Die vier Phasen von JinShin ================================================================================ Kapitel 22: Entscheidungen -------------------------- Toshios Genesung schritt nur langsam voran. Die Wundheilung verlief zwar vollkommen regelgerecht, aber seit er begriffen hatte, was geschehen war und wo er sich befand, sprach er kein einziges Wort mehr und reagierte auf nichts, was man ihm sagte. Nur die Tatsache, dass er kurz nach seinem Aufwachen zwar verwirrt, aber durchaus normal ansprechbar gewesen war, ließ darauf schließen, dass keine hirnorganische Störung die Ursache dafür war. Darum verordnete ihm Raven weiterhin absolute Ruhe. Das bedeutete, dass außer ihm, Doktor Lancer, dem Pflegepersonal und den Physiotherapeuten nur Laurin zu ihm durfte. Pascal war damit alles andere als glücklich, aber Raven ließ sich durch nichts erweichen. „Du hast gesagt, ich soll alles tun, damit er wieder gesund wird“, erinnerte er ihn. „Ja, und jetzt wird er wieder gesund“, sagte Pascal. „Ich tue ihm doch nichts!“ „Du verstehst es anscheinend wirklich nicht. Schon deine Anwesenheit tut ihm etwas. Soll ich es dir beweisen, indem ich ihn ans EKG anschließe und dich dann zu ihm lasse?“ „Nein, schon gut, nicht nötig“, gab Pascal sich geschlagen. „Wahrscheinlich hast du recht.“ „Gib dem Jungen noch ein wenig Zeit, seine Niederlage zu verarbeiten“, erwiderte Raven versöhnlich. „Warte wenigstens, bis seine Wunden verheilt sind.“ Pascal stöhnte entnervt. Bis die Knochenbrüche und das verletzte Handgelenk kuriert waren, würden vier bis sechs Wochen ins Land gehen. „Ich finde sowieso, dass euch beiden eine Pause voneinander gut tut“, fuhr Raven ungerührt fort. „Du denkst ja an nichts anderes mehr. Wer hat da jetzt wen eingefangen?“ „Ach, hör schon auf. Oder findest du, meine Arbeit leidet darunter?“ „Naja … in den letzten Wochen ist schon einiges liegen geblieben. Und du hast mehrere gesellschaftliche Pflichtveranstaltungen sausen lassen. Dabei weißt du ja, wie wichtig es ist, die Kontakte zu pflegen ...“ „Du klingst schon wie mein Großvater!“ „Weil er und ich die einzigen sind, die dir unverblümt die Wahrheit sagen.“ „Und Toshio“, entgegnete Pascal wehmütig. „Er traut sich auch, mir zu widersprechen.“ Raven verdrehte die Augen. Egal, welches Thema sie anschnitten, innerhalb weniger Sätze schaffte es Pascal, wieder gedanklich zu seinem Sklaven zurückzukehren. Mehr als einmal war er dann kurz davor, sein eigenes dringliches Anliegen zur Sprache zu bringen: die Besitzverhältnisse von Laurin. Doch jedes Mal entschied er sich dagegen. Es schien ihm ratsamer zu warten, bis Pascal wieder bessere Laune hatte. Viel zu unausgeglichen war er in diesen Tagen, viel zu unvorhergesehen schwankte seine Stimmung, viel zu missmutig war er darüber, dass er nicht haben konnte, was er begehrte. Es war klüger zu warten, bis sich eine günstigere Gelegenheit ergab. Raven würde erkennen, wann es soweit war. Bis dahin musste er seine Pläne für sich behalten, denn er wusste nur zu gut, dass er Pascal mit seiner Zuneigung zu seinem Jungen eine Schwäche offenbarte. Und obwohl er den Monsieur nun schon seit fast zwanzig Jahren kannte und sich seiner Freundschaft sicher war, war ihm unwohl bei der Vorstellung, Pascal ein Druckmittel gegen sich in die Hand zu geben. Wohl niemand kannte Pascal so gut wie er, und darum wusste er auch, dass Pascal eine Schwäche ohne zu zögern gegen ihn einsetzen konnte, wenn es seinen Interessen dienlich war – gleichgültig, ob sie Freunde waren. Raven würde es ganz genauso machen. Doch dazu kam dann noch Pascals schier grenzenloser Sadismus. Es war wirklich besser, zu warten. Auch Laurin wartete. Er verbrachte weiterhin viele Stunden an Toshios Seite. Eigentlich hatte sich gar nicht so viel verändert, außer dass Toshio außer Lebensgefahr war. In seinem Gesicht waren noch deutlich die Reste der Blutergüsse zu sehen, die jedoch schon langsam zu verblassen begannen. Die Schwellungen waren inzwischen vollständig zurück gegangen, nur das Ohr war noch verbunden, und die verletzte Hand war mit einer Gipsschiene ruhig gestellt. Wie eine lebende Puppe saß er in seinem Krankenbett, ließ sich von den Pflegern füttern und von den Physiotherapeuten bewegen und verweigerte hartnäckig jede selbstständig ausgeführte Bewegung. Nicht einmal Blickkontakt nahm er auf, meist hielt er die Lider gesenkt, wenn jemand im Raum war, und er konnte stundenlang die graue Betonwand anstarren. Nichts von dem, was Laurin versuchte, schien zu ihm durchzudringen. Er sprach mit ihm, er hielt seine Hand, er behandelte Akupunkturpunkte, spielte ihm auf der Flöte vor, und nichts ließ ihn eine Reaktion ernten. Die Therapeuten stellten ihn auf die Füße, doch es war, als könnten Toshios Beine ihn nicht tragen, obwohl die Ärzte versicherten, dass es keine neurologischen Schäden gab. Langsam befürchtete Laurin, dass es zu spät für Toshio war. Er hatte das schon erlebt, wie Menschen ins Nichts gefallen waren. Manche kehrten aus diesem Zustand zurück, andere nicht. Doch alle brauchten sie Zeit, und er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihnen blieb. Wenn Monsieur Remarque beschloss, seinen Japaner nicht mehr haben zu wollen, kam Toshio womöglich in einen Versuch, in dem er verstümmelt oder gar getötet werden konnte. Oder er wurde verkauft und dann könnte Laurin ihn nicht mehr frei lassen. Wenn er ehrlich mit sich war, fühlte er so etwas wie Erleichterung bei diesen Gedanken. Ich wollte ja. Aber es hat nicht geklappt, leider … Und er schämte sich dafür. Zum Glück setzte sich Raven bei Monsieur genau dafür ein, dass er Toshio noch Zeit geben sollte. Raven sah also noch Hoffnung. Und Laurin ging davon aus, dass Raven sein ganzes Wissen und Können darauf verwendete, Toshio gesund zu machen – wenn auch aus gänzlich anderen Beweggründen als er. Wenn Raven ihn also nicht aufgab, sollte Laurin es wohl auch nicht tun. War das vielleicht nur wieder die Angst vor seinem wahnwitzigen Vorhaben, die sich nun, da sein Entschluss feststand, Toshios schlechten Zustand zum Anlass nahm, um die ganze Aktion doch wieder fallen zu lassen? Dabei hatte er sogar schon eine Idee, wie die Flucht gelingen könnte. Aber Toshio musste ihm dabei helfen. Ohne Toshio konnte es nicht funktionieren. Er konnte ihn ja nicht einfach im Bett aus dem Gebäude schieben und dann vor dem Labor stehen lassen! Laurin war innerlich so angespannt, dass er kaum essen und kaum schlafen konnte. Er hatte so große Angst, dass er es möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Er bildete sich ein, dass ihm jeder ansehen müsste, wie aufgeregt er war. Zumindest Raven musste es doch merken, sprach ihn aber nicht darauf an. Wie sollte er auch darauf kommen, dass sein so wohlerzogener Schützling eine Flucht plante? Trotz Laurins verbotenem Ausflug und ihrer Meinungsverschiedenheiten vertraute ihm Raven noch immer vorbehaltlos. Er bekam die Schlüsselkarte zu dem Krankenzimmer, damit er jeder Zeit auch ohne Raven zu Toshio konnte. Als er darum bat, Toshio in der Küche sein Lieblingsessen zubereiten zu lassen, wurde ihm ohne Zögern auch die Keycard für den Ausgang und der dazugehörige Zahlencode ausgehändigt, mit dem er die Krankenstation verlassen und den Aufzug benutzen konnte. Niemand, wirklich niemand traute Laurin eine Flucht zu. Genau das würde er zu seinem Vorteil nutzen. Wenn alles glatt ging, würde auch hinterher niemand darauf kommen, dass er Toshio geholfen hatte. Nur, wenn Toshio weiterhin so passiv blieb, würde es gar kein Hinterher geben. Er kam aus der Küche zurück, ein Tablett mit einem dick belegten Hamburgerbrötchen auf dem linken Arm balancierend. Irgendwann hatte Toshio mal erwähnt, dass er Hamburger mochte. Laurin kannte das nicht, hatte es sich aber gemerkt, weil er es erst lustig fand, ein Gericht nach Stadtbewohnern zu benennen. Es klang, als würde man Menschen essen. So lustig war es bei näherer Betrachtung also eigentlich doch nicht. Bevor er zu Toshio hineinging, öffnete er die Tür zum Nebenzimmer, die nicht abgeschlossen war. Von dort aus konnte man durch eine einseitig verspiegelte Glaswand in das Krankenzimmer schauen und über Lautsprecher alle im Zimmer geführten Gespräche mit anhören. Raven hatte zwar verfügt, dass Toshio absolute Ruhe haben sollte, deswegen war das große Fenster zum Flur mit einem dicken Vorhang zugezogen. Aber selbstverständlich konnten sie ihn auch nicht gänzlich sich selbst überlassen, und auch der Monsieur sollte eine Gelegenheit haben, sein Eigentum jederzeit betrachten zu können. Jetzt war der Überwachungsraum allerdings leer. Das war gut. Laurin wusste zwar, dass es noch eine Kamera gab, die zu einem Bildschirm im Pflegerzimmer sendete, aber dorthin wurde kein Ton übermittelt. Sie waren also vorerst ungestört. Das konnte sich zwar jederzeit ändern, ohne dass sie es bemerkten würden, und deswegen war Laurin sehr nervös, als er den Raum betrat. Das Kopfteil des Bettes war hochgestellt, sodass Toshio aufrecht saß. Er wandte Laurin nicht einmal den Blick zu. Dieser machte es wie immer und beachtete die Nichtbeachtung einfach nicht. „Hallo Toshio. Schau mal, was ich dir mitgebracht habe. Das magst du doch, oder?“ Und er stellte den Teller mit dem Hamburger auf den Beistelltisch und schob ihn Toshio direkt unter die Nase. „Essen musst du aber schon selber“, sagte er und wartete vergeblich auf eine Reaktion. Wäre ja auch sonderbar gewesen, wenn es so einfach ginge. Er griff nach Toshios unverletzter Hand und beugte sich zu ihm. „Toshio, bitte. Ich will dir jetzt wirklich helfen. Ich habe es dir versprochen, und ich halte mein Versprechen. Wenn du also noch fliehen willst, dann unterstütze ich dich dabei.“ Laurin leckte sich über die Lippen und warf einen beunruhigten Blick zu dem großen Spiegel. War der Raum dahinter noch leer? Sein Mund war plötzlich ganz trocken. Eindringlich sprach er weiter: „Es kann funktionieren, ich habe mir das genau überlegt. Aber wir müssen es hier machen, solange du noch auf der Krankenstation bist. Wenn der Monsieur dich wieder zu sich nach Hause holt, ist es zu spät. Von dort kann ich dich nicht raus bringen. Verstehst du, was ich sage? Du hast doch immer davon gesprochen, weg zu laufen. Jetzt kannst du es! Lass mich dir doch helfen!“ Es war sinnlos. Es war zu spät. Der Monsieur hatte es geschafft und ihn innerlich zerbrochen. Raven hatte recht: Das Leben war nicht gerecht und das Schicksal liebte die Ironie. Monatelang hatte Toshio ihn um Hilfe gebeten, und jetzt, wo er bereit war, sie ihm zu geben, wollte oder konnte er nicht mehr. Es war so unfair! Er gab sich diesem Moment der Hilflosigkeit, der Nutzlosigkeit, der verpassten Chance hin, legte den Kopf auf das Bett neben Toshios Hand und verfiel in tiefe Niedergeschlagenheit. Gleich würde er sich wieder zusammenraufen, gleich konnte er versuchen, wieder stark und mutig zu wirken, gleich, gleich… Doch da spürte er, wie Toshios Hand sich regte, unbeholfen an seinem Haar zupfte. Laurin wagte kaum zu atmen. „Du kannst mir helfen“, flüsterte Toshio heiser. Er hatte so lange nicht gesprochen, dass er sich ein paar mal räuspern musste, bevor er weiter reden konnte. „Ich brauche mehr Medikamente. Ich habe Schmerzen.“ „Toshio ...“ Laurin setzte sich auf und drückte seine Hand. „Natürlich bekommst du mehr Schmerzmittel. Was tut dir denn weh?“ „Mein Kopf. Der Rücken. Alles. Aber ich will nicht mehr diese Tropfen. Die schmecken eklig. Ich will Tabletten. Kannst du das für mich tun?“ „Ja. Natürlich. Alles, was du willst. Du musst es nur sagen.“ Doch Toshio hatte sich schon wieder verschlossen und den Blick abgewandt. Dennoch fühlte Laurin eine Welle der Euphorie in sich aufsteigen. Auch wenn Toshio nicht viel gesagt hatte, ein Anfang war immerhin gemacht. „Ich hole dir sofort etwas. Ich bin gleich wieder da.“ Er rannte fast den Gang entlang zum Zimmer des Pflegepersonals. Doch dort teilte man seine Begeisterung nicht. „Neue Medikamente? Das geht nicht einfach so. Das muss mit den Ärzten abgesprochen werden.“ „Aber er soll doch alles bekommen, damit es ihm besser geht“, widersprach Laurin. „Ja. Trotzdem entscheiden das die Ärzte.“ Laurins Blick huschte zur Uhr. „Aber Doktor Connor ist jetzt in einer Besprechung.“ „Doktor Lancer ist da“, kam ihm eine junge Pflegerin zu Hilfe. „Sie ist in ihrem Büro.“ „Danke. Dann frage ich sie.“ Das Büro der Ärztin war nur wenige Türen weiter. Laurin klopfte an und wartete auf das „Herein“, bevor er eintrat. Doktor Lancer saß an ihrem Schreibtisch und blickte ihn über den Rand ihrer Lesebrille an. Laurin mochte sie, zu ihm war sie immer nett, und auch zu den anderen Sklaven war sie nie unnötig grausam. Etwas kaltherzig schon, aber das kam wohl automatisch im Laufe der Jahre, dann wurden aus Versuchsmenschen unweigerlich Versuchsobjekte. Sie war eine begeisterte Forscherin, und etliche Erfolge in der Reduktion unerwünschter Nebenwirkungen von althergebrachten Medikamenten gingen auf ihr Konto. Laurin war überzeugt, dass sie fest an die Wichtigkeit und Richtigkeit ihrer Tätigkeit glaubte. „Laurin! Ist etwas mit unserem Patienten?“ „Nein. Also, ja, doch. Toshio sagt, er hat Schmerzen, und er mag aber die Tropfen nicht, die er im Moment bekommt. Kann er nicht statt dessen Tabletten nehmen?“ „Tabletten?“ Sie runzelte die Stirn. „Das muss ich vorher mit Monsieur Remarque absprechen.“ Dann erst wurde ihr bewusst, was er noch gesagt hatte. „Er hat mit dir geredet? Wie hast du das denn geschafft?“ Laurin schluckte und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. „Ich habe ihm nur gesagt, dass ich ihm helfen möchte“, antwortete er leise und hatte das unangenehme Gefühl, als müsse sie ihm seine Fluchtpläne im Gesicht ablesen können. Stattdessen wuschelte sie ihm durch die Haare. „Unser kleiner Laurin. Du bist wirklich ein Goldstück. Was würden wir hier nur ohne dich machen.“ Es störte ihn, wie ein kleines Kind behandelt zu werden, aber er zwang sich zu einem Lächeln. Es war gut, der „kleine Laurin“ zu sein, dem niemand Sabotage zutraute. „Ich möchte nur helfen“, entgegnete er wahrheitsgemäß. „Toshio ist mein Freund.“ „Es ist gut, einen Freund wie dich zu haben“, sagte die Ärztin und lächelte. Oh ja. Und damit Toshio das auch so sehen konnte, war es wichtig, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. „Monsieur Remarque hat Doktor Connor die Versorgung übertragen. Und Sie vertreten doch Doktor Connor, wenn er nicht hier ist. Toshio soll bestimmt keine unnötigen Schmerzen leiden.“ „Nein, das soll er nicht. Aber das kann ich wirklich nicht entscheiden. Monsieur Remarque und Doktor Connor kann ich jetzt nicht stören. Einmal noch wird Toshio wohl verkraften, das Tramal zu nehmen. Ich kann ihm auch ein Schmerzmittel injizieren, wenn ihm das lieber ist.“ „Nein, nein“, sagte Laurin schnell. „Das ist ihm bestimmt nicht lieber.“ „Na gut. Dann sag den Pflegern Bescheid, dass er weitere fünfzehn Tropfen bekommen darf.“ „Danke, Doktor Lancer.“ „Dafür nicht, mein Kleiner.“ Frustriert schloss Laurin die Tür hinter sich und blieb unschlüssig auf dem Gang stehen. Er blickte zum Pflegerraum und überlegte, ob sie ihm auch glauben würden, wenn er behauptete, die Ärztin hätte die Tablettengabe erlaubt. Doch das traute er sich dann doch nicht. Er hatte auch keine Ahnung, welches Medikament und welche Dosierung er nennen sollte. Mit Mühe rang er seine Enttäuschung nieder. Er hatte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, einen scheinbar so einfachen Wunsch zu erfüllen. Und wenn er schon bei einer solchen Kleinigkeit scheiterte, wie sollte er dann erst das große und nahezu unmögliche Vorhaben meistern, das vor ihm lag? Wie sollte er Toshio dazu bringen, wieder Hoffnung zu schöpfen, wenn er selbst so schnell aufgab? Seine Füße schienen zu wissen, was zu tun war und setzten sich in Bewegung, lange bevor sein Kopf wirklich entschieden hatte. Wie in Trance legte er den Weg zum Ärztezimmer zurück, wo die Besprechung aller forschender Mediziner gerade stattfand und wo er die beiden einzigen Menschen finden würde, die entscheiden konnten, ob Toshio seine Tabletten bekommen durfte. Er machte einen weiteren Deal: Wenn ich mich traue, die Herren zu stören, dann wird Toshio es schaffen, sich aus seiner geistigen Starre zu lösen. Er hatte schon einmal seine Angst überwunden, damit Toshio leben konnte. Angst gegen Leben. Es würde wieder funktionieren, er spürte es. Dennoch schlug ihm das Herz bis zum Hals, und er nahm kaum wahr, welchen Menschen er unterwegs begegnete. Seine Handfläche war feucht, als er die Finger um die Klinke schloss. Er atmete noch einmal tief durch. Dann öffnete er die Tür. Und hatte völlig vergessen, anzuklopfen. Darum bemerkte ihn zunächst auch niemand. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Monsieur, der am anderen Ende des Raumes saß. Nur die fünf leitenden Mediziner saßen um das schmale Oval des Konferenztisches, jeder einen Notizblock und eine Tasse vor sich, und der aromatische Duft von Kaffee würzte die Luft. Die der Tür gegenüber liegende Wand war mit einer Fototapete beklebt, die das Fenster ersetzte. Sie zeigte das grüne Bild eines sommerlichen Gartens. In den zwei Ecken links und rechts davon standen große Töpfe mit Hydrokulturen mit jeweils einer Tageslichtlampe darüber. „... vorerst nicht kommerzialisieren lassen“, sagte der Monsieur gerade. „Trotzdem möchte ich, gerade weil sich solche Spontanremissionen so schlecht wissenschaftlich erforschen lassen, dass unser Konzern auch auf diesem Gebiet weltweit marktführend wird. Wir werden alle Publikationen zum Thema zusammentragen, des weiteren werden wir in naher Zukunft eine eigene Versuchsreihe dazu beginnen ...“ Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und blieb an Laurin haften. „... oder vielmehr fortsetzen. Seit zehn Jahren arbeitet Dr. Connor daran, ein geeignetes -“ Er stockte mitten im Satz und sah plötzlich aus, als würde er einen Geist sehen. Er blinzelte ein paar Mal. „Laurin? Was machst du denn hier?“ Alle Blicke wandten sich nun Laurin zu, dem sofort das Blut ins Gesicht schoss. „Ich … äh … Verzeihung, Monsieur“, stammelte er los. „Ist etwas mit Toshio?“ fragte der Monsieur alarmiert. „Nein … also, doch, ja ...“ „Ich kümmere mich darum“, sagte Raven. „Sie entschuldigen mich, meine Herren.“ Mit raumgreifenden Schritten kam er um den Tisch herum und führte Laurin hinaus. Sein Griff war so fest, dass es schmerzte. „Was fällt dir eigentlich ein“, herrschte er Laurin an, sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war. „Unsere Besprechungen sind absolut tabu für dich!“ „Ich weiß“, entgegnete Laurin kleinlaut. Er bemerkte, wie ungewöhnlich blass Raven aussah. Auf seiner Stirn glänzten sogar kleine Schweißperlen. Laurin war nicht bewusst gewesen, dass es so schlimm sein würde, die Sitzung zu stören. Hatte er Raven etwa damit in Schwierigkeiten gebracht? Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie er dann erst aussehen würde, wenn herauskam, dass Laurin Toshio zur Flucht verholfen hatte. Schon bei dem Gedanken daran, bekam er weiche Knie. Er zwang sich zur Ruhe. Noch war es nicht soweit, und es war ja auch noch völlig unklar, ob es überhaupt zu einer Flucht kommen würde. „Also?“ Raven schüttelte ihn. „Was war nun so wichtig, dass du uns stören musstest?“ „Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Toshio hat endlich mit mir gesprochen. Und er hat mich um etwas gebeten. Raven, bitte, du tust mir weh.“ Augenblicklich ließ Raven ihn los. „Um was hat er dich gebeten?“ „Er sagt, er hat Schmerzen. Die Brüche tun ihm wohl noch weh. Er möchte ein anderes Schmerzmittel, weil ihm die Tropfen nicht schmecken. Doktor Lancer wollte das nicht entscheiden, aber ich habe ihm doch versprochen, ihm zu helfen … und es soll ihm doch gut gehen hier, oder? Damit er sich erholen kann? Bitte, kannst du mir nicht schnell eine Schmerztablette für ihn geben?“ Raven nahm seine Brille ab und fuhr sich mit den Fingern über den Nasenrücken. Dann wischte er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und sagte zu Laurins Erleichterung: „Na gut. Aber ich mache das selber.“ Er setzte sich die Brille wieder auf und sah endlich nicht mehr ganz so angespannt aus. „Das hast du gut gemacht, Laurin. Dass Toshio wieder mit dir redet, ist ein gutes Zeichen. Ich weiß nicht, ob wir das ohne dich geschafft hätten. Ich werde Monsieur Remarque daran erinnern, wie dankbar er dir sein kann, dass du für Toshio da bist.“ Besser nicht, dachte Laurin. Aber er freute sich über das Lob, auch wenn er nicht das Gefühl hatte, es verdient zu haben. Und kurz darauf verstand er dann auch, warum sich alle mit den Tabletten so angestellt hatten. Erst fand er es ja noch total übertrieben, dass Raven nicht nur daneben stand, als Toshio die Tablette schlucken sollte, sondern sich danach auch noch seinen Mund genauestens ansehen wollte. Und tatsächlich hatte Toshio sie nicht geschluckt, sondern versucht, sie unter der Zunge zu verstecken. Zunächst war es Laurin schleierhaft, warum er das getan hatte, nachdem er doch so unbedingt eine Schmerztablette hatte haben wollen. Doch Raven war stinksauer. „Hab ich es mir doch gedacht, dass du uns zum Narren halten willst. Dabei sollte dir inzwischen wirklich klar sein, dass wir alle Tricks hier schon kennen. Na los, spuck sie wieder aus!“ Er hielt ihm die geöffnete Hand unter den Mund, und Toshio gehorchte widerwillig. „Und glaub ja nicht, dass es einen zweiten Versuch geben wird. Das nächste Mal kannst du ein Zäpfchen haben, wenn dir die Tropfen nicht schmecken, vielleicht schmeckt dir das besser.“ Toshio presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg. Laurin lief hinter Raven her und holte ihn auf dem Gang ein. „Was war das denn?“ wollte er wissen und war so aufgewühlt, dass ihm sein ungehöriges Benehmen gar nicht auffiel. „Ist das deine Vorstellung von „schonender Behandlung“? Ich sitze wochenlang an seinem Bett, damit er wieder anfängt zu sprechen, und du machst alles in einer halben Minute zunichte!“ „Laurin, hör mir zu.“ Raven senkte die Stimme, was ihr aber nichts von ihrer Eindringlichkeit nahm. „Pass gut auf, vor welchen Karren du dich spannen lässt. Mit so einer Aktion wie gerade eben kannst du dir jede Menge Ärger einhandeln. Von Toshio erwarten wir im Moment nichts anderes, aber wenn du ihm dabei hilfst, sich zu töten, wird der Monsieur nicht erfreut darüber sein. Gar nicht erfreut. Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst ihn nicht verärgern.“ Laurin schluckte trocken. Er begann jetzt erst zu begreifen, was Toshio anscheinend im Sinn gehabt hatte: Tabletten bunkern für eine Überdosis. „Das wollte ich nicht“, sagte er wahrheitsgemäß. „Das habe ich nicht gewusst.“ „Ich weiß.“ Raven legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. „Darum sage ich es dir ja. Und jetzt geh wieder rein zu ihm. Er braucht dich.“ „Ja, Raven. Danke.“ Wenn doch nur Toshio auch endlich einsehen würde, dass er Laurin brauchte! Als Laurin zurück kam, hielt er den Blick noch immer abgewandt und hatte anscheinend beschlossen, ihn wieder wie bisher zu ignorieren. Merkwürdigerweise machte Laurin das jetzt wütend. Behutsam schloss er die Tür. „Stimmt das?“ stellte er ihn dann zur Rede und ignorierte es wie üblich, ignoriert zu werden. „Hat Raven recht damit, dass du Tabletten sammeln wolltest? Um dich damit zu vergiften? So funktioniert das aber nicht. So einfach werden sie dich nicht gehen lassen. Und ich Idiot renne auch noch los und hole Raven aus der Konferenz! Weißt du eigentlich, wie ich vor dem Monsieur dastehe, wenn du durch meine Hilfe stirbst? Du bist nicht allein auf der Welt, Toshio, und es müssen andere die Konsequenzen deines Handelns mit tragen! Glaubst du, Ivan wurde nicht bestraft, als du unter seiner Obhut auf dem Laufband gestürzt bist?“ Toshios Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze aus Schmerz. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. „Er hat ihn ausgepeitscht. Natürlich weiß ich das. Hältst du mich für blöd? Aber ich will das alles doch nicht … Ich habe das nicht gewollt.“ Seine Hände krallten sich in die Bettdecke. „Ich habe mir das doch nicht ausgesucht!“ „Was du nicht sagst.“ Laurin musste mit Gewalt sein aufkeimendes Mitleid beiseite schieben. Immerhin hatte er Toshio mit seinen Worten erreicht, und er hatte das sichere Gefühl, dass Mitleid ihn jetzt nicht weiter bringen würde. „Nur ändert das leider überhaupt nichts. Kein einziger hier hat sich das ausgesucht, Sklave zu sein! Ivan hat sich nicht ausgesucht, Haussklave bei Monsieur zu sein, Florence auch nicht, und ich hab mir auch nicht ausgesucht, dass meinen Eltern eine Metallschraube in den Kopf gebohrt wird und ich ...“ Seine Stimme brach, und er musste inne halten. „Laurin ...“ Toshio streckte den Arm nach ihm aus. „Nein, lass mich! Ich sag dir jetzt was, Toshio: Ich werde dir helfen, ob du willst oder nicht. Du hast mich so oft um Hilfe gebeten, und jetzt bin ich bereit dazu. Und es ist mir egal, ob du mitmachst oder nicht. Und wenn ich dich in diesem Bett nach draußen schieben muss, ich werde es tun! Aber wenn du nicht mitmachst, werden sie uns erwischen, und die Strafe für Flucht ist fürchterlich. Mir ist das egal, hörst du?! Entweder du kommst endlich wieder auf die Füße, damit du frei sein kannst, oder wir werden eben beide untergehen. Ich meine es ernst. Du hast die Wahl. Und jetzt werde ich nachsehen, ob uns jemand hinter der Spiegelglasscheibe zugehört hat. Dann können wir`s nämlich gleich vergessen.“ Der Überwachungsraum war zum Glück noch immer leer. „Warum bist du plötzlich so versessen darauf, mir zu helfen?“ fragte Toshio, als er zurück kam. „Du warst es doch, der mir bestimmt hundert Mal gesagt hat, dass Weglaufen zu gefährlich ist. Wieso hast du deine Meinung geändert?“ „Ich habe viel nachgedacht. Ich sehe die Dinge jetzt anders. Und mir ist klar geworden, dass du dich nie mit deinem Schicksal abfinden wirst ...“ „Ich war gerade dabei, das zu tun.“ „Indem du apathisch im Bett liegst und Tabletten sammelst?“ Toshio schwieg. „Also, mir ist klar geworden, dass es keinen anderen Ausweg gibt“, sprach Laurin weiter. Er musste auch sich selbst immer wieder neu überzeugen. „Auch für mich nicht. Es ist nicht richtig, wenn man sein Leben von der Angst bestimmen lässt. Das habe ich von dir gelernt. Und egal, was du tust, egal, wie du dich verhältst, der Monsieur wird dich nie wieder frei lassen. Ich wollte dir das nie sagen, aber ich glaube, dich erwartet in jedem Fall ein schlimmes Ende. Du hast also wahrscheinlich gar nicht viel zu verlieren.“ Das nahm Toshio sehr gefasst auf. Er war anscheinend schon selbst zu dieser Schlussfolgerung gelangt. „Aber was ist mit dir?“ fragte er. „Ich? Ich werde den Rest meines Lebens in dieser Welt verbringen, Toshio. Für mich und für all die anderen hier gibt es kein anderes Schicksal. Wir haben kein Leben dort draußen, wo du herkommst. Wenn alles gut geht, wird mir gar nichts passieren. Aber ich muss es versuchen! Ich will wenigstens einem geholfen haben! Wie sonst soll ich mich weiterhin im Spiegel anschauen? Manchmal muss man sich für eine Seite entscheiden. Ich habe mich entschieden.“ „Wie kannst du dir plötzlich so sicher sein?“ Laurin war gar nicht so sicher, aber das durfte er sich natürlich nicht anmerken lassen. „Du warst es sogar, der mir die endgültige Bestätigung geliefert hat“, sagte er. „Als du sagtest: „Wo ist der Ausgang?“ “ Toshio sah ihn nur fragend an. „Na, das war das erste, was du gesagt hast, als du aus dem Koma aufgewacht bist.“ „Aber Laurin … Das hatte damit gar nichts zu tun. Ich dachte noch, ich irre durch ein Labyrinth aus Maispflanzen, ich habe gar nicht kapiert, wo ich in dem Moment bin. Das hatte mit der Realität überhaupt nichts zu tun!“ „Doch. Es ist alles miteinander verbunden. Es war ein Zeichen. Klar gibt es immer eine rationale Erklärung. Aber auf einer höheren Ebene habe solche Zufälle eine Bedeutung.“ „Du kannst doch nicht wegen eines solchen Zufalls dein Leben riskieren, Laurin!“ „Hörst du mir überhaupt zu?“ Sie schwiegen eine ganze Weile. Nur ihre leisen Atemzüge waren zu hören und das Ticken der Uhr an der Wand. „Dann sag mir, was ich tun soll“, sagte Toshio schließlich. „Zuerst musst du zu Kräften kommen. Arbeite mit den Physiotherapeuten zusammen. Mach deine Übungen. Und fang wieder an, vernünftig zu essen!“ Er schob ihm den noch immer unangetasteten Hamburger zu. Inzwischen war er sicher kalt geworden. Trotzdem begann Toshio ohne Widerspruch zu essen. Laurin hätte jubeln können vor Freude. Und sich in die Hose machen vor Angst. Es würde also tatsächlich los gehen. Nachdem Toshio nun aktiv an seiner Gesundung mitarbeitete, machte er rasch Fortschritte. Er war hartes körperliches Training von Kindheit an gewohnt, und so reagierte sein Körper dankbar auf die Bewegungsübungen. Schon bald konnte er ohne Hilfsmittel den Gang entlang und ein paar Treppen auf und ab laufen. Seine Verletzungen schmerzten ihn noch immer, aber er bekam Schmerzmittel, so viel er wollte – nur eben keine Tabletten mehr. Schwieriger war es für ihn, genügend zu essen, denn sein Appetit wollte sich nicht wieder einstellen, obwohl Doktor Connor dafür sorgte, ihm seine Lieblingsspeisen vorzusetzen. Tapfer würgte er in kleinen Portionen seine Mahlzeiten herunter, jeden Bissen einzig Laurin zuliebe. Er durfte Saft und Malzbier trinken, soviel er wollte, aber richtiges Bier oder wenigstens eine Cola wäre ihm lieber gewesen. Er dachte an das Kochevent mit Myro in Tokyo zurück, an den Rum in der Cola und an den Spaß, den sie in diesem Moment gehabt hatten. Er fragte sich, ob er sich an einen Herrn wie Ricardo, einen Herrn, der weniger grausam als Pascal war, irgendwann hätte gewöhnen können. Er wusste es nicht. Pascals Gegenwart blieb ihm weiterhin erspart, aber das Wissen, dass er ihn hinter der Spiegelscheibe jederzeit unbemerkt beobachten konnte, war sehr unangenehm und schlich sich sogar in seine Träume. Einmal träumte er, sein Spiegelbild zu betrachten, das sich dann in Pascals Gesicht verwandelte. Er griff aus dem Spiegel heraus nach ihm, griff nach seinem Hals und drückte ihm die Kehle zu. Keuchend erwachte er und warf die Bettdecke von sich, deren Gewicht ihn zu ersticken drohte. Doktor Lancer musste ihm in dieser Nacht ein Beruhigungsmittel verabreichen, damit er wieder ruhig atmen konnte. Oft lag er nachts stundenlang wach, und verfiel wieder in sein stumpfes An-dieWand-starren. Nichts denken, nichts fühlen. Das war angenehmer, als sich mit der Wirklichkeit zu befassen. Aber eine Lösung war das natürlich nicht. Aber gab es überhaupt eine Lösung? Selbst wenn er nichts tat, würde er nicht ewig auf der Krankenstation bleiben können. Ihm war schon klar, dass er gerade nur wieder „spielfähig“ gemacht wurde. Was anderes kannte er von Doktor Connor ja nicht. So oft schon hatte er das mit ihm gemacht, auf den Playpartys, und ganz am Anfang. Er brauchte sich keine Hoffnung darauf machen, dass Pascal ihn nun nicht mehr haben wollte und wieder gehen ließ. Er hatte alles riskiert und mit dem Leben abgeschlossen, aber alles, was er gewonnen hatte, war ein wenig Zeit, eine kleine Pause von seinem Herrn. Und wenn er zurück musste, würde alles noch schlimmer sein. Er wusste genau, dass er für sein Vergehen noch nicht bestraft worden war. Pascal war lediglich völlig ausgetickt, hatte aber noch genau rechtzeitig aufgehört, um Toshios Todeswunsch nicht zu erfüllen. Also lebte er, und in Zukunft würde seine Lage noch miserabler sein, als sie sowieso schon war. Er hatte wieder einmal versagt. Er würde vermutlich nie wieder die Gelegenheit erhalten, Pascal in irgendeiner Form zu schaden, und sich selbst auch nicht. Zusätzlich würde er fürchterlich bestraft werden. Vielleicht konnte er die Bestrafung nicht überleben, aber vorher würde Pascal dafür sorgen, dass er bereute, sich jemals das Sterben gewünscht zu haben. Flucht war noch immer die einzige Alternative, aber Toshio war nicht sicher, was er von Laurins unerwartetem Hilfsbereitschaft halten sollte. War das eine Falle? War Laurin deswegen so nervös? Oder, wenn es ihm wirklich ernst war, hatte er überhaupt einen funktionsfähigen Plan? Warum weigerte er sich so vehement, mit ihm über die bevorstehende Flucht zu sprechen? Wieder musste er an Myro denken und an die Fluchtpläne, die er so rührend aufgezählt hatte, und die allesamt undurchführbar gewesen waren. Und durfte Toshio Laurin überhaupt so in Gefahr bringen? Laurin hatte vollkommen recht damit, dass sein Verhalten Auswirkungen auf Dritte hatte, dass wusste Toshio nur allzu gut. Wenn er an Florence dachte, wurde ihm noch immer ganz flau im Magen. Wenn ihm jemand noch vor einem Jahr erzählt hätte, dass er einmal eine Frau vergewaltigen würde, wäre ihm das unmöglich erschienen. Er wusste, dass Pascal dafür verantwortlich war, und trotzdem fühlte er sich schuldig. Und es würde wieder dazu kommen, das war das Schlimmste daran. So lange, bis sie schwanger war, wenn das Pascals Wusch war. Solange würde er dann wohl noch am Leben bleiben. Vielleicht war das mit dem Kind aber auch nur ein makaberer Scherz von Pascal gewesen und nur der Auftakt für die darauf folgende Session. Er traute Pascal allerdings inzwischen alles zu. Wenn er daran dachte, was mit ihm in den letzten Monaten geschehen war, wollte er immer noch am liebsten Tod sein. Aber wenn Laurin ihm dabei half und erwischt würde, wäre er in genau denselben Schwierigkeiten, wie wenn er Toshio half, fortzulaufen. Möglicherweise sogar in noch größeren Schwierigkeiten, denn bei einer Flucht konnte Toshio immerhin auch wieder eingefangen werden, während der Tod unwiederbringlich war. Davon abgesehen, dass Laurin ihm beim Freitod eh nicht helfen würde. Also weiter kämpfen , sagte er sich. Wenn du dieser Hölle entkommen willst, darfst du nicht aufgeben. Und doch fehlte ihm sein alter Kampfgeist. Er fühlte sich einfach nur müde. Wenn er an Pascal dachte, war da kein glühender Hass mehr, der ihn anfeuerte. Da war nur noch Furcht, und die lähmte ihn. „Ist mein Herr noch sehr wütend auf mich?