Verloren in der Einsamkeit von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 7: Das Schicksal ist rücksichtslos ------------------------------------------ Natürlich behielt Yuyan für sich, dass er Yins scheue Liebeserklärung hautnah miterlebt hatte, er erwähnte genauso wenig, dass Gavin Gefallen daran gefunden hatte, sich mit einem Ast zu befriedigen. Wer wollte das schon detailliert erfahren? Er saugte die Geheimnisse hier wie ein Schwamm auf, gab aber nur einen Bruchteil davon preis und das auch nur auf Nachdruck. Hoffentlich kamen nicht noch mehr hinzu, langsam betrat er einen Bereich, der nicht für ihn gemacht zu sein schien. Egal wie strikt er es immer wieder vermeiden wollte, ein gewisses Thema verfolgte ihn immer, langsam sollte er sich Sorgen machen, ob er es nicht wie ein Magnet anzog. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass es davor kein Entkommen gab, sogar geben durfte, weil sich sonst die Angst verstärkte, auf immer festsetzte und ihn bis ans Ende seines Lebens quälen konnte. Sein Auftrag war klar; er sollte den Nahrungsvorrat aufstocken. Dieses Mal nicht, indem er Tiere im Wald jagte und mitnahm, sondern durch ganz klassisches Beeren- und Kräuterpflücken, wie man es schon vor hunderten von Jahren getan hatte. Keine allzu schwere Herausforderung für Yuyan, dem mindestens zehn Mal von Yael eingebläut worden war, an welchen Kriterien er essbare und giftige Pflanzen erkannte. Außer immer wieder nicken und sich alles in seinem Kopf behalten, konnte er nichts Großartig tun. Dieses Mal bedeutete seine Beschäftigung keine reine Ablenkung, um ihn aus den Füßen zu haben, der Vorratssack hatte sich in den letzten Tagen tatsächlich deutlich geleert und bedurfte Nachschub, für den Yuyan die Verantwortung übertragen bekommen hatte. Er wusste nur nicht, ob er jetzt so stolz darüber sein konnte, stundenlang durch Gestrüpp und Unterholz zu kriechen, während er lieber wieder mit Gavin am See gesessen und seine Anwesenheit gespürt hätte. Doch eine Beschwerde leistete er sich nicht, Yin hatte wieder furchtbare Laune, die ihn wie aus heiterem Himmel ergriffen hatte und durch die er keinen Funken Verständnis für irgendwelche Bitten hatte. Im Gegenteil vor nicht einmal einer Stunde hatte er Gavin auf ziemlich üble Weise angefaucht, weil dieser es nur gewagt hatte, sich zu erkundigen, ob mit ihm alles in Ordnung war. Für Yuyan stand fest, dass heute eine normale Konversation mit ihrem sich selbst ernannten Oberhaupt noch weniger in Betracht kam als zu den Zeiten, zu denen Yin einigermaßen zivilisiert mit seiner Umwelt umsprang. Man hatte Yuyan den Rat gegeben, sich im Gebiet nördlich von ihrem Aufenthaltsort nach essbaren Dingen umzusehen, da sie dort bisher am häufigsten fündig geworden waren. Hier standen die Bäume oft nicht ganz so eng und ließen durch die lichteren Baumkronen Platz für Licht und Regen zum Wohle der Krautschicht. Nur gab es dafür das Problem, dass auch die Tiere diesen Vorteil bemerkt hatten und ihnen gerne zuvor kam, indem sie die genießbaren Beeren von den Büschen zupften oder ganze Flächen Kräuter mit ihren Artgenossen wegfraßen. Zum Glück musste Yuyan sich für diese Aufgabe nicht wieder leise wie ein Schatten durch diese grüne Wand kämpfen, es war sogar besser für ihn, wenn sich keine Rehe oder ähnliches in der Nähe aufhielten, die ihm seine Zielobjekte vor der Nase wegstahlen. Trotzdem brachte er es sich nicht über sich, wie ein Trampeltier sich den Weg zu bahnen, das hatte der Wald nicht verdient, wenn er ihm unabsichtlich alles niederwalzte, was ihm vor die Füße kam. Das erste Büschel, was verführerisch in Yuyan Sicht auftauchte, entpuppte sich beim zweiten genauen Hinsehen als eine giftige Pflanze, von der man lieber die Finger ließ. Laut Gavin war bei Pflanzen mit kleinen, gezackten Blättern mit einem schwammigen Fleckenmuster immer Vorsicht geboten und Yuyan sah keinen Grund, seinen Hinweis zu ignorieren. Hier im Wald gab es genügend anderes Grünzeug, das man verspeisen konnte. Langsam aber unübersehbar füllten sich mit der Zeit seine Hosentaschen und der mitgebrachte Beutel mit langen dünnen Blättern, teilwiese kaum dicker als Grashalme, und einem Sortiment von unterschiedliche großen Beeren, die in allen möglichen Blau- und Rottönen variierten. Bei jedem einzelnen Strauch hatte sich Yuyan sehr gründlich überzeugt, dass er keine Kriterien aufwies, die auf Unverträglichkeit deuteten. Immerhin wollte er sich selbst kein Abendessen servieren, bei dem er sich danach stundenlang übergeben musste. Das war ihm in seinem Leben erst ein einziges Mal passiert, kurz nach seinem 13. Geburtstag, als einer seiner Mitschüler sich für ganz lustig gehalten hatte und ihm irgendwelche Tabletten in die Wasserflasche geschmuggelt hatten. Ein solches Erlebnis hätte man gerne verdrängt, aber ab und zu fiel es ihm wieder ein. Den Jungen hatte er seit Ausbruch des Virus nie wieder gesehen, irgendwie vermutete, dass er nicht mehr