ihm schon alles gesehen hatte. Das hieße, es ginge bald nach Hause. „Ich befürchte, du hast etwas vergessen.“, wandte sich Rue an sie, was sie gleich aufsehen ließ. Was hatte sie vergessen? „Was meinst du? …“ Direkt traf sie der Blitz. „Die Zuckerwatte!“, rief sie aus und lächelte anschließend. „Weißt du noch, wo die war? Ich meine -“ Rue stand plötzlich auf und grinste mit seinem Finger am Mund schwach. „Folge mir.“ Hatte er die ganze Zeit daran gedacht? Vielleicht sich darauf sogar gefreut? Kichernd stellte sie sich auf. „Ich hätte mir ja denken können, dass du dir so was gleich merkst.“ Jetzt war er auch wieder vollkommen anwesend. Als sie all die Shows besuchte, war er mehr ein stiller Begleiter. Warum eigentlich? Er nutzte sonst jede Gelegenheit um seine Meinung kundzutun. Ja, er war wirklich seltsam heute. L führte sie geradewegs zum Zuckerwattestand. Selbstverständlich hatte er sich gemerkt, wo dieser stand und sich schon im Vorfeld Gedanken gemacht, was für eine Zuckerwatte er haben mochte. Von weitem konnte man auf dem Schild lesen, dass es zwei verschiedene Geschmacksrichtungen gab. Er tendierte zum Erdbeergeschmack. „Du hast die ganze Zeit daran gedacht, oder?“, fragte Shaelyn neugierig. Ein Seitenblick von ihm und sie lächelte breit. „Hab' ich es mir doch gedacht. Aber wenn du so gern welche haben wolltest, wieso hast du nicht eher etwas gesagt?“ Das hatte tatsächlich einen Grund. Er wollte sich das Beste bis zum Schluss aufheben – wie sonst auch. „Das Beste zum Schluss.“, war demnach seine klare Antwort, das ihr ein Kichern entlockte. Und er hatte sich eine große Portion verdient. Nach all der teils langweiligen und schockierenden Erfahrungen, brauchte er viel Zucker. Noch dazu bekam man selten die Gelegenheit Zuckerwatte zu genießen. Vielleicht sollte er Watari bitten eine Maschine zu kaufen. Am Stand angekommen entschied sich Shaelyn schnell, was ihn ebenso dazu verleitete. Er bekam die große Portion mit Erdbeergeschmack und sie die normale kleine. Bevor er allerdings etwas von seiner Watte nahm, nahm er sich welche von Shaelyn. Empört zog sie gleich die Zuckerwatte weg und starrte auf das große Loch in der Watte. „Hey! Das ist meine! Wenn du willst kauf ich dir noch eine, aber ich wollte meine schon selbst essen. Wie gemein.“ Sie verzog ihren Mund zu einer Schnute. L betrachtete gelassen, unter kauen ihrer Zuckerwatte, ihr Gesicht. Es war Zeit in Aktion zu treten. In einem Mal legte er den Kopf in den Nacken. „Was ist das?“, meinte er ruhig und deutete nach oben. Sie folgte ohne Nachzudenken und bekam gleich von ihm in den geöffneten Mund ein Stück rosa Watte gedrückt. Erschrocken blickte sie zu ihm und versuchte die viele Watte im Mund zu bändigen. „Das sollte ein fairer Austausch sein.“, erklärte er sich und aß an seinem Zucker weiter. „Du... hättest auch was sagen können.“ „Hätte es denn etwas genutzt?“ L war sich sicher, dass sie erneut abgelehnt hätte. Exakt wie beim Eis zuvor – und er kam noch immer zu keinem Ergebnis, warum sie sein Eis abgelehnt hatte. Das hatte ihn doch auf eine Weise gekränkt. „Nein...“ Ganz wie er es vermutet hatte. Shaelyn sah verlegen beiseite und wich aus. Was sollte L davon halten? Als Shaelyn ein weiteres Stück aus ihrer Zuckerwatte löste, nahm sie einen Lichtblitz neben sich wahr. Verwirrt blickte sie zu Rue, der die Kamera in der freien Hand hielt. Hatte er sie gerade wieder fotografiert? „Hast du eben wieder ein Foto gemacht? Das wäre echt total unfair von dir.“ Rue steckte die Kamera in die Hosentasche. „Das letzte, um genau zu sein. Und nein. Ich habe die Zuckerwatte als Motiv gewählt.“ „Hm....“, gab sie misstrauisch von sich. „Das wollen wir mal hoffen. … Zuckerwatte fotografieren...“ Shaelyn lächelte zum Ende belustigt. Wer fotografierte schon Zuckerwatte? Somit fand der ereignisreiche Tag ein Ende und Watari holte sie nach einem kurzen Anruf von Rue seinem Handy ab. Hoffentlich bekam sie schnell den Film, damit sie ihn entwickeln konnte! Eventuell bekam sie so doch noch ihren begehrten Schnappschuss. Kapitel 34: Illusion -------------------- Der Wind strich sachte die weißen langen Gardinen des Wohnzimmers und kühlte schwach die nächtliche Luft. Grillen zirpten und verrieten, dass ein heißer Tag vorbei gezogen war. Und obwohl es tiefe Nacht war, saß niemand im Wohnzimmer vor dem Laptop, welcher schwach den großen leeren Raum erhellte. L hatte leise die Türe aufgedrückt und stand regungslos einige Sekunden im Dunkeln. Seine Augen ruhten auf Shaelyn, welche friedlich in ihrem Bett schlief. Schon oft besuchte er des Nachts ihr Zimmer. Und wie an diesem Abend konnte er nicht umhinkommen sie zu sehen. Behutsam schloss er die Türe hinter sich und trat an ihr Bett. Dieser Abend war anders. Es war der erste Besuch nach dem Ausflug, der ihm viel offenbart hatte. Und es war auch das erste mal, dass er seine Finger nach ihrem Gesicht ausstreckte und sanft mit seinen Fingerkuppen über ihre warme Wange strich. Nur um Anschließend für einen Moment ihre leicht geöffneten Lippen zu berühren. Shaelyn bewegte sich etwas und L zog seine Hand zurück. Sie würde nicht aufwachen, das wusste er bereits. Sie besaß einen sehr festen Schlaf, den sie ihm allerdings derzeit raubte. Sah er doch immer wieder ihr Gesicht wenn er die Augen schloss. L konnte nicht dagegen ankämpfen. Sein Ich verlangte nach ihr. Und dennoch fand er etwas Kraft sich erneut zurückzuziehen. Es war nicht seine Aufgabe. Nicht sein Leben. Shaelyn würde nie wissen wer er war. Sie würde nie seinen wahren Namen flüstern. Interessiert blätterte Shaelyn am Nachmittag in der Zeitschrift, die sie erst heute morgen mit Emma in der Stadt gekauft hatte. Das Titelbild hatte sie auf magische Weise angezogen, welches eine wunderschön verzierte Torte zeigte. Sie dachte sich, dass sie vielleicht einige Tricks lernen konnte. Und natürlich neue Inspiration finden würde. So wurden nicht nur Rezepte für Torten gezeigt, sondern auch für Backwaren im Allgemeinen. Sie machte sich fleißig mit einem Stift Kreuze an die Köstlichkeiten, die sie sicherlich bald mal ausprobieren würde. Ein Klopfen ließ sie von ihrer Zeitschrift zur Tür ihres Zimmers aufsehen. Ihr Großvater trat mit einem milden Lächeln ein und schloss hinter sich die Türe. Direkt setzte Shaelyn sich auf ihrem Bett auf. „Opa.“, begrüßte sie ihn freudig. „Was ist denn?“ Als sie das Magazin beiseite legte hörte sie ihren Großvater räuspern. Sie wusste nicht genau weshalb, aber es sagte ihr, dass es etwas Ernstes sein musste. Das bestätigte sich mit seinem Gesichtsausdruck der sich daraufhin einstellte. „Ich muss dir leider mitteilen, dass ich eine sehr lange Zeit verreisen muss.“ Überrascht zog sie ihre Augenbrauen zusammen und rutschte vom Bett, sodass sie vor ihm stand. „Ja,... okay. Wie lange?“ „Das kann ich zum derzeitigen Punkt leider nicht sagen.“ Prompt schluckte Shaelyn. Das klang nach einer langen Zeit. Ehe sie dazu eine Frage stellen konnte, sprach ihr Großvater weiter. „In England gab es einen Vorfall und ich muss einige Dinge klären.“ „Das Waisenhaus?“ Sie konnte beobachten wie ihr Großvater die Stirn runzelte. Nur wenige Augenblicke später nickte er. „Okay, kein Problem. Ich verstehe schon.“ Sie lächelte zögerlich. „Wann musst du los?“ „Leider unverzüglich, Shaelyn.“ Überrascht senkte sie den Kopf. Es musste etwas wirklich Schlimmes passiert sein, wenn er so abrupt abreisen musste. „Es gibt noch etwas.“ Direkt blickte sie erneut auf. Es lag ein seltsames Lächeln auf den Lippen ihres Großvaters. Es sah so aus, als freute er sich insgeheim für etwas. Der alte Herr griff in seine innere Jacketttasche und holte etwas hervor, das ihre Augen weiten ließ. Es war ein Fotostapel. „Ryuzaki bat mich darum dir diese auszuhändigen.“ Als sie schon danach die Hand ausstreckte, ergriff ihr Großvater erneut das Wort. „Du sollst sie für das nehmen, wofür sie gedacht sind.“ Irritiert sah sie zu ihrem Großvater auf. „Für... Erinnerungen?“ Er nickte bestätigend. Hastig nahm sie die Fotos an sich und lächelte freudig. „Dann muss ich ja morgen ein Album kaufen und sie alle einsetzen und beschriften!“ Ein Räuspern ließ sie aufmerksam werden. „Ich habe noch ein weiteres Foto.“ Ein einzelnes Foto? War es vielleicht...? Nein, das konnte nicht sein! Rue hatte vor ein paar Tagen so ausdrücklich gesagt, dass er es nicht hergeben würde. Dennoch stieg ihre Aufregung – sowie Hoffnung. Bevor sie sich dazu einen weiteren Gedanken bilden konnte, holte ihr Großvater das Gesagte hervor. Mit heftigem Herzklopfen nahm sie das letzte Foto entgegen. Und es ließ sie verträumt lächeln. Es war das Bild von Rue, das sie gedacht hatte nie zu bekommen. Behutsam strich sie mit ihren Fingern über das Foto. Ja, sie hatte ihn im perfekten Moment für immer festgehalten. Sie blickte auf. „Wie...? Ich dachte, …“ Der alte Herr zog eine Augenbraue an. „Er wollte, dass du es bekommst.“ Shaelyn schüttelte sachte ihren Kopf. Wieso gab er das Bild plötzlich her? Natürlich, es machte sie unendlich glücklich. Aber es hinterließ auch ein seltsames Gefühl. Warum entschied er sich doch anders? Nichtsdestotrotz seufzte sie zufrieden und drückte das Foto an ihre linke Brustseite. „Wieso auch immer. Ich werde es auch für das nehmen, wofür es gedacht ist.