Jenseits von Gut und Böse von abgemeldet (~ Dean/Sam :'D) ================================================================================ Kapitel 1: Unstimmigkeiten -------------------------- „Dude, was zum Teufel soll das sein?“ „Eine Zeitung?! Und du weißt, ich mag es nicht, wenn du fluchst.“ Dean seufzte gedehnt und übertrieben theatralisch. Ja, er wusste, dass Sam das nicht mochte. Er machte ihn ja oft genug darauf aufmerksam. Als ob es nicht genügte, wenn er es ihm einmal sagte und es dann dabei beließ. Aber nein, sein kleiner Bruder musste ja darauf herumreiten, so, wie er es immer tat, wenn ihm etwas nicht passte. Aber er wollte sich nun nicht darüber streiten; dazu war er nicht in der richtigen Verfassung. Er war erschöpft und wollte nur noch in sein Bett. „Jaja, schon gut.“ „Jaja heißt-“ „Ist gut jetzt, Sam!“, fuhr Dean ihn an, ehe er mit ruhigerer Stimme fortfuhr: „Also, was ist das?“ Sam hatte den Wink mit dem Zaunpfahl offensichtlich registriert und verstanden, denn er faltete die Zeitung auseinander und hielt Dean einen kleinen Artikel unter die Nase, den dieser wahrscheinlich von selbst nicht einmal wahrgenommen hätte. „Lies.“ Dean's Augen huschten kurz über die wenigen Zeilen, dann richtete er seinen Blick wieder auf Sam. „Und?“ Der hatte offensichtlich weitaus mehr Begeisterung erwartet, denn er verzog die Lippen. „Bist du blind? Das schreit geradezu nach uns!“ Dean's Blick wechselte mehrmals zwischen der amateurhaften schwarz/weiß-Fotografie, die unter dem Artikel abgedruckt war und seinem Bruder, der sie – wie er sich nun ein weiteres Mal eingestehen musste – eindeutig nicht mehr alle hatte. Auf dem Bild in der Zeitung konnte man schemenhaft eine schwarze Gestalt mit ausgebreiteten Armen auf einer Autobahnbrücke erkennen. „Das ist ein Irrer in einem Regenmantel, nicht mehr.“ „Das ist kein Irrer in einem Regenmantel! Lies das.“ Sam reichte ihm eine handvoll Papierkram, den er sich allem Anschein nach aus dem Internet ausgedruckt hatte. „Sam, das ist doch-“ „Lies!“ Ein weiteres Seufzen aus Dean's Mund und er begann zu lesen. Er wusste, dass er – wenn Sam sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, er machtlos gegen ihn war. Sein Bruder war diesbezüglich ein absolut sturer Bock. Nach einer Weile – Sam hatte ihn keine einzige Sekunde aus den Augen gelassen – hob Dean den Kopf und sah seinen Bruder ungläubig an. „Dieser Bericht ist von 1966. Was bitte willst du damit beweisen?“ Anstatt einer Antwort riss ihm Sam die Papiere aus der Hand und fuchtelte unkoordiniert damit herum. „Roger Scarberry, dessen Frau und zwei ihrer Freunde – das sind vier Menschen, Dean. Vier! - haben diese Gestalt am 15. November 1966 nahe Point Pleasant – das heißt, hier in West Virginia – auf einer Autobahnbrücke nahe einer stillgelegten Sprengstofffabrik gesichtet. Laut der Zeugenaussagen haben sie alle haargenau dasselbe berichtet und zwar – nein, lass mich aussprechen!“, erhob er die Stimme, als Dean den Mund aufmachte, um ihn zu unterbrechen, „Alle vier haben sie diese übermenschlich große Gestalt mit rot glühenden Augen, allerdings ohne Kopf gesehen und-“ „Ohne Kopf? Wie kann etwas keinen Kopf, aber trotzdem Augen haben? Selbst, wenn es zehn oder sogar hundert Menschen gewesen wären, die diese Gestalt angeblich gesehen haben wollen, kannst du mir das bitte genauer erklären, Sam?“, erwiderte Dean spöttisch und verschränkte erwartungsvoll die Arme vor der Brust. Sam stöhnte genervt auf. „Was weiß ich. Und genau aus diesem Grund sollten wir uns mit dieser Erscheinung befassen. Diese Zeitung hier“, er hielt Dean erneut den ersten Artikel unter die Nase, „ist nämlich nicht viel älter als eine Woche!“ Dean verzog mitleidig das Gesicht, ganz so, als habe sein Bruder nun endgültig den Verstand verloren. „Gute Arbeit, Sammy“, lobte er herablassend, „Du weißt, welches Datum wir heute haben. Wirklich, das hätte ich nicht von dir gedacht.“ Dann schüttelte Dean den Kopf und erhob sich von seinem Stuhl. „Für mich ist und bleibt es ein Irrer in einem Regenmantel.“ Sam ignorierte die beleidigende Bemerkung seines Bruders und tat dessen Schlussfolgerung mit einer knappen Handbewegung ab. „Ein Irrer, der sich aus Spaß an der Freude den Kopf abschlägt und seit über vierzig Jahren nachts auf eine Autobahnbrücke steht, nur um vorbeifahrende Passanten in Angst und Schrecken zu versetzen? Sicher. Fällt dir denn nichts Besseres ein?“ Dean zuckte halbherzig mit den Schultern. „Dann ist es eben ein trittbrettfahrender Irrer mit schlechtem Humor und in einem zu groß geratenen Regenmantel. Wie auch immer, ich geh jetzt schlafen. Recherchiere du nur weiter über deinen kopflosen Autobahnbrückendämon.“ Sam schnaubte. „Schön.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand im Nebenraum ihres ausnahmsweise geräumigen Motelzimmers. Dean sah ihm noch ein paar Sekunden lang nach, nicht sicher, ob er ihn nun einfach als absolut wahnsinnig abstempeln oder sich doch eher Sorgen um ihn machen sollte. Für Letzteres war es eindeutig noch etwas zu früh, somit schlenderte er leise vor sich hinmurmelnd ins Badezimmer. „Kein Kopf aber trotzdem rot glühende Augen. Dass ich nicht lache ...“ Am nächsten Morgen tappte Dean verschlafen zu der kleinen Kommode, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten verstaut hatten. Während er sich eine zerschlissene Jeans und ein T-Shirt überzog, musste er mit einem kurzen Blick auf die Wanduhr feststellen, dass er länger als gewöhnlich geschlafen hatte. Kein Wunder, bei dem langen Tagen, die er und Sam in letzter Zeit gehabt hatten. Nun war er wenigstens ausgeruht und fühlte sich nicht mehr ganz so schlapp wie am vergangenen Abend. Er streckte sich genüsslich, dann schnappte er sich die Schlüssel des Impala und seinen braunen Ledermantel. „Sam? Ich geh Frühstück holen; was möchtest du?“ Stille. „Sam?“ Wieder keine Antwort. Vielleicht schlief er ja noch? Ausgeschlossen, Sam war ein überzeugter Frühaufsteher und nun war es bereits nach zwölf. Misstrauisch ging Dean zurück ins Schlafzimmer und klopfte an die Tür, hinter die sich sein Bruder nach ihrer Auseinandersetzung zurückgezogen hatte. Als Sam daraufhin immer noch nicht reagierte, öffnete er die Tür und steckte den Kopf durch den Spalt. „Sammy?“ Er betrat den kleinen Nebenraum und hätte am liebsten laut geflucht, als er – nichts sah. Zumindest nicht Sam. Nur der Laptop stand auf dem ausklappbaren Holztisch, davor ein Stuhl, der so instabil wirkte, dass er es sogar vorgezogen hätte, sich nackt auf einen Glassplitterhaufen zu setzen und auf dem Boden verstreut lagen diverse Ausdrucke, die – wie Dean bei genauerem Hinsehen erkennen konnte – allesamt dasselbe beinhalteten, wie die, die Sam ihm am vergangenen Abend unter die Nase gehalten hatte. Er wollte sich gerade wieder umdrehen und gehen, als ein handbeschriebenes Blatt Papier seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er trat näher an den Tisch und nahm die Kritzelei näher in Augenschein, die offensichtlich von seinem Bruder stammte. Roger Scarberry Westminster Rd. 6 25550 Point Pleasant; West Virginia Sam wollte doch nicht etwa …? „Scheiße!“ Dean schnappte sich den Zettel, steckte ihn ein und hastete aus dem Motelzimmer. Auf dem Parkplatz ließ er sich auf den Fahrersitz des Impala fallen – wenigstens hatte Sam den nötigen Anstand gehabt, nicht einfach mit seinem geliebten Wagen abzuhauen – und ließ den Motor aufheulen. Kapitel 2: Ausgesetzt --------------------- Dean parkte den Impala vor einem alten Gebäude, das nicht einmal durch einen neuen Anstrich und ein paar Erneuerungen – denn beides hatte es auf alle Fälle bitter nötig – freundlicher gewirkt hätte und stieg aus dem Wagen. An der Eingangstür zum Haus sah er dann auch schon genau das, was er erwartet hatte: Sam unterhielt sich mit einem ihm unbekannten Mann; höchstwahrscheinlich dieser Roger Scarberry aus dem Bericht in der Zeitung. Mittlerweile musste er Mitte sechzig, wenn nicht sogar schon siebzig sein und natürlich hatte sein Bruder die seltene Chance genutzt, einen noch lebenden Augenzeugen nach Details befragen zu können. Unter normalen Umständen erleichterte das ihre Arbeit auch ungemein, aber das hier waren keine normalen Umstände. Das waren Hirngespinste, die sich in Sam's Kopf festgesetzt hatten und ihn dazu veranlassten, Dinge zu tun, die ein Sam mit klarem Verstand niemals tun würde. Zum Beispiel, auf eigene Faust ermitteln. Sie waren nicht selten nur knapp mit dem Leben davongekommen, schließlich jagten sie keinen Schauermärchen hinterher, sondern waschechten Dämonen und mit diesen war einfach nicht zu spaßen. Schon gar nicht allein. Dean biss die Zähne zusammen und ließ die Tür des Impala lautstark hinter sich ins Schloss fallen. Vier Augenpaare fixierten ihn und er konnte sogar aus dieser Entfernung erkennen, wie es hinter Sam's Stirn zu arbeiten begann. Roger Scarberry dagegen sah eher irritiert aus, als Dean mit vereister Miene zu ihnen schlenderte und Sam am Arm packte. „Dean Winchester, sehr erfreut. Es tut mir außerordentlich leid, falls mein Bruder“, er stieß Sam unsanft mit der Schulter an, „Sie belästigt haben sollte. Wir werden jetzt gehen. Auf Wiedersehen.