lebte. Nach zwei Stunden intensiver Sammelarbeit und einigen Schrecksekunden, weil er fast einen fatalen Fehlgriff begangen hatte, beschloss Yuyan, dass Yin es ihm erlauben würde, zu ihnen zurückzukehren und suchte sich seinen Weg zum Ausgangspunkt zurück. Es war wirklich erstaunlich, wie gut er sich inzwischen hier auskannte, das hätte er nie für möglich gehalten, weil man immer annahm, ein Baum ähnelte dem anderen, aber wenn man sich ein wenig mit ihnen befasste, wandelte sich die Sichtweise doch gehörig. Ein nagendes Hungergefühl, das er die ganze Zeit erfolgreich überhört hatte, um schneller die Mission zu beenden, schlich sich vehement in sein Bewusstsein und machte ihn darauf aufmerksam, dass er, sobald er im Lager eingetroffen war, mit den Essensvorbereitungen beginnen sollte. Vielleicht mit der Unterstützung von Gavin, auf Yin sollte man lieber nicht zählen, der zerrupfte vor unterdrückten Aggressionen vielleicht nur den gesamten Vorrat, warf ihn zu Boden und verschwand. Unterschätzen sollte man diesen unberechenbaren Asiaten auf keinen Fall, das spürte Yuyan instinktiv jedes Mal aufs Neue. Jael war der einzige, der anwesend war, die anderen beiden waren nicht in Sicht- oder Hörweite. Hoffentlich suchte Yin gerade nicht wegen irgendeiner Kleinigkeit Streit mit Gavin und griff ihn verbal an. „Hast du was gefunden?“, erkundigte sich Jael bei Yuyan. Er war noch eine Spur blasser als man es normalerweise von ihm gewohnt war und hatte Mühe, seine Aufmerksamkeit auf Yuyan gerichtet zu halten. Heute ging es ihm augenscheinlich schlechter als in den Tagen davor; teilweise veränderte sich sein Zustand innerhalb ein paar Stunden. Manchmal blieb er auch Tagelang konstant, man konnte es nie voraussagen, er selbst genauso wenig. Yuyan nickte flüchtig, hielt seine Ausbeute in die Höhe und kniete sich sofort zu ihm, um zu fühlen, ob er Fieber hatte. Seine Vermutung bestätigte sich, die Haut an Jaels Kieferknochen fühlte sich viel zu heiß an, als das es normal gewesen wäre. Wo war Yin, wenn man ihn brauchte? Wenn er ihn nicht informierte, falls er davon noch nichts mitbekommen hatte, wäre Yuyan derjenige, der um einen Kopf kürzer gemacht werden würde. „Weiß du, wo Yin ist?“, fragte er Jael, nachdem er ihn mit einem großen Schluck Wasser aus dem für ihn bereit stehenden Schüsselchen versorgt hatte. „Keine Ahnung.“ Jael machte eine Bewegung, die wohl ein Schulterzucken darstellen sollte, allerdings eher an ein schmerzhaftes Zusammenzucken erinnerte. Egal wie stark sich Jael trotz seiner Krankheit geben wollte, Yuyan versetzte es immer einen Stich, wie verletzlich und schwach er in manchen Augenblicken war. Nach einigen prüfenden Blicken, ob er ihn überhaupt allein lassen konnte, kam er zu dem Schluss, dass das möglich sein musste, immerhin war auch davor niemand in Reichweite gewesen und Jael hatte es bisher überstanden; Yuyan verstaute noch die Mitbringsel in ihrem Vorratssack und begab sich auf die Suche nach dem Rest. Manchmal kam er sich wirklich hier wie der Laufbursche oder der Diener vor, weil er immer irgendwem hinterher rannte, aber in Fällen wie dieser war es besser, bevor er sich unnötigen Ärger einhandelte und er die nächsten Tage als rücksichtsloser Egoist von Yin geschnitten wurde. Auf mehrmaliges Rufen von Yin und Gavins Namen reagierte keiner, am See lag keiner im tiefen Gewässer, platschte in den Wellen herum oder zankte sich lautstark wegen aktueller Themen wie dem nicht mehr ganz so fernen Herbst und dem darauffolgenden Winter. Stattdessen hörte er, als er den See halb umrundet hatte, leise Stimmen und ein halbherzig unterdrücktes Schluchzen, was Yuyan vor Überraschung wie eingefroren stehen bleiben ließ. Etwas war passiert, das stand außer Frage, jeder von ihnen versuchte immer vor den anderen und vor sich selbst so stark wie möglich zu erscheinen. Nun galt es behutsam herauszufinden, was genau stattgefunden hatte oder noch nicht seinen Abschluss gefunden hatte. Yuyan verhielt sich so leise, als wäre er auf der Jagd hinter einem besonders ansehnlichen Hirsch her, jeden Schritt wog er genau ab, um nicht direkt in die Szene hineinzustoplern und sie vielleicht noch zu verschlimmern. Was schließlich in seinem Blickfeld auftauchte, empfand er als so bizarr und fern jeder realen Vorstellung, die in seinem Kopf hatte entstehen wollen, dass er erst einmal glaubte, in einem bösen Traum festzuhängen. In einem großen Feld aus kniehohen, stachelig aussehenden Grashalmen saßen Gavin und Yin sich gegenüber, wobei letztgenannter eigentlich nicht richtig saß, sondern von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt halb auf Gavins Schoß lag und teilweise um sich schlug, als wäre auch er in den Fängen eines hinterhältigen Albtraums. Gavin dagegen saß stumm und blass da, streichelte Yin hölzern über den Kopf und wirkte selbst, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen, weil er sich so hilflos fühlte. Yuyan kam sich vor, als wäre er