Mehr als zehn Jahre von JoeyB (Sommerwichteln 2009) ================================================================================ Kapitel 1: Mehr als zehn Jahre ------------------------------ Hallo, hier kommt wieder eine Wichtelgeschichte... Das Schreiben hat mir dieses Mal wirklich Spaß gemacht (zumindest beim letzten Versuch, den ich am Ende ja auch abgeschickt habe). Bis vor zwei Wochen hatte ich noch eine völlig andere Story im Kopf, die ich auch angefangen habe.. Aber irgendwie wirkte die ein wenig leblos und das Schreiben hat sich so gezogen, deshalb habe ich mir die Wünsche meines Wichtelkinds nochmal angeguckt und beschlossen, eine Geschichte mit zwei psychisch nicht ganz normalen Charakteren zu schreiben. Das Thema der Wichtelaktion war übrigens "Eine Abkühlung wäre schön" - in der Planung hätte man dieses Thema auch ansatzweise erkennen können, aber in der Ausarbeitung... Nun ja, man sollte nicht danach suchen ;___; Beim Schreiben kann ja so vieles verloren gehen... Betaleserin war wie immer meine Mutter. Ich weiß, es ist uncool, aber die Frau ist ein Ass im Fehlersuchen xD Viel Spaß beim Lesen :D Mehr als zehn Jahre Langsam kaute Adrien die Cornflakes in seinem Mund. Er ließ sich Zeit damit. Je sorgfältiger er sein Essen kaute, desto sicherer fühlte er sich damit. Es war so, als würde er seinem Körper Zeit geben, sich an die Nahrung zu gewöhnen, bevor er sie schluckte. Er blätterte nebenbei in der Zeitung herum, überflog die Schlagzeilen und beschloss letzten Endes, keinen der Artikel zu lesen. Stattdessen faltete er sie zusammen, genehmigte sich noch einen Löffel voller Cornflakes und beschloss dann, genug gegessen zu haben. Die durchweichten Reste aus der Schüssel traten ihre letzte Reise im Klo an, bevor das Geschirr in der Spüle landete. Er ging ins Schlafzimmer und wechselte die Schlafanzughose mit einer Jeans, wählte nachdenklich Hemd und Krawatte aus und suchte schließlich nach seinem Schlüsselbund. Der Tag hatte begonnen wie jeder andere auch: Frühmorgens hatte er sich aus dem Bett gequält und geduscht, um wach zu werden. Ihm war im Badezimmer zu kalt geworden, also war er gleich wieder in seinen Schlafanzug geschlüpft, um gemütlich sein Frühstücks-Ritual zu vollziehen: Erst hatte er einen halben Apfel gegessen, dazu ein halbes Schüsselchen Naturjoghurt mit geringem Fettanteil und schließlich noch eine halbe Portion Cornflakes. Insgesamt hatte ihn das Essen etwas mehr als eine halbe Stunde gekostet. Die rechnete er morgens stets großzügig ein, schließlich kannte er sich und seine Schwächen. Er lag gut in der Zeit und konnte sich jetzt gemütlich auf den Weg zur Arbeit machen. Während er in seine Schuhe schlüpfte, klingelte es an der Haustür. Verwirrt sah er auf und runzelte die Stirn, als er durch die milchige Scheibe seiner Haustür eine Gestalt ausmachen konnte. Erwartete er ein Paket oder weshalb bekam er so früh morgens Besuch? Als er die Tür öffnete, stand ihm ein Mann gegenüber. Braune, kurze Haare, dunkle Augen, ein freundliches Lächeln. Er war ein wenig kleiner als Adrien selbst und schien in seinem Alter zu sein. Und er kam ihm alles andere als fremd vor... „Adrien“, sagte der Mann gut gelaunt. „Du bist es wirklich! Ich hatte ja Angst, bei jemand Fremden zu klingeln, der genauso heißt wie du. Wobei das wohl eher unwahrscheinlich gewesen wäre, weil dein Nachname ja nicht gerade häufig vorkommt. Zumindest nicht hier. Keine Ahnung, wie das in Frankreich ist – Da kommst du doch her, nehm' ich an?