“ „Dean-“ „Wir gehen jetzt, Sam!“ Sam versuchte, sich aus Dean's Griff zu befreien, doch dieser schleifte ihn erbarmungslos zurück zum Impala. Er wurde auf den Beifahrersitz verfrachtet und Dean startete den Motor und fuhr vom Hof. Es vergingen ein paar Minuten, in denen sie beide schweigenend vor sich hinstarrten – Dean auf die Straße und Sam aus dem Fenster – ehe Dean letztendlich das Wort ergriff. „Was ist nur in dich gefahren, Sam?“ Der Angesprochene zuckte zusammen und warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu. Er hatte nicht erwartet, dass Dean die Stille noch während der Fahrt zurück zum Motel brechen würde. Doch dessen Worte verärgerten ihn zusehens. „Was in mich gefahren ist? Ich frage mich eher, was in dich gefahren ist, Dean! Ich für meinen Teil versuche herauszufinden, was es mit dieser Gestalt auf der Autobahnbrücke zu tun hat, weil das unser Job ist! Aber du scheinst es nicht mehr für nötig zu halten, das zu tun!“ Dean umfasste das Lenkrad etwas fester, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Unser Job, ahja. Wer musste dich denn geradezu beknien, damit du wieder damit anfängst, Dämonen und was weiß ich noch alles aufzuspüren? Wer? Das war ich, also hör auf zu behaupten, dass ich unseren Job oder die damit verbundenen Nachforschungen nicht mehr für nötig halte!“, fuhr er seinen Bruder an und trat etwas mehr auf's Gaspedal, als wolle er seinen Worten damit Nachdruck verleihen. Sam ließ sich davon nicht beirren. „Aber so ist es doch! Seit du diesen beschissenen Pakt geschlossen hast, interessiert dich unsere Arbeit einen feuchten Dreck!“ Dean trat auf die Bremse. So plötzlich, dass nicht nur Sam, sondern auch er durch die Wucht nach vorn in ihre Gurte geschleudert wurden, als der Impala mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Dann fuhr Dean herum. Seine vor Zorn funkelnden Augen sprachen Bände. „Halt den Mund, Sam! Du hast absolut keine Ahnung, wovon du da eigentlich sprichst, also halt verdammt nochmal den Mund! Und wo wir gerade dabei sind, ich möchte nicht, dass du auf eigene Faust ermittelst!“ „Oh, doch, das werde ich, wenn es sein muss!“ „Ich verbiete es dir!“ „Du bist nicht Dad!“ Stille. Dean schluckte den Kloß herunter, der sich soeben in seinem Hals gebildet hatte und musterte Sam mit einer Mischung aus Hass und Entsetzen. Dieser schien ebenfalls verwirrt zu sein, doch noch ehe er zu einer Bemerkung ansetzen konnte, ergriff Dean die Initiative – diesmal mit geradezu unerträglich ruhiger Stimme. „Richtig, ich bin nicht Dad. Denn wenn ich Dad wäre, dann hätte ich nicht noch ein Jahr zu leben, sondern wäre schon längst tot. Und weißt du auch warum, Sammy? Seine egoistische Art, immer alles selbst in die Hand zu nehmen, anstatt einmal vernünftig zu sein, hat ihn umgebracht.“ „Dean, ich-“ „Steig aus.“ „Was?“ „Du sollst aussteigen!“ Ohne ein weiteres Wort des Widerspruchs ließ Sam den Sicherheitsgurt zurücksurren und stieg aus dem Wagen. Er hatte die Beifahrertür gerade hinter sich geschlossen, da heulte der Motor auch schon auf und der Impala jagte davon. Ohne ihn. Nachdem er sich noch etwa eine Stunde lang in einer nahegelegenen Bar herumgetrieben hatte, parkte Dean den Impala erneut vor dem Motel, stieg aus und schloss den Wagen ab. Die Fenster ihres Zimmers waren allesamt dunkel und die Vorhänge waren zugezogen, was ihn allerdings nicht verwunderte, schließlich war es erst später Nachmittag und die Vorhänge schützten vor neugierigen Blicken, falls sie doch einmal ein Ritual oder etwas Ähnliches vorbereiten mussten. Dean betrat das Motel und schloss ihre Zimmertür auf. Fast schon beängstigende Stille empfing ihn. „Sam?“ Wie schon am Morgen blieb sein Ruf unbeantwortet und mit einem kurzen Blick auf die Tür zum Nebenzimmer musste Dean feststellen, dass diese offen stand, sodass sich Sam auch diesmal nicht dahinter verbarikadiert haben konnte, um ihn zu ignorieren. Wo zum Teufel steckte der Trottel nur wieder? Er war ja wohl nicht zurück zu diesem Scarberry gefahren. Zumindest hielt Dean seinen Bruder für vernünftig genug, dort nach ihrer vorigen Aktion nicht sofort wieder aufzutauchen. Aber wo war er dann? Nachdem er kurz überlegt hatte, zog er sein Handy aus der Hosentasche und wählte Bobby's Nummer. „Bobby? Ich bin's, Dean. Du hast in der vergangenen Stunde nicht zufällig etwas von Sam gehört, oder?“ „In der vergangenen Stunde nicht, nein. Aber heute Morgen hat er kurz angerufen. Warum, ist etwas passiert?“ Dean konnte regelrecht hören, wie die breite Sorgenfalte auf Bobby's Stirn erschien. „Nein, nicht direkt. Er spielt nur vollkommen verrückt wegen diesem blöden Zeitungsausschnitt, den er-“ „Ah, die Erscheinung auf der Autobahnbrücke nahe Point Pleasant.“ Dean blinzelte irritiert. Wie bitte? „Er hat dir davon erzählt? Bitte sag nicht, dass du ebenfalls der Meinung bist, dass-“ „Es sich dabei um einen Dämon handelt und doch, das bin ich. Dein Bruder hatte schon immer ein gutes Gespür für das Übernatürliche.“ Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße! Dean fuhr sich mit der freien Hand durch die kurzen Haare, während er sich vergebens darum bemühte, ruhig zu bleiben. „Alles klar; danke, Bobby.“ Er wollte schon auflegen, als Bobby noch einmal das Wort ergriff. „Wo ist Sam jetzt? Deswegen hast du mich doch angerufen, oder nicht?“ Dean ließ sich ertappt auf die Bettkante sinken und atmete einmal tief durch. Zumindest versuchte er es, scheiterte allerdings an dem stetig wachsenden Kloß, der sich ein weiteres Mal in seinem Hals festgesetzt hatte und ihm die Kehle zuzuschnüren drohte. „Ich weiß es nicht“, gestand er mit krächzender Stimme und kniff instinktiv die Augen zusammen, als Bobby auch schon lospolterte. „Wie, du weißt es nicht? Du bist sein Bruder, Dean! Was ist passiert?“ „Wir haben uns wiedermal in die Haare gekriegt, das ist passiert. Wegen besagtem Zeitungsausschnitt. Ich hab' ihn auf die Straße gesetzt und bin allein zurück zum Motel gefahren. Eigentlich sollte er längst hier sein.“ „Du hast WAS?“ Dean hielt das Handy etwas weiter weg, aus Angst, einen Hörsturz zu erleiden, als Bobby derart die Stimme erhob, dass er ihn mit Sicherheit auch ohne die telefonische Verbindung hervorragend verstanden hätte und räusperte sich verlegen. Doch noch bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte, begann Bobby am anderen Ende der Leitung schon vom Neuem zu poltern. „Du machst dich sofort auf die Suche nach ihm! Mit diesem Dämon ist nicht zu spaßen!“ Dean seufzte und gab sich geschlagen. „Ja, Bobby. Ich melde mich wieder, sobald es was Neues gibt.“ Mit diesen Worten beendete er das Gespräch und vergrub das Gesicht in den Handflächen. Was hatte Sam sich nur dabei gedacht? Und was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, seinen Bruder einfach so auf die Straße zu setzen? Ihm hätte klar sein müssen, dass dieser die Gelegenheit nutzen und dort weitermachen würde, wo er aufgehört hatte. Nämlich bei der Gestalt auf der Autobahnbrücke. Wäre er sich immer noch sicher gewesen, dass es sich dabei nur um einen Irren im Regenmantel handelte, hätte er sich garantiert keine Sorgen um Sam gemacht, doch nach dem Gespräch mit Bobby war eigentlich klar, dass der Zeitungsartikel definitiv nicht von einem Irren im Regenmantel handelte, sondern um einen Dämon, wie er echter nicht sein könnte. Und unter diesen Umständen blieb ihm überhaupt keine andere Wahl, als sich um seinen Sammy zu sorgen. Er musste ihn so schnell wie möglich finden! Kapitel 3: Rote Augen --------------------- Eigentlich hatte er vorgehabt, das letzte Stück zum Motel zu laufen, doch schon auf halber Strecke hatte Sam seine Meinung geändert. Er hatte jetzt wirklich keine Lust darauf, Dean unter die Augen zu treten, zumal er das zu Ende bringen wollte, was er begonnen hatte: Den Dämon ausfindig machen, oder zumindest einen Hinweis finden, mit dem er seinem Bruder beweisen könnte, dass es sich bei diesem Artikel nicht nur um einen schlechten Scherz, sondern um eine übernatürliche Erscheinung handelte. Zwar hatte er nur eine handvoll Salz und ein Feuerzeug bei sich – die restlichen Waffen lagen auf dem Rücksitz oder im Kofferraum des Impala – doch das würde für den Anfang genügen müssen. Sam rechnete ohnehin nicht damit, auf die Gestalt höchstpersönlich zu treffen, immerhin war es erst später Nachmittag und bisher war sie immer nur in der Nacht zum 15. November erschienen. Es bestand also kein Grund zur Sorge. Nachdem er etwa zehn Minuten zu Fuß gegangen war, war er von einem frisch verheirateten Ehepaar mitgenommen worden, das auf dem Weg in die Flitterwochen