All the Wrong Reasons von Xynn (... are they the Right Decisions?) ================================================================================ Kapitel 22: Melodie des Herzens ------------------------------- „Also, ich höre.“ Emma setzte sich auf ihr Doppelbett und deutete Shaelyn an, sich neben ihr zu setzen. Jene nahm auch gleich platz und holte tief Luft. „Er steht nicht auf mich. Nicht mal so ein Bisschen.“, verließ es zusammenfassend ihren Mund und Emma hob fragend ihre Augenbrauen. „Und das weißt du woher?“ „Er hat es mehr als deutlich betont, nachdem er, glaube ich, spitz bekommen hat, dass ich in ihn verliebt bin. Alles ist umsonst gewesen.“ Emma schwieg für einen Moment. Das klang wirklich nicht besonders gut, machte es sie jedoch nur neugieriger. Ein Mann war für gewöhnlich nicht in der Lage das so schnell zu merken. „Und er hat es wie rausbekommen?“, interessierte es die Amerikanerin brennend und schlug die Beine übereinander, während Shaelyn begann ihre kleine Tasche zu öffnen. „Blöde Story... Du kennst ihn ja nicht. Ich weiß nicht wieso, aber er ist wahnsinnig schlau und durchschaut alles fast sofort. Der muss Schnüffler oder so sein...“ Shaelyn lachte kurz im Scherz auf, dabei holte sie einen kleinen Beutel aus der Tasche. Ja, der Job würde wohl am Besten passen. „Es fing ungefähr so an, dass er begann wieder zweideutig zu werden. Dann hab ich gefragt, ob er jetzt mit mir flirten würde und seine Antwort war wie immer nicht richtig zu deuten und gleich setzt er mir vor die Nase, dass es mir wohl gefallen würde. So ging das los.“, erzählte die Schwarzhaarige und reichte Emma den Beutel, den diese tonlos entgegen nahm. „Ist schon mal die Wäsche drin und der Haarreif.“ „Danke. … Was sagte er denn genau?“, hakte Emma weiter nach und erhielt zunächst ein Seufzen als Antwort. „Das war so: Ich empfinde keinerlei solche Gefühle für dich.“, äffte sie ihn emotionslos nach und legte eine ernste Mine auf, was Emma kurz stutzen ließ. Das war nicht nur ziemlich unsensibel, sondern auch herabsetzend. Gerade so, als hielte er nichts von der Liebe und auch nichts von Shaelyns Gefühlen. „Echt? Das war seine Reaktion? ... Was für ein riesen Idiot.“, meinte die Brünette gleich entsetzt. „... Und wie recht du damit hast. Er ist ein riesen Idiot.“, stimmte die Schwarzhaarige ein und verzog den Mund. Sie hatte es ja schon von Beginn an gewusst, dass es sinnlos war sich Hoffnungen zu machen. Betrübt sah sie zur Seite. Sie konnte nur noch hoffen, dass nun nicht alles vorbei war. Das war noch immer ihre größte Angst. „Aber!“, begann Emma dann mit einem lauten Atemzug und hob den Zeigefinger an, was direkt Shaelyns Aufmerksamkeit erregte. „Es ist noch nichts entschieden! Du darfst nicht sofort aufgeben. Immerhin sagte er doch, dass er gerade keine hätte, oder?“ Emma zweifelte gleich an ihrer Aussage. Ob das wirklich das Richtige war? Jedenfalls schien er eine sehr harte Nuss zu sein, die es wohl zu knacken galt. Denn wie es aussah, wollte ihre Freundin keinen Anderen, ganz egal ob sie zuvor gesagt hätte, dass sie die Option Drei wählte. Das bemerkte man deutlich: Die Engländerin war ausweglos diesem seltsamen Typen verfallen. Shaelyn stand der Optimismus nicht sonderlich ins Gesicht geschrieben, eher machte sie den Eindruck, dass sie dachte, Emma sei verrückt geworden. „Ich hab's doch schon probiert. Was ich an den Kopf geworfen bekommen hab, das hat gereicht. Ich hätte fast vor ihm losgeheult.“ „Aber du willst ihn trotzdem.“, meinte die Amerikanerin mit einem Grinsen ergänzend. „ … Ja. Und? Bei ihm würde wohl nur ein Liebestrank helfen.“, scherzte die Engländerin trocken. Unmittelbar wurde das Grinsen im Gesicht von Emma größer. „Dann verabreichen wir ihm einen! Schlagen wir eine andere Taktik ein, wo er gar keine Chance hat. Wenn er eh weiß, dass du auf ihn stehst, tue Sachen, die ihn vielleicht reizen. Die dich interessant machen, sodass du zweifellos Aufmerksamkeit bekommst. Eigentlich hast du jetzt nichts mehr zu verlieren. Aber dräng' dich bloß nicht auf! Das nervt schnell und du bist ganz unten durch. Du musst ihn dazu bringen, dass er zu dir kommt. Locke ihn aus seinem Schneckenhaus.“, schlug Emma mit einem Zwinkern vor, was allerdings keine Wirkung zeigte. „Was fast unmöglich ist.“, beendete Shaelyn nüchtern und heimste sich einen strengen Blick von ihrer Freundin ein. „Unsinn!“ Die Brünette hob ihre Hand, deutete auf ihre skeptische Sitznachbarin. „Mädchen, nichts ist unmöglich. Ein Kerl ist ein Kerl. Ein Kerl kann man rumbekommen. Ganz egal was das für einer ist. Es sei denn er ist schwul... aber das ist er nicht.... oder?“ „Nein, ist er nicht. Das hat er schon mal gesagt. Schon lange her, aber er ist es nicht. Ein Mann, mit ganz normalen Neigungen, wie er sich ausgedrückt hat.“ „Sag mal, über was habt ihr alles gesprochen? … Egal. Jedenfalls sagt uns das doch nur, dass er interessiert sein könnte. Weil er muss sich darüber ja schon Gedanken gemacht haben, was wiederum heißt, dass er es wohl für Möglich hält. Voilà. Er ist rum zu bekommen. Wir müssen nur seine Schwachstelle finden.“ Shaelyn runzelte gleich die Stirn bei dem Vortrag ihrer Freundin. So hatte sie gar nicht darüber gedacht. Allerdings war alles ohnehin gleich. Sie war einfach noch nicht überzeugt es weiter zu probieren. Es müsste einfach ein Wunder passieren. „Machen wir ihn eifersüchtig!“, rief Emma plötzlich begeistert aus und hätte damit fast Shaelyn einen Herzinfarkt beschert. Bestürzt starrte die Schwarzhaarige ihre Freundin an. „Bist du verrückt?! Wie soll das gehen? Der will doch nichts von mir.“, konterte gleich Shaelyn schockiert und erhielt nur ein breites Grinsen von der Brünetten. „Männer wollen meist das, was nicht zu haben ist. Die haben so einen Jagdinstinkt. Und vielleicht wird ihm dann klar, dass er eigentlich was von dir will. Männer sind manchmal echt einfach gestrickt.“, lachte Emma hinterlistig und Shaelyn war nur weiter verwirrt. „Okay, nehmen wir an, das funktioniert. Mit wem sollte ich ihn denn überhaupt eifersüchtig machen? Und überhaupt; ich gehe nicht weiter als reden! Ich bin keine, die einfach jeden küsst oder so.“ „Du musst auch nicht mehr als Reden. Sieh' mal: Du triffst dich viel mit einem anderen, mit dem du nur redest. Wie Freunde eben. Das reicht völlig. Der Punkt ist, dass du dich mit einem Jungen triffst und es deinem Angebeteten wissen lässt. Falls er da wirklich eiskalt reagieren sollte... dann weiß ich auch nicht mehr. Und wer... tja.“ „Hey!“, meldete sich auf einmal eine bekannte Stimme an der Türe, die im selben Moment aufgerissen wurde. Die beiden Mädchen zuckten heftig zusammen und schenkten Joel einen entsetzten Blick. „Oma ist gekommen. Sie will dich sehen.“, wandte sich der Brünette ungeniert mit einem Lächeln an seine Schwester. „Ich glaube, sie hat auch was für dich.“ Für einen Augenblick blieb es still. In welchem Joel skeptisch wurde, da seine Schwester begann ungewöhnlich zu lächeln, was ihm nur sagte, dass sie etwas ausheckte. Die Schwarzhaarige sah nur fragend von einer Person zur Anderen, bevor sie Emma ganz fixierte, da diese aufstand. „Perfekt. Ich gehe dann mal. Und Joel...“, meinte die Amerikanerin eifrig, während sie zur Türe ging, wo auch ihr Bruder stand. „Kümmer' du dich mal solange um Shae. Sonst ist sie ja ganz alleine und du hast eh nichts zu tun.“ Und schon schob sie Joel ganz in ihr Zimmer und schloss die Türe schnell hinter sich, das mit einem gewitzten Lächeln, was jedoch keiner sehen konnte. Wieso war sie nicht sofort darauf gekommen? Ihr Bruder redete schließlich gern und schien Shaelyn zu mögen. Ein guter Anfang für eine Freundschaft, aber auch nicht mehr. Wie bestellt und nicht abgeholt stand der junge Mann im Zimmer, kratzte sich mit einem unbeholfenen Lächeln am Hinterkopf, dabei blickte er Shaelyn entgegen. „Sorry, ich will mich nicht aufdrängen. Ich kann auch gehen, wenn du willst.