“ fragte er Doktor Connor, als sie einmal alleine waren. „Was glaubst du denn?“ antwortete der mit einer Gegenfrage, ohne den Blick aus seiner Krankenakte zu heben. „Ich glaube, dass er mich töten will“, sagte Toshio. „Wenn er das wollte, wärst du jetzt nicht hier“, entgegnete der Arzt unbeteiligt. „Er will es langsam machen, er will es genießen, und ...“ Die Stimme versagte ihm. „Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen. Bevor du so töricht warst, ihn ersticken zu wollen. Mach mal eine Faust.“ „Hätte das denn daran was geändert?“ Darauf antwortete der Doktor nicht. „Wie gut kannst du das Handgelenk bewegen?“ Missbilligend runzelte er die Stirn, als er das Ergebnis sah. „Besser geht das noch nicht? Was machen denn die Physios die ganze Zeit mit dir?“ „Die machen jede Menge“, beeilte sich Toshio zu versichern. Er hatte zwar zu den beiden Physiotherapeuten, die jeden Tag ihre Behandlungen mit ihm machten, keine Freundschaft geschlossen, aber er wollte auch nicht, dass sie seinetwegen bestraft würden. „Aber ich fand andere Sachen wichtiger als das Handgelenk.“ Kraft und Ausdauer erschienen ihm für eine bevorstehende Flucht hilfreicher als frei bewegliche Hände. „Außerdem tut mir das an der Hand noch zu weh.“ „Das wird deinem Monsieur aber nicht gefallen“, sagte Connor. „Ihm sind deine Handbewegungen wichtig.“ „Das hätte er sich vielleicht vorher überlegen sollen“, entgegnete Toshio trotzig. „Bevor er mir die Hand halb abreißt.“ Der Arzt klappte die Krankenakte zu und blickte ihn nachdenklich an. „Du kannst es anscheinend wirklich nicht lassen, was? Und ich kann nicht einmal sagen, ob das gut oder schlecht für dich ist.“ Sein Tonfall ermutigte Toshio zu einer Frage und ließ gleichzeitig seinen Trotz wieder in sich zusammen fallen: „Wann muss ich denn zurück?“ „Lange werde ich dich wohl nicht mehr von ihm fern halten können“, antwortete Connor. Ich verordne dir noch weitere Therapie, aber es kann gut sein, dass dein Herr einfach einen der Physios mit nach Hause nimmt. Eigentlich gibt es keinen medizinischen Grund mehr, dich hier zu behalten. Stell dich also darauf ein, demnächst zurück zu kommen.“ Nun hatte er also die Gewissheit, dass seine Schonzeit bald vorbei sein würde. Er konnte alles mögliche gegen den feinen Doktor hervor bringen, aber angelogen hatte Connor ihn noch nie. Schon bald wäre er wieder in Pascals Haus, endlose Stunden in seinem kleinen Käfig, endlose Momente in Ketten, endlose Demütigungen, Schändungen, Misshandlungen. Ganz zu schweigen von der Strafe, die ihn noch erwartete für seinen Angriff auf Pascal. Was kam da wohl auf ihn zu? Bestimmt irgendetwas mit Atemkontrolle, schließlich hatte er versucht, Pascal zu ersticken. Er hasste das! Diese Atemkontroll-„Spiele“ machten ihm fast noch mehr Angst als alles, was Schmerzen bereitete. Er wollte ja sterben, aber soweit ließ es Pascal dabei natürlich nicht kommen. Und trotz der Todessehnsucht, wehrte sich sein Körper gegen das Ersticken und versetzte ihn in Panik. Es war ein grauenvolles Gefühl. Bestimmt würde er sich schon bald wünschen, nie geboren worden zu sein. Fort, fort, nur fort drängte es ihn erneut mit aller Macht, egal wie, egal wohin. Aber mit Laurin? Erneut packten ihn Zweifel, ob Laurin tatsächlich einen erfolgversprechenden Plan hatte oder ob er sie nur beide ins Unglück stürzen würde. Oder war das eine Falle, ein neues grausiges Spiel, das sich Pascal ausgedacht hatte, diesmal mit Laurin statt mit Florence? Doch den Gedanken verwarf Toshio gleich wieder. Wozu sollte so ein Fluchtszenario dienen, wo ihn doch schon eine Strafsession erwartete? Vielleicht, um ihn mürbe zu machen, indem ihm die Freiheit gegeben und gleich wieder genommen wurde? Nein, das war Quatsch. Er war schon mürbe. Mürber ging es nicht. Nicht umsonst hatte Doktor Connor ihn so lange auf der Krankenstation behalten. Von Pascal fern gehalten , so hatte er sich ausgedrückt. Als er das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass Connor noch nie verlangt hatte, ihn mit „Herr“ anzureden. Das machte ihn nicht gleich sympathischer, aber Toshio begann zu begreifen, dass Laurin es als Connors Schützling womöglich gar nicht so schlecht getroffen hatte. Durfte er das wirklich aufs Spiel setzen? Die Antwort war enttäuschend einfach: Nein. Laurin lebte bei seinem Raven in relativer Sicherheit. Das durfte er ihm nicht nehmen, nicht, wenn es nur um seinen eigenen Vorteil ging. Laurin hatte, wenn er ihm half, alles zu verlieren und nichts zu gewinnen. Nein, war die Antwort. Sobald er zu dieser Erkenntnis gelangt war, kamen seine Gedanken wieder zur Ruhe. Die Angst vor Pascal hatte sich als fester Knoten in seinen Eingeweiden eingenistet, aber er begann sich daran zu gewöhnen. Auch mit diesem Knoten konnte er sich in seine geistig emotionale Starre zurückfallen lassen, die es ihm ermöglichte stundenlang die graue Wand anzustarren. Doch Nichtstun hat den Lauf der Welt noch nie aufgehalten. Während Toshhio sich wie betäubt fühlte, wurde Laurin von flirrender Unruhe beinahe innerlich zerrissen. Er war unkonzentriert, hörte nicht richtig zu, wenn man zu ihm sprach, und ständig fiel ihm etwas aus der Hand oder er stieß irgendwo gegen. Er sah richtig krank aus, blass und mit dunklen Ringen unter den Augen. Fiel das niemandem auf? Toshio ignorierte es jedenfalls, bis kurze Zeit nach seinem Gespräch mit Connor ein wie Espenlaub zitternder Laurin vor seinem Bett stand. „Was ist los?“ Er wollte das Naheliegende nicht wahrhaben. „Komm“, sagte Laurin. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen. „Was hast du denn?“ Toshio begriff noch immer nicht. „Komm einfach!“ herrschte Laurin ihn in höchster Nervosität an, und Toshio gehorchte. Erst als ihm Laurin auf dem Flur zu wisperte: „Heute lasse ich dich frei.“, begann sein Gehirn wieder zu funktionieren. „Nein.“ „Was?“ Jetzt war es Laurin, der nicht verstand. „Nein habe ich gesagt. Ich komme nicht mit. Ich bleibe.“ „Nicht so laut!“ zischte Laurin. Hektisch blickte er sich um. „Hier ist nicht der richtige Ort, um das zu diskutieren.“ „Da müssen wir auch gar nicht diskutieren. Ich ...“ „Du kommst jetzt!“ „Nein!“ Laurin griff seinen Arm und versuchte, ihn einfach mitzuziehen. Toshio stemmte sich dagegen. So ging es nicht vorwärts und nicht rückwärts. Ihr kleiner Ringkampf wurde jäh beendet, als einer der kahlgeschorenen Sklavenpfleger auf sie zukam. „Brauchst du Hilfe, Laurin-Schatz?“ fragte er. In seiner Not sagte Laurin: „Ja! Ich soll ihn in Sektion 42 bringen. Aber er will nicht.“ „Das sieht man. Lass mich mal machen.“ In aller Ruhe umfasste er Toshio von hinten und hob ihn einfach hoch. „Au, du tust mir weh, du Arsch“, protestierte Toshio. „Dann hör auf zu zappeln.“ „Lass ihn runter“, schaltete sich Laurin ein. „Er ist verletzt.“ Der Pfleger schnaufte unwillig, ließ Toshio aber wieder auf seine Füße hinunter. „Ist sein rechter Arm auch verletzt?“ „Ja“, sagte Toshio. „Nein“, sagte Laurin gleichzeitig. Wieder gab der Pfleger ein missbilligendes Geräusch von sich und drehte Toshios rechten Arm gekonnt auf den Rücken. Mit seiner anderen Hand fasste er ihn am Nacken und konnte ihn nun ganz leicht vor sich her dirigieren. Laurin folgte schweigend. Es ging zum Fahrstuhl, den Laurin mit Keycard und Zahlencode bedienen konnte. Sie fuhren zwei Stockwerke tiefer und gingen wieder einen langen Gang entlang. Hier war noch weniger los als oben auf der Krankenstation, und es gab auch keine Fenster mehr, durch die man in die Räume blicken konnte. Die Türen waren aus Stahl. Aber es roch genauso nach Desinfektionsmittel, und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich warm an. Das war immerhin ganz angenehm, da alle Sklaven barfuß gingen. „Merkwürdig, dass du alleine mit ihm los geschickt wirst“, sagte der Pfleger. „Normalerweise gehorcht er mir“, klagte Laurin überzeugend. „Keine Ahnung, was heute mit ihm ist.“ Die letzten Worte sprach er sehr betont, sie waren für Toshio bestimmt. „Tja, so ist das manchmal … Da wären wir. Sektion 42. Bist du sicher, dass du hier richtig bist? Hier ist doch gar nichts im Moment.“ „Ganz sicher“, sagte Laurin und zog die schwere Tür auf. Der Pfleger schob Toshio hinein. Der Raum war gekachelt, und an den beiden Seitenwänden waren durch deckenhohe Gitter sechs kleine Zellen unterteilt. Die rückwärtige Wand füllte ein Waschbecken mit einer kleinen Arbeitsfläche und einem Schrank. In den Zellen befand sich nichts außer einer einfachen Pritsche. In der Mitte des Raums stand etwas, das Toshio sofort an einen Pranger erinnerte. Laurin öffnete eine der Gittertüren, und Toshio wurde in die Zelle gesperrt. „Danke, jetzt brauche ich dich nicht mehr“, wandte sich Laurin an den Pfleger. „Ich warte hier bei ihm auf Doktor Connor.“ „Gut, alles klar. Wenn noch was ist, du weißt ja, wie du Hilfe rufst.“ Vor sich hin pfeifend verließ er die beiden. Sie warteten noch, bis sein Pfeifen verklungen war, dann rüttelte Toshio an den Gitterstäben. „Spinnst du? Lass mich sofort hier raus!“ „Hier können wir in Ruhe reden. Ich lasse dich erst raus, wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist.“ „Ich bin vernünftig!“ „Du benimmst dich aber nicht so!“ „Ach ja? Laurin, was du vorhast, ist Wahnsinn! Es ist viel zu gefährlich, und wenn sie uns erwischen ...“ Laurin unterbrach ihn mit einem an Hysterie grenzenden Lachen. Trotz seiner Blässe zeigten sich auf seinen Wangen und am Hals rötliche Stressflecken. „Vertauschte Rollen“, sagte er kopfschüttelnd und wurde sogleich wieder ernst. „Jetzt sag mir mal, was das soll! Seit ich dich kenne liegst du mir in den Ohren, dass du fliehen willst. Und ausgerechnet jetzt nicht mehr? Erklär mir das!“ Toshio setzte sich auf die Pritsche und verschränkte die Arme. Es war kühl in Sektion 42. Er hörte das leise Rauschen einer Klimaanlage. „Es geht einfach nicht, ist zu riskant“, begann er, sich zu erklären. „Ich habe nachgedacht. Ich möchte nicht, dass du wegen mir in Schwierigkeiten gerätst, denn die wirst du garantiert bekommen.“ „Da mach dir mal keine Gedanken“, fiel Laurin ihm höhnisch ins Wort. „Das ist ja schon geschehen, dank deiner Weigerung, einfach mit zu kommen. Sonst noch was?“ „Du hättest mir ja auch mal vorher was sagen können! So eine Flucht muss doch geplant werden!“ „Ich habe sie geplant. Ich habe nur nicht eingeplant, dass du es dir nach fast einem Jahr auf einmal anders überlegst! Und außerdem: Wann hätte ich denn mit dir reden sollen? In deinem Krankenzimmer, wo jederzeit Monsieur Remarque oder Raven oder sonst irgendwer alles hätte mit anhören können? Oder auf dem Gang, wo die Wände Ohren haben und man auch nie weiß, wer einem gerade zuhört? Das wäre zu riskant gewesen!“ „Trotzdem“, sagte Toshio, jetzt allerdings schon friedfertiger, „wir hätten reden müssen . So etwas plant man nicht allein. Da kann man viel zu viel übersehen.“ „Ich habe das nicht allein geplant“, entgegnete Laurin. „Mit wem denn? Mit dem Pfleger von gerade eben?“ wollte Toshio wissen. „Nein, natürlich nicht. Du kennst ihn nicht. Und das ist auch besser so.“ Dagegen ließ sich nichts weiter sagen. Es schien durchaus vernünftig, dass Laurin den Komplizen nicht nannte, darum fragte Toshio nicht weiter. Wie sich später herausstellen sollte, hätte er das vielleicht doch tun sollen. „Noch ist es nicht zu spät“, startete er noch einen Versuch, Laurin umzustimmen. „Noch kannst du sagen, es sei nur ein Missverständnis gewesen, mich hier her zu bringen.“ „Nein.“ Laurin blieb fest. Seine Stimme wurde jetzt zwar sanfter, büßte aber nichts von ihrer Entschlossenheit ein. „Es geht um Freiheit, Toshio. Nicht nur um deine. Ich erkläre dir jetzt mal die Möglichkeiten, die du hast: Entweder wir ziehen das jetzt gemeinsam durch, und wenn alles gut geht, und davon gehe ich immer noch aus, dann bist du bald wieder frei. Du musst nicht mehr zu Monsieur zurück. Du kannst Patrick doch noch heiraten. Alles wird gut werden.“ Wenn Patrick mich überhaupt noch will nach einem Jahr, dachte Toshio, sprach den Gedanken aber nicht aus. „Oder?“ fragte er. „Oder du bleibst hier, verpasst deine Chance, verkriechst dich wieder in dein Zimmer, bis Monsieur Remarque dich holt, und alles bleibt, wie es ist. Für dich. Denn ich werde dann an deiner Stelle gehen. Ich habe dir schon gesagt, dass ich das auf jeden Fall durchziehe. Daran hat sich nichts geändert. Da ich mich aber in der Freiheit gar nicht auskenne, niemanden habe, den ich um Hilfe bitten kann und überhaupt nicht weiß, wo ich hin soll – werden sie mich wahrscheinlich bald schnappen. Dann werde ich bestraft. Und bei Flucht kann selbst Raven mir nicht helfen. Das war's dann. Danach bin ich so gut wie tot. Und du musst dann damit leben.“ „Du erpresst mich“, stellte Toshio düster fest. „Nein“, entgegnete Laurin heiter. „Ich lasse dich frei.“ Er öffnete die Zellentür. „Entscheide dich.“ Verzweifelt blieb Toshio sitzen. „So oder so … ich reite dich ins Unglück. Ich will das nicht.“ „Das weiß ich doch.“ Laurin setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. „Du sollst nicht die Verantwortung für mich übernehmen. Die trage ich selber. Ich muss es tun. Nicht für dich, sondern für mich. Wenn ich nichts tue, nicht ein einziges Mal es wenigstens versuche, dann muss ich damit leben, verstehst du?“ Toshio verstand es nicht. Der Angstknoten in ihm löste sich und breitete sich aus. Er drohte, ihn zu ersticken. „Sie werden wissen, dass du es warst, der mir geholfen hat“, sprach er seine Besorgnis aus. „Wer sollte es sonst gewesen sein? Der Pfleger von gerade eben wird ihnen erzählen, dass wir die Krankenstation verlassen haben.“ „Jason sagt vielleicht gar nichts. Er mag mich. Alle mögen mich, schon vergessen?“ Laurin versuchte ein aufmunterndes Grinsen. „Solange nur der Hauch eines Zweifels da ist, wird Raven sich vor mich stellen und mich schützen. Mir kann nicht viel passieren.“ „Ich weiß nicht ...“ „Du musst auch nichts wissen, Toshi. Du musst dich nur trauen.“ Bei diesen Worten stiegen Toshio Tränen in die Augen. Toshi, so hatte ihn Patrick immer genannt, und es war ihm, als wäre es eine Botschaft, dass Laurin auf einmal diese Koseform benutzte. Plötzlich wurde die Sehnsucht nach Patrick übermächtig und überschwemmte ihn mit längst verloren geglaubten Erinnerungen. Auf einmal konnte er ihn wieder vor sich sehen, wusste wieder, wie er sich anfühlte, wie er roch, wie seine Stimme klang. Wie sein Lächeln aussah. Auch er hatte ihm immer Mut zugesprochen, wenn er verzagt war. Musste er immer zu seinem Glück erst gezwungen werden? Lag ihm dieser Hang zum Verharren im Unglück in den Genen? „Schau, wenn ich mich sogar traue, kannst du das auch“, sprach Laurin unterdes weiter auf ihn ein. „Du bist doch viel mutiger als ich. Nur, wir müssen uns beeilen. Die Ärzte sind in einem Meeting. Wenn das vorbei ist, ist es zu spät für uns. Und morgen kommst du schon zurück in die Remarque-Villa. Entscheide dich. Jetzt oder nie.“ Irgendwann in den letzten Wochen war Laurin unbemerkt von Toshio erwachsen geworden. Sogar seine Stimme war anders, hatte alles kindliche verloren. Das Streitgespräch hatte ihm sichtlich gut getan und ihm einiges von seiner Aufregung genommen. Während er Toshio überzeugen wollte, hatte er anscheinend auch sich selbst überzeugt, das Richtige zu tun. „Na gut“, gab Toshio nach. „Dann jetzt.“ Mit Beinen, die sich wie Wackelpudding anfühlten, stand er auf. Er schwankte kurz, doch Laurin war sogleich an seiner Seite und stützte ihn. „Wofür wird dieser Raum eigentlich genutzt?“ fragte Toshio, um das Thema zu wechseln und auf andere Gedanken zu kommen. Gleichzeitig war er gar nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt wissen wollte. Ein anderes Thema fiel ihm nur gerade nicht ein. Aber er bekam sowieso keine Antwort darauf. „Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit“, sagte Laurin und spähte hinaus auf den Gang. „Die Luft ist rein. Lass uns gehen.“ Wider Erwarten trugen Toshios Beine ihn doch. Unbehelligt gelangten sie zurück zu den Aufzügen. „Wir nehmen lieber die Treppe“, bestimmte Laurin. „Beim Fahrstuhl weiß man nie, wer noch zusteigen will.“ Mit seiner Schlüsselkarte öffnete er die Tür zum Treppenhaus. Doch sie hatten nicht einmal das nächste Stockwerk erreicht, da hörten sie über sich Schritte. Erschrocken quetschten sie sich dicht an die Wand, weit weg vom Geländer, um nicht gesehen zu werden. So konnten sie allerdings auch nicht sehen, wer da kam. Es war nicht einmal auszumachen, ob sich die Person ihnen näherte oder sich entfernte. Toshios Herz schlug sowieso so laut, dass er die Schritte fast gar nicht mehr hören konnte. Vorsichtshalber entschied Laurin, nicht abzuwarten. Er legte den Finger an die Lippen und bedeutete Toshio stumm, ihm zu folgen. Lautlos schlichen sie die halbe Treppe hoch und flüchteten sich in das nächste Stockwerk. Sie hatten Glück: Der Gang vor ihnen war menschenleer. „Wir müssen eine Tür finden, die sich nach außen öffnet“, flüsterte Laurin. Er hielt seine Karte vor den Scanner mehrerer Türen, zog sie kurz auf und schloss sie gleich wieder. Soweit Toshio das sehen konnte, öffneten sie sich alle nach außen. „Wieso ...