war. Sam war ihm dankbar, aber auch froh, als er am Ortsschild Point Pleasant wieder aussteigen konnte, da die Frau die gesamte Fahrt über ohne Unterlass geredet und der Mann zum Autoradio geträllert hatte, was man ungefähr mit dem Geräusch einer kaputten Kreissäge vergleichen konnte. Außerdem hatte das Auto – aus welchem Grund auch immer; er wollte es überhaupt nicht so genau wissen – ziemlich stark nach Kohl gerochen. Er hasste Kohl. Die letzten zwei Kilometer zu seinem eigentlichen Zielort – die stillgelegte Sprengstofffabrik, in deren Nähe die Erscheinung erstmals 1966 gesehen worden war – legte er erneut zu Fuß zurück. Wenn es irgendwelche Spuren gab, dann würde er dort suchen müssen, da war sich Sam fast hundertprozentig sicher. Vermutlich handelte es sich bei der Gestalt um keinen traditionellen Dämon, sondern schlicht und ergreifend um einen ruhelosen Geist, der an einem 15. November ums Leben gekommen war und seither die Gegend in Angst und Schrecken versetzte. Zumindest ließen seine Nachforschungen im Internet darauf schließen. Es dämmerte bereits, als er das Fabrikgelände erreichte und eisige Windböen ließen ihn frösteln. Warum in Gottes Namen mussten die meisten übernatürlichen Erscheinungen auch im Herbst oder Winter auftreten? Er machte sich eine gedankliche Notiz, dieser Sache irgendwann ebenfalls auf den Grund zu gehen, während er auf das zerfallene Gebäude zusteuerte. Wie erwartet war die Tür verschlossen und zusätzlich durch schwere Eisenketten und ein verrostetes Vorhängeschloss geschützt. Selbst mit dem passenden Schlüssel wäre das Eindringen geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Auf der Suche nach einem Fenster, durch das er einsteigen könnte, machte Sam sich daran, die Fabrilhalle zu umrunden; vorerst ohne Erfolg. Sämtliche Fenster im Erdgeschoss waren entweder durch Panzerglas geschützt – mit Salz und einem Feuerzeug käme er da nicht sonderlich weit – und die, die es nicht waren, waren mit dicken Brettern vernagelt, um ungebetene Gäste fernzuhalten. Sam fluchte leise, doch dann hellte sich seine Miene schlagartig auf, als er am Ende der Halle ein Fenster bemerkte, dessen hölzerne Barrikade an den Seiten lose herunterhing. Volltreffer! Er steuerte darauf zu und – hätte beinahe laut aufgeschrien, als direkt neben ihm aus einem Baum ein gellender Ruf ertönte. Er fuhr herum. Aus dem Geäst blitzten ihm zwei große, runde, orangerote Augen entgegen, dann raschelte es und die Eule erhob sich in die Luft. Sam atmete erleichtert auf. Kurz kam ihm der Gedanke, dass Dean mit seiner Sicht der Dinge vielleicht doch nicht ganz so falsch gelegen hatte, doch er verwarf ihn, noch bevor er ihn zu Ende gedacht hatte. Eine Eule saß garantiert nicht pünktlich an jedem 15. November auf der nahegelegenen Autobahnbrücke. In der Fabrikhalle war es so dunkel, dass Sam kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, da diese Seite des Gebäudes im Schatten lag und die Dunkelheit schneller hereingebrochen war, als er vermutet hatte. Unbeholfen kramte er seine Minitaschenlampe aus der Hosentasche und knipste sie an. Der schwache Lichtstrahl fiel auf den verstaubten Fußboden. Hier und da waren ein paar Dielen durchgebrochen – anscheinend hatte die Halle einen tiefer gelegten Kellerraum. Es roch nach abgestandener Luft und verrostetem Eisen, was wahrscheinlich von den vielen Maschinen herrührte, die immer noch in der Halle aufgebaut waren. Anscheinend hatte sich bei der Schließung der Fabrik niemand darum geschert, was mit ihnen geschehen sollte und so hatte man sie einfach stehen gelassen. Sam arbeitete sich Schritt für Schritt durch die Dunkelheit vorwärts, bis er an einer hölzernen Treppe angelangte, die steil nach oben führte. Er stellte probeweise einen Fuß auf die zweite Stufe und verlagerte sein Gewicht. Das Knarren, dass das Holz daraufhin von sich gab, klang in der erdrückenden Stille um ihn herum unnatürlich laut, doch wenigstens schien die Treppe sein Gewicht zu halten. Sein Misstrauen ihr gegenüber ließ sich dennoch nicht gänzlich abschütteln, sodass er noch einen kurzen Moment zögerte, ehe er schließlich die ausgetretenen Stufen emporstieg. Bei jedem Schritt ächzte das Holz unter seinen Füßen und jedes Mal hielt Sam instinktiv inne und lauschte, obwohl ihm klar war, dass ihn eigentlich sowieso niemand hören konnte. Das Fabrikgelände befand sich im Wald; die Autobahn war ein gutes Stück weit entfernt, von der nächsten Stadt ganz zu schweigen. Solange sich in der näheren Umgebung nicht irgendein Obdachloser herumtrieb, war er also wirklich vollkommen allein. Einerseits beängstigend, aber andererseits die perfekte Voraussetzung für sein Vorhaben. Oben angekommen knipste Sam seine Taschenlampe wieder aus. Er befand sich nun auf der anderen Seite des Gebäudes und durch die verglasten Fenster rann silbriges Mondlicht. Es war ohnehin besser, wenn er die Batterien nicht zu sehr beanspruchte, da er nicht wusste, wie lange sie noch mitspielen würden und er hatte keine große Lust, den Weg nach unten und zurück zu dem offenen Fenster im Dunkeln zurücklegen zu müssen. Sam ließ seinen Blick kurz, aber gründlich durch den ersten Stock schweifen. Viel gab es nicht zu sehen, aber er wusste ja auch noch nicht genau, wonach er eigentlich suchte, also konnte jedes Detail nützlich sein. Anders als im Erdgeschoss standen hier keine Maschinen, sondern einzelne Schreibtische, die durch karge Holzwände voneinander getrennt waren. Schlichte Arbeitsräume ohne Türen, die allerdings ihren Dienst erwiesen. Auf manchen Schreibtischen lagen noch verstaubte Dokumente oder diverses Büromaterial; auf einem fand Sam sogar ein altes Familienfoto, das allerdings derart verblichen war, dass er die Personen darauf nur schemenhaft erkennen konnte, während die meisten Arbeitsflächen wie leergefegt waren – abgesehen von der zentimeterdicken Staubschicht, die sich im Laufe der Jahrzehnte dort angesammelt hatte. Am Ende des Raumes befand sich ein komplett isoliertes Büro ohne Fenster, dafür aber mit einer massiven Tür. Daneben führte eine ebenfalls ziemlich gebrechlich aussehende Treppe in den zweiten Stock, der Sam allerdings keinerlei Beachtung schenkte. Er drehte an dem verrosteten Türknauf und – hob überrascht die Augenbrauen, als die Tür quietschend aufschwang und ihm somit Eintritt in den abgetrennten Raum gewährte. Er knipste die Taschenlampe wieder an. Anscheinend handelte es sich dabei um das Büro des Abteilungsleiters, denn es war mit weitaus mehr Utensilien ausgestattet, als die viel kleineren Arbeitsräume. An der Wand standen mehrere Regale, in denen sich verschiedene Akten und Ordner stapelten und hinter dem breiten Eichenholzschreibtisch stand ein mit schwarzem Leder überzogener Drehstuhl. Der kümmerliche Rest einer von vor Jahren verwelkten Zimmerpflanze schimmelte in der Ecke des Raumes seelenruhig vor sich hin und Sam verzog angewidert das Gesicht, als ihm der beißende Gestank in die Nase stieg. Er umrundete den Schreibtisch, auf deren Arbeitsfläche jede Menge Papierkram verstreut lag. Sam wollte sie gerade beiseite legen, als sein Blick auf einem herausgerissenen Zeitungsausschnitt hängen blieb, der sich zwischen den einzelnen Blättern befand. Er zog ihn heraus und hielt ihn unter den Schein seiner Taschenlampe. Tödlicher Unfall in der Sprengstofffabrik William Benning erlag am 15. November 1960 seinen Verletzungen, die er sich während seiner Arbeit in der Sprengstofffabrik nahe Point Pleasant zugezogen hatte. Sein Vorgesetzter, Matthew Callahan, hatte mehrmals beteuert, dass Benning die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten hatte und der Firma somit keinerlei Schuld zugewiesen werden konnte. Nachforschungen haben allerdings ergeben, dass der Arbeitsplatz von Mr. Benning nicht zureichend gesichert gewesen war. Mr. Callahan wurde zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Sprengstofffabrik soll noch bis Ende diesen Jahres stillgelegt werden. Sam hielt die Luft an. War das vielleicht des Rätsel's Lösung? Dieser Zeitungsausschnitt und nicht mehr? Wenn ja, dann handelte es sich also wirklich um einen Geist, der ruhelos umherirrte. Das Datum stimmte auf den Tag genau, aber weshalb hatte er sich erst sechs Jahre Zeit gelassen, ehe er zugeschlagen hatte? Hatte er vielleicht doch etwas übersehen? Zu dumm, dass er Dean nicht anrufen konnte, damit dieser im Internet recherchieren könnte. Das hieß, er konnte ihn anrufen, die Frage war nur, ob sich sein Bruder dazu bereiterklärte, ihm bezüglich dieser Erscheinung irgendwelche Informationen zu verschaffen. Anscheinend wollte er mit der ganzen Sache ja nichts zu tun haben. Sam ließ seine Hand in die Hosentasche gleiten und umfasste sein Handy, hielt dann allerdings inne. Nein, Dean würde ihm mit Sicherheit nicht helfen. Nicht, nachdem er ihn auf offener Straße aus dem Wagen geworfen und daraufhin davongejagt war, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her. Naja, das stimmte ja auch, aber … Er schüttelte den Kopf. Das hier war nicht der richtige Ort, um über derartige Angelegenheiten nachzudenken. Er wollte sich gerade die anderen Papiere noch genauer ansehen, als ein Geräusch die Stille zerschnitt. Es klang seltsam, etwa wie … Flügelschlagen. Sam spitzte die Ohren und runzelte die Stirn. War es möglich, dass sich eine Eule oder ein anderer gefiederter Artgenosse irgendwo in der Fabrik eingenistet hatte und nun, wo es dunkel wurde, auf Beutezug ging? Wieder dieses Geräusch. Und es kam näher. Viel zu nah, dafür, dass der Vogel – wenn es denn nun ein Vogel war – seither nur zweimal mit den Flügeln geschlagen hatte. Außerdem kam es Sam unnatürlich laut vor, was aber durchaus auch daran liegen könnte, dass ihm seine Ohren durch die ansonsten herrschende Stille einen Streich spielten. Ein drittes Mal erklang das Geräusch von schlagenden Flügeln und ein durchdringender Schrei ließ Sam unwillkürlich zusammenzucken. Es war nicht direkt ein Laut; es kam ihm eher so vor, als würden elektrische Wellen direkt in seinen Körper fahren. Ein durch und durch unangenehmes Gefühl, das ihn dazu veranlasste, schmerzerfüllt das Gesicht zu verziehen und die Augen fest zusammenzukneifen. Was auch immer das da draußen – oder drinnen – war: Es war kein Tier. Aber gewiss auch kein Mensch! Nachdem das ohrenbetäubende Klingeln in seinen Ohren nachgelassen hatte, steckte er hastig den Zeitungsausschnitt in die Hosentasche und verließ schnellen Schrittes das Büro. Der Strahl seiner Taschenlampe glitt hektisch zwischen den Schreibtischen hin und her und er sah – nichts. Zumindest nichts, was nicht schon vorhin da gewesen war, von einem dämonischen Geist ganz zu schweigen. Er hielt inne und lauschte erneut. Nichts, absolut nichts. Nur wieder diese Stille, die ihn regelrecht zu erdrücken schien. Sam schluckte, dann steuerte er langsam wieder die Treppe an, die zurück ins Erdgeschoss führte. Den zweiten und dritten Stock würde er bei Tageslicht genauer unter die Lupe nehmen; allein mit seiner Taschenlampe und dem Bisschen Mondlicht war es zu würde er es riskieren, eventuelle Details zu übersehen, außerdem hatte er vorerst die Informationen, nach denen er gesucht hatte. Und ganz nebenbei musste er sich eingestehen, dass ihm dieser Ort nicht ganz geheuer war. Nicht bei Nacht. Während er die knarrenden Treppenstufen hinabstieg, hielt er in unregelmäßigen Abständen inne, doch er hörte nichts mehr. Nichts, außer seinen eigenen Atemzügen und dem Klopfen seines Herzens und das beruhigte ihn wenigstens etwas. Die untere Halle durchquerte er ohne auch nur ein einziges Mal stehen zu bleiben und er konnte schon die Umrisse des Fensters erkennen, durch das er in das Fabrikgebäude eingestiegen war, als der Schein seiner Taschenlampe zu flackern begann – und erlosch. Sam fluchte laut und klopfte mit der Handfläche leicht gegen die Glühbirne. Ohne Erfolg. Scheiße! Dann schien alles gleichzeitig zu geschehen: Das Flügelschlagen erklang zum vierten Mal – diesmal direkt hinter ihm – gefolgt von einem eisigen Luftzug. Im selben Augenblick ertönte aus der entgegengesetzten Richtung der ohrenbetäubende Knall einer Schrotflinte, eine Kette klirrte und die Tür zur Halle wurde aufgestoßen. „Sam! Sieh ihm nicht in die Augen!“ Dean! Sam fuhr herum; versuchte vergebens seinen Bruder ausfindig zu machen; glaubte, seine Konturen nur wenige Zentimeter vor sich zu erkennen, als zwei kreisrunde, glühend rote Augen aus der Dunkelheit aufblitzten. Der stechende Blick ging ihm durch Mark und Bein, er öffnete den Mund, um zu schreien, als ihn bodenlose Schwärze unter sich begrub. Kapitel 4: Gerettet ------------------- „SAM!“ Ein zweiter, ohrenbetäubender Knall schien die Fabrikhalle geradezu erzittern zu lassen und die rot glühenden Augen flackerten kurz, ehe sie sich in Luft auflösten. Dean hastete zu seinem am Boden liegenden Bruder. Erst, als er neben ihm kniete, wurde ihm bewusst, dass die geisterhafte Erscheinung ja immer noch in der Nähe sein musste und er wirbelte herum. Nichts. Nur die nächtliche Dunkelheit, die sie rücksichtslos umgarnte und der einsame Strahl silbernen Mondlichts, der durch den offenen Zugang zur Fabrikhalle hereinfiel. Dean widmete sich wieder seinem Bruder, um nach einigen unnatürlich langen Schreckenssekunden erleichtert festzustellen, dass er atmete: Sam’s Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich und in unregelmäßigen Abständen. „Sammy?“ Dean mühte sich vergebens darum, das Zittern in seiner Stimme zu unterbinden, als er Sam ein paar verirrte Haarsträhnen aus der Stirn strich. Dabei war es unvermeidlich, dass er seine Haut berührte, woraufhin er kaum merklich zurückzuckte: Sie war eiskalt. Er wusste nicht, was der Blick dieses Wesens bewirkte, aber er wusste, das er etwas bewirkte – etwas ganz und gar nicht Gutes, weshalb er Sam augenblicklich hier rausschaffen musste. Er fackelte nicht lange, sondern klemmte sich die Schrotflinte umständlich unter den Arm und umfasste Sam unter beiden Schultern und Kniekehlen, um ihn vorsichtig hochheben zu können. Als er aufstand, taumelte er unter dem Gewicht zwei, drei Schritte nach hinten und rang kurz um das nötige Gleichgewicht, ehe er zögernd Richtung Ausgang wankte. Ab und an hielt er kurz inne und lauschte, doch er hörte nichts, außer Sam’s rasselnden Atemzügen, als fiele es ihm schwer, an genügend Sauerstoff zu gelangen. Wenn diese abnorme Erscheinung immer noch hier war, dann verhielt sie sich still und beobachtete sie höchstwahrscheinlich. Allein bei diesem Gedanken lief es Dean eiskalt den Rücken hinunter und er beschleunigte seine Schritte etwas, während er inständig hoffte, dass das Wesen mit den rot glühenden Augen nicht aus der nächsten Ecke gesprungen kam, um sich auf ihn und Sam zu stürzen. Er zweifelte zwar keine Sekunde daran, bei einem Zweikampf mit diesem Wesen als Sieger hervorzugehen, doch die Sorge um seinen Bruder war größer, als der Drang, diese Höllenbrut aufzustöbern und sie zu töten – zumindest im Moment. Dass er zurückkehren und seinen Job als Jäger ordentlich erledigen würde, stand außer Frage. Als Sam erwachte, fühlte sich sein Kopf an, als wäre er kurz davor, sich in zwei Hälften zu spalten. Er blinzelte unkoordiniert und stöhnte leise auf, als ihm grelles Sonnenlicht in die Augen stach. Irgendjemand hatte sich zwar die Mühe gemacht, die Vorhänge zuzuziehen, schien aber mittendrin gestört worden zu sein, da in der Mitte eine breite Lücke klaffte, durch die sich die rücksichtslosen Strahlen zwängten. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine Augen an die ungewohnte Helligkeit gewöhnt hatten und dann erst erkannte Sam das Zimmer, in dem er sich befand: Die einfache Einrichtung aus dem Bett, in dem er lag, einer Kommode, einem kleinen Tisch und einem Stuhl und der starke Geruch nach Motoröl ließen auf Bobby’s Haus schließen und etwa eine halbe Sekunde später wurde sein Verdacht bestätigt, als die Tür geöffnet wurde und erst Dean und dann Bobby das Zimmer betraten. “Ich hab dir doch gesagt, dass er-“ Dean brach mitten im Satz ab, als er bemerkte, dass Sam wieder bei Bewusstsein war und seine bis dahin deutlich angespannten Gesichtszüge wurden augenblicklich weicher. „Sammy.“ Sam war sich nicht sicher, was er darauf erwidern sollte, zumal sich sein Hals unangenehm ausgetrocknet anfühlte, sodass er stark daran zweifelte, überhaupt etwas sagen zu können, ohne dabei zu sehr wie ein schwer verstimmtes Musikinstrument zu klingen. Glücklicherweise ergriff Bobby kurzerhand die Initiative und brach die peinliche Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. “Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Junge. Wenn Dean dich nicht rechtzeitig gefunden und sofort hergebracht hätte …“ Er ließ den Satz bewusst offen und hob in einer viel sagenden Geste die Augenbrauen, worauf Sam nur ein verlegenes Lächeln parat hatte. Dann endlich räusperte er sich, um wenigstens etwas zu seiner Verteidigung beitragen zu können. “Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass der Geist ausschließlich am 15. November gesehen wurde und ich habe gedacht-„ “Du hast gedacht?“ Dean’s Stimme hatte mit einem Mal einen klirrenden Unterton angenommen und er trat einen Schritt auf Sam zu, der unter dem tödlichen Blick seines Bruders kaum merklich zusammenzuckte. „Bravo, Sam. Wirklich gut gemacht. Du hättest dabei draufgehen können, falls dir das noch nicht in den Sinn gekommen ist. Keine Alleingänge und was tust du? Schleichst dich spät abends in eine verlassene Fabrikhalle um einem Geist hinterher zu jagen, von dem du bis zu diesem Zeitpunkt nur wusstest, dass er vermutlich – vermutlich, Sam! – an jedem 15. November im Jahr aufkreuzt.