All the Wrong Reasons von Xynn (... are they the Right Decisions?) ================================================================================ Kapitel 19: Klarheit -------------------- „Es wurde für dich eine Spendenhaut bereitgestellt.“ Ein Satz, der ein paar Momente brauchte, um richtig verarbeitet zu werden. Langsam hob sie ihre rechte Hand an, hielt sie sich vor dem Mund. Es machte sie sprachlos. Ihr Herz raste, gleich auch rollte die erste Träne über ihre Wange, die an ihrem Kinn abperlte. Träumte sie? „Deine Operation wird in zwei Tagen stattfinden, allerdings hast du morgen bereits zur Besprechung einen Termin und wirst im Krankenhaus bleiben müssen. Der zuständige Arzt wird dich aufklären.“, klärte ihr Großvater sie weiter auf, und das in einem noch sanfteren Ton. Er freute sich ganz offensichtlich für sie, da er sah, wie sehr es sie zu Tränen rührte. „Ich... werde wieder Sehen...?“, brachte sie fast atemlos über ihre Lippen, welche begannen zu zittern. Shaelyn wollte sichergehen. Die Gewissheit haben, dass es wirklich wahr war. Es glich einem Wunder, weshalb sie nun ihr Gesicht in ihre Hände vergrub und dem starken Drang zu weinen nachgab. Finsternis wäre in naher Zukunft nur noch ein grässlicher Blick in die Vergangenheit. Bald konnte sie all die Farben der Welt wahrnehmen und auch ganz die dunkle Vergangenheit vergessen. Ein Neubeginn, der alles in ihrem Leben verändern würde. Watari legte behutsam seine Hand an ihrem Oberarm, da sie gar nicht mehr aufhören konnte Tränen zu vergießen. Gleich auch lehnte sie sich zu ihm, wurde sachte von ihrem Großvater umarmt, der ihr beruhigend über dem Kopf strich. „Du wirst wieder sehen, Shaelyn.“, bestätigte er ihre Worte zuvor nun. Konnte ein einzelner Tag so langsam vergehen? Shaelyn lernte kennen, was es bedeutete, sich in Geduld zu üben, wenn man etwas wirklich kaum erwarten konnte. Seit sie von ihrem Großvater diese unglaubliche Nachricht erhalten hatte, fand sie weder Schlaf oder Ruhe – und sie war still. Nicht ein Wort kam über ihre Lippen. Fürchtete sie, wenn sie begann zu erzählen, nicht mehr aufhören konnte von ihren Gefühlen und Gedanken zu reden. Es war zu viel. Wie ein Schauer in der Regenzeit, der auf sie einprasselte. Realisieren konnte man es kaum was sie empfand. Ein unaussprechliches Wunder, das sie ganz hautnah erfuhr. Die Farben waren mit der Zeit immer mehr verblasst. Eine unwirkliche Erinnerung – die bald selbst eine war. Die Erinnerung, ein Leben im Dunkeln zu führen. Wie würde der erste Sonnenaufgang aussehen? Wie der Sonnenuntergang? Und wie stark funkelten die Sterne in der Nacht? Eine glitzernde Weite aus Diamanten. All diese Anblicke waren für Shaelyn nun nicht mehr selbstverständlich. Wenn der Arzt ihr das Augenlicht schenkte, war es, als öffnete sie zum ersten Mal richtig ihre Augen. Und … dann würde sie auch Rue ganz anders sehen. Ein verstohlenes Lächeln zauberte dieser Gedanke in ihr Gesicht, gleichsam ihr Herz höher schlug. Es war so lange her, dass sie ihn das letzte Mal betrachtet hatte. Ebenso ihren Großvater, jedoch war Rue derjenige, den sie unbedingt erblicken wollte. Es war ein Wunsch, den sie tief in ihrem Herzen verspürte. Er würde sich erfüllen, das schon sehr bald. Fragen häuften sich in einem Mal an. Ob er sich äußerlich verändert hatte? Starrte er noch immer so unnachgiebig, mit seinen großen runden Augen? Waren seine Haare immer noch das reinste Chaos? Automatisch kicherte sie verhalten, hielt sich dabei die Hand vor dem Mund. Nun, seine Haare waren trotz dem Chaos weich. Wie das sein konnte, war ein Rätsel. Nein, dieser ganze Mann war ein Mysterium. Aber dennoch vollkommen in seiner Einzigartigkeit. Spielte sein geheimnisvoller Job noch eine Rolle, in der ihr Großvater mit verwickelt war? Sie wies es deutlich ab. Egal was Rue war, er würde für sie immer der bleiben, den sie kennengelernt hatte. Der Mensch, der er war. L, welcher zuvor mit dem Tilgen einiger Süßspeisen beschäftigt war, spähte zu Shaelyn hinüber, die dort auf dem Sofa saß und vor sich her kicherte. Ihr ganzes Verhalten war schon suspekt, wunderte es ihn also kaum, dass sie nun begann auch noch verhalten zu lachen. Wie konnte sich ein Mensch schon fühlen, wenn etwas bevorstand, was das Leben komplett veränderte? Deutlich zum Positiven natürlich. Der Detektiv hatte keinen Schimmer, daher beobachtete er nur still, was sie tat – denn geredet hatte sie seit der Neuigkeit nicht mehr. Sein Blick wanderte auf die Uhr, welche im Wohnzimmer vor sich her tickte. Der große Zeiger stand knapp auf der Drei, demnach war sie schon schätzungsweise acht Stunden mundtot. Zeigte sie auch keine Anzeichen einer Müdigkeit mitten in der Nacht, daher war sie folglich klar aufgeregt. Wieso jedoch sprach sie kein Wort, sondern lächelte vor sich her? „Was ist so komisch?“, schnitt L aus heiterem Himmel ein Gesprächsthema an, stopfte sich nebenbei ein kleines Schokotörtchen in den Mund. Shaelyn wandte ihren Kopf in seine Richtung, was ein sicheres Indiz dafür war, dass sie ihn wahrgenommen hatte. Somit wandelte sie wenigstens noch in der realen Welt. Plötzlich erschien ein breites Grinsen in ihrem Gesicht, was viel Freude ausstrahlte. „Ich habe an dich gedacht, Rue.