“ Sofort hob die Engländerin ihre Hände: „Ach was, schon gut! Emma ist eben so. Wenn du nicht willst, musst du nicht bleiben.“ „Na dann bleibe ich doch gern.“, meinte er schnell und setzte sich auf den Drehstuhl, jenen er herum drehte und sich in die Richtung von Shaelyn setzte. „Du kannst also wieder richtig sehen?“, begann er einfach locker ein Gesprächsthema als habe er wirklich nur auf ihr Okay gewartet. Überrascht hob sie die Augenbrauen an, lächelte aber dann. „Ja, ich darf nur noch nicht ganz ins Sonnenlicht ohne Brille. Aber in zwei bis drei Wochen brauch ich keine mehr.“ „Ah, verstehe. Und du warst wirklich ganz blind? Muss schwierig gewesen sein.“, legte der junge Mann vorsichtig offen und sah für einen Moment zur Seite. „War schon schwierig, aber ist jetzt egal. Jetzt kann ich ja wieder sehen.“ Joel begann zu grinsen, wandte sich dabei ihr wieder zu. „Und dir gefällt, was du jetzt siehst?“ Eine kurze Pause trat ein, da sie vor Verlegenheit ihre rechte Hand an den Mund hob. Joel neigte den Kopf leicht, als habe er nicht verstanden, was sie nun so schüchtern stimmte, ehe der Groschen fiel. Umgehend öffnete er seinen Mund: „Ah, Sorry! Also das war nicht auf mich bezogen, sondern eher die Umgebung und eben dein Alltag!“, stellte der Brünette direkt überrumpelt klar, was Shaelyn kurz darauf aufglucksen ließ. „Dann ist ja gut.“, kicherte sie nun ausgelassen und nahm gleich die Hand vom Mund. „Ja, bis jetzt gefällt mir alles.“ Joel lächelte zaghaft, da die Blamage noch zu spüren war. Es war nicht seine Absicht gewesen sie anzuflirten. „Du kommst ja aus England, richtig?“, stellte er gleich die nächste Frage, welche Shaelyn fragend blicken ließ. „Ja.“ „Ist alles da so verrückt, wie es immer gesagt wird? Und esst ihr echt so komische Sachen? Hab nur verrücktes Zeug von England gehört.“ Direkt lachte Shaelyn vergnügt los. „Ach, so verrückt ist es da nicht! Eigentlich recht normal... vielleicht auch, weil ich es nicht anders kenne?“, fragte sie sich zuletzt eher selbst, als Joel, jener eine Augenbraue anhob. „Kann sein. Aber hier erlebst du noch genug andere verrückte Sachen.“ Es war, als beschrieb Joel somit perfekt die nächste Zeit, die noch auf Shaelyn zukommen würde. Spät am Abend saß die Schwarzhaarige im Taxi, auf den Weg zurück in die Villa, welche nur Unheil ankündigte. Nachdem sie noch etwas mit Joel gesprochen hatte, den sie komischerweise wie Emma sofort mochte, kam auch jene wieder. Kurz darauf wurde schon Joel aus dem Zimmer regelrecht geworfen, da die Amerikanerin noch so einiges zu erzählen hatte – oder viel mehr Tipps, die Shaelyn anwenden konnte, nein, mehr sollte. Tipps, die für sie wenig Sinn ergaben. Sie konnte sich schlicht nicht vorstellen, wie es weitergehen sollte, nachdem Rue ihr solch eine herbe Abfuhr erteilt hatte. Noch dazu wusste er, dass sie in ihn verliebt war – und es hatte nicht einmal eine Woche gedauert, bis er es herausgefunden hatte. Glaubte sie nämlich kaum daran, was er ihr in der Nacht zuletzt versicherte. Natürlich wusste er es. Sollte sie es also direkt zur Sprache bringen? Shaelyn biss sich nervös auf ihre Unterlippe. Nein, das könnte sie ihm niemals ins Gesicht sagen! Seine Antwort bliebe die Gleiche und es noch einmal zu hören, dass er sie überhaupt nicht liebte, würde sicher noch mehr schmerzen. Warum konnte er nicht genauso fühlen? Davon ausgenommen, wie das wohl aussehen würde. Allerdings wäre alles dann so spielend einfach. Ja, warum war alles so kompliziert? Es war zum Verrückt werden. War es Zeit das Handtuch zu werfen? Auch das brachte nichts. Ja, er wusste es mit Sicherheit. Und warum musste es ausgerechnet Rue sein? Dennoch, der Gedanke wie es wohl sein würde, wenn er sie lieben würde, versetzte sie in eine andere Welt – es fühlte sich an als könnte sie fliegen. Weit. Hoch. Dem leuchtenden Himmel entgegen. Kurz schloss sie ihre Augen, fühlte den angenehmen Schauer im ganzen Körper. Ja, träumen durfte man. Träumen von seinem Lächeln, wenn er sie sah. Von einer sanften Berührung an ihrer Wange. Flüsternde Worte, die nur alleine ihr gelten konnten. Ein Kuss, der kurz darauf folgt. Sie brauchte das Paradies im Himmel nicht, hätte sie es doch auf Erden – wenn er sie ebenso lieben würde. Als Shaelyn aus dem Taxi stieg, kribbelte es noch immer in ihrem Bauch. Mit der Gewissheit, dass sie nun alleine mit ihm auf diesem Anwesen war, gerieten ihre Gedanken abermals durcheinander. Ganz zu schweigen von ihren Gefühlen. Es war die Aufregung. Allgemein wie sie ihm gegenüber stehen sollte – und seinem Blick standhalten sollte. Ja, sein stechender Blick. Diese großen dunklen Augen, die sie sofort durchschauten. Jedes Mal versank sie in den schwarzen Weiten, die sie so in einen Bann zogen. Er musste nichts weiter tun als sie anzusehen und sie schmolz förmlich davon. Ihr Körper bebte für einen Moment, sodass sie sich kurz besinnen musste. War das noch normal? Irgendwie war es mit keinem anderen Mal zu vergleichen. Dieses Mal war es viel stärker – fast erdrückend. Hatte sie vorher überhaupt geliebt? Wenn das hier Liebe war, dann war das andere nur ein Hauch dessen. Kopfschüttelnd ging sie auf das große Tor zu und ehe sie auf die kleine Klingel drücken konnte, öffnete sich die Forte. Unvermittelt blickte sie sich überrascht nach einer Kamera am Tor um. Woher wusste er sonst, dass sie da war? Außerdem war das kein guter Vorbote. Denn hatte er auf sie gewartet? Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch – und rasendem Herzen – ging sie die Auffahrt hoch. Hoffentlich war es nur eine Einbildung, dass er wartete. Oder erneut ihre Fantasie, die es schon fast ersehnte, dass er nur auf sie gewartet hatte. Und zu ihrer Freude und auch irgendwie Leid, musste sie die Haustüre selbst aufschließen. Somit teils erleichtert atmete sie auf und betrat die Eingangshalle. Dennoch war sie neugierig – oder einfach nur versessen darauf ihn zu sehen. Es war noch kein Tag vergangen, trotzdem konnte sie sich kaum zusammenreißen. Und was für einen Grund könnte sie nennen, damit sie ihn sehen konnte? Ja, es klang verrückt, aber sie musste so eine Antwort schon parat haben. Wer wusste schon, ob er sie nicht genau danach fragte. Immerhin war bei ihm alles möglich. Allerdings war es doch nur normal mal nach einander zu sehen. Shaelyn probierte offensichtlich alles abzuwiegen, da die Unruhe immer weiter zunahm. Unschlüssig, was man an ihrem Zögern gut erkennen konnte, ging sie den Weg, der sie zum Wohnzimmer brachte – dabei war ihr abermals klar, dass sie nur Unfug anstellte. Denn eigentlich sollte sie nicht seine Nähe aufsuchen; viel zu sehr hatte sie die Angewohnheit Dinge auszuplaudern. Dieser Gedanke sorgte sogleich dafür, dass sie inne hielt die Türklinke zu ergreifen. Was war nur los mit ihr? Seit sie wusste, dass sie verliebt war, ging alles drunter und drüber. Ein wenig verärgert über diese Erkenntnis, drückte sie ohne weiteren Gedanken die Klinke herunter. Es war doch mittlerweile gleich – Rue wusste es doch. Die Tür schwang nach innen auf. „Hey, Rue. Ich wollte …. ! Was zum Teufel?!“ Shaelyn stand der Mund offen, kaum dass sie in den Raum blickte. Das Wohnzimmer glich einem Schlachtfeld! Ein Meer aus Blättern bedeckte den Boden und das Einzige was man wirklich erkannte, war der Sessel, welcher frei blieb und Rue ihr mit dem Rücken zugewandt saß. Jener hob den Kopf an, was man an seinem Haarschopf erkannte und gleich auch drehte er leicht diesen zur Seite. Man erahnte sein Seitenprofil. „Guten Abend.“, empfing er sie betonend, woraufhin Shaelyn, noch immer, schockiert in die Gegend starrte. Sie bemerkte nicht einmal seinen deutlichen Ton, der ihr gleich sauer aufgestoßen wäre – immerhin war herauszulesen, dass er ihre Ankunft für reichlich spät hielt. „Opa ist erst einen Tag weg!? Was tust du hier?! … und was sind das für komische Sätze auf den Blättern? Und seit wann zeichnest du?