Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 45: ------------ „Erzählen Sie nur“, antwortete Iria, die einen kurzen Seitenblick auf den immer noch eilig essenden Nadim und den abwesend wirkenden Hargfried warf. Sarik nickte unmerklich, faltete seine Hände und begann mit der Erklärung. „Aus den Fragmenten der Aufzeichnungen, die uns der heilige York hinterlassen hat, habe ich die Orte entnommen, an denen er sich damals zurückzog, um das Maleficium zu verfassen. Für diesen ‚Vorgang‘ waren spezielle Orte in der Abgeschiedenheit nötig, um jene Kräfte zu bannen, die nun in dem Maleficium hausen.“ „Das klingt nach Hokuspokus“, warf Brynja mit einem verächtlichen Tonfall ein. Sariks gleichmütiger Blick traf sie, und ihr leises, abfälliges Lachen erstarb. „Man kann es nennen, wie man will“, fuhr Sarik mit sanfter Stimme fort und hielt Brynjas unnachgiebigem Blick stand. „Auf jeden Fall entstand an diesen Orten die Macht, die sich uns in der Schatzkammer des Kaisers zu einem Teil schon offenbart hat. Und dorthin wird das Maleficium zurückkehren.“ „Einen Moment“ unterbrach ihn Iria, die ihm mit ungeduldiger Miene zugehört hatte. „Was soll das bedeuten? Es kann doch nicht aus eigener Kraft dorthin?“ „Das nicht“, erwiderte er. Sein Blick traf die Tischplatte, er wirkte, als würden seine Gedanken abschweifen. Dorian und Iria tauschten einen Blick und schienen sich beide zu fragen, ob er überhaupt weitersprechen würde. „Wer immer diese Person war“, fuhr Sarik nach mehreren Momenten des Schweigens fort, „sie hat das Maleficium schon einmal geöffnet, und darin liegt eine große Gefahr, wenn ich die verbliebenen Aufzeichnungen des heiligen York richtig deute.“ „Wird man von diesem Teufelsding besessen?“ fragte Brynja nun, die ihn mit schmalen Augen und einem leicht zur Seite gedrehten Kopf anblickte, aus dessen Mienenspiel unübersehbarer Argwohn sprach. „Es wohnt ein sehr mächtiges Wesen darin. Der heilige York hat damals sein ganzes Wissen und Energie aufbieten müssen, um es darin zu bannen. Wer immer es unbedacht öffnet, setzt sich einer großen Gefahr aus.“ Dorian lauschte ihm gebannt. Er spürte die Wirkung des dunklen Biers gar nicht mehr; stattdessen erfüllte ihn eine schleichende Furcht, die ihn das Finden dieses Gegenstandes mit einem Mal nicht mehr erstrebenswert vorkommen ließ. „Das alles sagen Sie uns jetzt?“ fragte er ihn und lachte gezwungen dabei. Keiner am Tisch teilte diese offensichtlich aufgesetzte Geste. „Unter den Rebellen dieses Largo Cotter konnte ich nicht frei sprechen. Hätten diese Leute ernsthaft angenommen, wir wüssten, wo das Maleficium zu finden sei, dann säßen wir jetzt nicht hier.“ Dorians gespielte Erheiterung löste sich endgültig in Beklemmung auf. Er erinnerte sich an seinen Besuch in Cotters Zelt und seine Bemerkung, den ‚verrücktspielenden‘ Escutcheon betreffend. Bei dieser Erinnerung lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, trotz der warmen Luft in der Gaststube. „Und auf diesem Berg finden wir das Maleficium?“ hakte Brynja nach. Ihre Miene drückte immer noch Argwohn aus, zugleich aber auch die Ruhe, seine Ausführungen fürs Erste zu akzeptieren. Ihre Augen hingegen blickten immer noch scharf und forschend. „Ich weiß nicht genau, welche Tat das Wesen darin seinem Träger eingibt; wir müssen aber damit rechnen, dass er unter dessen Einfluss steht. Das Wesen im Maleficium wird dieselben Orte aufsuchen, an denen es entstanden ist. Und demnach…“ Er warf einen Blick auf seinen Escutcheon unter seinem Ärmel, der bei der Ausrichtung nach Norden immer noch das mysteriöse Farbenspiel zeigte. „…muss er jetzt dort sein. Außerdem wüsste ich keinen anderen Grund, warum der Träger dieses Gegenstands in die Einöde nördlich der Hauptstadt flieht.“ „Und es gibt keine andere Möglichkeit, auf diesen Berg zu kommen?