Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 54: ------------ Der Grat, der sie auf fast gleicher Höhe mit den schroffen Gipfeln ringsum den Bergkamm entlangführte, wurde allmählich breiter. Erstaunt betrachtete Dorian die Felszacken, die den einen Moment unter milchigen Nebelschwaden verdeckt lagen, um dann im nächsten von ihnen wieder freigegeben zu werden. Dann traf sie wieder die Sonne mit all ihrer Kraft und ließ das weißgraue Gestein fast leuchten. Weiter tiefer hing der Nebel dichter, und die Schwaden lösten sich dort kaum auf. Manchmal schien es ihm, als wanderten sie über eine zerklüftete Insel, die in einem Meer aus grauem Schaum lag. Dieser Vergleich erheiterte ihn, er musste unwillkürlich lachen. Sarik und Brynja, die infolge des sich verbreiternden Pfades neben ihm gingen, warfen ihm skeptische Blicke zu, vor allem Brynja. Er selbst wunderte sich über seine Fröhlichkeit. Die Ungewissheit über Hargfrieds Verbleib erfüllte ihn mit wechselhaften Gefühlen. Er war sich noch nicht sicher, ob er über diesen Umstand erleichtert sein sollte. Mehr noch bedrückte ihn die Abwesenheit von Nadim und Iria. Auch wenn sie aus freien Stücken ihren Vorteil genutzt hatten, er konnte es ihnen nicht anlasten. Vor allem Iria nicht, deren Erinnerung ihm nun seltsam vorkam. Auch wenn er sie selten- oder eigentlich nie- lächeln gesehen hatte, in seiner Erinnerung, da lächelte sie… Ja, er vermisste sie. Aber trotzdem war er fröhlich, lachte über die Sonne, die scheu zwischen den vorüberziehenden Nebelfetzen hindurch blinzelte und wollte ihr schon zuwinken, bis er sich an seine ernsten Wegbegleiter erinnerte. Trotz der Ungewissheit seiner Freunde, seiner alten wie seiner neugewonnenen, trotz der genauso vorhandenen Ungewissheit seines eigenen Schicksals, trotz alledem war er nun fröhlich. So fröhlich wie jemand, den eine schwere Krankheit schon seit längerem bekümmert, der sich aber dann doch in den kurzen Pausen seines Leidens an der Wärme und dem Licht der Sonne, die ja doch Tag für Tag wieder aufgeht, erfreut. „Vergessen Sie besser, was ich vorhin gesagt habe“, hörte er plötzlich Brynja sagen. Er blickte lächelnd in ihr abwesend wirkendes Gesicht, wenngleich er wusste, dass sie den Grund seiner Fröhlichkeit nicht teilen konnte. Sie blickte zu Boden, und Dorian fragte sich, wenn sie gemeint hatte. Dann erinnerte er sich an das ‚Sie‘, das nur einem von ihnen gegolten haben konnte. „Die Sache ist für mich erledigt“, erwiderte Sarik in einem ruhigen, sanften Ton, der aber nichts Gönnerhaftes an sich hatte. Er nickte Brynja zu, die ihn aber immer noch nicht ansah. „Sie haben nicht unrecht; wir Assassinen vertrauen wirklich fast niemanden. So lernen wir es, und so handeln wir. Und es ist auch wahr, dass uns das unter gewöhnlichen Soldaten nicht beliebt macht.“ Dorian wunderte sich über ihre Worte. Er bemerkte, dass Sarik es vermied, sie zu unterbrechen oder etwas zu erwidern. Er ließ sie einfach reden. „Ich verstehe, dass Sie mir nicht trauen“, fuhr sie fort, „und tatsächlich haben sie wenig Grund dazu. Aber- “ Sie machte eine kurze Pause und schüttelte den Kopf auf eine Art, wie es ein Pferd tun mochte, das widerwillig aus seiner Koppel geführt wird und doch den Auslauf ersehnt. „Aber es ist nicht wahr, was ich gesagt habe. Dass ich Ihnen nie getraut habe.“ Sie seufzte, und Dorian spürte, dass ihr diese Worte Überwindung kosteten. „Ich traue Ihnen, was diese Sache hier angeht. Ich habe gelernt, Menschen einzuschätzen, und ich liege selten falsch.