“, stellte sie rasch eine Frage nach der anderen und hob ein Stück Papier auf. „Sieht ja … seltsam aus.“ Shaelyn drehte die Seite in verschiedene Winkel. Rue richtete seinen Kopf nach vorn, streckte seinen linken Arm aus und ließ achtlos ein weiteres Blatt zu Boden segeln. „Ein Anagramm. Wenn du den Kreis drehst, ergeben sich neue Möglichkeiten.“, berichtete er emotionslos und war schon dabei ein weiteren Zettel zu beschriften. „Den Kreis erkenne ich und ein paar Buchstaben. Aber was sollen die Zeichen?“ Angestrengt stierte sie auf die Seite, die sie egal wie sehr sie es versuchte, nicht entschlüsseln konnte. „Ein paar Buchstaben sind in Russisch verfasst, das war's schon.“ Er sprach als wäre es überhaupt kein Problem für ihn das alles zu entziffern, was Shaelyn nur weiter entgeisterte. „Du kannst russisch?! Was eigentlich noch?!“ Umgehend blickte sie ihn erneut an, bemerkte, wie er stoppte und anschließend kurz an die Decke sah. „Ich spreche acht Sprachen fließend. Und noch ein paar kleinere Dialekte.“, kam es nachdenklich vom ihm. Shaelyn war fassungslos. Um Himmels Willen! Er sprach auch noch so davon, als wäre es nichts Aufregendes! „Wow, du bist echt unglaublich!“, offenbarte sie sofort beeindruckt, woraufhin Rue sich mit dem Oberkörper halb zu ihr wandte, sodass sie ganz in sein Gesicht blicken konnte – und es zierte ein schwaches Lächeln. „... Danke, Shaelyn.“ Ganz benommen von seinem Lächeln, bemerkte sie kaum, was er gesagt hatte. Ohnehin sprang ihr Herz fast aus der Brust und ihre Gedanken verabschiedeten sich, bevor sie stutzte. Da war doch etwas seltsam: Seit wann lächelte er so? Rue hatte sich in der Zeit längst wieder herum gedreht, als sie unsicher ihren Mund öffnete: „Hast du eben gelächelt?“ „Gut möglich.“, antwortete er – wie nicht anders zu erwarten – knapp, so als wäre nichts gewesen. Man hörte wieder, wie ein Stift über dem Papier strich. Ohne ein Wort schloss Shaelyn plötzlich die Wohnzimmertüre, legte ihre kleine Umhängetasche auf die Kommode neben sich, zog auch schon ihre Schuhe aus. Eine seltsame Ruhe legte sich über den Raum, was L umgehend in Alarmbereitschaft versetzte. Aus dieser Position konnte er sie nicht sehen, daher nur vermuten. „Du kannst ruhig öfter mal lächeln.“ Man erkannte ihr Lächeln schon alleine zweifellos an ihrer Stimme. „Oder muss ich dir immer ein Kompliment machen, bevor du das tust?“ Während sie sprach, vernahm er wie Blätter im Hintergrund aufgesammelt wurden. L schwieg zu dieser Aussage. Was sollte er darauf auch antworten? „Du mimst wieder den Schweigsamen, was? Und soll ich dir noch was sagen, Rue?“ „Das wirst du ohnehin machen. Tu' dir also keinen Zwang an.“ Ein Kichern war zu hören, das sogar ziemlich nahe war. Und ehe er es richtig ordnen konnte, wurde ihm der Stift aus der Hand gezogen, mit dem er eben noch geschrieben hatte. „Nicht, bevor du mir ganz zuhörst.“, flötete sie geradezu, viel zu gut gelaunt. L, der an ihrem Verhalten nur sehr Verdächtiges finden konnte, sah nun wohl oder über zu ihr auf. Sein Gesicht sprach Bände, wenn es denn etwas Ausdrücken konnte. „Du brauchst mich gar nicht so mit deinen großen Pandaaugen anzustarren.“ Sein Mund zog sich nur in eine Gerade. Wenngleich er sich auch fragte, wie sie auf einen Panda kam. „Wolltest du mir nicht etwas sagen?“, wies er sie entnervt darauf hin, wurde allerdings in seinen Gedanken herbe unterbrochen, als sie sich einfach auf die Sessellehne neben ihn setzte. Das war zu nah. Gleich führte er sich seinen Daumen zum Mund und kaute auf seinem Nagel, indessen er weiter zu ihr hoch blickte. „Du hast ja Recht! Gut, dann sag ich es dir halt jetzt.“ Das wurde auch Zeit. Doch statt sie direkt wieder den Mund öffnete, nahm sie ein Blatt vom Stapel auf ihrem Schoß, drehte den Zettel herum. „Das ist furchtbare Papierverschwendung! Auf der Rückseite wäre auch noch Platz gewesen. Und sieh' dir mal das Chaos hier an! Wer soll das alles aufheben?“ „...“ Das war mit Abstand … das Unwichtigste, was sie hätte sagen können. Dafür hatte sie sich nun so aufgedrängt? Verstört zog er seine Augenbrauen zusammen und stierte zu ihr hoch. Ihr Blick wechselte vom Strengen ins Belustigte. „Schön, wenn man dich auch mal verwirren kann. Hast mit was anderem gerechnet, was?“ „In der Tat.“, verließ es noch konfus seinen Mund, ehe seine emotionslose Mine zurückkehrte. Shaelyn hob ihre Hand an, drückte furchtlos mit dem Stift leicht auf seine Nasenspitze. „Du bist eigentlich total harmlos, weißt du das?“, sprach sie mit einem breiten Grinsen. Direkt griff L den Stift, den Shaelyn nicht los ließ als er daran zog. „Ey! So läuft das nicht!“, meckerte sie und zerrte ebenfalls an dem Farbstift, dies so stark, dass der Blätterstapel von ihrem Schoß fiel. „Du verschwendest deine Zeit.“ „Wie kann die Zeit mit dir verschwendet sein?!“, verließ es wie aus einer Pistole geschossen ihren Mund. Urplötzlich stoppte L – und das so unerwartet, dass sie von der Wucht nach hinten fiel als sie den Stift aus seiner Hand zog. Mit einem lauten Poltern landete sie auf dem Boden. Es folgte ein schmerzverzerrtes Stöhnen. „Au.... was sollte das?“, kam es ihr zögerlich über die Lippen, während sie wieder die Augen öffnete, welche sie beim Sturz vor Schreck geschlossen hatte. Rue blickte über die Sessellehne zu ihr hinunter, bewegte sich nicht ein Stück um ihr zur zu Hilfe zu kommen. „Was guckst du so?! Hilf' mir mal auf, wenn du schon loslässt.“ „'Tschuldige.“ Man sah wie er darauf ganz kurz zweimal Blinzelte, das gerade so, als wollte er Gedanken verscheuchen. Rue kletterte über die Lehne und hielt ihr gleich die Hand hin, die sie gerne ergriff um sich auf die Beine ziehen zu lassen. Noch benommen von dem Sturz legte sie eine Hand auf seinen Oberkörper um sich abzustützen. „Ich berichtige meine Aussage. Du bist gar nicht harmlos.“ „Das war keine Absicht, Shaelyn.“ Gleichsam er die Hand von ihrer nahm, griff sie erneut danach. „Halt, nicht so schnell. Einen Moment noch. Das dreht sich alles.“ Die Tatsache, dass sie so dicht bei ihm stand und ihn sogar berührte, kam ihr erst Momente später in den Sinn. Jetzt wusste sie auch wieder, wieso ihr Herz gar nicht mehr im Normaltakt schlug – das war nicht der Sturz. Überrascht weitete Shaelyn plötzlich ihre Augen und starrte weiterhin auf seine Brust, denn aufgesehen hatte sie bisher nicht. War das ihr eigener Puls den sie an ihrer Hand spürte? Das konnte ja nur sein, weil er so raste. Wieso sollte Rue so einen unruhigen Herzschlag haben? Langsam hob Shaelyn ihren Kopf an. Erfasste sie gleich ein dunkles Augenpaar, das sie gefangen nahm. Das Atmen wurde schwer. Die Gedanken setzten aus. Es prickelte auf einmal überall. Seit wann war es so unerträglich heiß im Raum? Unbewusst packte sie das weiße Shirt stärker. Sie müsste sich nur auf ihre Zehnspitzen stellen... „Alles in Ordnung? Du wirkst nicht anwesend. Vielleicht solltest du dich einen Augenblick hinsetzen.“, durchbrach Rue die Stille und zerstörte damit gekonnt die Stimmung, welche zumindest bei ihr vorhanden gewesen war. Gleich auch blinzelte sie einige Male. Was hatte sie schon erwartet? „N-Nichts, schon gut. Es geht wieder.