Fortissimo von halfJack ================================================================================ Kapitel 3: 3. Satz: Forte ------------------------- 3. Satz: Forte (laut, starke Klangfülle, kräftig) Flimmern. Flimmern. Flimmern auf dem Bildschirm. Gebannt verfolgte Ryuichi das Geschehen auf dem Monitor. „Blind game again!“ Ein grelles Outfit. Gefärbtes Haar. Die gleiche Frisur. „Don’t let me down.“ Ryuichi schmeckte Blut, als er sich von innen auf die Wangen biss. „Cry for the sun.“ Seine Knöchel schmerzten, als er mit der Faust gegen die Kommode neben dem Bett schlug. „...Auftritte von Bad Luck in Sapporo, Nagoya, Osaka, Hiroshima, Fukuoka und der Ariake Arena in Tokyo. Der unglaubliche Erfolg dieser Band...“ Laut krachend landete das Fernsehgerät auf dem Boden. Der Bildschirm zerbrach. Das Bild wurde schwarz. Ein paar Sekunden vergingen, bis es verhalten an der Tür klopfte. „May I help you?“, erkundigte sich der Zimmerservice gedämpft. „Sorry, I just broke the television.” Der Sänger setzte eine souverän entschuldigende Mimik auf. „There was a fly. I had to kill it.” Die Stimme kam von irgendwoher. „Es ist toll, dass ihr wieder angefangen habt.“ Ryuichi lächelte, schloss dabei unbeteiligt die Augen und spielte mit der Kette um seinen Hals. Wer war das nur? „Endlich kehren Nettle Grasper in das Rampenlicht zurück.“ Dadurch konnte Ryuichi wieder singen. War das gut? Ja, das war gut. Er grinste noch breiter. Kumagoro lag auf seinem Arm und im Hinterkopf hörte er Sakumas Stimme. Du musst es beweisen, sagte dieser, du musst deine Stärke beweisen, lass mich für dich einspringen, deine Stärke ist wichtig und ich mache das schon für dich. „Toma, Noriko-chan und ich machen das schon“, bestätigte er selbstsicher. Das Licht blendete. Er spürte die Menschen, die hinter ihm standen. Und nahm sie doch nicht wahr. Hier war er allein. Nur Sakuma stand an seiner Seite. War in ihm. Für ihn. „Der nächste Song trägt den Titel Unreal Freedom.“ Ryuichis Stimme klang zuversichtlich. Er stand auf der Bühne und schaute in die Menge. Er versuchte ihnen zu zeigen, dass er sie wahrnahm. Doch es war nichts als Lüge. Das Scheinwerferlicht war zu grell, um die einzelnen Gesichter der jungen Mädchen und all der anderen Fans noch sehen zu können. Wozu auch? Es spielte keine Rolle. „We are crawling for death“, sang er mit einer Stimme, die keine Traurigkeit, sondern nur pure Stärke verkörperte, „to never let our life begin. There will be just one turn.“ Er öffnete die Augen, da er erst jetzt bemerkte, dass er sie die ganze Zeit geschlossen hatte. Dadurch hätte man fast denken können, er habe Angst. Doch er hatte keine Angst, das musste er beweisen. „This is you. Betrayed and killed by Innocence.” Wie sehr hatte er vermisst, auf der Bühne zu stehen. „Crushed by this freedom in chains.” Und ganz allein zu sein. „Carried by the wind to let us down.” Das Licht war nicht mehr so hell. Die Scheinwerfer tauchten die Bühne in eine sanfte blaue Farbe. „Crushed by the blue of my soul.” Und dann sah Ryuichi in der Menge das Gesicht von Tatsuha. „This is only you.“ Tatsuhas Herz hämmerte unvermindert heftig im Rhythmus des letzten Liedes. Die Zugabe war im Konzertsaal verklungen. Dennoch hallte die Stimme von Ryuichi Sakuma in seinen Ohren nach. Stets offenbarte die Bühne jene andere Seite der Persönlichkeit, die Ryuichi nur selten aufflackern ließ. Tatsuha verstand nicht, was in den Zwischenräumen verborgen lag. Er wusste jedoch, dass es einfach sein würde, jenen Teil von Ryuichi, der voller Überschwang und guter Laune zu sein schien, zum Weinen zu bringen. Dafür musste man nichts tun. Das war kein Sieg. Starr lächelnd lehnte sich Tatsuha an einen der zwei Meter hohen Lautsprecher, der neben der Bühne stand. Nettle Grasper waren wieder da. Sie waren zurück aus Amerika, zurück in Japan. Als sie ihr erstes Konzert angekündigt hatten, waren die Karten innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Tatsuha hatte nur durch Beziehungen und das nötige Kleingeld ein Ticket ergattert. Sobald es um sein Idol ging, widersprach keine Handlung mehr seinem Stolz. Auch nicht eine stundenlange Wartezeit vor den Toren der Konzerthalle. Hatte es sich gelohnt? Ryuichi Sakuma hatte ihn gesehen. Tatsuha war sich sicher. Sakuma hatte ihn gesehen. Jener Teil, der unbesiegbar und tränenlos zu sein meinte, hatte ihn wahrgenommen. Er musste vom Gegenteil überzeugt werden. Tatsuha würde es schaffen. Er würde ihn besiegen, ihn versklaven. Auch wenn er dafür selbst zum Sklaven werden sollte. „Wer hat dir verraten, wo du mich findest?