Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 44: ------------ Zwei Fahrzeuge scherten aus der Kolonne aus und hielten an, während die anderen mit verminderter Fahrt ihrem Ziel im Osten zustrebten. Dorian und seine Wegbegleiter stiegen von der Ladefläche. Largo Cotter erwartete sie bereits mit mehreren seiner Untergebenen. Sie standen ein Dutzend Steinwürfe von der Stadt entfernt, deren graue Häuser sich kaum von den Bergriesen in ihrem Rücken abhoben. „Von nun an seid ihr auf euch allein gestellt“, sagte Cotter, der sich wieder eine Zigarette angezündet hatte. Männer aus seinem Trupp öffneten eine Kiste, aus der sie ihnen ihre bis jetzt verwahrten Waffen überreichten. „Aber ihr kommt schon zurecht, schätze ich“, brummte er und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Wir werden uns Mühe geben. Und Danke für die Gastfreundschaft“, antwortete Sarik, während die anderen sich auf ihre zurückerlangten Waffen stürzten. Brynja verstaute mit hektischen Bewegungen ihre Dolche und setzte den Stachel in ihre Armschiene ein. Danach atmete sie tief durch und machte auf Dorian den Eindruck, als fühle sie sich jetzt erst wieder als ganzer Mensch. Hargfried wog sein riesiges Schwert in der Hand, als sei er sich über den Verwendungszweck dieses Gegenstands im Unklaren. Daraufhin wandelte sich seine Miene, und er begann, den Gegenstand aus scharfem Metall wie ein Kind in den Armen zu wiegen. Dorian steckte sein Schwert in die Halterung am Gürtel. Auch er fühlte sich erleichtert. Dann aber kamen die Erinnerungen zurück an das Ereignis, bei dem er diese Klinge errungen hatte. Seine Euphorie schwand, und so wandte er sich seufzend der Stadt zu, die in geringer Entfernung auf sie wartete. „Nochmals vielen Dank“, sagte Sarik. Largo Cotter winkte ab und murmelte etwas Unverständliches. Dann warf er den abgebrannten Zigarettenstummel weg. „Passt auf euch auf. Ich fahre mit meinen Männern nach Osten, und dann umgehen wir das Gebirge Richtung Norden. Aber wenn ihr das gefunden habt, was ihr sucht, werdet ihr wohl die andere Richtung nehmen…“ Einen Moment lang blickte er nachdenklich zu Boden. „Sei’s drum. Ich hoffe, wir treffen uns wieder, wenn dieser verdammte Krieg vorbei ist und kein Irrer mehr auf dem Thron in Galdoria sitzt.“ Er schüttelte ihnen allen die Hand zum Abschied, und wenige Momente später waren es nur noch Staubschwaden, aufgewirbelt von riesigen Rädern, die von ihrer Ankunft kündeten. Dorian blickte den beiden Fahrzeugen hinterher, die sich mühten, zu den anderen aufzuschließen; er fragte sich, ob er diesen Largo Cotter jemals wiedersehen würde. Schließlich merkte er, dass die anderen schon auf dem Weg in die naheliegende Stadt waren, und so lief er ihnen eilig hinterher. Dorians Blick pendelte zwischen den in ruhiger Eintracht aneinander liegenden Fachwerkhäusern und den sich dahinter auftürmenden Gebirgsriesen hin und her. Dann wieder ging sein Blick in die Richtung, aus der sie kamen. Dort sah er die steinige Wüste, die sie hinter sich gelassen hatten, und auch den Schienenstrang, der ihm bis jetzt nicht aufgefallen war. Er erinnerte sich an die abrupte Unterbrechung ihrer Zugfahrt, und dass sie schließlich genau durch jene Leute, die diese unterbrochen hatten, nun doch hierher gelangt waren. Dann kehrte Dorian wieder in die Gegenwart zurück und betrachtete die Hausfassaden, die alle wie von grauem Staub bedeckt wirkten. Dadurch machten sie den Eindruck, verlassene Ruinen zu sein; doch geöffnete Fenster, aus denen Wäsche hing und Geklapper von Geschirr drang, widerriefen diesen Eindruck. Diese Stadt war größer als Brimora, aber