“ Mit einem gespielten Lächeln ließ sie von ihm ab und ging einen Schritt zurück, achtete dabei nicht worauf sie trat. Direkt rutschte sie auf einen der vielen Blättern aus – die sich dort schon aufgetürmt hatten neben dem Sessel – und packte sich das erste, was sie zu fassen bekam. Selbst Rue, der schnell begriff in der Situation, konnte nichts dagegen unternehmen zu Boden gerissen zu werden. Allerdings war es ihm zu verdanken, dass sie sich nicht abermals den Kopf anstieß, da er einen Arm unter diesem hielt und es etwas abfederte. Das Resultat war ein schmerzender Arm, was jedoch in diesem Moment Nebensache war. Voller Entsetzen hatte sie sich an ihn geklammert, drückte ihn nur weiterhin an sich, während er auf ihr lag. Fiel das Luftholen gleich aus mehreren Gründen schwer – besonders als L wieder in ihr Gesicht blickte, das nur wenige Zentimeter entfernt war. Ihre vollen Lippen schwach geöffnet, die geröteten Wangen, ihre grünen Augen, jene ihn still beobachteten. Der Schreck war schnell gewichen, stattdessen bot sie sich nun mit dem Ausdruck förmlich an. Jedes einzelnes Härchen stellte sich auf. Ihr aufgeregter warmer Atem kreuzte den seinen. Und er roch etwas sehr bekanntes, das einzig von ihr stammen konnte. Süßes Vanille, das seine Sinne weiter verschleierte. Der Drang wurde immer größer – insbesondere wenn er doch wusste, was er nun tatsächlich für sie war. Sie wollte es. Wollte, dass er sie küsste. Und L kämpfte mit aller Kraft gegen ihre Verlockung. Seiner Beherrschung waren Grenzen auferlegt. Er musste sich schnell von ihr entfernen ehe er ganz seiner Abwehr verlustig wurde. Doch das alles nützte nichts mehr. Shaelyn war machtlos. Ja, alles rannte ihren Kopf ein. Paralysierte sie geradezu, ohnmächtig auch nur klar zu denken. Bedeckte sein warmer Körper den ihren, fühlte sie jeden seiner heftigen Atemzüge an ihrem Bauch. Ganz automatisch blickte sie auf seine Lippen, die so leicht in diesem Moment zu erreichen waren. Ob es sich wie das eine Mal zuvor anfühlen würde? Wären seine Lippen ebenso warm und weich? Würde es abermals so verboten süß schmecken, wenn sie weiter gingen? Von ihren Gedanken und Empfindungen angetrieben, legte sie ihre Arme enger um seinen Nacken, zog ihn sanft und doch bestimmend zu sich – und er tat nichts, was sie aufhielt. Wenn sie etwas wollte, dann war es dieser Mann, dessen Duft sie nur immer weiter betörte und jene Lippen, die, die ihre in diesem Augenblick versiegelten. Nein, es war nicht mit dem Kuss zuvor zu vergleichen. Es war eine Sekunde, in der sie glaubte dem ersehnten Paradies näher zu kommen. Das Prickeln im Bauch brach über ihren ganzen Körper ein. Löste eine ganze Flutwelle aus. Gänzlich schloss sie ihre Augen, fühlte nur das Glück, welches völlig übersprudelte – dabei erwiderte er nicht einmal den Kuss. Was sie erst richtig realisierte, als Rue seinen Kopf gegen ihren Druck plötzlich wegzog und die Verbindung zu ihm vollständig abriss. Umgehend schlug sie ihre Augen auf, fühlte unterdessen, wie das gesamte Gewicht von ihrem Körper wich. Panisch setzte sie sich auf. Aufgelöst begann sie zu stottern: „Ich... ! Das tut mir leid! Eigentlich, ich meine....-“ „Du solltest jetzt gehen.“, unterbrach er sie, zu ihrem weiteren Erschrecken, forsch. Er duldete deutlich keinen Widerspruch, was Shaelyn selbstverständlich nicht entging und sie ängstigte. Aber was sollte sie tun?! Das war alles wie automatisch! Direkt richtete sie sich auf, versuchte Blickkontakt aufzunehmen. Rue jedoch wandte ihr den Rücken zu, was sie in dem Augenblick nur weiter verletzte. Es war doch gar nicht ihre Absicht gewesen! Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln. „Du bist wirklich herzlos! Idiot! Ich wünschte, ich hätte dich nie getroffen!“, schrie sie aus Verzweiflung und Verbitterung, bevor sie weinend aus dem Wohnzimmer rannte – nicht ahnend, wie sehr ihre Worte ihm einen tiefen Stich versetzten. In ihrem Zimmer angekommen, schlug sie zunächst die Tür hart ins Schloss, ehe sie diese abschloss. Es war unsinnig dies zu tun, denn würde ihr Rue ohnehin nicht folgen, doch gab es ihr gewisse Sicherheit. Shaelyn ließ die letzten Minuten Revue passieren, stellte dabei nur abermals fest, wie dumm sie sich verhalten hatte. Rue traf keine Schuld. Er konnte einfach nichts dafür, dass sie in ihn verliebt war. Dann warf sie ihm auch noch solche Dinge an den Kopf! Schluchzend setzte sie sich auf ihr Bett, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte es doch gewusst, dass sie sich nur wieder in Etwas verrannte. Warum ignorierte sie es, wenn sie es erst recht wusste? Ihr war nicht mehr zu helfen. Egal was sie tat, es war falsch. Rue dachte sich bestimmt nur, was für eine katastrophale Person sie war. Wer wollte schon mit so jemanden zusammenleben? Eine Entschuldigung reichte längst nicht mehr aus. Noch dazu traute sie sich kaum vor die Tür zu gehen. Wie sollte das alles noch gut gehen? Schon seit Stunden rollte sie sich unruhig auf dem Bett hin und her. Es war mitten in der Nacht, was ihr der digitale Wecker an ihrer Bettseite verriet. Die Minuten vergingen schleichend. So kam ihr jede Sekunde wie eine Minute vor und jede Minute wie eine Stunde. Als es dann kurz nach drei war setzte sie sich auf. Das Einschlafen klappte ja doch nicht, sodass sie aufstand und irgendwie bekam sie mächtig Hunger. Was man in dem Fall wohl gut als Heißhunger bezeichnen konnte. Allerdings war im Hintergrund noch immer der Gedanke, dass sie Rue über dem Weg laufen konnte – vor allem in der Küche. Jedoch befanden sich die leckersten Sachen in dem Kühlraum, welcher an die Küche grenzte. Eigentlich war sie kein Freund von vielem Süßen, aber es musste gerade einfach sein, dass sie anders gar nicht konnte. In ihrem weißen Nachthemd schlich sie sich zur Tür, gerade so, als würde sie Verbotenes tun. Die Türe war schnell aufgeschlossen und ein vorsichtiger Blick in den Gang verriet nur Gutes, so war keine Menschenseele zu erhaschen. Somit tapste sie mit nackten Füßen in den Flur, der mit einem langen Läufer ausgelegt war. Das Holz knackte leise mit jeden Schritt und wies darauf hin, dass jemand durch den Korridor lief. Man konnte sich schlicht in dieser Villa nicht geräuschlos bewegen. Urplötzlich stoppte sie jedoch als sie an der Treppe ankam. Irgendwas drang an ihre Ohren. Verhörte sie sich? Es klang, als spielte jemand den Flügel im Musikzimmer. Nein, es war kein Lied. Eher wie einzelne Töne, die langgezogen wurden. Gleich befiel sie eine unangenehme Gänsehaut, was weniger an den Klängen, sondern mehr daran lag, dass sie nicht wusste, wer das Piano spielen sollte. Spukte es in dieser Villa? Shaelyn bekam es mit der Angst zu tun. Direkt blickte sie sich in der fahlen Dunkelheit behutsam um. Nur das Licht von Außen drang durch die großen Fenster ein. Die Stühle, kleine Seitentische und nicht zuletzt warfen die Statuen lange Schatten, in der sonstigen Schwärze. Es war beklemmend. Sollte sie es Rue sagen, dass da aus dem Musikzimmer gruselige Musik kam? Sie raufte sich die Haare. Wieso hatte sie sich nur mit ihm, so gesehen, verkracht?! Oder konnte es wirklich sein, dass Rue selbst spielte? Umgehend schüttelte sie ihren Kopf. Das war völliger Unsinn. Sie hatte ihn nicht einmal dort gesehen, trotzdem wurde sie erneut neugierig. Die Möglichkeit bestand doch, oder? Nur weil sie ihn nie dort gesehen hatte, hieß es nicht, dass er nicht doch dort spielte. Jedenfalls war es schöner daran zu glauben, als daran, dass vielleicht etwas anderes dahinter steckte. Daran wollte sie nicht einmal im Traum denken! Demnach, ziemlich vorwitzig, ging sie den Klängen nach. Am Fuße der Treppe angekommen, wurde es nur lauter. Wenn nicht zu laut, dennoch für ihr Ohr viel geräuschvoller als zuvor. Langsam und auf Zehnspitzen, ging sie weiter voran, fixierte konzentriert die große Türe am Ende des Ganges. Und es fröstelte sie. Das weiße lose Nachthemd umspielte ihre Beine leicht, strich mit jedem weiteren Windzug an ihnen. Sollte sich wirklich etwas Anormales abspielen, dann konnte man sie gar nicht schnell genug weg rennen sehen! Schließlich an der Tür angekommen, zögerte sie lange die Klinke überhaupt nur anzufassen. Die Töne ließen nicht nach, bildeten sogar gelegentlich eine kurze liebliche Melodie. Es war, als versuchte man etwas Altes wieder aufleben zu lassen, das nur zu verblasst war um es richtig im Ganzen wiederzugeben. Achtsam öffnete sie dann endlich eine Türseite und spähte durch den Schlitz. Was sie sah, setzte Shaelyn dermaßen in Erstaunen, dass sie sogleich die Augen weit aufriss – achtete sie dabei nur nicht darauf, dass durch das weitere Aufdrücken ein leises Quietschen der Angeln durch den Raum zog. Unmittelbar danach brach jeglicher Ton ab. Sie hatte es vermutet, aber nicht daran geglaubt. Rue saß, nun mit dem Oberkörper zu ihr gedreht, auf dem Hocker – und er saß tatsächlich. Kein Hocken, wie man ihn sonst antraf. Nur der gekrümmte Rücken und wie sachte er mit den Fingerspitzen die einzelnen Klaviertasten berührte, erinnerte sie an Rue. Denn selbst sein Ausdruck im Gesicht war kein üblicher. War er auf irgendeine weise traurig? Auf alle Fälle war er auch sehr überrascht. Seine großen Augen schienen leer und auch sein Mund war leicht verzogen. Nur eine Frage rauschte ihr durch den Kopf: Warum? „Tut mir leid... ich wollte nicht stören. Ich habe mich nur gefragt, wer hier spielen könnte. Und hab deshalb nachgesehen.