“ „Kannst du dir das nicht denken?“ Ein selbstbewusstes Lächeln aufsetzend gedachte Tatsuha nicht, seine Quellen zu offenbaren. Er wollte den Älteren vorführen, wie er selbst von ihm vorgeführt worden war. „Ich weiß es! Ich weiß es!“ Ryuichi trat rasch aus dem Hotelzimmer hinaus auf den Flur. Zügig schloss er die Tür hinter sich, als wolle er gar nicht erst riskieren, nach einer Einladung zum Eintreten gefragt zu werden. „Du hast in deinen Spiegel geschaut und der hat dir gesagt, Schneewittchen würde hinter den sieben Bergen leben bei den...“ „Halt doch mal deinen hübschen Mund“, unterbrach Tatsuha ihn, erfasste sein Kinn und legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Hübsch, Tatsuha-kun?“, nuschelte Ryuichi verwirrt. „Willst du mich nicht“, fragte dieser und machte eine Pause, als wolle er den ersten Worten seines Satzes mehr Gewicht verleihen, „nur bei meinem Vornamen nennen, ohne dieses unnötige Anhängsel?“ „Ich bin nur höflich.“ „Nein, du bist überheblich.“ „Überheblich, Tatsuha-kun?“ Ryuichi legte den Kopf schief und Tatsuha seufzte. „Ein Gespräch ergibt nicht viel Sinn, wenn du immer nur wiederholst, was ich sage.“ Jetzt verzog Ryuichi das Gesicht zu einem weinerlichen Ausdruck. „Du bist gemein, Tatsuha-kun. Nicht ich bin unhöflich, sondern du! Wenn du so bist, dann mag ich dich nicht!“ Der begnadete Sänger von Nettle Grasper warf ihm seinen Plüschhasen an den Kopf, hockte sich auf den Boden und begann zu schluchzen. Tatsuha holte noch einmal tief Luft, bevor sich sein Gesichtsausdruck in einer plötzlichen Erkenntnis erhellte. „Heißt das“, setzte er forsch an, „normalerweise magst du mich?“ Mit den Fäusten in seinen Augen reibend schluchzte Ryuichi weiterhin, ohne eine Antwort zu geben. Hierauf nahm Tatsuha das Stofftier zuhilfe. Kumagoro fragte: „Wenn er nicht gemein zu dir ist, magst du Tatsuha dann?“ „Vielleicht“, gab Ryuichi zögerlich zu. „Aber Sakuma würde das überhaupt nicht gefallen.“ Kumagoro meinte: „Willst du nicht lieber auf dein Zwergkaninchen hören als auf dein zweites Ich?“ „Zwergkaninchen?“ Verblüfft schüttelte Ryuichi den Kopf. „Aber Kuma-chan, du bist doch eine Kreuzung aus Bär und Hase.“ „Wo denn?“, fuhr Tatsuha erstaunt dazwischen und musterte das Stofftier, das er am Ohr in der Luft baumeln ließ. „Kumagoro ist rosa“, erklärte Ryuichi wie selbstverständlich. „Wann hast du jemals rosa Bären gesehen?“ „Und wann hast du jemals rosa Kaninchen gesehen?“, entgegnete Ryuichi großspurig. „Außerdem gibt es in Amerika alles.“ „Da wir schon von Amerika sprechen“, säuselte Tatsuha sanft, während er den zappelnden Ryuichi von der Seite zu umarmen versuchte, „warum bist du nach Japan zurückgekehrt?“ Sogleich verharrte der Sänger in seiner Bewegung und starrte auf eine der künstlichen Pflanzen im Hotelflur. „Ich hatte einen Traum“, setzte er endlich an. „Ich war in Europa oder Amerika und fuhr mit dem Auto, um jemanden zu besuchen. Die ganze Zeit einfach nur der Straße folgend. Die Stadt verschwand und verregnete Landschaft breitete sich um mich herum aus. Mein Weg wurde immer unebener und kurviger, in kleinen Dörfern vorbei an kleinen Häusern.“ Mit dem Zeigefinger malte Ryuichi eine kaum sichtbare Spur in den zentimeterdicken Teppichboden, als wäre seine Fingerkuppe ein Automobil, mit dem er über dicht bewachsene Wiesen und Felder fuhr. „Niemand war da“, sagte er leise. „Niemand. Regentropfen schlugen gegen die Scheiben meines Wagens. Je weiter ich fuhr, desto mehr hatte ich das Gefühl, in einer Sackgasse zu enden. Und schließlich war da ein riesiges weißes Haus, an dem ich vorbeifuhr, links und rechts von mir Laternen. Ich bog um eine scharfe Kurve, hinein in das letzte Dorf. So seltsam es klingt, aber in diesem Moment wusste ich ganz genau, es würde die Endstation sein. Danach geht es nicht weiter, dachte ich. Danach hört die Welt auf zu existieren. Genau in diesem Moment...“ Er hob den Kopf, fing Tatsuhas Blick ein und ergänzte: „...wachte ich auf.“ Die Zeigefingerspitze stoppte. Sie pflügte nicht mehr durch den teuren Teppichboden des Hotels. Einige Sekunden rannen von den kunstvoll gemusterten Tapeten. „Warum sind Nettle Grasper zurückgekehrt?“, wollte Tatsuha wissen. „Hast du dich am Ende doch davon beeinflussen lassen, was ich sagte, bevor du abgereist bist?“ „Das“, rief Ryuichi laut, mit emporgestrecktem Arm, „war eher schlechtes Glück.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)