All the Wrong Reasons von Xynn (... are they the Right Decisions?) ================================================================================ Kapitel 26: Regen ----------------- Wie sollte Shaelyn jemals Rue verstehen können? Es war der dritte Tag des neuen Jahres und Shaelyn lag grübelnd in ihrem Bett. War das Licht durch die großen Vorhänge in ihrem Zimmer gedämmt. Normalerweise wäre sie längst aufgestanden. Zeigte der Wecker fast Mittagszeit, war ihr jedoch mehr nach einem Tag im Bett als nach einem schönen Tag in der warmen Sonne. Es war diese seltsame Stimmung, die sie seit Silvester befiel. All die Fragen, die ihr Kopfschmerzen bereiteten. Vor allem der Kuss zuletzt brachte ihre ohnehin schon wirre Gefühlswelt noch weiter durcheinander. Selbstverständlich wusste sie, dass Rue es getan hatte, weil sie ihn wieder dazu angestiftet hatte. Und sicherlich musste es ihm wieder gefallen haben... Aber sie konnte so schwer akzeptieren, dass sonst kein weiteres Gefühl dahinter steckte. Und küsste man jemanden, den man nur mochte, so oft? Die Engländerin seufzte schwer und zog die Decke enger an sich. Die Gedanken erdrückten sie fast und es war, als gäbe es auf der Welt kein anderes Thema als ihren Liebeskummer. Konnte man das so nennen? Zweifellos war sie unglücklich, vor allem da sie seit dem Ende der Party kaum mehr Kontakt zu Rue hatte. Das klang verrückt. Er wohnte mit ihr in einem Haus! … Aber in einem so großen und jedes Mal, wenn sie das Wohnzimmer betreten hatte, war keine Spur von ihm. Lediglich ein zwei Mal in der Küche war er zu sehen gewesen – dann, wenn er mal kühles Süßes aus dem Kühlschrank holte. Und seit gestern Abend fragte sie sich wirklich, ob Rue ihr aus dem Weg ging. Hatte sie ihn denn so dermaßen verschreckt? Sie war deprimiert. Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufschauen, sodass sie die Tür direkt gegenüber von ihrem Bett betrachtete. Es war bestimmt ihr Großvater, der schon am Morgen versuchte sie aus den Federn zu holen. Gespannt achtete sie darauf was sich tat. Die Türe schwang auf und es war tatsächlich das Gesicht ihres Großvaters zu sehen – Shaelyn hatte wirklich für einen Moment darauf gehofft, dass es Rue wäre. Ihr Großvater schenkte ihr ein mildes Lächeln während er eintrat. „Möchtest du noch immer nicht aufstehen?“, war es gleich zu hören, woraufhin Shaelyn sachte mit dem Kopf schüttelte. Watari kam näher und setzte sich auf den gepolsterten Stuhl neben dem Bett. Er nutzte die Gelegenheit und zog zu seiner Seite den Vorhang beiseite. Nun sah es so aus, als erstrahlte ihr Großvater im Licht. „Lastet etwas auf deinem Herzen?“, fragte er nun vorsichtig und sie wich seinem sanften Blick aus. Selbstverständlich wusste er, dass sie etwas belastete. Er hatte sofort verstanden, dass sie etwas bedrückte. Dennoch fragte er sie zunächst. „Ich verstehe Rue nicht.“, nuschelte sie zurück. „Er macht Dinge, die ich so verwirrend finde. Mal ist er so, dann ist er so.“ „Niemand ist in der Lage Ryuzaki zu verstehen. Selbst dein Großvater nicht.“ Sofort blickte Shaelyn den alten Mann an, jener lächelte. „Er macht, was er für richtig hält.“ „Verstehe ich nicht. Wie kann das richtig sein, was er tut? Wenn er all das bewusst macht...“ Wie konnte er sie bewusst so behandeln? Das würde nur bedeuten, er wäre doch ein kaltherziger Mensch. Dass er mit ihr umging, wie er es lustig fand. Shaelyn wollte nicht daran glauben. Lieber versuchte sie daran zu glauben, dass er doch mehr für sie empfand als er zugab – denn so war der Gedanke nicht zu schmerzlich für sie. Der alte Herr wusste nicht, was genau geschehen war. Denn auch L war seit der Rückkehr der Feier etwas verändert. Jedoch schwieg der Detektiv zu den Ereignissen. Der junge Mann versuchte es mit sich selbst auszumachen, auch wenn Watari ihm Hilfe anbot. „Manchmal ist das Richtige nicht gleich das Gute.