Christopher und Ich von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 47: 47 -------------- 47   Im ersten Moment, als ich dem unbekannten Mann nur einige Sekunden lang ins Gesicht schauen kann, weil dieser so schnell an mir vorbeirauscht, habe ich fast einen Herzinfarkt – weil meine Augen mir vorgaukeln, das sei Adrian. Doch als ich die vorbeiblitzende Realität abgeglichen habe mit den Bildern von dem Italo-Macho, die ich ja leider gesehen und daraufhin mental abgespeichert habe, wird mir schnell bewusst: Das ist definitiv nicht der Ex von Christopher. Das ist kein Italiener mit Cappuccino-Teint. Die Haut des Unbekannten ist hell, fast schon blass, und auch sein Gesicht gleicht in keiner Weiser Adrians. Das einzige, was diese zwei Kerle gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass man sie als attraktiv beschreiben kann – beziehungsweise sogar leider als solche führen muss.   Aber diesen Mann, der nun in unserer Diele steht, kenne ich schlicht und ergreifend nicht. Ich bin ihm noch nie in der Kanzlei begegnet, habe ihn auf keiner Party kennengelernt und erkenne ihn auch nicht von irgendwelchen Fotos wieder, die mir mein Freund mal gezeigt hat.   Oder… doch?   Zweifel sind geboren, aber ich habe gar keine Zeit, diesen neuen Erkenntnissen nachzugehen, weil ich um mein Leben kämpfen muss. Christopher springt mich nämlich regelrecht von hinten an: Sein schwerer, torkelnder, besoffener Körper prallt gegen meinen Rücken und er lässt seinen Kopf plump auf meine Schulter sinken; sein Kinn bohrt sich dabei unschön in mein Fleisch und sein erhitztes, leicht von Schweiß benetztes Gesicht drückt brüsk gegen meines. Er schlingt seine schweren Arme dabei um meine Brust und krallt sich regelrecht an meinem Shirt fest, um das Gleichgewicht nicht vollends zu verlieren und sich durch seine Attacke auf mich nicht auf die Schnauze zu legen. Seine Schwankungen übertragen sich natürlich auf meine Form und er reißt mich damit fast mit zur Seite um; ich stolpere zwei Schritte nach rechts, schaffe es aber im selben Moment, die Haustür zuzuschlagen, und mich beziehungsweise uns an ihr zu stabilisieren.   Christopher riecht nach ekelhaftem Zigarettenqualm. Nach Bier und Whiskey, und anderem Hochprozentigem, das ich nicht sofort klassifizieren kann, und auch nicht unbedingt klassifizieren möchte. Meine Wortwahl muss ich auch direkt revidieren: Christopher riecht nicht nach all diesem Zeug – er stinkt danach.   Und das erste Mal in meinem Leben bin ich ein wenig von meinem Freund angewidert. Es ist die Mischung aus diesen Gerüchen, und der Art, wie er sich benimmt. Nein, es ist vor allem sein plötzlich nicht mehr existentes Benehmen.   „Das iss Niko!“, posaunt Christopher plötzlich viel zu laut, so als wären der Unbekannte und ich taub, oder er noch in Disco, oder wo auch immer er gerade gewesen ist, und in meinen Ohren scheint es beinahe daraufhin zu klingeln. „Mein Freund!“, erläutert er in selber Lautstärke.   Der Mann mit Karamellaugen lehnt sich mit seinem Rücken gegen die Kommode, wobei er sich ähnlich wie Christopher fast auf die Schnauze legt und das Möbelstück etwas verrückt und unser Festnetztelefon dadurch auf den Boden kracht. Ich zucke bei dem Scheppern zusammen, und er verschränkt die Arme vor der Brust, als er letztendlich doch irgendwie Halt gefunden hat. Seine Augen verengen sich zu Schlitzen, mit denen er zuerst mich skeptisch mustert, und dann Christopher wütend anfunkelt. Mit einer tiefen, etwas heiseren Stimme fährt er meinen Freund an: „Ich dachte, du wärst Single…?!“   …und in diesem Augenblick fühlt es sich so an, als würde mir jemand einen spitzen Gegenstand in die Brust rammen. Mein Herz beginnt unmittelbar massiv zu trommeln und in meinem Hals formt sich ein großer Kloß und mein Freund…   Mein Freund lacht. Laut. Dreckig. Irgendwie überheblich. Es ist ein unangenehmer Laut, direkt an meinem Ohr, stechend und beißend. Ein Geräusch, das mir das Blut beinahe in den Adern gefrieren lässt.   So ein Lachen habe ich aus Christophers Mund noch nie gehört.   Und in dem Moment, in dem ich mich aus seiner beschissenen Umarmung – oder was auch immer dieser Scheiß sein soll – losreißen will, erwidert Christopher etwas auf die Bemerkung des Mannes. „Aaaach, halt doch deine dumme Schnauze, Henning!“, bellt er den Fremden regelrecht an, allerdings immer noch lachend; und mir fällt ein ganzes Bergmassiv vom Herzen, als es ‚Klick‘ in meinem Kopf macht. Auch wenn es verdammt ungewohnt ist, Christopher… so reden zu hören. „Niko! Das iss Henning“, lallt mein Freund vollkommen überflüssig und Karamellauge beginnt nun, Christophers dämliches Lachen zu kopieren.   Ein Teil von mir wundert sich, dass ich überhaupt in Erwägung gezogen habe, Christopher würde fremdflirten und sogar irgendeinen Unbekannten abschleppen – oder mitbringen, um einen spontanen Dreier zu starten, oder was weiß ich. Wahrscheinlich liegt das daran, dass mein Freund sich schon den ganzen Abend so gar nicht benimmt wie mein Freund… und nun passenderweise eben ohne Ankündigung diesen Henning mitgeschleppt hat.   Henning. Sein ehemaliger Kommilitone. Sein neuer Kollege. Herrschsüchtig laut Johanna, und nach Christophers Worten Jessica-Fan. Und so unglaublich ratzevoll wie Herr Lang.   Der Dunkelhaarige, der weiß der Teufel was mit seinem dummen, vermeintlichen Single-Witz eben erreichen wollte, stößt sich von der Kommode ab und torkelt auf mich zu, und mir wird noch einmal deutlich, dass die beiden Männer in einer Gummizelle jetzt viel besser aufgehoben wären als hier. Ich frage mich ernsthaft, wie sie es überhaupt in einem Stück nach Hause geschafft haben. Ein Teil von mir ist auch echt heilfroh deswegen, weil mir etliche gelesene Polizeimeldungen um die Ohren flattern, die von alkoholisierten Mittdreißigern sprechen, die in den See gefallen, vors Auto gelaufen oder umgekippt und in einer Pfütze ertrunken sind.   Ein anderer Teil wird einfach nur noch wütender durch die Erkenntnis, dass Christopher mich für keine wichtige Besprechung über einem zivilisierten Drink versetzt hat – wie er es sonst immer zu tun pflegt, ein Drink und dann ab nach Hause –, sondern für ein riesengroßes, debiles Besäufnis.   Und das entspricht eben so überhaupt nicht seiner Art, dass mir das Ganze sogar langsam etwas Angst macht.   „Nett, dich kennensulernen“, meint Henning nun grinsend wie ein Honigkuchenpferd und streckt mir die Hand zur Begrüßung aus. Und ganz ehrlich: Ich ekele mich ein wenig, ihm meine zu reichen. Aber ich bin ja gut erzogen, und das ist Christophers Kumpel und Kollege, also tue ich es trotzdem – und bereue es sofort, weil Hennings Hand etwas nass und klebrig ist, und ich eigentlich gar nicht wirklich wissen will, was der besoffene Anwalt damit vorher berührt hat…   „…hi…“, grüße ich, die Handfläche an meiner Hose abwischend und bin immer noch verwirrt. Wütend und verwirrt. Ich weiß jetzt zwar, wer der Mann ist. Eine Erklärung für seine Anwesenheit steht allerdings noch aus.   „Das ist mein Niko“, erklärt Christopher erneut, weil er offensichtlich schon wieder vergessen hat, dass er mich erst vor gefühlt fünf Sekunden seinem Studienfreund vorgestellt hat, und drückt mir einen viel zu feuchten Kuss auf die Wange – und bringt uns mit dieser Aktion fast schon wieder zu Fall. Und es wird schlimmer, weil er nicht aufhört, mir schlabbrige Küsse auf die Backe zu drücken, und einen kläglichen Versuch unternimmt, meinen Körper um 90 Grad zu drehen, damit er auch meinen Mund abschlabbern kann. Ich unterbinde das, denn: es ist mir furchtbar unangenehm, vor diesen Karamellaugen mitten im Flur so von Christophers Mund traktiert zu werden – und ja, ich ekele mich immer noch ein bisschen vor Herrn Lang. Was denkt er sich eigentlich dabei?   Die Antwort lautet höchstwahrscheinlich: nichts. Weil das Gehirn meines Freundes mit Alkohol überflutet worden ist. Ich will wirklich nicht wissen, wie viele seiner grauen Zellen heute den hochprozentigen, qualvollen Tod gestorben sind, und was ihn überhaupt dazu veranlasst hat, so viel zu trinken.   Nein – zu saufen.   Mit größter Mühe befreie mich aus der Umklammerung seiner schweren Arme und drücke ihn bestimmt fort von mir. Ich habe fast schon ein schlechtes Gewissen, als mein Freund mich daraufhin völlig verwirrt und sogar ziemlich traurig anschaut. Fast.   „Was iss‘n jetzt mit’m Whiskey?“, verlangt Henning zu wissen, ehe ich etwas zu Christopher sagen kann.   „Wohnzimmer!“, ruft dieser aus, legt seine Hand auf Hennings Schulter und führt seinen Kollegen den Flur hinab in Richtung des eben genannten Raumes. Oder besser gesagt: Er versucht, ihn dorthin zu geleiten. In Wahrheit aber taumeln die beiden Herren in schwarzen Anzügen – die Krawatten längst abgelegt oder verloren, die Hemden zerknittert und zum Teil fleckig und halb aufgeknöpft – den kleinen Korridor hinab und müssen sich an der jeweiligen Wand zu ihrer Seite abstützen. Bilder fliegen hinunter und der kleine Teppich verrutscht.   „Was zur Hölle…“, murmele ich genervt, verdrehe die Augen und folge diesen Affen, die Spuren des durch ihnen hinterlassenen Chaos direkt beseitigend. Immerhin habe ich jetzt teilweise eine Antwort auf meine Frage erhalten, was der volltrunkene Henning um Mitternacht eigentlich bei uns zu suchen hat: Die Herren wollen offensichtlich weitersaufen. Grandios.   Als ich das Wohnzimmer mit minimaler Verspätung betrete, hervorgerufen durch das Aufsammeln der Gott sei Dank nicht beschädigten Bilderrahmen und Co, sitzt Henning bereits auf dem Sofa, sein Anzugsjackett einfach auf den Boden gepfeffert, und Christopher, nun ebenfalls obenrum nur noch im aufgeknöpften und aus seiner Hose gezogenen Hemd, hat schon Musik angemacht, sich bereits die Whiskeyflasche geschnappt und just das zweite Glas damit aufgefüllt. Er reicht es seinem Gast. Etwas zu schwungvoll. Ich verdrehe die Augen, als die beiden daraufhin in selber Manier anstoßen und noch mehr des braunen Getränks auf den Tisch kleckert. Während die Männer erneut in dieser unangenehmen Art lachen und sich viel zu laut darüber auslassen, wie verdammt geil dieser Whiskey schmeckt, und welchen sie denn letztens noch so probiert hätten und ähnliches, eile ich in die Küche und kehre mit einem feuchten Lappen zurück, um die Spuren des Hochprozentigen wegzuwischen. Henning lässt das nicht unkommentiert.   „Hat dein Mann nen… Butssfang, oder so?“, richtet er das unbeständige und amüsierte Wort an Christopher.   „Einen was?“, hakt dieser glucksend nach.   „Einen… Puts… swang…!“   „Was?!“   „Butz-wang!“   „Hä?“   „Meine Fresse!“, donnert meine Stimme nun durch den Raum und fokussiert sich auf meinen Freund, weil ich mich wirklich nicht mehr beherrschen kann, dieser hirnlosen Pseudo-Konversation beizuwohnen. „Henning fragt dich, ob ich einen Putz-Zwang habe, weil ich eure beschissene Plörre gerade vom Tisch gewischt habe!“   Ich seufze genervt, und Christopher schaut mich… Er schaut mich an wie ein gottverdammtes Rehkitz. Die glasigen Augen weit aufgerissen, der Blick dadurch eine Mischung aus Verängstigung und Unschuld, seine Lippen leicht gespreizt, so als hätte er gerade etwas entgegnen wollen und die Worte wären ihm im Halse stecken geblieben, die Arme schwach und regungslos auf seinen Beinen platziert. Er blinzelt – und weiß offensichtlich tatsächlich nicht, was er dazu sagen soll. Wenn er überhaupt gerafft hat, was ich ihm gerade mitgeteilt habe…   Ein weiteres Seufzen entweicht meinem Mund, und Henning lacht, fies und laut, und nimmt einen weiteren kräftigen Schluck Whiskey. „Jetzt. Gibt’s. Ärger!“, lautet sein nächster Kommentar, den er den Tisch anstarrend loslässt und dabei dämlich mit dem Kopf bei jedem einzelnen Wort nickt – und sich danach schon den nächsten Schluck aus seinem Glas genehmigt, das er danach auf den Tisch donnert. Und zwar so stark, dass es dabei zerspringt.   „…oh…“, macht Henning nachdem ungefähr zehn Sekunden vergangen sind, in denen beide Männer überrascht auf die großen Scherben auf den Tisch gestarrt haben.   „…oh…“, stimmt Christopher mit ein, der seine Sprache endlich wiedergefunden zu haben scheint.   „O Gott…“, zische ich genervt und halte Henning in letzter Sekunde davon ab, mit seiner Hand in eine der Scherben zu greifen. „Lass das, ich mach das schon“, presse ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Ich hole nur schnell einen Handfeger aus der Küche. Du bleibst sitzen. Ja?“, hake ich nach, weil auch Henning nicht unbedingt den Anschein erweckt, als verstünde er im Moment Deutsch. Aber er nickt. Zuerst langsam, und dann ganz schnell. Wie ein kleiner Junge, der erst beim Nicken die wahre Bedeutung der an ihn gerichteten Worte begreift, und diese dann noch einmal bestätigt. „Und du“, richte ich mein recht scharfes Wort an meinen Freund, der mich daraufhin wieder so erschrocken wie Bambi anschaut, „kommst mal eben bitte mit und hilfst mir, Christopher.“   „…w-was?“, japst er und ich bin momentan einfach nur so geladen, dass ich ihn am liebsten einfach am Kragen packen und hinter mir her schleifen würde. Aber ich weiß, dass das keine gute Idee ist, also lasse ich es, und versuche, mich zu beherrschen, um ihn nicht vor den Augen von Henning noch weiter anzuschreien.   „Komm bitte mit in die Küche“, wiederhole ich meine Aufforderung und klinge dabei sehr hart.   „Äh… o-o-okay.“   Christopher erhebt sich, stößt gegen den Tisch, sein Glas fliegt ihm aus der Hand, landet seitlich auf der Platte und geht ebenfalls zu Bruch. Es zerspringt zwar nicht in so viele Einzelteile wie Hennings, aber zu gebrauchen ist es auch nicht mehr. Ich schließe die Augen und presse meine Lippen zusammen, beiße mir dann auf die Zunge, damit ich nicht aus Frustration losschreie, und zähle langsam bis fünf. Und dann sind meine Beruhigungsversuche eh voll für die Katz, denn anstatt sich zu schämen oder Angst vor weiterem „Ärger“ zu haben, lachen Henning und Christopher lauthals los.   „Ha, ha, ha! Hast es ja echt drauf, Lang!“, prustet Henning und hält sich den Bauch, weil er vor seinem ganzen Wiehern wohl wehtun muss.   Und ich frage mich: Was ist bitte an zerbrochenem Glas so unfassbar lustig?   Vielleicht kann mir das ja Herr Lang irgendwann erklären, der sich ebenfalls kaum einkriegen kann. „H-hör auf, dich ü-über mich lustig zu machen! Du bist doch selbst zum Scheißen zu blöd!“, schimpft er dreckig lachend zurück. Und ich erkenne ihn wirklich überhaupt nicht wieder. „Ich hol uns eben neue Gläser…“, verkündet er dann – und schwankt tatsächlich in Richtung der Vitrine, wo wir unsere teuren und edlen Gefäße aufbewahren. So als hätte er mich und meine Aufforderung, mir in die Küche zu folgen, vollkommen vergessen.   „Christopher!“, brülle ich nun – weil ich mich wirklich nicht mehr zurückhalten kann. Auch, weil ich einfach Schiss habe, dass er gleich noch mehr Gläser zerstört und sich dabei womöglich noch verletzt. Mein Freund bleibt wie angewurzelt stehen und starrt mich an. „In die Küche?!“, rufe ich ihm aufgebracht in Erinnerung und deute mit meiner Hand gen Tür.   Herr Lang braucht einen Moment, um zu kapieren, was ich von ihm will, und was er so offensichtlich vergessen hat. „Oh“, macht er wieder so dämlich und reißt die Augen auf. „O-okay. Bin gleich wieder da!“, richtet er das Wort an Henning. Und dann setzt er sich endlich in die richtige Richtung in Bewegung. Ich schaue besorgt zu, wie Christopher seinen Körper aus dem Wohnzimmer befördert, und ehe ich den Raum verlasse, ertönt Hennings dreckige Stimme schon wieder, und er wiederholt seine Worte von vorhin. „Jetzt. Gibt’s. Ärger!“   Und damit hat er verdammt nochmal recht.   Christopher betrinkt sich nicht oft. Klar, es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn besoffen erlebe. Ich finde es manchmal sogar schade, dass er nicht so viel trinkt, weil ich einen betüdelten, einen angetrunkenen, verdammt, selbst einen normal betrunkenen Chris echt… witzig und niedlich, und zum Teil auch sehr sexy finde. Er ist dann entweder hammerzuckersüß, gar unschuldig und super knuddelbedürftig, wie ein Riesenteddybär – oder megaangetörnt, und würde am liebsten die halbe Nacht lang an meinem Schwanz saugen und meine Prostata dabei massieren. Aber heute… Heute ist alles anders.   Ich habe ihn noch nie so voll gesehen.   Natürlich ist er Dank Rotwein, Whiskey und Co schon mal getorkelt – aber nie so heftig. Normalerweise macht sein Körper ab einem gewissen Punkt ja auch einfach dicht und er hat gar keine Lust mehr auf Alkohol. Er sagte mir mal, das sei so mit dem Alter gekommen: „Ab 28 war Schluss“ – dann konnte er sich gar nicht mehr wirklich volllaufen lassen. „Betrinken ja, komplett abschießen nein“, meinte Herr Lang jedenfalls. Heute beweist er das komplette Gegenteil.   …und diese ekelhafte Macho-Lache, die ich mir die ganze Zeit anhören muss. Sie passt einfach nicht zu ihm. Wie Henning und er sich im Sumpf-Humor piesacken. Das passt nicht zu ihm.   Christopher lehnt sich ungelenk seitlich gegen die Küchenzeile und schaut mich wieder mit diesen Bambi-Augen an. Ich schließe die Tür, damit Henning wirklich nichts von unserem Gespräch mitbekommt, und ehe ich das Wort an meinen betrunkenen Freund richten kann, spricht dieser schon. „I-ist alles i-in Ordnung, Niko?“   Ich entlasse die Luft geräuschvoll aus meinen Lungen und verschränke die Arme vor der Brust. „Nein ist es nicht! Mensch, ich habe mir echt Sorgen um dich gemacht!“, packe ich letztendlich aus.   „W-wieso?“, kommt es total dämlich von Christopher – und ich raste beinahe komplett aus.   „Weil du Blödmann es nicht geschafft hast, mir mitzuteilen, wo du genau bist, und vor allem, wann du nach Hause kommst! Ich habe den ganzen beschissenen Abend auf dich gewartet, Christopher!