“ Dean schnaubte, dann schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Sam war währenddessen fast sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen und er kaute missmutig auf seiner Unterlippe. Die Tatsache, dass Dean vollkommen Recht hatte, traf ihn wie einen Schlag in die Magengegend. Aber er war sich doch so sicher gewesen … Das änderte allerdings nichts daran, dass er Hals über Kopf in eine lebensgefährliche Situation hineingeschlittert war und das, ohne, dass Dean überhaupt etwas davon gewusst hatte. Er schluckte. “Tut mir leid“, begann er zaghaft und es erschreckte ihn selbst, wie kleinlaut und eingeschüchtert diese Worte klangen. „Aber was hätte ich denn tun sollen? Du hast mir schließlich nicht geglaubt und Bobby-„ “Hat dich darauf hingewiesen, wie gefährlich das Ganze ist“, unterbrach ihn Dean erneut mit mahnender Stimme. Ihm war klar, dass Sam eigentlich alt genug war, um auf sich selbst aufzupassen, aber dennoch fühlte er sich für ihn verantwortlich. Er hatte ihrem Vater damals geschworen, ihn zu beschützen, sofern es ihm möglich war und dieses Versprechen wollte er halten. Außerdem war da noch dieser Pakt. Der Pakt, der ihn in weniger als einem Jahr ohne Zwischenstopp direkt in der Hölle abliefern würde, nur, damit Sam leben konnte. Er wollte diesen Pakt nicht umsonst geschlossen haben. Sam nickte wortlos und senkte den Blick auf die Bettdecke. Er konnte ja nachvollziehen, dass Dean sich Sorgen um ihn machte. Bobby ergriff erneut das Wort. “Jetzt sieh erstmal zu, dass du wieder etwas zu Kräften kommst. Dean und ich haben nachgeforscht, während du geschlafen hast und sind dabei auf ein paar wichtige Fakten gestoßen, die uns dabei helfen könnten, diesen verdammten Geist ein für alle Mal zu erledigen.“ Sein Blick wechselte kurz zwischen den beiden Winchester-Brüdern, dann verließ er das Zimmer. Dean ließ ein lautes Seufzen vernehmen, woraufhin Sam instinktiv den Kopf hob. Sein Bruder zog den Stuhl etwas näher zum Bett heran, ehe er sich darauf niederließ und sich durch die Haare fuhr. Nun erst fiel Sam auf, wie erschöpft Dean aussah. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und rasiert hatte er sich an diesem Tag allem Anschein nach ebenfalls noch nicht. “Versprich mir, dass du in Zukunft nicht mehr auf eigene Faust losziehst, ja?“ Sam verzog aufgrund dieser Aufforderung unzufrieden das Gesicht. “Wenn du mir versprichst, übernatürliche Erscheinungen wenigstens in Betracht zu ziehen, anstatt diverse Vorkommnisse einfach abzuhaken“, erwiderte er spitz und fixierte Dean mit einem sturen Ausdruck in den Augen. Dean seufzte erneut, diesmal allerdings leise. Dann nickte er. Sam zögerte noch einen kurzen Augenblick, ehe er die Fragen aussprach, die ihm bereits seit einigen Minuten im Kopf herumschwirrten und ihm keine Ruhe ließen: „Wie lange war ich eigentlich weggetreten? Und was ist überhaupt passiert?“ Überrascht sah Dean seinen Bruder an. „Lange genug, wenn du mich fragst. Vor allem, weil wir uns nicht sicher waren, was genau der Blick des Geistes bei dir bewirkt hat. Ob du nur vorübergehend das Bewusstsein verloren hast, oder ob es weitaus schwerwiegendere Konsequenzen sein würden. Insgesamt warst du zwölf Stunden lang weg.“ Er biss sich kurz auf die Unterlippe, als koste es ihn jede Menge Überwindung, diese Worte laut auszusprechen, dann hakte er nach: „Und du erinnerst dich an nichts mehr?“ Sam stöberte in seinem Kopf nach dem vergangenen Abend, doch er stieß nur auf vereinzelte Fetzen, mit denen er nicht besonders viel anfangen konnte. Er erinnerte sich an den Zeitungsausschnitt, den er eingesteckt hatte und an das sonderbare Geräusch von Flügeln. Und er glaubte zu wissen, dass seine Taschenlampe irgendwann versagt hatte und, dass Dean ebenfalls in der Fabrikhalle gewesen war. Aber sämtliche Details, die nötig gewesen wären, um den gesamten Verlauf zu rekonstruieren, schienen unwiderruflich gelöscht worden zu sein. “Bruchstückhaft“, murmelte Sam schließlich und warf seinem Bruder einen fragenden Blick zu. Es interessierte ihn brennend, wie Dean ihn gefunden und vor allem, warum er überhaupt nach ihm gesucht hatte. Dean räusperte sich. „Naja, nachdem du am Nachmittag immer noch nicht im Motel aufgetaucht bist, habe ich bei Bobby nachgehakt und der hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei dieser Erscheinung auf der Autobahnbrücke höchstwahrscheinlich wirklich um einen Geist handelt. Dabei hat er ausdrücklich betont, dass mit diesem Geist nicht zu spaßen ist, also hab ich mich auf die Suche nach dir gemacht. Ich kenne dich, es war also nicht besonders schwer zu erraten, dass du zu der verlassenen Fabrikhalle gefahren bist, um dort nach eventuellen Spuren zu suchen. Auf halber Strecke hat Bobby sich noch mal gemeldet und mir mitgeteilt, dass wir dem Geist – falls wir ihm begegnen sollten – auf keinen Fall direkt in die Augen sehen sollen. Als ich die Fabrikhalle endlich erreicht hatte, hab ich versucht, dich zu warnen, was allerdings nach hinten losgegangen ist. Er stand direkt hinter dir, du hast dich umgedreht und bist zusammengeklappt. Ich hab dich in den Wagen verfrachtet und hergebracht. Ende der Geschichte.“ Sam nickte nachdenklich und versuchte erneut, sich den genaueren Ablauf ins Gedächtnis zu rufen, doch selbst jetzt, wo Dean ihm alles erklärt hatte, herrschte in seinem Kopf ein reines Durcheinander an Bildern und Geschehnissen, die er einfach in keine sinngemäße Reihenfolge bringen konnte. Als es in seinem Kopf erneut zu pochen begann, gab er schließlich auf und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Danke.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Dean verzog das Gesicht, wie immer, wenn Sam sich bei ihm bedankte und tat diese Bemerkung mit einer knappen, aber nachdrücklichen Handbewegung ab. „Ruh dich noch etwas aus. Anschließend können wir gemeinsam beratschlagen, wie wir bei diesem Geist vorgehen wollen.“ Noch ehe Sam etwas erwidern, geschweige denn, widersprechen konnte, erhob sich Dean und verließ das Zimmer. Sam seufzte und sank etwas mehr in das Kissen unter seinem Kopf zurück. Kapitel 5: Schuld ----------------- „Der Mottenmann.“ “Der Mottenmann?“, hakte Sam perplex nach und warf seinem Bruder einen undefinierbaren Blick zu, der eindeutig sagte, dass er nicht das Geringste von dem verstand, was Bobby eben gesagt hatte. “Ganz genau, der Mottenmann“, bestätigte Dean, wobei ihm anzusehen war, dass er sich ein amüsiertes Grinsen verbeißen musste. Sam fühlte sich soweit wieder gut und nachdem er noch etwa eine halbe Stunde lang das Bett gehütet hatte – Dean hatte quasi darauf bestanden, ansonsten wäre er schon viel früher aufgestanden – hatte er ziemlich glaubhaft deutlich gemacht, dass er wirklich keine Kopfschmerzen mehr hatte und, dass ihm auch sonst nichts fehlte. Inzwischen war es zwölf Uhr und Sam, Dean und Bobby saßen am Küchentisch, sämtliche Informationen bezüglich des so genannten Mottenmanns vor sich ausgebreitet und beratschlagten, wie sie die ganze Sache angehen sollten. Als bei Sam der Groschen immer noch nicht gefallen zu sein schien, setzte Bobby zu einer Erklärung an. „Die Presse hat sich diese Bezeichnung für unsere Erscheinung damals ausgedacht, da viele Augenzeugen mitunter berichtet hatten, eine mannsgroße Motte sei auf der Autobahnbrücke vor ihnen aufgetaucht.“ Sam nickte kaum merklich, woraufhin sich ihm nun allerdings eine andere Frage stellte: „Und wie kommt es, dass in meinen Nachforschungen kein Wort darüber verloren wurde, dass man ihm nicht in die Augen sehen soll?“ “Weil du nicht gründlich genug recherchiert hast, Sammy“, warf Dean ein, noch bevor Bobby überhaupt den Mund aufmachen konnte und schob seinem Bruder die Kopien von einigen Zeitungsausschnitten hin. Einer davon stammte aus dem Jahr 1961. Sam’s Augen huschten kurz über die wenigen Zeilen, dann fasste er Dean wieder ins Visier und schluckte. Sein Gesicht hatte fast sämtliche Farbe verloren. „Er ist also doch über vierzig Jahre lang regelmäßig in Erscheinung getreten und es gab nur fast keine Zeugen, weil die meisten seiner Opfer tödlich verunglückt sind“, fasste er den Inhalt der Artikel zusammen und Dean bestätigte mit einem knappen Kopfnicken. “Richtig. Die paar wenigen, die überlebt haben und durch die du dann auch auf ihn aufmerksam geworden bist, haben ihm anscheinend nicht direkt in die Augen gesehen, ansonsten hätten sie es vermutlich ebenfalls nicht überlebt.“ Sam schwirrte regelrecht der Kopf. Wie hatte er nur so blind sein können? Es lag doch offen auf der Hand, dass rachsüchtige Geister in regelmäßigen Abständen töteten und nicht rein nach Belieben zwischendurch mal ein paar Jahre Pause einlegten. Und nur, weil er an dieses kleine Detail nicht gedacht hatte, hätte er seinen kleinen Ausflug zu der stillgelegten Sprengstofffabrik um ein Haar mit dem Leben bezahlt. Aber wenigstens war seine Aktion nicht ganz umsonst gewesen. Er zog den Zeitungsausschnitt, den er in der Halle gefunden hatte, unter dem übrigen Papierkram auf dem Tisch hervor und hielt ihn Dean unter die Nase. „Was meinst du? Könnte das unser Mann sein?