“, lachte sie leise. Doch auch ohne dieses Bild würde sie sich immer an ihn erinnern. Er saß tief in ihrem Herzen. Mit einem Lächeln verabschiedete sich Shaelyn von ihrem Großvater, der daraufhin den Flur hinabging. Sie würde ihn vermissen. Außerdem machte sie sich etwas Sorgen. Was wohl passiert war? Sie hoffte inständig, dass es nichts Furchtbares war. Als sie die Türe schloss, kam sie ins Grübeln. Wie lange ihr Großvater wohl weg sein würde? Wenn er selbst sagte, dass es eine lange Zeit sein würde, wie lang wäre das tatsächlich? Bisher war er nie länger als zwei Wochen fort gewesen. Das Haus erschien leerer in jener Zeit. Natürlich war Rue da. Aber ihr Opa war ebenso unersetzlich wie Rue. Ob sie Rue fragen sollte was in England passiert war? Besser sie tat es nicht. Denn wenn schon ihr Großvater nichts Wirkliches darüber verriet, würde es Rue ganz sicher auch nicht verraten. Shaelyn seufzte. Wieso gab es so viele Geheimnisse? Sie verstand es nach wie vor nicht. Auch wenn sie sich damit abgefunden hatte, so blieb immer ein mulmiges Gefühl zurück. Konnte sie sich vollkommen angenommen fühlen, wenn ihr Großvater und vor allem Rue solche Geheimnisse führten? War sie dann nicht immer ein Stück abseits? Sie wollte so gern alles von Rue wissen... . Traurig begann sie zu lächeln. Vielleicht war es doch besser, dass sie nicht alles wusste. Denn wer wusste schon was das für Geheimnisse waren. Shaelyn atmete einmal tief durch. Was brachte es schon, wenn sie über all die Dinge nachdachte. Natürlich hoffte sie darauf, dass man ihr eines Tages verriet was vor sich ging. Und eventuell hatte der Vorfall in England gar nichts mit den Geheimnissen hier zu tun. Denn wenn sie an das Gespräch eben zurückdachte, hatte sie gar keine Frage zum Geschehen gestellt. So gesehen hatte ihr Großvater auch nichts verschwiegen. Ja, sie wagte doch einen Versuch bei Rue … oder? L trank wie gewohnt von seinem Kaffee, stellte die Tasse anschließend zurück und naschte von der Süßigkeitenschale. Es störte ihn absolut nicht, dass Shaelyn schon eine ganze Weile, annehmend versteckt, an der Tür zum Wohnzimmer stand. Er wusste, dass sie da war und was sie wollte – und sie traute sich nicht herein zu kommen, oder sich gar zu zeigen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie genug Mut fasste. Oder sollte er sie gleich zu sich rufen? Nein, er war sich sicher, dass sie bald zu ihm kam. L wandte seinen Oberkörper zur Wohnzimmertür und blickte diese an. Ein paar schwarze Haarsträhnen lugten am Türrahmen hervor. Plötzlich hatte er eine bessere Idee. Leise hob er sich aus dem Ledersessel, begab sich ebenso leise zur Türe, an welcher er kurz vor dem Durchgang stehen blieb. Er streckte seine Hand nach den wenigen Haarsträhnen aus und nahm sie zwischen die Fingerspitzen – und zog einmal beherzt daran. Was folgte war ein leiser Aufschrei und eine ruckartige Bewegung. Prompt fasste sie nach dem Grund ihrer Schmerzen und fand seine Hand. Shaelyn zeigte sich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck, welchen er mit einem emotionslosen konterte. „Das hat weh getan!“ „Ah. Du bist das, Shaelyn. Ich fragte mich eine Weile was das Seltsames an der Türe ist.“, sagte er mit dem Daumen am Mund und betrachtete ihre Regung mit einem unschuldigen Ausdruck. Shaelyn verengte ein Auge misstrauisch. „Du hast die ganze Zeit gewusst, dass ich da bin?“ L nahm seinen Daumen vom Mund. „Könnte man annehmen.“ „Wieso machst du das dann?“ „Einfach nur so.“ „'Einfach nur so'?“ „Ja.“ „Kommen wir hier weiter im Gespräch, oder geht das so weiter?“ „Das kommt ganz darauf an.“ Shaelyn seufzte entnervt auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Manchmal frage ich mich wirklich was ich eigentlich von dir will.“ L hob eine Augenbraue sowie einen Finger. „Eine Liaison.“, klärte er sie auf, was sie plötzlich erröten ließ. „Und? Hast du was dagegen?“ Sie grinste ihm breit entgegen. „Obwohl ich es keine 'Liaison' nennen würde. Das klingt so, als würde ich nur … mit dir... mit dir ins Bett wollen.“ Das zu sagen hatte ihr Überwindung gekostet. Und damit begann sie das kleine Spiel, also spielte er amüsiert mit. Er stellte er den Kopf schief. „Willst du nicht?“, fragte er neugierig, woraufhin ihre Wangen zu glühen begannen. „I-Ich...! … Wieso soll ich dir das sagen?! Und wieso sprichst du so was an?! Wie zur Hölle kannst du dabei nur so ruhig bleiben?!“ „Ist das ein Grund nervös zu werden?“ „Ja!“ Als L erneut seinen Mund öffnete, schnitt sie blitzschnell dazwischen. „Komm mir jetzt nicht mit dem Natürlichkeits-Ding!“ Also schloss L seinen Mund wieder. „Es macht mich nun mal nervös. Vor allem wenn ich mit dir darüber reden... soll. Lass uns das Thema wechseln. Ich wollte mit dir über etwas anderes reden.“, gab sie zuletzt selbstsicher von sich. Sein Ausdruck veränderte sich - er wurde ernst. Shaelyn war gefasst und sie war von ihrem Vorhaben nicht gewichen, weshalb es jetzt wohl doch an der Zeit war mit ihr über Watari sein Ausbleiben zu reden. L steckte seine linke Hand in die Hosentasche, hob seine rechte an und trat zur Seite. „Setz' dich doch.“, bot er ihr unmittelbar an. Es war beklemmend als Shaelyn sich auf das Sofa setzte. Vor allem da Rue direkt neben ihr platz nahm. Verwirrt blickte sie demnach kurz auf seinen Stammsessel. Warum setzte er sich jetzt neben sie? Mit einem unguten Gefühl nahm sie den Blick vom Sessel und stellte unmittelbar fest, dass sie beobachtet wurde. Sein starrer Blick registrierte jede ihrer Bewegungen. Schnell wich sie ihm aus. „Was gibt es?“, drang es an ihr rechtes Ohr. „Du weißt es doch schon längst.“, gab sie zögerlich von sich. Natürlich musste er es wissen. Er wusste immer alles. „Ja.“ Es war ein seltsam ruhiger Ton, der sie dazu brachte doch zu ihm zu schauen. Seine Augen waren klar, seine Regung unberührt. Was hatte das zu bedeuten? Seine Mimik war verändert. Es war kein üblicher regungsloser Ausdruck. Irgendetwas war daran anders. „Opa wird wohl eine lange Zeit nicht hier sein. Warum?“ Rue wendete seinen Blick ab und richtete ihn vor sich, während er nach etwas Süßem in einer Schüssel griff. War er ... nervös? Shaelyn war sich nicht sicher, allerdings war das immer ein Anzeichen, dass ihn etwas stark zum Nachdenken anregte. „Die Umstände sind kompliziert.“, führte er an, was sie schwach nicken ließ. Sie mussten kompliziert sein, wenn ihr Großvater für eine unbestimmte Zeit fort musste. Aber was genau war passiert? Was bedeutete das alles? „Was ist vorgefallen? Ist jemand zu Schaden gekommen?“ Rue wandte sich ihr zu und gleich musste sie schlucken. Diesmal konnte man eine Regung erkennen. „Du hast Recht. Es ist jemand zu Schaden gekommen und ich fürchte, das wird Konsequenzen haben.“ Ihr Herz setzte für einen Moment aus und sie senkte betroffen den Kopf. Hieße das, dass ihr Großvater in Schwierigkeiten steckte? Würde ihm etwas zustoßen?! Direkt sah sie wieder auf. „Opa wird doch nichts passieren, oder?“, fragte sie direkt besorgt. Ihm durfte nichts passieren! Er war doch ihre Familie. Alles was ihr geblieben war... L zögerte. Shaelyn hatte bereits feuchte Augen. Ihre Sorge war groß – doch war es nicht Watari, worum sie sich sorgen sollte. Der Vorfall in England stand mit ihm, L, in Verbindung – in jeder Hinsicht. In Zukunft hatte die Sicherheit Vorrang, da es ungeklärt war, welche Folgen es genau nach sich zog. Doch eines wusste L. Shaelyn war ein sehr interessantes Ziel, weshalb er sie um jeden Preis beschützen würde. „Nein, deinem Großvater wird nichts passieren.“, sagte L und legte sachte seine linke Hand auf ihren Kopf. Überrascht blinzelte Shaelyn ihre Tränen aus dem Augenwinkel. „Wirklich?“ „Ja.“, gab er ruhig von sich, woraufhin sie ihm ein Lächeln schenkte. Als er seine Hand von ihrem Kopf ziehen wollte, griff sie sanft danach. Für einen Moment blickte sie ihm stumm mit einem Lächeln entgegen. Ihre Hand war warm und weich. Kurz strich sie liebevoll mit ihrem Daumen über seinen Handrücken „Danke.“, sprach sie leise. Und da war es wieder. Sein Herz hatte begonnen wild zu klopfen. Nachdem L sich vergewissert hatte, dass Shaelyn schlief, gab er Watari das Zeichen sich umgehend zu melden. Es dauerte nicht lang und der Bildschirm seines Laptops verzeichnete einen Anruf. Schnell hockte sich L auf seinen Sessel und nahm den Anruf entgegen. „Wie ist die Lage?“, fragte der Detektiv umgehend, während er eine Hand zum Mund führte. „Leider muss ich Ihre Vermutung bestätigen.“ Direkt biss sich L auf seinen Daumen. Das waren äußerst schlechte Nachrichten. Angestrengt versuchte L seine Möglichkeiten einzuschätzen. „Da gibt es noch etwas.“, kam es unerwartet von Watari, sodass L verwundert aufsah. „Er hat eine direkte Nachricht hinterlassen. Ich schicke Ihnen das Bild.