“ Langsam zog der Detektiv eine Augenbraue an, die sich ohnehin unter der wirren Mähne verbarg. Das eben sollte er nicht als Kompliment ansehen, oder? „Naja, um ehrlich zu sein, habe ich mich gefragt, ob du dich verändert haben könntest. Ich freue mich sehr darauf dich wieder zu sehen. Aber eigentlich ist es egal. Mir gefällt, wie du aussiehst.“ Gut, diese Aussage konnte er nun als Kompliment einstufen. Ihr Grinsen verblasste, stattdessen formte sie ihren Mund zu einem sanften Lächeln. Woraufhin sich ebenfalls ein winziges Lächeln auf den Lippen des Detektiven stahl, was einem glatt entgangen wäre, wenn man nicht peinlich genau hinsah. Es war das erste Mal, dass er solch einen Zuspruch bekam – und es erfreute ihn tatsächlich. Wer würde es schon als unangenehm empfinden, wenn man solch ein Kompliment bekam? Vor allem von der Person, für die man aufrichtige Zuneigung empfand. „Weißt du was, Rue?!“, platzte es enthusiastisch aus ihr heraus, sodass sie wieder die volle Aufmerksamkeit vom Schwarzhaarigen erhielt. „... Was?“ „Wenn ich operiert wurde … dann möchte ich dein Gesicht als erstes sehen. Meinst du, das geht? Kannst du mir das versprechen?“ Das Erste was sie sehen wollte, war er? Sie schien es ernst zu meinen. Wäre da nur nicht ein Problem. „Du wirst die ersten Tage nur Lichter und verschwommene Formen erkennen. Es kann bis zu einem Monat dauern, bevor du ganz deine Sehkraft wiedererlangt hast. Das könnte also durchaus schwierig werden.“, klärte er sie monoton auf, beobachtete dabei gründlich ihre Gesichtsregungen – die zu seiner Verwunderung keine Enttäuschung zeigten oder ein Anzeichen von Traurigkeit. Erneut lächelte sie sachte, wandte jedoch ihr Gesicht ab. „Du hast dich schlau darüber gemacht?“, fragte sie leise in einem freundlichen Tonfall nach. Schien seine Worte zuvor zu ignorieren, worauf er jedoch im ersten Moment nicht einging. „Ja.“ Vorsichtig hoben sich ihre Mundwinkel an, bekam man den Eindruck, sie träumte oder genoss eine Brise. Wisperte sie auch im nächsten Augenblick kaum hörbar: „Wie lieb von dir, Rue...“ Die Atmosphäre im Raum wandelte sich, was selbst der Detektiv wahrnahm. Er mochte kaum Feingefühl besitzen, doch das hier bemerkte er deutlich. „Dir ist längst nicht alles egal... so, wie man es dir am Anfang ansieht.“ Unbeholfen schmunzelte sie, hob auch gleich den Kopf an, sodass man anmuten konnte, sie blickte an die Decke. „Me wa kokoro no kagami.*“ Ohne Zögern hob L seine Augenbrauen an, wunderte er sich offensichtlich darüber, dass sie soeben japanisch gesprochen hatte. Wenn auch ein wenig holprig, denn schien es vorher nicht so, dass sie der Sprache mächtig war. Ganz gleich, ob ihr Vater Japaner gewesen war. „Das Sprichwort sagte mein Vater immer. Und ich bin mir sicher, dass es bei dir auch so ist. Deshalb möchte ich dich als erstes sehen. Sehen, was man in deinen Augen erkennen kann, außer die Leere, die sie immer ausstrahlen … Du kannst doch japanisch, oder Rue?“, hakte sie zuletzt unsicher nach. Eigentlich war sie sich dem sicher, da er doch einen japanischen Namen trug. Das musste sicher eine Bedeutung haben. „Hai, mochirondes.**“, antwortete er ihr schlicht, womit er ihr zur Verstehen gab, dass er es sehr wohl verstanden hatte. Japanisch zählte ohne Frage zu seinen Sprachkünsten, wie nicht anders zu erwarten, dazu. „Fantastisch!“ Direkt klatschte sie begeistert die Hände zusammen, ließ diese aber schon kurze Zeit darauf sinken. „Aber... so gut bin ich nicht in der Sprache... war irgendwie zu schwer für mich, was mein Vater natürlich schade fand. Deswegen verstehe ich auch nur einfache Sachen...“ Shaelyn kicherte kurz, lehnte sich dann zurück an das Sofa. Sie begann von ihrer Familie zu erzählen, wohl das erste Mal richtig – und L hörte ihr gewiss zu. Es war ihr anzusehen, dass sie sich wohl fühlte und, dass sie ihm vertraute. Solche Erinnerungen würde man mit keinem einfachen Menschen teilen. „Ich sollte die Sprache lernen, damit er mich mit nach Japan nehmen konnte. Er sagte immer, wie schön der Frühling dort sei, aber der Sommer wirklich unerträglich heiß. Jedenfalls sagte er auch... es gäbe dort sein altes Familienhaus. Das eben nach dem Tod seiner Eltern leer stand. Es soll umgeben sein von Kirschbäumen und er würde mich gerne dort im Frühling im Yukata sehen. Und er sagte immer, am Besten sind japanische Männer, weshalb ich mir einen dort suchen sollte...“ Auf die Worte hin wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Wenn sie nur daran dachte, was ihr Vater ihr alles erzählt hatte und das mit einem solchen Stolz. Aber es tat gut, dass Rue ihr einfach nur zuhörte. Mehr verlangte sie im Moment nicht – auch keinen Trost. „Vieles sagte mir mein Vater... er redete gerne darüber. Seine Heimat, das Leben dort. Ihm wäre es glaube ich am Liebsten gewesen, wenn wir nach Japan gezogen wären. Außerdem bin ich der festen Meinung, er wollte mich unbedingt in eine Oberschule schicken, so oft, wie er darüber gesprochen hatte. Aber meine Mutter wollte das nicht. Oma hatte noch gelebt, bis ich... glaube ich fünf war und sie brauchte Hilfe. Und da entschieden Mam und Paps, dass sie in England bleiben. Als mein Bruder und ich eingeschult wurden, war es dann ohnehin schon zu spät.