geradewegs in ein abstruses Paralleluniversum gerannt, weil er die falsche Abzweigung benutzt hatte; sein Kopf sagte ihm, dass Yin nicht weinte, vor allem nicht vor Gavin. Nicht wenn er das ausversehen sah. Einfach niemals. Yin war gemein und teilweise ein Tyrann. Und doch hatte er auch eine andere Seite an ihm gesehen, und auch laut Jael war Yin nicht nur der, für den er sich gab. Angeblich war er sogar nur so, weil sein Selbsthass so unermesslich groß war, dass er ihn nicht allein auf sich richten konnte, weil er ansonsten längst die Flucht aus dem Leben gesucht hätte. Gavin hob den Blick von diesem ungewohnt verletzlichen Yin und sein Blick, der sich mit dem von Yuyan kreuzte, verriet ihm, dass das hier absolut ernst war und er nicht erwarten durfte, dass sich Yin in den nächsten Minuten beruhigte. Es dauerte mindestens eine Stunde, bis die beiden sich im Lager blicken ließen. Yuyan hatte solange immer wieder Jaels Gesundheitszustand überprüft, ihn überzeugt, etwas von den frischen Kräutern zu probieren, und auch für sich selbst ein paar Beeren herausgesucht. Für die anderen beiden konnte immer noch etwas zubereiten, wenn sie wiederkamen, er wusste immerhin nicht einmal, ob ihnen überhaupt nach Essen zumute war. Yin sah fast wieder aus wie immer, nur die leicht geröteten Augen und der fest zusammen gepresste Mund verrieten, dass mit ihm nicht alles in Ordnung war. Ohne Yuyan eines Blickes zu würdigen, stürmte er an ihm vorbei zu Jael; Gavin, der ihm mit ein wenig Abstand gefolgt war, schüttelte geknickt den Kopf und deutete mit einer Handbewegung an, dass Yuyan sich zu ihm gesellen sollte. Es blieb zu hoffen, dass nun eine plausible Erklärung für das Chaos hier folgte. „Was war das?“ Yuyan war immer noch sehr durcheinander von diesem merkwürdigen Schauspiel, das sich hier abspielte und sich noch nicht so anfühlte, als sei es komplett abgeschlossen. Irgendein Teil fehlte noch. „Die Seite von Yin, die er niemandem zeigen möchte.“ Gavin seufzte und warf einen prüfenden Blick zu den beiden anderen; sie sollten anscheinend nicht mitbekommen, dass er Yuyan über Yins Überreaktion aufklärte. „Er leidet eigentlich ziemlich, weil er sich dauernd überfordert fühlt und gleichzeitig ist er zu stolz, um das offen zuzugeben. Da schreit er uns lieber an oder ist unfreundlich.“ „Kommt das oft vor?“ Er lebte nicht seit gestern mit ihnen zusammen und trotzdem hatte Yin es bisher geschafft, es vor ihm geheim zu halten. Nur die anderen hatten es gewusst. Hier schien jeder ein dunkles Geheimnis mit sich herumzutragen, das nie an die Oberfläche gelangen sollte. „Nicht regelmäßig, aber ab und zu schon… besonders wenn es Jael sehr schlecht geht, so wir heute.“ Also hatten sie beide über seinen Zustand Bescheid gewusst; wenn er sich nicht so verantwortlich dafür gefühlt hätte, Yin auf den aktuellen Stand zu bringen, wären Yuyan wieder einige Szenen erspart geblieben. Allerdings waren sie keinesfalls irrelevant. „Aber heute hat er sich noch mehr in die Sache hineingesteigert als sonst“; murmelte Gavin halb zu Yuyan, halb zu sich selbst, als suchte er ernsthaft auf Teufel komm raus eine plausible Erklärung, warum ein psychisch angeschlagener Junge den heftigsten Heulkrampf der letzten Monate erlitten hatte. Dabei konnte die Ursache auch gering sein; auch ein kleines Steinchen hatte die Kraft, eine riesige Lawine in Bewegung zu setzen, die sich nicht mehr bremsen ließ, bis sie alles unter sich verschüttet hatte. „Ich muss besser auf ihn aufpassen.“ Wie viel Verantwortung für ihre Gruppe wollte sich Gavin noch aufhalsen? Es brachte niemandem von ihnen etwas, wenn er daran zerbrach und im Endeffekt vier am Boden zerstörte Personen durch den Wald schlichen, weil sie sich weder selbst noch untereinander mehr helfen konnten. „Glaubst du nicht, dass er das allein hinbekommt?“ Unerwartet heftig schüttelte Gavin den Kopf. „Momentan nicht, nein. Ich habe Angst, dass er auf dumme Ideen kommt, wenn wir es am wenigsten vermuten.“ Zwar konfrontierte Gavin ihn nicht direkt mit den Vermutungen, die ihm im Kopf umherschwirrten, aber Yuyan durchlief ein kalter Schauer, als er endlich verstand, in welche Richtung sich das Ganze hier entwickelte. Anscheinend befürchtete sein Gegenüber, dass Yin sich im allerschlimmsten Fall etwas antat und seine unterdrückte Wut und Enttäuschung vom Leben nicht mehr nur gegen sie richtete, wenn sie ihn überschwemmte. Er hätte nun fragen sollen, ob konkrete Hinweise dafür vorlagen, ob Yin schon einmal etwas ähnliches in dieser Richtung unternommen oder angedeutet hatte, aber dieses Thema weckte in Yuyan ein derartiges Unbehagen, bereitete ihm eine unerklärliche Übelkeit, dass er außer wie eingerostet vor sich hinzustarren nicht viel tat. Warum war alles in der Welt viel komplizierter, als es auf dem ersten Blick erschien? Jedem hätte er ein solches Vorhaben, angefangen bei sich selbst, eher zugetraut als Yin. Schon wieder war eines seiner Weltbilder zu feinem Staub zerfallen. Im kleinen Kreis saßen sie zusammen, um das Essen gemeinsam einzunehmen; allerdings war jeder von ihnen so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, dass in niemandem ein besonders großes Hungergefühl aufgekommen war. Jael wollte aufgrund seines Fiebers nichts zu essen, obwohl Gavin ihn mindestens dreimal dazu aufforderte, wenigstens einen Bissen zwischen den Zähnen zu zerkauen. Yin hockte nur daneben und unterstützte ihn nicht. Seine alte Bissigkeit oder der Zwang, Jael wie eine Glucke zu umflattern, waren noch nicht zu ihm zurückgekehrt, genauso wie seine typische Eigenart, irgendetwas an den Beeren und Kräutern auszusetzen, die er immerhin nicht selbst zusammengesucht hatte. „Hey, Yin.