immer noch deutlich kleiner als Galdoria, schätzte er. Es waren nur wenige Leute auf den Straßen; in der Mehrzahl Kinder, Frauen und ältere Männer. Dorian wurde sich bewusst, dass die Mobilisierungsmaßnahmen für den Krieg auch an dieser Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen hatten. Ihm ging nun auf, dass sich dies in der Hauptstadt längst nicht so stark bemerkbar gemacht hatte. Die Ungerechtigkeit dieser Maßnahme, die im Umfeld des Kaisers weniger Wirkung getan hatte als an diesen eher entlegenen Orten, ließ stummen Ärger in ihm aufsteigen; nun verstand er Largo Cotters Beweggründe besser. Der Kaiser hatte wirklich alles versucht, die Stimmung in der Hauptstadt möglichst gut zu halten, und sei es dadurch, dass er dort die geringere Menge Soldaten einziehen ließ. Es begegnete ihnen Frauen mit Kindern an der Hand; die Kinder bekamen angesichts ihrer Truppe große Augen, deuteten mit Zeigefingern und plapperten begeistert. Ihre Mütter hingegen senkten den Blick, beschleunigten ihre Schritte und zogen ihre vor Neugier lachenden Kinder mit sich. „Jetzt sind wir hier“, begann Iria nach einer Weile, in der sie schweigend durch die Straßen dieser Stadt gegangen waren. „Was haben Sie jetzt vor? Glauben Sie, das Maleficium ist hier?“ fragte sie und richtete sich dabei direkt an Sarik. Dieser begegnete ihrer unverhohlenen Ungeduld mit einem diplomatischen Lächeln. „Hier in dieser Stadt nicht. Aber dort oben“, antwortete er und deutete dabei auf den steinernen Kegel, der das Gebirgsmassiv oberhalb dieser Stadt dominierte. Dorian folgte mit den Augen seinem Zeigefinger. „Das ist der Berg Galgasot. Dort liegt unser Ziel.“ Wie ein Herrscher inmitten seiner Untertanen, so hob sich dieser majestätische Berg von den umstehenden Felsgiganten ab. Dorian öffnete den Mund und hörte Nadim neben sich nach Luft schnappen. „Da rauf?“ fragte dieser ungläubig. Es schien, als würde Nadim angesichts der Größe dieses Bergriesen im Gegenzug schrumpfen. „Keine Sorge. In seinen Flanken wird seit Jahrzehnten Erz abgebaut, es gibt eine Gondelführe, die bis fast auf den Gipfel führt“, erklärte Sarik. „Und weiter müssen wir nicht hinauf.“ „Aber wieso auf diesem Berg…?“ fragte Iria und blickte ihn verständnislos an. Sarik begegnete ihrem Blick; es war für Dorian nicht zu übersehen, dass er immer noch zögerte, ihnen reinen Wein einzuschenken. Dann blickte er sich um, während Iria ihn immer noch fragend anblickte, bis sein Blick auf einen Punkt am Ende der Straße fiel. „Ihr werdet bald alles erfahren. Vorher müssen wir uns nur eine Fahrt mit der Gondelführe verschaffen. Sie ist momentan nicht in Betrieb…“, sagte er langsam und kniff sein gesundes Auge dabei zusammen. Dorian folgte seinem Blick und sah das Seil, das sich undeutlich als dünner, schwarzer Strich gegen die felsigen Wände des Berges abzeichnete. Es war keine Gondel zu sehen, nichts bewegte sich. „Am besten, wir fragen jemand.“ Das Gasthaus, das Sarik am Ende der Straße erblickt hatte, beherbergte in seinem Inneren nur wenige Gäste. Diese lehnten an der Theke aus schwerem, nachgedunkeltem Holz. Ihre leisen Gespräche erfüllten die mit Gerüchen von Bier und Abwaschwasser geschwängerte Luft. Hin und wieder durchbrach ein jähes Auflachen diese heimelige Ruhe. Dann wieder setzten sich die eifrigen und doch leise geführten Gespräche fort. In Dorian wurde die Erinnerung an die Gaststätten am Bucket-Weg wieder wach. Dieselbe von Rauch und Alkohol durchsetzte Luft, dieselben roten Nasen und unterlaufenen Augen, die von häufigen Besuchen in diesem Etablissement kündeten. Nur, dass diese Kneipe weniger