“ Shaelyn endete leise, dachte sie an ihre Familie. Wenn sie so darüber erzählte, kam es ihr wie ein schöner Traum vor, den sie gelebt hatte. Es war nah und doch fern. Nein, noch lange hatte sie den Tod ihrer engsten Familienmitglieder nicht verarbeitet. Gleichwohl es half darüber zu sprechen, auch wenn es nur ein winziger Teil war. „... Gehe ich Recht in der Annahme, dass du einmal Japan besuchen möchtest, Shaelyn?“, stellte der Schwarzhaarige diese Frage mit einer ruhigen Tonlage, besah dabei weiterhin die junge Frau, welche nun ihren Kopf in seine Richtung drehte. „Ja, sehr gerne, aber nur... wenn du mit mir mitkommst.“ Schon schenkte sie ihm ein bezauberndes Lächeln, was seine Wirkung auf den Detektiven nicht verfehlte. War sie in diesem Moment ehrlicher zu sich selbst als L zu sich, der schwach seine Lippen öffnete, ganz so als sei er verblüfft. Zu gern würde er jetzt zu ihr hinüber gehen und -. Nein, dieser Gedanke durfte nicht einmal zu Ende gedacht werden. Seit diesem Missgeschick war es schwieriger für ihn sich unter Kontrolle zu halten. Die Lösung, weshalb es so war, war simpel: Nun war er auf den Geschmack gekommen. „Würdest du zu mir kommen, Rue?“ „Nein.“ Es hatte nicht einmal zwei Sekunden gedauert, um diese Bitte abzuschlagen. Allerdings keimten kurz darauf schon minimale Gewissensbisse auf, da sie unglücklich in seine Richtung blickte. Es sah aus, als verweigerte er ihr dringende Hilfe. Unzufrieden zog er seinen Mund in eine gerade Linie. Dennoch, er würde deshalb nicht schwach werden. Man lernte aus seinen Fehlern – und erst recht der Meisterdetektiv. „Schon gut, trotzdem danke, dass du mir gerade zugehört hast.“ Kaum sprach sie dies aus, und das in einem enttäuschten Tonfall, der L nicht verborgen blieb, wandte sie ihren Kopf in die andere Richtung, schnappte sich wahlweise als Ersatz die Decke, welche sie an sich drückte und die Beine anzog. Die Decke war wirklich ein mieser Ersatz. Dabei hatte sie nur ein wenig Nähe gewollt, während sie probierte ein wenig Schlaf zu finden. Schließlich hatte sie noch Schlaf gefunden, der allerdings früh am Morgen ein Ende nahm, da ihr Großvater sie weckte. Und ganz so als knipste man einen Schalter um, war sie wie verwechselt. Die Gedanken waren kaum zu ordnen, verhaspelte sie sich andauernd in ihren Sätzen und stolperte über ihre eigenen Füße. Mit anderen Worten; Shaelyn war so aufgeregt, dass sie alles um sich herum zu vergessen schien. Dementsprechend als Watari und Shaelyn im Krankenhaus ankamen und der zuständige Arzt sie empfing, bekam sie kaum mit, was alles gesagt wurde. Meist sprach Watari mit dem Arzt, der sie im Gegenzug aufklärte was alles auf sie zu kommen könnte. Eben jene Risiken jeder Operation, besonders im Augenbereich. Sollte hier ein Fehler begangen werden, wäre sie wohl tatsächlich für immer eine Blinde. Des Weiteren müsste sie Medikamente zur Vorsicht einnehmen, damit die Chance gering gehalten werden kann, dass es abgestoßen wird. Dennoch, so versicherte man, würde alles glatt laufen. Und es war ganz so, wie es Rue ihr gesagt hatte. Sofort könne sie nur grobe Formen erkennen, Licht sowie Dunkelheit. Sollte sie ebenso die ersten zwei Wochen direktes Sonnenlicht meiden, da sie dich die Augen an alles gewöhnen müssten. Zudem wäre eine Woche mindestens angebracht im Krankenhaus zu bleiben. Doch das Alles war kein Vergleich. Selbstverständlich nahm sie es auf sich. Bald war alles vorüber, denn schon am nächsten Tag sollte die Operation stattfinden. Watari brachte Shaelyn auf ihr Zimmer, räumte ihre Kleidung aus dem kleinen Koffer, den er zuvor Zuhause gepackt hatte, in den Schrank. Im Krankenzimmer war noch ein Mädchen, etwa in demselben Alter wie Shaelyn und lag in ihrem Bett. Sie schien zu schlafen, obwohl es bereits mittags war. Leider wie sich auch herausstellte, musste ihr Großvater schon los. Mit Bedauern sagte er ihr dies, da sie nun auf sich alleine gestellt war. Sie winkte nur mit einem Lächeln ab. Er hatte wirklich viel zu tun, egal wo sie waren. Sie wollte ihn nicht aufhalten und schließlich bedeutete ihr Klinikaufenthalt nur Gutes. Und wenn sie etwas brauchte, konnte sie noch immer eine Schwester rufen. Es war Nacht und Shaelyn versuchte zu schlafen, als ein schmerzverzerrtes Stöhnen an ihre Ohren drang. Vorsichtig wandte sie ihren Kopf nach Rechts, woher dieses Geräusch kam. Man hatte ihr gesagt, dass sie sich ein Zimmer mit einem Mädchen teilte, doch war jenes bisher still gewesen. Ob das Mädchen Schmerzen hatte? Es klang ganz danach. Doch traute sich die Schwarzhaarige kaum nachzufragen, stattdessen blieb sie still im Bett liegen, hörte sich die klagenden Laute an. Irgendwann, und es kam Shaelyn wie Stunden vor, ließ das Stöhnen nach und das Bettzeug raschelte laut. Kaum war das passiert, patschte etwas auf die Fliesen und ganz automatisch wusste Shaelyn, dass das Mädchen mit ihren nackten Füßen über die Fliesen lief. Keiner kannte dieses Geräusch besser als sie, da doch Rue ohnehin fast immer barfuß war. Das Mädchen ging an ihrem Bett vorbei, schien sich ins Bad zu verziehen, da sie einen Wasserstrahl hörte. Zögerlich setzte sich Shaelyn auf und wartete auf das Mädchen, welches schon kurze Zeit darauf aus dem Bad kam und das Licht ausschaltete. „...Hallo?