Fortissimo von halfJack ================================================================================ Kapitel 9: 9. Satz: Ritenente ----------------------------- 9. Satz: Ritenente (im Tempo zurückhaltend, zögernd) „...hat es in der Innenstadt eine Massenkarambolage von derartigem Ausmaß seit fünf Jahren nicht mehr gegeben. Am Ort des Geschehens fand man mehrere Kirschkerne, doch machte die Polizei keine großen Hoffnungen, dass eine Analyse der DNA auf die Täter...“ Fernsehgeräusche überdeckten die angestaute Stille im Raum. In Tatsuhas Apartment war es nicht deshalb still, weil er allein war, sondern weil weder sein Gast noch er selbst etwas sagte. Ryuichi saß auf dem Boden und starrte abwesend auf das eingeschaltete Gerät, während gerade die Nachrichten liefen. Hingeworfen wie ein unbedeutendes Ding lag Kumagoro schlaff zwischen ihnen. Eine Hand wanderte über die glatten Rillen der vergilbten Strohmatte zu dem Hasen hinüber. Sie reckte und streckte sich ein wenig, bis sie eines der langen Ohren zu fassen bekam. Aufmerksam werdend folgten Ryuichis Augen der Hand und dem Stofftier, welches Stück für Stück über den Boden gezogen wurde, als handelte es sich hierbei um das Opfer einer heimlichen Entführung. Mit einem Ruck sprang Kumagoro in die Höhe, wirbelte einmal um die eigene Achse und landete sicher in Tatsuhas Händen. Das Fernsehflimmern zeichnete weiche Konturen auf sein jugendliches Gesicht, während er rücklings auf der Matte vor dem Fenster liegend Kumagoro in die Luft hielt, die schwarz glänzende Nase mit dem Zeigefinger anstubste, über den weichen Plüschstoff strich und sich ein rosa Hasenohr um den Daumen wickelte, das sich ein bisschen klamm anfühlte, weil vor kurzem noch darauf herumgekaut worden war. Ohne sich dem Teenager vollständig zuzuwenden, beobachtete Ryuichi ihn eine Weile aus dem Augenwinkel. Tatsuha bemerkte es nicht. Er spielte gedankenversunken mit Kumagoro, zupfte an seinen Gliedmaßen, dem knollenartigen Stummelschwanz und der roten Fliege, als sei dieses leblose Plüschtier für ihn das einzig Erreichbare. Ein Spiel. Das hatte Tatsuha bei ihrem ersten Aufeinandertreffen aus seiner Bekanntschaft mit Ryuichi Sakuma machen wollen. Ein Kräftemessen, einen Eroberungswettstreit und einen Sieg. Mittlerweile, da der berühmte Sänger immer häufiger in seiner Wohnung auftauchte, besaß Tatsuha weit mehr, als er sich je erhoffen konnte, und wusste dennoch nicht weiter. „Es ist lange her, dass ich einen richtigen Winter erlebt habe.“ Verwundert blickte Tatsuha auf, als er die unvermittelten Worte vernahm. Auf dem niedrigen Tisch angelte sich Ryuichi einen Kugelschreiber, bevor er zu Tatsuha hinüberkrabbelte und dessen Arm ergriff. Vor Schreck ließ dieser den Hasen fallen. „Was... was tust du da?“ „Komponieren“, antwortete Ryuichi und malte mit dem Kugelschreiber ein paar Noten auf Tatsuhas Unterarm, einige Textzeilen begleiteten die notierte Melodie. „Kannst du das nicht woanders?“, fragte Tatsuha lachend. „Aus den Klamotten wäscht sich Kugelschreiberfarbe schlecht heraus. Oder soll ich auf deine Tatami malen?“ „Ist es wenigstens ein Song an mich?“ Ryuichi zögerte, formte aus dem begonnenen Schriftzeichen mit der Minenspitze einen Kringel, der am Ellbogen endete. Den anderen Arm hebend glitt Tatsuha sacht durch die Haarsträhnen des Sängers und löste dessen Stirnband. „Und wenn nicht?“, fragte Ryuichi endlich. „Du meinst, wenn du ihn wieder nur wegen deines Wettstreits komponierst? Wenn du ihn eigentlich für eine Band schreibst, die nicht deine eigene ist?