“ fragte Iria. Ihre Miene hatte nichts an Zielstrebigkeit verloren, zumindest erschien es Dorian so. Er selbst verspürte nicht mehr allzu viel Verlangen, in die Nähe dieses fluchbehafteten Gegenstands zu gelangen, nicht nach Sariks Erzählungen. „In den Schächten und Höhlen des Berges Galgasot hat der heilige York gefastet und geforscht. Damals waren diese Höhen nur mühsam über schmale, gefährliche Wege erreichbar. Heute gibt es die Gondelführe, und der Weg ist mit ihr bedeutend kürzer und vor allem sicherer.“ Dorian wurde immer unwohler zumute. Vielleicht war es nur die gerade herrschende Behaglichkeit, die ihm die Gedanken an Eis und steilen Fels, an Mühsal und Gefahr so abschreckend erscheinen ließen. In der Wärme der Gaststube, auf der bequemen Holzbank, kam es ihm als eine unverantwortbare Narretei vor, sich in die eisigen Flanken dieses Berges zu begeben. „Dann gibt es keinen anderen Weg…“, murmelte Iria, an deren Gesicht Dorian sah, dass sie diese Tatsache notgedrungen akzeptierte. „Morgen gelangen wir problemlos in den Bereich der Schächte, in denen sich York damals aufgehalten hat. Heute können wir nicht mehr viel ausrichten; es wäre höchst töricht, in der kommenden Dunkelheit den Aufstieg zu wagen.“ Dorian sah sich um. In der rauchgeschwängerten Luft der Gaststube, die sich gegen Abend zu füllen begann, erschienen ihm die Mienen seiner Wegbegleiter düsterer als noch am Tage. Sie saßen um einen Tisch, in behaglicher Wärme, und gerade hier schienen sich die zu erwartenden Schwierigkeiten noch stärker auf ihrer aller Gemüter auszuwirken. Bis auf Hargfried, dem in seiner wechselnden geistigen Gesundheit von alledem nichts zu berühren schien, und natürlich Nadim, der mit einem wohlgefüllten Magen und der Aussicht auf ein warmes Bett mit sich und der Welt zufrieden war. Anders war dies bei Brynja, von der er wusste, dass hinter ihrer beherrschten Fassade die Rachegelüste wie ein im Verborgenen schwelender Buschbrand lauerten. Sie verbarg ihre Ungeduld gut, ebenso wie ihren Argwohn diesem mosarrianischen Offizier gegenüber, und doch konnte Dorian beides hinter den scharf geschnittenen Zügen ihres wettergegerbten Gesicht erahnen. Ähnlich war es bei Iria, die abwechselnd auf ihren leeren Teller und, nachdem der Wirt abgeräumt hatte, auf die leere Stelle starrte, um dann den Blick wieder zu heben und auf Sarik zu richten. Auf ihrem Gesicht war der Widerwille gegen seine Führung ebenso sichtbar wie das Eingeständnis, dass sie ohne ihn kaum eine Chance hatten. Schließlich fiel Dorians Blick auf Sarik, der mit gefalteten Händen ihnen gegenüber saß, immer wieder einen Schluck von seinem Krug nahm und den unauffälligen, aber wachen Blick seines Auges durch die Gaststube schweifen ließ. Der Bereich an der Theke war mittlerweile gut gefüllt. Schallendes Lachen, ausgelöst von derben Kalauern, hallte zu ihnen herüber. Auch ringsum saßen Leute an den Tischen, nahmen einfache Mahlzeiten ein und sprachen über alltägliche Dinge. Doch selbst jetzt schien dieser Sarik auf eine Gefahr gefasst. Dorian dachte an sich selbst und wie es ihm ergangen war: An seine Panik in den Momenten der Bedrohung, und an seine wiederkehrende Gelassenheit, wenn sie als sicher anzunehmende Orte erreicht hatten. Dass dies genauso gut eine Illusion sein konnte, fiel ihm nun ein; ebenso, dass er weit entfernt war von der Besonnenheit, die Sarik nicht nur jetzt bewies, sondern auch in brenzligen Situationen gezeigt hatte. Draußen vor der Gaststube erwachten die Straßenlaternen zum Leben, und ihre Gesellschaft zerstreute sich. Dorian sah Sarik beim Wirt das Quartier für sie alle für diese Nacht begleichen. Kurz darauf wurde Nadim lebendig, der nach seiner Mahlzeit mit teilnahmslosem Gesicht und einer Hand auf dem sich vorwölbenden Bauch nur dagesessen hatte. Er fragte den Wirt noch nach den zugeteilten Unterkünften, dann war er weg. Hargfried verließ die Runde ebenfalls, sichtlich froh, dem gemeinen Volk entronnen zu sein, und suchte ebenfalls den oberen Stock auf, in dem die Fremdenzimmer lagen. Brynja hatte hingegen ihren beinahe leeren Krug genommen, schlenderte zur Theke und ließ sich