“, entschuldigte sie sich unverzüglich leise und blickte gen Boden. Sie konnte seinem regungslosen Blick nicht standhalten. Am Liebsten hätte sie gefragt warum er hier war – mitten in der Nacht und wieso er am Flügel spielen konnte. Vor allem, wieso es so... bedrückt klang. Besser sie mischte sich da nicht ein, egal wie sehr sie darauf brannte es zu wissen, weshalb sie schon ihren Mund öffnete. „Schon gut, Shaelyn.“ Seine Stimme war kaum vernehmlich, wandte er sich gleich wieder um, was sie nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte, da sie noch zu Boden sah. Direkt ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Nicht, weil sie wütend war, sondern weil sie sich versuchte einen Schubs zu geben. Es war gerade die beste Chance sich auch für ihre Worte zu entschuldigen. „Rue, ich“, begann sie zunächst hastig, stoppte allerdings und blickte auf – geradewegs auf seinen Rücken – und führte sich eine Hand zur Brust. „Ich möchte mich auch entschuldigen, was ich gesagt habe. Ich hab's nicht so gemeint, okay? Also, dass ich dich nie hätten treffen wollen. Und... dass du herzlos wärst.“, fuhr sie ruhig fort, schluckte jedoch danach einmal kräftig. Was sie nun sagen wollte, kostete ihr die größte Überwindung. Doch was blieb ihr für eine Wahl? Viel würde wohl davon abhängen. „Und... es tut mir leid, dass ich m-mich verliebt habe. Ich versuche es schnell zu vergessen, ganz so wie du gesagt hast. Ja? ...“ Es blieb ruhig für wenige Sekunden, die ihr nur wie Stunden der Ungewissheit vorkamen. Um alles in der Welt: Sie hatte es gesagt! Und er sagte nichts! „Wie ich bereits sagte: Schon gut.“, war nun fester von ihm zu hören und Shaelyn neigte den Kopf leicht schief. Das deutlich in Sorge, gleichzeitig fühlte sie sich unbehaglich. Wollte er sie vielleicht loswerden? Störte sie ihn nun doch so stark? Auf einmal hob er seine rechte Hand an, gab ihr das Zeichen, dass sie näher treten sollte. Sofort biss sie sich auf die Unterlippe, leistete seiner Geste umgehend folge. Mit wackligen Beinen, da die Unsicherheit stark zunahm, trat sie näher, ließ dabei die Tür offen stehen. „Setz' dich doch bitte.“, wies er sie schließlich ruhig an, dass sie auf den länglichen Hocker neben ihm Platz nehmen sollte. Auch das tat sie folgsam, achtete sie dabei peinlich darauf, ihn nicht zu berühren, da sie schon ohnehin einen großen Druck in ihrer Brust spürte. Hoffentlich würde er nichts Böses sagen. Schließlich drehte er den Kopf zu ihr. Seine Pupillen waren im Halbdunkeln stark geweitet, sodass es schon den Eindruck vermittelte, er habe komplett schwarze Augen – angespannt blickte sie ihnen entgegen. „Nichts ist von Dauer. Das solltest du dir immer vor Augen führen, Shaelyn. Es wird vergehen.“ Überrascht blinzelte sie einige Male. Die Worte hatte sie nicht erwartet. „Das heißt... es ist für dich nicht einmal von Bedeutung?“, stellte sie gleich die Frage und sah, wie er eine Augenbraue senkte. Er sah skeptisch aus. „Sollte es das sein?“, bekam sie gleich als Gegenfrage, was sie stutzen ließ. Verstört über diese Meinung, was das schönste auf der Welt darstellte, brauchte sie ein paar Momente. „Wieso probierst du es nicht mal...? Also lässt es zu?“ „Das ist unmöglich.“, folgte es umgehend nachdrücklich als sei daran nichts zu rütteln. Doch Shaelyn fühlte sich aufgestachelt. Jetzt wollte sie es genau wissen, wenn er schon dazu bereit war zu reden. „Wie kannst du das so einfach sagen?“ „Ich... habe meine Gründe.“ Rue begann wieder damit, an seinem Daumennagel zu kauen. War er am Nachdenken? „Aber du bist doch ein Mensch. Jeder Mensch hat doch Gefühle.“ „Shaelyn.“ Es war nur ihr Name, den er leise aussprach. Sofort war sie ganz bei der Sache. „Ja?“ „Diese Art von Gefühlen hat keinen Platz.“ Schockiert öffnete sie ihre Lippen einen Spalt. „Du spricht so, als wärst du eine Maschine, die nur funktionieren soll. Wo bleibt da der Spaß? Was bedeutet das Leben wirklich? Sind es nicht unsere schönen Erinnerungen und Erlebnisse, die es so lohnend machen? Und erst die schönen Gefühle? Was für eine farblose Welt wäre die Erde, wenn jeder so denken würde wie du?“ „Sie würden es nicht vermissen, weil sie es nicht anders kennen.“ Sprach er gerade von sich selbst? „Das... heißt, du kennst es nicht?“ Er schwieg zu ihrer Frage, starrte ihr nur weiterhin entgegen. Shaelyn stellte schließlich die finale Frage, die für sie ziemlich wichtig war. „Was ist, wenn du dich doch mal verliebst?“ „Das wird nicht passieren.“, log L ihr offen ins Gesicht. Wenn doch auch ein Quäntchen Wahrheit in seinen Worten steckte – zumindest wenn man es ein bisschen anders formulierte. So war er bereits jemandem – ihr – verfallen und das würde auch das einzige mal bleiben. Kein weiteres Mal sollte dies vorkommen. Er würde es zu verhindern wissen. Sie war ihm einfach zu nahe getreten – war das was sie verband viel mehr als einfache Gespräche. Er hatte zu viel Zeit mir ihr verbracht. Zu viele persönliche Erinnerungen waren mit ihr verknüpft. Hatte sie ihn völlig verzaubert, was nun schon einen langen Zeitraum bildete. Es hörte nicht auf. Nein, bis jetzt hatte er nichts vom Vergänglichen gemerkt. Gefühle sollten sich mit der Zeit abschwächen. Wieso war das hier nicht der Fall? Würde es nachlassen, wenn er sich ganz von ihr entfernte? Das musste es sein. Oder griff hier abermals die Logik nicht? War es wert, einen Versuch zu unternehmen? Doch stände bei diesem Geschehnis viel auf dem Spiel. Er würde mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr verlieren. Nein, er konnte hier nicht rein objektiv bleiben. Denn war es auszuschließen, dass er etwas verlor. So war es parteilos das Beste. Doch... trotzdem war dieser Gedanke schmerzlich. Sogar äußerst. „Du lügst.“ L blinzelte einmal, da sie ihn aus seinen Gedanken geholt hatte. Direkt beobachtete er ihre Gesichtsregungen aufs Genauste. Sie meinte es ernst, was ihr leicht anzusehen war. „So? Wie kommst du zu diesem Schluss?“ „Man kann so was nicht einfach verhindern. Es passiert einfach. Das weiß doch jeder.“ Ein schwaches Grinsen legte sich auf seine Lippen. Shaelyn war engagiert und voll bei der Sache – und nun irritiert von seiner Regung. „Sicher?“ „... aber hundert prozentig.“, folgte es dann doch schleppend. „Weshalb schwankt dann deine Stimme? Das ist ein sicheres Indiz für Unsicherheit. Willst du also nicht noch einmal darüber nachdenken?“ Shaelyn plusterte ihre Wangen auf. „Du verunsicherst mich! Das ändert aber rein gar nichts an meiner Meinung. Basta.“, verließ es überzeugt ihre Lippen und verschränkte sie gleich die Arme vor der Brust. „Dein Grinsen gefällt mir nämlich nicht, weil es mich nur verwirrt. Du heckst bestimmt was aus, oder so. Das sieht genau danach aus!“ „Ich hecke nichts aus. Ehrenwort.“, antwortete er, mit weiterhin demselben Grinsen und hochgehobener Hand, als legte er einen Schwur ab. „Das soll ich dir glauben? Was sonst? Hast du wieder Spaß daran mich zu veräppeln?