Das Maleficium von Rahir ================================================================================ Kapitel 7: ----------- Gildensterns Blick ruhte auf seinem Kaiser, der mit geschlossenen Augen, die Hände vor der Brust gefaltet und mit hochgelagerten Beinen dasaß. Er sagte nichts mehr, und seine erschlaffte Mimik legte den Schluss nahe, dass er schlief oder kurz davor stand, einzuschlafen. „Eure Hoheit, ich empfehle mich.“ Modestus nickte ihm zu, ohne die Augen zu öffnen, und sein wichtigster Berater ließ ihn allein. Über der Festung lag Nebel, der seine feuchten Finger nach den hohen Türmen ausstreckte, mit ihnen über die weißen Mauersteine tastete und in die Kleidung der Wachen vor dem Tor kroch. Ein blasser Mond leuchtete durch die Wolken, drang aber kaum durch den dichten Bodennebel. Es war bereits weit nach Mitternacht; aber der Herr der Festung erwartete Besuch. Den Wachen, die das Tor flankierten, war der Widerwillen auf ihren Gesichtern anzusehen. Es war feucht und kalt in dieser Nacht, und der ‚Gast‘ ließ auf sich warten. Doch der Schlossherr hatte befohlen, bis zu seiner Ankunft auszuharren. Die Scheinwerfer auf der Mauerkrone durchdrangen den Nebel nur schwach. Ihre Kegel reichten nicht weit vor das Tor. Der Nebel schien nicht nur das Licht, sondern auch den Schall zu schlucken. So hörten sie das Brummen seiner Maschine erst im letzten Moment. Sie rollte aus dem Nebel auf sie zu, und ihr Scheinwerfer schnitt eine schmale Bahn von Licht in den Nebel. Die Haltung der Wachen straffte sich. Die Maschine rollte langsam an ihnen vorüber und so erkannten sie den Sohn des Schlossherrn. Das Tuckern des zweirädrigen Gefährts, dessen langgezogene Form an eine kampfbereite Echse erinnerte, hallte in ihren Ohren nach der Stille der Nacht. Im Vorbeifahren erkannten sie das Gesicht des Gastes unter seiner Windschutzbrille. Lange, blonde Haare wurden von ihr festgehalten, und von dem breiten Schwert auf seinem Rücken tropfte kondensierte Nässe des Fahrtwindes. „Euer Sohn ist soeben eingetroffen, Fürst“, murmelte eine der Wachen in das Funkgerät, das sie an ihrer Rüstung trug. Die beiden Wachen wechselten einen vielsagenden Blick, als das Tuckern der Maschine im Hof heiser wurde und schließlich erstarb. Hargfried von Lichtenfels stellte das Gefährt ab und wuchtete es auf den Ständer. Der Motor blubberte noch ein paar Momente, dann kehrte wieder die nächtliche Stille in den Innenhof der Burg zurück. Gedankenverloren fuhr Hargfried mit der Hand über den noch warmen Motor, dann nahm er seine Windschutzbrille ab. Er strich sich sein langes, blondes Haar aus dem Gesicht. Seine stahlblauen Augen sahen sich um, als sähe er diesen Ort zum ersten Male. Dann erst schien er die Burg seines Vaters wieder zu erkennen, die Burg, in der er aufgewachsen war. Er lachte leise, es klang aber nicht fröhlich. Quer über sein Gesicht, von seiner Stirn bis hinab zum Kinn, zog sich eine auffällige Narbe. Aber nicht sie entstellte eigentlich sein ansonsten makelloses Gesicht, vielmehr war es der Ausdruck um seinen schmallippigen Mund und in seinen Augen, der sein wohlgeformtes Äußeres abstoßend machte und die Menschen um ihn herum zurückweichen ließ. Dieser Ausdruck kündete von dem Vulkan, der unter der Oberfläche seiner beherrschten Fassade lauerte. Nur die wenigsten wussten, dass er diese Narbe nicht vom Schlachtfeld davongetragen hatte, sondern sich während einem seiner Anfälle selbst beigebracht hatte. Er trug die Rüstung, die ihm sein Vater anlässlich seines Ritterschlags geschenkt hatte. Dies lag schon mehrere Jahre zurück, in einer glücklicheren Zeit als der jetzigen. Das Metall machte leise Geräusche bei jedem Schritt, die von der Güte der Gelenkverbindungen zeugten. An seinem rechten Arm saß ein Escutcheon, von derselben Machart wie die Rüstung und auch genauso edel ausgeführt. Zwei volle Kreise leuchteten in einem hellen Grün, und ein dritter