“, setzte er zu fragen an, wurde jedoch sogleich mit einem energischen „Scht!“ zum Schweigen gebracht. „Jetzt nicht!“ Toshio wagte kaum, zurück zur Treppenhaustür zu schauen. Noch waren sie allein. Laurin fiel die Karte aus der Hand. Noch kam niemand. „Mach schon“, drängte Toshio, der nicht verstand, warum sie nicht einfach irgendeine Tür nehmen konnten. „Hier“, sagte Laurin endlich. Er zog ihn in den dahinterliegenden Raum und schloss rasch die Tür. Sollte derjenige, den sie da gehört hatten, nicht zufällig in dieses Stockwerk und in diesen Raum wollen, waren sie vorerst sicher. Neugierig und zunehmend schockiert blickte Toshio sich um. Der Raum war ähnlich aufgeteilt wie der in Sektion 42, außer dass hier die Zellen nur bis etwa Brusthöhe mit Betonwänden abgeteilt waren. Sie erinnerten Toshio weniger an Zellen, eher an Pferdeboxen. Und aus jeder dieser Boxen richteten sich ein bis zwei Augenpaare auf die beiden. Die Frage nach den nach außen öffnenden Türen blieb Toshio buchstäblich im Hals stecken. Der Geruch nach menschlichen Exkrementen hing schwach in der Luft, und die Klimaanlage rauschte hier lauter als in den Räumen zwei Stockwerke höher. Die Luft und der Fußboden waren wie fast überall an diesem Ort angenehm warm. Die Menschen in den Boxen waren ausnahmslos kahlgeschoren, wie alle Sklaven, die Toshio bislang hier gesehen hatte, doch dies waren die ersten, die unbekleidet waren. Schlimmer jedoch war, was Toshio erst bei näherem Hinsehen erkennen konnte: Sie hatten keine Hände! Ihre Arme endeten knapp oberhalb des Ellenbogens in einem ordentlich abgerundetem Stumpf. Teilweise war sogar noch rötlich die Narbe zu erkennen. Aus irgendeinem Grund hatte man ihnen die Arme abgeschnitten. „Geh nicht so nah ran“, warnte Laurin. „Wir könnten sie mit irgendwas anstecken.“ „Was sind das hier für Leute?“, fragte Toshio fassungslos. „Was wird mit ihnen gemacht?“ „Sie sind im Versuch“, antwortete Laurin und trat unruhig von einem Bein auf das andere. „Wir dürften gar nicht hier drin sein.“ Die Sklaven kamen neugierig näher, und auch Toshio ging trotz Laurins Worten noch einen Schritt dichter an die Boxen heran. „Was für ein Versuch? Und was ist das da an ihrem Bauch?“ „Bitte, Toshio! Das sind Fisteln, künstliche Darmausgänge. Damit kann Darminhalt direkt aus dem Dünndarm entnommen werden.“ Die Fisteln waren kurze Plastikröhrchen mit Schraubverschluss, die wie Stöpsel ihren Bäuchen herausstanden. Bei einigen sah man ein kleines Rinnsal bräunlich grünlichen Darminhalt am Bauch hinab laufen. Toshio schlang die Arme um sich als sei ihm kalt. Es war jedoch mehr ein inneres Frösteln, das er empfand. „Wozu macht man so was?“ „Medikamentenforschung“, entgegnete Laurin knapp. „Bitte, geh da weg ...“ Toshio ignorierte Laurin und starrte weiterhin in die Boxen. „Und warum haben sie keine Arme?“ Einer der Gefangenen antwortete, bevor Laurin es tun konnte: „Sie amputieren die Hände, damit wir uns nicht selbst an den Fisteln verletzen können. Früher, als sie das noch nicht taten, mussten die Sklaven mit Fistel die ganze Zeit fixiert werden, manchmal über Jahre.“ Er lächelte. „Da ist das ohne Hände schon besser. Wir sind sehr durstig. Wenn ihr uns vielleicht ein wenig zu trinken geben könntet, das wäre sehr freundlich.“ Da kam Bewegung in die ganze Gruppe. Auch die letzten erhoben sich jetzt von ihren Pritschen und traten vor. „Ja, bitte!“ „Ein wenig Wasser.“ „Durst, Durst ...“ „Das geht nicht“, rief Laurin dazwischen, während Toshio sich schon nach einem geeigneten Behälter umsah. „Ihr seid im Versuch! Und jetzt leise! Wenn wir hier bei euch erwischt werden, peitschen sie uns die Haut von den Rippen.“ „Dir doch nicht“, erklang noch eine besorgte Stimme aus der Gruppe, bevor sie ruhig wurden. „Mir vielleicht nicht“, gab Laurin zu und dämpfte jetzt auch wieder seine Stimme. „Aber ihm sicherlich. Toshio, lass das doch bitte! Wir dürfen ihnen nichts geben.“ Toshio, der gerade dabei war, eine kleine Metallschale unter den Wasserhahn zu halten, hielt inne und wandte sich Laurin zu. „Auch du musst dich entscheiden, Laurin. Mach dir mal Gedanken darüber, auf welcher Seite du eigentlich stehst.“ Als Laurin nicht sofort antwortete, reichte er die gefüllte Schale an den nächststehenden Gefangenen und ließ ihn trinken. Immer wieder füllte er nach, bis jeder seinen Durst gestillt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle versorgt waren. Laurin half nicht dabei, versuchte aber auch nicht weiter, ihn abzuhalten. Er blieb an der Tür stehen, beobachtete stumm das Tränken der Fistel-Sklaven und versuchte gleichzeitig durch die Tür auf den Gang zu lauschen. Wenn man sie hier fand, waren sie verloren. Es fand sie niemand. Sobald Toshio fertig war, drängte Laurin zum Aufbruch. „Gott segne Euch“, flüsterten die Handlosen dankbar zum Abschied. Dieses Mal konnten sie ungestört die Treppe hinauf schleichen. Sie sprachen kein Wort miteinander, zu konzentriert lauschten sie mit jeder Faser ihres Körpers nach dem Geräusch von Schritten oder sich öffnenden Türen. Toshios Herz klopfte heftig, und er musste sich zu jedem Schritt zwingen. Er fühlte sich wie in einem seiner Alpträume und wartete nur darauf, dass sie von hinten gepackt würden und der Alptraum sich in Realität verwandelte. Doch sie kamen unbehelligt bis zu Connors Büro. Laurin war seine Erleichterung deutlich anzusehen, als er die Tür hinter ihnen leise schloss. „Wir müssen uns beeilen“, murmelte er und stürzte gleich zu einem schmalen weißlackierten Holzschrank. Während er einen Kleiderbügel herauszog, auf dem einer von Connors Anzügen hing, schaute sich Toshio flüchtig in dem Zimmer um. Die Einrichtung war nüchtern und funktionell. Nur über dem Schreibtisch hing ein Ölgemälde mit einer Waldlandschaft, und an der einen Wand stand eine gemütlich erscheinende Couch, auf der unordentlich eine Kuscheldecke und aufgeschlagene Zeitschriften lagen. Auf dem Tisch davor lagen Bücher, eine Schale mit Obst, Notenhefte und eine Flöte. Das war dann wohl Laurins Platz. Kein Käfig, keine Kette, kein umfunktionierter Hundekorb, stellte Toshio fest. Es stimmte also, was Laurin ihm immer von Raven erzählte: Er behandelte den Jungen gut. Dennoch … „Laurin ...“, setzte er an. „Hier, zieh das an“, wurde er unterbrochen. Er nahm den Anzug entgegen. „Was hast du vor?“, fragte er. Doch Laurin hatte schon wieder seinen Lauschposten an der Tür bezogen. „Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Wir haben sowieso schon zu viel Zeit verloren. Ich bin gleich wieder da. Und dann bist du bitte fertig.“ Und schon huschte er durch die Tür nach draußen und ließ Toshio allein zurück. Hastig zog er sich um, raus aus der Krankenhaussklaventracht hinein in Connors Anzug. Natürlich war er ihm zu groß. Was dachte Laurin sich nur? Er krempelte die Ärmel möglichst unauffällig nach innen hoch, doch bei der Krawatte musste er passen. Er hatte schon so manche Krawatte gelöst, in seinem früheren Leben bei einigen seiner Kunden, aber er hatte noch niemals eine Krawatte geknotet. Hilflos eilte sein Blick durch das Büro und blieb bei dem Telefon auf dem Schreibtisch hängen. Vergessen war die Krawatte. So lange schon wartete er auf eine Gelegenheit, unbemerkt an ein Telefon zu gelangen. Durfte er es wagen? Oder barg das zusätzliche unnötige Risiken für Laurin? Hatte er nicht schon genug angerichtet bei den Fistelmenschen? Jetzt erst kam ihm der Gedanke, dass möglicherweise auffallen würde, dass sie mehr als üblich getrunken hatten. Und selbst wenn sie nicht verraten wollten, wie sie an das Wasser gekommen waren, so wusste Toshio doch aus eigener leidvoller Erfahrung, dass man dazu gebracht werden konnte, zu sagen, was man nie sagen wollte. Und Kameras gab es in den Versuchsräumen wahrscheinlich ebenso wie in seinem Krankenzimmer. Er fällte einen Entschluss und griff zum Telefon. Wenn er wieder Pascal in die Hände fallen sollte, so konnte er nicht die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, wenigstens noch einmal Patricks Stimme gehört zu haben. Hoffentlich musste er nicht irgendeine hausinterne Nummer vorweg wählen. Sein Finger tippte die Vorwahl für Deutschland und verharrte dann unschlüssig über der Tastatur. Ihm fiel doch tatsächlich Patricks Handynummer nicht ein. Ricardos Nummer, ja, die spukte sogleich in seinem Kopf herum, aber Patricks Nummer hatte er früher in seinem eigenen Handy abgespeichert und quasi immer nur Patricks Namen angewählt. Sollte er stattdessen Ricardo anrufen? Oder die Polizei? War das hilfreich? Dann fiel ihm ein, dass er die Festnetznummer von Patricks Familie auswendig konnte. Patrick und Karoline hatten immer so einen albernen selbstgedichteten Jingle gesungen. „Ruf an, ruf an, bei Hallers geht immer jemand ran“, oder so ähnlich und mit der Telefonnummer als Refrain. Mit fiebrigem Finger tippte er die Vorwahl von Deutschland, die Vorwahl von Hannover und die Nummer der Familie Haller und hoffte, dass der Jingle hielt, was er versprach. Tatsächlich hob nach dem fünften Klingeln jemand ab. „Karoline Haller, hallo?“ Toshio stand wie gelähmt. Er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen von der Achselhöhle aus die Seite hinunter lief. „Hallo?“ „Hallo“, würgte er schließlich heraus. „Hier ist Toshio.“ „Toshio? Na, du hast vielleicht Nerven, nach der ganzen Zeit hier anzurufen! Weißt du eigentlich, wie sehr du Patrick verletzt hast?“ „Ich … ist Patrick zu Hause?“ Jetzt war keine Zeit für Erklärungen. „Nein, ist er nicht“, antwortete Karoline spitz und schien sichtlich Freude an ihren Worten zu haben. „Er ist in der Uni, und danach ist er bei Marco.“ Marco war ein guter Freund von Patrick. Und sein Exfreund. Seine erste große Liebe sozusagen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Patrick sich mit ihm traf, aber die Art, wie Karoline das sagte, war denkwürdig. „Kannst du ihm sagen ...“ Toshio zögerte. Was sollte er ihm sagen? Er kam nicht mehr dazu, weiter zu reden, denn jetzt kehrte Laurin zurück. „Was machst du denn da?“ fragte er entsetzt. „Du solltest dich doch anziehen!“ „Karoline, ich brauche Hilfe“, sagte Toshio schnell in das Telefon, und bekam als Antwort nur ein Tuten. Karoline hatte schon aufgelegt. Laurin nahm ihm das Telefon aus der Hand, legte auf und stellte es zurück auf die Station. „Ist nicht schon genug schief gegangen?“ fragte er. „Raven kann die Nummer sehen, und weiß dann, dass du hier warst.“ „Ich musste es einfach versuchen“, antwortete Toshio kleinlaut. „Und ich habe mir sowieso überlegt, dass es besser ist, wenn du mit mir kommst. Hierzubleiben ist viel zu gefährlich für dich.“ „Nein.“ Laurin schüttelte den Kopf. „Raven wird nicht zulassen, dass mir was geschieht.“ „Selbst wenn er das möchte“, entgegnete Toshio sanft, „heißt das nicht, dass er es auch kann. In Tokyo habe ich gelernt, dass auch die Besitzer der Sklaven nicht so frei in ihren Entscheidungen sind, wie sie wollen. Bist du ganz sicher, dass Raven dich wirklich schützen kann? Gegen den Willen von Monsieur und den anderen Sklavenhaltern? Kannst du mir das versprechen?“ Darauf antwortete Laurin nicht und kniff nur die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Das war Toshio Antwort genug. „Sie werden wissen, dass du mir geholfen hast. Egal, wie perfekt die Flucht gelungen wäre.“ „Ja, weil du unbedingt den Fistelsklaven was zu trinken geben musstest“, begehrte Laurin nun heftig auf. „Sie werden es an der Flüssigkeitsbilanz sehen, und dann werden sie die Überwachungskameras prüfen, um zu sehen, wie sie an das Wasser gekommen sind ...“ „Wir mussten ihnen helfen“, unterbrach Toshio und behandelte Laurins Passivität bei der Angelegenheit einfach als Mithilfe. „Was wären wir sonst für Menschen?“ Wieder schwieg Laurin. „Ich bin fertig“, sagte Toshio nach einem kurzen Moment. Schließlich war auch ihm klar, dass sie keine Zeit zum Streiten hatten. „Ich kann nur diesen Krawattenknoten nicht.“ Hilflos hielt er beide Enden in die Luft. „Ich habe Raven das oft machen sehen“, sagte Laurin und versuchte sein Glück. Allerdings musste er feststellen, dass Zusehen und Selbermachen zwei unterschiedliche Dinge waren. Am Ende kam ein Knoten dabei heraus, der nur entfernt Ähnlichkeit mit einer ordentlich gebundenen Krawatte hatte. „Das wird schon so gehen“, meinte Laurin nach einem letzten kritischen Blick. „Der Pförtner wird das gar nicht so genau sehen können.“ „Der Pförtner?“ „Ja. Und jetzt rein hier mit dir. Damit ich dich endlich raus bringen kann.“ Jetzt erst bemerkte Toshio, dass Laurin einen Wäschewagen in das Büro geschoben hatte. Diesmal verzichtete Toshio auf weitere Diskussionen und machte schon Anstalten, der Anweisung Folge zu leisten, da hielt Laurin ihn doch noch einmal zurück. „Wir sollten dein Krafttier um Beistand bitten. Wir können jede Hilfe brauchen.“ Er deutete auf das Waldgemälde und den darauf abgebildeten Hirschen im Hintergrund, den Toshio noch gar nicht wahrgenommen hatte. „Wie …?“ fragte Toshio. „Einfach bitten. Und vielleicht ein kleines Opfer bringen.“ Ungeduldig sah er Laurin dabei zu, wie er in seinen Augen wertvolle Sekunden damit verschwendete, einen Apfel von dem Obstteller zu nehmen, ihn vor das Bild zu legen und kurz mit geschlossenen Augen und aneinander gelegten Handflächen inne zu halten. Dann half er ihm endlich, in den Wäschesack zu klettern, und überdeckte ihn noch mit ein paar schmutzigen Wäschestücken und schob los. Toshio überließ sich nun ganz Laurins Führung. Entweder der Plan funktionierte, oder eben nicht. Jetzt, wo er zur Bewegungslosigkeit gezwungen war, spürte er das Adrenalin umso kraftvoller durch seinen Körper pulsieren. Im Wäschesack war es dunkel und stickig, und er musste die aufkeimende Atemnot niederkämpfen. Eine Weile konzentrierte er sich nur auf Ein- und Ausatmen, während er durch die endlos erscheinenden Gänge geschoben wurde. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und tauchte vorsichtig zwischen den Wäschestücken auf, um besser atmen zu können. Sollte er hören, dass Laurin angehalten wurde und die Gefahr bestand, dass jemand den Deckel öffnen könnte, konnte er immer noch schnell wieder untertauchen. Den Anzug von Doktor Connor musste er schon völlig durchgeschwitzt und zerknittert haben. Seine Gedanken sprangen ziellos umher: Was mochte Laurin noch vorhaben? Wohin sollte er sich draußen als erstes wenden? Er hatte weder Geld noch seinen Ausweis, er konnte sich nicht einmal in der Landessprache verständigen … Doch obwohl das essentielle Fragen waren, obwohl er gerade erst erfahren hatte, dass in diesem unterirdischen Labor medizinische Forschung an Menschen betrieben wurde, landeten seine Gedanken letzten Endes bei der relativ profanen Tatsache, dass Patrick bei Marko war. Waren die beiden wieder zusammen? Wundern würde es ihn nicht. Marko war Patricks erste Liebe gewesen, mit ihm zusammen hatte er sein Coming Out gehabt, und die beiden waren immer noch sehr eng verbunden auf eine Art, die schnell dazu führte, dass man sich in ihrer Gegenwart wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Sie verstanden sich oft ohne Worte, und ein keines Stichwort genügte, um die beiden in für Außenstehende grundloses schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen. Irgendwie war Toshio die ganze Zeit davon ausgegangen, dass er, sollte er Pascal entkommen, einfach nach Hause gehen und zu Patrick flüchten konnte. Jetzt musste er sich der Erkenntnis stellen, dass Patrick verständlicherweise nicht endlos auf ihn gewartet hatte und ihn nicht, wie in seinen Tagträumen, mit offenen Armen empfangen würde. Die Befürchtung hatte er natürlich schon des Öfteren gehegt, aber sich jetzt mit der Tatsache konfrontiert zu sehen schmerzte tief und stellte ihn vor die Frage: Wohin und zu wem sollte er fliehen? Schon fühlte er erneut die Mutlosigkeit in sich aufsteigen, und kämpfte sie nieder. Laurin wagte so viel für ihn, das durfte nicht umsonst sein. Er beschloss, die Probleme in der Reihenfolge abzuarbeiten, in der sie auftauchten, Schritt für Schritt. Erstmal musste er entkommen, und zwar mit Laurin. Danach würde er weiter sehen. Mit Toshio in dem Wäschewagen versteckt, konnten sie den Fahrstuhl nehmen, und als sie ihn wieder verließen drang ein schwacher Abgasgeruch durch den Wäschesack in seine Nase. Als Laurin ihn endlich wieder aussteigen ließ, befanden sie sich in einer Tiefgarage. Laurin half ihm, den Anzug zu richten und hielt ihm dann den Funkschlüssel von dem BMW, vor dem sie standen, vor die Nase. „Von jetzt an ist es ganz einfach“, erklärte er stolz. „Der Pförtner kennt Ravens Wagen, er wird denken, dass du Raven bist, öffnet die Schranke, wie er es immer tut, und du kannst einfach an ihm vorbei nach draußen fahren. Wenn er dann seinen Irrtum bemerkt, ist es schon zu spät, und du bist frei.“ „Guter Plan“, sagte Toshio. „Wenn ich Auto fahren könnte.“ „Aber ...