“, antwortete er nach einer kleinen Pause, die auch Shaelyn zum Nachdenken genutzt hatte. „Aber warum …“ Ruhe legte sich auf die betrübte Stimmung. Ehe der alte Herr sich dazu entschloss Shaelyn von etwas ganz Besonderem zu erzählen. „Ich möchte dir eine alte Geschichte erzählen, Shaelyn.“, begann er gefasst, sodass seine Enkelin gleich aufmerksam blickte. „Es geht um Bethany, deine Großmutter.“, führte Watari ruhig fort und gleich war Shaelyn völlig überrascht. „O-Oma?“ „Sie war eine wundervolle Frau. Ich traf sie im Frühling 1954 in einem Londoner Teegeschäft.“ Diese längst vergangene Erinnerung war lange verborgen. Ein Schmuckstück seines Lebens. Es war an der Zeit seiner Enkelin diese Geschichte anzuvertrauen, die er sonst mit niemanden geteilt hatte. „Mit meinen jungen 19 Jahren war ich in diesem Geschäft eine gewöhnliche Aushilfe. Dazu ein junger Bursche mit kaum Mitteln. Zu jener Zeit zählte dies als untere Schicht der Gesellschaft. Die Aufteilung zwischen wohlhabenden und armen war ein großer Spalt. Größer als es heute der Fall ist. Es ist nun wichtig, dass du dir das vor Augen führst, Shaelyn. Denn deine Großmutter, die liebevolle Bethany, war eine Frau vom gehobenen Stand. Dies erkannte ich sofort als sie damals das Geschäft betrat und auch, dass sie Unterschlupf vor dem starken Regen suchte.“ Es lag ein so unbeschreiblich schönes Lächeln auf den Lippen ihres Großvaters, dass Shaelyn automatisch mit ihm lächeln musste. Und natürlich lauschte sie gebannt seinen Worten. War es doch die Geschichte ihrer Großmutter, die sie kaum gekannt hatte. Schon als sie ganz klein war, wurde ihr ihre Großmutter genommen. Doch nach den Erzählungen ihrer Mutter, war sie eine sehr liebe und herzensgute Frau. Doch nie hatte sie die Geschichte von dem Kennenlernen ihrer Großmutter und ihrem Großvater gehört. Nein, wenn sie recht daran dachte und sich jetzt erinnerte, konnte ihre Mutter ihr nie eine Antwort auf die Frage nach ihrem Großvater geben. Ohnehin hatte Oma nie einen Mann an ihrer Seite gehabt. Warum? Ob Großvater das jetzt alles erzählte? „Als sich schließlich die Blätter färbten und von den Bäumen fielen, besuchte sie schon oft das Geschäft in dem ich noch immer eine kleine Aushilfe war. Ich wagte es nicht auszusprechen, doch wusste ich, dass Bethany auch Gefallen an mir gefunden haben musste. War sie doch ausschließlich zugegen, wenn ich meine Arbeit antrat. So wurde mehr aus dieser befangenen Verbindung. Denn eines Tages sprach ich mir Mut zu und lud mit meinem spärlichen Gehalt Bethany zum Essen ein. Dies war ein törichtes Handeln, doch war es von Erfolg gekrönt. Sie stimmte mit ihrem bezaubernden Lächeln zu.“ Shaelyn setzte sich auf und lächelte begeistert. „Also warst du eigentlich ganz schüchtern?“ „Zurückhaltend. In jener Zeit war der Umgang pfleglich. Einer Lady zeigte man Respekt. Und besonders einer Lady, die nicht zu erreichen schien. Sie war aus gutem Hause, gebildet und schicklich. Mein Ursprung war hingegen beschmutzt und von der unteren Gesellschaft.“ Überrascht zog Shaelyn beide Brauen an. Konnte das der Grund dafür sein, dass ihr Großvater nicht mit ihrer Großmutter zusammen war? Praktisch gar nichts von Watari zuvor wusste? „Wie ging es weiter?