“ „Kanada“, sagte Adrien langsam und kniff die Augen nachdenklich zusammen. „Wir kennen uns, oder?“ Sein Gegenüber legte den Kopf schief und erwiderte seinen Blick verdutzt. „Ist das dein Ernst?“, fragte er und eine Spur von Enttäuschung klang in seiner Stimme mit. „Jamie?“, fragt Adrien vorsichtig. Eigentlich konnte das nicht sein... Oder doch? Vom Äußeren her passte es, vom Verhalten... irgendwie auch. Aber es war zu skurril, Jamie hier zu sehen, schließlich hatte er damit gerechnet, dem Jüngeren niemals wieder zu begegnen. Tatsächlich. Jamie nickte grinsend. „Glück gehabt“, sagte er. „Hättest du mehr als zwei Versuche gebraucht, wäre ich dir an die Gurgel gegangen!“ Er deutete auf die Haustür, die noch immer bloß einen Spalt breit offen stand. „Willst du mich nicht reinbitten?“ „Ähm... Klar.“ Adrien trat einen Schritt zurück und ließ es zu, dass Jamie seinen Flur betrat. „Hübsches Haus“, meinte Jamie und sah sich um. „Wohnst du allein hier?“ „Ja.“ Adrien schloss die Tür und folgte Jamie, der langsam in Richtung Wohnzimmer ging, noch immer neugierig schauend. Schließlich setzte sich Jamie auf das Sofa und lächelte sein Gegenüber ein wenig verlegen von unten her an. „Du bist nicht sehr gesprächig heute“, stellte er nüchtern fest. „Oh, ähm...“ Adrien räusperte sich. „Naja, du... Du hast mich überrascht.“ Jamie zuckte leicht mit den Schultern. „Ich dachte, du freust dich. Oder tust zumindest so.“ Er verzog leicht das Gesicht. „Tu ich auch, aber...“ Adrien seufzte und setzte sich Jamie gegenüber auf den Sessel. „Du hast mich überrascht“, wiederholte er langsam und deutlich. Jamie nickte leicht. „Ja... Aber dafür bin ich doch da, oder nicht?“ „Ein Elefant.“ Jamie sah ihn mit bedeutsamen Blick an. „Für dich.“ Stirnrunzelnd nahm Adrien das gefaltete Papier an. „Danke“, sagte er und betrachtete den Elefanten kritisch. Eigentlich war es ja eine niedliche Geste, jemandem ein Origami-Tier zu schenken... Aber es kam ihm befremdlich vor, dass der Junge, der ihm gegenüber saß, etwa genauso alt war wie er selbst. Er hatte Jamie nie nach seinem Alter gefragt – Eigentlich hatte er noch nie zuvor mit dem brünetten Kerlchen geredet. Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war der Andere bestimmt. „Hab' ich vorhin gebastelt“, erzählte Jamie, als wolle er verhindern, dass ihr Gespräch abbrach. „Ja, hab' ich mir fast gedacht.“ Adrien zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und stellte den Elefanten neben sich auf den Tisch. „Isst du das noch?“, fragte Jamie und deutete auf Adriens Puddingschüssel. Adrien spürte, wie sein Lächeln eine Spur ehrlicher wurde, als er mit dem Hauch eines schlechten Gewissens den Pudding über den Tisch schob. Sobald Jamie sich die Schüssel geschnappt und seinen Löffel darin versenkt hatte, sah sich Adrien vorsichtig im Speisesaal um und zog dann Jamies leere Schüssel zu sich heran. „Isst du die Cornflakes auch nicht?“, fragte Jamie mit vollem Mund. „Doch“, meinte Adrien. „Ich hab' doch welche gegessen.“ „Du hast nur damit gespielt“, wunderte sich Jamie. „Aber gegessen hast du nichts.