“ „Du kennst mich ziemlich gut, hm?“ Das Grinsen auf Ryuichis Lippen erlosch, als Tatsuha sich abrupt aufrichtete, ihn an den Schultern packte, hinabdrückte und somit unter seinen eigenen Körper brachte. Zur Abwechslung mischte sich in die Überheblichkeit auf dem Gesicht des jungen Priesters keine Siegesgewissheit, sondern Zweifel. „Obwohl Shuichi nicht da ist, steht er uns ständig im Weg“, meinte er aufgebracht, bemüht darum, seine Verärgerung nicht offen zur Schau zu stellen, was ihm gründlich misslang. „Er ist nie da und scheint doch permanent anwesend zu sein.“ Unter dem Gewicht von Tatsuhas Körper tastete Ryuichi mit der Hand über den Boden, fand die zerknitterten Seiten einer alten Zeitschrift, dann ein Bein von Kumagoro. „Weißt du überhaupt, wie gut sich Shuichi Shindo anfühlt, wenn man ihn im Arm hält?“, fragte Tatsuha, seine Emotionen unter Kontrolle bringend, nun sanft. Schweigend fand Ryuichi die Fernbedienung, den weggerollten Kugelschreiber. „Weißt du, wie es sich anhört, wenn seine sonst so klare Stimme vor Erregung heiser wird?“, raunte Tatsuha dicht an seinem Ohr, bevor er mit den Zähnen eine von Ryuichis Kreolen erhaschte. „Woher willst du das denn wissen?“, flüsterte der Sänger und fand mit ausgestreckter Hand zwei rund geformte, parallel übereinander angebrachte Metallbänder, die er leise klirrend an sich nahm. „Ich habe mich an Shuichi herangemacht, weil er dir so ähnlich ist. Und während ich ihn küsste, stellte ich mir vor, dass du es wärst.“ „Das meinte ich nicht, Tatsuha-kun.“ Die Augen schließend spürte Ryuichi den warmen Atem kitzelnd an seiner Halsbeuge. „Woher willst du wissen, dass ich das von ihm will?“ Tatsuha hielt inne, richtete sich halb auf, um in der unergründlichen Mimik und dem zur Schau getragenen Lächeln eine Alternative lesen zu können. Ihm war klar, dass sie vorhanden sein musste, doch seine Eifersucht verwehrte ihm den Blick darauf. „Ich würde dir jetzt gern wehtun“, gestand er mit unüberhörbarem Trotz in der Stimme, „aber nicht, solange du hilflos bist. Was muss ich tun, um den anderen Ryuichi zu bekommen?“ Keine Antwort konnte die Situation im freien Fall auffangen, denn stattdessen ermächtigten sich die Lautsprecher des Fernsehers, die Auseinandersetzung zu unterbrechen. Nun erst kam den beiden Männern der sowohl fremde als auch vertraute Klangteppich zu Bewusstsein, der vor wenigen Sekunden eingesetzt hatte. Jener klare und überschwängliche Gesang. „Don’t you believe mind?“ Sie hörten es und hörten es doch nicht, gedämpft durch das glatte Material der Tatami, begleitet von den Umgebungsgeräuschen, die kaum erstickt durch die dünnen Wände sowie das Fenster drangen, und zuletzt erfüllt von der Melodie des Liedes aus dem Fernseher. Unter der Vermischung all dieser Töne verschwand der dumpfe Laut ihres Gerangels fast vollständig. „Can you believe lie?“ Shuichis Stimme im Ohr war beiden noch schwindlig vom Sturz und ihrem plötzlichen Wechsel. Tatsuha spürte den Boden in seinem Rücken, Hände auf seinem Brustkorb, ein Knie auf seinem Oberschenkel, Umklammerungen an den Handgelenken, die seine Arme über dem Kopf festhielten. Er kannte nicht einmal den Titel des Songs, der soeben von Bad Luck gespielt wurde. Gar nichts mehr kennend nahm Tatsuha allein den veränderten Ausdruck in Ryuichis Augen wahr. Ein Lied, von dem er den Namen nicht kannte. Ein Sänger, dessen wahre Persönlichkeit er nicht kannte. Und eine Stimme, die ihm in kühler Belustigung sagte: „Zerstör mich doch, wenn du kannst.“ „Glaub mir, das...