“, werfe ich ihm vor. „Du hattest mir eine Session versprochen, wir waren verabredet, dann heißt es irgendwas von wegen ‚ein Business-Drink‘ mit Henning und David – und Stunden später, nach komischen, nicht wirklich verständlichen Nachrichten geschrieben im Suff, und sogar ner mega Funkstille zwischendrin, kommst du hackevoll mit deinem Kollegen hier an. Um Mitternacht, alter Schwede! Stunden nach unserem vereinbarten Treffen! Du hast mir weder die Session abgesagt noch, dass Henning mitkommt! Wie lange wollt ihr eigentlich noch hier weitersaufen?! Ihr hattet doch schon mehr als genug!“   Vielleicht höre ich mich ja an wie das Klischee einer frustrierten Ehefrau. Im Grunde genommen bin ich das ja auch in diesem Moment: Der frustrierte versetzte Partner, der den Anblick seines besoffenen Freundes nicht ertragen kann.   Immerhin schaut Christopher mich nicht mehr verwirrt, sondern eher reumütig an. „Niko…“, murmelt er dann und setzt sich unmittelbar in Bewegung, stürzt beinahe in meine Arme, mit denen ich uns schon wieder stabilisieren muss, schlingt seine um mich, und drückt mich fast ein bisschen zu heftig an seinen Körper. „Ss-orry… tut mir leid. T-tut mir echt leid, Süßer. Echt, ich… Ich…“, murmelt er, und klingt dabei endlich wieder mehr wie er selbst. Ein bisschen jedenfalls. Miefen tut er trotzdem immer noch. Und nüchtern ist er schlagartig auch nicht.   Christopher legt seine Hände auf meine Schultern und schaut zu mir herab. „I-ich dachte, ich hätte dir ab-abgesagt“, bringt er dann hervor. „Ich war mir soooo sicher, dass ich dir geschrieben habe…“ Und in der nächsten Sekunde ist da wieder dieser vollkommen verdutzte Gesichtsausdruck, der ihm nicht steht. Dann runzelt er die Stirn, und blickt fast schon ein bisschen sauer drein. „Moment… Ich habe dir geschrieben“, postuliert er dann. „Ich hab dir geschrieben!“, wiederholt er mit Nachdruck.   „Ja… Irgendwann, dass du ‚bald‘ nach Hause kommst… Ohne mir eine konkrete Zeit zu nennen“, entgegne ich trocken.   „Nein!“, schimpft er. „Nein! I-ich h-hab dir geschrieben, dass… wir… hier… die Session. Dass die Session f-flachfällt – das habe ich dir geschrieben!“   „…nein, hast du nicht. Christopher.“   „Doch!“, erwidert er stur wie ein Kleinkind.   „Sag mal, ich kann doch lesen! Ich habe den ganzen verdammten Scheißabend auf das Ding geguckt und auf Nachrichten von dir gewartet, Mann!“, schnauze ich ihn barsch an, weil ich langsam auch den allerletzten Funken Geduld verliere. Dass wir im Code Red sind haben wir zwar jetzt nicht verbal besprochen, aber wenn Alkohol bei Chris im Spiel ist – und damit meine ich mehr als ein großes Glas Rotwein – dann entfällt unser Master-Slave-Verhältnis automatisch. Und heute hat Herr Lang definitiv viel mehr intus als das…   „Ich habe dir geschrieben, Niko!“, wiederholt er wütend und sucht nach irgendetwas in seinen Hosentaschen. „W-wo zur Hölle ist mein Scheißhandy?!“   Ich seufze. „Wahrscheinlich in deiner Jackettasche.“ Er will sich in Bewegung setzen und aus der Küche flüchten. Höchstwahrscheinlich, um es zu holen. „Warte“, halt ich ihn auf, meine Hand auf seine Brust. „Ich hole es. Du bleibst hier.“ Christopher guckt mich nicht an, schaut grimmig auf den Boden, lehnt sich aber immerhin wieder gegen die Zeile, die Arme verschränkend, scheint mich also irgendwo verstanden zu haben.   Henning schaut sich irgendwelche CDs an und hat die Anlage ein bisschen weiter aufgerissen, als ich das Wohnzimmer betrete. Er bemerkt mich gar nicht, und das ist vielleicht auch gar nicht so verkehrt. Ich schnappe mir Christophers Jackett, das ebenfalls auf dem Fußboden gelandet ist, und fische sein Mobiltelefon heraus. Als ich damit die Küche wieder betrete, reißt mein Freund es mir regelrecht aus der Hand, als hätte ich ihn irgendwie mächtig verärgert – und ich verspüre mehrere Sekunden lang das Bedürfnis, ihm an die Gurgel zu gehen, während er auf dem Display mit seinem Finger hochkonzentriert herumwischt.   „Ha!“, ruft Christopher triumphierend aus. „Ich hab’s doch gesagt! I-ich habe dir geschrieben wegen der Session, und…“ Plötzlich hört er auf zu reden und starrt fassungslos auf sein Display, blinzelt mehrere Male, runzelt die Stirn.   „Was?“, hake ich nach, als ungefähr eine halbe Minute vergangen ist, in der Christopher nichts gesagt hat und einfach nur weiter auf sein Handy starrt. Jetzt kriege ich es langsam mit der Angst zu tun. Hat er gerade eine schlimme Nachricht erhalten? Ist irgendwas mit der Kanzlei? Irgendwas mit Emilie und Marie? Hat er irgendwas Besorgnisvolles von Holger oder Kilian erfahren?   „Ich, äh…“, stottert er. „F-fuck.“   Und dann, als er mit seinem Daumen wieder scrollen will, fällt dem Volltrottel tatsächlich das Handy aus der Hand und Christophers Mund entweicht ein überraschter Laut – und ich schaffe es im allerletzten Moment, es aufzufangen, bevor es mit dem Display auf den Fliesen aufschlägt und sich die Katastrophe wiederholt. „Meine Fresse“, fluche ich, mich wiederaufrichtend – und im selben Moment öffnet sich die Tür, und Henning stolziert in die Küche, zwei prall gefüllte Gläser Whiskey in der Hand; und mir wird klar, dass er wohl an die Vitrine gegangen sein muss.   …ob wohl noch mehr zu Bruch gegangen ist? Ich habe Angst. Und Henning drückt meinem Freund den Alkohol in die Hand. „Hier, mein Bester!“, trompetet er und dreht sich dann zu mir um, geht einen Schritt auf mich zu, und seine schwere Hand findet letztendlich ihren Weg auf meine Schulter. Etwas Flüssigkeit schwappt über den Rand seines Glases und tröpfelt auf den Boden. „Niko“, spricht er mich langgezogen an. „S-sei nicht s-sauer auf Chris, wir haben sooo lange nicht mehr zusammen P-party gemacht und uns s-sowieso so lange nicht gesehen… Und jetzt heißt es immer nur Arbeit, Arbeit, Aaaarbeit. Wir brauchen das, über a-alte Zeiten quatschen, nicht nur Akten Wälzen u-und Pabiere unterschreiben. Komm: Setz dich doch einfach su uns und trink einen mit, ja? Würde mich wirklich sehr froin!“   Ich habe so absolut keine Lust auf Alkohol, weiß aber, dass es sinnlos ist, dies einem so betrunkenen Mann zu erklären. Also nicke ich einfach – er wird das eh gleich wieder vergessen haben. In dem Moment, in dem Henning seinen Arm um Christopher legt und meinen Freund, irgendetwas von Frank Sinatra labernd, aus der Küche führt, wird mir auch klar, dass es im Grunde genommen auch überhaupt gar keinen Sinn macht, jetzt mit Herrn Lang Tacheles zu reden: Auch er ist schließlich viel zu besoffen. Und das, was er da auf seinem Handydisplay gesehen hat, kann gar nicht so schlimm gewesen sein, denn er scheint es jedenfalls schon wieder vergessen zu haben – er lacht gerade mal wieder viel zu laut als Reaktion auf irgendeinen dummen Witz von Henning.   Wahrscheinlich, denke ich mir, seine Reaktionen analysierend, ist ihm einfach nur aufgefallen, dass ich recht hatte und er mir selbstverständlich nichts bezüglich der Session geschrieben hat… Ich will Christophers Handy gerade auf den Tisch legen, um den Handfeger zu holen, als mir auffällt, dass es noch aktiviert ist. Mein Blick fällt unweigerlich auf den unbeschädigten Bildschirm. Der Messenger ist angewählt und… offenbart einen Chat mit Adrian.   …und da steht es tatsächlich.   Besoffen getippt, aber dennoch verständlich. „Ubsere Session mpssen wir leider verschieben – Henning fülkt mich ab, sorry schatz, verszche um mitternacgt zu hause zu sein“ – versehen mit dreitausend Kusssmileys.   Mein Herz hämmert in meiner Brust, als ich mir den heutigen, mickrigen Chatverlauf mit Mister Italo-Macho ansehe, der damit angefangen hat, dass Christopher ihm ein Bild von sich und seinem Kollegen mit den Worten „schöne Grüße von Henning“ geschickt hat. Adrian hat Grüße zurückgeschickt und den Herren viel Spaß gewünscht. „Übertreibt es nicht“ steht da noch geschrieben, mit einem zwinkernden Emoticon, woraufhin mein Freund ein „niemals!“ geantwortet hat. Und dann, dem Chatverlauf nach zu urteilen, rund drei Stunden später, fragt Adrian nach Christophers Befinden, das dieser mit einem Daumen nach oben beantwortet. Wenig später steht da eben diese Nachricht, die mich erreichen sollte – allerdings beim Ex gelandet ist. Und es gibt natürlich noch die Antwort von Adrian.   „…ähm, ich glaube nicht, dass diese Worte und insbesondere diese Küsse an mich gehen sollten… ;-) Bitte melde dich umgehend bei Niko, und später dann auch bei mir, damit ich weiß, dass du sicher bei ihm zu Hause gelandet bist.“   Ich atme tief ein, und langsam wieder aus.   Eines muss ich Adrian lassen: Er hat… nett reagiert. Mich sofort ins Spiel gebracht.   Nein, Adrian pisst mich in diesem Zusammenhang tatsächlich nicht an. Ich bin wütend auf Christopher, dessen Handy in meiner Hand plötzlich vibriert – denn eine neue Nachricht von Adrian poppt auf. „Chris? Bist du mittlerweile zu Hause? Mache mir Sorgen.