“ „Als würde dich das was angehen“, schnappte Adrien und tadelte sich innerlich selbst dafür, so feindselig zu werden. Offenbar verstand Jamie nicht, weshalb er hier war. Und dass Adrien jeden Tag alle paar Stunden von jemandem gefragt wurde, ob er nicht essen wollte. „Die sind doch jetzt ganz aufgeweicht“, sagte Jamie und verzog das Gesicht. „Hol' dir doch neue.“ Adrien zuckte leicht mit den Schultern. „Ja, vielleicht“, sagte er. Eigentlich war es seine Absicht gewesen, die Cornflakes einzuweichen. Das machte er oft, wenn er nichts essen konnte: Er ließ die Cornflakes einfach in der Schüssel schwimmen. Manchmal nahm er einen Löffel, hob ein paar der Flakes hoch und betrachtete sie, bevor er sie wieder in die Schüssel gleiten ließ. Hin und wieder zerdrückte er ein paar Cornflakes am Rand der Schüssel, sodass sie schneller zerfielen. Es vertrieb die Zeit, mit den Cornflakes zu spielen. Aber sie gleich zu essen? Das war doch nicht nötig. „Magst du Elefanten?“, fragte Jamie irgendwann. „Schwäne sind mir lieber“, scherzte Adrien. Am nächsten Morgen stand ein gebastelter Schwan auf seinem Nachttisch. „Glück gehabt“, sagte Adrien, als er ins Wohnzimmer zurück kam. „Ich hab' in letzter Zeit so viele Überstunden geschoben, dass mein Chef mir sofort freigegeben hat.“ Er setzte sich wieder auf den Sessel und sah Jamie auffordernd an. „Also – Erzähl!“ „Was soll ich erzählen?“, fragte Jamie, obwohl ihm klar sein musste, was Adrien wissen wollte. „Warum bist du hier?“, konkretisierte Adrien. „Ich dachte, du wärst noch...“ Er unterbrach sich selbst, als ihm klar wurde, dass dieser Satz unhöflich war. „In der Psychiatrie?“, beendete Jamie die Aussage für ihn und lächelte leicht. „Kannst es ruhig aussprechen. Es hilft ja niemandem, das totzuschweigen.“ „Also hat man dich entlassen“, stellte Adrien nachdenklich fest und bemühte sich, nicht allzu überrascht darüber zu wirken. Er hatte damals nicht vermutet, dass man Jamie jemals entlassen würde. Der Jüngere schien sich ja nicht einmal darüber im Klaren gewesen zu sein, dass er krank war. „Vor etwa einem Jahr“, erzählte Jamie. „Ich habe in einer Art betreuter WG gewohnt und musste noch regelmäßig mit meinem Therapeuten reden.“ „Und was machst du jetzt?“, fragte Adrien. Jamie grinste leicht. „Dich besuchen. Ich habe Monate gebraucht, um deine Adresse rauszufinden. Ich wusste nicht mehr, wie man deinen Nachnamen schreibt und die aus der Jugendpsychiatrie haben mir das natürlich nicht gesagt, weil solche Daten vertraulich behandelt werden müssen.“ „Warum hast du überhaupt nach mir gesucht?“, fragte Adrien ein wenig verwirrt. Eigentlich hätte es ihn nicht überraschen sollen, schließlich kannte er Jamie doch. Und trotzdem... Es verblüffte ihn, dass der Jüngere nach über zehn Jahren offenbar immer noch an ihn dachte. „Weil ich dich mag“, erwiderte Jamie. „Immer noch.“ „Hast du mich gern?“, fragte Jamie und lugte mit großen braunen Augen unter der Decke hervor. Er hatte es sich wieder einmal in Adriens Bett bequem gemacht und schnorrte Gruselgeschichten. Das war mittlerweile eine Art allabendliches Ritual: Jamie schlich sich nach dem Essen in Adriens Zimmer und bettelte ihn an, ihm unheimliche Geschichten zu erzählen. Solange, bis Schwester Karen ihn hier fand und in sein eigenes Bett scheuchte. Adrien unterbrach seine Geschichte, als er die Frage gehört hatte. Er sah Jamie verwirrt an. „Was hast du gesagt?