“ Shaelyns Mine veränderte sich, sodass sie ihr amüsiertes Gesicht nicht mehr verbergen konnte. Dennoch probierte sie es zu kaschieren. Nur L entging es selbstverständlich nicht. „Dir scheint es jedenfalls selbst Spaß zu bereiten.“ Und er erhielt etwas, womit er nicht gerechnet hätte. Mit einem Lächeln zwinkerte Shaelyn ihm charmant zu. Ganz offensichtlich gefiel es ihr und sie schien ihre Scham vor ihm verloren zu haben. Sie musste auch nichts mehr versuchen zu verstecken. Die Katze war ja bereits aus dem Sack. „Sollte ich mich in Zukunft vor dir hüten?“, fragte er dann mit seinem Zeigefinger am Mund und einem Grinsen, sodass ihr sprichwörtlich der Mund vor Empörung offen stand. „Was soll das heißen?!“ „Oh, ich dachte, du weißt wovon ich rede.“, meinte er, natürlich gespielt, überrascht und erntete einen scharfen Blick von ihr. „Natürlich weiß ich wovon du redest! Aber so schlimm bin ich doch gar nicht! Hab' doch gar nichts gemacht...“ Umgehend zog sie eine Schnute. „Bist du dir wieder sicher?“ „Argh! Fieser Kerl! Nein, du musst keine Angst haben, dass ich dich überfalle und zu schlimmen Dingen zwinge!“ „Wunderbar, dann bin ich beruhigt.“, kam es sonnenklar von L, der einfach das Grinsen im Gesicht nicht los wurde – allerdings Momente später die Arme heben musste um sich von ihrer entrüsteten Prügelei zu schützen. Es war nicht feste, sollte ihm aber zeigen, dass sie gar nicht angetan war. Auch wenn es klar Spaß war, der mitmischte, da ihr teilweise helles Lachen es untermalte. Urplötzlich stoppte sie, verlor jeglichen Ausdruck im Gesicht. Sofort war L wachsam. „Hast du das gehört...?“, flüsterte sie zu ihm gewandt und blickte sich vorsichtig um. Auf ihre Worte hin, lauschte er in die Stille. Es tat sich nichts. „Nein...“ Gerade als er das aussprach, war ein ganz leises Holzknarren zu hören – für ihn jedoch nichts Außergewöhnliches. Holz lebte bekanntlich. Aber das sie es beim Getrommel auf ihn und durch ihr eigenes Lachen hören konnte, war beachtlich. „Da! Hörst du das nicht?“, kam es nun ein wenig lauter von Shaelyn, die sich nun richtig umsah. „Das hat sich angehört, als sei wo was runter gefallen.“ Jetzt stutzte er. Sie meinte nicht die Holzdielen, sondern etwas anderes. Aber selbst wenn etwas heruntergefallen war, bedeutete es nicht automatisch, dass es ungewöhnlich sein musste. „Das wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Wind sein, der etwas bewegt hat. Es ist recht zugig.“ „Hast du immer eine logische Schlussfolgerung parat?“, wandte sie sich ihm nun wieder direkt zu und kassierte von ihm einen emotionslosen Blick. „Was sollte es auch sonst für eine Ursache haben?“ „Na... vielleicht spukt es ja hier.“ Nun starrte er sie sichtbar verstört an. „Ich glaube nicht an Übernatürliches, Shaelyn...“ „Du bist ja auch blöd. Manch -“, sie unterbrach, da sie wie ein verschrecktes Huhn sich auf Rue stürzte und sich an seinem Arm klammerte. „Da!! Das war im Gang! Hast du das nicht gehört?!“ L starrte zunächst auf Shaelyn, die sich ängstlich an ihn drückte, dann in den Korridor, in welchem sich das Licht anschaltete. Schritte waren nun deutlich zu hören und als ein Schatten durch die Tür fiel, kniff Shaelyn ihre Augen zusammen. „Ist etwas Vorgefallen?“, war dann eine sehr bekannte Stimme zu hören und gleich klammerte sie nicht mehr so an L, der nun sogar Luftholen konnte, da sie teilweise von ihm abließ. Jedes mal aufs Neue versetzte sie ihm mit ihrer so direkten Nähe Stromstöße, die ihn einfach lähmten. Es wäre natürlich etwas vollkommen anderes, wenn er offen sein könnte... „Opa?!“ „Guten Abend, Shaelyn.“ Sein offenes Lächeln übertrug sich gleich auf ihre Lippen. „Du bist wieder da? Aber ich dachte, dass du noch was unterwegs bist?“ „Hat es Ryuzaki dir nicht gesagt, dass ich eher Heim kehre?“ Beide Augenpaare richteten sich auf L, der wieder einigermaßen normal Luftholen konnte – auch mit Shaelyn, die ihm förmlich noch immer am Arm klebte. „Was?“, führte er nur unschuldig aus und blieb an ihrem entnervten Gesichtsausdruck hängen. „Du bist unverbesserlich. Immer wieder dasselbe... Wo bleibt dein 'Achja, das wollte ich dir noch sagen?'“, hakte sie gleich nach und erhielt ein Grinsen von ihm. Ein zweifellos freches. Es sah aus, als genoss er es im Moment sie wieder einmal zu ärgern. „Richtig. Das wollte ich dir noch mitteilen, allerdings haben mich andere Dinge daran gehindert.“ „Blödmann!“, rief sie hochrot aus. Watari stand am Türrahmen und betrachtete die Szene mit einem breiten Lächeln. Es war schön zu wissen, dass die beiden gut miteinander auskamen. Sehr gut sogar, wie es den Anschein auf den alten Herren machte. L hatte sich tatsächlich breit schlagen lassen. Noch einmal ging der Detektiv den Gründen nach, weshalb er überhaupt das tat, was er gerade tat. So stand er in einem Kaufhaus, neben ihm Watari und unweit entfernt Shaelyn, die aufgeregt jede menge einzukaufen hatte. Man fragte sich, was ausgerechnet er nun dort suchte. Eine gute Frage, die sich auch L immer wieder stellte. „Was meinst du? Rot? Blau? Weiß?“ Shaelyn hielt verschiedene Packungen an Weihnachtskugeln hoch und lächelte ihm begeistert zu. „Das ist mir gleich.“ „Nein, sag. Welche Farbe?“ Ihre gute Laune war nicht zu drücken, was auch eben einer jener Gründe war, weshalb er sich überhaupt hatte breit schlagen lassen. Sie war so aufdringlich gewesen, dass er nicht einmal in Ruhe seine Gehirnnahrung zu sich nehmen konnte. Und ganz egal was er versuchte – Ihre Stimmung war kaum zu ändern. Es kam einem Wahn gleich. Und bevor er den Rest des Tages keine Ruhe mehr fand, tat er eben das, was er eben tat. „Na los, sag schon.“, forderte sie ihn wieder auf und hielt abwechselnd Packungen hoch. Zudem was stellte sie diese Frage? „Rot.“, meinte er nüchtern und kratzte sich darauf am Kopf. Da sie diese Farbe mochte, konnte er schließlich nichts Verkehrtes sagen. Doch, das war nur eine Vermutung. Er wurde besserem belehrt. „Nur rot? Das ist doch eintönig. Lass uns das mit Weiß mischen. Dann ist wenigstens etwas Weiß an diesem Weihnachten.“ L zog seine Augenbrauen zusammen und beobachtete Shaelyn kritisch, jene sich die jeweiligen Utensilien schnappte und in den Einkaufswagen legte. Ob es unbewusst gesagt wurde? L jedenfalls verstand darunter mehr als nur Farben. Ein bestimmtes Gespräch spielte da eine tragende Rolle. „Wehe du bist Zuhause genauso teilnahmslos! Du musst mir beim Schmücken helfen! Alleine an die höheren Stellen komme ich nicht ohne deine Hilfe.“, durchbrach ihre Stimme seine Gedanken, woraufhin er sie für ein paar Sekunden nur anstarrte. Davon war nicht die Rede gewesen. „Dafür gibt es Leitern.“, antwortete er sachlich und heimste sich einen bösen Blick von ihr ein. „Das werden wir ja noch sehen...“ Es beschlich ihn das Gefühl, dass er doch zugänglicher hätte sein sollen. Ihre Drohungen waren durchaus ernst zu nehmen – keiner wusste das besser als L. Dann klatschte sie einmal in die Hände und setzte ein fröhliches Gesicht auf. „Holen wir den Rest und dann ab nach Hause! Der Baum wartet.