“ Sarik lächelte verlegen, als würde er ein Kompliment darin sehen, von dem er noch nicht wüsste, wie er es aufzufassen hatte. „Und deshalb frage ich Sie etwas“, sagte sie und blieb stehen. Sarik stoppte ebenfalls. Dorian ging noch ein paar Schritte weiter, da er spürte, dass dies zu einem gewissen Grad eine Sache zwischen ihnen war. „Sie wissen ziemlich gut über dieses Maleficium Bescheid, besser, als irgendjemand, den ich habe auftreiben können.“ Die beiden standen sich gegenüber, wie Dorian beobachtete. Brynja stand mit in die Hüften gestützten Händen da, als würde sie etwas erwarten. Auf ihrem Gesicht lag jedoch ein sanfter, bei ihr ungewohnter Ausdruck. Sarik hingegen begegnete ihrem ebenso geduldigen wie erwartungsvollen Blick gelassen, eine Hand durch den Schlitz seines Mantels gehängt, und mit einem undurchschaubaren, unbeteiligt wirkenden Lächeln. „Sie müssen mir nicht alles verraten, was Sie wissen“, sagte Brynja. „Das werden Sie ohnehin nicht, soweit ich Sie bis jetzt kenne. Aber sagen Sie mir eins: Jagen wir einem Phantom nach? Wohin will es, und wie finden wir es?“ Sarik warf einen knappen Blick zu Dorian, der einige Schritte abseits stand, als wollte er ihm wortlos bedeuten, dass ihn der Inhalt ihres Gesprächs ebenso betraf. Auf dieses Signal hin tat er einen Schritt auf die beiden zu. „Der heilige York hat sich einige Zeit in die Höhlen des Berges Galgasot zurückgezogen, als es hier noch keinen Bergbau gab. Er hat hier in der Einsamkeit gelebt, um seine Kräfte zu sammeln und das Maleficium zu erschaffen.“ „Das ist sehr interessant“, erwiderte Brynja und verdrehte die Augen ganz leicht, als wollte sie sagen Und weiter? „Wer immer der Träger des Maleficium nun ist, das Ritual, das es ihm für diesen Ort aufgezwungen hat, hat es vollendet. Aber so, wie der darin wohnende Geist nicht endgültig hat ausbrechen können, so war dies auch nicht der Ort, an dem das Maleficium vollendet wurde, damals.“ Brynja hob beide Augenbrauen und drehte den Kopf ganz leicht zur Seite. „Das bedeutet…?“ „Das bedeutet, dass das eigentliche Ziel des Maleficium woanders liegt. Und zwar weit im Norden von hier, in den Ruinen der Stadt Zanardis.“ Nun veränderte sich Brynjas Gesicht dramatisch. Der Ausdruck der Geduld schwand, stattdessen leuchtete nun Empörung aus ihren Augen. Sie hielt den Mund mehrere Momente offen, bevor sie zu sprechen begann. „Ist das Ihr Ernst? Wir sind also den ganzen Weg hierher völlig umsonst gekommen?“ „Durchaus nicht. Ich hatte gehofft, wir könnten ihn hier schon stoppen. Wer immer er ist, er ahnt gar nicht, welches Unheil er über sich selbst bringt“, sagte er mit leiser Stimme, aus der ehrliches Bedauern klang. Ein Bedauern, dass Brynja offensichtlich nicht teilte. „Das ist sein Problem. Mich beschäftigt eher, wie wir dort hin kommen. Zanardis liegt etliche Meilen von hier, jenseits der Steppe, und ich weiß nicht- “ Das Echo eines schrillen Schreis hallte zu ihnen herauf, was Brynja augenblicklich verstummen ließ. Alle sahen sich alarmiert um, besonders Dorian. Denn er erkannte sofort, dass es Irias Stimme gewesen war. Dorian rannte sofort los und lief den Grat entlang, hinein in eine Nebelschwade, die sich langsam über den Bergkamm schob. Seine Sicht wurde immer kürzer, er verfluchte den Nebel. Dann brach er hindurch, und sein Herz blieb fast stehen. Wenige Schritte vor ihm ging das eben noch fast ebene Gelände in einen schroffen Hang über, der dann jäh abbrach. Wäre er hier über einen der umherliegenden Felsbrocken gestolpert, sein Fall wäre erst jenseits der Nebelschwaden unter ihm zu Halt gekommen. Vorsichtig ging er weiter, doch der Grat endete und ging hier in eine fast senkrechte Wand über, aus der immer wieder Stufen brüchiger Gesteinsschichten ragten. Dorian stand da und versuchte, die Nebelschwaden mit Blicken zu durchdringen. Es tat sich aber keine