“ Eine direkte Nachricht... . Der Detektiv konnte sich bereits vorstellen, wie diese Nachricht gestrickt war. Er kannte diese Person nur zu gut. Kaum wenige Sekunden später traf das Bild ein, welches L sofort öffnete – Und es ließ keinen Zweifel. Die Herausforderung war an L selbst adressiert. L hatte einen Gegenspieler – jener ohne Skrupel sein Ziel verfolgte und versuchen würde jeder seiner Schwächen aufzudecken. Kapitel 35: Annäherung ---------------------- Shaelyn musste erneut feststellen, dass sich Kalifornien sehr von ihrer Heimat unterschied. Es war schon früh am Morgen ungewohnt heiß, weshalb sie es sich nicht nehmen ließ, wieder in ihren Bikini zu schlüpfen um sich abzukühlen. Auf ihrem Weg hielt sie nach Rue Ausschau. Doch traf sie ihn weder im Wohnzimmer noch im Garten unter dem Pavillon an. Allerdings war das nicht ungewöhnlich, denn das Haus war groß und sie wollte ihm nicht das Gefühl geben beobachtet zu werden. Oder noch besser verfolgt. Mit einem Lächeln setzte Shaelyn sich an den Poolrand und ließ ihre Füße ins kühle Nass. Sie war ab jetzt immerhin alleine mit ihm – fast wie ein richtiges Paar, was ihr ein seltsames Gefühl gab. Zwar war es schon vorgekommen, dass sie alleine waren, aber nicht über einen längeren Zeitraum. Wie lange ihr Großvater wirklich fort sein würde, war unklar. Und der Gedanke an ihn stimmte sie traurig. Die Sache machte ihr immer noch Sorgen, obwohl man versuchte sie zu beruhigen. Vielleicht gerade deshalb war ihr unwohl. Denn wenn sie eines wusste, dann, dass gerade bei Rue und ihrem Großvater Geheimhaltung an erster Stelle stand. Da machte ihr Großvater bei ihr keine Ausnahme. Aber sicherlich würde eines Tages der Moment der Wahrheit kommen – da war Shaelyn sich sicher. Aus sicherer Entfernung, etwas von Gardinen abgeschirmt, beobachtete L still Shaelyn vom oberen Stockwerk. Es gehörte bereits zu seinen täglichen Handlungen und er war unfähig es zu unterbinden. Nein, das war eine Lüge. Er hatte es nur aufgegeben. Eine Niederlage gegen sich selbst, welche er bitter ertrug. Selbst er wusste seine Grenzen nicht mehr einzuschätzen. Wozu er fähig war und wozu nicht. Natürlich nur auf ihre Person bezogen, dennoch erfuhr L damit eine harte Lektion. Ein wichtiger Teil seiner Selbst stützte sich auf die Logik. Und was war daraus die logische Konsequenz? Die Objektivität verschwamm mit jedem Tag mehr mit seinem aufkommenden starken Bedürfnis. Es war der Wunsch der anderen Art der Aufmerksamkeit, die er bisher nicht erfahren hatte und auch bisher völlig außer Frage stand. Nun stand er hier, beobachtete Shaelyn beim Schwimmen. Es waren gerade die Momente, in denen er von seiner beruflichen Tätigkeit eine verdiente Pause nahm. Der Detektiv senkte seinen Daumen vom Mund und wandte sich vom großen Fenster ab – jedoch nicht von dem, was ihn antrieb und tiefer in die Widersprüchlichkeit seines Bewusstseins riss. Ein Seufzer entspannte Shaelyn tiefer, als sie sich rücklings auf dem Wasser treiben ließ und die Augen schloss. Die Sonne war im Wasser angenehm warm und auch ihre Gedanken wurden wärmer. Eigentlich war es immer noch unglaublich, wenn man daran dachte, was alles passiert war. Mittlerweile war es mehr ein Traum. Nicht etwas, was wirklich vorgefallen war. Eine schöne Vorstellung von einem Leben, das sie jetzt nicht mehr führte. Es gehörte alles der Vergangenheit an. Etwas, das nie mehr wiederkommen würde. Wie ein Film, den man sich einmal ansah und irgendwann zurückdachte. Als hätte es ihre Familie nie wirklich gegeben. Shaelyn begann sich verloren zu fühlen, weshalb sie versuchte, an andere Dinge zu denken. Zum Beispiel an ihr jetziges Leben in Kalifornien. Das Leben mit ihrem Großvater und Rue. Wie oft hatte sie schon daran gedacht, dass sie weder ihren Großvater noch Rue jemals kennengelernt hätte, wäre nicht alles so gekommen, wie es gekommen war. Nun hier zu sein überstieg alle Vorstellungen, die sie für die Zukunft einmal gehabt hatte. Unweigerlich musste Shaelyn sachte lächeln. Ja, ihr Bruder wäre gern einmal in Kalifornien gewesen. Vor allem die große Villa mitten in den Hollywood Hills hätte ihm gefallen. Ihr Vater wäre jedoch lieber nach Japan gegangen und ihre Mutter bevorzugte England. Wenn sie jetzt genauer darüber nachdachte, dann waren sich trotzdem alle einig gewesen. Das Zuhause war dort, wo die Familie war. Ob in Japan, England oder sonst wo auf der Welt, weswegen Shaelyn weiterhin lächeln musste. Jetzt bestand ihre Familie aus ihrem Großvater und auch Rue. Demnach war es gleich wo sie sich befinden würde - ihr Zuhause befand sich dort, wo sie waren. Das Derzeitige war hier. Doch der Gedanke daran, was passieren würde, wenn sie alleine wäre, konnte sie nicht einmal zu Ende denken. Zwar war Shaelyn nicht unbedingt ein Mensch, der Viele um sich haben musste, jedoch brauchte sie vertraute Personen. Einen Verwandten. Das Gefühl von einem Heim. Wohin sie zurückkehren konnte, selbst wenn alles schief lief und ein warmes Lächeln sie empfangen würde. Shaelyn schüttelte ihren Kopf leicht, damit sie abermals aus ihren Gedanken flüchten konnte. Ihr Großvater würde immer Acht auf sie geben, das wusste sie. Allerdings holte sie das wieder ein, was sie vergangene Nacht schlecht schlafen ließ. Die Abreise ihres Großvaters, der scheinbar etwas sehr Dringliches erledigen musste. Vielleicht hatte sie einfach viel zu viel Angst und eigentlich war es nicht so schlimm, wie sie es sich ausmalte. Immerhin könnte es auch mit seiner Arbeit zusammenhängen. Ein Seufzen entfuhr ihr leise. Wann hatte sie aufgehört sorglos zu sein? All das, was seit dem Unfall ihrer Familie passiert war, ließ Angst immer mehr zu einem engen Begleiter werden. Der Blick nach Vorn war nicht immer so leicht, wie es den Anschein hatte. Mit solchen und ähnlichen Gedanken verließ Shaelyn den Pool. In ihrem Kopf drehte es sich immerzu um dieselben Themen, ganz egal wie sehr sie versuchte sie loszuwerden. Voller Sorge wusste sie nicht recht wohin damit. Vielleicht würde ein kleines Gespräch mit Rue gut tun. Eine Ablenkung, die sie immer bei ihm fand. Oder sie rief doch Emma an, sodass sie sich etwas Zeit für sie nahm. In jedem Fall schnappte Shaelyn sich das zuvor bereitgelegte Handtuch von einer Liege und trocknete sich etwas auf dem Weg zur Balkontür ab. Rue würde eventuell schon dort sitzen, seinen alltäglichen Dingen nachgehen, wie er es stets tat. Alles was sie gerade brauchte war jemand, der sie auf andere Gedanken brachte – und das konnte Rue immer sehr gut. Als sie durch die Balkontür ging, schaute sie als erstes auf den Sessel und fand ihr Ziel. Er saß in gewohnter Manier auf seinem Sessel, knabberte irgendetwas und ließ sich nicht von ihr stören, was ebenfalls vollkommen normal war. Für gewöhnlich schenkte er ihr erst Aufmerksamkeit, wenn er etwas von ihr wollte, oder sie sich aufdrängte. Demnach begann Shaelyn zu lächeln und tat das, was sie gern tat: Sich Rue aufdrängen – in gewissen Maßen, denn sonst fiel sie in alte Verhaltensmuster, die sie bemühte zu vermeiden. „Guten Morgen.“, sagte sie freundlich, während sie auf Rue zu kam und an der Couch halt machte. Kaum einen Augenblick später zeigte Rue die gewünschte Reaktion; Seine schwarzen Pupillen wanderten zu ihr. Bevor er etwas erwiderte, schluckte er etwas herunter und schloss seinen Laptop. „Guten Morgen, Shaelyn.“ Ein Moment verstrich und keiner sagte ein Wort. Unsicher biss sie sich leicht auf die Unterlippe, lächelte schief und legte das feuchte Handtuch über ihre Schultern. Daraufhin setzte sie sich unter seinem aufmerksamen Starren auf den freien Platz auf dem Sofa, welches sich neben seinem Sessel befand. Nervös erwiderte sie sein Stieren. „Ähm...“ Tja, wie sollte sie beginnen? Einfach sagen, dass sie noch immer große Bedenken hatte? Eine direkte Frage über ihren Großvater würde Rue sicherlich kurz und knapp abtun. Also einfach darauf los quatschen? Ihre Unsicherheit war mehr als deutlich, da sie anfing mit ihren Fingern in ihrem Schoß zu spielen. „Ja?“ Sein Starren wandelte sich in einen fragenden Gesichtsausdruck, was sie etwas aufatmen ließ. Immerhin bedeutete das, dass sie seine volle Aufmerksamkeit besaß. „Ich tja... fragte mich so, wie es Opa geht und was so passiert ist...“, machte sie doch ihren Gedanken Luft. Shaelyn konnte schwer darum herum reden. Demnach reichlich angespannt beobachtete sie seine Reaktion, jene unerwartet in Schweigen ausartete. Wollte er wenigstens nicht etwas dazu sagen? War das ein ungutes Zeichen? Rue legte letztlich seinen Daumen an den Mundwinkel und Shaelyn bekam den leeren Blick zu spüren, der sie schon oft gequält hatte. War das etwas Positives? In jedem Fall bedeutete es, dass er nachdenken musste. Wahrscheinlich würde er sie wieder im Ungewissen lassen. So wie er es immer tat. Shaelyn blickte betrübt zur Seite. Wahrscheinlicher war es, dass er sie wieder anlog, weshalb sie traurig seufzte. Es war deprimierend, dass sie es nicht wissen durfte. Es war ihr Großvater und sie wollte doch nur wissen wie es ihm ging. Ob eben alles gut verlief. War es denn so falsch, sich um seinen noch einzig verbliebenen Verwandten zu Sorgen? L wusste, dass es ihre reine Besorgnis war. Das konnte er schon in der vergangenen Nacht feststellen. Allerdings war es unmöglich, sie in den Stand der Dinge zu setzen. Ganz gleich wie sehr es sie kränkte. Ihm waren bedauerlicherweise die Hände in diesem Fall gebunden. „Deinem Großvater geht es gut.“, setzte er an und bemerkte sofort, dass ihr diese Information nicht reichte. Shaelyn wich noch immer seinem Blick aus. „Aber wie ich sehe, reicht das nicht aus.“, stellte er nüchtern fest. Shaelyn sah ihn nun von der Seite an, sodass ihr Blick es weiterhin stumm verriet. L überlegte für einen kurzen Moment. Es gab eine Möglichkeit sie zu beruhigen und gleichzeitig nicht Gefahr zu laufen etwas preiszugeben. Und schließlich war es auch in seinem Interesse, dass es ihr gut ging. „Einverstanden.