“ Watari nickte wissend, ebenfalls erfreut. Nur L war irgendwie nicht ganz so hingerissen vom Weihnachtsfieber. Demnach war er der Erste, der das Geschäft verließ, als es zur Kasse ging. Und Shaelyn hatte nur damit gerechnet: Somit holte sie schnell noch etwas mit einem Lächeln in seiner Abwesenheit. Nachdem alle Tüten, in denen der Weihnachtschmuck verstaut war, sich im Wohnzimmer befanden, besah sich Shaelyn den großen Baum. Ihr Großvater hatte ihn bereits am Morgen geholt und aufgestellt. Das war auch Zeit gewesen, so war der 24te Dezember schon morgen. Der Anblick, des noch ungeschmückten, Baums, weckte Erinnerungen in ihr. So war es schon immer ihre Aufgabe gewesen, den Baum zu schmücken – wenn auch mal mit ihrem Bruder. Nur ihr Vater setzte am Ende die Spitze auf und schloss somit das Schmücken des Baums ab. Ihre Mutter backte fleißig und erfüllte somit die Luft mit allerlei bekannten Gerüchen. Lebkuchen und vor allem Zimt. Begeistert räumte sie den glitzernden Lametta, die Kugeln und auch die Lichter aus den Tüten – nahm vorerst keine Notiz von Rue, jener sich längst wieder in seinen Sessel gehockt hatte und natürlich gleich vom Süßen auf dem Couchtisch naschte. Schade fand Shaelyn nur, dass es keine großen Weihnachtssocken gab, die man sich traditionell eigentlich an den Kamin hing – sie waren alle ausverkauft gewesen. Zumindest war dieses Jahr ein Baum vorhanden, was schon sehr viel ausmachte. Als dann alles soweit bereit lag, seufzte sie auf und strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. Jetzt lag das Schwerste vor ihr: Rue. „Rue...?“, säuselte sie bewusst und man sah, wie er für eine Sekunde inne hielt. Er wusste, was folgen würde – und er antwortete absichtlich nicht. Was allerdings für Shaelyn kein Hindernis war. Seit diesem Abend im Musikzimmer, war ihre Laune kaum zu drücken. Zwar fühlte er nicht dasselbe, aber ganz wie es aussah störte es ihn nicht weiter. Und das Wichtigste war wohl, dass sie sich nicht mehr anders verhalten musste. Das Geheimnis, was eigentlich keines war, weil er es fast sofort erkannt hatte, war gelüftet. Es war nach wie vor traurig, dass wohl nicht mehr aus ihnen wurde, doch wenigstens konnte sie in seiner Nähe bleiben. Denn eine Freundschaft verband sie weiterhin. Somit war die größte Angst nicht mehr vorhanden: Die Angst, ihn zu verlieren, wenn er wusste was sie für ihn empfand. „Weißt du, wenn du gleich her kommst, dann bekommst du auch eine Belohnung.“, meinte sie doch recht mysteriös, was L dazu veranlasste seinen Kopf zu ihr zu drehen. Er war hellhörig geworden. Ihre grünen Augen strahlten Freundlichkeit aus, ebenso das Lächeln in ihrem Gesicht. „Was für eine Belohnung?“ Ihr Lächeln wechselte zum Grinsen. Konnte er das als gutes Omen einstufen? „Interessiert, hm?“, stichelte sie sofort belustigt. „Das wirst du dann sehen, wenn du es dir verdient hast. Also komm her und hilf mir. So schwer ist das doch nicht. Das macht doch auch Spaß.“, redete sie gutgelaunt weiter. „Und ich beiß' auch nicht! Versprochen.“ L seufzte leise auf. Diese Frau hörte ohnehin nicht auf. Es war das gleiche Spiel wie am Morgen, als sie ihn zum Einkaufen mitschleppen wollte. Nicht ganz, zu diesem Zeitpunkt dachte er noch, dass es erträglich wäre. Je länger er jedoch gewartet hatte, desto aufdringlicher wurde sie. Bis es soweit ging, dass sie um seinen Sessel schlich, sich neben die Lehne hockte ihn von der Seite mit ihren bettelnden Augen anblickte – und sie wich nicht. Nicht, dass er es nicht auch wunderbar überspielen konnte, aber als sie dann an seinem Ärmel zog, war ihm klar, dass sie auch noch weiter gehen würde. Er hatte aufgegeben. Und nun befürchtete L selbstverständlich, dass sie es wieder tat. Allerdings wäre das wohl die Ausnahme. So war sie bisher niemals so penetrant gewesen. Es musste ihr sehr viel bedeuten – mehr als er je verstehen würde. Und es sprach im Wesentlichen nichts dagegen zu helfen – außerdem war er neugierig was die Belohnung anbelangte. Was könnte sie ihm geben wollen? Und bevor sie auf eine andere Idee kam, wie sie ihn überzeugen konnte, ergab er sich in sein Schicksal. Langsam erhob er sich aus dem Sessel, was sie verzückt kichern ließ. „Keine Sorge, die Belohnung wird dir gefallen.“ Das hörte er wiederum gern. „Wickel die Kette einfach so herum, wie es dir gefällt.“, wies Shaelyn ihn an, als sie ihm den vorderen Teil der Lichterkette gab, selbst noch das andere Ende festhaltend. „Pass aber auf, die Lichter sind empfindlich. Lass' sie also nicht auf den Boden fallen.“ Kaum war das gesagt, ging sie um die große Tanne, von der ihr eigener typischer Geruch zu den Feiertagen abgegeben wurde. Shaelyn befestigte vorsichtig das erste Licht und fuhr so still mit den nächsten weiter, während sie vom anderen Ende immer wieder spürte, wie Rue ebenfalls die Kette ansteckte. Doch nach einigen Minuten war es ihr zu ruhig. „Hast du nie den Baum geschmückt?“, fragte sie schließlich offen, während sie das letzte Licht befestigte und spähte zögerlich zum Schwarzhaarigen hinüber, welcher gleichermaßen fertig wurde. „Nein.“ Sein nüchterner Blick traf den ihren, woraufhin sie die Augen kurzzeitig verdrehte. „Nicht einmal als du klein warst?“ Es war eine kleine Regung in seinem Gesicht zu erkennen, als er plötzlich auf den Baum vor sich blickte. Doch als Shaelyn genauer hinsah erkannte sie, dass er nicht den Baum ansah, sondern durch ihn hindurch. Er wirkte wie versteinert. Verwirrt trat sie zu ihm und berührte ihn am Arm. Sogleich riss er seinen Kopf in ihre Richtung, sodass sie selbst erschrak. Vor Schreck fasste sie sich an die Brust. „... Alles in Ordnung?“, brachte sie stockend hervor und versuchte sich zu beruhigen. Irgendwie wirkte sein Blick einschüchternd, sodass sie sich augenblicklich sehr unwohl fühlte. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Die Stimmung war plötzlich wie tot. „D-Du machst mir Angst mit deinem Blick.“ Rue blinzelte umgehend nachfolgend einmal. „'Tschuldige.“ Er wandte sich ab und nahm sich eine Weihnachtskugel vom nahen Tisch. Es war deutlich wahrzunehmen. Etwas lag in der Luft. Eine Spannung, die erdrückend wirkte. Es fiel Shaelyn schwer zu schlucken. Und sie war sich sicher, dass mit Rue etwas nicht stimmte. Hatte er eine schlimme Vergangenheit? Kannte er deshalb all das nicht? „Es tut mir leid,... ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich meine-“ Ihre Stimme brach ab, da er zu ihr trat und ihr eine rote Kugel in die Hand legte. „Du entschuldigst dich in letzter Zeit sehr häufig.“ Seine Augen blickten sie stumm an. Es lag nicht eine Regung in ihnen. „Ich bin ein Waisenkind.“, verließ es nachfolgend ruhig seinen Mund und ihr stand ihrer sofort offen. Nicht nur erzählte er etwas sehr Privates von sich, sondern auch etwas sehr Schreckliches. „Das ist furchtbar...“, hauchte sie geradezu ohne Atem. Sie hatte ja gar keine Ahnung... „... Wie lange schon?“ Rue antwortete ihr zunächst nicht und ließ eine Zeit vergehen. War er unsicher, ob er es ihr sagen sollte? War es so schlimm? „Seit ungefähr 13 Jahren.“ Er sprach so sachlich, was Shaelyn schockierte. Nicht nur das, denn vor so vielen Jahren war er sicher noch ein kleiner Junge gewesen. Sie konnte nur vermuten, da sie nicht einmal sein Alter wusste. Doch Rue schien ihr nicht allzu viel älter zu sein. Irgendwie dachte sie die ganze Zeit, dass sie eine schlimme Vergangenheit hatte, jedoch klang die von Rue viel schlimmer. Als kleiner Junge war er also schon ganz alleine gewesen... „Shaelyn, du weinst.“, wies er sie leise darauf hin. Überrascht schüttelte sie kurz den Kopf und fasste sich mit der freien Hand an die Wange. Tatsächlich, sie weinte. „Ich dachte nur, dass ich eine fürchterliche Vergangenheit habe... aber wenn ich mir denke, dass du viel früher ohne Eltern bist...“ „Shaelyn.“, brachte er nur ihren Namen über die Lippen – und es klang beruhigend. Sie starrte ihm sofort in die großen Augen, die sie beobachteten. „Das ist Vergangenheit.“ „Aber es ist ein Teil von uns.“ Er zog seine Augenbrauen an, die er nur kurz darauf wieder senkte. „Wenn du in der Vergangenheit lebst, wirst du nie eine Zukunft haben.“, erwiderte er matt, worauf er einen konfusen Blick zugeworfen bekam. „Man lebt nicht in der Vergangenheit, wenn man ab und zu einen Gedanken daran hat.“ „Es bringt dich nicht weiter.“ Fassungslos über diese Worte, fiel ihr keine passende Antwort mehr ein. Wie kühl war er eigentlich? Oder hatte er es nur tief in sich verschlossen, weil es zu schmerzlich war? Rue war nun ein noch viel größeres Rätsel für sie. War das auch vielleicht der Grund, wieso er niemanden an sich ließ? „Wir sollten weitermachen.