“ Dean runzelte die Stirn, während er den Artikel kurz überflog, dann reichte er ihn Bobby, der wiederum nickte. „Allerdings, das ist er.“ “Dann sehen wir zu, dass wir den Kerl um die Ecke bringen“, ließ Dean verlauten und wollte schon aufstehen, doch Bobby hielt ihn zurück. Er hatte während ihres Gesprächs in der Tageszeitung geblättert, die er den beiden Winchester-Brüdern nun hinschob. “Das solltet ihr euch vielleicht ansehen.“ Seine Stimme hatte einen eigenartigen Klang angenommen, der Sam und Dean gleichermaßen dazu veranlasste, den Artikel, von dem Bobby sprach, genauer unter die Lupe zu nehmen. Studenten verunglücken tödlich – hat der mysteriöse Mottenmann wieder zugeschlagen? In der Nacht vom 20. auf den 21. November ereignete sich auf der Autobahn nahe Point Pleasant ein tödlicher Unfall. Die beiden Studenten Kelly Morgan und Neal Andrews befanden sich gerade auf dem Nachhauseweg, als Neal die Kontrolle über den Wagen verlor und dieser ins Schleudern geriet. Beide Insassen waren sofort tot. Das Auto wurde mitsamt ihren Leichen am frühen Morgen von einem vorbeifahrenden Ehepaar entdeckt, die sofort die Polizei und den Krankenwagen verständigten. Der Wagen wurde noch vor Ort untersucht, allerdings konnten keinerlei Schäden festgestellt werden. Selbstmord wird ebenfalls ausgeschlossen, da beide Studenten laut ihren Freunden und Familienmitgliedern äußerst lebensfrohe Menschen gewesen waren. Nun stellt sich uns die Frage, ob hierbei erneut der mysteriöse Mottenmann seine Finger im Spiel hatte, der bereits seit mehreren Jahrzehnten auf der Autobahn nahe Point Pleasant sein Unwesen treibt. Sam war der erste, der seine Stimme wieder fand. „Was zum …?“ Dean schüttelte energisch den Kopf. „Das kann nicht sein.“ “Reiner Zufall“, bestätigte Sam und versuchte seine Worte ebenfalls mit einem entschlossenen Kopfschütteln zu unterstreichen. „Seid ihr euch sicher?“, hakte Bobby zögernd nach und sein Blick wechselte mehrmals zwischen den beiden Brüdern. “Hundertprozentig!“ Dean schob die Zeitung zurück in die Mitte des Tisches. „Du weißt doch selbst, dass es Geistern unmöglich ist, zu einer beliebigen Zeit aufzutauchen. Sie sind an den Tag ihres Todes gebunden und der war in diesem Fall vor etwas weniger als einer Woche.“ “Es sei denn, sie bekommen Hilfe von außen. Eine Beschwörung, oder-„ “Du glaubst doch nicht etwa, dass jemand auf die Idee kommt, jemanden wie den Mottenmann zu beschwören?“, unterbrach Dean Bobby’s Mutmaßung und erntete dafür einen strafenden Blick, der allerdings durch ihn hindurchzugehen schien. „Moment“, schaltete sich Sam ein, „wie ist es dem Mottenmann dann gelungen, in der Fabrikhalle in Erscheinung zu treten?“ Eine plötzliche Stille trat ein, bis Bobby nachdenklich das Wort ergriff. „Sicher bin ich mir nicht, aber es kann natürlich sein, dass du für seine weitere Existenz eine Gefahr dargestellt hast. Unter diesem Umstand ist es Geistern möglich, sich zu schützen. Aber vermutlich trifft das nur zu, wenn man sich wie du in der Fabrikhalle befindet. Die Erscheinung auf der Autobahn, da muss etwas Anderes dahinterstecken. Es muss nicht unbedingt eine Beschwörung gewesen sein, es könnte auch einfach der Bann, der den Geist an den Jahrestag seines Todes bindet, gebrochen worden sein. “Und wie soll man einen solchen Bann brechen?“ Sam wirkte wenig überzeugt. „Einen Bann“, setzte Bobby zu einer Erklärung an, wobei er jedes einzelne Wort genauer als nötig betonte, sodass Sam instinktiv den Kopf einzog. „kann man brechen, indem man den Geist – oder Dämon, wie auch immer – befreit. Das hat rein gar nichts mit Hokuspokus zu tun, wie viele vielleicht denken mögen; man muss ihm schlicht und ergreifend die Tür zur Außenwelt öffnen.“ Dean’s Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er endlich verstand und Bobby nickte bestätigend. Auch Sam war erneut schlagartig schlohweiß im Gesicht geworden. „Du hast es verabsäumt, den Zugang zur Fabrikhalle wieder zu schließen, richtig?“ “Woher hätte ich denn wissen sollen, dass dieser beschissene Geist das gleich als Einladung in die Außenwelt betrachtet?“, verteidigte sich Dean heftiger als nötig und Bobby hob beschwichtigend die Hände. „Es bringt absolut niemandem etwas, wenn ihr euch jetzt gegenseitig die Köpfe einschlagt. Lasst uns lieber beratschlagen, wie wir den Mottenmann ein für alle Mal vernichten.“ “Die Knochen salzen und verbrennen?“, schlug Sam vor und schaute fragend in die Runde. “Klugscheißer“, murrte Dean, „weil wir ja auch so viel Ahnung davon haben, wo seine Leiche begraben liegt.“ “Sag bloß, das habt ihr nicht herausfinden können?!“ “Würde ich sonst noch tatenlos hier sitzen?“ “Jungs!“, fuhr Bobby dazwischen und nachdem Dean seinem Bruder einen letzten, beeindruckend scharfen Blick zugeworfen hatte, kehrte schlagartig Ruhe ein. „Wir haben einen Namen und wir haben einen Todestag. Das heißt, ihr müsst nur die umliegenden Friedhöfe abklappern, um fündig zu werden. Am besten macht ihr euch sofort an die Arbeit, um dem Mottenmann nicht noch mal die Gelegenheit zu bieten, ungestört zuschlagen zu können.“ Dean sah zwar wenig begeistert aus, nickte allerdings und auch Sam gab sich geschlagen. Sie standen auf und Bobby begleitete sie zur Tür. „Ich melde mich, sobald ich auf wichtige Informationen stoßen sollte.“ Auf dem Highway hing erneut diese eisige Stille zwischen ihnen, bis Sam es nach etwa einer halben Stunde nicht mehr aushielt und seinem Bruder einen zögernden Blick zuwarf. “Dean?“ Dean brummte zum Zeichen, dass er zuhörte, starrte allerdings weiterhin verbissen nach vorn auf die Straße, als erfordere es höchste Konzentration, den Impala geradeaus zu lenken. “Das alles ist nicht deine Schuld, hörst du?“, versuchte Sam zaghaft die Situation zwischen ihnen zu entspannen, woraufhin nur ein abfälliges Schnauben erklang. „Dean!“ Erst, als Dean nach etwa einer Minute immer noch nicht reagiert hatte, wurde Sam schmerzlich bewusst, dass sein Bruder ihn ignorierte. Er seufzte leise, schüttelte verständnislos den Kopf und richtete seinen Blick ebenfalls wieder nach vorn. Wenn Dean nicht wollte, dann konnte er noch so lange an ihn heranreden; das hatte in etwa denselben Effekt, wie wenn er sich mit einer Wand unterhalten würde. Dean wollte wirklich nicht darüber sprechen und zwar, weil er genau wusste, was Sam ihm versuchen würde einzureden: Dass er es nicht hatte wissen können; dass es tagtäglich vorkam, dass jemand versehentlich einen Geist oder einen Dämonen befreite. Blablabla. In störte weniger die Tatsache, dass der Mottenmann von nun an jede Nacht sein Unwesen auf der Autobahnbrücke treiben würde, wenn sie ihn nicht schnell genug aus dem Weg räumten, als die Hinsicht, dass er es zu verschulden hatte. Die Menschen, die den übernatürlichen Wesen ansonsten den Weg in die Außenwelt bereiteten, wussten meist nicht, was sie taten, ganz im Gegensatz zu ihm. Er wusste, was in dieser gottverdammten Welt vor sich ging und er wusste, wie man es aufhalten konnte. Da war es geradezu ein Unding, dass ein solcher Fehler jemandem wie ihm passierte. Aber in der stillgelegten Fabrik hatte er einfach nicht daran gedacht. Er hatte nur Augen für Sam gehabt; der Geist oder der Rest der Menschheit war ihm in diesem Augenblick vollkommen gleichgültig gewesen. Alles, woran er hatte denken können, war sein Bruder gewesen und, dass er ihn schnellstmöglich in Sicherheit bringen musste. Kapitel 6: Der Mottenmann ------------------------- Auf dem dritten Friedhof fanden die Winchester-Brüder endlich, wonach sie gesucht hatten: Das Grab von William Benning. Sie warteten, bis die Dunkelheit hereinbrach, ehe Dean zwei Schaufeln, eine Tüte mit Salz und ein Feuerzeug aus dem Wagen holte und sie damit begannen, das Grab auszuheben. Seit seinen Annäherungsversuchen auf dem Highway hatte Sam es unterlassen, mit seinem Bruder sprechen zu wollen und Dean hatte ebenfalls keinerlei Anstalten gemacht, die Initiative zu ergreifen. Erst, als sie etwa eine halbe Stunde lang Erde fortgeschaufelt hatten, begann er leise zu fluchen. “Wenn das hier vorbei ist, bestehe ich auf mindestens eine geister- und dämonenfreie Woche!