“, fragte Shaelyn scheu nach und erhielt sofort als Antwort ein erschrockenes Aufquitschen. Wusste das Mädchen nicht, dass sie da war? Dabei war sie doch seit Mittag im Zimmer. „...Seit wann bist du da?“ Das Mädchen war eindeutig aufgeregt, was man an ihrer Stimmlage erkennen konnte. Offensichtlich hatte Shaelyn ihr einen ordentlichen Schrecken eingejagt. „Seit heute Mittag ungefähr... geht es dir gut?“ Ihre Zimmergenossin setzte ihren Weg zaghaft fort, setzte sich auf ihr Bett, ehe sie antwortete: „Geht so. … Siehst du mich eigentlich? Du starrst so in eine Richtung.“ Shaelyn verzog den Mund kurz, lächelte dann aber. „Noch sehe ich nichts. Wird sich aber ab morgen ändern.“ „Ah, du wirst morgen operiert? Und kannst dann wieder sehen?“ Shaelyn nickte nur zur Bestätigung und bemerkte, wie das Mädchen sich wieder unter die Decke legte. „Ich wurde schon operiert, muss aber länger bleiben, weil Probleme aufgetreten sind. Die Wunde heilt nicht richtig und tut manchmal weh, weswegen ich meist im Bett bin. Sorry, wenn ich dich also geweckt habe.“ Sie hörte sich traurig an, was Shaelyn nicht entging. Was wohl passiert war? „Darf ich fragen, was du hast? Also hattest?“ „Mir haben sie die Gebärmutter herausnehmen müssen...“ „Oh... das tut mir ehrlich leid.“, sprach Shaelyn betroffen. Sie war doch im selben Alter wie sie? Dann würde sie wohl niemals Kinder haben können. Ein schrecklicher Gedanke für Shaelyn. Wünschte sie sich doch später Nachwuchs. „Dann bekomme ich eben keine Kinder.“, lachte ihre Zimmergenossin trocken und räusperte sich danach schon. „Ich heiße übrigens Emma.“ „Ich bin Shaelyn.“ Und schon jetzt wusste Shaelyn, dass sie Emma mochte. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Ryuzaki?“, sprach ihn der alte Herr am frühen Morgen an, da er doch die Anspannung vom Detektiven wahrnahm. Watari machte man schlecht etwas vor, vor allem wenn es sich um L handelte, den er seit der frühen Kindheit kannte. Der Angesprochene ließ von seinem Daumennagel ab, blickte nicht mehr aus dem Fenster vor sich, sondern zu Watari hinüber. Jener trug ein wissendes Lächeln auf seinen Lippen, als er frischen Kaffee an den Couchtisch brachte. „Kommen Sie einfach heute Nachmittag mit in die Klinik. Ich bin mir sicher, dass sich Shaelyn über Ihren Besuch freuen würde.“ Ohne eine Antwort zu geben, wandte der Detektiv sich wieder dem Fenster zu, steckte währenddessen seine Hände in die Hosentaschen. Der Sonnenaufgang war bereits angebrochen, weshalb alles in einen gelblichen Schimmer getaucht wurde. Ein Anblick, der seinen Reiz besaß – und ihn für einen kleinen Moment zum Schmunzeln brachte. Ein derartiger Gedanke wäre ihm vorher nie in den Sinn gekommen, wenn ihm Shaelyn unbekannt wäre. „Sicher wird sie das.“, verließ es in aller Ruhe seinen Mund, indes er sich herum drehte und zu seinem Sessel gelassen schlurfte. Er war schließlich derjenige, den sie als erstes wieder sehen wollte. Ihn, nicht ihren Großvater, oder etwas anderes. Alleine ihn wollte sie sehen. Und unaufgefordert erwartete sie seinen Besuch – und er wollte sich selbst davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Auch wenn sie von der Narkose noch sehr benommen wäre. Wahrscheinlich würde sie aufgrund dessen seinen Besuch nicht einmal bemerken. Als Shaelyn am Morgen abgeholt wurde, war sie mehr als verschlafen. Bestimmt hatte sie noch ein paar Stunden mit Emma geredet, ehe sie sich schlafen gelegt hatten. Aber es war schön gewesen sich mit ihr zu unterhalten. Immerhin war Emma ein Mädchen in ihrem Alter, sogar ein Jahr älter, wie sie ihr verraten hatte. Mal mit einem Mädchen zu reden war komplett verschieden und irgendwie vermisste sie es. Bisher war ihr wenig Möglichkeit gegeben worden, sich Freunde zu suchen. Ob sich das nun mit Emma änderte? Sie hoffte es wirklich. Nachdem sie in den OP gebracht wurde, waren schon alle Ärzte anwesend und legten sie schließlich schlafen. Und wenn sie dann erwachte, war nichts mehr so wie bisher. Völlig betäubt, kam Shaelyn zum Bewusstsein. Alles drehte sich und hatte sie das Gefühl verloren gegangen zu sein. Somit recht verwirrt wandte sie ihren Kopf hin und her, bemerkte dabei den dicken Verband um ihren Kopf. Vorsichtig, fasste sie danach, bekam eine Polsterung vor ihren Augen zu fassen. „Ah du bist endlich wach, Shae!“, begrüßte sie schon Emma freudig. „Was...?“ Shaelyn atmete schwer, probierte alles zu verarbeiten. „Du hast ganz schön lange geschlafen. Es war sogar schon Besuch da...“ Die Worte von ihrer Zimmergenossin drangen immer deutlicher zu ihr durch, was jedoch einen Moment brauchte, um ganz wahrgenommen zu werden. „Besuch...?“ „Ja,... ich glaube, das war dein Großvater. Ein netter alter Mann. Und...“ Emma hörte sich nachdenklich an, ganz so als sei sie unschlüssig. „Naja, so ein echt gruseliger Typ. Der hat mich kurz angestarrt und ich dachte, ich müsste sterben. … Gehört der zu dir?“ Shaelyn grinste nun so gut sie nur konnte, da ihr nun das Gesicht von Rue vorschwebte. „Ja, der gehört auch zu mir.“ „Der sah...“ Emma brach ab, war sie sich nicht sicher, ob sie aussprechen sollte, was sie dachte. Die Schwarzhaarige hingegen konnte sich in etwa vorstellen, was ihre Zimmerpartnerin sagen wollte. „Sag es schon, keine Sorge.