“ Laurin wurde blass. „Ich dachte, alle Erwachsenen können Auto fahren.“ „Alle Erwachsenen, die Geld haben vielleicht“, entgegnete Toshio. „Ich aber nicht.“ Nutzlos, Laurin noch einmal darauf hinzuweisen, dass er wegen solcher entscheidenden Kleinigkeiten den Fluchtplan mit ihm hätte besprechen müssen. „Ist das denn so schwer? Ich meine … kannst du nicht trotzdem …?“ Toshio schüttelte den Kopf. „Leider nein. Wahrscheinlich könnte ich fahren. Aber nicht so, dass dem Pförtner nicht auffällt, dass kein erfahrener Fahrer am Steuer sitzt. Wir brauchen einen anderen Plan. Hast du einen?“ Beschämt senkte Laurin den Kopf und sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Tut mir leid. Jetzt hab ich alles verpatzt ...“ „Blödsinn. Uns fällt etwas ein.“ Toshio drängte die aufkeimende Panik zurück und zwang sich, nachzudenken. Jetzt ging es um das blanke Überleben. „Ich habe eine Idee“, sagte Toshio, öffnete den Wagen und durchwühlte die Seitentaschen und das Handschuhfach nach brennbarem Material. Er fand ein paar Notizzettel und eine Straßenkarte und fand noch die Zeit zu denken, wie altmodisch das von Connor war. Auf dem Rücksitz lagen ein paar Comic-Hefte von Laurin. Rasch zerriss er die Seiten und schichtete einen kleinen Papierschnipselhaufen auf dem Beifahrersitz auf. Dann drückte er den Zigarettenanzünder und beauftragte Laurin, ein paar Handtücher aus dem Wäschesack zu holen. „Was hast du vor?“ fragte dieser, kam der Aufforderung jedoch sofort nach. „Wir legen Feuer.“ Hörbar sog Laurin die Luft ein. „Wir können doch nicht Ravens Wagen anzünden!“ „Doch. Wir sind dann ja weg.“ „Toshio ...“ Doch Toshio hatte schon die glühende Metallspirale an seinen kleinen Scheiterhaufen gehalten, der auch sofort Feuer fing. Das Papier brannte gut, die Stoffhandtücher ließen sich nicht so leicht anzünden. Dafür qualmte das Ganze ordentlich. „Hör zu, Laurin. Du läufst jetzt zum Pförtner und sagst ihm, dass es hier brennt. Das wird ihn ablenken, und wir können abhauen.“ „Ich kann nicht mitkommen“, protestierte Laurin, allerdings nicht mehr so vehement wie vorher. „Du kannst nicht hier bleiben“, widersprach Toshio eindringlich. „Es ist wirklich zu offensichtlich, dass du mir geholfen hast.“ „Ich kann doch sagen, du hast mich gezwungen ...“ „Das wird dir keiner glauben. Komm jetzt!“ Sie schlichen sich zwischen den Autoreihen entlang Richtung Ausfahrt. Als das Pförtnerhäuschen in Sicht kam, duckte sich Toshio hinter ein Auto, und Laurin lief laut rufend los: „Feuer! Feuer! Es brennt! Es brennt, ich brauche Hilfe!“ Der Pförtner kam sofort heraus und hatte den Feuerlöscher schon in der Hand. „Laurin! Was ist passiert?“ „Mir ist der Anzünder runter gefallen, und jetzt brennt das Auto! Da hinten!“ Er deutete in die entsprechende Richtung, wo inzwischen schon Rauchschwaden den Weg wiesen. Jetzt ging auch der Feueralarm los und ließ dem Mann keine Zeit, sich zu fragen, was denn der Junge mit dem Feueranzünder gewollt hatte. Er ließ Laurin stehen und rannte los, um den Brand zu löschen. Unschlüssig blieb Laurin, wo er stand, doch Toshio verließ seine Deckung, hechtete zu ihm und zog ihn einfach mit sich. Sie rannten zum Ausgang, duckten sich unter der Schranke durch, liefen die Auffahrt hoch und die Straße entlang, kopflos, ohne zu denken, nur weg so schnell sie konnten. Toshio war der erste, dem die Puste ausging. Sie waren eine von alten Platanen gesäumte Allee entlang gelaufen. Die Autos fuhren vierspurig unbeteiligt an ihnen vorbei. Noch. Natürlich war es nicht klug, an einer so vielbefahrenen Straße zu sein, aber sie wollten zunächst so viel Entfernung wie in kurzer Zeit möglich zwischen sich und das Labor bringen. Aber Toshios Ausdauer ließ keinen kilometerweiten Sprint zu. „Wir müssen von dieser Straße weg“, japste er und stützte die Hände in die Seiten. „Dort vorne kommt ein kleiner Park. Dahin vielleicht?“ schlug Laurin vor. „Okay.“ Etwas langsamer joggten sie weiter und gelangten mit einem letzten kleinen Sprint hinter eine schützende Rhododendronhecke, wo Toshio nach Luft schnappend stehen blieb. Er war noch lange nicht wieder so gut in Form, wie es jetzt nötig wäre. Sein ganzes Leben war er sportlich gewesen und hatte seinen Körper trainiert, und ausgerechnet jetzt, wo er ihn am dringendsten brauchte, hatte er so gut wie keine Kraftreserven. Laurin neben ihm hüpfte unruhig von einem Bein auf das andere und raufte sich die Haare. „Was hab ich getan, was hab ich bloß getan ...“, murmelte er stereotyp vor sich hin. „Wir brauchen einen Plan“, unterbrach ihn Toshio, sobald er wieder zu Atem gekommen war. „Wir können nicht einfach so wegrennen. So fallen wir nur auf. Außerdem schaffe ich das auch nicht lange.“ Laurin nickte schweigend. Seine Augen wirkten unnatürlich groß in seinem bleichen Gesicht. Wie jung er noch war. Auf keinen Fall durften sie wieder eingefangen werden! „Als erstes müssen wir unsere Chips los werden. Du weißt bestimmt, wo wir die haben, oder?“ Während er sprach, hielt er schon Ausschau nach Scherben oder irgendetwas, womit man die Haut ritzen konnte, um einen Chip heraus zu schneiden. In Hannover im Welfengarten hinter der Uni hätte mehr Müll im Gebüsch gelegen. „Was für einen Chip denn?“ fragte Laurin. „Na, unser Sender oder was weiß ich.“ Toshio hob einen Kronkorken auf und betrachtete ihn kritisch. Er hatte halb in der Erde gesteckt, mit diesem dreckigen Ding würden sie sich womöglich eine Blutvergiftung zuziehen, aber etwas Geeigneteres sah er nicht. Mit der Infektion konnten sie sich dann später befassen. Ein Problem nach dem anderen. „In Japan hat mir ein Sklave davon erzählt“, erklärte er Laurin, was er meinte, während er die Erde von dem Metall kratzte. „Ein Mikrochip unter der Haut.“ „Davon weiß ich nichts“, sagte Laurin stirnrunzelnd. „Wir haben keinen Chip.“ „Bist du sicher?“ Toshio wog den Kronkorken in der Hand. Unsicher hob Laurin die Schultern. „Wir haben andere Markierungen. Der Monsieur verwendet traditionell die Tätowierungen, manchmal auch Brandzeichen.“ Er mied Toshios Blick. „Ganz sicher bin ich natürlich nicht. Ich weiß, dass es auf den Auktionen gechipte Sklaven gibt. Aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass ich von solchen Chips vom Monsieur noch nichts gehört hätte, wenn es sie gäbe. Wo sollten die denn sein, an welcher Körperstelle?“ „Keine Ahnung. Das hat er nicht gesagt.“ Der Kronkorken landete wieder auf dem Boden. Sie hatten keine Zeit, nach einem winzigen Chip irgendwo unter der Haut zu suchen, von dem sie nicht einmal wussten, ob er überhaupt existent war. „Wir müssen zur Polizei“, stellte Toshio fest. Laurin wurde noch bleicher als er schon war. „Nein! Auf keinen Fall! Polizisten essen mit dem Monsieur zu Abend, lassen sich von Florence bedienen, dürfen sogar mich sehen! Die wissen Bescheid! Sie haben auch schon entlaufene Sklaven zurück gebracht ...“ An der Stelle versagte ihm die Stimme. „Aber doch bestimmt nicht alle bei der Polizei“, wandte Toshio ein. „Und woher sollen wir wissen, wem wir trauen können?“ fragte Laurin hysterisch. Er hatte recht. Das war ein Problem. Toshio wog das Risiko ab. Es konnten unmöglich alle Polizisten geschmiert sein. Aber was, wenn sie gerade an so einen gerieten? Man würde es ihm ja nicht ansehen. Und selbst, wenn sie Glück hatten, konnte es sich auf der Wache ja herum sprechen, dass zwei Ausländer ohne Ausweise aufgegriffen worden waren, von denen die Beschreibung zufällig auf die zwei entlaufenen Sklaven zutraf ... Zu gefährlich, beschloss er. „Aber was dann?“ überlegte er laut. „Ohne Geld kommen wir ...“ Er unterbrach sich. Laurin sah ohnehin schon so aus, als würde er die ganze Aktion bereits bereuen, auch ohne zu wissen, dass man in der Welt der freien Menschen ohne Geld und Papiere so frei gar nicht war. Da kam es auch schon: „Wenn ich jetzt zurück gehe, freiwillig, dann wird die Strafe bestimmt gar nicht so schlimm“, machte Laurin sich seine eigenen Gedanken. „Vergiss es! Hilf mir lieber: Wir brauchen ein Versteck. Und wir müssen so schnell wie möglich aus dieser Stadt raus, und das möglichst auf Schleichwegen.“ „Ich kenne nichts, was Raven nicht auch kennt.“ „Wenn ihm etwas an dir liegt, wird er Pascal diese Orte hoffentlich nicht nennen. Ich kenne gar nichts hier. Was schlägst du also vor?“ „Im Wald gibt es einen kleinen Unterschlupf. Abseits der Wege.“ „Abseits der Wege klingt gut.“ „Da müssten wir allerdings einmal durch die Stadt durch. Oder außen herum ...“ „Hier können wir jedenfalls nicht bleiben.“ „Ich habe Angst.“ „Ich auch, Laurin. Ich auch.“ Der Taxifahrer hätte schon gewarnt sein können, als seine beiden Fahrgäste ihm keine genaue Adresse nannten, sondern nur „Erstmal Richtung Villaz.“ Auch dass sich das aus der Entfernung sehr gepflegte Äußere des jungen Mannes mit den asiatischen Gesichtszügen aus der Nähe als schlecht sitzender, zerknitterter Anzug herausstellte, hätte ihn misstrauisch machen sollen. Ohne Schuhe! Und Französisch konnten die beiden Gestalten natürlich auch nicht. Und die angespannte Atmosphäre, die sie mit sich führten, war beinahe mit Händen greifbar. Dafür, dass er sie trotzdem mitnahm, war Toshio ihm natürlich dankbar, dennoch empfand er kein Mitleid für ihn, als er ihn anhalten ließ und in seinen leeren Taschen so tat, als würde er nach Geld fischen, bis Laurin ausgestiegen war, und seine Tür von außen öffnete. Dann sprang er hinaus, und sie rannten los, bis sie die wütenden Flüche, die ihnen hinterher geschleudert wurden, nicht mehr hören konnten. Es war Toshio natürlich bewusst, dass ein geprellter Taxifahrer womöglich ihre Verfolger zu ihrer Spur führte, aber er wollte so schnell wie möglich aus der Stadt heraus, und er wollte sich gleichzeitig etwas ausruhen. Wie sich herausstellte, war es auch ganz gut gewesen, seine Kräfte einzusparen, denn die Gegend, die Laurin mit „Wald“ bezeichnet hatte, wäre in Toshios Beschreibung als „Berg“ vorgekommen. Nachdem sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, liefen sie noch durch eine Wiesenlandschaft, später an einem unruhig gurgelndem Gebirgsbach entlang und schließlich bogen sie ab auf einen zunächst noch sanft ansteigenden Waldweg. Da brannten Toshios Fußsohlen schon wie Feuer. Die Narben an seinen Füßen machten ihm sowieso schon oft Probleme, das Gehen auf rauem Asphalt und pieksendem Schotterweg quittierten sie ihm entsprechend mit beißendem Protest. Aber natürlich war die Angst größer als der Schmerz. Dann jedoch schlängelte sich ihr Weg zunehmend steiler in den Wald hinein, und Toshio merkte bald, dass seine angeschlagene Kondition dieser Steigung nicht gewachsen war. Immer länger blieb er stehen, immer kürzer wurde die darauf folgende Gehstrecke. Die Spaziergänger und Wanderer, die ihnen gelegentlich entgegen kamen, warfen ihnen immer schrägere Blicke zu. „Wie weit ist es denn noch?“ fragte er schließlich, während er sich mit den Händen auf den Knien abstützte und abwartete, dass die vor seinen Augen tanzenden schwarzen Flecken wieder verschwanden. „Schwer zu sagen“, meinte Laurin und musterte ihn besorgt. „Wir sind hier immer mit dem Wagen her gefahren. Ich hatte nicht gedacht, dass es zu Fuß so weit ist … Aber die Abzweigung zu der Jagdhütte müsste eigentlich bald kommen, da begegnen uns dann wenigstens keine Leute mehr.“ „Willst du zu der Hütte?“ „Nein, die ist entweder abgeschlossen, oder es ist jemand da. Aber von da aus ist es dann nicht mehr allzu weit. Vielleicht eine Stunde noch ...“ „Eine Stunde?“ stöhnte Toshio. Da konnte er sich von der Vorstellung endgültig verabschieden, dass sie in ihrem Unterschlupf eine Weile bleiben und von dort aus Essen und andere Kleidung, vor allem Schuhe, organisieren konnten. Verbissen kämpfte er sich weiter den Berg hinauf und ignorierte so gut es ging das Brennen seiner Füße und seiner Lungen und das zunehmende Schwächegefühl in den Beinen. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund und seine Augen versagten ihm immer wieder kreislaufbedingt kurzzeitig ihren Dienst. Er konnte in dieser Verfassung unmöglich darüber nachdenken, ob es unter diesen Umständen überhaupt Sinn machte, Laurins Unterschlupf aufzusuchen. Ein Problem nach dem anderen. Einen Schritt vor den nächsten. Wenn du denkst, du kannst nicht mehr, geht immer noch was. Diesen Satz hatte Nanao-sensei ihm schon in der Kindheit eingepflanzt. Und Pascal hatte ihn das noch auf ganz andere grausige Weise gelehrt. So war es schließlich Laurin, der sagte: „Wir schaffen das nicht. Es ist zu weit.“ Sie hatten immerhin die Abzweigung von dem öffentlichen Wanderweg schon hinter sich gelassen und waren seitdem auch niemandem mehr begegnet. „Es tut mir leid. Ich dachte nicht, dass es so weit ist. Wir suchen uns am besten hier einen Platz, wo wir eine Pause machen können“, schlug Laurin vor. „Willst du hier warten, dann schau ich mich mal ein wenig um.“ Toshio nickte erschöpft und ließ sich, wo er stand, zu Boden sinken, während Laurin im Wald verschwand. Laurin schien keine Probleme mit seinen Füßen auf unebenem Boden zu haben. Wahrscheinlich lief er öfter Barfuß durch die Gegend. Das ließ ihn an Oliver und Elin denken, die das auch gern im Sommer taten. Die beiden kannten sogar jemanden, der das ganze Jahr über nur ohne Schuhe herum lief. Der hätte jetzt jedenfalls nicht so große Probleme mit seinen Fußsohlen. Toshio schloss die Augen und genoss den Wind auf seiner Haut, das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Bäume. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, dass er draußen gewesen war. Endlich frei! Kurze Zeit später kehrte Laurin zurück. „Dort drüben ist eine Baumgruppe, die uns aufnehmen will.“ Ächzend kam Toshio wieder auf die Füße und ließ die Laurin typische Formulierung unkommentiert. Das war auch gut so, sonst hätten sie womöglich das näher kommende Auto, das sie jetzt hörten, zu spät wahrgenommen. Entsetzt tauschten sie einen Blick, dann hechteten sie schnell hinter den nächstbesten Bäumen in Deckung. Dicht auf den Boden geduckt lauschten sie dem knirschenden Kies unter den Rädern und wagten beide nicht, den Kopf zu heben, um zu sehen, wer das war. Wurden sie schon verfolgt? Der Wagen war ihnen entgegen gekommen, waren ihre Verfolger ihnen etwa schon einen Schritt voraus? Sie verharrten reglos, bis von dem Auto nichts mehr zu hören war. Dann erst erhoben sie sich wieder. „Wahrscheinlich nur der Förster“, sagte Laurin, aber ihm stand der Schrecken im Gesicht geschrieben. „Trotzdem besser, wenn wir vom Weg wegkommen“, sagte Toshio. Obwohl er nicht hätte erklären können, woran das lag, fühlte er sich tatsächlich von den Bäumen willkommen geheißen. Die dicken Wurzeln, die dicht an den Stämmen aus der Erde lugten, luden förmlich dazu ein, sich nieder zu lassen. Es war eine Wohltat, endlich die malträtierten Fußsohlen zu entlasten. Laurins Idee, ihn mit einem Auto auf die Flucht zu schicken, war gar nicht so schlecht gewesen. Aber wieder einmal machte ihm seine Vergangenheit das Leben schwer: Hätten seine Eltern eine bessere Ausbildung gehabt, hätten sie mehr Geld gehabt, hätte er sicherlich seinen Führerschein gemacht, und dann … Aber es war müßig, jetzt darüber nachzudenken, was hätte sein können. Er war hungrig und durstig, vor allem aber war er ratlos. Wen sollten sie um Hilfe bitten, wenn nicht die Polizei? Wo sollten sie hin, wenn nicht zu Patrick? „Ich mache einen Schutzkreis“, unterbrach Laurin seine trüben Gedanken. Aus irgendeinem Grund erwartete Toshio, dass er dazu singend und tanzend im Kreis stampfen würde, doch er schloss nur einfach die Augen und atmete tief ein und aus. Nun, wenn es Laurin half, sich besser zu fühlen, warum nicht. Was wusste Toshio schon von Schutzkreisen. Er beobachtete, wie Laurins Gesichtszüge sich entspannten und sein Rücken sich aufrichtete. Der Wind spielte mit seinem Haar und nicht zum ersten Mal dachte Toshio, dass er wie ein Engel aussah. Ein Engel, der durch schlimme Umstände in der Hölle gelandet war und dennoch sein reines Herz bewahrt hatte. Ein Zauber schien von ihm auszugehen. Viel zu schnell war dieser Moment vorbei, und kaum dass sich der Junge ihm wieder zuwandte, kehrten Furcht und Unsicherheit in seinen Blick zurück. „Ich hätte nicht mit dir kommen dürfen“, sagte er kläglich. „Ich gehöre hier nicht her.“ „Doch“, entgegnete Toshio ohne zu zögern. „Du bist genau richtig. Ich brauche dich hier. Es ist gut, dass du hier bist.“ „Aber ich weiß doch gar nicht, wo ich hin soll. Ich kenne hier niemanden.“ Er hockte sich auf den Boden und schlang die Arme um die Knie. „Du kennst mich. Glaubst du, ich lasse dich einfach allein nach allem, was du für mich getan hast?“ „Aber es geht alles schief. Das Auto ...“ Laurin brach ab. Er kämpfte mit den Tränen. Sein Kinn zitterte. „Das Auto war eigentlich eine super Idee von dir. Mit dem Auto wären wir jetzt schon über alle Berge.“ Schön wär's. Toshio grinste schief. „Raven wird sauer sein, dass wir sein Auto angezündet haben.“ „Das Auto ist sicher gerade sein kleinstes Problem.“ „Oh Gott!