“, fragte er, obwohl er durchaus verstanden hatte, was da aus Richtung Bett gekommen war. „Hast du mich gern?“, wiederholte Jamie geduldig. Adrien runzelte die Stirn. „Wie kommst du jetzt darauf?“, fragte er und überlegte, ob irgendetwas aus seiner Geschichte damit zusammenhängen konnte. Aber das ergab keinen Sinn. Naja, eigentlich war es sowieso zwecklos, nach Logik in Jamies wirren Gedankengängen zu suchen. Dem Jugendlichen kamen ständig solche Einfälle. Wenn ihn etwas beschäftigte, dann sprach er es meistens auch aus. „Meine Eltern haben mir nicht mal geschrieben“, sagte Jamie und zog sich die Decke über den Kopf. „Als ob ich nicht existieren würde.“ Der letzte Satz drang nur gedämpft an Adriens Ohren. Er stand von der Fensterbank auf und ging zu seinem Bett. „Gestern, meinst du?“, fragte er. Jamie hatte Geburtstag gehabt. Um ihm eine Freude zu machen, hatte sich Adrien sogar gezwungen, ein halbes Stück Kuchen zu essen. Die Decke bewegte sich leicht, vermutlich nickte Jamie unter ihr. Adrien setzte sich zu ihm ans Bett und zog ihm die Decke weg. „Natürlich hab' ich dich gern“, sagte er. „Sonst würde ich dir doch nicht jeden Abend erlauben, mir meinen kostbaren Schönheitsschlaf zu rauben.“ Jamie lachte leise. „Du brauchst keinen Schönheitsschlaf“, sagte er. „Nur ganz viel Kuchen.“ Normalerweise hasste Adrien es, wenn andere Leute über sein Gewicht sprachen, aber Jamie konnte er es kaum übel nehmen. Vielleicht weil Jamie nur das sagte, was er wirklich dachte. Bei den Schwestern und den Ärzten hatte er oft das Gefühl, dass sie ihn nur zum Essen drängten, weil es ihr Job war. Aber Jamie meinte es ehrlich mit ihm. „Ich hab' dich auch gern“, sagte Jamie leise und griff nach Adriens Hand. „Wir sollten für immer Freunde bleiben.“ „Klar“, sagte Adrien. Er war nicht wie Jamie, er konnte nicht immer die Wahrheit sagen. Jetzt gerade war Jamie wichtig für ihn. Er hatte nicht damit gerechnet, in der Jugendpsychiatrie so etwas wie einen besten Freund zu finden, eigentlich hatte er sich sogar dagegen gesperrt. Und obwohl er gerne Zeit mit Jamie verbrachte und ihn eigentlich nicht hier zurücklassen wollte, wusste er, dass sie keine ewige Freundschaft würde verbinden können. Jamie war manisch. Was genau das bedeutete, wusste Adrien nicht wirklich und er hatte sich bisher auch nicht getraut, jemanden zu fragen. Aber er hatte schon mehrfach erlebt, wie Jamie ausgerastet war. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass jemand wie Jamie jemals aus psychiatrischer Behandlung entlassen werden würde. Adrien selbst würde die Klinik vermutlich bald verlassen und Jamie hier zurücklassen. Vielleicht würde er ein paar Monate lang noch per Brief Kontakt zu dem Jüngeren aufrecht erhalten, aber er war realistisch genug, um zu wissen, dass er schon in zwei Jahren keinen Gedanken mehr an Jamie verschwenden würde. „Jamie?“ Adrien schloss die Haustür hinter sich und zog seine Schuhe aus. „Du bist wieder da!“, erklang eine freudige Stimme aus der Küche. „Gutes Timing, das Essen ist gerade fertig!