“, fragte Shaelyn vorsichtig, schon ahnend, dass es nicht so glücklich weitergehen musste. „Es dauerte nicht lang und ihre Zuneigung war offenkundig. Wir erfreuten uns daran. Es war eine wunderschöne Zeit. Dennoch verboten. Niemand sollte davon erfahren. Eine öffentliche Bekundung war unmöglich. Wir beide wussten es und trotz dessen war es die schönste Zeit meines Lebens. Das Glück währte kaum mehr als ein paar wenige Monate. Ich sah sie zuletzt eines Abends, denn am nächsten Tag wartete ich vergebens am Treffpunkt.“ Shaelyn versuchte ihre Tränen zu unterdrücken und schniefte ein paar mal. „Du hast sie nicht einmal mehr gesehen?“ „Nein. All meine Versuche sie noch einmal zu erblicken scheiterten.“ „M-Moment. Heißt das nicht, dass Oma schwanger war? … Die Familie hat sie einfach weggesperrt und dir nicht einmal Kontakt zum eigenen Kind gewehrt? Wie krank ist das denn...“ „Bis ich von dir erfuhr, wusste ich nicht, dass Bethany ein Kind erwartete. Das was deine Großmutter tat, hatte die Familie sehr entsetzt. Es war zu jener Zeit verpönt von einem Mann schwanger zu sein, der nicht ihr Ehegatte ist. Noch dazu von einem Mann, der nicht aus einem guten Kreis stammt.“ „Das ist doch einfach nur verrückt. Wenn man sich liebt, dann liebt man sich.“ „Nein, Shaelyn. Damals galt dies nicht.“ „Hast du denn Oma je aufgegeben?“ „Niemals. Ich arbeitete mehr und begann viel zu lernen. Meine Absicht war es ein besseres Einkommen und mehr Bildung vorzuweisen. So lange, bis ich Bethany für mich beanspruchen konnte. Als mir schließlich eine gute Erfindung gelang und begann viel Geld zu verdienen, hörte ich, dass sie längst einem anderen Mann anverheiratet wurde.“ „Das... ist so grausam und traurig, Opa.“, schluchzte Shaelyn beklemmt und wischte sich die Tränen weg. Und trotz der traurigen Erzählung lächelte ihr Großvater schwach. „Es war eine sehr schöne Zeit, die ich mit Bethany teilte. Sei nicht traurig darüber, Shaelyn. Und vielleicht verstehst du jetzt ein wenig mehr, das Richtige zu tun, auch wenn es nicht gut ist.“ „H-Heißt das, ich soll nicht aufgeben und für mich das Richtige tun?“ „Jeder geht es mit seinen ganz persönlichen Gründen an. Ganz gleich ob sie falsch oder richtig sind.“ Wie genau sollte sie das verstehen? War alles was ihr Großvater ihr erzählte auch vielleicht auf sie bezogen? Aber das er es nun erzählte, musste sicherlich einen Grund haben. Schließlich hatte er vorher nicht ein Wort darüber verloren. Jedenfalls war es eine sehr traurige Geschichte und sie hätte nicht vermutet, dass das alles dahinter steckte. Wer dachte schon an so etwas? Und war die Zeit wirklich so schlimm gewesen? „Du, Opa.“, begann sie behutsam und spielte an dem Saum der Bettdecke. „Das ist wirklich schlimm was passiert ist. Und ich wusste das ja nicht. Meine Mutter sagte mir das nie… Aber warum genau hast du das zu mir gesagt? Ich meine, ich verstehe schon, was du mir ungefähr sagen willst. Das eben jeder seine Gründe hat, aber deine Geschichte bezieht sich doch auch auf zwei Liebende...“ „Ja, du hast Recht.“, pflichtete ihr Großvater ihr bei, was sie bedrückt den Blick senken ließ. „Jedoch, Shaelyn. Deine Geschichte noch nicht zu Ende.“ Es war mehr als ein Hauch von Hoffnung, der Shaelyn ein unsägliches Glücksgefühl bescherte und völlig überrascht aufblicken ließ. Wenn ihr Großvater das eben gesagte ernst meinte, dann hielt er es doch für möglich, dass aus ihr und Rue mehr werden könnte. Sie konnte also noch etwas bewirken. Bewirken, dass aus ihnen auch eine Liebesgeschichte wurde. Allerdings mit einem ganz anderen Ende – einem hoffentlich guten. Shaelyn begann breit zu lächeln. Natürlich einem guten Ende! Oder eher Anfang. Wie das wohl aussehen würde, wenn Rue und sie ein Liebespaar wären? Öfter fragte sie sich das, aber es waren nur Fantasien – aber gerade in diesem Moment schien es ein Stückchen näher zu sein. Es war ein überwältigendes Gefühl. „Danke, Opa.