“ Laurin vergrub die Hände in den Haaren und wiegte sich hin und her. „Was haben wir getan?! Wenn sie uns schnappen, dann schneiden sie uns die Füße ab. Sie tauchen uns in kochendes Wasser und hängen uns an der Decke auf. Sie sezieren uns bei lebendigem Leib, ohne Betäubung, sie ...“ „Laurin, hör auf damit!“ Er wollte das alles gar nicht hören. „Noch haben sie uns nicht, und sie werden uns auch nicht kriegen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir weg kommen und nicht, was passiert, wenn wir es nicht schaffen. Wenn wir jetzt in Angst versinken, bringt uns das auch nicht weiter.“ Er sprach damit nicht nur Laurin Mut zu. Niemand wusste besser als er selbst, wie sehr Angst lähmte. Das konnten sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. „Und überhaupt“, fügte er dann noch hinzu, „hast du nicht immer gesagt, dass Raven niemals zulassen würde, dass dir etwas so Schlimmes passiert?“ „Ja ...“ Laurin blickte wieder auf. „Du hast recht. Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.“ „Jetzt hör auf, dich dauernd zu entschuldigen. Ich bin schließlich derjenige, wegen dem wir jetzt kein Auto haben und hier fest sitzen. Ich bin den Berg hinauf geschnauft wie eine Dampflok.“ „Eine altersschwache Dampflok“, korrigierte ihn Laurin und ein kleines Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich bei unserer Flucht so einen steilen Berg rauf kriechen muss, hätte ich mich nicht so gesträubt, als Pascal mir das Kriechen auf allen Vieren beigebracht hat“, sagte Toshio und behielt den scherzhaften Tonfall bei. „Du hättest das ja mit den Physiotherapeuten üben können. Die hätten vielleicht dumm geguckt.“ „Und Pascal erst!“ Bei der Vorstellung, wie Pascal ihn heimlich beobachtete, wie er freiwillig mit den Therapeuten den Kriechgang übte, musste er unwillkürlich kichern. Nach kurzem Zögern fiel Laurin in sein Lachen mit ein, und dann konnten sie gar nicht mehr aufhören damit. Sie mussten sich nur anschauen und prusteten schon wieder los. Es tat gut, die ganze Anspannung loszuwerden. Viel zu schnell mussten sie wieder ernst werden. „Was machen wir denn jetzt?“ fragte Laurin schließlich. „Kannst du nicht einfach Patrick anrufen, und er holt uns ab?“ „Das wollte ich ja“, sagte Toshio. „Vom Labor aus. Jetzt bräuchten wir dazu Geld oder jemand sehr Nettes, der uns aus Freundlichkeit ein Auslandsgespräch führen lässt. Allerdings … Ich weiß gar nicht so genau, ob ich noch zu Patrick zurück kann. Seine Schwester war vorhin so komisch am Telefon. Kann sein, dass er schon einen neuen Freund hat. Möglich, dass er uns trotzdem hilft. Vielleicht ist er aber zu wütend auf mich.“ „Wie kann jemand wütend sein, dass du entführt worden bist?“ „Das weiß er vielleicht gar nicht.“ „Und ich dachte, wenn du erst einmal draußen bist, ist alles ganz einfach ...“ „Wenn dein Plan mit dem Wagen geklappt hätte, wäre es auch einfacher. Oder wenn wir Geld hätten. Aber so … fällt mir jetzt auch im Moment nichts ein. Wenn die sogar die Polizei auf ihrer Seite haben ...“ Toshios Vertrauen in die Ordnungshüter war noch nie sehr groß gewesen, aber dass sie sich jetzt nicht einfach an die Polizei wenden konnten, war doch sehr entmutigend. „Irgendwie müssen wir von hier weg kommen. Wir hätten uns von dem Taxifahrer gleich in die nächste Stadt bringen lassen sollen. Warum habe ich da nicht vorhin dran gedacht? Oder gleich bis über die nächste Grenze. Dann hätten wir jetzt einen größeren Vorsprung. Oder wir hätten gleich weiter trampen sollen. Inzwischen suchen sie wahrscheinlich schon nach uns. Verdammte Scheiße! Warum kann ich auch nicht Auto fahren! Dabei hätte Patrick mir das sogar beigebracht. Aber ich hab mich nicht getraut ...“ „Hätten und sollen bringt uns nicht weiter“, warf Laurin ein. „Wir müssen von hier aus weiter denken. Jetzt. Hier.“ „Du hast recht.“ Wie gut, dass sie sich gegenseitig immer wieder ihre destruktiven Gedankenschleifen unterbrechen konnten. „Trampen ist riskant. Bus fahren geht nicht ohne Ticket. Bahn fahren vielleicht, aber wenn wir beim Schwarzfahren erwischt werden ohne Geld und ohne Ausweise, ruft der Schaffner die Polizei. Außerdem werden sie am Bahnhof bestimmt nach uns suchen. Wir müssen betteln oder irgendwen beklauen … und bis dahin müssen wir wohl oder übel zu Fuß weiter gehen. In welcher Richtung geht es nach Deutschland? Es ist am Naheliegendsten, dass wir versuchen, dorthin zu kommen.“ Laurin sah sich um, um sich zu orientieren. „Wenn wir weiter in die Berge gehen, kommen wir irgendwann in die Schweiz. Dann müsste die deutsche Grenze weiter nordöstlich sein … also von hier aus in diese Richtung.“ Er deutete wage weiter in den Wald hinein. „Okay. Dann gehen wir nach Süden“, sagte Toshio entschlossen. „Und wohin da?“ „Keine Ahnung. Aber genau deswegen rechnet vielleicht keiner damit … Unterwegs versuchen wir irgendwie an Geld zu kommen, und dann können wir ...“ „Hörst du das?“ unterbrach ihn Laurin und wurde ganz aufgeregt. „Das ist ein Rabe!“ Jetzt hörte Toshio auch das tiefe Kollern irgendwo über den Baumwipfeln. „Das ist ein gutes Zeichen! Nach Süden ist bestimmt der richtige Weg.“ Laurin reckte den Kopf, um einen Blick auf den Vogel zu erhaschen. Aber die Bäume verdeckten die Sicht. „Ravens Spirit ist bei uns. Dann kann uns nichts passieren.“ Toshio teilte diese Zuversicht nicht und schwieg dazu. Erstens konnte das doch nur Zufall sein. Und ob ein Rabe wirklich ein gutes Omen war, bezweifelte er ebenfalls. Waren Raben nicht Boten des Todes? „Wäre schön, wenn Ravens Spirit etwas für meine Füße tun könnte“, sagte er trocken. „Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, weit zu kommen, egal ob nach Süden oder Norden oder sonst wohin.“ „Oh“, machte Laurin. „Ich kann etwas für deine Füße tun. Lass mal sehen.“ Er hockte sich vor ihn und betrachtete kritisch seine Fußsohlen. „Oh je. Das muss ja ganz schön weh tun.“ „Was du nicht sagst“, seufzte Toshio. „Merkst du deine Füße gar nicht?“ „Nö. Ich laufe im Sommer oft barfuß draußen herum. Man gewöhnt sich daran. Ich werde dich jetzt behandeln. Entspann dich.“ Und er begann, bestimmte Stellen an seinem Körper zu drücken und zu massieren. Toshio, der schon zuvor mit Akupunktur oder Akupressur behandelt worden war, hatte längst aufgegeben, sich zu fragen, was Punkte an seinen Ohren oder an den Fingern mit seinen Füßen zu tun haben sollten, lehnte sich zurück und ließ Laurin machen. Als dieser genug an ihm herum gedrückt hatte, formte er vor seinen Fußsohlen schwungvolle Muster mit den Händen in der Luft und summte dabei eine Melodie vor sich hin. Schließlich verstummte er wieder und hielt nur seine Handflächen vor Toshios Füße, ohne sie zu berühren. Dennoch hatte Toshio das Gefühl, dass seine Füße warm wurden und zu pulsieren anfingen. Es war nicht so, dass Toshio nicht an alternative Heilmethoden glaubte, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie eine solche Behandlung seine wunde Haut heilen sollte, und war entsprechend skeptisch. Und tatsächlich fühlten sich seine Füße noch genauso wund an wie vorher, als sie weiter gingen. Aber immerhin konnte er weitergehen, was er eigentlich gar nicht mehr für möglich gehalten hätte. Er quälte sich mit jedem Schritt, aber er konnte nach jeder Pause, die sie machten, aufstehen und weitergehen. Laurin behandelte ihn bei jeder Rast, jedes mal ein wenig anders und manchmal nur, indem er auf seiner Flöte, die er unter seinem Hemd bei sich trug, etwas spielte. Und jedes mal fühlte sich Toshio auf eine nicht zu benennende Art gestärkt, und jedes mal ging es weiter. Schnell kamen sie allerdings nicht voran, dazu war Toshio in viel zu schlechter körperlicher Verfassung. Das bisschen Gehen auf dem Gang mit den Physiosklaven, konnte ihn nach den vielen Wochen Bettruhe nicht ausreichend auf eine solche Belastung vorbereiten. Der Sprint den Berg hinauf schien schon alle seine Kraftreserven aufgebraucht zu haben. Sie gingen zunächst denselben Weg zurück, um sich bei der nächsten Möglichkeit nach Süden zu wenden. Das würde vielleicht auch mögliche Verfolger mit Hunden verwirren. Aus demselben Grund wateten sie ein Stück in einem Bachbett entlang. Das kalte Wasser tat Toshios Füßen wohl, die spitzen Bachkiesel hoben diese Wirkung allerdings wieder auf. Danach fühlten sie sich aber bedeutend sicherer. Annecy lag an der nördlichen Spitze eines länglichen Sees, der sich am Rande der Alpen entlang zog. Sie brauchten sich also nur zwischen See und Bergen zu halten, um in südliche Richtung zu gehen. An das Ufer gelangten sie nur selten, meist versperrten Privatgrundstücke den Zugang zum See. Und selbst als sie sich weiter von der Stadt entfernt hatten, wurde es nicht besser. Nun reihte sich ein Ferienhaus an das nächste. Es gelang ihnen, sich Kleidungsstücke von einer Wäscheleine aus einem Garten zu stehlen. Mit Jeans, T-Shirt und Pullover sahen sie viel weniger auffällig aus, auch wenn ihnen die Sachen nicht ganz passten und sie noch immer barfuß unterwegs waren. Schuhe fanden sie leider nicht, dafür aber Tennissocken. Toshio zog sich drei Paar übereinander an. Das machte das Laufen wesentlich erträglicher. Dafür trafen sie bald auf das nächste Problem: Sie mussten einige Ortschaften umgehen, weil ihre Angst zu groß war, gesehen zu werden. Dadurch verloren sie weitere wertvolle Zeit, also gingen sie dazu über, sich nachts vorwärts zu bewegen, weil dann auf den Straßen nicht so viel los war und sie nicht so leicht zu sehen waren, und tagsüber ein Versteck zu suchen, wo sie ausruhen konnten. Toshio sank dann sofort zu Boden, immer mit dem Gefühl, nie wieder die Kraft zu finden, jemals wieder aufzustehen, während Laurin zunächst jeden einzelnen Baum und Strauch und Käfer begrüßte, immer verkündete, sie seien willkommen und dann seinen Schutzkreis machte. Toshio wartete auf den Augenblick, wo sie einmal nicht willkommen wären, und er konnte sich nicht vorstellen, dann bereit zu sein, einen anderen Platz aufzusuchen. Doch anscheinend waren Pflanzen und Insekten sehr gastfreundlich, denn das kam nie vor. Anfangs bewunderte Toshio Laurins Durchhaltevermögen. Während er selbst, sobald er saß, vor Müdigkeit die Augen nur noch schwer offen halten konnte, schien Laurin keine Pause und kaum Schlaf zu benötigen. Sobald er den Platz gesichert hatte, begann er die nähere Umgebung nach essbaren Pflanzen zu durchforsten, und auch wenn es manchmal nur irgendwelche unappetitlichen erdigen Wurzeln waren, die beim Kauen auf den Zähnen knirschten, so hatten sie doch immer etwas zu beißen und etwas im Magen. Toshio war erstaunt, wie viele Blätter, Blüten und Beeren man essen konnte, und war sicher, dass er ohne Laurin irgendwann einfach nicht mehr weiter gekonnt hätte. Schon bald stellte er jedoch fest, dass Laurins Aktivität von großer innerer Unruhe angetrieben wurde. Als er das erste Mal richtig zur Ruhe kam, schreckte er mit einem gellenden Schrei aus dem Schlaf. Toshio, der vor sich hin dösend Wache gehalten hatte, schreckte hoch und kroch sofort zu ihm. „Was ist denn? Laurin? Was hast du denn?“ „Nein! Nein! NEIIIIIN!“ Erleichtert begriff Toshio, dass er wohl träumte. Seine heftigen Abwehrbewegungen ignorierend, schüttelte er ihn sanft wach. Laurin schlug die Augen auf und starrte ihn orientierungslos an, das Entsetzen des Traumgeschehens noch im Angesicht. Es dauerte einen langen Moment, bis sich sein Blick klärte. Da Toshio wusste, wie real einem ein Traum vorkommen konnte, streichelte er ihn beruhigend und murmelte: „Es ist alles gut, alles gut, es war nur ein Traum, nur ein Traum, es ist vorbei alles gut.“ Zu seiner Überraschung brach Laurin bei seinen Worten in Tränen aus. Hilflos rückte Toshio noch näher zu ihm und wartete geduldig. So oft hatte Laurin das für ihn getan: Einfach nur da sein. Es dauerte auch nicht lange, bis das Schluchzen wieder verebbte. „Er fehlt mir so“, flüsterte Laurin schließlich und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Er zog die Nase hoch und fügte entschuldigend hinzu: „Er war immer für mich da in all der Zeit und hat mich immer beschützt … Es hat ihn nie gestört, wenn ich … also … Ich hatte früher oft diese Träume. Am besten konnte ich schlafen, wenn ich neben ihm lag … Ich kann immer noch nicht begreifen, dass ich ihn nie wieder sehen werde ...“ Darüber solltest du froh sein , dachte Toshio, dem klar war, dass hier nur die Rede von Raven sein konnte. Er selbst konnte einfach keine Sympathie für den Doktor aufbringen, aber er wusste, was er für Laurin bedeutete, und er wusste, wie sich ein Verlust anfühlte. Darum behielt er seinen Gedanken für sich und sagte stattdessen (und hoffte, dass es stimmte): „Du fehlst ihm bestimmt auch. Und wenn ihm wirklich etwas an dir liegt, dann unterstützt er dich so gut es kann auch jetzt noch. Und wer weiß – vielleicht seht ihr euch eines Tages ja doch wieder, irgendwann, wenn du in Sicherheit bist.“ „Das wäre schön“, seufzte Laurin. „Und unterstützen tut er uns schon die ganze Zeit. Du hörst den Raben doch auch.“ Ja, aber für Toshio war das nur ein Rabe, der vor sich hin krächzte und dem sie hundertprozentig herzlich egal waren. Kein Zeichen, er lebte eben zufällig in dem Wald, an dem sie entlang wanderten. Er hatte eher gemeint, dass der Doktor Pascal vielleicht besänftigen oder auf eine falsche Fährte locken könnte. Trotzdem ließ er oft Laurin entscheiden, welchen Weg sie einschlagen und wann und wo sie rasten sollten. Er hielt es für eine gute Idee, ihre Flucht so unvorhersagbar wie möglich zu gestalten, solange sie nur die grobe Richtung nach Süden beibehielten, die ja auch keinen Sinn ergab. Sollte doch Pascal die Grenze nach Deutschland und in die Schweiz absuchen lassen, während sie mal dem Ruf des Raben, mal dem Flug eines Marienkäfers, mal dem Winken einer Blume folgten. Laurins Fantasie schien in Bezug auf Botschaften unbegrenzt zu sein. Und doch fühlte sich diese Vorgehensweise auf eine unsinnige Art gut an. Immerhin war es der dritte Tag in Freiheit, und sie waren noch nicht geschnappt worden. „Ja, ich höre den Raben“, gab Toshio zu. „Der ist ja auch kaum zu überhören. Aber von jetzt an werde ich auf dich aufpassen, hörst du? Ich kann neben dir liegen, wenn du schläfst, bis du keine Alpträume mehr hast und mich nicht mehr brauchst. Ich werde dich nicht im Stich lassen, niemals. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, Laurin. Was du für mich getan hast, und noch immer tust, dafür stehe ich für immer in deiner Schuld. Das werde ich dir nie vergessen.“ „Naja“, machte Laurin verlegen. „Muss ja nicht gleich für immer sein.“ Er grinste schief. „Nein, im Ernst, du stehst gar nicht in meiner Schuld. Erstens hab ich es ja nicht nur für dich getan, sondern auch für mich. Und zweitens habe ich mich erst ganz schön spät dazu durchgerungen. Fast zu spät ...“ Toshio schüttelte den Kopf. „Ich hätte dich gar nicht darum bitten dürfen, mir zu helfen. Aber das ist mir erst klar geworden, als du bereit dazu warst.“ Und er hoffte, dass Laurin nicht zu viel dafür geopfert hatte. Wenn sie wieder eingefangen werden würden … Doch er verbot sich sofort, den Gedanken weiter zu denken. Im Hier und Jetzt bleiben. Hier saßen sie, und die Mittagssonne wärmte sie. Jetzt waren sie frei. „Es ist okay, wirklich“, sagte Laurin. „Raven fehlt mir, und ich habe Angst. Die alten Träume kommen wieder, aber im Grunde sagt mir das, dass alles richtig ist, wie es ist. Auch Pan sagt mir immer wieder, dass mein Platz hier bei dir ist.“ „Pan sagt das? Wer ist Pan?“ „Na, Pan, mein Drache.“ „Dein Drache?“ „Mein Krafttier! Hörst du mir eigentlich nie zu, wenn ich dir was erzähle?“ „Doch, natürlich ...“ Manchmal hatte er ihm in der Vergangenheit allerdings tatsächlich nicht richtig zugehört. Wie auch, wenn er Pascals lüsterne Blicke auf sich spürte und wusste, dass ihn nach dem Besuch des Arztes und Laurin noch eine furchtbare Session erwartete. Oder eine solche bereits hinter ihm lag und sein Körper noch ein einziger Schmerz war. Da gab es eben wichtigeres als die Namen irgendwelcher imaginärer Freunde. „Pan ist mein bester Freund“, erklärte Laurin indes weiter. „Du musst deinen Hirschen auch endlich mal nach seinem Namen fragen. Das gibt eurer Beziehung noch einmal eine ganz besondere Tiefe.“ Toshio hatte nicht vor, noch einmal so tief zu sinken, dass er wieder Hirschhaluzinationen bekommen würde. Er fand es auch Verschwendung, dass Laurin trotz ihrer ständig knurrenden Mägen immer etwas von ihrem Essen beiseite legte – für ihre Krafttiere, für die Ortsgeister, für die Baumelfen, für was auch immer. Doch egal, wie groß sein Hunger auch war, er war abergläubisch genug, den Geistern ihre Opfergaben nicht wieder wegzunehmen. Das konnte nur Unglück bringen. Und wenn es Laurin beruhigte … satt würden sie sowieso nicht werden. „Und du unterhältst dich richtig mit ihm? So wie wir gerade reden?“ „Natürlich. Also – in meinen Gedanken. Richtig hören kann ich ihn natürlich nicht. Aber ich weiß trotzdem, was er sagt. Kannst du das nicht?“ „Hm.