“ Mit einem Topf in der Hand durchquerte der Jüngere gut gelaunt den Flur und verschwand im Wohnzimmer. „Hier drüber ist es viel gemütlicher als in der Küche“, rief er Adrien zu. Adrien lächelte leicht und schüttelte resignierend den Kopf. Entgegen seiner anfänglichen Zweifel war er zufrieden mit der Entscheidung, Jamie hier zu behalten. Er war schon das Wochenende über bei ihm geblieben. Und scheinbar richtete er sich gerade darauf ein, noch länger das Sagen in der Küche zu haben. Offenbar hatte er nach seinem Auszug aus der WG noch keine eigene Wohnung gefunden und brauchte nun ein wenig Unterstützung. „Komm' schon!“ Plötzlich stand Jamie neben ihm, nahm ihm seine Jacke ab und schob ihn dann ins Wohnzimmer. Adrien setzte sich auf das Sofa, das Jamie momentan als Bett diente und schielte in den Topf. „Sieht gut aus“, fand er. Nudeln mit irgendetwas, in dem Gemüse herumschwamm. Konnte doch nicht schlecht sein. „Wie war dein Tag?“, fragte Jamie interessiert. Adrien grinste leicht. „Oh Gott“, murmelte er. „Das ist so surreal...“ Jamie legte den Kopf schief. „Wieso?“, fragte er und setzte sich näher zu Adrien, als er es hätte tun müssen. „Du kommst mir gerade vor wie eine Hausfrau, die ihren Mann nach der Arbeit begrüßt“, meinte Adrien. „Das ist... krank!“ „Aber irgendwie auch schön, oder?“ Jamie zwinkerte ihm zu. „Ja, irgendwie schon.“ Jamie saß schweigend auf der Fensterbank und starrte durch die vergitterte Scheibe auf den Park, in dem die Klinik lag. Er schien Adrien nicht zu bemerken, weshalb dieser vorsichtig an den Türrahmen klopfte. „Hey“, sagte er, als sich der Jüngere zu ihm umdrehte. „Hey“, erwiderte Jamie leise und wandte den Blick wieder dem Fenster zu. Adrien betrat den Raum. Er ließ die Tür einen Spalt breit offen, weil man ihm verboten hatte, sie zu schließen. „Schön, dass du wieder da bist“, sagte er. „War nie weg“, sagte Jamie. „Ja, aber... Ich durfte nicht reinkommen“, meinte Adrien etwas unbehaglich und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Normalerweise war es Jamie, der ihre Gespräche führte, aber der schien gerade nicht in der Stimmung zu sein, ihn zu unterhalten. Weshalb hätte er auch? Vor ein paar Tagen hatte er einen seiner Anfälle gehabt, fast schon schlimmer als sonst. Er war auf ein junges Mädchen losgegangen. Danach hatte Adrien ihn mehrere Tage lang nicht sehen dürfen. Vermutlich hatte man Jamie mit Medikamenten ruhig gestellt. Das war schon häufiger passiert. „Ich habe das gar nicht böse gemeint“, sagte Jamie und stand endlich von der Fensterbank auf. Er ging zu seinem Bett und sank darauf nieder. „Aber das weißt du vermutlich, oder? Ich sag' das schließlich jedes Mal.“ Er legte den Kopf schief und zuckte leicht mit den Schultern. „Allmählich geh' ich mir damit selbst schon auf die Nerven.“ „Du bist krank“, sagte Adrien. „So wie wir alle hier.“ Er stand wieder auf und setzte sich neben Jamie auf das Bett. „Und es ist ja nichts passiert.“ „Natürlich nicht.“ Jamie rutschte zu ihm und lehnte sich gegen ihn. „Deshalb bin ich doch hier – damit immer jemand aufpasst, dass nichts passiert. Und damit sich meine Eltern nicht mit mir beschäftigen müssen.“ „Nicht negativ denken“, sagte Adrien streng. „Weißt du, was mich wirklich aufmuntern würde?“, fragte Jamie. Adrien bemerkte, wie der Jüngere wehmütig zur geöffneten Tür sah. „Was denn?“, wollte er wissen. „Du wirst mich hassen“, sagte Jamie leise und sah ihn ernst an. „Werde ich nicht.