“ Gavin ertrug den Anblick dieser leblosen Hülle nicht länger. „Lass den Kopf nicht hängen wir sind bei dir und…“ Die Hand, dir er zur Beruhigung auf Yins Schulter platzieren wollte, wurde rabiat zur Seite geschlagen, doch keine zwei Sekunden später umfasste Yin sie wie einen rettenden Anker; Gavin verzog das Gesicht, angenehm fühlten sich die Fingernägel, die sich in seinen Handrücken gruben, nicht an. „Du weißt, dass ich von Religion nichts halte und nicht an Gott glaube“, redete Yin plötzlich auf ihn ein. „Aber ich halte es langsam nicht mehr aus, echt nicht.“ Seine andere Hand nahm Gavins linke Hand, sodass ihre Arme ein merkwürdig schiefes Kreuz bildeten. „Du da oben, wer auch immer du bist und was auch immer du da treibst; lass es Jael endlich besser gehen und verdammte Scheiße, tu endlich etwas, damit es uns allen besser geht!“ Jedes einzelne Wort war eine Anklage an ein mögliches transzendentes Wesen, das sich nicht für sich verantwortlich fühlte. Es war schon sehr lange her, das Yuyan das letzte Mal jemand hatte beten sehen; in einer Gesellschaft, die sich für so aufgeklärt und untrennbar mit der Wissenschaft verbunden gehalten hatte, war mit Religiosität und Glauben jeder Art nicht viel anzufangen. Wenn allerdings das angeblich so sichere Fundament der Technik zusammenbrach, kamen wohl zu manchen Zeitpunkten sehr alte Traditionen wieder zum Vorschein. So schnell, wie sein Ausbruch auf sie niedergeprasselt war, so schnell hatte sich Yin auch wieder in der Gewalt, ließ Gavins mit roten Einkerbungen übersäte Hände los und rückte ein ganzes Stück nach hinten, um wieder mehr Distanz zwischen sich und den Rest der Welt zu bringen. Gavin räusperte sich verlegen und überspielte den Vorfall, indem er den Fokus wieder auf ich gemeinsames Essen legte, doch es war klar, dass sich dieses Bild eines nach Erlösung suchenden Yins bei jedem von ihnen in das Gedächtnis eingebrannt hatte, da half kein Wegsehen oder Überspielen. Yuyan beschlich der böse Verdacht, dass es langsam aber sicher mit ihrer kleinen Gemeinschaft bergab ging und das lag nicht an den ersten kühlen Fingern des Herbstes, die er auf seinen unbedeckten Armen spürte. Asphaltgraue Wolken verregneten ihnen gründlich die letzten warmen Sommertage; abends schliefen sie in einer Pfütze ein und wachten am nächsten Morgen in einer noch größeren Lache auf. Doch alles Fluchen und Schimpfen half nichts, das schlechte Wetter ließ sich nicht vertreiben und gewährte ihnen nur kleine Augenblicke, in denen ihre Kleidung Zeit zum Trocknen fand, bevor sich schon wieder der nächste kalte Regenguss über sie legte. Jaels Gesundheit tat das Wetter nicht gut – das Fieber senkte sich nur langsam und ein heftiger Schnupfen mischte sich hinzu –, genauso wenig wie Yins Laune, die seit dem schicksalshaften Tag nur noch zwischen mies und unerträglich pendelte. Yuyan rätselte, ob er dadurch sein Image als bösartige Person wiederherstellen und sein in Mitleidenschaft geratenes Ego eine Spur aufpolieren wollte. Es wäre ihnen allen recht gewesen, wenn er es gelassen hätte, aber ansprechen wollte Yin auch keiner auch nicht darauf. Insgeheim hoffte man, wenn man seinen Ausbruch unter den Teppich kehrte, dass er irgendwann in Vergessenheit geriet. Die Probestunden am See zwischen Gavin und Yuyan wurden nicht vergessen, aber sie kamen immer seltener zustande, weil sich Gavin kaum traute, Yin aus den Augen zu lassen, und mit ihm in der Nähe wollte Yuyan auf keinen Fall ihre Übungen fortsetzen. Spott und stechende Bemerkungen wären das einzige, was er dann noch erntete. Dafür genoss er jeden Sekunde, die er allein mit Gavin verbrachte, umso mehr; wenn sich ihre Finger verhakten und Yuyan in Gavins Blick las, wie sehnsüchtig er darauf hoffte, dass ihnen gemeinsam ein weiterer Fortschritt gelang. Noch einmal eine spontan Umarmung, die von Yuyan ausging; ein längerer Kontakt seiner Fingerknöchel an seinem Kinn. Gavin litt an einem ziemlichen Mangel von Berührungen. „Du bist ziemlich kalt“; stellte Gavin zum wiederholten Mal heute fest, als Yuyan seine Handflächen ihm gegen die Unteramre drückte. „Frierst du irgendwie?“ „Etwas.“ Was kein Wunder war, wenn man sich kaum noch daran erinnerte, wie sich trockene Kleidung auf der Haut anfühlte. „Pass auf, dass du dich nicht erkältest.