“   Ich seufze. Am liebsten würde ich das Ding nun doch wieder auf den Boden pfeffern und abermals für eine Displaykatastrophe sorgen – aber trotz all dieser Wut dominiert dann doch meine vernünftige Seite. Und die ist es auch, die mich dazu bringt, ein Fünkchen Mitleid mit Adrian zu haben. Ich traue mir allerdings nicht zu, Christopher das Ding jetzt in die Hand zu drücken, damit er antwortet. Nein, momentan möchte ich meinen Freund damit nicht konfrontieren. Weil ich Angst habe, dass ich ihm den Kopf abreißen würde oder dass er noch mehr Scheiße an Adrian schreibt. Also entscheide ich mich für einen anderen Weg, und antworte selbst, auch wenn Herr Lang mir auch heute eigentlich nicht explizit erlaubt hat, seine Privatsphäre zu massakrieren. Aber scheiß drauf, ich habe es ja schon mit dem Lesen des Chatverlaufs getan. Und ganz ehrlich? Vor wenigen Tagen hatte es Herr Lang mir ja selbst offeriert. Und heute ist voll wie ne Haubitze – und hat einfach mega Scheiße gebaut. Also ist es mir schlichtweg egal.   „Hey, hier ist Niko. Christopher ist sicher gelandet. Mehr oder weniger. Henning und er trinken jetzt noch Gute-Nacht-Whiskey im Wohnzimmer.“   Adrian antwortet unmittelbar. „Hey Niko! Danke fürs Bescheid geben, jetzt kann ich beruhigt schlafen gehen. Ich wünsche dir jetzt ganz starke Nerven. Henning und Chris – das ist eine ganz furchtbare Kombi. Ich weiß, wovon ich spreche ;-) Gute Nacht.“   …und plötzlich bin ich doch angepisst von Adrian.   Ich weiß, wovon ich spreche.   Subtext: Ich kenne deinen Mann viel besser als du, und ich habe auch die Freundschaft von Henning und Chris hautnah mitbekommen, und du musst noch so viel darüber lernen.   Er muss mir unbedingt unter die Nase reiben, dass er mit Christopher soooo lang zusammen war.   Arschloch.   …vielleicht reagiere ich auch einfach über.   Nein: Arschloch.   …aber vielleicht interpretiere ich da doch zu viel rein?   Ich habe doch gerade erst mein jüngstes Adrian-Trauma überwunden! Ich habe jetzt keine Lust mehr darauf!   Ich lege Christophers Handy beiseite und kämpfe gegen die Tränen an, die verräterisch-vorsichtig gegen meine Lider anklopfen. Ich brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Ich bin müde – verdammt müde – habe mir stundenlang Sorgen gemacht, bin angepisst und schlichtweg frustriert. Und Christopher benimmt sich wie ein primitives Arschloch und schickt seinem Ex im Suff Nachrichten, die an mich gehen sollten – und das alles nach diesen wunderbaren Momenten, die wir in den vergangenen Tagen erlebt haben... Das bringt mich einfach total aus der Fassung. Fast so wie seine dämlichen Beichten. Fast. Und ich frage mich echt: Wie konnte er sich so dermaßen volllaufen lassen? Und warum hat der Alkohol plötzlich einen so furchtbaren Effekt auf ihn?   Ich denke an Adrians Worte.   Henning und Chris – das ist eine ganz furchtbare Kombi.   Dem stimme ich zu.   Als ich das Wohnzimmer betrete, haben sich die Herren auf den Balkon verzogen, und rauchen Zigarren.   Zigarren.   Und dabei reden sie und lachen sie viel zu laut, klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, umarmen sich, regen sich über irgendetwas auf, funkeln sich böse an, beschimpfen sich, ich höre Worte wie Schwanzlutscher und Sackgesicht fallen, dann lachen dann wieder auf diese hässliche Art und Weise – und ich frage mich, wann sich wohl die ersten Nachbarn beschweren werden…   Ich räume die Glasscherben weg, wische den Tisch erneut, und habe seit meiner neusten Adrian-Erkenntnis noch viel weniger Bock, mich zu den beiden zu setzen, und verlasse stattdessen das Wohnzimmer, schließe die Tür hinter mir, gehe ins Bad und mache mich bettfertig, um dann tatsächlich unter die Decke zu schlüpfen. Auch wenn mir klar ist, dass ich trotz erheblicher Müdigkeit nicht sofort einschlafen werde. Dazu bin ich viel zu aufgebracht.   Das Licht ausschaltend frage ich mich, wie lange es wohl dauern wird, bis Christopher auffällt, dass ich weg bin. Eines ist jedenfalls klar: Das Lachen und die aufgebrachten Stimmen sind jetzt wieder so laut, dass die beiden Schnaps-Anwälte definitiv wieder im Hause sind. Ich seufze, schnappe mir meine Kopfhörer und schalte mir Musik ein, um mich ein wenig zu beruhigen. Und irgendwann… Irgendwann drifte ich tatsächlich ab. Ich bin selbst darüber total überrascht, als ich plötzlich aufwache und in die Dunkelheit blinzele. Ein Blick auf den Wecker verrät mir, dass es gleich 5 Uhr morgens ist. Christopher ist nicht im Bett. Musik läuft im Wohnzimmer. Ich bin angepisst.   Nachdem ich aus dem Bett gesprungen bin, stampfe ich den Flur hinunter und schmeiße die Tür zum Wohnzimmer regelrecht auf. Auf dem vollgesauten, von diversen Essensresten und Flüssigkeiten bedeckten Tisch, steht die komplett leere Whiskeyflasche, daneben eine halb volle Flasche Gin, eine angefangene Wodkapulle und zwei leere, umgekippte Bierdosen. Es riecht nach Zigarrenqualm, Schweiß und Pizza, Chipsreste bedecken den Boden. Und Henning und Christopher? Die sitzen mit halb geschlossenen Augen, wie dämliche Zombies, jeweils mit einem Glas Hochprozentigem auf dem Sofa und vegetieren vor sich hin.   „Christopher“, spreche ich meinen Freund an. Doch der reagiert nicht. „Christopher“, versuche ich es eine Spur lauter – wieder nichts. Ich trete an ihn heran, lege meine Hand auf seine Schulter und schüttele ihn leicht. „Christopher!“ Sein Kopf bewegt sich von Seite zu Seite durch meine Traktierung und er reißt endlich die Augen auf, nur um sie dann sofort wieder zu schließen. Ich seufze, und Henning fängt tatsächlich an zu schnarchen.   Ich betrachte den Kollegen meines Partners und finde mich einfach damit ab, dass er die Nacht beziehungsweise den beginnenden Morgen (und wohl auch Vormittag) in dieser Position auf unserer Couch verbringen wird. Ich habe jedenfalls keine Lust, ihn durch das Treppenhaus hinunter zum Taxi zu schleppen, oder wie auch immer der Herr nach Hause wollte. Vielleicht war das ja aber auch so geplant, dass er hier nächtigt? Ich habe ja keine Ahnung, weil keiner der beiden Juristen mir etwas diesbezüglich verraten hat.   „Christopher!“, starte ich einen allerletzten Versuch, meinen Freund vom Sofa zu kriegen – und gebe dann einfach auf, als dieser wieder nur kurz die Augen halb öffnet, irgendetwas grunzt, und sie dann wieder schließt. „Dann halt eben verdammt nochmal nicht!“, schimpfe ich und stampfe zurück ins Schlafzimmer, überall die Lichter löschend.   Ich bin mal wieder so aufgebracht, dass ich nicht sofort einschlafe, und als mich dann die Traumwelt doch irgendwann endlich übermannt, dauert es keine fünf Sekunden, bis die Schlafzimmertür plötzlich aufgerissen wird. Das Licht geht plötzlich wieder an und blendet mich. Im ersten Moment verspüre ich Panik. Im zweiten nur noch Wut. Es ist kurz nach 6 Uhr morgens und Herr Lang ist gerade in unser Schlafzimmer geplatzt, schält sich unbeholfen aus seinen restlichen Klamotten und knallt dabei mehrmals gegen die Kommode. Ich seufze genervt, als er es nach einer gefühlten Ewigkeit endlich geschafft hat, all seine Kleidung abzulegen beziehungsweise im Zimmer zu verteilen, und dann regelrecht auf dem Bett zusammenbricht.   Dankbar dafür, dass es direkt am Bett einen zweiten Schalter gibt, mit dem ich das Hauptlicht löschen kann, sorge ich wieder für Dunkelheit, von der ich hoffe, dass sie mich direkt wieder in die Schlafwelt befördern wird. Christopher macht dem allerdings einen Strich durch die Rechnung. Er rutscht zu mir herüber, schlingt seine Arme um mich. Viel zu fest. „Au!“, fluche ich und greife nach seinen Händen, um sie von meinem Körper zu drängend. Christophers Brust klebt an meinem Rücken, seine angewinkelten Beine drücken die meinigen viel zu weit nach oben, sein softes Geschlecht presst gegen meinen Po und sein Atem ist viel zu laut an meinem Ohr, viel zu heiß – und er hat eine so mörderische Fahne, dass mir davon ungelogen schlecht wird.   Normalerweise bin ich echt ein großer Fan des „aneinander gekuschelten Schlafens“. Heute allerdings nicht. Vor allem, als Christopher dann auch noch anfängt, seine Hände, die auf meinen physischen Protest hin ihre Umklammerung gelockert haben, über meine Brust streichen zu lassen, meine Brustwarzen, und eine seiner Hände dann sogar zwischen meine Beine schiebt und nach meinem weggesperrten Schwanz greift, und im selben Moment sein Becken bewegt um seine, nun tatsächlich leicht zum Leben erwachenden Beule weiter gegen meinen Arsch zu drücken.   Das ist der Moment, in dem ich alle Kraftreserven meines Körpers anzapfe, ihn bestimmt von mir wegschiebe, sodass Herr Lang auf den Rücken rollt, und ich aus dem Bett hüpfe. Denn Sex ist wirklich das aller, allerletzte, an das ich jetzt denke, und auch das aller, allerletzte, was ich jetzt tun möchte. „Das ist nicht dein ernst…“, murmele ich giftig. Christophers Reaktion darauf ist… ein schwaches Seufzen, dann grummelt er irgendetwas, das sich anhört wie ein Protest, er streckt seine Hand nach mir aus und dann, keine zehn Sekunden später, fällt diese auch schon wieder schwach auf die Matratze zurück, und weitere zehn Sekunden später… schnarcht er. Extrem laut.   „Unfassbar…“   Den Kopf entsetzt schüttelnd, verlasse ich unser Schlafzimmer, und als ich den Flur hinunter tapse und ich Hennings Schnarchen aus dem Wohnzimmer verfolgt, kann ich nicht mit Sicherheit bestimmen, wer von den beiden Schnapsdrosseln gerade lauter sägt.   „Unfassbar…“   Ich versuche, in meinem kleinen Horrorparadies zur Ruhe zu kommen, was nur bedingt klappt. Gegen 8 Uhr morgens gebe ich es einfach auf und stehe auf. Ich werfe einen prüfenden Blick ins Schlafzimmer, denn selbst wenn ich immer noch extrem wütend bin auf Christopher, mache ich mir natürlich auch Sorgen um ihn. Aber: er pennt jetzt schnarchend auf der Seite und hat sich nicht übergeben oder sonstiges angestellt, das seine Sicherheit gefährden könnte. Erleichtert schließe ich die Schlafzimmertür wieder. Auch, weil ich angewidert bin: der Raum riecht nach Alkohol, Qualm, Schweiß und irgendwie auch nach Ziege.   Henning schnarcht auch immer noch wie ein Weltmeister. Auch, als ich nach dem Duschen und in frischen Klamotten den Flur hinunterlaufe. Auch, als sein Handy beginnt zu klingeln, und dann gar nicht mehr damit aufhören will. Nach dem ungefähr zehnten Anruf, den Henning nicht annimmt, geht mir der dämliche Klingelton so richtig auf den Sack. Ich versuche ihn aber nicht nur deswegen aufzuwecken.   Wenn jemand zehn Mal hintereinander angerufen wird, dann muss etwas sich um etwas Dringendes handeln.   „Henning“, versuche ich es, ihn leicht dabei schüttelnd. „Henning!“ Doch der Anwalt schläft wie ein Stein. Einmal gerät sein Schnarchen kurzzeitig ins Stocken, und als ich meine, ich hätte es endlich geschafft, ihn zu wecken, grunzt er und dreht sich dann einfach auf die andere Seite und schnarcht weiter – und das war’s. Selbst als ich ihm das klingende Telefon praktisch direkt ans Ohr halte, schlägt er nur kurz danach wie andere Menschen nach einer Mücke oder Fliege, und verfällt wieder in diesen sägenden Ton.   Ich starre das zum gefühlt zwanzigsten Mal klingende Telefon an und kann den Namen „Kim“ auf dem Display lesen – das ist seine Ehefrau. Und da bekomme ich es doch ein bisschen mit der Angst zu tun. Chris sagte, Henning habe Kinder… Was ist, wenn irgendetwas mit denen ist und seine Frau ihn jetzt dringend braucht?   Ich seufze, fühle mich nicht sehr wohl dabei, nehme das Gespräch letztendlich aber doch an.   „Äh, hi. Hier ist Hennings Telefon, er kann gerade nicht rangehen…“, melde ich mich etwas unbeholfen und werde mit einer seltsamen Stille am Telefon begrüßt, die mich auf gewisse Weise sogar leicht nervös macht.   „…Christopher? Bist du das?“, fragt mich dann die leicht verwirrte und zugleich angespannte Frauenstimme schließlich.   „Nein. Christopher schläft noch. Ähm, ich bin Niko. Christophers Freund. Also, Lebensgefährte.“   Kim entlässt geräuschvoll die Luft aus ihren Lungen. „Also hat Henning bei euch übernachtet…?!“   „Ja.“   „Dieser…!“, stößt sie aus, ohne ihre Beschimpfung zu komplettieren, und mir wird klar, dass Kim offenkundig bis eben nicht wusste, wo ihr Ehemann abgeblieben ist.   „Henning schläft auch noch und ähm… Ich kriege ihn nicht wach, ich…“   Kims kaltes Auflachen unterbricht mich. Und dann vervollständigt sie ihre Beschimpfung. „Dieser beschissene Vollidiot! Auf die Idee, mir Bescheid zu geben, kommt er ja natürlich nicht! Meine Herren…!“ Sie bestätigt damit meine vorherige Annahme.   „Sorry, hätte ich gewusst, dass er zu Hause nicht Bescheid gegeben hat, hätte ich das auch irgendwie übernehmen oder ihn dazu bringen können.“   Kim seufzt laut. „Entschuldige bitte, du bekommst hier gerade meine ganze Wut ab, sorry. Ich war… Ich bin gestern früh ins Bett und erst vor kurzem wach geworden, und er war nicht da, und ich wusste nicht, wo er ist und habe mir echt Sorgen gemacht, sorry. I-ich bin Kim, Hennings Frau, und-“   „Ja, ich weiß“, falle ich ihr ins Wort und versuche, so nett wie möglich zu klingen. „Und kein Ding. Wenn Christopher nicht nach Hause gekommen wäre und ich ihn nicht aufm Handy erreichen könnte, wäre ich wohl noch viel aufgebrachter als du. Also: Ich kann dich verstehen. Ich, ähm, hatte ja auch nicht damit gerechnet, dass der Abend… so endet…“ Ich vernehme ein weiteres, tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung. „Wenn du magst… Versuche ich Henning noch einmal zu wecken“, biete ich an, aber seine Ehefrau schnaubt einfach nur.   „Vergiss es, Niko“, meint sie dann mit bitterer Stimme. „Die beiden Vollpfosten haben doch sicherlich bis in die Morgenstunden gesoffen, oder?“   „…ja…“   Bisher hat noch nie jemand meinen Freund als Vollpfosten oder ähnliches in meiner Gegenwart bezeichnet, und ich weiß auch noch nicht, wie es mir damit geht – obschon ich eigentlich weiß, dass Kim recht hat. Die beiden Anwälte haben sich gestern auf jeden Fall wie Vollpfosten aufgeführt…   „Ja! Dann kriegst du Henning selbst mit nem Vorschlaghammer vor 15 Uhr nicht wach. Grandios. Einfach grandios!“, ruft sie aus und stöhnt fast ein wenig theatralisch, obwohl ich ihre Verzweiflung irgendwie als ziemlich ernst einstufen muss. „Was für ne Scheiße! Was mach ich denn jetzt?“, flucht sie besorgt klingend weiter.   „…was ist denn?“, hake ich vorsichtig nach. „Wart ihr… zu was Bestimmten verabredet?“   Ich ernte ein erneutes, zorniges Schnauben. Und dann klingt Kim nur noch zerrüttet. „Zu was Bestimmten…“, wiederholt sie meine Worte, „…ich sitze hier zwischen proppevollen Umzugskartons, und die Kinderzimmermöbel liegen alle noch in Einzelteilen verstreut herum – und die müssen bis morgen aufgebaut sein! Meine Eltern kommen morgen früh aus dem Urlaub wieder und liefern Ben und Mia hier ab, das hatten Henning und schon vor Wochen besprochen. Ich bin gestern Abend nach der Arbeit extra hier hochgefahren! Und ich habe mich noch nicht einmal zu frischen Klamotten für die beiden durchgaben können, und nach der langen Reise sind die Kinder immer so fertig und wollen ins Bett, und die beiden sind eh schon so gestresst durch den ganzen Umzug und weinen die ganze Zeit, weil sie ihre Freunde nicht zurücklassen wollen, und da würden die neuen schönen Zimmer und die bekannten Spielsachen direkt helfen und, ach… Entschuldige“, murmelt sie, seufzt; und wenn ich mich nicht täusche, dann kann es sogar sein, dass sie sich kurz beruhigen muss, weil ihr die Tränen gekommen sind. Was verständlich wäre bei all dem Stress. „Jetzt sitze ich hier allein, und der Scheiß ist zu schwer für mich, das kriege ich nicht alles nach oben getragen, geschweige denn allein zusammengeschraubt, Scheiße…“   „…können dir nicht die Nachbarn helfen?“, überlege ich laut.   „Die habe ich ja noch nicht einmal kennengelernt!“, entgegnet sie eine ganze Spur lauter. „Ich kenne niemanden hier außer Henning und Christopher! Niemanden! Meine ganzen Freundinnen sind 300 Kilometer weit weg, und die kann ich nicht einfach her ordern, damit sie mir beim Zusammenbauen von Kinderzimmermöbeln helfen! Oder mir Fremde von nebenan ins Haus holen. Und…“ Sie stockt, und dann seufzt sie erneut laut, schweigt einen kurzen Moment, in dem ich nervös auf meiner Lippe kaue. Kim tut mir wirklich leid. „Sorry, Niko, du kriegst schon wieder meine ganze Wut ab, dabei kenne ich dich noch nicht einmal, und du hast absolut nichts damit zu tun. Sorry!“, entschuldigt sie sich abermals.   „Ist schon gut…“, murmele ich, und mir fallen urplötzlich Christophers Worte ein, die er irgendwann am Anfang der Woche geäußert hatte. Dass er sich den Samstagvormittag vielleicht freihalten will, falls Henning und Kim doch Hilfe im neuen Haus brauchen sollten… Und nun pennt er wie ein Stein und hat sich mit seinem Studienfreund so dermaßen volllaufen lassen, obschon er wusste, was dieser am Folgetag eigentlich zu tun hat… Und dann fasse ich seufzend eine Entscheidung. Weil Kim und ich irgendwie im gleichen Boot sitzen. Oder zumindest auf denselben Gewässern schwimmen. „Wo wohnt ihr?“, frage ich sie.   Sie nennt mir einen Ortsteil, der am Rande der Stadt liegt. „…wieso?“   „Ich kann in rund ner halben Stunde da sein. Ich warne dich: Ich bin handwerklich nicht wirklich begabt, aber wenn du mir genaue Instruktionen gibst, kann ich dir sicherlich irgendwie helfen. Schleppen ist auch kein Problem, wollte eh mal wieder mehr Sport machen.“   Am Ende der Leitung ist es still, und ich frage mich, ob mein Angebot nicht doch falsch war, schließlich bin auch ich nur ein Fremder, werde aber eines Besseren belehrt. „Das würdest du echt für mich tun?“, hakt Kim etwas atemlos nach.   „Wenn ich in deiner Situation wäre, würde ich mich auch freuen, wenn mir jemand hilft.“   „…danke, Niko! Danke, danke, danke! Du bist ein Schatz! Mein Gott, hat Chris sich da ein Goldstück gewählt!“ Ich werde ein bisschen rot bei ihren Worten. Dann schaue ich noch einmal nach dem erwähnten Mann. Christopher lebt noch, schnarcht, fast das ganze Bett mit seinen ausgestreckten Beinen und Armen einnehmend. Der (Kotz-)Eimer, den ich ihm hingestellt habe, ist auch noch leer. Ein Aufweckversuch scheitert ähnlich wie bei Henning, und ich seufze. Ich schreibe meinem Freund eine Notiz mit meinem angestrebten Aufenthaltsort, Hennings und Kims neues Domizil, die ich an die Eingangstür klebe, und gehe.   