“ Toshio konnte sich natürlich erinnern, dass der Hirsch zu ihm auch schon gesprochen hatte. Aber das waren doch Hirngespinste gewesen, konnte doch nichts anderes gewesen sein als ein Anzeichen für seinen einsetzenden psychischen Verfall, vielleicht die Reaktion auf die fortwährende Gehirnwäsche, der er ausgesetzt gewesen war. Jetzt keimte ein ungeheuerlicher Verdacht in ihm auf: „Sag mal … du hast aber nicht mit ihm unsere Flucht geplant? Mit Pan?“ „Ähm. Ja, doch. Mit wem denn sonst?“ Laurin hatte wenigstens den Anstand, ein wenig verlegen drein zu blicken. Fassungslos schwieg Toshio. So etwas Wichtiges, diesen Plan, von dem ihr Überleben abhing, hatte Laurin lieber im Geiste mit einem Fabelwesen besprochen als mit ihm? Ein Wunder, dass sie überhaupt so weit gekommen waren! Und kein Wunder, dass sie ohne Geld, ohne Schuhe und nur mit Bäumen und Raben als Verbündete unterwegs waren! Einen Moment lang dachte er, dass er jetzt wütend werden müsste. Aber dann lachte er. Er lachte so lange, bis ihm Tränen aus den Augen rannen und Laurin sich beleidigt von ihm abwandte. In der darauffolgenden Nacht jedoch sollte ihm das Lachen vergehen. Es fing damit an, dass es zu regnen begann, kaum dass sie losmarschiert waren. Bislang war ihnen das Wetter hold gewesen, und es war unangenehm, wie der kalte Regen langsam die Kleidung durchnässte. Es musste an diesem klammen, nassen Gefühl liegen, vielleicht auch an der Befürchtung, dass sich nun mit dem Wetter ihr Glück wenden könnte, dass Toshio unangemessen heftig reagierte, als Laurin an einer Weggabelung mit einem Mal wieder Richtung Norden gehen wollte. Sie hatten gerade das Südufer des Sees hinter sich gelassen, und jetzt wollte Laurin ernsthaft den Weg nach Annecy zurück einschlagen. Der ganze allmählich angewachsene Unmut über Geisterfreunde, esoterisches Gehabe und Opfergaben, die an Baumwurzeln verschwendet worden waren statt ihre stets hungrigen Mägen zu füllen, entlud sich nun über Laurin. Toshio hörte nur, wie er etwas mit „Drache“ sagte und dann dorthin deutete, von wo sie versuchten fort zu kommen, und dann explodierte er einfach. „Mir reicht es jetzt mit deinen verdammten Geistwesen und angeblichen Zeichen! So ein ausgekochter Schwachsinn! Wir gehen weiter nach Süden, und ich will keine weitere Diskussion darüber! Komm!“ „Aber … hier steht doch sogar sein Name! Da: „Pans Lieder“. In Annecy. Wir müssen zurück, ganz sicher!“ „Das ist mir sowas von scheißegal“, schimpfte Toshio und wollte sich schon abwenden, doch dann drang die Bedeutung der Worte doch noch in sein von schlechter Laune umwölktes Bewusstsein. „Was hast du da gesagt? Pans Lieder ?“ „Ja, sieh doch“, antwortete Laurin und deutete auf ein großes Pappschild, das an dem Häuschen einer Bushaltestelle geheftet war und das anscheinend Werbung für ein Mittelalterfest oder etwas ähnliches machte. Warum mitten im Wald eine Bushaltestelle war, fragte sich Toshio kurz. Vielleicht waren hier Wanderwege oder irgendein Ausflugsziel. Jedenfalls waren da Ritter in silberner Rüstung abgebildet, Gaukler mit Narrenkappe und ein Feuerspucker mit bloßem Oberkörper. Und natürlich ein Drache, der das Plakat von oben umrahmte und der Laurins Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Toshio interessierte jedoch nur eins: Am rechten Plakatrand, in der Liste der auftretenden Musiker ganz unten stand tatsächlich „Pans Lieder“. Seine Finger folgten ungläubig den vertrauten Buchstaben, als könne er seinen Augen nicht trauen. „Das kann doch nicht sein … Wieso …?“ stammelte er los und zwang seine Gedanken zur Ruhe. Das Wieso war völlig irrelevant. Wann war wichtig. Und wo. Hektisch flogen seine Augen über das Plakat. „Grand festival médiéval d'Annecy. Transportez-vous hors du temps. Avec grand concert de musique médiévale. Les 25/26 Juin 2016.“ „Welchen Tag haben wir heute?“ fragte er heiser. „Warum? Was ist denn los?“ „Das Datum, Laurin! Der wievielte ist heute?“ „Ich weiß doch auch nicht … Warte mal … wir sind jetzt die dritte Nacht unterwegs. Dann müsste der fünfundzwanzigste sein. Oder der sechsundzwanzigste? Nein, ich glaube wir haben den fünfundzwanzigsten Juni. Also die Nacht vom vierundzwanzigsten auf den fünfundzwanzigsten.“ „Oh, mein Gott! Wir müssen da hin! Schaffen wir das? Wo genau ist das denn?“ Laurin betrachtete das Plakat konzentriert. „Das müsste irgendwo am diesseitigen Rand von Annecy sein, glaube ich. Hier steht „La Puya“. Zumindest ist es am Seeufer. Und wir brauchen ja nur den Schildern mit dem Drachen folgen, schau.“ Tatsächlich war neben der Haltestelle an einem Zaun ein großer Sperrholzpfeil befestigt, auf dem ein Drache hockte über dem Wort „Médiévales“. „Aber ich denke, du willst nicht zurück gehen?“ „Will ich auch nicht. Aber wir müssen. „Pans Lieder sind unsere Rettung, Laurin!“ Begeistert klopfte er dem Jungen auf seine hagere Schulter. „Na los, Marsch, Marsch! Wir haben es eilig.“ Folgsam lief Laurin neben ihm her. Natürlich stellte er nicht in Frage, dass da, wo der Name seines Krafttieres stand, die Rettung war. Neugierig war er aber doch. „Erklärst du es mir?“ fragte er nach einer Weile, in der Toshio nichts gesagt hatte, weil er in Gedanken schon dabei war, ihre Chancen zu kalkulieren, einen Weg an einem Tag zurückzulegen, für den sie zuvor drei Tage gebraucht hatten. Jedoch waren sie da auf der Ostseite des Sees gewesen, hatten große Straßen gemieden und viel gerastet. Jetzt mussten sie sich beeilen, wenn sie ihre Rettung nicht verpassen wollten. Das hieß: keine Pause mehr und keine Umwege. Dann konnten sie es schaffen. Es musste einfach zu schaffen sein! Wenn Toshio wüsste, dass Pans Lieder auch noch am Sonntag anzutreffen wären, hätten sie sogar noch einen Tag mehr Zeit und könnten sich vorsichtiger vorwärts bewegen, aber Toshio wusste, dass die Band in Deutschland manchmal nur ein Konzert am Abend gab. Meistens allerdings spielten die unbekannteren Gruppen über die Markttage verteilt viele kleine Konzerte, wahrscheinlich waren sie also am Sonntag auch noch dort, aber darauf durften sie sich nicht verlassen. Vielleicht waren sie am zweiten Tag auch schon abgereist. Was machten sie überhaupt in Frankreich? Egal, es war jedenfalls ein Glücksfall. Er begann still zu beten: Bitte, Pan, Gott des Waldes, Drachen-Krafttier, wer auch immer, bitte mach, dass sie noch da sind, mach dass wir schnell genug sind, dann opfer ich auch all mein Essen … „Toshio?“ Laurin zupfte zaghaft an seinem Ärmel, weil er nicht reagiert hatte. „Wer ist das, Pans Lieder?“ „Pans Lieder.“ Toshio holte tief Luft. „Das sind vier Musiker, die ich kenne. Die Band von Patricks Bruder. Er wird uns helfen. Ganz bestimmt. Du wirst sie mögen. Die reden auch mit Bäumen und Vögeln.“ Bei dem Gedanken an Oliver und Elin hüpfte sein Herz aufgeregt, und er vergaß für den Moment seine Erschöpfung und sogar seine schmerzenden Füße. Sie legten einen wahren Gewaltmarsch zurück. Toshio war selbst erstaunt darüber, wo er die Energie dafür hernahm. Mehr als einmal dankte er im Stillen seiner alten Ballett-Lehrerin, die ihn gelehrt hatte, trotz Schmerzen und Erschöpfung weiter zu machen. Fast könnte er sogar Pascal noch dankbar sein, der diese Lektion ja auf die Spitze getrieben hatte, doch soweit reichte seine Euphorie dann doch nicht. Da überwog eher die Motivation, niemals wieder zu ihm zurück zu müssen, und auch das trieb ihn über seine Grenzen hinaus. Sie erlaubten sich nur noch kurze Ruhepausen, kamen dadurch nicht mehr dazu, etwas zu essen zu organisieren und hielten sich diesmal an die Hauptstraße, um den möglichst kürzesten Weg zu haben. Toshio beschloss, dass es das Risiko wert war und konnte nur hoffen, dass niemand damit rechnen würde, dass sie so dumm sein könnten, ihren Häschern direkt wieder entgegen zu laufen. Zum Glück führte der parallel verlaufende Fuß- und Radweg meist nicht direkt an der Straße entlang, so dass sie womöglich gar nicht so gut vom Auto aus gesehen werden konnten. Die Ortschaften waren allerdings wieder einmal ein Problem, und an der Hauptstraße trauten sie sich bei Tageslicht dann doch nicht entlang. So verloren sie wertvolle Zeit mit dem Zickzack-Kurs durch kleinere Seitenstraßen. Dabei versuchten sie, möglichst unauffällig auszusehen und auf ihr zu Glück vertrauen. Laurin war sowieso der Meinung, dass Pan seine schützende Drachenpranke über sie hielt, wenn er ihnen schon so deutlich auf Holzpfeilen den Weg wies, und Toshio schwor, dem Drachen ein riesiges drachenwürdiges Festmahl zu opfern, wenn sie Oliver unversehrt und vor allem rechtzeitig erreichen würden. Wieder einmal erwies sich Laurins Gegenwart als wahrer Segen, denn ab und zu spielte er im Gehen auf seiner Flöte, konnte stundenlang vor sich hin summen oder singen und machte so die Strapazen wenigstens zeitweise erträglich, indem er von müden und verkrampften Muskeln und wunden Füßen ablenkte. Ansonsten hielten sie sich mit Unterhaltungen wach und bei Laune. Toshio erzählte alles über Pans Lieder, was ihm einfiel. Wie schön ihr vierstimmiger Gesang war, selbst ohne Instrumente. Wie beeindruckt er immer wieder aufs Neue davon war, dass jeder der vier auf jedem beliebigen Musikinstrument, das man ihnen in die Hand drückte, innerhalb kürzester Zeit wunderschöne Melodien hervor bringen konnte. Auf der Bühne gab Tandavi stets mit diversen Trommeln oder Rasseln den Takt vor, Pearl ließ auf dem Didgeridoo sphärische Klänge ertönen, die der Musik ein exotisches Flair verliehen, Elin spielte zauberhaft auf ihrer Harfe, manchmal auch auf der Drehleier, und Oliver rundete das ganze mit seinem Flötensortiment ab. Er konnte sogar auf zwei unterschiedlichen Flöten gleichzeitig zweistimmig spielen. Das konnte nicht einmal Laurin! Toshio erzählte, wie Elin ihm immer in den Ohren gelegen hatte, doch mit ihnen eine Sommertour zu machen und mit ihnen als besondere Tanz-Bühnenshow-Einlage auftreten sollte, und dass er stets abgelehnt hatte, weil ihm sein Studium wichtiger gewesen war. Und sein verhängnisvoller Job im Spotlight, aber das erzählte er nicht. Hätte er doch bloß seine Wochenenden mit Pans Lieder auf Mittelaltermärkten verbracht, statt den Gogo-Tänzer zu geben, wie viel wäre ihm dann erspart geblieben! Aber Laurin wäre dann noch immer im Labor, und ihn gerettet zu haben, gab im Nachhinein den erlittenen Monaten bei Pascal noch einen Sinn. Laurin erzählte so viel von seinem Leben mit Raven, dass Toshio schließlich eine Ahnung von dem Menschen hinter dem Doktor bekam. Doch auch wenn sich Raven anscheinend wirklich gut um ihn gekümmert hatte, war Laurin durch seine Nähe zu Pascal dennoch ständig in großer Gefahr gewesen. Das bestritt er auch gar nicht. Aber der Raven, der mit Laurin Ausflüge in die Natur machte, hatte nichts gemeinsam mit dem Doktor, den Toshio von den sadistischen Partys kannte. Wie Doktor Jekyll und Mister Hyde schien er zwei total gegensätzliche Persönlichkeiten zu besitzen. Oder war das einfach etwas zutiefst menschliches? Es war schließlich nichts Ungewöhnliches, dass jemand ein Kaninchen als Haustier hielt, ihm einen Namen gab und es liebte und verhätschelte und trotzdem Kaninchenfleisch essen oder Tierversuchen an Kaninchen sinnvoll finden konnte. In dem Fall war eben das Kaninchen ein Mensch … Toshio wollte darüber eigentlich gar nicht so tief nachdenken, doch Laurin brachte manchmal das Gespräch auf solch verstörende Themen. So sprach er auch noch einmal die Fistel-Sklaven an. Toshio hatte diese Begegnung inzwischen erfolgreich verdrängt, was er selbst auch ein wenig erschreckend fand. Hatte er doch ursprünglich das alles überlagernde Bedürfnis verspürt, diesen armen Menschen unbedingt irgendwie helfen zu müssen. Doch dann waren andere, dringlichere Probleme in den Vordergrund gerückt. Zunächst musste er seine eigene (und Laurins) Haut retten, was schwierig genug war. Darüber hatte er die anderen komplett vergessen. „Denk nicht, dass mir das Schicksal der Labormenschen egal ist“, sagte Laurin in bedrückter Stimmung während sich am anderen Seeufer über den Bergen ein beeindruckender Sonnenaufgang zeigte. „Aber wir konnten ihnen wirklich nicht helfen. Du hast ihnen ihren Durst gestillt – ja. Aber das wirkt nur für einen kurzen Moment. Wenn dadurch die Versuchsergebnisse verfälscht werden, fängt der Versuch wieder von vorne an und dauert für sie nur insgesamt noch länger. „Trotzdem musste ich das machen“, entgegnete Toshio barsch. „Man kann auch nicht einfach nichts machen.“ Unliebsame Erinnerungen an den Hund aus seiner Kindheit kamen ihm erneut vor Augen. Wir können ihm nicht helfen , hatte seine Mutter immer gesagt, und Yoko weitergezogen. Und Toshio war ihnen mit innerer Gleichgültigkeit gefolgt. Die Scham über sein damaliges Desinteresse ließ ihn viel barscher klingen, als es angemessen war. „Ich kann nicht allen helfen“, verteidigte sich Laurin.„Ich hatte schon genug mit dir zu tun! Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen? Sie alle mitnehmen? Dann hätten wir es niemals bis nach draußen geschafft, die kennen doch nichts anderes als das Labor. Schon in der Parkgarage wären die uns ausgetickt – von hier draußen ganz zu schweigen. Und was hätten sie hier für eine Zukunft? Sie sind extra für die Versuche gezüchtet worden.“ „Was ist denn das für ein Schwachsinn? Du plapperst doch nur nach, was sie dir all die Jahre lang eingetrichtert haben. Du bemerkst die Gehirnwäsche nicht einmal!“ Toshio war genervt und gereizt, am Ende seiner Kraft und unendlich müde. Zu müde, um ein faires Gespräch zu führen. „Ach ja?“ Jetzt war auch Laurin sauer. „Und stimmt es etwa nicht, was Raven mir erzählt hat? Stimmt es nicht, dass auch die Menschen draußen andere züchten, um Versuche mit ihnen zu machen? Ich hab sie doch selbst gesehen, Remarque Pharma hat schließlich auch die Legalen: Ratten, Mäuse, Kaninchen, Meerschweinchen, Katzen, Hunde. Es ist doch total willkürlich zu entscheiden, wen man züchten darf und wen nicht. Wenn die Ratten mitentscheiden dürften, wären sie bestimmt dagegen, für Medikamentenforschung ihr Leben zu geben! Und stimmt es etwa nicht, dass ihr auch Tiere züchtet, um sie zu essen? Ihr züchtet sogar Kuscheltiere! Hast du denen denn geholfen? Hast du?“ „Das ist doch ganz was anderes!“ „Und warum? Doch nur, weil du als Mensch auf der anderen Seite gestanden hast. Du bist auch nicht besser als die Leute, die sich Sklaven halten!“ „Ich hatte nie ein Haustier“, sagte Toshio lahm. Er weigerte sich zwar, den Vergleich zwischen Sklaven und Haustieren hinzunehmen, doch sein eigenes schlechtes Gewissen hielt ihn davon ab, weiter zu diskutieren. Hatte er nicht selbst auch schon solch vergleichende Gedanken gehabt? Aber als Täter wollte er sich nicht sehen! Er dachte an Florences Vergewaltigung und schwieg. Laurin war aber noch nicht fertig. Wahrscheinlich hatte Toshio bei ihm mit den Fistelsklaven eine ebenso wunde Stelle berührt. „Du kannst ihnen ja immer noch helfen. Du kannst es versuchen. Ich habe von einem flüchtigen Laborsklaven gehört, der es bin in die Nachrichten geschafft hat. Aber keiner hat ihm geglaubt, als er von den Versuchen erzählt hat. Für verrückt haben sie ihn gehalten und weggesperrt in eine Klinik für Geisteskranke. Von dort haben sie ihn dann zurück geholt. Er hat gar nichts erreicht.“ „Wahrscheinlich hast du recht“, lenkte Toshio ein. Er stellte sich vor, wie er der Polizei oder der Presse von dem berichtete, was er gesehen hatte. Das war tatsächlich schwer zu glauben. Und dann kam ihm noch ein Gedanke, der seine Wangen heiß werden ließ: Müsste er dann nicht auch erzählen, was ihm selbst widerfahren war? Würde er nicht gefragt werden, wie er dorthin gelangt war? Er erinnerte sich an die Videos, die Pascal mit ihm aufgenommen hatte. Videos, auf denen zu sehen war, wie er nackt und wimmernd und mit hoch aufgerichtetem Penis in Pascals Bett lag … An dieser Stelle musste er seine Überlegungen abbrechen. Er würde niemals jemandem davon erzählen können, er konnte nicht einmal daran denken , es jemandem zu erzählen. Er schämte sich zu sehr. Sie gingen schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. „Toshio?“ brach Laurin schließlich vorsichtig das Schweigen. „Hm?“ „Ich hätte dich nicht mit Menschen wie Monsieur Remarque vergleichen sollen. Das war falsch.“ „Schon okay. Wir Menschen können alle ziemliche Arschlöcher sein. Und ich habe mich wirklich nie für andere engagiert. Weder für andere Menschen, noch für Tiere oder die Natur. Ich habe nicht mal Fairtrade oder Bio eingekauft. Ich bin der letzte, der dir mangelnde Hilfsbereitschaft vorwerfen darf. Tut mir leid. Magst du was singen? Ich könnte im Gehen einschlafen ...“ „Na klar. Was bestimmtes?“ „Irgendwas Schönes. Was für's Herz, das könnte ich jetzt gebrauchen.“ Laurin überlegte kurz und begann dann etwas Indisches zu singen. Der Text war kurz, nur vier Worte, die mit zwei Melodien immer wiederholt wurden. Toshio lauschte eine Weile und unterbrach dann: „Was ist das?“ „Ein Mantra. Ein gesungenes Gebet. Übersetzt lautet es: Mögen alle Geschöpfe in allen Welten glücklich sein.“ „Das ist schön.“ „Ja.