Öffnung auf, und so machte er sich fluchend daran, einen Weg hinab zu suchen. Ganz vorsichtig ließ er sich mit dem Hintern voran eine Stufe hinab. Mit beiden Händen hielt er sich an vorstehenden Steinplatten fest, die sich aus dem Körper des Berges herausschälten. Mit dem ausgestreckten Fuß tastete er nach einem Vorsprung, der groß genug war, um ihm Halt zu geben. Doch die Stufe erwies sich als unangenehm glatt. „Verdammt“, zischte er und spürte, wie immer mehr Gewicht auf seine Hände kam. Endlich, noch ein gutes Stück tiefer, stieß er mit dem Fuß auf eine Leiste, die vertrauenerweckend war. Dorian atmete auf und belastete sie- als sich der linke Griff löste. Seine rechte Hand verkrampfte sich um den anderen Griff, und er presste seinen Körper gegen die senkrechte Felsstufe. Die Finger seiner linken Hand tasteten über den Fels auf der Suche nach Halt; er hörte, wie der ausgebrochene Griff in der Tiefe irgendwo aufschlug. Sein Herz schlug schmerzhaft heftig. Nachdem er einigermaßen sicher stand, drehte er vorsichtig den Kopf, um zu sehen, wohin der Stein, der ihm eben noch als Griff gedient hatte, verschwunden war. Im nächsten Moment bereute er dies, denn die durchziehenden Nebelschwaden lüfteten sich für einen Moment, und er sah erst, wie hoch über Grund er war. „Scheiße“, flüsterte er und rang nach Luft. Doch er konnte den Blick nicht abwenden von der saugenden Tiefe. Dann sah er die Linien eines Kampfdoms weit unter ihm leuchten- und brach in Panik aus. „Iria!“ Er hätte fast den Halt verloren. Der Nebelfetzen zog weiter, und ein neuer verhüllte das Geschehen unter ihm wieder. Mit einem Male fiel es ihm nicht mehr schwer, seine Vorsicht über Bord zu werfen. Er ging in die Knie und tastete wieder mit dem Fuß in die Tiefe. Dabei ließ er sich so schnell hinunter, dass er gar nicht näher auf passenden Halt für seine Hände achten konnte. Er fand ihn aber und stoppte so sein kontrolliertes Fallen, bis sein Fuß auf Widerstand stieß. Nun bevölkerten viele fremde Gedanken seinen Kopf. Er sah nicht mehr sich selbst und die Felswand, die er hinabzustürzen drohte, sondern er sah Nadim und Iria, die in Gefahr waren. Eine Gefahr, die ihm gänzlich unklar war, die aber in seiner Vorstellung den Schrecken des zu Tode-Stürzens vollkommen verdrängte. Er nahm sich auch nicht die Zeit, sich darüber zu wundern, sondern fand mit immer schnelleren und wagemutigeren Bewegungen den Weg durch die strukturierte Wand hinab. Mehrmals lehnte er sich zurück, um die Distanz zum Boden zu erkennen und riskierte dabei gedankenlos sein ohnehin wackliges Gleichgewicht. Doch der Nebel lichtete sich nicht wieder, der Boden blieb verborgen. Endlich war er soweit herab, dass er trotz der geringen Sichtweite erkennen konnte, wie die Felsstufen in flacheres Gelände übergingen. Einen Moment erwägte er sogar, zu springen, doch ein Rest von Vernunft, der die Stellung in seinem von Panik ergriffenen Verstand hielt, ließ ihn weiter hinabklettern. Bis sich sein Schwert, das an seinem Gürtel hing, an einem Vorsprung verhakte. Seine Waffe hebelte ihn förmlich aus der Wand, und ihm blieb nichts anderes übrig, als mit den Armen zu wedeln und zu schreien. Seine Finger tasteten während des Falls ins Leere; es vergingen endlose Momente, bis er auf Widerstand traf. Er schlug mit dem Gesäß zuerst auf, um dann rücklings durch grobes Geröll zu purzeln. Die Geröllhalde war ziemlich steil, was sein Sturzmoment weitgehend auffing. Dorian überschlug sich noch einmal, bis er von einem größeren Brocken unsanft gestoppt wurde. Atemlos sprang er auf und achtete nicht auf die Abschürfungen, die seine unbedeckten Oberarme überzogen. Vor sich sah er im Nebel die Linien eines