Rund 45 Minuten später stehe ich vor dem schicken Einfamilienhaus mit hellweißem Klinker und großem Garten. Kim reißt die Tür praktisch nach dem ersten Klingeln auf und fällt mir dankend um den Hals. Sie scheint in Christophers Alter zu sein, Mitte 30. Sie ist fast einen Kopf kleiner als ich, etwas molliger, wie viele wohl sagen würden, bestückt mit natürlichen weiblichen Kurven, sage ich. Ihr kastanienbraunes Haar hat sie zu einem Zopf gebunden, sie ist ungeschminkt und hat leichte Ringe unter den Augen. Definitive Resultate einer stressigen Umzugszeit. Dennoch wirkt sie vom ersten Moment an sympathisch auf mich.   „Vielen lieben dank, dass du hier bist, Niko, so schön dich kennenzulernen! Schade, dass es nicht unter etwas netteren Umständen ist, aber daran können wir wohl jetzt auch nichts mehr ändern, ich mache das eines Tages bestimmt wieder gut!“ Mit diesen Worten schiebt sich mich praktisch ins Haus. „Kann ich dir was anbieten? Wasser? Wein? Bier?“   „Alles gut. Nach Christophers Monsterfahne habe ich ehrlich gesagt erstmal keine große Lust auf Alkohol, wenn ich ehrlich sein soll…“, entgegne ich und grinse leicht.   Kim seufzt, erwidert aber mein Grinsen, rollt mit den Augen. „Gott, das kann ich so gut nachvollziehen…“, meint sie dann ihren Kopf schüttelnd, und ich lasse meinen Blick durchs Haus wandern. Kim hat nicht übertrieben: Hier stehen wirklich überall Kartons und lose Möbelstücke herum. Es ist ein reines Chaos.   „Wir können direkt loslegen, wenn du magst“, schlage ich ihr deswegen vor.   Kim nimmt mein Angebot strahlend an, und erklärt mir, in welchen Verpackungen die Kinderzimmerartikel verstaut sind. Sie hilft mir beim Tragen der größeren Kartons, die wir Gott sei Dank nur ein Stockwerk höher verfrachten müssen – und die für den Nachwuchs designierten Räume sind leicht über den breiten Flur zu erreichen. Während wir Schleppen, und zwischendurch auch mal insbesondere auf der Treppe fluchen, reden wir.   „Mir ist das wirklich sehr unangenehm, dass ich meine Wut am Telefon an dir ausgelassen habe…“, bemerkt Kim und schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln, als wir in dem Zimmer ihres Sohnes mit dem Zusammensetzen des Bettes beginnen.   „Ach!“, winke ich ab. „Das habe ich wirklich gar nicht so wahrgenommen. Und ganz ehrlich: In diesem Punkt kann ich dich voll und ganz nachvollziehen. Du glaubst ja gar nicht, wie wütend ich war, als die beiden gestern so plötzlich aufgetaucht sind. Nachdem Chris sich erstmal ne ganze Weile gar nicht bei mir gemeldet hatte, und ich mir echt Sorgen gemacht hab…“ Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich in Kims Gegenwart nicht so das Problem, Details des vergangenen Abends auszupacken. Wahrscheinlich, weil sie mit dem anderen Vollidioten, der einen großen Teil dazu beigetragen hat, liiert ist.   Kim seufzt theatralisch und hebt die Hände in eben solcher Manier gen Himmel, als würde Sie den Herren da oben bitten wollen, Hirn herabregnen zu lassen. „Diese beiden…!“, flucht sie dann, senkt ihre Arme wieder und schaut mich Kopf schüttelnd an. „Das ist das erste Mal, dass du das Chaos-Duo erlebt hast, oder?“   Adrians Worte fallen mir ein.   Henning und Chris – das ist eine ganz furchtbare Kombi.   „Das ist das erste Mal, dass ich Christopher so voll erlebt habe…“   „Ha! Das kann ich mir vorstellen!“, sagt sie glucksend. „Wann sind die beiden denn überhaupt eingekehrt?“   „Gegen Mitternacht“, entgegne ich, und gebe ihr dann eine Zusammenfassung der gestrigen Events, angefangen damit, dass ich überhaupt nicht wusste, dass ich noch mit Besuch rechnen muss. Ich erzähle ihr so gut wie alles, lasse nur die Szenen in unserem Bett aus – denn offenbar muss ich mich mal derbe auskotzen, und Kim ist diejenige, die mich in diesem Moment wohl am besten versteht. Außerdem habe ich, wie gesagt, ein gutes Gefühl bei ihr. Ich berichte ihr sogar von Christophers Nachricht an Adrian, die eigentlich an mich gehen sollte – natürlich ohne das Wort „Session“ zu erwähnen.   „O mein Gott… O mein Gott!“, flucht sie und streicht sich mit beiden Händen durchs Gesicht bei meinen Worten. Halb lachen wir, halb fluchen wir bitter. Ja, Kim versteht mich. „Diese… Vollpfosten!“, wiederholt sie und schnaubt, und legt dann eine Pause ein, in der sie die Möbelstücke, die zwischen uns auf dem Boden liegen ansieht. „Versteh mich nicht falsch“, setzt sie danach wieder etwas ernster an, die Instruktionen für das Zusammenschrauben einiger Betteinzelteile beiseitelegend. „Christopher ist ein feiner Kerl, und ich kenne ihn schon sehr lange. Ich weiß nicht, ob er dir das schon mal erzählt hat, aber ich bin mit Henning zusammengekommen, da haben wir alle gerade mal im zweiten Semester studiert. Ich habe die beiden auf ner Party kennengelernt – damals war ich ja noch in Berlin an der Uni und war nur zu Besuch bei einer Freundin, die mich auf diese Fete da geschleppt hat.“   „Oh, das ist ja wirklich ne lange Zeit…“   Kim nickt und lächelt ein wenig gequält. „Ja, ist es…“, pflichtet sie mir bei. „Jedenfalls… Ich mag Christopher. Im Grunde genommen. Okay? Das Problem ist einfach – und deswegen geht mir dieser Umzug so nahe und ich weiß noch nicht so richtig, ob das wirklich so eine gute Idee ist, dass die beiden jetzt wieder in einer Stadt wohnen und auch zusammenarbeiten –, naja… Wie gesagt: Das Problem ist einfach, dass… Hm, wie soll ich dir das am besten erklären?“ Sie lässt die Schultern hängen und lässt die Augen etwas ziellos im Zimmer herumwandern, als würde sie an der Decke eine Antwort vermuten. Dann legt sich ihr Blick wieder auf mich und sie seufzt. „Wenn die beiden zusammen unterwegs sind – dann eskaliert es. Jedes. Gottverdammte. Mal.“   Ich presse die Lippen zusammen. „Eskalation kann man das wohl wirklich nennen.“   „Weißt du, die beiden sind… wie dieses komische grüne Zeug, wogegen Superman allergisch ist, oder was auch immer.“   „…Kryptonit?“   „Ja, genau!“, ruft sie aus und klatscht dabei kurz in die Hände. „Kryptonit, das ist es. Die beiden sind wie Kryptonit füreinander. Ich weiß nicht genau, was da passiert, und warum das so ist, aber jedes Mal, wenn die beiden alleine saufen gehen, legt sich bei denen ein Schalter im Kopf um, und ihr Hirn geht einfach aus. Die beiden benehmen sich plötzlich wie zwei Heranwachsende, die sich gegenseitig was beweisen wollen und übertreiben es einfach. Mit allem.“   „…das klingt echt so gar nicht nach Chris...“   „Und wenn du Henning kennen würdest, würdest du das gleiche über ihn behaupten“, verkündet Kim bestimmt und verschränkt die Arme vor der Brust.   „Die beiden waren aber gar nicht allein gestern“, sinniere ich laut. „Dieser David war ja noch mit, wenn ich das richtig verstanden habe…“   Kim lacht kalt auf. „Und ich wette mit dir, der hat sich nach ein bis zwei Drinks verpisst, und die beiden sind allein zurückgeblieben oder weitergezogen; und dann ist denen auch völlig egal, was eigentlich noch für den Abend geplant war oder für den nächsten Tag, daran denken die einfach gar nicht mehr. Dann zählt nur noch der Alkohol. Die beiden stacheln sich gegenseitig an und vergessen einfach alles und jeden anderen.“ Sie legt eine kurze Pause ein, ehe ein weiterer, tiefer Seufzer ihren Mund verlässt. „Ach, Niko, das habe ich schon so oft erlebt mit den beiden… Das Ding ist, du sagst es ja selbst: Du hast Christopher noch nie so voll erlebt. Ich erlebe Henning auch nur so voll, wenn er mit deinem Mann säuft.“   „…krass“, ist das einzige, was ich dazu sagen kann.   „Ja. Krass. Eine Scheiße ist das“, sagt sie seufzend. „Ist es schon immer gewesen. Weißt du, dass die mal im besoffenen Kopf nach Dänemark mit dem Zug gefahren sind? Ich hatte, ähnlich wie du, an einem Samstagmorgen auf Henning gewartet, und irgendwann, als Adrian und ich schon dabei waren, die Krankenhäuser abzutelefonieren, weil wir uns sicher waren, dass denen etwas zugestoßen ist, kam der Anruf aus einem Hotel in Kopenhagen. Die beiden hatten keinen blassen Schimmer, wie sie dahingekommen waren, konnten sich nur dran erinnern, dass sie am Bahnhof in irgendeinen Zug gestiegen sind.“ Ich zucke bei der Erwähnung des Italo-Fuckers leicht zusammen, was Kim aber nicht zu bemerken scheint. Dass sie ihn kennt, hätte mir ja auch eigentlich von vorne herein einleuchten müssen. Offenbar bin ich wohl einfach zu müde und kann mein Hirn, ähnlich wie Christopher und Henning, auch nicht mehr wirklich benutzen. „Auch schön ist die Story, als die beiden beim Biertrinken am See auf die glorreiche Idee gekommen sind, mal Haschisch zu rauchen.“   „…was?“ Bei dieser Vorstellung muss ich fast sogar ein wenig lachen. „Der adrette Herr Anwalt am Haschischrauchen?“   „Glaub mir: Das haben die auch nur einmal gemacht…“   „…oh?