“ „Werde ich schon nicht.“ Yuyan hatte keine Interesse daran, sich hier irgendetwas einzufangen, was ihm schaden konnte; mit Medizin konnte ihm hier schließlich niemand dienen. Er sah Gavin an, dass er ihm gerne aus reiner Nettigkeit angeboten hätte, ihn zu wärmen, aber sowieso damit rechnete, abgewiesen zu werden. Ganz so falsch lag er damit auch gar nicht, obwohl Yuyan absolut nichts dagegen gehabt hätte, nicht die ganze Zeit dieses leichte Frösteln zu spüren. Nur wäre die Lösung in Form einer Decke eine wesentlich nervenschonendere Angelegenheit. Die Zeit verflog wie im Flug, während sie dort wie in ihrer eigenen kleinen Welt saßen und sich auch nicht von einem neuerlichen Regenschauer vertrieben ließen, der noch eisiger zu sein schien als der letzte. „Wir sollten bald zurückgehen“, meinte Gavin schließlich mit deutlichem Widerwillen in der Stimme; ihm widerstrebte es zutiefst, diese angenehme Prozedur schon wieder zu unterbrechen und auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, aber sein Pflichtbewusstsein rief ihm zu, sich auch genügend um die beiden anderen Feuerstammmitglieder zu kümmern. Yin und Jael hatten es bitter nötig. Sie tranken noch ein paar Schlucke aus dem See, dessen Wasserspiegel inzwischen viel höher stand als noch vor ein paar Wochen, und kehrten zum Lager zurück, wo Yin gerade dabei war, Jael auf eine neue Schicht Moos und Farne umzubetten. Man hätte erwartet, dass ihm wieder nette Bemerkungen auf der Zunge lagen, die er in ihre Richtung abfeuerte, aber nichts dergleichen trat ein, sein Blick streifte die Neuankömmlinge nur für zwei, drei Sekunden flüchtig und seine Mimik veränderte sich kaum, bevor er seine Arbeit fortsetzte. Er steckte anscheinend schon wieder inmitten einer depressiven Phase. „Warte, ich helfe dir“, erklärte sich Gavin sofort bereit und übernahm die Neuordnung der vom Regen feuchten Unterlage, sodass sich Yin in der Zwischenzeit mit Jael befassen konnte, der halb dösend auf seinem Oberschenkel lag und ab und an kleine Seufzer ausstieß, deren Ursache nur er selbst kannte. Die allgemeine Stimmung, die durch das schlechte Wetter sowieso immer etwas niedergedrückt erschien, wurde durch Yins Einsilbigkeit und teilweise Geistesabwesenheit noch trauriger. Immer öfter fragte sich Yuyan, wie es erst werden sollten, wenn der Winter ins Land zog, die Temperaturen sanken und möglicherweise Schnee fiel. Wie hatten sie das letztes Jahr überstanden; und wie sollte es dieses Jahr werden, mit einer Person mehr, die regelmäßig Essen brauchte? Sie gingen früher schlafen als sonst, weil sie nicht wussten, was sie miteinander anfangen sollten. Unruhig rollte sich Yuyan hin und her, der nasse Boden lud nicht zum Schlafen ein. Er sehnte sich momentan furchtbar nach einem warmen, weichen Bett an einem sicheren, regengeschützten Ort, das er nicht teilen musste und wo niemand lauerte, der es auf ihn abgesehen hatte, wie beim letzten Mal. Sevens Stimme erklang schwach in seinem Ohr und Yuyan stöhnte verzweifelt auf. Warum ließen ihn diese Gedanken nie in Ruhe? Er wollte nicht an diesen Unmenschen denken, der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte, er wollte einfach nur einschlafen, aufwachen und sich besser fühlen. Wütend schrie er das bedrohliche, körperlose Gesäusel an, sich von ihm fernzuhalten und aus seinen Gedanken zu verschwinden. Yuyans Finger krallten sich in den Stoff seiner Ärmel, als er versuchte, seine Konzentration auf etwas anderes zu lenken; das schon leicht verblasste Bild des ruhigen Flusses, Meira bei der Hausarbeit, Schneeflocken, Sonnenstrahlen, tausendfacher Lichterglanz bei Nacht. Schließlich kam die Dunkelheit. Und sie blieb, selbst als er sich sicher war, dass sie nun eigentlich verschwinden sollte. Sie schien sogar noch zuzunehmen, als befand sich Yuyan inmitten eines schwarzen Lochs, aus dem er ohne fremde Hilfe nicht mehr herausklettern konnte. Starkes Unbehagen überfiel ihn und löste ein Zittern in seinen Gliedmaßen aus. Die Angst kehrte zurück, wie so oft. Er war hier in seinem persönlichen Albtraum gefangen. Fremde Hände packten seine Fußgelenke und zerrten ihn davon; sein verzweifeltes Treten und um sich schlagen war nutzlos, man ließ ihn nicht los, sondern nahm ihn irgendwo mit hin. Yuyan wollte aufwachen, er ahnte natürlich, wo die schmerzhafte Reise endete. Bei demjenigen, der ihn nie in Ruhe lassen würde. Seinem persönlichen Dämon. Vor seinen Augen stiegen winzige Lichtpunkte auf und beleuchteten die Umgebung, in der er sich nun aufhielt. Eine minimalistisch gehaltene Hügellandschaft aus grauem Backstein, genauso nutzlos wie absurd, die sich bis an den Horizont und wohl darüber hinaus erstreckte. Eine unendliche Ödnis, einfarbig und verstörend. Aber einen besonderen Zweck erfüllten die Steinen: Sie schmerzten wahnsinnig, wenn man so herzlos darüber hinweg gerissen wurde wie ein mit Müll gefüllter Sack. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie sein Bauch und seine Oberschenkel aussahen, nachdem sie Bekanntschaft mit allen Kanten und rauen Flächen dieser Folterwerkzeuge gemacht hatten. Schließlich hatte man ein Einsehen mit ihm und sie hielten an, in der Mitte von zwei ziemlich hohen Hügeln, die so schlecht und wackelig erbaut worden waren dass es nur eine Frage der Zeit sein durfte, bis sie in sich zusammenstürzten. Die Hand verschwand von seinen Beinen, genauso wie alle seine Kleidungsstücke, die ihn bis eben noch bedeckt hatten. Reflexartig krabbelte Yuyan von Panik erfasst davon, schließlich stand außer Frage, was nun eintrat, doch die Steine unter ihm erwachten wohl dadurch zum Leben und zogen ihn mit vielen kleinen Tentakeln bewaffnet, die sich blitzschnell entwickelten und eine unglaubliche Kraft besaßen, zum Ausgangspunkt zurück. Einmal, zweimal, jedes Mal scheiterte seine Flucht sofort und sein Herzschlag stieg mit jedem Fehlversuch an. Nach einer halben Ewigkeit, die wie die reinste Folter erschien, sprang katzenhaft ein dunkler Schemen, der sich nur schwach von der noch düsteren Umgebung abhob, in sein Sichtfeld und packte ihn im Nacken wie einen ungehorsamen Welpen. „Lass es sein“, zischte er ihm zu, „lass es einfach.“ Die darin enthaltene wortlose Drohung war nicht zu überhören; das Stechen in seinem Nacken verriet alles übrige, was Yuyan zu befürchten hatte. Eisige Lippen drücken sich auf seinen Mund, als wollten sie ihm die Seele über den Rachen aussaugen, bevor sich spitze Zähne in seine Haut bohrten und Blut an seinen Lippen herunterrann. Mit diesem brutalen Biss hatte Yuyan absolut nicht gerechnet, der Schmerz zuckte noch heftiger durch seinen Körper. Warum fügte man ihm immer solche Dinge zu? „Dein Blut schmeckt mir nicht“; stellte der Schemen ernüchtert fest und schubste Yuyan von sich weg, sodass er nach hinten fiel und sich beim Sturz die Handflächen an den Backsteinen aufschürfte. „Entschädige mich dafür!“ Abscheu erfasste Yuyan und drückte ihm die Brust zusammen. „Nein“, flüsterte er aufgewühlt „Nein, werde ich nicht.“ „Dann hole ich es mir ohne deine Einwilligung. Das machen bei dir ja sowieso alle; alle nehmen sich, ohne zu fragen, weil du es gar nicht wert bist.“ Sie kamen wieder, die Hände, doch dieses Mal nicht so, wie er es mit Schrecken in Erinnerung hatte; er wurde nicht gegen seinen Willen angefasst oder penetriert. Stattdessen bekam er einen Faustschlag mitten ins Gesicht, dass er glaubte, seine Nase und sein Wangenknochen seien gebrochen. Er wollte sich davor schützen und die verletzten Hände in die Höhe reißen, doch der nächste Angriff folgte gleich und schien seine Augenhöhle zu zertrümmern und das darin gelegene Auge zu zerquetschen. „Nein…“, brachte Yuyan erstickt unter Qualen heraus, bevor sich eine der Hände um seine Kehle schloss und mit unverständlicher Wut zudrückte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er elendig erstickte. Kein Zappeln, keine Gegenwehr half, denn der Schatten war für ihn nicht greifbar und somit auch nicht angreifbar. Er kämpfte gegen einen unbesiegbaren Gegner, der ihn sterben sehen wollte. Fast empfand Yuyan es als Gnade, als er losgelassen wurde, Luft in seinen Hals gelangte und die Gefahr des Todes sich einen Schritt von ihm entfernte. Tränen liefen ihn über das Gesicht, ohne dass er sie bewusst wahrnahm. Dieser Alptraum war anders, aber nur in der Art, wie er ihm Schmerzen zufügte; besser war er nicht und es stand außer Frage, was am Ende auf ihn wartete. Dass man ihn nur kurz verschont hatte, um nach wenigen Augenblicken mit noch größerer Grausamkeit zuzuschlagen, war zu erwarten gewesen und trotzdem versetzte es ihn in Angst und Schrecken, als der Schemen ein Messer in seiner Hand erschienen ließ und es ihm direkt vor das Gesicht hielt. Es fehlte nicht viel, um ihm die Augen auszustechen. Yuyan traute sich kaum zu atmen, obwohl er die Luft so dringend brauchte, die ihm eben noch vorenthalten worden war. Nicht mehr lange und er würde ohnmächtig werden. „Du bekommst, was du verdienst“, hörte er den Schatten zufrieden lachen, während er mit seinem Arm ausholte und die Klinge in Yuyans Bauch eindrang. Immer wieder, immer tiefer. Sein Schrei und das Blut aus den Wunden vermischte sich mit den Steinen, die durch den Widerhall in Bewegung gerieten und auf Yuyan hinabstürzten, seine Knochen brachen und ihn unter einer tödlichen Flut begruben. Er konnte es nicht leugnen, nun er freut sich tatsächlich über seinen Tod. Als Yuyan zitternd und mit weit aufgerissenen Augen zu sich kam, verstand er, wieso er so etwas Schreckliches geträumt hatte; vor seinen Augen verschwamm der noch im Halbdunkel liegende Wald immer wieder zu einem graugrünen Brei ohne Konturen und in seinem Bauch wüteten stechende Krämpfe, die er sich nicht erklären konnte. Hatte er ausversehen giftige Beeren verspeist oder hatten sich im Seewasser Krankheiterreger befunden, die er nun zu spüren bekam? Und wenn