schien bald voll zu sein wie der Mond, der über der nächtlichen Burg hing. Seine Schritte hallten durch die Korridore der Burg. Sein Schatten flackerte an den Wänden im Schein der Glühdrahtlampen, die in ihrer Form den althergebrachten Harzfackeln nachempfunden waren. Er schritt vorbei an langen Gobelins, die von der Geschichte ihres Fürstengeschlechts kündeten. Hargfried beachtete sie jedoch nicht, ebenso wenig wie die Gemälde seiner Ahnen, die prächtigen Turnierrüstungen und die wenigen Bediensteten, die zu dieser Stunde noch auf den Beinen waren. Diese verneigten sich bei seinem Anblick, um dann mit leisen Schritten das Weite zu suchen. Geradeso, als ob sie etwas ahnen würden. Fasolt von Lichtenfels saß im Salon der Festung, an einem der besser geheizten Orte. Die hohen Fenster und die massiven Steinmauern machten es fast unmöglich, für gleichmäßige Wärme innerhalb der Burg zu sorgen. Deshalb trug er einen gefütterten Mantel über seiner Standestracht. Als sein Sohn den Raum betrat, schien die Temperatur abermals zu sinken. Fasolt blickte von seinem Buch auf und legte es zur Seite. „Hargfried. Da bist du ja.“ Sein Sohn ging an ihm vorbei, schenkte ihm einen verschmitzten Blick und trat an eines der hohen Fenster, durch dessen in Zinn gefasstes Glas der Mond zu sehen war. „Ja, da bin ich…“, antwortete er mit einer sanften Stimme, die seiner Jugend angemessen schien. „War ich denn überhaupt weg?“ fügte er leise lachend hinzu. Sein Vater ignorierte diese sinnfreie Erwähnung und sprach weiter. „Wie sieht es an der Grenze aus, mein Sohn? Respektieren die Truppen von Mosarria immer noch unser Gebiet?“ Seine Stimme klang, als erwartete er keine offene Antwort, sondern eine klare Betätigung. „Ja, Vater. Ihre Lager sind mehrere Meilen von der Grenze entfernt, und ihre Marschlinie umgeht unser Gebiet vollständig“, erklärte er in einem zuvorkommenden Tonfall, der fast wie der eines Kindes wirkte und nicht wie der eines jungen Mannes. Sein Vater, ein Mann mit dunklen Haaren und ernsten Augen, dessen Gesicht von einem schmalen Bart umrahmt wurde, blickte ihn mit einer Mischung aus Nachsicht und Bedauern an. „Das ist gut. Unser Herzogtum hat seit jeher gute Beziehungen zu allen Nachbarn, und immer waren wir neutral…“ „Oh ja, Vater, das waren wir…“, erwiderte er in einem nicht ernst klingenden Ton, und abermals tönte seine schwindende geistige Gesundheit durch diese Worte. Fasolt atmete geräuschvoll ein und seufzte, bevor er weiter sprach. „So wie die Dinge stehen, gibt es keinen Grund zur Sorge um das Herzogtum. Deshalb möchte ich dir nochmal empfehlen, dich… zu erholen. Ich kenne sehr erfahrene Gelehrte in der Stadt, die dir gern helfen würden- “ „Helfen? Wobei denn?“ entgegnete Hargfried scharf. Er blickte seinen Vater nun direkt an, und aus seinen eisblauen Augen sprach mühsam unterdrückter Zorn. Wie um ihn abzuschwächen, glätteten sich die Züge seines Vaters und nahmen einen nachsichtigen Ausdruck an. „Wir beide wissen, dass du Hilfe brauchst. Es war nicht leicht für dich, nach dem Tod von Sieglinde, deiner Mutter- “ Die Stimme versagte dem Fürsten von Lichtenfels, und er senkte den Blick. Hargfried tastete bei diesen Worten nach der auffälligen Narbe auf seinem Gesicht. Seine Miene nahm einen verlorenen Ausdruck an. „Mutter…“, sagte er leise, und seine Augen schienen ein Gespenst der Vergangenheit zu erblicken. Dann wurde der Ausdruck in ihnen wieder fest. „Es geht mir gut, Vater. Damals…“ Wieder betastete er die Narbe, die eine stumpfe Schneide in seinem bis dahin hübschen Gesicht gezogen zu haben schien. „Damals war ich verwirrt. Das bin ich nun nicht mehr, Vater. Glaub mir, es geht mir gut.“ Ein Lächeln, durch dessen Ritzen Lichtstrahlen aufkeimenden Wahnsinns fielen, breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Bist du dir sicher? Diese Stimmen, von denen du damals gesprochen hast… Sie sind verstummt, nicht wahr?