“ „Ich gebe dir dafür einen Tipp“, schnitt Ryuichi ihm das Wort ab, ersetzte geschwind seinen eigenen Griff durch die Handschellen, die er vorhin in Reichweite gefunden hatte, und kettete Tatsuha an die Leitung der neben dem Fenster befindlichen Heizung. „Du solltest es besser schaffen, bevor ich es bei dir schaffe.“ Perplex wollte sich Tatsuha aufrichten. Seine festgeketteten Handgelenke verhinderten dies allerdings ruckartig. Stumm, reglos und zu verwirrt, um anders zu reagieren, erlaubte er Ryuichi ohne Gegenwehr, weitere Zeilen auf seinen Unterarm zu schreiben. Zeichen um Zeichen, Note um Note vollführte dieser seine Komposition auf Tatsuhas nackter Haut, bis der Song von Bad Luck zu einem Ende kam. „Rühr dich nicht“, befahl Ryuichi knapp und erhob sich. Nachdenklich blieb er eine Weile breitbeinig über Tatsuha stehen, klickte ungeduldig mit dem Kugelschreiber und betrachtete die blauen Linien, mit denen er seinen jungen Freund verziert hatte. Anschließend schaute Ryuichi ihm lächelnd ins Gesicht. „Warte bitte hier auf mich, Tatsuha-kun. Ich brauche dich noch.“ „Noch?“ Tatsuha konnte nicht verhindern, dass sich seine Stimme überschlug, beinahe panisch wirkte. Doch Ryuichi drehte sich bereits um, warf den Kugelschreiber achtlos in eine Ecke und lief zügig zur Ausgangstür. „Danke übrigens für den Schlüssel.“ „Ryuichi?“ „Du bist ein Dummkopf, Tatsuha-kun.“ „Ryuichi, geh nicht!“ „Pass gut auf ihn auf, Kuma-chan.“ „Ryuichi, warte! Komm zurück...“ Er lief durch die Stadt und stellte sich vor, er sei in Amerika. Grelle Reklametafeln. Das war ähnlich, wenn auch ein bisschen zu überladen. Straßenlärm. Auch das war ähnlich, dennoch war das Verkehrssystem spiegelverkehrt. Verkehrter Verkehr, dachte Ryuichi und lachte kurz über seine widersinnigen Überlegungen. Sakuma fand das natürlich gar nicht lustig. Anfangs eine Melodie pfeifend begann Ryuichi bald zu singen. „I wrote this novel just for you.“ Tatsuha war wirklich ein Dummkopf. Wollte nichts sehen, nichts verstehen. Was willst du denn mit ihm?, fuhr Sakuma ihn unwirsch an. „That’s why it’s vulgar, that’s why it’s blue.“ Japan war nicht Amerika und Tokyo nicht Hollywood. Tatsuha sah so vieles nicht. Aber er sah Dinge, die andere Leute nicht sahen. Geister zum Beispiel. Gespenster, die sich unter der Oberfläche versteckten. Gespenster, die Furcht und Fernweh hießen. „I read a book about the self“, sang Ryuichi und achtete nicht auf entgegenkommende Passanten, „said I should get expensive help.“ Blue, so nannte man in englischer Sprache das Gefühl von Traurigkeit. Irgendwo in Europa bezeichnete man damit Taumel und Trunkenheit. In Japan hingegen meinte man damit bloß jene Ampelfarbe, bei der man gehen durfte. „Go, fix my head, create some wealth, put my neurosis on a shelf.“ Meerblau. Himmelblau. Tokyo war nicht Hollywood. „But I don’t care for myself.“ Irgendwann wusste Ryuichi nicht mehr, wie lange er durch die Stadt gelaufen war. Niemals erlosch das Licht gänzlich. Niemals waren die Straßen völlig menschenleer. Sie wurden nur weniger. Weniger Lichter. Weniger Menschen. „I don’t care for myself.“ Mitten in der Nacht verlor sich Ryuichi im Untergrund, bei der Untergrundbahn, zwischen komplizierten Fahrkartenautomaten und an gekachelten Wänden befestigten Plänen, die anhand bunter, verworrener Stränge das Verbindungsnetz erklärten. „I don’t care.“ Einige Münzen Kleingeld in der geöffneten Handfläche musste Ryuichi hilflos feststellen, dass er nicht weiterkam. Der letzte Zug war längst abgefahren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)