Kampfdoms glühen, der seiner Größe nach mehrere Kontrahenten beinhalten musste. Immer noch leicht benommen von seinem Sturz, stolperte er den Hang hinab und zog seine Waffe. Hargfried schwang sein langes Schwert wie eine Sense, um sich den von mehreren Seiten auf ihn einströmenden Angreifern zu erwehren. Doch er geriet trotz seiner Anstrengungen immer mehr ins Hintertreffen. Einige wenige seiner Gegner hatte er bereits niedergestreckt, doch die Verbliebenen fochten umso heftiger. Hargfried ging kaum noch in die Offensive, sondern wehrte nur mehr ab, und selbst dies würde ihm nicht mehr lange gelingen. Etwas hemmte seine sonst so wild lodernde Kampflust; sein verwirrter Verstand realisierte, dass er im Begriff war, zu unterliegen. Ja, ein Teil seines zerrütteten Verstandes hieß das sogar willkommen. Dorian fiel mehr, als er lief, den Hang hinab, und erkannte eine der Personen im Kampfdom. Mit Erleichterung stellte er fest, dass es Hargfried war und Iria nicht zu sehen war. Zugleich aber wuchs seine Entschlossenheit, und keine der Überlegungen von vorhin, die Hargfrieds Person als entbehrlich erwogen, hatte nun Wirkung. Die Barriere des Kampfdoms sog ihn förmlich ein, und schon befand er sich inmitten des Getümmels. Hargfried hatte gerade die Angriffe mehrerer seiner Widersacher einstecken müssen und sank bereits halb auf die Knie unter der Wucht der Hiebe- als Dorian unter einem Schwerthieb durchtauchte und sich vor ihn stellte. Das halbe Dutzend Angreifer, das noch auf den Füßen war, blickte ihn überrascht an, alle stoppten zugleich ihre Angriffe. Doch dann kam schnell wieder Bewegung in ihre Reihen, und Dorian schlug los. Mit der Beweglichkeit seiner Beine und der Elastizität seines Oberkörpers duckte er sich unter den Hieben der Angreifer hinweg, die alle ähnlich große und damit langsame Schwerter wie Hargfried verwendeten. In seinen geschmeidigen Ausweichmanövern erhaschte er kurze Blicke auf ihre entschlossenen Gesichter in mattschimmernden Helmen. Er sah auch, wie sich diese Züge in schmerzverzerrte Grimassen auflösten, wenn er mit seinem deutlich kleineren Schwert ihre schlechter geschützten Stellen erwischte. Keinen einzigen Hieb musste er parieren, und dies wäre auch denkbar ungünstig gewesen angesichts der schieren Wucht ihrer Waffen. Stattdessen führte er instinktiv das aus, was während des Duells mit Tiamat ganz jäh in ihm aufgestiegen war. Anstatt sich auf ein Kräftemessen einzulassen, bei dem er unterlegen wäre, nutzte er alle Lücken, die die vernichtenden, aber schwerfälligen Angriffe seiner Widersacher ließen. Seine Klinge fand den Weg zwischen Lamellen schwerer Panzerung und kam voller Blut wieder hervor. Seine Füße kamen nicht mehr zum Stillstand; er floh vor ihren Angriffen wie ein Zwerg den langsamen Fußstapfen eines Riesen ausweicht, die ihn sonst zermalmen würden. Knirschend bahnte sich seine Klinge den Weg durch stählerne Krägen. Seine erwachte Raserei nahm ihm jegliche Skrupel. Auch wenn Iria und Nadim nicht in unmittelbarer Nähe waren, so würden sie doch zu Opfern dieser Angreifer werden, die ihn nicht verschonten und noch weniger die beiden. Hinter sich hörte er ebenso Kampfgeräusche. Ganz am Rande seines fast völlig im Kampfgeschehen aufgelösten Verstandes fragte er sich, ob dies Hargfried war, oder ob Sarik und Brynja ihm schon zur Hilfe geeilt waren. In diesem Moment forderte er einen der Angreifer, der aber immer weiter vor ihm zurückwich. Dorian, den eine Leichtigkeit beflügelte, wie er sie bisher nicht gekannt hatte, drängte auf ihn ein, bis sie beinahe den Rand des Kampfdoms erreichten- als ihn ein Schwertknauf im Rücken traf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)