“ Adrien grinste schief. „Okay, vermutlich nicht.“ Jamie lachte leise. „Du weißt es vermutlich eh schon längst. Oder?“ „Ich weiß, dass das hier eigentlich nicht der richtige Moment für sowas ist“, erwiderte Adrien so leise, dass er glaubte, man könne es draußen nicht verstehen. „Aber hier gibt es keine richtigen Momente“, gab Jamie flüsternd zurück. Adrien lächelte leicht. „Oh. Stimmt.“ Er spürte, wie Jamies Hand nach seiner eigenen griff. Und noch bevor er die Augen geschlossen hatte, fühlte er schon scheue Lippen auf seiner Wange. Im Halbschlaf registrierte Adrien, wie Jamie nach seinem Arm griff und ihn sich um die Schulter legte. Er lächelte leicht und strich sanft über den Oberarm des Jüngeren. „Du bist nur deshalb hier, oder?“, murmelte er müde. „Hm“, machte Jamie und kuschelte sich an ihn. „Soll ich dich ins Bett bringen?“ Er schaltete den Fernseher aus und legte die Fernbedienung neben das Geschirr auf den Tisch. „Zu müde“, beschloss Adrien. „Dann leistest du mir heute auf der Couch Gesellschaft?“, fragte Jamie überrascht. „Das könnte eng werden.“ Er löste sich von Adrien und schob die Arme unter den Körper des Anderen. „Mal schauen, ob ich dich tragen kann. Bist ja immer noch federleicht.“ Adrien bekam nicht bewusst mit, wie er in sein Schlafzimmer getragen wurde. Aber irgendwann, als er blinzelte, lag Jamie neben ihm und sah ihn nachdenklich an. „Warum fragst du nicht einfach?“, wollte Adrien wissen und stupste den Jüngeren an. „Und warum sagst du mir nicht einfach, was ich wissen will?“ Jamie grinste leicht. Adrien atmete tief durch. „Okay“, sagte er und lachte leise. „Wir können es nochmal versuchen.“ „Hier bist du!“ Adrien seufzte erleichtert auf und setzte sich dann zu Jamie unter die Treppe. „Versteckst du dich vor Schwester Karen?“ „Woher weißt du das?“, fragte Jamie misstrauisch. Adrien hielt einen kleinen Becher mit Wasser und einen Tabletten-Blister hoch. „Verräter“, grummelte Jamie und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Jetzt nimm' sie schon.“ Adrien hielt ihm die Tablette hin. „Jedes deiner Ich-nehme-keine-Tabletten-mehr-Experimente hat bisher damit geendet, dass die dich tagelang ans Bett fesseln mussten.“ „Die Dinger unterdrücken meinen Charakter“, beschwerte sich Jamie. „Die Dinger sorgen dafür, dass du nicht ausrastest und auf irgendwelche Leute losgehst. Und jetzt nimm' die blöde Tablette endlich.“ Er drückte seinem Freund die Tablette in die Hand. „Du könntest behauptet, ich hätte sie genommen“, schlug Jamie vor. „Dir glauben sie bestimmt.“ „Und weißt du, warum sie mir glauben?“, fragte Adrien. „Weil ich vernünftig bin und so etwas nicht einfach so behaupten würde.“ Jamie verdrehte die Augen, löste die Tablette aus dem Blister und schluckte sie runter. Er nahm Adrien das Wasser ab und trank es aus. „Zufrieden?“, fragte er entnervt. Adrien nickte grinsend. „Ja. Und weißt du was? Ich habe die 50-Kilo-Marke geknackt...“ „Respekt“, murmelte Jamie unbeeindruckt. „Noch zwei Kilo und wir können über meine Entlassung reden, meinte Dr Allister“, erzählte Adrien. „Dann hör' auf, zu essen.