Blutrote Rosen von Yami_no_cookie ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- „Doch“ Die Stimme der Frau war kaum mehr ein Flüstern. „Doch es ist dein Sohn“ Der Mann der ihr gegenüberstand, ihr den Rücken zugewandt drehte sich mit einem Ruck um und riss dabei eine Glasvase von einem kleinen Tischchen. Sie zersprang in viele kleine Scherben, als sie auf dem Boden aufschlug. „Nein!“, brüllte er „Nein du lügst, er ist nicht von mir!“ „Doch“, die Frau trat einen Schritt auf ihn zu. „Doch, das ist er. Schau ihn dir doch an! Er hat deine Augen…“ „Was interessieren mich seine Augen???“ „Aber der Vaterschaftstest–“ „Scheiß auf den Vaterschaftstest! Denen muss ein Fehler unterlaufen sein! UND JETZT VERSCHWINDE VON HIER!“ „Aber ich–“ „ICH SAGTE DU SOLLST DICH VERPISSEN, DU ELENDE SCHLAMPE! UND NIMM DAS DING DAS DU SOHN NENNST GLEICH MIT!!!“ Er bückte sich, hob eine besonders große Scherbe vom Boden auf und - … „Aaaaahhh“ Ich setzte mich aufrecht im Bett auf. Meine Klamotten klebten an meinem Körper, meine Kehle war wie ausgetrocknet und mir war speiübel. Alles um mich herum drehte sich. Ich schaffte es gerade noch ins Bad, bevor sich mein Magen aufbäumte und ich mich in die Toilette übergab. Ich blieb eine Weile so knien; wartete bis die Übelkeit verflog. Dann spülte ich das Erbrochene weg, putzte mir die Zähne und sprang anschließend unter die Dusche. Als das heiße Wasser meinen Körper benetzte und sich durch die Hitze die Scheiben beschlugen, klärte sich mein Kopf. Was war passiert? Ich hatte schlecht geträumt, das war klar… Aber diese ganzen Details… Das Klirren der hinabstürzenden Vase… Es kam mir vor wie eine längst vergangene Erinnerung… Aber das war natürlich Blödsinn! Ich schüttelte den Kopf um diese Gedanken zu verscheuchen. Was für ein Stuss… Mit einem Ruck zog ich den mittlerweile nassen Verband von meinem Arm. Bah, wie sah das denn aus? Angeekelt verzog ich das Gesicht. Mein Handgelenk sah irgendwie nicht mehr aus wie mein Handgelenk. Es war leicht angeschwollen, hatte eine bläulich-violette Färbung angenommen und wirkte irgendwie matschig… Über der Wunde hatte sich eine kleine, dünne Kruste gebildet unter der es weißlich schimmerte. Eiter? Hoffentlich hatte der ganze Scheiß sich nicht entzündet… Ich wechselte schnell den Verband und zog mich dann an. Schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpulli, etwas Kajal unter die Augen und fertig. Ich kam mir ein bisschen schwul vor, wie ich so dastand und mein Spiegelbild mit diesen eng anliegenden Klamotten betrachtete. Unten hörte ich die Haustür ins Schloss fallen: mein Stichwort! Ich wartete noch zehn Minuten, dann schnappte ich mir den gestern ergatterten 50€-Schein und rannte die Treppe runter. Meine Mutter war weg, bei der Arbeit! Sie würde erst heute Abend um sechs Uhr wieder kommen! Frühestens… Warum sie am ersten Weihnachtstag arbeiten musste, blieb mir ein Rätsel. Wahrscheinlich aber hatte sie sich freiwillig gemeldet um durch die Arbeit die Ereignisse des letzten Jahres vergessen zu können. Ich band mir die Schnürsenkel meiner ebenfalls schwarzen Chucks zu und warf mir meine rote Jacke über. Dann verließ ich das Haus. Über Nacht hatte es stark geschneit. Die Zentimeter hohe Schneedecke war nur durch die Fußspuren meiner Mutter unterbrochen worden. Ich stapfte durch den Schnee. Dass meine Schuhe dabei komplett durchweichten bemerkte ich gar nicht. Die Übelkeit vom Morgen war verschwunden. Ich tastete vorsichtig nach dem Geldschein in meiner Tasche, um sicher zu gehen dass er noch da war. Dann eilte ich über den Marktplatz. Die