“ Was sollte sie auch weiter dazu sagen? Er verstand sie, gab ihr mehr Hoffnung. „Möchtest du nun etwas zu dir nehmen?“, fragte er sie dann, woraufhin sie ein paar mal blinzelte. Wenn sie es recht überlegte; warum nicht. „Ja, gern.“ „Dann werde ich jetzt das Essen vorbereiten.“ Shaelyn nickte schnell, während ihr Großvater sich erhob. Somit sah sie mit an, wie er den Raum verließ – ohne ein weiteres Wort. Und was hätte er schon großartig sagen sollen? Alles was er bisher gesagt hatte, reichte völlig aus. Shaelyn fühlte sich bestärkt – und sie wollte endlich Rue wiedersehen! Mit vollem Elan schwang Shaelyn sich aus dem riesigen Bett, ehe sie zum begehbaren Kleiderschrank lief und ein paar Sachen heraussuchte. Es wäre doch gelacht, wenn sie Rue in diesem großen Haus nicht finden würde! Irgendwo auf dem Anwesen musste er ja sein – dazu nicht fern von seinem Laptop. Die Engländerin hielt kurz inne. Ja, aber was sagte sie denn dann zu Rue, wenn sie ihn gefunden hatte? War das nicht egal? Hauptsache sie würde ein paar Worte mit ihm wechseln. Waren diese drei Tage eine Ewigkeit ohne ihn. Ordentlich angezogen und mit guter Laune, verließ sie ihr Zimmer. Wo sollte sie mit ihrer Suche beginnen? Shaelyn hielt es für das Beste zunächst im Wohnzimmer nachzusehen – wenn sie nicht schon direkt auf dem Gang stoppte und jenen jungen Mann sah, der ihr Herz gleich höher schlagen ließ. Rue. Er verließ ebenfalls sein Zimmer weiter auf dem Flur entlang. Unwillkürlich musste sie lächeln. Das Suchen ging einfacher als gedacht. Mit jenem Lächeln auf den Lippen, setzte sie sich wieder in Bewegung. Rue hatte sie noch nicht bemerkt, sondern war damit beschäftigt die Türe zu schließen. Wäre da nicht ein lautes Knarren, was sie letztlich verriet. Umgehend wandte Rue sich ihr zu – bedachte sie mit seinem unbeirrbaren Blick, der ihr gleich Gänsehaut bescherte. Für einen Moment vergaß sie, was sie eigentlich sagen wollte. Hatte sie eigentlich etwas, was sie sagen wollte? Shaelyn kam die letzten Schritte auf ihn zu und räusperte sich. „Hey, da bist du ja.“, begrüßte sie ihn dann mild. „Was gibt’s?“, fragte er direkt ungerührt, woraufhin Shaelyn leise seufzte, dann doch begann liebevoll zu lächeln. „Nichts. Ich wollte dich sehen.“ Was sollte sie auch anderes sagen? Es war die Wahrheit. Es war wirklich das, was sie wollte. Ihn sehen. Rue schwieg zu ihrem Gesagtem. Irgendwie hatte sie jetzt den Eindruck, er dachte nach. Sie lächelte vorsichtig. „Irgendwie warst du die letzten drei Tage so schwer zu erwischen...“ „Durchaus möglich.“, gab er prompt zurück, das sie still zur Seite blicken ließ. Irgendwie war es gerade schwer mit ihm zu reden. Sie hatte doch nichts Falsches gesagt? „Weißt du... -“ „Es gibt da etwas, was einer Unterhaltung bedarf.“, schnitt er nüchtern dazwischen, woraufhin Shaelyn irritiert aufsah. Sein Ausdruck war wie bisher ohne Emotion, was sie innerlich etwas zurückschrecken ließ. Hieß das nun gutes oder schlechtes? „Setzen wir uns an diesem Tag in den Garten. Ich werde Watari in Kenntnis setzen.