“ fragte er mit einem Ausdruck, als fürchtete er die Antwort. „Ich höre sie nicht mehr, Vater. Du machst dir wirklich umsonst Sorgen“, erwiderte Hargfried. Hinter seinem nach außen hin fröhlichem Gesicht tobten wieder die Dämonen der Vergangenheit, die Geister, die ihm Ungeheuerliches zuflüsterten. Die ihn zu Dingen drängten, die ihm beängstigend, geradezu furchtbar, vorkamen… und die ihm zugleich, je länger er sie hörte, immer richtiger, immer notwendiger erschienen. „Aber wegen etwas anderem mache ich mir Sorgen. Im Moment respektieren sie unsere Grenze, aber wir sind nur ein kleines Herzogtum, und wer weiß, ob sich Mosarria uns nicht doch irgendwann einverleiben will?“ „Das bezweifle ich. Seit jeher haben wir ein gutes Einvernehmen mit diesem Reich, und wir waren… immer neutral…“ Sein Blick fiel auf seinen Sohn, und schleichende Unruhe warf seine Stirn in Falten. „Das Maleficium soll sich in Galdoria befinden, so erzählt man sich“, sagte Hargfried im Plauderton, hinter dessen Fassade ungezügelte Neugier tobte. „Wie gesagt, wir mischen uns da nicht ein“, bekräftigte sein Vater, und Hargfried merkte ihm sein Unbehagen an. Er zweifelte nicht daran, dass seine Gegenwart das auslöste. „Ich bin trotzdem dafür, dass wir es uns holen. Wenn es erst in unserem Besitz ist, wird es sicher niemand mehr wagen, unsere Grenzen zu bedrohen“, lachte Hargfried, als wäre ihm ein besonders gelungener Scherz geglückt. „Das ist nicht dein Ernst. Damit würden wir erst recht riskieren, in diesen unseligen Krieg hineingezogen zu werden. Das kannst du nicht ernst meinen“, wiederholte er, und aus seinem Blick schwand die Hoffnung, sein Sohn könne das verstehen. „Warum nicht? Warum nicht…?“ flüsterte Hargfried. Seine Stimme erstarb, Verzweiflung machte sich auf seinen verloren wirkenden Zügen breit. Wieder lärmten die Dämonen hinter seiner Stirn, jene Dämonen, die nach dem Tod seiner Mutter aufgetaucht waren und seither wie ein boshafter Schatten über seiner Seele lagen. Jene Dämonen, die ihm immer wieder Dinge einflüsterten, gegen deren Stimmen keiner der Ärzte am Hofe seines Vaters ein Mittel gewusst hatte und die zu einem unterschwelligen Gast in seinem Kopf geworden waren. Hargfrieds Blick glitt empor. Er traf das Gemälde an der Wand des Salons, das ihn, seinen Vater und seine Mutter zeigte. Seine Mutter, deren Gesicht er noch so deutlich in Erinnerung hatte. Ihre Augen, ihr Lächeln… das auf immer aus seinem Leben entschwunden war. Das nur noch als kaltes, totes Bild an der Wand existierte. Sein Blick traf wieder seinen Vater. Dieser bewegte seine Lippen, doch er hörte ihn nicht. Er hörte stattdessen die Stimmen, die flüsterten, die verlangten, die schrien, unablässig, fordernd. Seine Hände wanderten an seine Schläfen. Heute war es besonders schlimm, so schlimm wie schon lange nicht mehr, so schlimm wie seit jenem Tage nicht mehr, an dem er mit einer Glasscherbe versucht hatte, sein eigenes Gesicht zu zerschneiden. „Hargfried? Hargfried, mein Sohn!? Was ist mit dir?“ Aufkeimende Panik klang aus Fasolts Stimme. Er sprang auf, ging auf seinen Sohn zu und packte seine Hände, die zitternd an seinen Schläfen lagen. Seine Augen waren halbgeschlossen und aus seinem Mund klang leises Wehklagen. Fasolt redete auf seinen Sohn ein, doch dieser erwiderte seinen Blick nicht, sondern starrte ins Leere, während die Stimmen in seinem Kopf schrien, befahlen und verlangten. Der Lärm ihrer durcheinander tönenden Rufe wurde immer schlimmer. Hargfried öffnete seine Augen und sah seinen Vater, der ihn schüttelte, der auf ihn einredete, dessen Worte aber nicht mehr zu ihm drangen, als spräche er au großer Entfernung. Hargfrieds getrübter Blick ging zum Gemälde an der Wand, wo er seine Mutter sah, deren Mund sich bewegte, die ebenfalls zu ihm sprach und einstimmte in den Wirbel all der Befehle und Rufe in seinem Kopf, die immer unerträglicher wurden. Er schrie, er jammerte, er weinte, aber