“ “Das sagst du jedes Mal“, bemerkte Sam schmunzelnd und warf seinem Bruder einen viel sagenden Blick zu. Dieser ließ erneut ein abfälliges Schnauben vernehmen und rammte nachdrücklich die Schaufel in den Boden, ehe er sich auf dem hölzernen Griff abstützte und sich mit den rechten Handrücken vereinzelte Schweißperlen von der Stirn wischte. "Und jedes Mal kommt uns etwas in die Quere." Sam zuckte amüsiert mit den Schultern. Er konnte den Unmut seines Bruders diesbezüglich nur zu gut nachvollziehen, doch er wusste auch, dass Dean es eigentlich überhaupt nicht so meinte, wie er es eben gesagt hatte. Natürlich konnte es gehörig an den Nerven zehren, wenn sich ihnen eine übernatürliche Erscheinung nach der anderen in den Weg stellte, aber sie hatten sich nun mal darauf spezialisiert, Geister und Dämonen zu jagen. Das war - wie er sich mittlerweile eingestehen musste - immerhin um einiges abwechslungsreicher, als in der Universität zu pauken. Obwohl er ab und an sehnsüchtig an die ruhigen Vorlesungen zurückdachte, würde er ihren jetzigen Lebensstil um nichts in der Welt aufgeben. Und Dean ging es genauso, da war er sich sicher. "Aber was soll's." Dean schaufelte eine weitere Ladung Erde beiseite, und hob die Augenbrauen, als er daraufhin endlich auf etwas Hartes stieß. "Sieht aus, als wären wir auf Gold gestoßen, Sammy." Es dauerte noch etwa zehn Minuten, bis sie den hölzernen Sarg sauber freigelegt hatten und Dean sprang gekonnt in das ausgehobene Grab, um ihn zu untersuchen. Seine Diagnose lautete sauber zugenagelt, doch das sollte kein allzu großes Hindernis darstellen. Er orderte zuerst eine Zange, dann - als diese unvorhergesehen den Dienst quittierte - ein Brecheisen und Sam reichte ihm das gewünschte Werkzeug schweigend, nachdem er es aus dem Kofferraum des Impala geholt hatte. "Würdest du wohl so freundlich sein und deinen Arsch hier herunterschwingen, um mir zu helfen?" Dean fluchte lautstark und schlug mit dem Brecheisen kurzerhand auf den Sargdeckel ein, als sich dieser selbst nach größten Bemühungen nicht öffnen ließ - natürlich ohne Erfolg. Sam sprang ebenfalls hinab und gemeinsam gelang es ihnen letztendlich doch, den hölzernen Deckel vom restlichen Sarg zu stemmen. Ein fahler Geruch drang ihnen aus dessen Inneren entgegen und Dean hielt unwillkürlich die Luft an, während er die verbliebenen Überreste William Bennings genauer in Augenschein nahm. "Das darf doch nicht wahr sein." Sam hob alarmiert den Kopf. "Was darf nicht wahr sein?" "Na, sieh doch selbst hin." Dean wies auf die vereinzelten Knochen, die das Skelett repräsentierten - ein Skelett ohne Schädel. "Wer auch immer diesem Benning seine letzte Ehre erwiesen hat - er hat ihn wohl nicht besonders gemocht. Großartig." “Das ist höchstwahrscheinlich auch der Grund, weshalb der Geist ohne Kopf in Erscheinung tritt. Aber vielleicht ist der Schädel anderweitig abhanden gekommen“, mutmaßte Sam, während er sich über den Sarg beugte und das Skelett nun ebenfalls eingehend inspizierte. “Wie auch immer“, tat Dean die Bemerkung seines Bruders ab und zog die kleine, mit Salz gefüllte Plastiktüte aus seiner Hosentasche. „Lass uns diese Überreste hier verbrennen, dann sollten wir schnellstens zusehen, dass wir den Schädel ausfindig machen.“ Mit diesen Worten verstreute er eine gute handvoll Salz auf den einzelnen Knochen um sie anschließend mit seinem Feuerzeug in Brand zu setzen. Während sich die Flammen an den gesalzenen Überresten in die Höhe leckten, kletterten die Winchester-Brüder wieder aus dem ausgehobenen Grab und Dean klopfte sich den Dreck von seinen Jeans. Dann gab er Sam mit einem kurzen Blick zu verstehen, ihm zu folgen, ehe er sich auf den Weg zurück zum Impala machte. “Also, auf zur Fabrikhalle.“ Sam machte ein verdutztes Gesicht, während er zu Dean aufholte. “Zur Fabrikhalle?“ “Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff! Der Unfall ist in der Fabrikhalle passiert. Vielleicht haben wir ja Glück und finden den Schädel dort. Wenn nicht, dann wenigstens ein paar Hinweise darauf, wo er eventuell sein könnte. Muss ja einen Grund haben, dass sich Benning von dieser Sprengstofffabrik absolut nicht trennen kann.“ Diese Antwort leuchtete Sam ein, also nickte er nachdrücklich. Hinter ihnen brannte das Feuer langsam herunter und ließ nichts zurück außer verkohlte Asche und das nun leere Grab. Während sie den Highway Richtung Point Pleasant entlangfuhren, dröhnte Lonely Is The Night von Billy Squier aus den Lautsprecherboxen und Dean sang lautstark mit, während er mit den Fingern im Takt auf das Lenkrad trommelte. Sam verdrehte hoffnungslos die Augen, schoss seinen Bruder gedanklich auf den fernsten aller Planeten und richtete seinen Blick nach vorn auf die Fahrbahn. Gerade noch rechtzeitig, um die schwarze Gestalt zu erkennen, die auf der vor ihnen liegenden Autobahnbrücke stand. Sam schreckte zurück. “DEAN!“ Dean reagierte schnell; trat das Gaspedal durch und der Wagen schlug erst einen Haken, ehe er quer und mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. “Verdammt, was soll der Scheiß? Hat man denn wirklich keine ruhige Minute mehr?“, begann Dean lautstark zu fluchen, um die innerlich aufkeimende Unruhe niederzukämpfen, die ihm der plötzliche Schrecken beschert hatte. Er war so sehr in dieses Lied eingetaucht, dass ihn erst Sam’s panischer Aufschrei auf die Gestalt aufmerksam gemacht hatte. Neben ihm atmete Sam nach dieser rasanten Vollbremsung erst einmal tief durch, ehe er einen Blick aus dem Fenster wagte. Nichts. Aber er hatte den Mottenmann doch ganz deutlich vor ihnen gesehen! Und nun schien er sich in Luft aufgelöst zu haben. Er spielte mit ihnen. Sam schluckte und warf einen kurzen Blick zu Dean. „Lass uns das ein für alle Mal beenden!“ Sie stiegen aus, Dean umrundete den Wagen und reichte Sam nach einem kurzen Zwischenstopp beim Kofferraum eine der beiden geladenen Schrotflinten. Bis zur Fabrikhalle war es nicht mehr weit, da konnten sie den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen, was unter diesen Umständen auch wirklich sicherer war. Nach etwas weniger als zehn Minuten und ohne Zwischenfälle – abgesehen davon, dass Dean aufgrund der nächtlichen Dunkelheit mehrmals über diverse Baumwurzeln gestolpert war und Sam irgendwann fluchend vorausgeschickt hatte – erreichten sie schließlich die Lagerhalle. Der Zugang stand noch offen, genau so, wie Dean ihn bei seiner Rettungsaktion zurückgelassen hatte, aber die Atmosphäre war eine komplett andere. Man konnte das Böse, das diesen Ort einhüllte, geradezu spüren und danach greifen und Sam behagte diese Tatsache überhaupt nicht. Wenige Schritte vor der Halle blieb er stehen und wandte sich zu Dean um. Er hatte ihn schon lange nicht mehr mit einem derart eisigen Gesichtsausdruck gesehen, doch der war – wie er zugeben musste – mehr als berechtigt. Immerhin hatte sie dieser Geist nun bereits zweimal und das binnen kürzester Zeit beinahe das Leben gekostet. Und er wusste, wie Dean auf derartige Herausforderungen reagierte – er konnte einfach nicht anders, als sich von ihnen provozieren zu lassen. „Augen zu und durch, Sammy.“ Dean wärmte seine Mimik für ein kurzes Grinsen auf, als er sich des Wortwitzes bewusst wurde und warf Sam einen viel sagenden Blick zu. Gemeinsam betraten sie die Fabrikhalle und zogen fast zeitgleich ihre Taschenlampen hervor, um sich etwas Licht verschaffen zu können. Auch das Innere der Halle hatte sich nicht im Geringsten verändert. Es fehlten nach wie vor vereinzelte Dielenbretter im Boden und auch die Maschinen standen noch an Ort und Stelle. Doch die Präsenz des Bösen war hier noch viel stärker zu spüren, als außerhalb des Gebäudes. Dean machte sich kurz mit ihrer neuen Umgebung vertraut, indem er den Lichtkegel der Taschenlampe mal hierhin, mal dorthin schwenkte, ehe er einen Entschluss fasste. „In dem Artikel hieß es, der Unfall sei bei der Arbeit passiert, richtig? Dann sind diese Maschinen hier unser erster Anhaltspunkt. Such du dort, ich nehme mir diese Seite vor.“ Er deutete kurz in die zwei entsprechenden Richtungen, Sam nickte und sie machten sich an die Arbeit. Sie untersuchten das Erdgeschoss eine gute halbe Stunde, allerdings mit einem relativ enttäuschenden Ergebnis: Sam hatte eine vergilbte Bedienungsanleitung ausgegraben und Dean war auf ein paar Rohstoffe zur Sprengstoffentwicklung gestoßen – alles Dinge, mit denen sie nicht das geringste anfangen konnten. Während sich Dean weiter in die Trümmer vorarbeitete, widmete sich Sam einer der Maschinen. Intakt schienen sie alle nicht mehr zu sein, zumal die Sprengstoffherstellung mittlerweile so sehr vereinfacht worden war, dass sie wahrscheinlich selbst funkionsfähig unbrauchbar wären. Sam ließ den Schein seiner Taschenlampe über die vereinzelten Hebel und Knöpfe schweifen und wollte sich gerade der nächsten Maschine zuwenden, als ihm die verstaubten und halb verblichenen Lettern eines Namensschildes in die Augen stachen. nning. Misstrauisch, aber auch neugierig trat er näher an die Maschine heran, wischte mit der Hand vorsichtig die millimeterdicke Staubschicht weg und – hielt unwillkürlich die Luft an. Leicht zu entziffern war der Name nicht, dafür aber unverkennbar: William Benning. Demnach musste er zu seinen Lebzeiten an dieser Maschine gearbeitet haben. Und an dieser Maschine hatte sich auch der Unfall zugetragen, dem Benning erlegen war. Sam drehte sich um, in die Richtung, in der er seinen Bruder vermutete. „Dean?“ „Hm?“, kam die gedämpfte und mürrische Antwort. „Ich glaube, das solltest du dir ansehen.