“ „Ich hab' dich lieb“, flüsterte Jamie, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. „Dito“, gab Adrien leise zurück und streichelte über Jamies Wange. Es tat gut, den Jüngeren wieder bei sich zu haben. Es kam ihm fast vor, als seien keine Jahre vergangen. Alles war wieder wie früher. Sie verstanden sich fast ohne Worte, sie ergänzten sich gegenseitig... Schon seit über einer Woche wurde er jeden Tag nach der Arbeit mit selbst gekochtem Essen empfangen. Jamie kümmerte sich um den Haushalt, beschäftigte ihn und erleichterte ihm vieles. Und abgesehen davon war es einfach schön, morgens neben ihm aufzuwachen. Irgendwie gab ihm das ein Gefühl von Normalität – Genau das, was er früher in ihrer Beziehung vermisst hatte. Damals waren sie zwei kranke, kaputte Jugendliche gewesen, Und jetzt? Jetzt war alles so, wie es sein sollte. Es war die richtige Entscheidung gewesen, ihn bei sich zu behalten. „Magst du wirklich nicht mitkommen?“, fragte Jamie ein wenig enttäuscht. „Es gibt doch nichts Schöneres als Flohmärkte.“ „Ich muss das hier wirklich noch bearbeiten“, sagte Adrien und deutete auf die Dokumente, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. „Den Kram muss ich morgen abgeben. Das ist wichtig.“ Jamie seufzte. „Aber dafür unternimmst du morgen was mit mir“, bestimmte er. „Du kannst ja nicht immer hier im Haus rumsitzen und arbeiten.“ Er knuffte Adrien liebevoll und verschwand dann. Adrien sah ihm kopfschüttelnd hinterher. „Wir sollten vielleicht reden“, sagte Adrien leise und rutschte ein Stück von Jamie weg. Fragend sah der Jüngere zu ihm auf. „Worüber?“, fragte er und griff nach Adriens Hand. „Darüber, dass...“ Adrien zögerte. Dann zog er seine Hand weg und stand auf. Er setzte sich auf den Stuhl und sah zu Jamie, der noch immer in seinem Bett lag und ihn verwirrt ansah. „Wir sollten das hier beenden.“ Jamie runzelte die Stirn. „Was beenden?“ Natürlich wusste er, wovon Adrien sprach. „Ich werde morgen entlassen“, rechtfertigte sich Adrien. „Meine Koffer sind schon gepackt!“ „Und...?“ Jamie setzte sich auf und funkelte ihn böse an. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht zu meinem Vater zurückgehen werde“, sagte Adrien. „Ich ziehe zu meiner Mutter und die wohnt fünf Stunden von hier entfernt. Wie soll das mit uns beiden dann noch funktionieren? Ich könnte dich vielleicht zweimal im Jahr besuchen. Und es würde mich immer an die Probleme erinnern, die ich hatte.“ „Also war ich für dich nur eine Beschäftigung, damit dir während deiner Zeit hier nicht langweilig wird?“, meinte Jamie kühl. „Ist ja nett.“ „Du weißt genau, dass es nicht so ist.“ Adrien war versucht, aufzustehen und zu ihm zu gehen, aber er zwang sich, es nicht zu tun. Damit würde er ihnen beiden nur noch mehr wehtun. „Ich bin wirklich in dich verliebt. Und ich würde auch bei dir bleiben, wenn das nicht so... unmöglich wäre.“ Er spürte, wie Tränen in seine Augen stiegen, doch die wischte er mit dem Ärmel seines Pullover ab. „Wenn du irgendwann gesund bist und hier raus kommst... Aber so geht es einfach nicht.“ Adrien runzelte die Stirn und sah von seinem Papier auf. Hatte er draußen Geräusche gehört? So als habe jemand etwas gerufen. Er stand auf und ging zum Fenster, um dieses einen Spalt breit zu öffnen. Ein Scheppern. „Oh nein“, flüsterte er, als ihm eine böse Vorahnung kam. „Lass' es nicht Jamie sein... Bitte lass' es nicht Jamie sein.“ Er dachte gar nicht daran, dass er nur einen Schlafanzug trug, als er die Treppe runterlief und in Pantoffeln das Haus verließ. „Jamie!