“ „Der sah scheußlich aus. Wie ein Freak. So zerzauste Haare, schlabbrige Klamotten, diese Haltung und erst seinen Blick!“, plapperte Emma schon direkt aus und verzog das Gesicht. Genau so war auch Shaelyns Meinung zu beginn gewesen. Rue hatte tatsächlich keine gute Ausstrahlung. Jedoch wusste keiner so gut wie sie, wie aufmerksam er in Wirklichkeit war. Rue besaß durchaus auch seine guten Seiten – auch wenn er sie viel zu selten zeigte. „Der hat dich minutenlang angestarrt, was ich durch die Zimmertür sehen konnte. Wollte gerade ins Zimmer rein, als ich ihn da hab stehen sah. Hab mich nicht getraut ins Zimmer zu gehen... Und er hat dir was mitgebracht, was ich doch sehr lieb finde. Ist er dein … Freund?“ Gerade wollte Shaelyn nachfragen, was Rue ihr denn mitgebracht hatte, als sie die Frage hörte. Wie auf Knopfdruck, nahm ihr Gesicht die Farbe Rot an, zog sie gleich die Decke über den Kopf. Sofort igelte sie sich regelrecht ein. Dass es ihr peinlich war, danach gefragt zu werden, würde nun jeder Idiot bemerken. „Nein, ist er nicht...“, nuschelte Shaelyn betreten und hörte prompt das Kichern von Emma. „Hättest du aber gern?“ Sofort schlug Shaelyn die Bettdecke vom Kopf. „Nein!“, verließ es trotzig ihren Mund. Das Leben schien in ihr zurück zu kehren, fand Emma. Ob das nur an diesem Freak lag? Das war zu offensichtlich. „Ziemlich auffällig, wie du dich verhältst. Kannst mir ruhig sagen, ob du ihn magst.“ Shaelyn presste ihre Lippen aufeinander. Ihr war diese Situation unangenehm. Und wieso hielt sie wirklich jeder für ein Paar?! Dabei hatte sie doch keiner Kü-. Hochrot brach sie den Gedanken ab, da eine nur zu bekannte Erinnerung ihren Kopf flutete. „Weißt du, ich war auch mal lange in einen Typen verliebt. Er ging in die Parallelklasse... Ich dachte immer, er will nichts von mir, weil er mich irgendwie nicht beachtete. Hab mir immer eingeredet, dass es nichts wird und war deswegen wirklich deprimiert. Dann habe ich gehört, dass er wegzieht. Nach Idaho,... als er dann den letzten Tag in der Schule war, sagte er mir plötzlich, dass er schon ewig in mich verliebt wäre, sich nur nie getraut hätte. An dem Tag hab ich ihn das letzte Mal gesehen.“ Shaelyn lauschte Emmas Geschichte, zumal sie den Zwischenfall schnell vergessen wollte und fragte sich auch gleichzeitig warum sie es ihr erzählte. Es war traurig, dennoch wurde Shaelyn das Gefühl nicht los, dass sie etwas daraus lernen sollte. „Und... warum sagst du mir das?“ „Hör mal. Es ist nicht gut, seine Gefühle so lange zu verheimlichen. Irgendwann passiert dir dann auch so was. Er muss plötzlich wo hin und du würdest ihn nie wieder sehen. Dann bereust du es, ihm das nicht gesagt zu haben.“ „Aber ich bin doch gar nicht verliebt.“ „Sicher?“ Sie wollte es sofort bejahen, doch hielt sie etwas zurück. Shaelyn brachte kein Wort über ihre Lippen. Es fühlte sich falsch an die Nachfrage zu bestätigten. Dies versetze ihr einen starken Stich in die Brustgegend. Was wäre wirklich, wenn Rue plötzlich weg wäre? Was wäre, wenn Emma recht hatte? Es blieb still und das bestätigte die Annahme von Emma, die sich auf den Bettrand von Shaelyn setzte. „Ich kann deinen Geschmack zwar definitiv nicht verstehen, aber probiere es doch einfach mal... und das hier hat er dir mitgebracht.“ Emma griff auf den Nebentisch von Shaelyn, nahm den kleinen Blumenstrauß aus der Vase, reichte auch gleich ihrer Zimmerpartnerin diesen. Überrascht, öffnete Shaelyn ihren Mund, führte die Blumen gleich zu ihrer Nase. Voller Sehnsucht nahm sie den Duft der Blumen in sich auf. „Wenn du mich fragst, finde ich die rote Rose in der Mitte am Schönsten.“, meinte Emma erheitert. Eine Rose. Ja, den Duft hatte sie sofort wahrnehmen können. Es erinnerte sie direkt an den Tag, als er sie zum Reden gebracht hatte. Sein Versuch sie mit Blumen anzuregen, das Gespräch und der Wangenkuss, der ihn völlig aus der Bahn geworfen hatte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, auch klopfte es wild in ihrer Brust. Was wäre, wenn er tatsächlich ihr Herz gestohlen hatte und es nicht mehr herausrückte? Für den Rest des Tages war Bettruhe verordnet, wurde nur kurz nach den beiden jungen Frauen gesehen, ehe es schon Abend war. Shaelyn war seit dem Gespräch mit Emma zurückhaltend gewesen, hing sie mehr ihren Gedanken nach, was auch ihre Zimmerpartnerin bemerkte. Es wäre besser, Shaelyn für den Rest des Tages einmal nachdenken zu lassen. Vielleicht wurde sie sich dann bewusst, was Emma auf den ersten Blick hatte erkennen können. Und auch ihre weibliche Intuition versicherte ihr, dass sie nicht falsch lag. Wobei sie sich mehr fragte, wie man sich in einen solchen Typen verlieben konnte. Bis auf die Blumen, was eine liebe Geste war, konnte sie rein gar nichts Positives erkennen. Ob das wirklich gut ging? Obwohl sich Emma eingestehen musste, dass Shaelyn ihn vielleicht anders wahrnahm. Wenn man blind war, zählten andere Dinge, als das Aussehen. Und wenn man vernarrt in jemanden war, dann konnte er der Schönste auf der Welt sein. Der nächste Tag brach an und man wurde gleich von einer Schwester geweckt, die das Essen brachte. Shaelyn, die das Gefühl hatte bereits ausgehungert zu sein, stürzte sich regelrecht auf das Frühstück. Gestern durfte sie wegen der Narkose nichts zu sich nehmen. Heute sah es natürlich anders aus. „Wenn man dich beim Essen sieht, könnte man denken, du bist kurz vor dem Verhungern.