“, besiegelte er somit seinen Gedanken. Bei diesem Wort hoben sich ihre Augenbrauen an und L griff an seine vordere Hosentasche, wo er sein Handy herauszog. „Du wirst jetzt deinen Großvater anrufen und dich nach seinem Befinden erkundigen.“ Es verging eine Sekunde, bevor sie wirklich den Satz verstanden hatte und dementsprechend Handlung zeigte. Ganz ungläubig beäugte sie ihn zunächst, ehe sie realisierte, dass es sein Ernst war. Es zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. „I-Ich darf wirklich?“ „Ja.“ „Und das ohne irgendwelchen Bedingungen?“, vergewisserte sie sich dann schließlich misstrauisch, woraufhin er den Kopf schief legte. „Wenn du nicht willst, dann stecke ich es wieder weg.“ Blitzschnell beugte sie sich vor und entriss ihm das Mobiltelefon aus den Fingern, womit er in diesem Moment gerechnet hatte. „Und wo muss ich da jetzt.... ?“, fragte sie verwirrt in den Raum hinein, während sie in seinem Handy nach der richtigen Nummer suchte. L besah die Szene entspannt, während er eine Süßigkeit aus der Schale vom Tisch nahm. Er hatte keine Bedenken was die Sicherheit anbelangte. Das Handy war ohnehin nur zur Kommunikation mit Watari gedacht. „Da ist überhaupt nichts. Keine eingespeicherten Nummern... und du hast auch nichts eingegeben.“, wunderte sie sich leise und suchte schließlich den Blickkontakt zu ihm. „Das ist richtig.“, bestätigte er die Tatsache, woraufhin sie die Lippen unzufrieden zusammen presste. „Ja, das sehe ich. Das war eigentlich eine Frage.“ „Dann solltest du sie auch so formulieren.“, meinte er ungeniert, was sie schwach seufzen ließ. „Okay, gut. Würdest du mir den Gefallen tun und die Nummer von meinem Großvater in dieses Handy hier, was ich in den Händen halte und dir dann geben werde, eingeben?“ Damit versuchte sie offenkundig alle noch weiteren Fragen restlos auszuräumen, was ihn amüsierte. L musste etwas schmunzeln, das sie kritisch betrachtete. „Ja.“ Ganz klar. Er hatte sie gereizt. „Na, Gott sei Dank. Ich dachte, ich habe noch ein wichtiges Detail ausgelassen.“, meinte sie daraufhin sarkastisch. L hob daraufhin seinen Zeigefinger und symbolisierte ihr somit, dass sie aufpassen sollte. An dieser Stelle formten sich ihre Augenlider zu einem Strich. „Du hast vergessen zu erwähnen, dass das Handy mir gehört. Das wäre ein wichtiges Detail.“ „... Gleich schmeiß ich dir dein Handy, an [d]deinen Kopf.“ „Das wäre unerfreulich.“, meinte er traurig. „Also... wärst du jetzt bitte so nett und machst das, wonach ich dich gefragt habe? Und wage dich zu fragen was.“ Faktisch war er dazu eingeladen, genau das zu fragen. Aber da sie gerade sehr ungehalten war, ließ es der Detektiv besser bleiben. Seiner Gesundheit zu liebe. „Natürlich.“ Worte, die sie als eine weitere Anstachlung sah. Und L igelte sich vorsichtshalber etwas ein als sie aufstand – gewappnet für eine Attacke. Allerdings anstatt ihn anzufallen, verließ sie samt Handy in der Hand das Wohnzimmer durch die Balkontür. L seufzte angestrengt. Jetzt musste er ihr folgen. Unter dem Pavillon fand er sie auf der großen Bank an den Büschen sitzend. Nachdem sie ihn sah, grummelte sie aufgebracht. „Jetzt verfolgst du mich auch noch? Lass' mich einfach einen Moment in Ruhe...“ Es war nicht seine Absicht gewesen sie derart in Rage zu bringen, dass sie die Flucht ergriff. Nun. Es war jedenfalls angenehmer, als dass sie ihn angefallen hätte, das musste L zugeben. Jedoch hörte er nicht auf ihre Worte und setzte sich still neben sie auf die Bank. Eine angenehme Brise wirbelte kurz die heiße Luft fort. Wenigstens saß er im Schatten. „... Warum musst du immer so ein Blödmann sein? … Ich hatte doch nur Sorge um Opa.“, sagte sie leise, was L dazu veranlasste, sie von der Seite anzusehen. Shaelyn hatte sich etwas beruhigt. „'Tschuldige.“ In Anbetracht seiner Entschuldigung, wandte sie sich ihm jetzt auch zu. Ihre grünen Augen suchten die Wahrheit in seinen Worten. „Aber“, begann er ruhig. „für einen Moment hast du deinen Kummer vergessen.“ Shaelyn öffnete voller Überraschung ihre Augen weiter. Wenn es L nicht besser wüsste, hatte er gerade die Situation gerettet. Langsam bekam er Übung in diesen Dingen. „... Ja... du hast recht.“, meinte sie verblüfft und begann ihn schwach anzulächeln. Ohne Worte zog er schließlich Shaelyn das Handy aus der Hand auf ihrem Schoß – mit Bedacht darauf sie nicht zu berühren. Als er die Nummer fertig eingegeben hatte, hielt er ihr das Mobiltelefon entgegen, welches sie sich umgehend ans Ohr hielt. L konnte jedoch nicht umhin die Möglichkeit zu nutzen, die sich ihm bot. Ungehemmt studierte er sie nah von der Seite – und ihm fiel auf, dass sie noch recht nass war, weshalb er damit anfing unwillkürlich noch genauer hinzusehen und auf seinem Daumennagel zu kauen begann, was für sie jedoch alles unbemerkt blieb, da sie darauf fixiert war zu telefonieren. Demnach verfolgte er mit großem Interesse jeden einzelnen Tropfen, der sich seinen Weg über ihren nackten Körper bahnte. Ihm gefiel der plötzliche Gedanke, jede Spur mit seinem Zeigefinger auf ihrer weichen Haut nachzuziehen - und die anschließende Vorstellung wie sehr es ihr gefallen könnte. Ob sie ... . L biss nun auf seinen ganzen Daumen und musste seinen Blick von ihr abwenden. Es war gefährlich was er tat. Jeglicher weiterer Gedanke sollte im Keim erstickt und nicht weiter fortgeführt werden. Allmählich war es ein großes Problem. Seine Selbstkontrolle wies immer mehr Risse auf. Je mehr er versuchte zu widerstehen, desto stärker wurde es – und es schien bislang kein Ende gefunden zu haben. Dem Meisterdetektiven musste dringend was einfallen. Angespannt lauschte sie dem Freizeichen des Handys. Ihr Herz raste förmlich vor Aufregung und es dauerte einige Sekunden bis sich etwas tat. Dann war die Stimme von ihrem Großvater zu hören. „Bitte?“ „Opa?! Ich bin`s, Shaelyn!“, meldete sie sich eifrig. Es tat unendlich gut seine Stimme zu hören. „Hallo, Shaelyn. Ist etwas vorgefallen?“ Auf seine Worte hin stutzte sie kurz. Ihr Großvater klang ernst. „Oh, nein... ich wollte nur hören wie es dir geht. Ich habe mir Sorgen gemacht...“, verriet sie ihm ehrlich. „Mir geht es gut. Mach dir keine Gedanken. Bald kehre ich wieder Heim.“ Sofort hellte sich ihre Mine wieder auf. Das waren tolle Nachrichten! Dann brauchte sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Allerdings hatte sie durchaus bemerkt, dass er sich zurücknahm und das Gespräch kurz halten wollte. Vielleicht hatte sie ihn bei der Arbeit gestört. „Wirklich? Das ist schön zu hören! Dann... lass ich dich wieder an deine Arbeit und wir sehen uns bald.“ „Vielen Dank. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“ „Dir auch noch einen schönen Tag.“, meinte sie mit einem Lächeln und legte mit einem guten Gefühl auf. Ihr war eine riesige Last von den Schultern gefallen. Auch wenn das Gespräch sehr kurz war und sie ihn wohl gestört hatte, es beruhigt sie enorm. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck wandte sie sich zur Seite und bemerkte, dass Rue sie mit großen Augen anstarrte. Kurz hielt sie inne und erwiderte seinen Blick. Wie lange tat er das schon? Und war die Distanz kleiner geworden? Sie berührte schon fast seine Schulter – das machte sie nervös. „... Danke, dass du mir dein Handy gegeben hast.“ „Bitte.“, war es bündig zu hören, was sie nur noch nervöser werden ließ. Irgendetwas hatte sich verändert, weshalb sie besser still blieb. Nach einer seltsamen Pause, unterbrach sie den Blickkontakt. Nicht, dass sie wieder eine Dummheit beging. Zu oft hatte er sie in den Bann gezogen. Besonders jetzt, da er so nah war und er sie mit großen Augen ansah. Shaelyn konnte nicht einschätzen was es für ein Blick war, aber ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Somit stand Shaelyn von der Bank auf und reichte das Handy Rue, wonach er seine Hand ausstreckte. Unerwartet berührte sanft ihre Finger, als er ihr das Handy diesmal aus dem Griff zog. Direkt bekam sie eine Gänsehaut, die sich über ihren ganzen Körper ausbreitete. Und ihr Herz schien sich gar nicht mehr zu beruhigen... Sie musste Abstand zu Rue gewinnen. Alles andere wäre gerade fatal. „Shaelyn.“, sprach sie Rue plötzlich an, weshalb sie irritiert blinzelte. „J-Ja?“ „Bleibe bitte still stehen.“, wies er sie ruhig an, was sie nicht recht verstand. Wieso sollte sie still stehen bleiben? Da erhob Rue sich von der Bank, steckte das Handy in die Tasche und schien ihren Kopf zu beäugen. „Ich fürchte, du hast da ein Insekt im Haar.“ Sofort riss sie ihre Augen auf und wirbelte hektisch herum. „Was?! Was ist es?! WO?!“, rief sie panisch. Ehe sie sich ins Haar fasste, um das Tier daraus zu streifen, fasste L nach ihren Handgelenken, um sie zum Stillhalten zu zwingen. So beugte er vor, dass es nicht eventuell ein Tier war, dass sie stach. „Mach es weg!“, rief sie verzweifelt und tippelte unruhig mit den Füßen auf dem Boden. Vorsichtig nahm er seine Hände von ihr und griff wieder nach seinem Handy, das er letztlich als eine Art Verlängerung nahm. Vorsichtig fischte er somit das Insekt aus ihrem Haar, das nun auf seinem Mobiltelefon lief. „Was... was ist das?“, fragte sie. Eine Frage, die ihn ebenfalls interessierte, weswegen er das Handy zwischen sich und Shaelyn hielt. Es stellte sich als ein schwarz gelber kleiner Käfer heraus. In genauerer Betrachtung erkannte er, dass es eher ein vollkommen harmloses Tier war. „... Ist das Vieh gefährlich?“ „Nein.