Budenbesitzer bauten ihre Stände ab und diskutierten untereinander über die Einnahmen in diesem Jahr. Mir waren die Einnahmen reichlich egal. Ich kannte mein Ziel: Das leerstehende Firmengebäude am Ende der Straße. Ich war noch nie dort gewesen, aber ich hatte viel von den Dealern gehört, die sich dort angeblich rumtreiben sollten… Ich hatte gestern einen schrecklichen Fehler gemacht… Ich hätte springen sollen! Heute fehlte mir dazu der Mut… Wieder war da dieser Schmerz, der sich von innen heraus in mich hinein fraß! Aber ich konnte nicht ritzen! Mehr würde auffallen… Und wenn es jemand herausfand, dann würde man mich in die Klapse stecken, das hatte ich so langsam begriffen! Außerdem war es diesmal ein anderer Schmerz, als der, der mich sonst dazu bewegt hatte die Nadel in die Hand zu nehmen… Die einzige Alternative die sich mir bot, war der Rausch! Ich hatte noch nie Drogen genommen. Es würde mein erstes Mal werden… Mein erstes Mal… Ich erreichte das Gebäude. Es war recht heruntergekommen; ein paar Fenster hatten Risse, bei anderen fehlte das Glas fast gänzlich. Hin und wieder sah man zwielichtige Gestalten hinein und wieder heraus huschen. Mir war ein wenig mulmig zu Mute. War die Polizei nie auf die Idee gekommen zu überprüfen, was dort drinnen vor sich ging? Ich betrat das Gebäude und fand mich in einem kahlen Treppenhaus wieder. Alles stank hier nach Rauch, Erbrochenem und Urin. Am Boden lagen leere Bierflaschen, zerbrochene Spritzen und reglose menschliche Körper. Ich konnte einen starken Brechreiz nur mit Mühe unterdrücken. An den Wänden lehnten gut ein halbes dutzend Leute. Man sah ihnen an, wie zerfressen sie von den Drogen waren. Als ich hereingekommen war, hatten sich alle Augenpaare auf mich gerichtet. Die Frau die mir am nächsten stand zog noch einmal an ihrer Zigarette, dann warf sie sie achtlos auf den Boden und entblößte ihre gelblich-braunen Zähne zu einem unheimlichen Grinsen. Der Kerl, der in einer Ecke vor einem anderen gekniet hatte stand auf, drehte sich um und kam auf mich zu. Im näher kommen wischte er sich fahrig mit der Hand über den Mund. Ich wollte gar nicht wissen womit er vorher beschäftigt gewesen war. Er hatte etwa schulterlange, blonde Haare, die ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht hingen. Sein Gesicht wurde von einer Narbe geziert, die sich über seiner linken Augenbraue befand. Seine Nase war krumm, als hätte man sie ihm mindestens einmal gebrochen. Ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Mundwinkel des Blonden verzogen sich zu einer Art Grinsen. „He Kleiner! Neu hier?“ Ich trat noch einen Schritt zurück. Dieser Kerl war mir unheimlich. Er grinste noch breiter und hob beschwichtigend die Hände. „Kein Grund zur Panik, Kleiner! Ich hab nur deine Visage hier noch nie gesehen. Was willst du hier?“ Ich schluckte. Da hing auf einmal so ein fetter Kloß in meiner Kehle. Ich wollte den Blick senken, aber wusste instinktiv dass ich es nicht durfte. Also hielt ich dem bohrenden Blick des Blonden stand. „Ich such nen Dealer“, sagte ich und versuchte, meine Stimme nicht zittern zu lassen. Der Blonde begann zu lachen. Mir wurde noch mulmiger als es ohnehin schon war und der beißende Gestank hier trieb mir die Tränen in die Augen. Der Blonde wandte sich an die anderen. „Habt ihr gehört was der Kurze gesagt hat? Er sucht nen Dealer“, er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und auch die anderen – zumindest die, die dazu noch im Stande waren – brachen in schallendes Gelächter aus. Die Raucherin neben mir hatte ein so schrilles Lachen, dass es mir in den Ohren wehtat. Der Blonde verstummte und wurde sofort wieder ernst. „Hör mal Kleiner“, begann er. Er hatte sich zu mir herunter gebeugt und flüsterte fast. „Ich weiß ja nicht, was man dir über uns und diesen Ort erzählt hat, aber woher sollen wir wissen dass du vertrauenswürdig bist?