“, belustigte sich Emma vergnügt und kicherte ausgelassen. „So fühle ich mich auch!“, bestätigte Shaelyn, während sie weiter aß. Und kaum war das Frühstück vorbei, ließ sich Shaelyn zurück ins Kissen fallen. Wenn sie richtig verstanden hatte am Vortag, würde man ihr heute den Verband abnehmen und nachsehen, ob alles korrekt verheilte. Das hieß, dass sie heute Dunkel von Hell unterscheiden konnte? Mit einem breiten Grinsen zog sie die Decke höher. Wenn man sie so sah, bekam man schnell den Eindruck, als würde sie etwas ausfressen. Doch derlei Gedanken fanden rasch ein Ende. Emma setzte sich erneut auf Shaelyns Bettrand und räusperte sich. „Hast... du dich entschieden?“ Die vorsichtige Stimme Emmas traf Shaelyn wie ein Schlag. Egal wie behutsam sie es hätte aussprechen können, doch dieses Thema war zu empfindlich. „Nein... was soll ich da auch entscheiden? Was ist so wichtig daran?“ „... einfach alles.“, folgte es prompt von ihrer Zimmergenossin, was Shaelyn zum Stutzen brachte. „Wieso?“, hakte die junge unsichere Frau nach, woraufhin ein kleines Seufzen zu hören war. „Wenn du dir nicht selbst bewusst wirst, was du eigentlich fühlst, wird es dich immer verfolgen. Verstehst du, Shae?“ Die Angesprochene enthielt sich einer Antwort, drehte nur ihren Kopf zur anderen Seite. Emma würde nie verstehen, was sie fühlte. Es war zu kompliziert. All die Erlebnisse, die seit einem Jahr vorgefallen waren. Und sie selbst hatte Rue zu oft enttäuscht und mit hineingezogen. Wie konnte sie daran denken sich in ihn zu verlieben? Er war nur ihr … Bruder? „Ich möchte dich zu nichts Zwingen. Aber hast du dich einmal gefragt wie es wäre, wenn du offen das sagst, was du fühlst?“ „ Ich weiß nicht was ich fühle. Er ist wie mein Bruder.“ Nun war es an Emma, welche gewaltig stutzte und die Stirn stark runzelte. „Bruder? Seid ihr verwandt?“ „Nein...“, flüstere Shaelyn schon fast. Wenn sie dies aussprach hatte sie das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Als fehlte etwas Wichtiges, wenn sie sich das vor Augen führte. „Ich werde dir jetzt Fragen stellen, Shaelyn. Und ich möchte, dass du sie dir selbst beantwortest und zwar ehrlich.“, begann Emma ernst und setzte sich ganz auf das Bett. Sie kannte Shaelyn erst seit Gestern, daher stand es ihr nicht zu, solch private Dinge auszufragen, doch konnte sie so damit wenigstens ein wenig helfen. Außerdem hatte sie sie gern. „Was fühlst du, wenn er in deiner Nähe ist? Was wünscht du dir, wenn er dich berührt?“ Emma setzte für einen Moment aus, holte noch einmal tief Luft. „Wenn er mehr für dich ist als ein Bruder, dann spürst du es in deiner Brust. Wenn dein Herz wie wild klopft, wenn er nahe ist, oder du nur seine Stimme hörst. Wenn du ständig an ihn denken musst, dir wünscht, dass er bei dir sein soll. Oder... du dir wünscht, wenn es auch nur einmal wäre, ihn zu sehen. Fühlst du dich glücklich, wenn er dir Aufmerksamkeit schenkt? Vergiss all die anderen Sachen, die in deinem Kopf herum spuken. Konzentriere dich auf das, was du wirklich möchtest.“ Nervös spielte Shaelyn an der Decke, während sie all die Worte in sich aufnahm. Was sie wollte? Shaelyn wagte es kaum zu atmen, da sie im Grunde wusste, was es war. Oft genug hatte sie es selbst gesagt, aber in diesem Zusammenhang, ergab es etwas völlig Neues. „Ah, da ist ja mein kleiner Engel!“ Nicht nur Shaelyn fuhr erschrocken herum, sondern auch Emma, die gleich zur Türe blickte. „Hi, Dad.“, meinte sie nur mit einem schiefen Lächeln. Der Zeitpunkt war mehr als ungünstig. Aber solches Timing besaß ihr Vater nun einmal. „Komm, mach dich fertig. In der Cafeteria wartet noch deine ganze Familie!“ Überrascht blinzelte Emma, ehe sie vom Bett aufstand. „Sorry, Shae. Ich muss dann mal. Bis später.“, sagte sie dann noch, lehnte sich jedoch danach noch ein Stück zu Shaelyn hinunter. „Und denk' mal drüber nach.“, fügte sie noch hinzu und verschwand vom Bett. Zurück blieb Shaelyn, welche sich an den Kopf fasste. All das was ihr gesagt wurde, ließ nur einen Schluss zu. Den sie nicht einmal wagte zu denken. Was lief nur falsch in ihrem Kopf?! Es vergingen zwei Stunden, als die Türe zum Zimmer geöffnet wurde. Shaelyn rechnete fest mit Emma, doch merkte sie schnell, dass es ein Arzt sein musste. Denn wies eine männliche Stimme eine Schwester an, noch etwas holen zu gehen. „Wie geht es Ihnen heute, Miss Suzuki?“, sprach sie dann der Arzt freundlich an und sie setzte sich automatisch auf. „Gut... ich habe keine Schmerzen.“ „Das ist eine erfreuliche Nachricht. Ich bin gekommen um Ihnen den Verband abzunehmen und zu kontrollieren. Sind Sie bereit?