“ „Sicher?“ „Ja.“ „Und was machen wir jetzt damit? Ich will das nicht anfassen...“ L sah darin allerdings kein Problem, weshalb er seine andere Hand dazu nahm und den Käfer auf seinen Zeigefinger lud. Shaelyn sog hörbar die Luft ein. „Keine Sorge, er ist ungefährlich.“, versicherte er noch einmal die Unschuld vom Käfer. Es musste ein verirrter Pflanzenkäfer sein, der von dem Busch hinter der Bank kam. „W-Wenn du das sagst. Ich kann solche Tiere aber nicht anfassen... egal wie klein und harmlos sie sind. Aber ich wusste gar nicht, dass du so unempfindlich bist.“ Angesichts dieser Frage warf er Shaelyn einen fragenden Blick zu, jene mit den Schultern zuckte. „Warum sollte mir ein so harmloses Tier Angst machen?“ „Keine Ahnung. Aber Käfer und so... eben. Dachte halt, du bist da empfindlicher.“ L verstand ihr Problem nicht. „Das sind auch nur Tiere, Shaelyn.“ „Hmm, ja, das ist mir klar. Trotzdem muss ich sie nicht gern haben. Jetzt setz den Käfer lieber ab.“ Bevor er etwas tun konnte, entschied sich das Insekt doch von selbst davon zu fliegen, was L kurz beobachtete. Shaelyn atmete erleichtert auf. Sie konnte diesen Tieren einfach nichts abgewinnen, ganz gleich wie harmlos sie waren. Hoffentlich waren nicht all zu viele in diesem Garten – oder eher waren dazu bereit sie anzufallen. Shaelyn versuchte den Vorfall zu verdrängen, was auch im nächsten Moment gelang, da Rue ihr wieder Aufmerksamkeit schenkte. Er sah sie neugierig an. … Was hatte das zu bedeuten? „Ist was?“, fragte sie verwundert. „Nein.“, kam es im Gegensatz zu seinem Gesichtsausdruck emotionslos. „Und warum guckst du dann so?“ „Nur so.“ Wieder einmal musste sie seufzen. Die Antwort kannte sie doch und sich darauf einzulassen, war sinnlos. „Okay, gut. … Ich geh jetzt wieder ins Wasser... willst du vielleicht mit?“ Prompt erhielt sie eine Resonanz. Rue wechselte seinen Ausdruck. Nichtssagend durchbohrte er sie mit seinem Blick. „Nein.“, war es resolut zu hören, was sie stutzig machte. Er lehnte es sofort ausdrücklich ab. Sollte sie enttäuscht sein, dass er nicht einmal mit ihr schwimmen gehen wollte? „Es ist doch total warm und du stehst hier die ganze Zeit im langen Shirt 'rum.“, versuchte sie ihn spontan mit einem Lächeln zu überzeugen. „Deshalb bevorzuge ich das klimatisierte Haus.“, gab er weiterhin unerschütterlich von sich, was Shaelyn allerdings nicht beeindruckte, denn sie hatte schon eine Idee. Sie wollte doch nur mal mit ihm im Pool schwimmen oder was spielen. „Ich habe dir einen Deal vorzuschlagen.“ „Kein Interesse.“, kam es unverzüglich von ihm, das sie schon beinahe erschreckte. „Was? Du willst nicht mal den Deal hören? Ist das so schrecklich mit mir im Wasser zu planschen? Ich würde so gerne mal Wasservolleyball ausprobieren. Opa hatte mir doch extra den Ball gegeben und ein Netz gibt es auch dazu.“ „Wie ich bereits sagte; Nein.“ „Alleine kann ich das aber nicht spielen... und du bist hier. Es ist doch ein heißer Tag und das Wasser angenehm kühl.“ Rue hob seinen Zeigefinger an. „Dann solltest du deine Busenfreundin kontaktieren und mit ihr im Wasser planschen.“, gab er monoton von sich und steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Ich werde jetzt wieder ins Haus gehen, denn wie du bereits angemerkt hast, ist es heiß.“ Bei so viel Ablehnung stand sie mehr als fassungslos dar. Wie konnte die Stimmung in so wenigen Sätzen nur so kippen? Hatte sie ihn mit dem Angebot beleidigt, oder weshalb reagierte er so heftig? Sie verstand es nicht und sah ratlos zu, wie er sich auf den Weg zurück machte. „Du bist so ein Langweiler!“, rief sie dann Rue hinterher, der sich daraufhin auch nicht umdrehte und im Haus verschwand. „Fein! Dann ruf ich halt meine Busenfreundin an und gehe mit ihr zum Strand!“ Warum war er nur so … abweisend? Irgendetwas stimmte nicht. Dabei hatte sie einen so guten Deal, den er eigentlich niemals ausgeschlagen hätte. Mit noch einem bösen Blick an Rue gerichtet, der sich bereits wieder auf seinen Sessel gesetzt hatte, ging sie durch das Wohnzimmer. Emma würde sicher mit ihr zum Strand gehen. „Emma?“ „Ah! Shae! Alles klar?“, meldete sich Emma am anderen Ende der Leitung. „Ja, alles klar. Steht die Einladung zum Strand noch?“, fragte Shaelyn, während sie sich auf ihr Bett setzte und ihre Füße am Boden betrachtete. „Ähm... schon ja.“ Verwirrt blickte Shaelyn auf, da die Stimme von Emma nicht überzeugt klang. „Heißt das nein?“, fragte sie traurig. „Ich wollte schon zum Strand. Mein Bruder trainiert heute mit seinen Freunden.“ Jetzt verstand Shaelyn warum Emma zögerte. Ihre Freundin wusste Joel war ein schwarzes Tuch für Rue. Anders herum galt das sicher auch. Wenn Rue davon erfuhr... „... Was? Echt? Was denn?“ „Surfen. Die Wellen sollen heute super sein.“ Plötzlich kicherte Emma leise und lockerte damit die Stimmung. „Verrate es keinem, aber da gibt es einen Freund, der sieht echt mega aus. Da komme ich beim Zuschauen immer ins Schwärmen.“, schwärmte Emma jetzt schon, sodass Shaelyn diesmal kichern musste. Es war lustig zu hören, wie ihre Freundin jemanden anhimmelte. Und warum sollte sie sich das nicht mitansehen. Rue und Joel hin oder her. „Kann ich dann nicht mitkommen?“ „Wenn du möchtest, sicher.“, meinte ihre Freundin, woraufhin Shaelyn lächeln musste. Für einen Moment dachte sie, dass Emma ablehnen würde, denn irgendwie hatte sie zögerlich geklungen. Plötzlich hörte sie eine Stimme im Hintergrund. Emma wurde angesprochen. „Ja, Joel. Shae. Sie will mit an den Strand.“, hörte Shaelyn mit an. „Nein, ich werde sie abholen. Geh' du besser schon zum Treffpunkt. … So, Sorry. Aber hast ja gehört. Mein Bruder ist wieder zu neugierig. Wann soll ich dich abholen kommen?“ „Jetzt?“ „Okay, bin auf dem Weg.“ Joel grinste über beide Ohren. Shaelyn würde mit an den Strand kommen. Vielleicht war das seine Chance. „Man sieht dir an, was du denkst...“, kommentierte seine Schwester skeptisch. „Und? Endlich wieder Zeit mit ihr verbringen. Ohne den Freak.“ „Sieh' dich vor. Du weißt ja, was letztes Mal passiert ist.“ Geschockt blickte er Emma an. „Kommt der Typ etwa mit?!“ „Um Himmels Willen, nein. Aber was ich damit sagen will: Lass deine Finger von ihr. Das meine ich ernst. Sie ist immer noch total in den Typen verliebt und wenn du sie verschreckst, hast nicht nur du ein Problem. Nachher lässt der komische Typ Shaelyn gar nicht mehr zu mir. Und er hat jetzt schon ein Auge auf dich geworfen. Der weiß, dass du in sie verliebt bist.“ Joel verschränkte seine Arme vor der Brust. „Ich mach das schon.“ Emma seufzte laut und holte aus ihrer Tasche die Autoschlüssel. So leicht würde man ihn nicht loswerden. Shaelyn schlüpfte nur schnell in ein leichtes Sommerkleid und behielt ihren Bikini darunter an. Sie freute sich auf den Strand. Außerdem interessierte das Surfen sie. Bisher hatte sie diesen Sport nur einmal im Fernsehen gesehen und das in Verbindung mit einem Haiangriff. Ob es hier in Los Angeles auch so war? Über Haie hatte sie sich bis eben gar keine Gedanken gemacht. Bestimmt war der Strand sicher. Oder? Shaelyn hoffte das Beste und packte in ihre Tasche ein großes Handtuch, ihre Sonnenbrille und Sonnencreme. Zur Not blieb sie auf ihrem Handtuch. Vor der Türe zog sie sich noch schnell die bequemen flachen Schuhe an, ehe sie ohne Bescheid zu sagen das Haus verließ. Es war ohnehin besser, wenn sie nichts zu Rue sagte. Nachher stritt sie sich noch mit ihm. Am Strand angekommen, sog Shaelyn erst einmal die salzige Luft auf. Sie wusste jetzt schon, dass es eine gute Entscheidung gewesen war herzukommen. Ganz egal, ob es Rue mit Joel passen würde. Und dennoch war das ein mulmiges Gefühl. Irgendwie konnte sie diesen Gedanken nicht abschütteln. Aber was konnte sie tun? Emma war ihre Freundin und Joel ihr Bruder. Er hatte ihr nie etwas getan. Im Gegenteil, er war immer sehr nett gewesen. Shaelyn biss sich angespannt auf die Unterlippe. Sie war hin und hergerissen – trotz dem vermeintlichen Neufang mit Rue. Immerhin bedeutete das noch lange nicht, dass es ihm gefallen würde, was sie gerade tat. „Was ist los? Du siehst unglücklich aus.“, bemerkte Emma, jene halt gemacht hatte, was Shaelyn ihr daraufhin gleich tat. Überrascht blickte sie ihrer Freundin entgegen. War es so offensichtlich gewesen? Und sollte sie es ihr erzählen? Die Schwarzhaarige begann schwach zu lächeln. Besser sie erzählte es nicht. Das war ein Problem zwischen ihr und Rue. Oder eher zwischen Rue und Joel. Ein Thema, das Shaelyn nicht gern mit Emma anschnitt. Ihr tat das mit dem Bruch immer noch sehr leid. „Ach, nichts. Nichts Wichtiges zumindest.“ „Sicher?“ Emma machte sich offensichtlich Sorgen. „Nein, alles gut. … Wo müssen wir denn jetzt hin?“ Ihre Freundin seufzte geschlagen, was Shaelyn versuchte mit einem Lächeln zu überspielen. Sie war einfach nicht gut im Lügen – oder Ausweichen. „Etwas weiter in diese Richtung.“, meinte die Brünette und deutete mit ihrem Zeigefinger den Strand herunter, was die Engländerin verfolgte. Und erst jetzt fiel ihr auf, dass der Strand voller Menschen war, weshalb sie verwirrt blinzelte. War sie so in Gedanken gewesen? Unerwartet wurde sie sachte bei der rechten Hand gefasst, sodass die Schwarzhaarige zurück zu Emma blickte. „Wenn du aber reden willst, bin ich immer da.“ Shaelyn lächelte nun offen. „Ja, das mach' ich.