“ Fabian hielt die Luft an um nichts von dem stinkenden Atem in die Nase zu bekommen. „Ich… äh… also“, stotterte ich. Ich hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet. „Ey Alter, der is bestimmt nich von den Bullen geschickt worden… Guck dir den doch ma an, wie der schon aussieht! Und außerdem, wenn er von denen geschickt worden wär, dann hätt der jezz ne Antwort auf deine Frage!“, lallte ein besoffener, dicker Mann der neben der Raucherin gestanden hatte. Der Blonde nickte nachdenklich. „Ja… Jaaah, vielleicht haste Recht… Ok, gehen wir davon aus dass du wirklich nich von den Bullen bist… Dann musste zu Kalle gehen, der ist für diesen Bereich zuständig, okay?“ Er schnippte mir mit einem Finger vor die Brust. „Was willste eigentlich haben? Wir ham fast alles hier… Heroin, LSD, Ecstasy?“ Mir schwirrte der Kopf. Was war denn bitte der Unterschied dazwischen? „Äh, ich… ich…“ Der Blonde strich sich mit der rechten Hand durch die Haare. „Du hast echt keine Peilung was hier abgeht, huh? Ok, da du neu bist denke ich, sollte ich dich mit den Regeln hier vertraut machen…“ Er strich sich mit seinen Fingerspitzen über Brust und Bauch und grinste dreckig. „Na, was meinste? Willste schlucken oder spritzen?“ Der Klos in meinem Hals war auf seine fünffache Größe angeschwollen. Der Blonde machte sich an meinem Gürtel zu schaffen und ich war mir auf einmal gar nicht mehr so sicher, dass er das schlucken oder spritzen auf die Art der Drogenkonsumierung bezog. Ich schlug seine Hand weg. „Lass das“, zischte ich. In den Triumphierenden Blick des Blonden mischte sich Zorn. „Was?“, fragte er in einem Ton der keinen Widerspruch zuließ „Du wirst gefälligst machen was ich dir sage, sonst–“ „Fass mich nicht an!“, schrie ich panisch und wich einen Schritt zurück. Verdammt, der Kerl meinte das wirklich ernst. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte und spuckte ihm ins Gesicht, als er Anstalten machte, die Hand wieder nach mir auszustrecken. Zwei Sekunden später bemerkte ich, welch großer Fehler das gewesen war. Alles ging viel zu schnell. Auf einmal hatte der Blonde ein Messer in der Hand und drückte es gegen meinen Hals. Das kalte Metall schnitt mir leicht in die Haut. Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Was wenn er das wirklich durchzog? Er war jetzt so nah, dass ich seinen fauligen Atem nicht nur roch, sondern ihn auch warm auf meinem Gesicht spürte. „Hör mir gut zu, Kleiner… Du–“ „Es reicht, Fiddi!“ Der Blonde schien sich angesprochen zu fühlen, denn er lies mich los und wich zurück. Ich atmete auf, schluckte schwer und sah in die Richtung aus der die fremde Stimme gekommen war. Ein muskulöser junger Mann eilte die Betontreppe herunter. Das erste, was mir an ihm auffiel war, dass er sauber war. Sein gepflegtes Äußeres stach zwischen diesen schmutzigen Leuten sofort ins Auge. Er hatte etwa schulterlanges, dunkelbraunes Haar, das er in einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Seine rechte Augenbraue wurde von einem Piercing geschmückt, ebenso wie seine Ohren, durch die er gleich mehrere Ringe und Sicherheitsnadeln gesteckt hatte. Man sah ihm an, dass er hier die Respektperson war und dass man ihn besser nicht verarschen sollte. „Kalle“, keuchte Fiddi „Was machst’n du hier?