“ Shaelyn sog hastig die Luft ein. Mit einem Mal war sie unfähig zu sprechen. War es nun soweit? Endlich? Nach so vielen Monaten im Dunkeln? Die Schritte hallten durch das Zimmer und Shaelyn verkrampfte aus Reflex, doch entfernten sich die Schritte. Verwirrt wandte sie ihren Kopf von der einen Seite, zur Anderen. Was tat der Arzt da? Dann folgte schon ein Rasseln, ganz so als schob der Arzt die Vorhänge zu. Direkt verstand Shaelyn, was der Arzt tat. Man hatte ihr gesagt, dass sie nur in schwach beleuchtete Räume sein sollte um die Augen zu schonen. Nun war es also tatsächlich gekommen – und sie hielt die Aufregung kaum aus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, kaute sie nervös auf ihrer Unterlippe herum. Doch Halt! Wo war ihr Großvater? Und viel wichtiger war, … wo war Rue? Alleine der Gedanke an seinen Namen, spannte sie weiter an. Nein, es war vielleicht doch so besser. Wieso sollte sie ihn schon als erstes Sehen wollen? Außerdem konnte sie eh kaum Sehen, richtig? Es klang wie ein verzweifelter Versuch all das rechtfertigen zu können. Mehr mit ihren Gedanken beschäftigt gluckste sie erschrocken auf, als der Arzt sie erneut ansprach: „Ich werde Ihnen jetzt den Verband abnehmen. Bitte halten ihre Augen geschlossen, wenn Sie merken, dass ich die Binde löse.“ Shaelyn glaubte, ihr Herz sprang gleich aus der Brust, da sie schon die Finger an ihrem Kopf fühlen konnte. Wie ein Stein, verharrte sie auf der Stelle. Es war soweit! Doch plötzlich hielt der Arzt inne, kurz bevor der Stoff ganz entfernt war. Das war alles was Shaelyn mitbekam, da pures Chaos in ihr herrschte. „Ah, Sie kommen genau richtig. Ich wollte gerade miss Suzuki den Verband abnehmen. Sie können sich das Ergebnis selbst gleich ansehen.“, meinte der Arzt freundlich und der Groschen fiel. Ihr Großvater war da! Etwa nur er?! Sie wusste nicht mehr wo ihr Kopf stand. Denn nicht einmal die Schritte hatte sie wahrgenommen. Es blieb still, so als wartete selbst ihr Großvater nun ebenfalls schweigsam auf das Ergebnis. Die Spannung war zum Zerreißen. Ehe der Arzt mit seiner Arbeit fortfuhr und das letzte Stück Stoff fiel. Der Moment war gekommen. Jener, den sie so lange entgegen gefiebert hatte. Sie brauchte nur ihre Augen öffnen und schon würde sie Licht erkennen. Grobe Formen, verschwommene Farben – und dennoch konnte es nicht schöner sein. Und mit jeder Stunde würde es sich langsam bessern. Was würde sie tun, wenn sie wieder voll Sehen konnte? Es gab so viel, das wieder möglich wäre. Shaelyn konnte es nicht mehr abwarten, all die Sachen zu tun, von denen sie seit mehr als einem halben Jahr träumte. „Bitte, öffnen Sie jetzt vorsichtig ihre Augen.“, erteilte der Arzt ihr und kaum war das ausgesprochen, spreizte sie langsam die Lider auseinander. Hell. Es war tatsächlich hell. Dann konnte sie eine Bewegung Rechts von sich ausmachen, sodass sie ruckartig ihren Kopf herumdrehte und nach oben hob. Es war nur ein Farbenspiel aus Weiß, Schwarz, Schatten, die sich bewegten. Trotzdem. Shaelyn konnte etwas wahrnehmen! „Können Sie jemanden erkennen?“, fragte sie der Arzt sachte und erst wollte sie antworten, fiel ihr auf, dass die Stimme plötzlich aus einer ganz anderen Richtung kam, als das was sie vor sich sah. War das nicht der Arzt vor ihr? „Ich ...“ Die Schwarzhaarige brach ab, hob nun doch ihre Hände und streckte sie nach der Person vor sich aus. War es der, den sie vermutete? Nein, oder? Aufgeregt und mit zittrigen Händen fasste sie an den Oberkörper jener Person, die an ihrem Bett stand. Jener Person, der sie ins Gesicht schauen müsste. Angestrengt verengte sie die Augenlider, konzentrierte sich auf ihren Sehsinn. Dann spürte sie große Hände an den ihren, die sie umschlossen. Sofort war ihr bewusst, wer an ihrem Bett stand – und ohne ein Wort zu verlieren, bahnte sich eine Träne über ihre Wange. Rue hatte sein Versprechen eingehalten. Auch wenn sie nichts richtig erkennen konnte, war er doch das erste, was sie mit ihrem Augenlicht wahrgenommen hatte. „Danke.“, flüsterte Shaelyn mit einem einzigartigen Lächeln auf den Lippen. Er würde sich nie vorstellen können, was das für sie bedeutete. „Schon gut, allerdings du solltest dich nun untersuchen lassen.“, kam es monoton von Gegenüber. Ja, der Schatten vor ihr war Rue und niemand anderes. Mit einem vergnügten Gesicht ließ sie von ihm ab, drehte sich gehorsam zur anderen Seite, wo der Arzt bereits gewartet hatte. Dieser besah sich die Augen genau, ehe er zufrieden von Shaelyn Abstand nahm. „Die Wunde sieht gut aus. Trotzdem werden Sie noch hier bleiben müssen zur Sicherheit. Sollten Sie Schmerzen haben, dann rufen Sie sofort nach einer Schwester.“, klärte der Arzt die Patientin auf und ließ sich im selben Moment von der Schwester ein kleines Schälchen geben. „Sie müssen ab jetzt dieses Medikament zwei Wochen lang, jeden Tag einmal einnehmen. Das vermindert die Chance einer Abstoßung, so wie ich es Ihnen bereits gesagt habe.“ Brav nahm Shaelyn ihre Medizin ein, während sie versuchte ihre Umgebung weiter wahrzunehmen. „Doktor, haben Sie einen Moment?