“ Nachdem sie ihr großes Handtuch auf dem Strand ausgebreitet hatte, setzte sie erst einmal die Sonnenbrille auf. Noch immer musste sie diese Brille tragen. Zumindest an so einem hellen Ort, an dem selbst der Sand blendete. Und wie Shaelyn feststellen musste, hatte Emma sie verlassen, was sie dazu nutzte und ihr Kleid auszog. Ohne ließ es sich in der Hitze besser aushalten. Kurz darauf kam Emma jedoch mit einem handlichen Sonnenschirm zurück, den sie in den Sand steckte. „Sonst verbrennen wir noch.“, lachte Emma an sie gewandt. „Vor allem du, Shae. Deine Haut sieht nicht so aus, als ob sie durchhält.“ Verwundert blickte Shae an sich herunter. Sie war im Vergleich zu ihrer Freundin schon sehr weiß, was sicherlich daran lag, dass sie nicht so oft vor die Türe ging. Plötzlich wurde sie von der Seite angestupst. „Soll ich dich eincremen?“, fragte die Brünette freundlich, worauf Shaelyn nickte und aus ihrer Tasche die Creme holte. „Hey! Da seid ihr ja!“, hörte Shaelyn rufen, als sie gerade Emma die Tube reichte. Joel kam auf sie zugelaufen und er trug genau das, was man von einem Surfer erwartete. Ein lockeres Shirt und eine kurze bunte Hose, die sich bereits als Badehose entpuppte. Allerdings hatte er gar kein Surfbrett dabei. Joel stellte sich zu ihnen und lächelte verschmitzt. „Hallo, Shae.“ „Hi.“, erwiderte sie lächelnd. Emma musterte ihren Bruder kritisch. „Wo sind deine Freunde?“ Der junge Mann deutete mit seinem Daumen über die Schulter an, dass sie nicht fern waren. Emma neigte sich direkt zur Seite und sah an ihrem Bruder vorbei. „Ach, ihr wollt euch eincremen? Kann man helfen?“ Sofort erntete er von seiner Schwester einen Todesblick, jener schon fast Shaelyn Angst machte. „Nein. Das machen wir fein selbst. Nicht, Shae?“ Sie nickte daraufhin heftig, was Joel enttäuscht zur Kenntnis nahm. Alleine bei der Vorstellung, dass er sie eincremte, konnte sie schon Rue sein Gesicht sehen. Das wäre eine Katastrophe. Außerdem dürfte es ohnehin nur Rue tun und kein anderer Mann. Jetzt nahm die Fantasie ihren Lauf. Wie es wohl wäre, wenn er sie mit der Creme einrieb? Shaelyn musste errötet zu Boden schauen. Gefallen würde es ihr ... sehr. „Shaelyn?“ Prompt blickte sie auf, geradewegs in das fragende Gesicht von Emma. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“ „...Nirgendwo.“, sagte sie verlegen. Dann war ein tiefes Seufzen zu hören. „Alles klar, Mädels. Ich lade mal hier mein Shirt ab. Bis gleich.“ Joel verließ die beiden jungen Frauen und trat zu seinen Freunden, die unweit entfernt standen. Jäh öffnete Emma die Tube mit der Sonnencreme. „Ich bin zwar nicht dein komischer Typ, aber meine Künste zum Einreiben müssen reichen.“, meinte jene mit einem breiten Grinsen, was Shaelyn umgehend schockte. Waren ihre Gedanken so offensichtlich gewesen?! „Jaja, ich weiß, dass du an ihn gedacht hast. Das hat man dir angesehen.“ Verschämt setzte Shaelyn sich daraufhin still auf ihr Handtuch und Emma begann sie am Rücken einzureiben. „Das muss dir nicht peinlich sein.“ „...D-Doch.“ Ihre Wangen glühten. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Ständig ertappte Emma sie dabei, wie sie an Rue dachte. Und dann noch bei solchen Dingen. „Glaub mir, das ist total normal und echt harmlos. … Zumindest solange es sich am Strand unter Leuten abspielt. Zu Zweit kann das schon mal mehr werden.“ Gleich brannten ihre Wangen noch mehr. Was sagte Emma denn da?! „Emma... das kannst du doch nicht sagen.“ Ihre Freundin begann zu lachen. „Du bist so unschuldig. Glaub mir... ich kenne Mädchen, die haben sich schon anders ihren Schwärmen genähert. Und du wirst rot, wenn du daran denkst, dass dein Ritter dich mit Sonnencreme einreibt.“ Entrüstet wandte sie sich mit dem Oberkörper um und blickte ihrer Freundin ins Gesicht. Emma hob entschuldigend ihre Hände. Shaelyn mochte es nicht, wenn sie Rue so nannte. Aber warum musste Emma immer wieder mit ihr darüber reden? Sie schämte sich nicht dafür, dass sie bereits 18 und noch nie weiter als Küssen gekommen war. Aber alleine die Vorstellung Rue so nah zu sein. Das war ein Traum. Etwas, wovon sie noch gar nicht träumen dürfte. Jede Berührung von ihm war etwas Unvergleichbares. Da war die Vorstellung von einem harmlosen Einreiben eben sehr besonders. Jede andere Frau sah das als normal an. Nur sie konnte das nicht. Rue war … einzigartig. Nachdem schon eine Weile Ruhe eingekehrt worden war und beide junge Frauen auf ihren Handtüchern lagen, entschied sich Shaelyn dazu sich aufzurichten. Die Menschenmenge nahm eher zu, als dass sie sich verringerte. Jung und Alt erfreute sich an dem guten Wetter und auch an den Wellen, die auf den Strand niedergingen. Leider konnte Shaelyn nicht genau sagen, wer nun die Surfer auf den Wellen waren, aber es sah beeindruckend aus. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb Emma nur auf ihrem Handtuch lag. Ihren Schwarm konnte man so nicht ausmachen. Da fiel ihr das mit den Haien wieder ein. „Sag mal, Emma.“ „... Hm?“, kam es entspannt von der Amerikanerin, welche ungerührt liegen blieb. „Gibt es hier Haie?“ „Ja, die gibt es hier. Aber dafür gibt es Patrouillen. Die kontrollieren immer, ob Gefahr besteht. Hier passieren nur selten Angriffe.“ Entsetzt starrte Shaelyn auf den Ozean. Das war furchtbar! „In Australien ist es schlimmer. Aber da gibt es auch genug andere gefährliche Tiere. … Warum fragst du? Willst du ins Wasser?“ Emma richtete sich neben ihr auf und blickte sie von der Seite an. „... Ne, gerade nicht. Danke...“ „Du müsstest mal dein Gesicht sehen!“, lachte die Brünette, was die Sache auch nicht besser machte. „Ich werde mal auf die Toilette gehen...“, meinte Shaelyn und stand nun komplett auf. „Okay, du weißt wo die sind?“ „Ja, da hinten an der Bar ist ein Häuschen, oder?“ „Genau.“ „Hm... dann kauf ich mir da auch gleich was Kaltes zu trinken. Willst du was haben?“, fragte Shaelyn freundlich nach, das sehr gut bei ihrer Freundin ankam. „Ohja! Eine Limo wäre genau das richtige.“ Shaelyn zog sich das lockere Kleid über, warf sich ihre Tasche mit dem Geldbeutel darin über die Schulter und machte sich auf den Weg. Als sie von der Toilette kam, ging sie direkt auf die Strandbar zu. Eine kleine Schlange hatte sich gebildet, wo Shaelyn sich auch gleich anstellte. „Hey, Shae.“ Direkt wandte sie sich um und erkannte Joel, der sich zu ihr in die Schlange stellte. Er war noch komplett nass. „Auch Durst, was?“, begann er mit einem Lächeln und wich kurz ihrem Blick aus, das sie stutzig machte. „Ja. Es ist wirklich heiß und was Kaltes zu trinken kann Wunder wirken.“, stimmte sie in den Smalltalk ein. Irgendwie hatte sie ein seltsames Gefühl bei dem Gespräch. Joel benahm sich gerade komisch. Ob sie es ansprechen sollte? „... Willst du nicht auch mal das Surfen probieren?“, kam auf einmal die Frage von Joel, welche die kurze Stille zwischen ihnen brach. Skeptisch hob Shaelyn eine Augenbraue. „Nein, lieber nicht. Hast du keine Angst vor den Haien?“ „Nö.“, meinte Joel noch gelassen, ehe sie Beide an der Reihe waren. Shaelyn packte auch gleich die kalte Flasche für Emma in ihre Tasche, während sie die Andere direkt öffnete. Joel tat es ihr gleich. „Willst du dich nicht einen Moment setzen?“, fragte er freundlich und deutete auf einen freien Tisch. Shaelyn nickte und setzte sich neben ihm an den Tisch. Nachdenklich nahm sie einen Schluck von ihrem Getränk. „Ich wollte mit dir über etwas reden, Shaelyn.“, kam es jäh von Joel, das sie überrascht aufblicken ließ. Schon lange wurde sie nicht mehr von ihm bei ihrem vollen Vornamen angesprochen. Ihr Gefühl schien recht zu behalten. „Was ist denn los?“, fragte sie demnach neugierig. Joel jedoch begann verkrampft leise zu lachen, was Shaelyn nur verwirrte. Schließlich wich er erneut ihrem Blick aus. „Weißt du... ich habe oft an diesen Moment gedacht und mich gefragt, wann der richtige Zeitpunkt ist. Aber... irgendwie gibt es dafür keinen Richtigen. Und bevor ich noch verrückt werde, sag ich es lieber jetzt kurz und knapp... aber das habe ich jetzt schon vermasselt, oder?“ Aufmerksam verfolgte sie seine nervösen Worte. Ihr Bauchgefühl wurde mulmiger. Das klang seltsamerweise nach einem Geständnis. Nein... Joel konnte doch nicht? Mit einem mal sah er auf, direkt in ihre Augen. „Ich liebe dich, Shaelyn.“ Es waren jene drei Worte, die einfach alles veränderten. Doch stammten sie nicht von Rue, sondern von Joel. Ihr stand der Mund offen. … Hatte sie eben richtig gehört? Joel war in sie verliebt? Es schockte sie. Was sollte sie jetzt sagen? … Ihr Kopf war leergefegt. „Ja... ich weiß. Du stehst auf den Freak und das kann ich überhaupt nicht verstehen. Aber sollte dein Herz irgendwann frei sein, dann bin ich da. … Mensch, das klingt total kitschig.“ Shaelyn wollte etwas dazu sagen, aber sie konnte nicht. Sie hätte nie damit gerechnet. Plötzlich tat er ihr leid. Joel hatte recht damit. Sie erwiderte seine Liebe nicht. Traurigerweise saßen sie somit im selben Boot. Sie konnte verstehen wie er sich fühlte. „... Ich geh besser. Deine Antwort kenne ich schon.“ Joel machte sich daran aufzustehen, was sie ruckartig auch tat. „I-I-Ich … Es tut mir leid.“ Joel lächelte sie schwach an. „Du kannst nichts dafür, Shae. Keiner.“ Seine traurigen Worte berührten sie und sie war nicht im Stande ihm irgendwie helfen zu können. „Eins noch.