dort zwischen den mehrheitlich männlichen Tavernengästen nieder, mit der unmissverständlichen Aufforderung an den Wirt, ihren Krug nachzufüllen. Dorian blickte über Sariks Schulter hinweg, der immer noch am Tisch saß, und beobachtete das Geschehen, das sich anbahnte. Ihr Auftauchen hatte ihnen bisher schon den einen oder anderen Blick der Einheimischen beschert, die die Neuankömmlinge mit der allen Provinzlern eigenen Mischung aus Neugier und der Argwohn Fremden gegenüber betrachteten. Dass sich diese Frau ohne Begleitung an ihrer Theke breitmachte, verunsicherte diese Leute aber nun sichtbar. Dorian betrachtete interessiert, wie sich um Brynja herum ein Vakuum der Stille bildete, indem alle Gespräche verebbten. Erst einige Momente später, als die Einheimischen diese Störung ihrer gewohnten Ordnung einigermaßen verdaut hatten, flammten sie wieder auf. Nun schienen sie alle dasselbe Thema zu haben, nämlich die Fremden und vor allem diese Frau, die sich nicht genierte, das Heiligtum der örtlichen Männer- den Tresen aus mit Bier vollgesogenem Holz- zu entweihen. Dorians Neugier, was passieren würde, erstarkte, und er stand mit seinem Krug in der Hand auf. „Sie kommt schon klar“, hörte er Sarik sagen, der gar nicht aufgesehen hatte von seinem Krug. Dorian, den diese Situation mit erwartungsvoller Anspannung erfüllte, blickte ihn erstaunt an. „Meinen Sie? Aber irgendwie- “ „Sie kann es mit jedem Störenfried aufnehmen, keine Sorge“, unterbrach er ihn und schüttelte langsam den Kopf. Doch auch diese Geste vermochte Dorian nicht zu beruhigen, und so ging er los. Mit ziellosen Schritten schlenderte Dorian durch den gut gefüllten Gastraum, in dem getrunken, gescherzt und geraucht wurde. Er, der einen Kopf kleiner als die meisten Gäste war, suchte sich mit gewandten Schritten einen Weg durch die dichter werdende Menge. Mehrmals ertappte er sich dabei, wie er seine freie Hand nach so manch allzu gut exponierter Brieftasche ausstreckte. Doch er unterdrückte diesen Reflex und näherte sich in einem Bogen der Theke. Durch die Leute hindurch sah er, wie sich immer mehr Blicke auf Brynja sammelten. Sie schwankten zwischen erbost und neugierig, wie er feststellte. Sein Augenmerk glitt über die Leute, auch über die Frauen dieser Stadt, und ihm fiel auf, dass Brynja in ihrer herben Eleganz deren einfache, zurückhaltende Erscheinungen mühelos ausstach. Mehrmals sah er, wie feiste, gebieterische Ehefrauen ihren Männern grobe Knuffe versetzten, deren Augen sich allzu offensichtlich zur der attraktiven Unbekannten verirrt hatten und dort hängengeblieben waren. Dorian ging an ihr vorbei und registrierte die teils begehrlichen Blicke, die sie völlig ungerührt über sich ergehen ließ. Am anderen Ende der Theke, an der noch eine Schulterbreit Platz war, nahm er Aufstellung und beobachtete das sich abzeichnende Geschehen. Einer der Männer, er stand zwischen zwei anderen, zog die Nase hoch, schnäuzte sich geräuschvoll und leerte seinen Krug, offenbar um Mut zu gewinnen, dann ging er in Brynjas Richtung. Der Mann drückte die Brust heraus, zog den Bauch ein und setzte sein schäbigstes Grinsen auf. Die beiden Männer, mit denen er eben noch zusammengestanden hatte, verfolgten die Sache höchst amüsiert, zu der sie ihren Zechkumpanen offenbar überredet hatten. Brynja zeigte immer noch die kalte Schulter in Richtung des sich nähernden Mannes, und schließlich stand er vor ihr. Dorian begann jetzt schon zu kichern, dann geschah das Unvermeidliche. „Neu hier in dieser Stadt? Dann brauchen Sie sicher jemanden, der ihnen alles zeigt.