“, hörte die Schwarzhaarige zum ersten Mal die Stimme ihres Großvaters, versuchte ihn auch auszumachen. Doch das Einzige was sie mitbekam war, wie Schritte aus dem Zimmer getan wurden. Wieso ging ihr Großvater mit dem Arzt hinaus? Und viel wichtiger war, war sie nun nicht alleine mit Rue? Sofort tat ihr Herz einen großen Sprung. All die Gedanken holten sie in einem Mal ein. Was sollte sie jetzt tun? Ihr war ihr vorheriges Verhalten nun äußerst peinlich. L, der sich die Szene still mit ansah, konnte sich bereits vorstellen, was Watari vorhatte – und es gefiel ihm nicht. Plötzlich regte sich Shaelyn auf dem Bett, rutschte sie zum Bettrand, sodass sie mit dem Rücken zu ihm saß. Mit Skepsis beäugte er das Schauspiel. Denn würde sie nicht unter normalen Umständen direkt das Wort an ihn richten? Oder sich in seine Richtung setzen? Die Anspannung war zu fühlen. Etwas stimmte hier nicht – und er würde Recht behalten. „D-Danke... für den Blumenstrauß. War sehr lieb von dir.“ Täuschte er sich, oder weshalb benahm sie sich nun so schüchtern? Das war absolut nicht üblich. Schon führte der Detektiv seinen Daumen an den Mund und dachte angestrengt nach. Er hatte sich ihr gegenüber nicht anders verhalten als für gewöhnlich. „Gibt es etwas, was du mir sonst noch sagen willst, Shaelyn?“, sprach er sie nüchtern und unverblümt an, was voll ins Schwarze traf. Augenblicklich zuckte sie zusammen. „W-was?! Nein, nein!“, kam es prompt und sie lachte unsicher. Unbeeindruckt von ihren Worten, nahm er sich erst einmal ein Bonbon aus der Tasche, steckte es sich in den Mund und starrte währenddessen unablässig auf ihren Rücken. Alleine ihre verkrampfte Haltung gab ihm schon Aufschluss. „Solltest du dich nicht freuen, anstatt über Dinge nachzudenken, die -“ „Was wäre-!“, unterbrach sie ihn lautstark, sodass er überrascht die Augen weitete und seinen Mund wieder schloss. „Was wäre, wenn ...“ Voller Aufregung musste sie kurz inne halten, Luft schnappen und sich an die Brust fassen. Sie schaffte es schon kaum den Satz gedanklich zu Ende zu bringen.„Wenn?“, forderte er sie umgehend auf, da sie sich schön Zeit ließ. „Lass mich doch ausreden! Das ist schwer genug!“, meckerte sie und drehte ihren Oberkörper in einem Schwung um, sodass selbst ihre Haare zeitweise aufwirbelten. Die nun tiefgrünen Augen funkelten verärgert in seine Richtung, ehe der Ausdruck nachließ und sie den Kopf senkte. „Was wäre, wenn … ich mich i-in d-d-dich...“, stotterte sie leise und undeutlich los und fasste sich schon mit einer Hand an den Mund. L beugte sich leicht vor, zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Worte waren sehr undeutlich gewesen, weshalb er versuchte genauer hinzuhören, während er verstärkt am Bonbon lutschte. „Das ist zu peinlich!“, rief sie hochrot aus und hielt sich gleich das Gesicht mit ihren Händen, wandte sich auch um. Verstört stierte der Schwarzhaarige auf den Rücken von Shaelyn. „Was...?“, hakte er matt nach und neigte seinen Kopf ein wenig schief. „Na das eben! Und jetzt! Und überhaupt! Du machst mich ganz ver-“ Sofort brach Shaelyn ab. Was war sie denn im Begriff zu sagen?! „Verärgert! So!“, wich sie aus, ganz ohne einen Gedanken, was sie eigentlich von sich gab. Irgendwie verstand L überhaupt nichts mehr und das hieß schon etwas. Er machte sie ganz verärgert? Ging es ihr wirklich gut? „Geht es dir gut, Shaelyn? Du solltest dich vielleicht noch einmal untersuchen lassen.“ „Du Dummkopf! Du verstehst gar nichts! Feingefühl von einem Brot! Nein! Nichtmal einem Stück Brot!“ Das reinste Chaos war in ihr ausgebrochen. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn und ihr Verstand kreiste immer nur um ein Wort: Verliebt. Wieso konnte sie es nicht sagen, obwohl es nur rein hypothetisch war? Shaelyn raufte sich die Haare, brachte ihre ohnehin ungekämmten Haare, noch mehr durcheinander. Großer Gott, sie war dabei ihren Verstand zu verlieren. Jedenfalls war das die Auffassung des Detektiven, da sie nur wirre Worte von sich gab. „Beruhige dich, Shaelyn.“, wirkte er mit Bedacht auf sie ein und ging um das Bett herum. Dies entging, trotz der Aufregung, ihr nicht. Schlagartig stoppte sie, starrte in seine Richtung. Der Schatten bewegte sich auf sie zu, und je näher er kam, desto stockender atmete sie. Als er vor ihr stand, öffnete sie stumm ihren Mund. Hörte er vielleicht ihren Herzschlag? Er war so laut, er musste ihn hören. „Hier, nimm die, dann geht es dir besser.“, vernahm sie seine Stimme durch einen Schleier, spürte seine Hand an der ihren und schließlich wie er ihr etwas in die Hand legte. Verwundert befühlte sie das Etwas in ihrer Hand, blickte auch hinunter auf ihre Handfläche. Mit einem Lächeln musste sie feststellen, dass er ihr Süßes gab. Was auch sonst? Shaelyn musste aus einem Impuls heraus kichern, was sie ein wenig entspannte. Gleichzeitig wurde sie sich etwas bewusst, während sie das Bonbon umschloss und zu ihrem Oberkörper führte. Es machte keinen Sinn sich dagegen zu verschließen – wenn es doch jetzt selbst für sie so offensichtlich zu erkennen war. Shaelyn war tatsächlich lange blind gewesen. Blind gegenüber ihren Empfindungen. Rue war für sie kein Bruder. Sondern etwas anderes sehr Besonderes. Sie war verliebt. Endlich hatte sie es erkannt und ließ es vollkommen zu. Nur für Rue schlug hier Herz so hoch – und noch nie war es so intensiv gewesen. Die Augen sind der Spiegel der Seele* Ja, selbstverständlich.** ~~~ Ich möchte die Gelegenheit nutzen und all meinen treuen Lesern, sowie besonders meinen Kommischreibern danken. Ihr seid die Besten! Habt vielen vielen Dank für eure Unterstützung! Ihr versüßt mir meinen Tag ;) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)