schäbig war und die Einrichtung von einer gewissen Gediegenheit kündete. Hinter sich hörte er Sarik mit dem Wirt reden. Iria stand daneben, scheinbar darum besorgt, Sarik könnte einen eigenmächtigen Schritt unternehmen. Nadim hingegen spazierte pfeifend durch den Gastraum und ließ sich bald an einem Tisch nieder. Dorian beobachtete, wie er die Augen schloss, beide Hände auf den Tisch legte und ein verzücktes Gesicht machte. Im Geiste wähnte er sich wohl schon vor einer reichlich gedeckten Tafel, während in Wahrheit nur ein leerer, zerkratzter Tisch vor ihm stand. Dorian musste lächeln, dann fiel sein Blick auf Hargfried. Dieser stand mitten unter den Gästen, die ihm unauffällige und zugleich interessierte Blicke zuwarfen. Hargfried, dem nicht entging, dass seine Rüstung Aufmerksamkeit erregte, stand mit einem unglücklichen Lächeln in der Gaststube, ähnlich wie eine stolze Statue, die feststellen muss, dass sie in das Visier vorüberfliegender Tauben geraten ist. Brynja stand ein Stück entfernt von Sarik, ließ ihn jedoch keinen Moment aus den Augen. Ebenso wie Iria schien sie Bedenken zu haben, Sarik könnte ihnen irgendeine Information aus seiner Besprechung mit dem Wirt vorenthalten. Dorian, den dies im Moment eher gleichgültig ließ und seine Umgebung jetzt mehr faszinierte als ihr Ziel, ging auf die Rückwand der Kneipe zu. Dort hingen an der dunklen, vom Rauch geschwärzten Vertäfelung eine Reihe von Bildern und grafischen Darstellungen. Auf ihnen sah er die Abbildungen von weitläufigen Höhlen und Schachtsystemen, von riesenhaften Stalagmiten, die wie steinerne Eiszapfen von gewaltigen Höhlendecken herabhingen, und von schimmernden Erzadern, die inmitten ihrer Entdecker funkelten. Er sah auch Abbildungen mannshoher Kristallgebilde und anderer seltener Funde, vermerkt mit Funddatum und den stolzen Unterschriften derer, die sie aus dem Schoß der Erde zu Tage gefördert hatten. Sein Blick glitt über diese Ansammlung von Bilddokumenten, die allesamt den Abbau von wertvollen Gesteinen zum Thema hatten. Er war ganz gefangen von diesen Eindrücken, die den Geist von Entdeckerstolz und Berufsehre ausdrückten. Fast kam ihm diese Wand wie ein Reliquienschrein vor, in denen die Menschen hier das aufbewahrten, was ihnen am heiligsten war. Erst ein langgezogenes Seufzen, gefolgt von leisen, aber aufgeregten Worten, riss ihn aus diesen Gedanken. „Wieso müssen wir bis morgen warten?“ fragte Iria. Sie gab sich wenig Mühe, ihre erboste Stimme zu zügeln. Sarik saß ihr gegenüber, und Dorian, der sich neben Iria gesetzt hatte, wunderte sich über ihre Forschheit. „Die Gondelführe ist stillgelegt. In den Mienen wird nicht gearbeitet. Gegen eine kleine ‚Aufwendung‘ können sie sie für uns in Betrieb setzen, aber eben erst morgen.“ „Na großartig“, brummte Iria und blickte auf die Tischplatte. Dorian staunte über die Energie, die sie in die Verfolgung des Maleficium setzte. Sein Blick ging weiter zu Nadim, der auf der anderen Seite neben Iria saß. Seine Miene war ebenso von ungeduldiger Erwartung angespannt, aber weniger wegen des Maleficium, wie Dorian vermutete, sondern eher wegen dem Essen, das sie in der Zwischenzeit bestellt hatten. Dichter Dampf stieg von den Speisen in den Schüsseln auf, und Dorian sog ihn begierig durch die Nase. Wasser sammelte sich in seinem Mund wie in einer Zisterne. Er wagte es kaum, mit dem Essen zu beginnen; im Gegensatz zu den anderen, allen voran Nadim, der sich mit wahrem Heißhunger auf die Mahlzeit stürzte. Dorian öffnete langsam die Augen und ließ den Blick über die Teller schweifen. Sie standen da, gefüllt mit Gebratenem, Klößen und Kraut, wie verheißungsvolle Oasen zwischen den Krügen mit dunklem Bier. Dabei kaute er ins Leere und ließ den Duft auf sich wirken, um seine Vorfreude, die, angeheizt von der kargen Verpflegung bei den Rebellen, sich ins Unermessliche steigerte. Dann tauchte er das angelaufene Silberbesteck, das mit dünnen Ketten am Tisch befestigt war, in diese Ansammlung lukullischer Köstlichkeiten und erstickte prompt um ein Haar am ersten Bissen. „Nicht so gierig!