“ Der Angesprochene fixierte Fiddi aus kalten Augen. „Ich wurde von eurem Gebrüll angelockt! Wenn du das nächste Mal ein wehrloses Kind vergewaltigen willst, dann mach das bitte so leise, dass ich’s nicht mitbekomme!“ Fiddi senkte schuldbewusst den Blick. Kalle wandte sich mir zu. In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. „Komm!“ Ich zögerte. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas schnürte mir den Hals zu. Kalle wandte ich zum Gehen. „Jetzt komm schon, oder willst du doch noch die Kehle aufgeschnitten kriegen?“ Vielleicht war das gar nicht mal eine so schlechte Idee… Ich beeilte mich trotzdem, ihm zu folgen. Kalle hatte mich in den ersten Stock des leerstehenden Parkhauses gebracht, das gleich nebenan lag. Nun saßen wir beide auf dem Mäuerchen, das den übrig gebliebenen Teil einer Wand bildete. Kalle streckte mir seine Hand hin. „Sorry, falls Fiddi dich erschreckt haben sollte. Aber der ist leider bei jedem Kerl so… Besonders wenn er voll ist! Und seine Schulden bezahlt er auch nie… Ich bin übrigens Kalle!“ Ich nickte und drückte kurz Kalles Hand. Kapieren tat ich schon längst nichts mehr. War er jetzt dieser Dealer von dem Fiddi gesprochen hatte? Wahrscheinlich… So viele Leute die Kalle hießen, würde es hier nicht geben. Ich spürte Kalles neugierige Blicke auf mir und schreckte auf. „Ich heiße Fabian“, stotterte ich schnell. „Fabian… Soso… Wie alt bist du?“ „Sechzehn“ „Dein erstes Mal, hm?“ „Ja“ Kalle nickte nachdenklich und steckte sich eine Zigarette an. „Is zwar ne’ persönliche Frage und geht mich auch eigentlich gar nichts an, aber… warum?“ In meinem Kopf hatte sich ein einziges Chaos ausgebreitet. Warum… Ja, warum, eigentlich? Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, antwortete ich „Alles ist Scheiße“ „Aha.“ Kalle lehnte sich an einen Betonpfeiler und blies Rauch aus der Nase. „Und für diese Erkenntnis willst du dein Leben wegschmeißen?“ „Was?“ Kalle musterte mich lange und nachdenklich. Dann zeigte er auf einen jungen Mann, der am anderen Ende des Parkhauses saß und zu schlafen schien. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, neben ihm lag eine Spritze. „Siehst du den da?“, fragte Kalle. „Das ist Kai! Er spritzt sich jetzt schon seit 11 Jahren dieses Zeug. Er war etwa in deinem Alter, als er angefangen hat. Und was ist aus ihm geworden? Er geht auf’n Strich um sich den Stoff leisten zu können…“ Kalle seufzte. „Er war sogar schon mal ein Jahr im Knast, hat trotzdem nicht aufgehört. Frag mich nicht wieso er noch lebt, aber bei der Dosis und das über diese lange Zeitspanne, müsste er eigentlich schon abgekratzt sein. Tja, aber nicht bei jedem klappt das so wie bei ihm! Du hast ja gesehen, wie’s den Leuten unten bei Fiddi ging…! Die sind höchstens ein halbes, wenn’s hochkommt ein Jahr dabei. Und trotzdem sind die schon so Down.“ Kalle hob seinen Finger und lies ihn an seiner Schläfe kleine Kreise ziehen. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und entschied mich für ein einfaches Kopfschütteln. „Warum erzählst du mir das?“ „Ich will dir nur zeigen, wie’s dir gehen kann wenn du das machst. Das gleicht Selbstmord, sag ich dir… Willst du dich vielleicht umbringen?“ Ertappt! Ich zuckte hilflos mit den Schultern und nickte dann langsam. Kalle schien irgendwie nicht sehr überrascht zu sein. Er räusperte sich. „Also, da gibt es wesentlich leichtere Wege: Kletter einfach zwei Stockwerke weiter nach oben und spring Kopfüber runter! Dann biste auch“ Er fuhr sich mit Zeige- und Mittelfinger am Hals entlang und machte ein entsprechendes Geräusch „tot! Nur glaub ja nicht, dass ich deine Überreste vom Boden aufkratzen werde… Es ist eh besser wenn du woanders springst, ich will hier keinen Ärger mit den Bullen haben!