“ Toshio fiel in das Gebet mit ein. Sie erreichten das Mittelalterfest tatsächlich noch rechtzeitig. Zumindest war das Fest noch im Gange. Es musste am frühen Nachmittag sein, als sie endlich ankamen. Ein Samstag wahrscheinlich, solche Veranstaltungen waren ja meist am Wochenende. Viel zu müde, um noch klar denken zu können, steuerte Toshio direkt den erstbesten Eingang an. Dazu mussten sie sich nur an den vielen Menschen orientieren, die auf dem Fußweg an ihnen vorbei flossen, je näher sie ihrem Ziel kamen. Die meisten kamen ihnen schon entgegen, viele Familien mit Kindern. Einige waren aber auch wie sie auf dem Weg zum Markt, manche davon in mittelalterlicher Aufmachung, alle aber schneller als sie. Toshio war so erschöpft, dass er schon nicht mehr scharf sehen konnte, und seine schwachen Beine machten jeden Schritt zu einer Qual. Ein brachliegendes Feld war zum Parkplatz umfunktioniert worden, und obwohl dort nur zwei Parkplatzwärter in Warnwesten standen, wandten die Jungen ihr Gesicht ab und hasteten klopfenden Herzens vorbei. Schon stieg Toshio der vertraute Geruch nach Holzfeuer in die Nase, Trommeln und eine Dudelsackmelodie tönten ihnen verheißungsvoll entgegen. Er kannte das gut, Patrick hatte ihn auf einige Märkte mitgenommen, vor allem auf solche, wo Pans Lieder auftraten. Toshio hatte vorher von solchen Veranstaltungen noch nichts gewusst. Alles war auf das Mittelalter abgestimmt: die Händler, die Künstler und Schausteller, alle trugen mittelalterlich anmutende Gewandung, Getränke wurden in Tongefäßen ausgeschenkt, altes Handwerk wurde gezeigt und allerlei Gaukelei. Ritterspiele und abends die Show mit den Feuerschluckern waren die Höhepunkte dieser Feste. Und natürlich die Musik! Toshio liebte all diese verrückten Gruppen, die moderne Musik mit uralten Instrumenten kombinierten. Er mochte sogar diese kleinen Bands, oft nur aus Dudelsack und Trommel bestehend, die irgendwie alle gleich klangen und die immer gleichen Melodien in unterschiedlicher – und manchmal miserabler – Qualität vortrugen. Diese Art der Musik hatte einfach ihren ganz eigenen Charme und war untrennbar mit schönen Erinnerungen verknüpft: mit Patricks einzigartiger Art, ihn zu lieben und sich mit netten Leuten zu umgeben, die ihn akzeptierten. Die Auftritte von Pans Lieder waren immer die kleinen privaten Höhepunkte auf dem Marktgeschehen, und Patrick platzte schier vor Stolz, seinen Bruder auf der Bühne zu sehen. Er wollte natürlich keinen einzigen Auftritt verpassen, und wenn die Band über den Tag verteilt viele kleine Konzerte gab, gerieten sie manchmal regelrecht in Terminstress, jedesmal wieder rechtzeitig vor der Bühne zu sein. Toshio konnte sich an das große mittelalterliche Spektakulum in Hamburg Öjendorf erinnern, wo sie es nicht einmal schafften, sich den gesamten Markt anzuschauen, weil sie auf dem riesigen Areal ständig die Uhr im Auge behalten mussten, um pünktlich vor Konzertbeginn wieder vor der Bühne zu stehen. Und er konnte sich an einen verregneten Nachmittag im Schlosspark Bückeburg erinnern, wo sie vor der Bühne die einzigen Zuhörer gewesen waren. Besonders da merkte man Oliver und seinen Freunden an, dass sie einfach Freude an ihrer Musik hatten und nicht um des Profits wegen spielten. Er fand, es war einer ihrer besten Auftritte gewesen, was vielleicht auch daran lag, dass er das Gefühl hatte, sie spielten nur für sie beide. Toshio mochte sie alle: den hünenhaften Pearl, dessen Stimme so tief wie seine Haut dunkel war. Und er konnte die schönsten Obertöne erklingen lassen. Der absolute Kontrast zu ihm war Elin mit ihren hellblonden Haaren und ihrer glockenklaren hohen Stimme. Dazu kamen Olivers sanfte, bardenhafte Art zu singen und Tandavis volle Altstimme. Ihre Lieder bestanden oft nur aus wenigen Worten, ähnlich der Gebetslieder, die Laurin auf ihrer Wanderung gesungen hatte, manchmal sogar nur aus Tönen oder gleich ganz Instrumental, aber mit fünf verschiedenen Melodien, die das Lied in Strophen aufteilten. Aus dem Einfallreichtum eines einzigen ihrer Lieder könnte ein anderer Musiker ein halbes Album füllen. Bei der Aussicht, diese vier besonderen Menschen gleich wieder zu sehen, klopfte Toshios Herz in Vorfreude schneller, und er fühlte sich wieder wach, wenn auch vor Übermüdung wie in Trance. Und wenn er sich dann vorstellte, sie womöglich verpasst zu haben, wurden seine Knie ganz weich. Dann wäre es ein Riesenfehler gewesen, wieder in Richtung Annecy gelaufen zu sein. Er hatte keine Ahnung, was sie dann tun sollten. Der Markt war schön gelegen: Direkt am Stadtrand von Annecy auf einer großen, von sachten Hügellinien gezeichneten Wiese, auf der vereinzelte Baumgruppen Schatten spendeten. Das Seeufer bildete eine natürliche Begrenzung auf der einen Seite, ein Flusslauf hielt auf der anderen Seite nichtzahlende Besucher fern, der Rest war mit einem nicht sehr mittelalterlichen Drahtgestell abgesperrt, das aber wenigstens großteils mit grobem Stoff überzogen war. Toshio überlegte gar nicht erst, sich über den Fluss oder den See einzuschleichen, er kam auch nicht auf die Idee, nach Elins altem verbeulten VW-Bus Ausschau zu halten, er konnte nur daran denken, dass Pans Lieder einfach da sein mussten , weil … weil … Weil es einfach keinen Plan B gab. Gemeinsam mit einem Grüppchen junger Leute, die ganz und gar nicht nach Mittelalter, sondern eher nach Massentourismus aussahen, kamen sie am Eingangsbereich an. Den Tisch zu ihrer Rechten, hinter dem eine Kassiererin saß, bemerkte Toshio gar nicht, ebenso wenig achtete er darauf, dass die jungen Leute alle eine Eintrittskarte und einen Stempel auf ihrer Hand vorzeigten, als sie den Markt betraten. Nicht einmal, als der Mann am Eingang sich ihm in den Weg stellte und irgendetwas auf Französisch zu ihm sagte, kam er darauf, dass der Markt Eintritt kostete. Erst als der Mann auf die Kasse deutete, begriff Toshio, dass sie eine Eintrittskarte benötigten. Und dass sie kein Geld hatten. Und nicht einmal Französisch sprachen. „Oh, bitte, wir wollen nicht auf den Markt, wir wollen nur zu Pans Lieder, versuchte er auf Englisch zu erklären. Laurin verkroch sich hinter seinem Rücken. „Verstehen Sie? Wir sind keine Besucher. Wir gehören zu der Musikgruppe Pans Lieder, wir müssen nur kurz mit ihnen sprechen, dann gehen wir gleich wieder.“ Der Typ schien nicht zu verstehen, jedenfalls antwortete er nicht gerade freundlich auf Französisch. Vielleicht hatte er auch nur keine Lust, sich mit zwei abgerissenen Gestalten auf eine Diskussion einzulassen. Sie mussten aussehen wie zwei Bettler, mit ihren schmutzigen Klamotten, wunden Füßen, und Zeit zum Waschen hatte Toshio ihnen auch nicht gerade gegönnt auf ihrem Marsch hierher. „Wir sind Musiker“, behauptete Toshio und versuchte, möglichst selbstbewusst aufzutreten. „Wir … wir hatten einen ... so etwas wie einen Unfall. Sie können jemanden von Pans Lieder her holen, die kennen mich, dann werden Sie sehen … Oder rufen Sie sie wenigstens an, ich ...“ Er wurde von einem schrill kreischenden Flötenton unterbrochen, der hinter ihm erklang. Laurin hatte seine Flöte gezückt und spielte nach diesem missglückten Auftakt, der nur zeigte, wie aufgeregt er anscheinend war, ein paar kurze virtuose Melodien. Trotzdem reichten die paar Takte schon, dass sich die an den Ständen in der Nähe stehenden Menschen zu ihnen umdrehten. Sowieso hatte sich hinter ihnen schon eine kleine Schlange gebildet, die darauf wartete, dass es am Eingang endlich weiter ging. „Sie können uns glauben“, fügte Laurin seiner Darbietung hinzu, allerdings so leise, dass Toshio bezweifelte, ob das noch jemand anderes hören konnte, der nicht direkt neben ihm stand. Der Ordner jedenfalls blieb unbeeindruckt. Mit einer Hand hielt er sein Handy ans Ohr, mit der anderen griff er nach Toshios Arm, um ihn vom Eingang weg zu führen. „He! Nicht anfassen!“ protestierte Toshio und versuchte ihn abzuschütteln, was zu einem kleinen Handgemenge führte, in dessen Folge sowohl das Handy als auch Toshio zu Boden gingen. Drei Männer in mittelalterlicher Gewandung eilten herbei, und einen Moment dachte Toshio schon, sie würden sich auf ihn und Laurin stürzen, aber dann ging auf einmal eine Frau dazwischen und redete schnell und französisch auf den Ordner ein. Dann half sie Toshio aufzustehen und ein paar Schritte zur Seite zu gehen. Sie trug ein grün und gelbes Kleid, dessen Ärmel so lang waren, dass sie fast den Boden berührten. Ihr dunkles Haar war in zwei Zöpfe geflochten, die sie zu Schnecken rechts und links am Kopf festgesteckt hatte. „Ich gehe Pans Lieder Bescheid sagen“, sagte sie auf Englisch. „Sagen Sie ihnen, dass Toshio Hilfe braucht“, entgegnete Laurin. „Toshio“, wiederholte sie, und dann verschwand sie genau so schnell im Marktgetümmel wie sie aufgetaucht war. Fluchend hob der Ordner sein Handy auf und winkte die anderen Besucher durch, ohne die beiden allerdings aus den Augen zu lassen. Ob er mit seinen Kollegen oder mit der Polizei telefonierte, wusste Toshio nicht zu sagen. Vielleicht ging er ja sogar seinem Vorschlag nach und versuchte, jemanden von den Musikern zu erreichen. Aber sein Gesichtsausdruck sah so unfreundlich aus, dass er letzteres für eher unwahrscheinlich hielt. Ihnen blieb nichts weiter übrig als zu warten. Der Geruch von gebratenem Fleisch stieg Toshio in die Nase und ließ ihn bewusst werden, wie hungrig er war. Seine Beine wurden ganz schwach, und er ließ sich auf den Grünstreifen am Wegrand sinken. Laurin schien es ähnlich zu gehen, denn er setzte sich neben ihn und sagte: „Hoffentlich haben sie etwas zu essen für uns.“ „Bestimmt. Du wirst sehen. Das sind die nettesten und hilfsbereitesten Menschen, die ich kenne. Gleich haben wir es geschafft“, antwortete Toshio und hoffte inständig, dass es auch wirklich so war. „Ja“, sagte Laurin, und dann schwiegen sie. Er konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, als er Laurin neben sich zischend einatmen hörte. „Oh, nein … Sieh jetzt nicht zur Straße, da hält gerade ein Polizeiwagen!“, flüsterte er nervös. Natürlich warf Toshio trotzdem einen Blick in die Richtung, und tatsächlich: Am Straßenrand stand ein Fahrzeug der Gendarmerie, und gerade öffneten sich die Türen und zwei Uniformierte stiegen aus. Sein Herz begann zu galoppieren, und er wollte aufspringen, aber Laurin fasste ihn am Ärmel und hielt ihn fest. „Ganz ruhig bleiben! Wir dürfen nicht auffallen“, warnte er, doch das Zittern in seiner Stimme verriet, dass er selbst ebenfalls alles andere als ruhig war. „Und schau da nicht hin – du fällst schon durch dein asiatisches Gesicht auf.“ „Okay ...“ Toshio zwang sich, sich abzuwenden. „Was tun sie?“ Es könnte ja auch sein, dass sie nur irgendeinen Falschparker zur Ordnung rufen wollten. Obwohl eine Wiese als Parkplatz ausgewiesen war, parkten die Leute natürlich auch überall an der Straße, um sich die Parkgebühr zu sparen oder um den Weg abzukürzen. Aber ihr Vorrat an Glück schien inzwischen aufgebraucht. „Sie kommen her“, sagte Laurin mit rauer Stimme. Toshio stöhnte auf. Was jetzt? Was tun? Wohin? Und wie? Seine Gedanken rasten, und er bekam keinen einzigen von ihnen zu fassen. Laurin war schneller als er. „Du bleibst hier sitzen. Deine Freunde kommen gleich. Ich lenke die Polizei ab.“ Und damit machte er auch schon Anstalten, aufzustehen. „Nein, Laurin! Nicht!“ Toshio fasste sein Handgelenk und hielt ihn fest. „Ich habe dich frei gelassen. Sei frei“, sagte Laurin und sah ihn tief an mit seinen grünen Augen. Und dann riss er sich los und sprang auf in einer einzigen fließenden Bewegung, deren Entschlossenheit Toshios Griff nichts entgegen zu setzen hatte. Einzig Laurins Armband gab nach und blieb an seinen Fingern hängen. Aufrecht und ohne zu zögern schritt er den Polizisten entgegen. Toshio wollte ihm hinterher, ihn aufhalten, doch als er auf die Füße kam, ließ ihn sein Kreislauf im Stich. Sein Blickfeld schwärzte ein, und seine Beine gaben unter ihm nach. Das nächste, was er sah, war ein fremdes Gesicht, das sich besorgt über ihn beugte. Ein Frauengesicht, und es formulierte Wörter, die er nicht verstand. Das nachlassende Klingeln in seinen Ohren verriet ihm, dass er ohnmächtig geworden war. Früher kannte er das gar nicht, aber dank Pascal hatte er auf diesem Gebiet reichlich Erfahrung sammeln dürfen. Irgendjemand hielt seine Beine hoch. Auch eine Frau. Vielleicht hatten Frauen weniger Hemmungen, einen stinkenden und schmutzigen Fremden anzufassen. Die andere Frau redete immer noch unverständlich auf ihn ein, aber er erkannte jetzt immerhin schon wieder, dass sie Französisch sprach. Ihr Tonfall änderte sich, als sie bemerkte, wie das Bewusstsein in seine Augen zurückkehrte. Flucht, Mittelaltermarkt, Polizei. Laurin! Wie lange war Toshio weg gewesen? Er drehte den Kopf und sah Laurin vor den beiden Polizisten stehen. Er stand mit dem Rücken zu ihm und redete anscheinend eindringlich auf sie ein. Es waren große Männer, die den Jungen um einen Kopf überragten. Sie sahen nicht einmal unfreundlich aus, trotz der brutal aussehenden Stiefel und der Schlagstöcke an ihrem Gürtel. Toshio meinte sogar bei einem ein Pistolenhalfter zu sehen. Was sollte er tun, sollte er zu ihm laufen? Was erzählte Laurin ihnen da bloß? Würde es denn helfen, zu ihm zu gehen oder würden sie dann nur beide gefasst werden? Und konnte er überhaupt aufstehen oder würde er nur gleich wieder umkippen? Während er noch überlegte, führten die beiden Männer Laurin zu ihrem Wagen. Einer der beiden blickte vorher noch aufmerksam zum Eingang des Marktes, und Toshio wandte rasch sein Gesicht zur Seite. Laurin!, rief er stumm. Warum hast du das getan? Das war falsch! Er musste zu ihm, versuchen, ihn zu schützen! Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, doch die hilfsbereite Frau schaffte es ohne Probleme, ihn daran zu hindern. Dabei lächelte sie freundlich und sagte etwas Beruhigendes. Er spürte, wie eine Träne aus seinem Auge lief und hob den Arm, um sein Gesicht zu bedecken, da bemerkte er, dass er noch immer Laurins Kettchen in den Fingern hielt. Beim Anblick von diesem Schmuckstück, zierliche Blattornamente und schwarze glänzende Steine, das er bislang immer nur an Laurins Handgelenk gesehen hatte, konnte er nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken. „Toshio? Oh, mein Gott“, hörte er eine bekannte Stimme. Eine ebenso bekannte Gestalt schob sich in sein Blickfeld. Schlank, fast hager, blonder Zopf und blaue Augen, schwarze, sehr weite Stoffhose und ein schwarzes Hemd, das den Blick auf eine unbehaarte Brust offen ließ. Er kniete sofort neben ihm nieder. „Oliver ...“, flüsterte Toshio schwach. „Was ist denn mit dir passiert?“ „Hilf mir, bitte. Bring mich hier weg. Schnell.“ „Oh … okay.“ Ohne weitere Fragen zu stellen, half ihm Oliver auf die Beine und stützte ihn. Patricks Bruder war tatsächlich so hilfsbereit, wie Toshio ihn in Erinnerung hatte. Warum war er nur nicht ein paar Minuten früher gekommen? Oliver wechselte ein paar freundliche Worte mit den Frauen, die erste Hilfe geleistet hatten und auch mit dem Ordner vom Eingang. Jetzt, viel zu spät, ließ dieser Toshio passieren. Obwohl er sich nicht mehr umdrehte, waren Toshios Gedanken die ganze Zeit bei Laurin. Was würde jetzt mit ihm geschehen? Was für eine Strafe erwartete ihn? Würde Doktor Connor ihn weiterhin schützen können? War es falsch, jetzt mit Oliver fort zu gehen und den Jungen allein einer ungewissen und wahrscheinlich grauenvollen Zukunft zu überlassen? Natürlich ist es falsch, brüllte alles in ihm. Aber Laurin hatte gesagt: Sei frei. Genau deswegen war er den Polizisten entgegen gegangen. Es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, er war freiwillig gegangen, und seine Stimme hatte nicht mehr gezittert bei diesen letzten Worten. Er war sich sicher gewesen. Er hatte sich entschieden, auf welcher Seite er stand. Und selbst, wenn Toshio mit ihm gemeinsam zurück ginge, würde er ihm nicht beistehen können bei dem, was ihm jetzt bevorstand. Oder war er einfach nur feige und ließ ihn im Stich? Würde Laurins Bestrafung milder verlaufen, wenn Toshio mit ihm gemeinsam zurück gebracht wurde? Elin kam ihnen entgegen gelaufen. Ihre langen Locken leuchteten golden in der Sonne und erinnerten Toshio schmerzlich an Laurins Haare. Sie war im Bühnenoutfit, trug ein langes, figurbetonendes Kleid und hatte Bänder und Blüten in ihr Haar geflochten. Sie stutzte, als sie sie sah und schaute suchend an ihnen vorbei. „Bist du allein?“ fragte sie außer Atem und ohne Begrüßung. „Wo ist der andere?“ „Welcher andere?“ fragte Oliver. Toshio wagte jetzt doch noch einen Blick zurück. Er sah gerade noch den Wagen aus seinem Sichtfeld verschwinden. Er meinte, Laurin auf der Rückbank gesehen zu haben. Goldenes Haar. Du bist so mutig, sandte er ihm in Gedanken hinterher. Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne. Viel mutiger als ich. Ich werde deinen Wunsch erfüllen. Frei sein. „Da ist keiner mehr“, sagte er heiser. „Ich bin allein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)