“   Kim liefert mir die ganze Geschichte: Die beiden Studenten saufen Bier auf dem kleinen Steg am Unisee. Viel Bier. Vermischt mit Wodka und anderem Schnaps. Ein anderer Studierender will ihnen den Stoff verkaufen, Henning und Christopher meinen, das sei eine tolle Idee, willigen ein – und am Ende müssen Kim und Adrian herkommen und verbringen laut der Frau Stunden damit, die Jungs vom Steg zu holen, weil die beiden irgendwelche dummen Halluzinationen haben und der Steg ihrer Meinung nach eine hin und her schwingende Planke, das Wasser voller Monster ist und sie sich an dem Holz regelrecht festkrallen.   „…oh…“   Auch wenn mir nicht passt, dass Adrian in dieser Erzählung eine Rolle spielt, so muss ich doch ein kleines wenig grinsen. Richtig lustig wäre diese Geschichte wohl, wäre da nicht der gestrige Abend, der noch so frisch nachhängt, und der mich eine Seite Christophers hat erleben lassen, von der ich nur mäßig begeistert bin – ich habe das einfach noch nicht verarbeitet. Und jetzt kommen schon die nächsten Details an die Oberfläche.   „Das Seltsame ist“, fährt Kim unbeirrt fort, „wenn die beiden ihre Partner dabeihaben, oder zusammen in einer größeren Gruppe unterwegs sind, passiert diese Eskalation nicht. Dann ist, zugegeben, vor allem Christopher derjenige, der sich zurückhält und manchmal sogar fast gar nichts trinkt.“   „…und genau so kenne ich Christopher…“, bemerke ich.   Kim nickt. „Henning trinkt zwar gerne mal einen über den Durst. Aber wie gesagt: Er stürzt nur so heftig ab, wenn er mit Chris unterwegs ist. Und deswegen hasse ich es, wenn die beiden was zusammen unternehmen… So blöd das klingt. Und ich bin wirklich keine dieser Ehefrauen, die erwartet, dass ihr Mann nur noch zu Hause abhängt und nicht mit seinen Kumpels in die Kneipe geht. Echt nicht. Ich gehe selbst gern in die Kneipe.“ Ich nicke. Ehrlich gesagt kann ich mir nach dem gestrigen Desaster gut vorstellen, dass ich auch anfangen könnte es zu hassen, wenn Christopher und Henning zusammen weggehen… Kim spricht weiter.   „Ich habe Hennings Umzug in Christophers Kanzlei ehrlich gesagt auch nur zugestimmt, weil in seiner alten einfach so viel schiefgegangen ist. Was genau, kann ich dir gar nicht sagen, nur, dass Henning am Ende extrem frustriert war. Oder eher gesagt: depressiv. Er hat sich mit all diesen furchtbaren Menschen zerstritten, und die wollten seine Reputation zerstören. Seine Kollegen waren einfach echte Arschlöcher. Der einzige Ausweg war für uns war am Ende, die Stadt zu verlassen“, erklärt sie und seufzt, und ich denke an Johannas Beschreibung von Henning: herrschsüchtig. Ob es etwas damit zu tun hat? Ich sage nichts, lasse Kim weitererzählen. „Und ich bin Chris echt dankbar dafür, dass er das so schnell und so unkompliziert möglich macht. Aber… Ich habe schon Bauchschmerzen. Wir wohnen noch nicht einmal richtig hier, und die beiden sind schon abgestürzt. Und hier geht es auch um die Kinder, verstehst du? Henning und ich hatten das so oft besprochen, dass die Kinderzimmer fertig sind, bevor Ben und Mia das Haus zum ersten Mal betreten. Und jetzt das hier…“   Ich nicke verständnisvoll. „Ich glaube, ich stehe ein bisschen unter Schock“, gebe ich dann zu. „Gerade so ein Kontrollverlust ist für Christopher… wie gesagt: untypisch. Auch der, naja, Leichtsinn dabei. Das passt halt auch so überhaupt nicht zu ihm. Er wusste ja offensichtlich, was ihr beiden heute vorhabt, und dass er sich dann trotzdem mit Henning so volllaufen lässt ist… hart. Und erstaunt mich.“   Kim seufzt zum wiederholten Male und lächelt mir dann aufmunternd zu. „Tut mir echt leid, Niko, dass dir der Chaos-Trupp das Wochenende versaut hat... Ich hatte ja gehofft, ich lerne dich vor dem ersten Christopher-Henning-Absturz kennen, damit ich dich in aller Ruhe warnen und darauf vorbereiten kann…“   „Nun ja… Es läuft ja nie so, wie geplant, was?“, versuche ich zu scherzen.   „Eines ist jedenfalls klar: Wir müssen unseren Männern heute einen richtigen Einlauf verpassen“, sagt Kim mit harter Stimme und widmet sich wieder dem Handwerklichen.   Wir kommen gut voran, und ich bin froh, dass wir uns jetzt mehr konzentrieren müssen auf den Möbelaufbau. Das lenkt gut ab. Und so kann ich mich gar nicht mit diesen seltsamen Gefühlen befassen, die mir einen leicht flauen Magen verschaffen.   Es ist nicht unbedingt so, dass mich das Ganze so sehr umhaut wie Christophers Beichtkomplex. Mein Freund hatte mir zwar nicht unbedingt offenbart, dass er so krass mit Henning abstürzt, aber ich erinnere mich an ein paar unserer Unterhaltungen über Besäufnisse – und Christopher hatte in der Tat Henning in diesem Zusammenhang erwähnt. Hatte erzählt, dass er mit seinem Kommilitonen die schlimmsten Abende seines Studentenlebens erlebt hatte. Er hat mir in diesem Sinne also nicht etwas total verschwiegen, wie er es mit seinen nicht vorhandenen Putzqualitäten und dem bestimmten Putzpersonal getan hat. Dennoch setzt mir das Ganze zu. Weil er mich versetzt hat, obwohl unsere ausgemachten Sessions sonst immer Priorität haben, außer es kommt etwas Berufliches dazwischen – was der gestrige Abend offenkundig nur am Anfang gewesen ist, wenn überhaupt. Weil er mir diese hässliche Seite von sich gezeigt hat, mit ekelhafter Lache und zum Teil primitiven Macho-Getue, die offensichtlich in der Kombination „Henning + Alkohol“ erwacht. Eine betrunkene Zugfahrt nach Kopenhagen – das ist echt schon extrem…   Und den Christopher von gestern Abend mochte ich zum größten Teil einfach nicht.   Kim klatscht zufrieden in die Hände, als Bens Bett steht, und wir auch noch den Schrank, Schreibtisch und einige Kommoden aufgebaut haben, und alle mit dem Namen ihres Sohnes versehenen Kartons in die Mitte des Raumes gestellt haben, damit sie im nächsten Schritt nur Spielzeuge, Klamotten und Co verteilen muss. „Puh…!“, macht Kim und wischt sich seichte Schweißtropfen von der Stirn. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin schon etwas kaputt.“   „Ich auch. Ein bisschen.“ Was eine Lüge ist. Ich bin ziemlich fertig, aber wir haben noch das zweite Kinderzimmer vor uns, und ich möchte nicht, dass Kim sich Sorgen macht, dass wir das möglicherweise nicht schaffen. Hennings Ehefrau setzt gerade zu einer Antwort an, als ihr Handy plötzlich klingelt.   „Ach, sieh mal einer an…“, flötet sie in einem gefährlich kalten Sing-Sang das Gerät hochhaltend. „Das ist ja mein geliebter Ehemann…“ Anstalten, das Gespräch anzunehmen, unternimmt sie nicht. Stattdessen schaut sie mich mit einer, ich würde mal sagen, trotzigen Miene an. „Also, wenn Henning jetzt denkt, dass ich tatsächlich ans Telefon gehe, dann hat er sich noch mehr Gehirnzellen weggesoffen, als ich ursprünglich angenommen habe“, stellt sie dann trocken fest, weist den Anruf ab, schaltet das Mobiltelefon auf lautlos und legt es beiseite, um es zu ignorieren.   Keine zehn Minuten später, nachdem Henning es wahrscheinlich noch einige Male bei Kim versucht hat, fängt meines an zu klingeln – und ich bin überhaupt nicht überrascht, dass es mein Freund ist, der meine Nummer gewählt hat. Ich zögere, mein Daumen über dem grünen Symbol schwebend, das das Gespräch annehmen würde. „Christopher, nehme ich an?“, kommt es von Kim und unsere Blicke treffen sich erneut. Ich bestätige mit einem Nicken und Hennings Ehefrau grinst kalt. „Ganz ehrlich: Geh nicht ran.“ Ich schlucke, ihren Vorschlag überdenkend, und Kim fährt mit durchdringender Stimme fort: „Lass ihn zappeln, Niko.“ Mein Telefon hört auf zu klingeln und Herr Lang darf sich jetzt mit der Mailbox zufriedengeben. Oder eben auch nicht – nach lediglich zehn Sekunden probiert mein Freund erneut, mich zu erreichen, und Kim wiederholt ihren eindringlichen Appell. „Lass. Ihn. Zappeln.“ Ich sehe sie wieder an und sie fährt fort: „Du hast Chris doch die Notiz dagelassen: Er weiß, wo er dich findet. Lass ihn gefälligst hier antanzen. Das ist das Mindeste, was er jetzt tun kann.“   Ein Teil von mir will rangehen, seine Stimme, seine Entschuldigung hören, erfahren, was er mir mitteilen möchte. Doch der andere Teil – der, der sich daran erinnert, wie Christopher mich hat gestern Abend zappeln lassen, mir nicht mitgeteilt hat, wann er nach Hause kommt, seinem Ex wegen unserer Session geschrieben hat und sich so furchtbar danebenbenommen hat – gewinnt, und ich weise den Anruf ab. Zumal Kim ja auch recht hat: Chris weiß, wo ich bin, und ja, auch ich finde, dass er sich gefälligst hierher auf den Weg machen sollte. Ich schalte mein Handy komplett aus und nehme Chris damit die Gelegenheit, mich auf irgendeine andere Weise zu kontaktieren. Kim lächelt mir aufmunternd zu und nickt irgendwie anerkennend.   