“ Er zog wieder an seiner Zigarette. Ich starrte ihn verwirrt an. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. „Stört es dich denn gar nicht, wenn jemand Selbstmord begeht?“, fragte ich vorsichtig. Kalle senkte den Kopf, blies erneut Rauch aus und sah mich dann mit schief gelegtem Kopf an. „Of course not!“ Er grinste. Als ich ihn nur weiter verwirrt anstarrte, deutete er zum Himmel. „Sieh dir das an“, sagte er. „Der Himmel ist grau… Aber, bist du dir sicher, dass er immer so bleiben wird?“ Er wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern sprach einfach weiter. „Nein, denn irgendwann verziehen sich selbst diese scheiß Wolken! Man muss nur lang genug warten. Und so lange kann man nichts tun, außer versuchen zu überleben… Wenn du zu schwach bist um das zu rallen, bleibt halt nur der Tod! Hast du das verstanden?“ Ich stockte. Wie Recht er mit seinen Worten doch hatte. Warum hatte ich das nie bemerkt? Warum war mir das nie in den Sinn gekommen? Irgendetwas in meiner Brust schnürte mir die Luft ab. Meine Unterlippe begann zu zittern und vor meinen Augen verschwamm die Welt. „Ja“, presste ich mühsam hervor und wandte meinen Kopf ab, damit Kalle meine Tränen nicht sah. „Heyhey, nicht weinen!“ Ich spürte, wie Kalle seinen Arm um mich legte. Es war ein schönes Gefühl, nicht allein zu sein… Mein Widerstand brach und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Was hätte es auch gebracht, sie jetzt noch zu verheimlichen…? Ich wusste nicht, warum ich weinte. Ob vor Trauer, oder vor Glück. War es die Wirkung gewesen, die Kalles Worte auf mich gehabt hatten? Nach einer Weile versiegte der Tränenfluss. Kalle reichte mir ein Taschentuch. „Dir geht’s wirklich scheiße, hmm?“ Ich nickte vorsichtig. Mein Kopf schmerzte. Kalle deutete auf den Verband an meinem Handgelenk. „Selbst gemacht?“, fragte er. Ich nickte erneut. Mein Gegenüber seufzte. „Bringt nix“, sagte er „Für ein paar Stunden lenkt dich der Schmerz ab und dann ist doch wieder alles so wie immer. Glaub mir! Hab ich früher auch gemacht…“ Ich zuckte zusammen. Bei Kalle konnte ich mir das irgendwie nicht vorstellen. „Echt?“, fragte ich also vorsichtshalber. Er nickte. Dann warf er seinen Zigarettenstummel in den Schnee und zog den linken Ärmel seines Pullis hoch. Ich zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Die Haut die darunter zum Vorschein gekommen war, war von Narben übersäht. Als Kalle meinen Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte er. „Ich hab mehrere Selbstmordversuche hinter mir“, erklärte er. „Sieht man mir nicht an, was?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei“ Kalle stand auf. „Wenn du Drogen haben willst, verkauf ich dir welche, aber ich wäre ziemlich enttäuscht von dir!“ Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. „Und falls du mal einfach nur jemanden zum Reden brauchst, weißte ja wo du mich findest… Okay Fabi?“ In meinem Kopf rumorte es. Hatte er mich gerade Fabi genannt? Das hatte bis jetzt noch niemand getan, außer meiner Mutter… „Okay“, antwortete ich. Kalle wandte sich zum Gehen. „Halt“, rief ich ihm hinterher „Warte kurz!“ Er drehte sich um und sah mich ruhig an. Ich schluckte. „Warum“, begann ich „Warum machst du das alles für mich?“ Er grinste und deutete auf meine rote Jacke. „Weil ich die gleiche Scheiß-Jacke hab!“, antwortete er und zwinkerte. Damit lies er mich stehen. Mich und meinen roten Anorak. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)