“ Rue wandte sich um, steckte die Hände in die Hosentaschen und schritt einfach voran. Unsicher blickte die Schwarzhaarige ihm nach. Rue hatte ihr aufgetragen sich schon einmal in den Garten unter dem Pavillon zu setzen und war anschließend zu ihrem Großvater gegangen. Sie tat, was ihr gesagt wurde – und es war auch angenehm. Es wehte lau der warme Wind, die Palmenblätter raschelten und Shaelyn saß auf dem dunklen hölzernen Stuhl im Schatten. Die Vögel stimmten fröhliche Lieder und sie seufzte. Bisher hatte sie diese Ecke des Gartens nicht betreten. Ohnehin gab es noch viel zu sehen auf diesem Anwesen, aber sie hätte diese kleine Nische schon eher besuchen sollen. Es war ein Stückchen Paradies, welches natürlich mit vielen Blumen bepflanzt war. Somit lauschte sie dem Wind, atmete die frische Luft und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch vor sich ab. Ruhe und Entspannung fand man hier wirklich. Allerdings nagte der Gedanke daran was folgen würde. Was gab es wichtiges zu besprechen? Ob es etwas mit der Silvesterparty zu tun hatte? Bestimmt. Wieso musste es so ernst klingen? Es wäre hier so ein schöner Ort für romantische Träume... „Bist du nicht der Meinung, du hast genug geschlafen?“, war die dunkle Stimme von Rue zu hören, was sie mit dem Kopf hochfahren ließ. Während sie ihre Gedanken sammelte, beobachtete sie, wie er sich auf den Stuhl ihr gegenüber setzte. Schließlich legte er seinen Daumen an die Unterlippe. „Ist doch egal. Noch habe ich Ferien. Die Schule geht erst nächste Woche los …“, meinte Shaelyn als sie sich richtig hinsetzte. Ehe sie überrascht eine Augenbraue hob. „Woher willst du das überhaupt wissen?“ „Dein Großvater.“ „Opa? Wieso sollte er das einfach so sagen?“ Meinte sie das nur, oder blitzten seine Augen gerade interessiert auf? „Er macht sich Sorgen.“, antwortete er ruhig, sodass Shaelyn seufzte. Sie wollte sich jetzt nicht in solche Diskussionen mit ihm stürzen. Wollte sie doch mehr wissen, was es so unbedingt zu bereden galt. Auch wenn es sie neugierig gemacht hatte, woher er das genau wusste. Ihr Großvater war keine Plaudertasche. Ja, sie hatte dazu gelernt. „Schon gut. Ich möchte eher wissen, was du unbedingt besprechen willst.“ „Oh, ja. Richtig.“ Ungläubig beäugte sie seine überraschte Haltung, dann jedoch neugierig was er hinten an seiner Hosentasche machte. Ein Schriftstück kam zum Vorschein, welches er auf den Tisch legte. Davon abgesehen, wie schlecht es zusammen gefaltet war, wollte sie schon danach greifen, ehe seine Hand die ihre ergriff. Gleich blickte sie in seine dunklen großen Augen. Doch kein Wort verließ seinen Mund. Er starrte sie an – und doch hatte sie das Gefühl er sagte ihr damit etwas. Nervös erwiderte sie den Blick, wagte es kaum den Blickkontakt abreißen zu lassen. Unschlüssig öffnete sie ihre Lippen, erschrak jedoch als sie eine Stimme von der Seite wahrnahm. „Hier, etwas Tee.“ Ihr Großvater war hinzugetreten, mit einem Tablett in den Händen. Sofort spürte sie, wie die Wärme von ihrer Hand schwand. Rue hatte die seine zurückgezogen. Das tat Shaelyn dann ebenfalls, woraufhin Watari das Tablett abstellte und die Tassen samt Untersetzer abstellte. Eine seltsame Stille lag in der Luft – und das sachte Lächeln ihres Großvaters irritierte sie. Es war, als würde er versuchen sie damit aufzuheitern. Irgendwas ging vor sich. Schließlich, nachdem Watari das Tablett mit sich nahm und sie wieder allein waren, öffnete sie ihren Mund: „Was ist denn los?“ Sie fühlte sich beklemmt. Es war wie eine böse Vorahnung. Allerdings schenkte Rue sich zunächst Tee ein, was sie weiter auf die Folter spannte. Einen Streit anzufangen war jetzt sicher nicht das Richtige. Ein wenig Geduld und sie würde schon hören worum es ging. Aber was ließ er sich so Zeit?! Denn befüllte er kurz darauf die Tasse mit mehr Zucker als allem anderem, was er genau beobachtete. „Du bist nun Volljährig, Shaelyn.“, kam es dann unerwartet von Rue, woraufhin sie hellhörig wurde. „Ja...“ „Dann ist es jetzt an der Zeit dir etwas zu sagen.