“, hörte sie ihn vor sich sagen – bevor er sich zu ihr hinunter beugte und seine Lippen flüchtig auf ihre rechte Wange legte. „Sieh das als Versprechen.“ Dann ging er und sie fasste sich vor lauter Schock an die Wange. Hatte er sie gerade wirklich geküsst? Gerade nahm L einen Schluck von seinem Zuckerkaffee, als ihn ein sehr ungutes Gefühl beschlich. Doch so plötzlich es gekommen war, verschwand es wieder. Dennoch nachdenklich setzte er die Tasse ab und starrte vor sich auf den Laptop. Etwas stimmte nicht. Kapitel 36: Never Give Up ------------------------- Shaelyn setzte sich still auf ihr Bett. Der Raum schien vollkommen leer zu sein, ebenso wie ihr Kopf. Die Stille blieb, selbst bis in die tiefe Nacht. Die ersten roten Strahlen drangen durch die großen Fenster und kündigten damit einen neuen Tag an. Auf dem Bett, in einem Gewühl aus Decken und Kissen, lag Shaelyn mit offenen Augen, zusammengerollt und in Gedanken. Viel Schlaf hatte sie nicht gehabt. Quälte sie nur eine Frage: Warum? Ihre Liebe zu Rue schien hoffnungslos zu sein, warum also konnte sie nicht aufhören ihn zu lieben? Joel hatte ihr gestern seine Liebe gestanden und alles was sie tun konnte, war nichts. Absolut rein gar nichts. Wusste sie ganz genau wie er sich fühlte. Wie gern würde sie ihm helfen können. Doch wie sollte sie ihm helfen können, wenn nicht einmal sie selbst ein Heilmittel gefunden hatte. Liebe sollte etwas Schönes sein. Allerdings erfuhr sie nur das Gegenteil. Wie lange wartete sie darauf, dass Rue ein Anzeichen zeigte? Wie lange war sie schon in ihn verliebt? Warum hörte es nicht auf? Langsam war es an der Zeit... Erschöpft setzte sie sich auf und versuchte sich die Müdigkeit aus den Augen zu wischen, strich sich jedoch nur die getrockneten Tränen fort. Hatte das Weinen je ein Ende? Mit wenig Motivation und Lust bereitete sie sich in der Küche ihr Frühstück zu und setzte sich anschließend an den Tresen. Wenn sie gerade nicht mit Gähnen beschäftigt war, biss sie auch von ihrer Scheibe Toast ab. Heute war definitiv einer der Tage, die schnell vorbei gehen sollten. Am besten vergaß sie gleich den ganzen gestrigen Tag. Jetzt musste sie sich nicht nur Gedanken um Rue machen, sondern auch um Joel, dem sie sicher nicht immer aus dem Weg gehen konnte. Wusste Emma davon? Das musste sie, waren sie immerhin eng miteinander verbunden und Geschwister. „Guten Morgen, Shaelyn“, riss sie eine sehr bekannte dunkle Stimme aus den Gedanken. Erschrocken holte sie Luft und verschluckte sich prompt. Hustend wandte sie sich zu ihrer Linken um und blickte in ein dunkles Augenpaar, jenes sie beinahe durchbohrte. „M-Morgen“, brachte sie knapp hervor, nachdem sie sich beruhigt hatte. Rue war nicht unbedingt die Person, die sie jetzt treffen wollte und dennoch machte ihr Herz einen Sprung voller Freude. „Du warst gestern lange weg“ Unmissverständlich brachte er mit einem begleitenden Ton zum Ausdruck, dass er es eigenartig und unerfreulich fand. Schwer stieß Shaelyn die Luft aus, während sie ihre Toastscheibe weglegte. „Ja“, meinte sie knapp und hielt seinem Starren stand. Natürlich wollte er wissen wieso sie später als gewöhnlich kam. Das war der Grund, wieso sie sonst äußerst pünktlich war. Rue verhörte sie gerne, was ihr wiederum selbstverständlich nicht gefiel. Wer wollte schon gern immer Rechenschaft ablegen? Rue zeigte Regung, indem er eine Augenbraue anhob und seinen Daumen zum Mund führte. Eine typische Geste, wenn sie seine Aufmerksamkeit hatte. Was erwartete er nun? Sollte sie ihm von dem Geständnis erzählen? Würde das vielleicht irgendetwas in ihm regen? Sicherlich, denn leiden konnte Rue Joel nicht. Das war mehr als offensichtlich. Shaelyn stützte ihren rechten Arm auf dem Tresen ab und legte ihre Wange in die Handoberfläche. Ihr seitlicher Blick wurde ernster. „Ich war mit Emma am Strand“, führte sie an, während sie Rue beobachtete. Bisher zeigte er keine Reaktion. „Dort haben wir Joel getroffen“, setzte sie fort und schon war ein Zucken in einer seiner Augenbrauen erkennbar. „Er hat mit seinen Freunden dort gesurft. Das sah wirklich gut aus, weswegen wir den Jungs eine Weile zugesehen haben“, endete sie vorerst und wartete auf weitere Regungen – und wenn sie sich nicht täuschte, wurde sein Blick durchdringender. Ein Knacken war zu vernehmen, das offensichtlich von seinem Daumennagel stammen musste. „Ich verstehe“, gab er knapp von sich und war dabei sich abzuwenden. So schnell war er zufrieden? Irgendetwas war anders. Bis ihr auffiel wie angespannt er wirkte. War er wütend? Unzufrieden? Vielleicht beides, weil Shaelyn Joel aus dem Weg gehen sollte, ihm jedoch weiterhin begegnete. Shaelyn sah ihm nach. „So schnell gehst du? Willst du nicht mehr hören?“ Umgehend stoppte Rue, wandte sich jedoch nicht um. Sie blickte auf seinen gebeugten Rücken. „Was gibt es noch?“ Seine dunkle Stimme klang tiefer als sie es sonst tat, was Shaelyn verwundert blinzeln ließ. War es wirklich eine gute Idee ihm alles zu erzählen? Im Moment wusste sie es nicht, doch hatte sie es allmählich satt. All die Warterei für nichts. Aus irgendeinem Grund machte es sie selbst wütend. Stets war sie bemüht gewesen ihm alles recht zu machen. Sich von ihrer besten Seite zu zeigen – doch heute Nacht wurde ihr klar, dass es nicht nur Rue gab. Joel war in sie verliebt. Vielleicht war das genau die Bestätigung, die sie gebraucht hat, um zu verstehen, dass es eventuell Zeit wäre Rue zu vergessen, der sie gar nicht liebte. Ja, vielleicht gerade so mochte. „Joel hat mir gesagt, dass er mich liebt.“ Ein Satz, der absolute Stille hinter sich zog. Auch nach wenigen Sekunden, folgte nichts. Shaelyn starrte nur auf seinen Rücken, wartend auf eine Regung. Nach gefühlten Stunden, hob Rue seinen Kopf etwas an. „Was hast du geantwortet?“, fragte er leiser als sonst. Verwundert über diese Frage öffnete sie etwas ihren Mund. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. „Ich... ähm...“ Verwirrt zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Sie hatte Joel keine Antwort gegeben. „Nichts.“ Wie konnte jemand wie L das beschreiben, was er im Moment fühlte? Tief in seiner Brust zog es ihn zusammen. Ihre Antwort auf das Geständnis des Amerikaners war nicht die, welche er sich insgeheim erhofft hatte. Shaelyn hatte Joel keine Abfuhr erteilt. War der Moment gekommen, jener er tatsächlich gefürchtet hatte? Irgendwann musste es passieren. Allerdings war seine Vorstellung weit weniger schmerzhaft gewesen. Wie sollte er nun reagieren? L war unvorbereitet auf diese Lage. Je mehr er versuchte es sich nicht ansehen zu lassen, desto mehr drängte sich ein Gedanke in den Vordergrund: Würde sie ihm dieselbe Antwort geben? Das Rascheln ihres Kleides wurde von der Frage in seinem Kopf übertönt. Geradezu brannte es ihm auf der Zunge einmal in seinem Leben wirklich eine Antwort zu geben, die von ihm selbst kam. Dem Ich, das er weggeschlossen hatte. Er durfte nicht vergessen wer er war und was er verkörperte. „Rue … ?“ Erst als Shaelyn in sein Sichtfeld trat, realisierte er ihre Anwesenheit. Mit großen, weit geöffneten Augen blickte er ihr entgegen. Es raubte ihr den Atem. Noch nie konnte sie so offen seine Emotionen lesen. Seine dunklen Augen reflektierten wie ein See bei Nacht; klar, pechschwarz und tief. Darin lag unverkennbar Traurigkeit und Unsicherheit. Was sollte sie nun sagen? Beinahe fürchtete sie ihr Herz sprang aus ihrer Brust, so hart hämmerte es gegen ihre Rippen. Warum blickte er sie so an? Shaelyn verstand nicht warum er so traurig aussah. Was für einen Grund hätte er? Sollte er nicht eher sauer sein? Irgendetwas gemeines sagen? Oder überhaupt ein Wort? Sollte sie …? Sein Blick hielt sie weiterhin im Bann gefangen, was ihr endgültig alle Gedanken nahm. Wie in Trance hob sie langsam ihre rechte Hand an und streckte sie nach ihm aus. Sie wollte fühlen ob es real war. War es real? Kapitel 37: Standpunkt ---------------------- Erschrocken sog sie die Luft ein als Rue ihr Handgelenk ergriff und somit den Moment unterbrach. Mit einem Mal wechselte sein Ausdruck in den Augen zu jenem, den er sonst trug – Ein starrer Blick, der sie regelrecht durchbohrte. Dieser Moment schien ewig zu dauern. Rein gar nichts geschah in diesen Sekunden und mit jeder weiteren klopfte ihr Herz heftiger. Sein dunkles Augenpaar war auf ihres fixiert, fast so als würde er versuchen ihre Gedanken zu lesen. Meist gelang es ihm, doch in diesem Fall besaß sie keinen einzigen, den er hätte lesen können. Alles woran sie dachte, waren seine wachen Augen, in welche sie unentwegt blickte. Ein angenehmer Schauder überwältigte sie. Lag noch etwas Anderes in diesem intensiven Blick? Sie konnte es nicht sagen. Rue war noch immer undurchschaubar. Rue lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk, sein Ausdruck jedoch verhärtete sich. „Gibt es sonst noch Etwas, das ich wissen sollte?“, verließ es in einer ungewohnten tiefen Tonlage seine Lippen, was sie die Luft anhalten ließ. Sonst noch etwas? Plötzlich fiel ihr der Kuss von Joel ein, woraufhin sich ihre Augen weiteten. Schrecken erfüllte ihr Gesicht, das Rue offenbar nicht entging. Seine wachsamen großen Augen spiegelten umgehend Skepsis wider. Shaelyn wusste nicht warum, aber Panik machte sich breit. Warum hatte sie Rue nur davon erzählen wollen?! Natürlich wusste sie weshalb! Sie hatte ihn eifersüchtig machen wollen! „I-Ich... E-Er.