der Schmerz ließ nicht nach, die Rufe wurden nicht leiser, ihre Worte verloren nichts von dem Hass, vor dem sie trieften. Sein gesamter Horizont gerann zu einem Chaos boshafter Worte, tückischer Verlockungen und mahnender Schelte. Sie schlugen über ihm zusammen wie Wellen eines Meeres aus fieberndem Wahn, und inmitten dieses Sturms aus lachenden und verhöhnenden Stimmen schwamm eine Planke, an die er sich klammern konnte, die Linderung vor den furchtbaren- den furchtbaren und unerträglichen- Qualen versprach. Er gehorchte dieser Stimme und nahm sein Schwert vom Rücken. Sein schleppender Gang führte ihn aus dem Salon. Seine Füße wogen wie Blei an seinen Beinen und seine Arme schmerzten. In der rechten hielt er immer noch sein mannshohes Schwert, das er am Boden scharrend hinter sich her zog. Es hinterließ eine Spur dunklen Bluts, das bis auf das Gemälde ihrer Familie gespritzt war. Er blickte auf die Steinplatten, über die er schritt, und sein Kopf war völlig leer. Keine Stimmen mehr und keine Schmerzen. Das, was er getan hatte, blieb hinter einem dicken Vorhang verborgen, den sein Wahnsinn über all das ausgebreitet hatte, was soeben passiert war. Er schritt vorbei an leblosen Körpern, ihren ausdrucklosen Gesichtern und wich ihren anklagenden Blicken aus. Es schien ihm, als galten diese Blicke jemand anderen, demjenigen, der all dies getan hatte, doch die tröstliche Einsicht, dass unmöglich er dies gewesen sein konnte, legte sich wie eine lindernde Hand auf sein fiebriges Gemüt. Die kalte, feuchte Nachtluft strich über sein Gesicht, woraufhin er wohltuende Linderung empfand. In der spürbar kälteren Luft als innerhalb der Burg merkte er erst, dass sein Gesicht tränenüberströmt war. Er betastete sein Gesicht und betrachtete die aufgefangenen Tränen wie rätselhafte Kleinodien, deren Herkunft er sich beim besten Willen nicht erklären konnte. Er fühlte sich so frei wie lange nicht mehr. Eine gewaltige Last schien von seinem Herzen gefallen zu sein, die ihn über Monate und Jahre hin gequält und gepeinigt hatte. Er atmete tief durch; die fahle Mondscheibe hinter Fetzen bleicher Wolken schien ihn anzulächeln, und er lächelte zurück. Hargfried lächelte und begann schließlich zu lachen. Tränen stiegen ihm erneut in die Augen, aber diesmal vor Lachen. Sein Blick senkte sich, traf sein treues Gefährt und schließlich sein Schwert, dessen Spitze eine Spur im Kies des Innenhofs hinterlassen hatte. Er sah Schlieren dunklen Bluts daran, die sich langsam von seiner makellosen Oberfläche lösten, um im Kies zu verschwinden. Und er begann zu ahnen, dass ein Verbrechen geschehen war. „Da ist er! Mein Gott, er ist wahnsinnig, seht, was er getan hat“, rief eine Stimme über den Hof. Jetzt erst erreichten Hargfried wieder die Geräusche seiner Umgebung. Die Stimme klang bestürzt, geradezu schockiert, und über alle Maßen erschüttert. Hargfried drehte sich um. Mehrere der Burgwachen kamen auf ihn zu. Sie näherten sich ihm mit gezogenen Waffen, und aus den Mienen unter ihren hochgeklappten Visieren sprach jene Fassungslosigkeit, mit der Hargfried selbst immer aus seinen Alpträumen aufgewacht war. Sie schienen Angst vor ihm zu haben; ja, er erkannte Angst in den Mienen dieser Männer, die er so gut kannte, in deren Mitte er doch aufgewachsen war. „Alberich, Kunibert, Lothelm… was ist passiert?“ fragte Hargfried mit sanfter Stimme. Sein Augenmerk wanderte über die Männer, die ihn mit erhobenen Waffen einzukreisen versuchten und aus deren Gesichtern Angst und auch Abscheu sprach. „Er ist nicht er selbst…“, begann einer von ihnen. „Er ist…“ Aufwallender Ekel verzerrte sein Gesicht und raubte ihm die Worte. „Bringen wir es zu Ende, Männer, bei Gott…“, flüsterte er erstickt. Hargfried sah sich um, sein verzweifelter Blick tastete über diese Männer, die er so gut- so gut!- kannte- und die ihn jetzt töten wollten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)