“ Machte er das mit Absicht? Wieso sprach er um den heißen Brei? Shaelyn war furchtbar gespannt – er dagegen schien gelassen. Er rührte mit Ruhe den Tee, ehe er aufsah und sie dann mit einem stechenden Blick anstarrte. Unbewusst setzte ihr Atem aus. „Möchtest du nicht auch etwas Tee?“ Verstört blinzelte sie. Eindeutig hatte Shaelyn etwas anderes erwartet. „Nein... Ich möchte wissen, was das hier soll.“ Ihr wurde letztlich ein prüfender Blick unterzogen. „Einverstanden.“ Es kam ihr daraufhin wie eine Ewigkeit vor, bevor Rue erneut zum Sprechen ansetze. Sein Blick war geradezu … nichtssagend. „Es geht um den Nachlass deiner Familie.“ Mit einem Schlag waren ihre gesamten Gedanken ausgelöscht. Und auch alles andere war ausgeblendet. „Du hast geerbt, Shaelyn.“ L gab ihr einen Moment zum Nachdenken. Denn offenkundig war sie gerade geistig nicht anwesend. Er wollte so fair sein und ihr die entsprechende Zeit geben. Es war nach wie vor kein einfaches Thema für sie. Somit nahm er einen Schluck von seinem Zuckertee und beobachtete bedachtsam Shaelyns Regung. Ihr Blick war leer. Ihre Gesichtsfarbe war blass. Und ihr Mund öffnete sich, was L direkt interessiert studierte. „W-Was?“ „Deine Volljährigkeit befähigt dich nun über das Erbe zu verfügen. Daher wird es Zeit mit dir darüber zu entscheiden was du damit anstellen willst.“ Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und stützte sich mit den Ellbogen vom Tisch ab. „... Aber es ist doch alles abgebrannt. Restlos...“, flüsterte sie fassungslos und stierte auf den Tisch. Und es war ihr ohne Zweifel anzusehen: Das verheerende Ereignis wiederholte sich vor ihrem inneren Auge. L hatte diese Angelegenheit bisher nach Möglichkeit vermieden. War es natürlich noch immer schockierend. Wahrscheinlich würde Shaelyn niemals wirklich darüber hinweg kommen. „Ja, was das Haus deiner Eltern betrifft. Allerdings ...“ L brach eine Pause an, die Shaelyn schleichend wahrnahm. „Nicht das Anwesen deiner Großeltern; das deinem Vater gehörte.“ Ihre grünen Iriden suchten Blickkontakt. Nahm sie gleich die Hände vom Kopf. Nun blickte sie ihn überrascht an. „D-Das verstehe ich nicht... Papa hatte nie etwas davon gesagt...“ Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, sodass selbst L kurz verblüfft war. „H-Halt! Ich weiß noch, wie traurig mein Papa gewesen war, als Opa und Oma gestorben sind! Dann hatten sich meine Eltern unterhalten... im Schlafzimmer und die Türe war angelehnt. Da war die Sprache von irgendwas gewesen, was es noch in Japan gäbe... Da war ich aber noch so klein.“ Sie biss sich nervös auf der Unterlippe herum. Anscheinend wühlte sie angestrengt in ihren Erinnerungen. „Warst du einmal dort?“, fragte er als aufmerksamer Zuhörer. „Nein... Ich habe sie nie gesehen. Aber sie schickten mir immer zum Geburtstag etwas. Einmal war es eine kleine Puppe. In so einem traditionellen Kimono. Mein Papa sagte, die Puppe wäre sicher sehr teuer gewesen. Und er sagte mir immer, dass er mich unbedingt nach Japan bringen und mich Opa und Oma vorstellen würde. Er wäre so stolz auf sein kleines Mädchen...“ Shaelyn wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. L konnte ihren Schmerz verstehen, den sie unweigerlich fühlen musste. „M-Mein Bruder würde er natürlich auch mitnehmen, nur er war irgendwie nie so begeistert. Er wollte lieber in England bleiben. Und deswegen sind wir nicht gefahren. Mein Papa sagte, wenn Ryu alt genug wäre, dass er eine Weile alleine sein kann, würde er mit mir nach Japan. Meine Mama war genauso gespannt. Sie sagte auch, dass Oma und Opa sehr sehr nett wären und sehr traditionell leben würden. Dann hatten sie wohl natürlich auch ein Haus... Warum ist mein Vater dann nach der Beerdigung nicht nochmal nach Japan gegangen? Wenn ihm doch das Haus gehörte... Denkst du, er konnte es nicht ertragen dorthin zurückzukehren?