“, begann sie unter seinem gnadenlosen Blick zu stammeln. „Er?“, folgte es sofort dunkel. Was hatte sie getan? Rue schien wie ausgewechselt! Wie aus einem Instinkt heraus versuchte sie sich sofort aus seinem Griff zu befreien, woran sie scheiterte, da er sie nun sogar an der anderen Hand ebenfalls packte, mit der sie versucht hatte sich zu lösen. „Rue! Was...“ Sie konnte ihren Satz nicht beenden – Rue trat näher und sie aus einem Impuls zurück. Dies geschah in einem Wimpernschlag, sodass sie jäh etwas Hartes und Unnachgiebiges an ihrem Rücken spürte. Mit einem ängstlichen Blick sah sie kurz über ihre Schulter; Sie war gegen das große Fenster in der Küche gedrückt. Jegliche Möglichkeit zu fliehen war ihr genommen. Entsetzt starrte sie nun in das Gesicht vor ihr, welches vom Licht hinter ihr noch deutlicher zu erkennen war. Es lag etwas Seltsames in seinem Blick. Was hatte er vor? Shaelyn traute sich nicht etwas zu sagen. Er würde ihr doch sicher nichts tun? Warum war er nur so eigenartig? War er so wütend auf sie? So hatte sie ihn noch nie erlebt. „Ich höre.“, forderte er sie auf. L konnte seinem Verdacht nicht standhalten. Mehr war vorgefallen und er musste wissen was es war. Allein der Gedanke, dass der Amerikaner Shaelyn angefasst haben könnte, brachte ihn um den Verstand. Dieses starke Gefühl fraß ihn innerlich auf. Niemand außer er selbst durfte sie berühren. L war nicht mehr länger im Stande diese Gefühle zu unterdrücken. Es war als brach es über ihn hinein. Verzweiflung und auch Sehnsucht. Es gab nichts, was er mehr wollte. Diese Erkenntnis traf ihn abermals hart. Wer war er? Jetzt war er nicht mehr der Detektiv, der er sein sollte. „E-Er hat mich geküsst. Okay?!“, durchbrach es die Stille und in L riss etwas auf. Erschrocken öffnete er einen Spalt seinen Mund, während er direkt versuchte in ihren grünen Augen eine Lüge zu lesen - doch er fand nur die Wahrheit. Shaelyn wich kurz darauf seinem Blick beschämt aus. Geküsst? L fiel das Luftholen schwer. Seine Brust zog sich vor Schmerzen zusammen. Sein anfänglicher Verdacht hatte sich bestätigt. Jemand anderes war Shaelyn nahe gekommen. Zu nah. „Wo?“, wollte er umgehend wissen, weshalb sie ihm einen ungläubigen Seitenblick zuwarf, ehe sie ihm wieder offen entgegen blickte. „A-Auf die rechte Wange?“ Sein Griff um ihre Handgelenke lockerte sich und löste sich schließlich ganz auf, sodass sie ihre Hände langsam sinken ließ. Jedoch stand Rue ihr noch immer so nah gegenüber, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spürte. Es bereitete ihr Gänsehaut. Nervös begann sie an dem Saum ihres Kleides zu zupfen. Sein Blick war intensiver denn je. Hatte er etwas vor? Er sah aus als dachte er nach. Gespannt wartete sie darauf, was als nächstes geschah – und sie hielt ihren Atem an. Sein warmer Atem wurde deutlicher, seine wilden Haare begannen sie an der Stirn zu kitzeln. Dann fühlte sie wie er zart seine Lippen auf ihre rechte Wange drückte. Beinahe wäre sie unter ihren zittrigen Beinen zusammengebrochen. Ein Schwarm Schmetterlinge brach los und direkt sog Shaelyn all die Luft um sich herum auf, drohend gleich zu ersticken. Ihre Beine gaben schließlich leicht nach, sodass sie sich stärker an das Fenster hinter ihr lehnte. Dieser Wangenkuss war unvergleichlich und dennoch nicht genug. Erfasst von der vollen Wucht der Gefühle, gab Shaelyn nach, legte ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn eng zu sich. Fast zeitgleich schien es, dass er ebenso ihren Mund suchte, wie sie seinen. Stürmisch erwiderte er den Kuss, der sich schnell vertiefte. Nichts war süßer als ihr Mund. An keinem Ort dieser Welt wollte er mehr sein, weshalb er sie fest in seine Arme schloss und sie niemals loslassen wollte. Genau das war es, was er wollte. Der Mann, der er im Inneren war. L war hilflos verloren. Shaelyn gehörte ihm allein. Verzweifelt seufzte sie auf als er sich von ihrem Mund löste, doch entfuhr ihr ein leises Stöhnen als er kaum wenige Sekunden später seine Lippen an ihrem Hals setzte. Überrascht zog sie feste an seinem Shirt, an dem sie Halt suchte. Ihr ganzer Körper fühlte sich heiß an. Und es wurde nur schlimmer als sie seine Zunge spürte, welche eine feuchte Spur zu ihrem Ohr zog. Aufgeregt und zitternd seufzte sie bei jedem weiteren Zentimeter mehr. Doch dann stoppte er an ihrem Ohr, was sie beinahe ohnmächtig werden ließ. Er sollte nicht aufhören... Vollkommen benebelt nahm sie nur seinen schweren Atem an ihrem Ohr wahr. „Das sollte ausreichen“, drang seine tiefe, dunkle Stimme zu ihr vor. Kaum bei Sinnen schlug sie ihre Augen langsam auf. Was ausreichen? Rue nahm leichten Abstand zu ihr, ließ sie im gleichen Moment los, das sie ihm zögerlich gleichtat.Völlig neben der Spur blickte sie ihm ins Gesicht. Ihr Herz hämmerte noch immer hart gegen ihre Brust. Das eben war tatsächlich passiert? Sein Ausdruck verriet es nicht. „Ausreichen?“, fragte sie sichtlich atemlos. Sie verstand absolut nichts. Als Rue seinen Mund öffnete, durchbrach ein Klingeln alles Folgende. Er schien ebenso überrascht wie sie, ehe er wenige Augenblicke später in seine Hosentasche griff und sein Handy hervorholte. Rue wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und nahm das Gespräch entgegen. „Ja?“ Er ließ Shaelyn in der Küche zurück. Perplex blieb Shaelyn auf der Stelle stehen. Sie hatte noch immer den Geschmack von purem Zucker in ihrem Mund... Rue hatte sie geküsst. Und wie er das getan hatte. Dieser Kuss war mit keinem vorher zu vergleichen. Noch immer zittrig fasste sie an die Stelle an ihrem Hals. Wieso hatte er nur aufgehört? Sie war sich sicher – In diesem Moment hätte er alles mit ihr anstellen können. Fast wäre Shaelyn eingeknickt - Ihre Beine fühlten sich wie Pudding an. Unschlüssig ob das alles wirklich passiert war, kehrte Shaelyn in ihr Zimmer zurück. Natürlich war das alles vorgefallen, aber es fühlte sich unwirklich an. Und die Frage Warum drehte sich wie ein Karussell in ihrem Kopf, weshalb ihr ganz schwindlig wurde und sie sich auf ihr Bett setzte. Warum hatte er sie geküsst? Warum hatte er ihr so etwas Seltsames ins Ohr geflüstert? Und was er mit ihrem Hals getan hatte... Eine Gänsehaut ergriff sie, als sie nur daran zurückdachte. Das hatte er wirklich noch nie getan. Wie es sich dann erst anfühlte, wenn er sie woanders so berührte? Mit einem hochroten Kopf kniff sie ihre Augen zusammen. Was dachte sie denn da?! Es war doch viel wichtiger zu wissen, warum er das getan hatte! Er war erst so wütend gewesen, oder doch traurig? War es beides? Ein Gedanke brannte sich tief ein... War er doch eifersüchtig? Wollte er Joel mit diesem Kuss übertreffen? Würde das Sinn ergeben? Frustriert stieß sie die Luft aus. Das konnte und wollte sie alles so nicht stehen lassen. Immerhin hatte er sie geküsst – nicht andersherum. Ja, Rue hatte sie geküsst. Warum küsste man jemanden? Und auch so leidenschaftlich. Dafür gab es doch nur einen Grund! Rue konnte es nicht mehr darauf schieben, dass er einfach nur ein Mann war. Nicht nachdem was alles passiert war. Ohnehin war er doch derjenige, der rational war. Jemand, der über alles nachdachte. Egal was er tat, es war geplant. Es passte nicht zusammen, dass er sich nun so verhalten hatte. Ganz besonders nicht nachdem er so geschockt schien was mit Joel vorgefallen war. Shaelyn wollte eine Antwort darauf. Zum Teufel damit ob sie ihn dabei bedrängte. Shaelyn musste es wissen. Rue hatte es doch erst verschuldet. Dann musste er auch mit Fragen rechnen. Selbst nachdem sie das Haus zwei mal abgesucht hatte, war Rue nicht aufzufinden. Entweder sie hatte ein sehr schlechtes Timing, oder er war einfach weg. Ob er ihr auswich? Oder war das Telefonat so wichtig gewesen? Mit einem müden Gähnen drehte sie den Wasserhahn am Waschbecken auf. Rue war tatsächlich wie vom Erdboden verschluckt. Egal wie oft sie noch im Laufe des Tages nach ihm suchte, er war verschwunden. Das konnte eigentlich nicht sein. Er war immer im Haus. Oder? Zumindest konnte sie sich nicht an das Gegenteil erinnern. Zumal ihr Großvater nicht da war. Wer sollte Rue also schon wo hin fahren? Shaelyn gab es für heute auf. Es war immerhin schon spät am Abend und er würde nicht für immer unauffindbar sein. Kurz blickte sie den Spiegel vor sich. Ja, sie sah tatsächlich sehr müde aus. Als sie sich abwenden wollte, stoppte sie jedoch. Da war doch... Direkt blickte sie nochmals in den Spiegel vor sich. Entsetzt holte sie laut Luft und fasste sich unmittelbar an den Hals. Da war ein riesiger, großer, roter Fleck! Wo kam … Inmitten des Gedankens hielt sie inne. Rue! An der Stelle hatte er... Ja, genau dort. Plötzlich schoss ihr der Satz wieder durch den Kopf: Das sollte ausreichen. Hatte er das damit gemeint? Er hat ihr ein Knutschfleck verpasst?! Warum hatte er das getan? Fast war es so, als hätte er sie damit gemarkt. Halt. War das vielleicht wirklich so? Dieser Knutschfleck war einfach nicht zu übersehen. Sollte das Joel sehen, damit er auf Abstand ginge?! Sozusagen erhielt Joel so eine deutliche Antwort, die sie nicht gegeben hatte? Und war der ganze Kuss nur ein Ablenkungsmanöver?! Großer Gott! Rue war so ein großes Schwein! Wütend stampfte Shaelyn aus ihrem Bad, durch ihr Zimmer in den Flur. „RUE!!“, schrie sie aus aller Kraft. „WENN ICH DICH FINDE, BRINGE ICH DICH UM!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)