ja, warum litt er natürlich als einziger darunter? Er hatte nichts anderes zu sich genommen als der Rest der Gruppe. Mit dem Schlaf war es unwiderruflich vorbei, dabei saß ihm die Müdigkeit noch in all seinen Gliedern, aber jedes Mal, wenn er nur daran dachte, wieder einzunicken, nahm das Stechen zu und hinderte ihn seinen Absichten. Egal ob er sich auf den Bauch, den Rücken oder die Seite rollte, in keiner Position wurde es besser. Dafür merkte, er, dass er unbedingt etwas zu trinken brauchte, sein Hals fühlte sich unangenehm trocken und wund an, aber ihm gelang es kaum, sich kriechend fortzubewegen. Die Krankheit machte ihn ziemlich hilflos. Es dauerte unendlich lange, bis er auf diesem Weg die Wasservorräte erreichte und die kühle Flüssigkeit in sich aufsog. Sein Hals fühlte sich danach besser an, sein Bauch nicht, immer wieder krümmte er sich zusammen, weil es so weh tat. Es gab hier nichts Warmes, was er sich als eine Art Wärmflasche darauf legen konnte. Niedergeschlagen blieb er liegen, wo er war, die Kraft zum Zurückrobben fehlte ihm und die Müdigkeit drückte unwahrscheinlich schwer auf seine Augen und sein Denken; also rollte er sich an Ort und Stelle zusammen und driftete in einen leichten Schlaf mit Krämpfen und ohne Traumbilder ab. „Yuyan…“ Etwas rüttelte an ihm, ziemlich zaghaft. „Yuyan!“ Er wollte nicht aufwachen, da wartete nur die boshafte Realität auf ihn. „Yuyan, steh auf, es ist fast Mittag.“ Hartnäckig wurden weitere Weckversuche unternommen. „Yuyan?“ Zufällig streifte eine Hand seine Stirn. „Ich glaube, er hat Fieber.“ „Nicht noch einer“, kam prompt die gereizte Antwort. „Wir können dagegen nichts tun, das weißt du genau.“ Die Stimme näherte sich Yuyan und derjenige packte ihn grob an den Schultern. „Du wachst jetzt verdammt noch mal auf, sonst können wir gar nichts für dich tun!“ „Yin, nicht so, du tust ihm weh!“ Aber die Methode hatte gewirkt, Yuyan blinzelte benommen und betrachtete müde Gavin und Yin, die sich um ihn versammelt hatten; der eine wirkte besorgt, der andere eher wütend. Etwas anderes wäre auch neu gewesen, vor allem bei Yin und seinen verqueren Gefühlen. „Hast du nichts Besseres zu tun als krank zu werden?“, faltete ihn dieser zusammen, als hatte er sich telepathisch diese Symptome bestellt. Gavin konnte ruhig ein wenig seines Feingefühls an Yin übertrage, das hatte der bitter nötig. Die zwei beratschlagten kurz, was in dieser Situation am besten zu tun sei, und einigten sich erst einmal darauf, Yuyan ein ähnliches Lager wie Jael herzurichten. „Mit dir hat man nur Ärger“, fluchte Yin unterdrückt, als er Yuyan mit ihren letzten Wasservorräten das Gesicht abtupfte. „Wir hätten dich gleich wieder aussetzen sollen, als wir dich gefunden haben.“ Dass er theoretisch selbst an seiner angeblichen Misere schuld war, weil er ihn hierher gebracht hatte, rief Yuyan ihm besser nicht ins Gedächtnis, am Ende tobte Yin sowieso nur sinnlos vor sich hin und machte alles nur noch schlimmer und drauf verzichtete man gerne. „Yin, sei still“, wies Gavin ihn zurecht; zum ersten Mal schwang wirklich Gereiztheit in seiner Stimme mit. Ansonsten glänzte er ja eher mit Gedrücktheit oder Schuldbekenntnissen. Vielleicht regte es ihn endlich zu sehr auf, wie Yin sich aufführte. Böse Verwünschungen murmelnd beendete Yin sein Werk, betrachtete kurz den frisch gewaschenen Yuyan und tötete ihn mit Blicken. „Wehe, wenn du in zwei Wochen noch nicht gesund bist!“ Damit zog er von dannen und überließ Yuyan Gavins Obhut, der seufzend, aber ohne Einwände seiner Tätigkeit nachkam. In den nächsten Tagen durchlebte Yuyan die volle Palette einer außer Kontrolle geratenen Erkältung, von Kopfschmerzen, Fieberanfällen, Bauchschmerzen und gelegentlichem Erbrechen bis zu Husten und Schnupfen und Nasenbluten, überschattet von der allgegenwärtigen bleiernen Müdigkeit, die sich in ihm festgesetzt hatte wie mit kleinen Widerhaken und nicht einsah, in absehbarer Zeit loszulassen und ihn in Frieden ruhen zu lassen. Egal wie lang und oft er schlief und selbst wenn er sich keine drei Schritte in der Stunde bewegte, sie verließ ihn nicht, klebte an ihm wie ein lästiger Begleiter, schien stattdessen immer stärker zu werden und ihn völlig einzunehmen. Gavin sorgte sich um ihn wie eine Mutter um ihr kleines Kind, versorgte ihn mit Wasser und Essen, redete ihm gut zu, hielt ihm beruhigend die Hand, wenn ihn wieder Schmerzen plagten, und machte ihn kein einziges Mal Vorwürfe, dass er und Yin nun allein für ihre tägliche Verpflegung aufkommen mussten und sie nicht alle Aufgaben wie zuvor zu dritt bewältigten. Yin dagegen wusste nicht, ob er permanent patzig und vernichtend auf ihn einhacken sollte oder verzweifelt zwischen den Baumwurzeln sitzen und auf das Ende warten sollte. Selbst wenn er sich mit Jael beschäftigte, wirkte er fahrig und gedankenverloren und überlegte wohl die ganze Zeit hin und her, was sie tun sollten. Es gab verschiedene Pläne, die er am Abend immer wieder mit Gavin im Flüsterton diskutierte, um sie in der nächsten Sekunde zu verwerfen. Hierbleiben und abwarten, was geschah. Den Wald weiterhin als ihren Heimatort in Anspruch nehmen, obwohl er ihnen einfach nicht freundlich genug gesonnen war. Die Flucht antreten, sobald Yuyan so weit genesen war, dass sie mit ihm und Jael im Gepäck die Reise in die Stadt antreten konnten. Mit einer Handvoll giftiger Beeren für jeden von ihnen dem Leid ein schnelles Ende bereiten und endgültig vor jeglicher Verantwortung fliehen. Yuyan bekam nicht mit, welche Idee sich als Gewinner durchzusetzen schien, in seiner Welt existierte immer noch nur Übelkeit, Schmerz und schlechter Schlaf, der ihn an die Grenzen des Ertragbaren stoßen ließen. „Yuyan.