“ „Sehr wahrscheinlich, Shaelyn. Aus diesem Grund wird er das Haus auch verschwiegen und nicht verkauft haben.“, sagte er ruhig zu dieser betrüblichen Geschichte. „Aber... das ist doch so schade... also dass Papa es nicht wieder besucht hat. Auch wenn er so einen kleinen Schrein im Wohnzimmer aufgestellt hat und immer dort für ihre Seelen gebetet hat.... W-Wo steht denn das Haus?“ L nahm das Schriftstück zwischen die Finger und hielt es Shaelyn entgegen, welche das Papier still an sich nahm. Konzentriert faltete sie es auf und begann es zu lesen. In der Zwischenzeit nahm L weitere Schlücke von der Tasse, welcher er dann wieder auf den Untersetzer stellte. „... Was steht da?“, meldete sich plötzlich Shaelyn zu Wort, die ihm unmittelbar das Papier vorhielt und mit dem Zeigefinger auf eine Passage deutete. Japanische Schriftzeichen waren für sie ein Rätsel. „Towada. Das liegt in der Tōhoku Region. Der nördliche Teil Japans.“ „Aha...“ Sie zog das Schriftstück zurück und besah es sich erneut. „Hier steht, dass es 1994 auf meinem Vater überschrieben wurde. Da war ich gerade mal acht Jahre alt. So lang ist das schon her...“ „Was willst du nun mit dem Grundstück anstellen?“, brachte L es wieder auf den Punkt, um diese Unterhaltung abzuschließen. Nicht, dass ihm nichts an ihrer Vergangenheit liegen würde. Shaelyn war einfach noch nicht in der Lage über ihre Familie zu sprechen. „Tja, ich weiß nicht... Das kostet doch Geld das Haus instand zu halten, oder nicht? Außerdem ist es solange her. Wenn da keiner solange gewohnt hat, muss es doch in keinem guten Zustand sein... ?“ „Das heißt es nicht zwangsläufig, Shaelyn.“ Jene Angesprochene legte das Papier auf den Tisch. Sie hing ihren Gedanken nach. „Watari hat die bisher entstandenen Kosten für dich übernommen.“, gab er ihr preis, woraufhin sie entsetzt die Augen weitete. „Was?“ „Da deine Mündigkeit erst seit kurzem in Kraft getreten ist, hat er sich um die Angelegenheit gekümmert. Es bleibt deine Entscheidung, was du jetzt damit machen willst. Solltest du dich dafür entscheiden es zu behalten, wäre ein Gespräch mit deinem Großvater notwendig. In dem Fall, du willst es verkaufen, werde ich es in die Wege leiten. Das Geld wirst du selbstverständlich erhalten.“ Zu viele Informationen auf einmal! Shaelyn fasste sich an den Kopf. Als ob sie nicht schon genug Chaos zu bewältigen hatte. Was sollte sie mit dem Haus machen? Es stand so weit weg. In einem Land, das sie nicht wirklich kannte – geschweige denn besucht hatte. Dennoch. Es einfach zu verkaufen wäre nicht richtig. Darin war ihr Vater aufgewachsen, lebten ihre Großeltern ihr Leben lang. Jetzt war es an ihr darüber zu verfügen. Die Engländerin brauchte einen klaren Kopf. „D-Darf ich mir noch was Zeit für die Entscheidung nehmen? Oder... muss das jetzt sein?“ „Nimm dir die Zeit, die du dafür brauchst.“, verließ es nebenher den Mund von Rue, während er sich erneut Tee einschenkte. Erleichtert stieß sie die schwere Luft aus. Unmittelbar hob Shaelyn eine Augenbraue an. Verwundert über diese schwere Luft, erhob sie sich sogleich von ihrem Stuhl, stellte sich an den Rand des Pavillons und blickte in den Himmel. Der Horizont war in einem dunklen Grau gehüllt – und dies fiel ihr erst jetzt auf. Wo doch alles um sie herum an Farbe abgenommen hatte, die Vögel nicht mehr zwitscherten und der Wind ein wenig auffrischte. Zu sehr war sie in Gedanken versunken gewesen. „Vielleicht sollten wir rein gehen...