“, kam es tonlos von ihm und drehte sich gleich um – wurde aber am Arm festgehalten. „Sag mir noch eins bitte.“, begann sie hastig und zog auch sofort ihre Hand zurück. Rue wandte sich nicht um, sondern zeigte ihr seinen krummen Rücken. „Wa... schon gut. Ja, lass uns weitermachen.“ Shaelyn klang traurig. Sie schien enttäuscht zu sein. Die Stimmung war nun nicht mehr dieselbe. Ging es nun schon seit geraumer Zeit sehr still zu. Ungewöhnlich still für Shaelyns Verhältnisse. Es kam nicht ein Wort von ihr. So war sie in Gedanken, was man ihr deutlich ansehen konnte. Was sie im Einzelnen dachte, wusste der Detektiv natürlich nicht – immerhin war er dem Gedankenlesen nicht mächtig – jedoch musste es sich zwangsweise um die Themen zuvor handeln. Er hatte ihr zu denken gegeben. Vor allem musste ihr nun klar sein, wie weit sie sich voneinander unterschieden. Sie trennten klar die Ansichten, von denen weder er noch sie abließen. Sie war ein großer, wenn nicht sogar größerer, Sturkopf. Plötzlich keuchte Shaelyn auf, weshalb er prüfend zu ihr sah. Sie hob ihren Finger an und lutschte kurz darauf an der Kuppe. Offensichtlich war sie unachtsam gewesen und hatte sich den Finger an den Spitzen der Nadeln gestochen. „Du solltest dir weniger Gedanken machen.“, sprach er schon fast teilnahmslos zu ihr, während er eine weitere Kugel platzierte – und dabei nicht einmal hinsah. „Ha ha... das sagt der Richtige. Du hängst deinen Gedanken doch den ganzen Tag nach.“, meinte sie einsilbig und besah sich den Baum, nach einem freien Platz suchend. „Sicher?“ Unverzüglich starrte sie verstört zu ihm hinüber. „Heißt das, dass du manchmal einfach nur so da rum sitzt und einfach nur wo hinstarrst? Man, das muss ja richtig langweilig sein!“, verließ es gleich schockiert ihren Mund. „Und da beschwerst du dich, wenn ich möchte, dass du mir beim Schmücken hilfst?“ Ehe er etwas dazu sagen konnte, betrat Watari den Raum, was ihm alle Aufmerksamkeit einbrachte. „Ein Paket ist für dich gekommen, Shaelyn.“ Shaelyn weitete verblüfft ihre Augen und warf sofort dem Paket in der Hand von Watari einen Blick zu. Wer sollte ihr etwas schicken? Umgehend ging sie zu ihrem Großvater, jener das kleine Paket in der Hand hielt und ihr gleich überreichte. Kaum hatte sie den Karton in der Hand, las sie die Adresse vom Empfänger. Es war ein Paket von Emma! Freudig entfernte sie den Einband – und unter den neugierigen Augen Ls, welcher hinzugetreten war, während Watari still wieder den Raum verließ. Vor Rührung lächelte sie verträumt. Es befanden sich zwei kleinere Geschenke im Karton, da man es gut am bunten Geschenkpapier erkennen konnte. Ein rosa Brief linste an der Seite hervor, den sie gleich heraus zog. Auf dem Brief befand sich ihr Name in Schönschrift. Ganz wie es aussah, war es Emmas Schrift, da es nicht maschinell geschrieben wurde. Mit dem Brief in der Hand und dem Paket im Anderen, ging sie zum Couchtisch, machte sich ein wenig darauf Platz und setzte sich auf den flauschigen Teppich davor – ignorierte sie dabei L vollkommen. Ihr Blick war nur noch fixiert auf den Brief vor sich, den sie langsam öffnete. Gleich las sie was darin stand: ~ * ~ Hi, meine süße Shaelyn! Überrascht, was? Ich habe dir extra nichts davon erzählt, damit du dich freust, wenn das Paket ankommt. Jetzt weißt du auch, wieso ich deine Adresse so genau haben wollte, hehe. Wie du siehst, sind zwei Geschenke im Karton. Sorry, dass es nur so kleine sind, aber auf die Schnelle ließ sich nicht so Schönes finden, da es so knapp vor Weihnachten ist. ( Da sind die Kaufhäuser schon fast leer gekauft! ) Übrigens, eins ist von mir und das andere von Joel. Er meinte, wenn ich dir schon was schenke, dann möchte er das auch. Ich sagte doch, er ist nett. Er scheint dich auch zu mögen... Aber noch was, zu jedem Geschenk liegt noch ein kleines Kärtchen. Erst lesen, wenn es Zeit ist die Geschenke auszupacken! Also am 25ten! Wehe du machst sie vorher auf, sonst gibt’s Ärger! Sorry auch, dass ich über die Weihnachtstage nicht da bin und mir dein, wahrscheinlich verweintes, Danke nicht anhören kann, weil du so aus dem Häuschen bist. Ich weiß, dass du jetzt bestimmt grinst. Hehe, ich kenn' dich doch. Achja! Ich gebe dir allerdings die Gelegenheit dich gebührend zu bedanken. Ich würde dich nämlich gerne zur Silvesterparty einladen! Ein paar Freunde von mir kommen, die dich bestimmt auch so schnell gern haben, wie ich dich. Also sag mir doch Bescheid. Egal, wir sprechen uns eh spätestens an deinem Geburtstag! Ja, den hab ich auch nicht vergessen! Immerhin ist er doch auch so kurz nach Weihnachten. Alles liebe, Emma P.S.: Auch noch einen schönen Gruß von Joel. P.P.S.: Halt den Brief weit genug weg! Sonst schwimmen die Buchstaben gleich davon! :P ~ * ~ Schluchzend, ganz wie es Emma vorausgesehen hatte, tropfte schon die erste Träne auf das Papier. Sie hätte nie mit so einem lieben Brief gerechnet. Nein, nicht einmal mit dem Paket! Und dann auch noch ein Geschenk von Joel! Sie kannte ihn doch erst einen Tag und schon bekam sie was von ihm geschenkt. Das war wirklich unheimlich nett. „Wer ist Joel?“, war eine dunkle Stimme über ihr zu hören und sie zuckte augenblicklich heftig zusammen. Direkt wandte sie sich mit dem Oberkörper halb herum und erblickte die großen, unschuldigen, Augen von Rue, jener sich auf das Sofa hinter sie gehockt hatte und ihr über die Schulter geblickt hatte. Wie dreist! „Der Brief war für mich! Nur ich sollte ihn lesen!“, meckerte sie gleich unhaltbar und erhielt nur ein weiteres stumpfes Gesicht von ihm. „Diese Emma ist gut. Sie weiß dich genau einzuschätzen. … Wobei, das ist auch keine Kunst.“, setzte er zuletzt nachdenklich nach und legte seinen Daumen am Mund. „...“ Shaelyn fehlten die Worte, stattdessen waren ihre Lippen einen Spalt weit geöffnet. „Aber mich würde nach wie vor interessieren, wer Joel ist.“, hakte er nun ernst nach, bekam jedoch unvermittelt einen wütenden Blick geschenkt. „Jemand, der nett ist! Du bist viel zu neugierig, ja!? Man liest doch nicht einfach Briefe, die einem nicht gehören! Aber bevor du wieder wo schnüffeln gehst, kann ich dir gleich sagen, dass es der Bruder von Emma ist. Ich hab ihn letztens kennengelernt.“ „Der dir sofort Geschenke macht?“, verhörte er sie augenblicklich, was ihr gar nicht passte. „Na und? Dir kann es doch egal sein.“ Gerade das war es nicht. Ihm gefiel es nämlich überhaupt nicht. Zwar war hier anzunehmen, dass es tatsächlich ein normaler junger Mann war, da alleine die Sachlage anders war, dennoch störte es ihn. Es war schon zu offensichtlich für L. Man schenkte nicht belanglosen Leuten, die man erst, so wie es aussah, einen Tag kannte, Geschenke. Für Frauen mochte das zwar sehr gut zutreffen, aber ein vor allem junger Mann tat es nicht ohne Hintergedanken. Somit schrillten bei L Alarmglocken – wenn wohl nicht aus demselben Grund wie damals. „Keine Antwort darauf? Komisch. Trotzdem sollst du nicht einfach mitlesen, immerhin bist du ja nur ein Freund. Und nicht mein Freund, weil der könnte sich ja in mein Privatleben einmischen.“, meinte sie gelassen und auch ein wenig frech in seine Richtung, ehe sie sich erhob und den Karton hoch hob. L verfolgte sie mit seinen schwarzen Pupillen aufmerksam, zuckte sein Mundwinkel einmal kurz. „Du hast Recht. Ich bin nur ein Freund.“ Shaelyn schien den gewissen Unterton, der sich eingeschlichen hatte nicht bemerkt zu haben, da sie den Karton ungestört auf eine Kommode stellte und sich wieder daran machte den Baum zu schmücken. Er war unaufmerksam gewesen, was sie zu seiner Erleichterung nicht richtig mitbekommen hatte. Er konnte gerade schlecht seinen Unmut unter Kontrolle halten: L wollte wissen, wer dieser Joel war, der wohl Shaelyn den Hof machte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)