“ Er hörte Schritte, etwas krachte lautstark und Dean fluchte. „Ich schwöre dir, wenn wir-“ Dean brach so abrupt ab, dass ihm der Mund offen stehen blieb. Er hatte die Taschenlampe suchend hin- und hergeschwenkt, um Sam's genauen Standort auszumachen, doch in geringer Entfernung hinter seinem Bruder hatte er noch etwas gesehen. Jemanden. Eine schwarze Gestalt, die reglos in der Dunkelheit verharrte und sie augenscheinlich bereits seit geraumer Zeit beobachtete. Seine Gedanken überschlugen sich und es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe er verstand. „AUGEN ZU, SAM!“ Er hörte Flügelschlagen und kniff die Augen zusammen. Wie zum Teufel sollte er eine Kreatur vernichten, die er nicht einmal sehen konnte? Er konnte ja nicht einfach wie ein wildgewordener Irrer in der Gegend herumballern – nicht, solange Sam in unmittelbarer Nähe war. „Sammy?“ „Ich bin hier.“ Großartig. Wo war hier? Dean verkniff sich diesen beißenden Kommentar und streckte stattdessen suchend den Arm aus, während er ein paar unsichere Schritte nach vorn machte. Er atmte erleichtert auf, als seine Fingerspitzen den Stoff von Sam's Jacke ertasteten. „Okay, er muss immer noch hier in der Nähe sein“, begann er und umfasste die Schrotflinte in seiner Linken etwas fester. „Egal was passiert: Du lässt die Augen geschlossen, verstanden?“ Seine Stimme hatte einen ungewohnt scharfen Unterton angenommen, der deutlich machte, dass er keinerlei Widerspruch dulden würde. Er wusste nicht, ob es ihm noch einmal gelingen würde, Sam hier herauszuschaffen, wenn diesem etwas zustoßen würde und er wollte es auch nicht riskieren. Sam murmelte eine leise Zustimmung, woraufhin sie sich mit dem Rücken zueinanderstellten, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Eine ganze Weile geschah – nichts. Dann erklang erneut das leise Geräusch von Flügeln, allerdings in einiger Entfernung. Dean spürte, wie Sam sich hinter ihm verkrampfte und er trat fast automatisch einen Schritt zurück; näher an seinen Bruder heran. Er biss die Zähne zusammen und öffnete erst das rechte Auge einen Spalt breit, dann das linke. Es hatte absolut keinen Sinn, wenn sie nun hier herumstanden und warteten, denn offenbar hatte der Mottenmann nicht vor, sich ihnen zu stellen. Er hinderte sie schlichtweg daran, nach weiteren Hinweisen bezüglich seines Schädels zu suchen, indem er gelegentlich um sie herumflatterte. Wenn das so weiterging, dann würden sie bis zum Sonnenaufgang noch hier stehen. „Was hast du eigentlich gefunden?“, erkundigte sich Dean schließlich mit leiser Stimme, in der Hoffnung, dass Sam vielleicht auf ein brauchbares Detail gestoßen war. Wurde ja langsam Zeit; so ein Schädel konnte sich ja bekanntlich nicht in Luft auflösen. „Die Maschine links von uns“, begann Sam und machte eine knappe Handbewegung in die entsprechende Richtung. „Was ist damit?“ „Benning hat sie bedient. Das heißt, genau hier muss sich der Unfall ereignet haben.“ Sam spürte, wie Dean sich von ihm löste und drehte instinktiv den Kopf, obwohl er mit geschlossenen Augen ja sowieso nichts sehen konnte. „Dean? Dean, was hast du vor?“ Dean zögerte einen kurzen Moment. „Mir die Sache genauer ansehen, das hab' ich vor.“ „Das ist Wahnsinn!“, zischte Sam, als er hörte, wie sich sein Bruder langsam von ihm entfernte. Obwohl er vorhin noch bereitwillig eingewilligt hatte, es nicht zu tun, öffnete er daraufhin vorsichig die Augen und schwenkte den Strahl seiner Taschenlampe nach links. Dean kniff unwillkürlich die Augen zusammen, als das ungewohnt helle Licht ihn erfasste. „Leuchte damit gefälligst woanders hin!“, fauchte er, ehe er in die Hocke ging, um einen Trümmerhaufen in knapper Entfernung der Maschine zu untersuchen. Sam trat neben ihn. „Du meinst doch nicht, dass-“ „Noch meine ich überhaupt nichts“, schnitt Dean ihm unwirsch das Wort ab, „aber irgendwo muss dieser verdammte Schädel ja sein. Und niemand hatte einen Grund, Benning nach seinem Tod zu enthaupten, vielleicht haben wir also Glück und der Schädel ist bei dem Unfall abhanden gekommen und einfach nicht gefunden worden. Wäre bei dem Chaos hier kein Wunder. Aber jetzt hilf mir lieber, anstatt dumme Fragen zu stellen.“ Er legte seine Schrotfinte auf den Boden, umfasste eines der ineinanderverkeilten Bretter mit beiden Händen und gemeinsam hievten sie es beiseite, um sich nach und nach vorarbeiten zu können. In unregelmäßigen Abständen hielten sie inne und lauschten, doch der Mottenmann schien sich wieder irgendwo niedergelassen zu haben und beobachtete sie – oder aber, er war auf seinen nächtlichen Beutezug auf dem nahegelegenen Highway gegangen. Beide Möglichkeiten waren alles Andere als wünschenswert. Während Sam ein weiteres Brett beiseite schaffte, leuchtete Dean in das soeben freigelegte Loch und stieß einen triumphierenden Pfiff aus. „Na also. Der Jackpot.“ Unter zwei weiteren Brettern eingeklemmt konnte er im Schein seiner Taschenlampe die Seite eines halb verwesten Schädels erkennen. „Seinen Verletzungen erlegen“, schnaubte Dean kopfschüttelnd, während er und Sam den letzten Überrest Bennings freilegten, „sehr unglücklich ausgedrückt, wenn man bedenkt, dass ihm der Kopf weggesprengt wurde.“ Er zog das Salz und sein Feuerzeug aus der Jackentasche und war gerade dabei, den Schädel zu präparieren, als ein markerschütternder Schrei erklang. Wie in der Nacht zuvor war es kein wirklicher Laut, sondern eher ein unerträgliches Gefühl. Sam ließ seine Taschenlampe fallen, die augenblicklich erlosch und Dean hielt verkrampft inne. Flügelschlagen, das rasch näher kam. Dann wurde es für den Bruchteil einer Sekunde erdrückend still, ehe Sam plötzlich nach hinten gerissen wurde. Er kniff instinktiv die Augen fest zusammen und landete wenige Meter entfernt mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. „Sam, bist du in Ordnung?“ Dean war aufgesprungen, die Taschenlampe in der einen, die Schrotflinte in der anderen Hand. Sam tastete vorsichtig an seinen Hinterkopf, mit dem er gegen eine der Maschinen geknallt war und verzog das Gesicht, als ihn ein heftiger Schmerz durchzuckte. Aber wenigstens spürte er kein Blut. „J- ja, ich bin okay“, ließ er daraufhin verlauten und kam wankend wieder auf die Beine. Die Augen hielt er nach wie vor geschlossen und streckte nun wie vorhin Dean suchend die Arme aus, um nicht versehentlich irgendwo gegenzulaufen. Seine Finger ertasteten Stoff. „Dean?“ „Hier hinten“, kam Dean's Antwort von einer unerwarteten Distanz und aus der entgegengesetzten Richtung. Sam stolperte entgeistert zurück, als ihm gewahr wurde, wer da neben ihm stand. „DEAN!“ „Sam? Sammy, wo steckst du?“ „Er ist hier. Der Mottenmann!“ Dean spürte, wie ihm eiskalt wurde, als Sam's Worte in seinen Verstand sickerten und er wurde von einer unnatürlich starken Wutwelle überrollt. Er ging erneut in die Hocke, tauschte die Schrotflinte gegen das Feuerzeug und schwenkte die Taschenlampe ziellos in die Richtung, aus der Sam's Stimme gekommen war. Er erkannte die schwachen Umrisse einer gespenstischen Gestalt – einer Gestalt, ohne Kopf. Ihr Gesicht – konnte man das überhaupt Gesicht nennen, wenn sie keinen Kopf hatte? Egal – hatte sie Sam zugewandt, der sich in knapper Entfernung hilflos durch die Dunkelheit tastete. „Hey, Schmetterling!“ Die Gestalt fuhr herum und Dean kniff die Augen zusammen. Man konnte die Spannung zwischen ihnen regelrecht spüren und für ein paar Sekunden schien die Zeit stillzustehen. Dann hörte Dean hastiges Flügelschlagen und er fackelte nicht lange, sondern ließ die Flamme des Feuerzeugs aufflackern, um den Schädel in Brand zu setzen. Gierig leckten die Flammen an der gesalzenen Schädeldecke und den umliegenden Holzbrettern empor und im selben Moment hielt der Mottenmann inne, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Dean wagte es, vorsichtig die Augen zu öffnen und sah gerade noch, wie sich die Gestalt vor ihm krümmte, dann stieß sie einen letzten, durchdringenden Schrei aus – Dean musste sich die Ohren zuhalten – und verschwand im Nichts. Dean zögerte noch kurz, ehe er die Hände von den Ohren nahm und erleichtert durchatmete. Nach diesem ewigen Hin und Her hatten sie es endlich geschafft, den Mottenmann zu vernichten. Er stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans. „Sam?“ Er leuchtete in Sam's Richtung, der – die Augen mit einem Arm vom Licht abschirmend – auf ihn zugestolpert kam. Neben ihnen breitete sich das Feuer langsam aber sicher aus, indem sich die Flammen in das trockene Holz fraßen und Dean warf einen kurzen Blick auf die Asche, die der Schädel zurückgelassen hatte. „Man, ich hasse Insekten. Aber wenigstens wissen wir nun, warum der Mottenmann so einfach in der Fabrikhalle auftauchen und dich zu Boden starren konnte.“ „Weil ich in der Nähe seines Schädels war“, bestätigte Sam. Dean nickte. „Sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)