“, rief er, als er den brünetten Mann sah. Er kniete neben einer Gestalt, die am Boden lag. Sofort war Adrien bei ihm und zog ihn weg. Daniel sah ihn fassungslos an, während er sich wieder aufrichtete und seinen Ärmel gegen die blutende Nase presste. „Wer ist der Wahnsinnige?“, fragte er entsetzt. „Jamie, geh' ins Haus“, befahl Adrien und ging einen Schritt auf Daniel zu. „Was ist...?“ Er sah aus den Augenwinkeln, dass Jamie tatsächlich rückwärts in Richtung Haus stolperte. „Er ist einfach auf mich losgegangen“, erzählte Daniel fassungslos. „Ich bin aus dem Auto gestiegen und hatte schon eine Faust im Gesicht!“ Er ließ den Arm sinken und drehte sich zu seinem Auto um. „Oh Gott, sieh' dir das an! Was ist nur los mit dem Kerl?“ Dass die zerplatzte Windschutzscheibe seines Autos ihn mehr sorgte als seine Nase, deutete Adrien als gutes Zeichen. Offenbar war sein Nachbar nicht allzu schwer verletzt. Er drehte sich zum Haus, wo Jamie in der Tür stand und ihn unglücklich ansah. „Oh Gott“, sagte er leise. Offenbar hatte sich gar nichts geändert. „Machst du dir immer noch Gedanken wegen dieses Jungen?“, fragte seine Mutter besorgt und setzte sich zu ihm. „Hättest du nicht das Gefühl, ihn irgendwie verraten zu haben?“ Adrien wandte den Blick vom Wald ab und sah zu der Frau, mit der er schon seit Jahren nicht mehr so viel gesprochen hatte wie in den letzten beiden Wochen. „Er ist krank“, sagte sie. „Du kannst ihm nicht wirklich helfen. Das würde dich selbst nur wieder runterziehen.“ „Ja. Vermutlich.“ „Sie haben uns sehr geholfen“, sagte der Polizist. „Die suchen schon seit Wochen nach ihm.“ „Also wurde er gar nicht entlassen?“, fragte Adrien und sah dem Polizeiauto hinterher, das gerade um die Kurve fuhr. Jetzt war er weg. Und so schnell würde er wohl nicht wiederkommen. „Er hat an einem Projekt teilgenommen, so einer WG, die noch unter psychiatrischer Betreuung stand“, erzählte der Mann. „Die hatten da ziemlich viel Freiraum, mussten aber noch regelmäßig zu ihrem Doc. Und der Kerl da ist irgendwann einfach abgehauen. Hat auch seine Medikamente dagelassen. Wir können von Glück reden, dass Ihr Nachbar nur eine gebrochene Nase hat und nicht mehr.“ Adrien nickte leicht. „Ja, was für ein Glück“, murmelte er und senkte den Blick. „Was passiert jetzt mit Jamie?“ „Er kommt zurück in die Geschlossene“, erwiderte der Polizist. „Ich gehe davon aus, dass man ihn da nicht so bald wieder rauslässt. Seien Sie froh, dass er Ihnen nichts angetan hat. Gelegenheiten hatte er ja offenbar genug.“ Langsam kaute Adrien die Cornflakes in seinem Mund. Er ließ sich Zeit damit. Je sorgfältiger er sein Essen kaute, desto sicherer fühlte er sich damit. Es war so, als würde er seinem Körper Zeit geben, sich an die Nahrung zu gewöhnen, bevor er sie schluckte. Aber heute wollte sich sein Körper einfach nicht daran gewöhnen. Er griff nach einem Taschentuch, spuckte den Brei in seinem Mund hinein und warf es dann in den Mülleimer. Er saß noch lange da und sah zu, wie die Cornflakes in der Schüssel weicher wurden und sich Stück für Stück in der Milch auflösten. Nach einer Weile nahm der den Löffel zur Hand und zerdrückte Teile der Masse am Rand der Schüssel. Heute war kein guter Tag. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)