“, meinte Shaelyn geistesabwesend und beobachtete weiter den wolkenverhangenen Himmel. „Warum?“, folgte es plötzlich von Rue, jener kurz darauf lautstark von seinem Tee schlürfte. Verwundert wandte sie ihren Kopf zu ihm. „Na... es regnet gleich.“ „Wo ist das Problem? Unter dem Pavillon bleibt es trocken. … Außerdem“, begann er und erwiderte nun ihren Blick. „ist es nicht zu deiner Freude?“ Shaelyn zog beide Augenbrauen an. „Hm?“ „Soweit ich mich erinnere, gefällt dir das nasse Wetter. Du solltest es genießen.“ Da Rue ein Gespräch begann, und ihm die Situation nicht zu beeindrucken schien, setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Neugierig musterte sie ihn. Sowieso? Wieso fing er ein Gespräch an? Zumindest lenkte es von den Gedanken ihrer Familie ab. „Wieso?“ „Die Niederschlagsrate ist in Los Angeles gering.“ „Ach so. Dann hast du wohl recht. … Ich sollte es genießen.“ Ein geheimnisvolles Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Natürlich wusste sie, dass sie damit sein Interesse weckte – oder wecken sollte. Denn schien er eher darüber nachzudenken. Müsste er es nicht wissen? Die Bedeutung, die noch hinter diesem Satz steckte? Denn es war umso schöner, dass er mit ihr hier sitzen blieb – und darauf wartete dass das Plätschern begann. Und noch schöner, jetzt diese Zeit mit ihm zu verbringen. Immerhin hatte sie ihn, nach ihrem Gefühl, ewig nicht mehr gesehen. Jeder Augenblick schien kostbar. Sein Blick veränderte sich, der ihr verriet, dass er verstanden hatte. Oder vielleicht hatte er es von Anfang an gewusst und nur über etwas anderes nachgedacht? Wenn sie so überlegte, dann schien das Zweite doch eher bei ihm zuzutreffen. Anderes war wirklich idiotisch. Wie konnte er je etwas nicht verstehen? Doch... war es seltsam. Er schwieg, blickte sie starr an. Sollte er normal nicht etwas dazu sagen? Und sollte sie nun etwas sagen? Es war anders als sonst. Nein, er war anders als sonst. Rue war ferner. Warum wirkte er nun so... unerreichbar? Betrübt blickte sie zur Seite. Dabei war sie so guter Dinge gewesen. Nach der Silvesterparty hatte sie gedacht, es lockerte sich weiter auf. Irgendwie war das Gegenteil eingetreten. Ob sie es tatsächlich übertrieben hatte? Wenn sie an alles dachte, war sie schon sehr launisch an dem Tag gewesen. Aber selbst die Erkenntnis darüber würde es wahrscheinlich nicht verbessern. Shaelyn war, wie sie war. Vielleicht lernte sie irgendwann sich mehr unter Kontrolle zu haben. Seit wann war das überhaupt so? Früher, als ihre Familie noch lebte, hatte sie nie solche Probleme gehabt. Natürlich, hin und wieder war sie launisch. Aber niemals so stark. Ob es damit in Verbindung stand? „Sag mal...“, verließ es leise ihren Mund. „Stimmt etwas nicht?“ „Nein.“, folgte es natürlich vom jungen Mann gegenüber, der sich entspannt einen weiteren Löffel Zucker in den Tee tat. „Was sollte nicht stimmen?“ Er klang nüchtern. Viel zu distanziert. Gleichgültig. Shaelyn strich sich unsicher den linken Arm. Machte es nun Sinn ihn weiter zu fragen? Wahrscheinlich blieb es bei einem Nein – selbst wenn sie so stark spüren konnte, dass er verändert war. Sie behielt recht mit ihrer Befürchtung, die sie schon seit zwei Tagen hatte. Was war nur passiert? Es war ein Schritt in die falsche Richtung. Ein Schritt zurück. Regen. Er prasselte laut auf den Dachpfannen – ging einher mit dem frischen Geruch von Gras und Holz. Und zum ersten Mal war Shaelyn kaum imstande es richtig wahrzunehmen. Lauschte sie ihrem Herzen – und es weinte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)