“ Jael, der ein paar Meter weiter döste und müde zu ihm hinüber blinzelte, hob leicht die Hand. „Wir schaffen das, denk dran. Wir kommen hier lebend raus. Wir werden nicht sterben Nicht hier.“ Es war bewundernswert, dass er trotz seines monatelangen entkräfteten Zustandes noch einen solchen Optimismus aufbrachte und sich nicht längst selbst aufgegeben hatte. Vielleicht war das der Grund, warum sein Körper schwächelte, das Herz allerdings noch schlug. Gerne hätte sich Yuyan zu einer Antwort durchgerungen, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst und da nicht einmal ein kaum hörbares Krächzen aus seinem Hals kam, musste ein Nicken reichen. Er wollte auch leben, obwohl es nicht besonders viel Gutes zu bieten hatte; aber wer wusste, was nach dem Tod kam. Vielleicht sah es im Jenseits noch düsterer aus als auf diesem mit dem tödlichen Medikament verseuchten Stück Land. Außerdem wäre es ziemlich zynisch gewesen, den Chemieunfall von Nijagata zu überleben, sich über ein Jahr durchzuschlagen und dann durch eine schlimme Erkältung aus dem Leben zu scheiden. Und nach Wochen, in denen sich nur die Farbe des Himmels und die Länge der Tage geändert hatte, spürte Yuyan endlich eine Besserung seines Zustands, auf die er gar nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Die Symptome klangen langsam aber stetig ab, sein Appetit kehrte von Tag zu Tag zurück und die kränkliche Blässe verschwand aus seinem Gesicht, versicherte sein Spiegelbild ihm. Je besser es ihm ging, desto zuversichtlicher benahm sich Gavin und sogar in Yins fatalistischer Grundhaltung konnte man einen Funken Erleichterung ausmachen, als Yuyan nicht mehr wie der Tod höchstpersönlich vor ihnen im Gras lag und vor Schüttelfrost mit den Zähnen klapperte, sondern sich mit seinen verbliebenen Kräften zurück in den Alltag hangelte. „ich bin so froh, dass du es geschafft hast.“ Gavin reichte ihm ein Stück Hirschfleisch, dass er vor wenigen Stunden zubereitet hatte; das erste Mal seit Yuyans Krankheitsfall, dass er mehr zu sich nehmen konnte als Wasser und eine kleine Menge Beerenpaste. Sein Magen würde sich langsam wieder an feste, gehaltvolle Nahrung gewöhnen müssen. „Und was passiert jetzt?“ Er konnte sich noch dunkel daran erinnern, dass Yin und Gavin über die Zukunft des mickrigen Feuerstamms ein Urteil gefällt hatten. „Bleiben wir hier oder was wird aus uns?“ Die Hochstimmung verflüchtigte sich schnell wieder aus Gavins Körpersprache und Yuyan ärgerte sich über sich selbst, ihn so schnell wieder in die Realität zurückgerissen zu haben. Der immer bedrückte Gavin hätte einen solchen Moment wirklich verdient. „Wir werden gehen. Ich habe Yin dazu überredet, obwohl er sich ziemlich gesträubt hat. Er meint, in Nijagata ist es auch nicht besser oder einfacher als hier. Aber dort können wir in richtigen Hütten schlafen, in Winter wird es nicht so furchtbar kalt sein. Vielleicht erholt sich Jael dort besser. Wir wissen es nicht mit Sicherheit und der Weg zurück wird nicht einfach, aber wir können es nicht verantworten, noch länger hierzubleiben. Bisher hatten Yin und ich Glück und sind nicht krank geworden, aber wenn es uns alle auf einmal erwischt, kann sich keiner um den anderen kümmern und dann sterben wir. Alle auf einmal. Also werden wir gehen müssen.“ „Du willst nicht gehen, oder?“ „Ich weiß es nicht.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Hier ist es schön und schrecklich gleichzeitig. In Nijagata ist meine Familie gestorben, hier waren es meine Freunde. Und ich war schuld, weil ich ihnen giftige Beeren zu essen gegeben habe. Es kommt also auf dasselbe raus, wo wir leben, überall sind Erinnerungen, die weh tun. Aber auch schöne Erinnerungen. Den See werde ich vermissen.“ Dass er damit besonders ihre Treffen, die dort stattgefunden hatten meinte, ahnte Yuyan. „Wann wird es losgehen?“ „Wenn wir finden, dass es losgehen kann. Erst müssen wir abwarten, dass du den Weg auch wirklich durchhältst; dann Vorräte sammeln, überlegen, wie wir Jael am besten transportieren. Es kann also noch ein paar Wochen dauern, aber wir werden auf jeden Fall aufbrechen.“ Diese Entschlossenheit stand Gavin richtig gut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)