“ Dorian hörte die Stimme über den lauten Hintergrund hinweg. Unüberhörbar stammte der daraus hervorklingende Mut aus den Tiefen eines einst wohlgefüllten Kruges. Brynja wandte sich dem schon leicht wankenden Gesellen zu, erwiderte sein Lächeln, welches gelbe Zähne offenbarte, aber nicht. „Wohl kaum“, erwiderte sie knapp und musterte ihn mit einem Blick von Kopf bis Fuß, um sich danach wieder ihrem Krug zuzuwenden. „Na, hey, Lady, so ein Ton ist aber nicht angebracht bei uns“, lallte er mit hörbarem Ärger in der Stimme. „Wirt, schenk mir nochmal ein“, rief Brynja und hob ihren Krug. Der Mann sah sich mit wachsender Unsicherheit um. Sein Blick pendelte zwischen seinen Kumpanen, die ihn mit Gesten anfeuerten, und dem abweisenden Frauenzimmer ihm gegenüber. Dann räusperte er sich lautstark, schüttelte seinen rot werdenden Kopf und legte Brynja seinen Arm um die Schulter. Dorian schlug sich auf die Stirn. „Nun komm schon, wir müssen uns nur etwas besser kennenlernen!“ raunte er ihr zu. Der Wirt, der gerade ihren Krug nachfüllte, sah ihre versteinerte Miene, die sich angesichts des sich daneben drängenden, breit grinsenden Gesichts kein Fingerbreit verzog. „Nimm deine Finger weg, und zwar jetzt“, hörte er sie leise sagen. Dabei stellte er ihr den wieder gefüllten Krug hin. „Komm schon, Sigismund. Du siehst doch, dass die Dame allein sein will“, sagte er mit geduldiger Stimme, aus der auch alle vergangenen Ermahnungen klangen, die er seinem Stammgast wohl schon hatte aussprechen müssen. Dorian beobachtete gebannt, wie der Kerl seinen Arm auf ihrer Schulter liegen hatte und ihr etwas ins Ohr zu flüstern begann. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und er sah, wie sich ihre Hand von der Theke löste und langsam nach unten bewegte. Schlagartig gefror das rote Gesicht des Mannes, um sich im nächsten Moment zu einer Grimasse des Schmerzes zu verziehen. Seine Gesichtszüge machten alle möglichen Verrenkungen und schöpften ihren Bewegungsspielraum völlig aus. Brynja sprach ein paar Worte, die Dorian aber nicht hören konnte. Dann ging ein Ruck durch ihren Arm, der vor dem Mann herabhing, und sein Gesicht zeigte sämtliche vorstellbaren Grimassen gleichzeitig, bevor er langsam in die Knie ging. Dorian beobachtete noch, wie sich der Mann mit verdrehten Knien zu seinen Freunden schleppte, die aus vollem Halse lachten. Bei ihnen angekommen, verkroch er sich hinter seinem Krug, so dass kaum noch etwas von ihm zu sehen war. „Wirt? Bring mir eine Schale Wasser. Ich möchte mir die Hände waschen“, rief Brynja. Der Wirt, der dies alles aus nächster Nähe mit angesehen hatte, blickte sie noch einen Moment starr an, um danach eilig eine solche Schüssel zu holen. Dorian lachte in sich hinein, bis sein Bauch schmerzte. Dann leerte er seinen Krug und schickte sich an, die Gaststube zu verlassen. Dabei ging er an Brynja vorbei, zu der die Umstehenden nun einen sichtbaren Respektsabstand hielten, und die anstatt der begierigen nun ehrfurchtsvolle Blicke trafen. Die Gäste der Herberge verfielen wieder in ihre Gespräche, in ihren Tratsch und Klatsch. Im Vorbeigehen hörte er so manchen Wortfetzen. Bei einem jedoch stoppte er, da diese Worte mit hörbarer Verunsicherung und auch Furcht ausgesprochen wurden. Etwas darin klopfte an die Tür seines Verstandes, und auch wenn er dieses Etwas hinter der Tür nicht demaskieren konnte, so wollte er doch einen Blick durch den Türspalt darauf werfen. Dorian blieb in der Nähe dieser Leute stehen und lauschte unauffällig mit. „Ich will ja nicht sagen, dass diese beiden Taugenichtse es nicht verdient hätten- “ „Wenn sie es denn waren.“ „Bestimmt waren sie es! Seit damals hat sie niemand mehr gesehen, und auch wenn sie niemand vermissen wird… Ein schreckliches Ableben, fürwahr.“ „Bestimmt hat sie der Fluch ihrer Schlechtigkeit ereilt, keine Frage.“ „Ich glaube nicht an Flüche, die gibt es nur in Märchen…“ „Und was sollte sie sonst so bis auf die Knochen abgenagt haben?“ „Na ja… Vielleicht Schakale aus der Wüste?“ „Mitten in der Stadt, und innerhalb einer Nacht? Unfug…“ Dorian schüttelte langsam den Kopf. Diese eilig geflüsterten Worte zwischen zwei der Tavernengäste beunruhigten ihn auf seltsame Weise. Nachdem es ihm aber nicht gelang, die Quelle dieser Unruhe zu orten, schob er den Gedanken beiseite und verließ den Schankraum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)