“ rief ihm Hargfried zu, der im Gegensatz zu allen anderen ausschließlich mit dem Besteck und ohne Zuhilfenahme seiner Finger aß. „In dieser, äh… vornehmen Restauration gibt es gewiss genug für uns alle“, sagte er mit einem schiefen Lächeln, bevor er sich wieder seinem Teller zuwandte. Dorian blickte ihn kurz an, nachdem er sich von seinem Hustenanfall erholt hatte, dann beschäftigte er sich wieder mit dem Füllen seines Magens, der sich wie eine durchhängende Wäscheleine anfühlte. Bald saßen sie vor leeren Tellern. Nadim und auch Brynja ließen sich einen Nachschlag geben. Die anderen wandten sich satt und zufrieden ihren Krügen zu, die sie gemächlich leerten, um nach dieser kräftigen Mahlzeit die Mägen zu verschließen. Nur Iria machte einen rastlosen Eindruck. Dorian beobachtete sie unauffällig und bemerkte, dass es ihm schwerfiel, den Blick von ihr zu nehmen. Er redete sich ein, dies käme daher, dass er auf ihre Reaktionen gespannt war, die mit der Annäherung an ihr Ziel immer heftiger wurden. Das erheiterte ihn, der er selbst den Entschluss in sich trug, das Maleficium zu finden, was ihn im Moment aber weniger berührte. Dorian blickte in seinen Krug, in dem das trübe Bier schäumte. Dabei dachte er an seine eigene Zielstrebigkeit, die in der Vergangenheit immer wieder aufgewallt war, um dann wieder in abwartende Gelassenheit überzugehen. Dorian erinnerte sich an die Nacht in Brimora und die darauffolgende im Rebellenlager, in denen er geglaubt hatte, sich nicht mehr halten zu können aus Angst um seine Freunde. Nun spürte er kaum noch etwas davon, wie auch am Tag zuvor. Er wurde sich bewusst, dass ihn die Gegenwart seiner Wegbegleiter von diesen Gedanken ablenkte und sie ihn nur dann peinigten, wenn er allein war. Dorian lehnte sich zurück, spürte seinen wohlgefüllten Magen und auch das Bier, das ein schweres Gefühl in seinem Kopf verbreitete. Das Bedürfnis, sich hinzulegen, erwachte in ihm. Ein Bett, etwas Schlaf… diese lockende Aussicht drängte all seine Sorgen in den Hintergrund. Aber für wie lange? fragte er sich. Wenn er dann wieder allein sein würde, allein mit seinen Gedanken, ohne Ablenkung… würde die Furcht dann wieder hochsteigen, so wie die Schatten bei Anbruch der Nacht lebendig werden? Er wusste es nicht, und diese Ungewissheit trübte die Vorfreude auf die zu erwartende bequeme Nacht in diesem Gasthaus. „Jetzt kann ich frei zu euch sprechen“, begann Sarik mit einem Mal. Dorian horchte auf und war froh, Ablenkung von seinen Bedenken zu erfahren. Iria richtete sich unmerklich auf, als hätte sie die ganze Zeit auf diese Worte gewartet. Nadim aß munter weiter, und Dorian sah ihn schon seinen vermutlich bald schmerzenden Magen halten. Brynja hingegen schob ihre Schüssel beiseite und richtete den Blick auf Sarik. Hargfried betrachtete indessen seinen Krug, als könnte ihm die Maserung des Steinguts etwas über seine Zukunft verraten. „Das Maleficium ist auf diesem Berg, sagen Sie“, erwiderte Iria, nachdem Sarik nicht gleich weitersprach. „Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja. Dazu muss ich etwas weiter ausholen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)