Ich weiß nicht, ob ich mich gerade zu etwas anstacheln lasse, aber es fühlt sich auf jeden Fall richtig an und ist mir gelinge gesagt nach diesem furchtbaren Abend auch einfach egal. Ich bin einfach nur fertig und habe jetzt schon mehr als die Hälfte meines Sonnabends damit verschwendet, Kinderzimmermöbel aufzubauen mit einer Frau, die ich heute erst kennengelernt habe. Auch wenn Kim wirklich nett zu sein scheint, und ich wohl zwangsläufig in Zukunft mehr mit ihr zu tun haben werde, fallen mir partout hundert Dinge ein, die ich heute viel lieber unternommen hätte, und die Chris mir durch sein Besäufnis mit Henning verwehrt hat. Wie auch schon die lang ersehnte Session…   Kim und ich wandern ins zweite Kinderzimmer und legen dort schon mal die Einzelteile fürs zweite Kinderbett zusammen und räumen ein paar Kartons zur Seite, schrauben ein kleines Bücherregal zusammen – und reden uns weiter in Rage. Oder eher gesagt: Kim redet sich in Rage und ich nicke einfach nur zustimmend.   „Wenn wir ihnen das einfach durchgehen lassen, dann müssen wir auch damit rechnen, dass die beiden in Zukunft wieder so ne Scheiße abziehen und sich dann öfter volllaufen lassen“, sagt sie. Und Dinge wie: „Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich habe wirklich keine Lust darauf, dass mein Mann mich und die Kinder wegen eines Saufabends mit Christopher einfach so versetzt und sich stundenlang nicht meldet, also werde ich ihm heute auch noch gehörig die Leviten lesen.“ Und irgendwo hat sie ja wirklich recht, wenn sie meint: „Wir müssen das Problem, also, ehe es zu einem wird, an der Wurzel packen und eliminieren.“ Und wir einigen uns natürlich darauf, dass die Herren, sobald sie hier auftauchen, dazu verdonnert werden, die restlichen Möbel zusammenzuschrauben, während wir die Füße hochlegen.   Rund eine Stunde, nachdem unsere Handys geklingelt haben, klingelt es der Tür. Kim erhebt sich unmittelbar, ihre Gesichtszüge hart, die Hände zu Fäusten geballt. Sie nickt mir irgendwie entschlossen zu und erinnert mich an unser Motto. „Denk dran: Lass Christopher zappeln.“ Und dann setzt sie sich, scheinbar voller Energie, in Bewegung, und ich laufe ihr hinterher, und bin ein wenig erstaunt, dass mein Herz so wild in meiner Brust pocht beim Gedanken daran, meinem Freund gleich gegenüberzustehen.   Kims Schlüssel stecken in der Tür und klimpern laut, als sie sie damit aufschließt – warum Henning klingeln musste ist mir damit also klar – mit dem von innen steckenden Schlüssel geht das bei dieser Tür offenbar nicht – und war sicherlich auch so von Kim geplant, damit sie sich auf diesen Moment vorbereiten kann. Ich bleibe etwas unsicher weiter hinten in der Diele stehen, um die Szenerie in ihrer Gänze aus dieser kleinen Distanz beobachten zu können.   „Na, wenn das nicht Dumm und Dümmer sind!“, begrüßt Kim die feinen Herren Anwälte fies und lässt die beiden eintreten.   Ich halte die Luft an. Henning sieht unfassbar scheiße aus. Das Gesicht bleich, die Ringe unter seinen Augen violett-schwarz, das Karamell glasig. Ich erkenne Christophers Klamotten an seiner Erscheinung: Mein Freund hat ihm einen seinen dünnen schwarzen Pullover geliehen sowie eine der Bluejeans, die etwas an Hennings Beinen schlackert. Christopher selbst trägt ein T-Shirt in Dunkelgrün und darüber einen schwarzen Hoodie…  und sieht nicht wirklich besser im Gesicht aus als sein Kollege.   Als sich unsere Blicke treffen, fühlt es sich so an, als würde ein Pfeil durch meine Brust rasen. Und da ist es wieder: das Rehkitz.   Christopher mustert mich mit seiner sehr besorgt-entschuldigenden Miene. Seine Körperhaltung eher geduckt als alles andere. Herr Lang wirkt nicht wie sonst überzeugt von sich selbst, sondern – ganz im Gegenteil – extrem unsicher; und in dem Moment fallen mir die Blumensträuße auf, die er und Henning in den Händen halten, sowie die durchsichtigen Plastiktäschchen mit indischem Take-Away, das herrlich riecht. Henning hat zudem eine Flasche Rotwein mitgebracht.   „Kim, es tut mir leid…“, setzt er an und hört sich dabei heiser an. Im selben Augenblick macht Christopher einen Schritt auf mich zu – doch Kim hält ihn auf, ihre Hand bestimmt auf seine Brust legend. So, wie sie auch Henning daran hindert, weiter zu sprechen und ihr näher zu kommen. „Halt!“, ruft sie dabei aus, und Christopher und Henning gefrieren in ihrer Bewegung; und auch in mir wächst die Anspannung bei der Strenge, die in Kims Ton mitschwingt. Frustrierte Power-Ehefrau, Level 100. „Was zum Teufel ist gestern in euch gefahren?!“, herrscht sie die beiden laut an und ihre kraftvolle Stimme hallt gespenstisch durch die noch unmöblierte Diele.   Dann geht es zunächst Henning an den Kragen. „Henning, verdammte Scheiße!“, knurrt die brünette Frau. „Du sagst ‚ich trinke nur ein paar Drinks nach der Arbeit mit Kollegen‘ – und dann kommst du einen Tag später hier an, und sagst mir noch nicht mal Bescheid, dass du bei Christopher übernachtest?! Hast du auf die Uhr geguckt? Wir wollten um 9 Uhr anfangen, das haben wir tausendfach durchgekaut. Jetzt ist es vier. Vier! Es geht nicht einmal darum, dass ich mir mal wieder stundenlang Sorgen um dich gemacht habe. Es geht um deinen Sohn und deine Tochter! Und du gehst einfach saufen, als wärst du 20, und anstelle von dir ist Christophers Freund heute hier, der mich heute erst kennengelernt hat und der keinerlei Verpflichtungen uns gegenüber hat, und dennoch mit mir die Zimmer unserer Kinder vorbereitet. Schämst du dich nicht?“   Henning bekommt keine Gelegenheit, zu antworten, denn Kim richtet bereits das Wort an meinen Freund. „Und du“, spuckt sie regelrecht aus und pocht einmal kurz mit dem Finger gegen Christophers Brust, der sie daraufhin gar erschrocken ansieht, „weißt ganz genau, was Henning heute vorhatte, und füllst ihn so ab?“   „Ich hab ich nicht…!“, protestiert Chris die Stirn runzelnd, kommt aber weiter, weil Kim ihn direkt anfährt.   „Ah! Du bist jetzt ruhig, Christopher – ich rede!“, zischt sie, mit der Hand wild vor seinem Gesicht herumfuchtelnd; und mein Freund presst tatsächlich die Lippen aufeinander und senkt den Blick. Ich bin… erstaunt. Und auch ein bisschen amüsiert darüber, dass er sich offenbar seinem Schicksal fügt, von Kim zusammengefaltet zu werden. Verdient hat er es ja irgendwo… „Nicht nur, dass du mal wieder mit dafür gesorgt hast, dass Henning und ich wichtige Termine nicht einhalten können – und ich wiederhole gern, dass es dieses Mal vorrangig um unsere Kinder ging –, nein, du versetzt deinen Freund, der sich stundenlang Sorgen um dich macht, und dann schreibst du besoffener Hund auch noch deinem Ex anstatt Niko, der dann trotzdem so nett ist und hier auftaucht, obwohl du ihm den Abend so dermaßen versaut hast!“   Christophers panischer Blick erfasst mich. „Das mit Adrian war ein Versehen…!“, setzt er mit fast schon flehender Stimme an und macht erneut Anstalten, sich in meine Richtung zu bewegen, der Blumenstrauß immer noch in seiner Hand; aber Kim stellt sich ihm einfach in den Weg.   „Christopher – ich rede immer noch!“, fährt sie ihn an – dieses Mal fügt Christopher sich ihr aber nicht, und ich muss zugeben, dass mein Herz mittlerweile extrem laut in meiner Brust pocht.   „Bei allem Respekt, Kim“, presst er jetzt ziemlich verärgert hervor, „ich weiß, du bist wütend, und du hast jegliches recht dazu. Ebenso wie Niko jegliches recht hat, sauer auf mich zu sein“, er sieht mich durchdringend an und richtet seinen Blick dann wieder auf die Frau vor ihm. „Du kannst mich gleich auch gerne so sehr zur Sau machen, wie du nur möchtest – aber ich möchte jetzt sofort mit meinem Freund sprechen, und zwar allein, also lass mich bitte durch, Kim.“   An Kims Stelle hätte ich in diesem Moment wohl ein bisschen Angst vor Christopher und würde ihm sofort aus dem Weg gehen. Aber Kim ist nicht ich. Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Vielleicht möchte Niko aber jetzt gar nicht mit dir reden…“, säuselt sie dann schon fast gehässig, und wendet mir dann den Kopf zu, und ich weiß, was sie von mir erwartet: Zusammenhalt.   Die Durchführung unseres Mottos: Lass ihn zappeln.   …und so sehr ich es begrüße, dass mein Freund so offensichtlich von einem schlechten Gewissen geplagt wird, entscheide ich mich in diesem Moment, ihn tatsächlich noch nicht vom Haken zu lassen.   Christopher schaut mich angespannt an, gar ein wenig verängstigt. Es ist ein weiterer Bambi-Blick, der es mir sogar ein bisschen schwer macht, hart zu bleiben. Aber Kim hat ja recht: Die beiden müssen ihre Lektion lernen. Und die muss noch etwas dauern.   „Ich möchte jetzt gern eine Pause vom Möbelschleppen und -zusammenbauen machen“, erkläre ich mit fester Stimme und zwinge mich dazu, den Augenkontakt mit Christopher nicht zu brechen. Seine Augen werden noch größer, und sein Mund öffnet sich, ohne dass ein Ton über seine Lippen kommt. Mein Freund ist überrumpelt. Noch mehr, als Kim ihm plötzlich den Blumenstrauß aus der Hand reißt, und Henning sofort dasselbe Schicksal erleidet – und Kim dann beide Sträuße in einen der großen blauen Müllsäcke stopft, der am Treppengeländer hängt.   Schwungvoll dreht sie sich danach zu mir um. „Blumen sind viel zu schön, um als Entschuldigung für hässliche Dinge herzuhalten. Kleiner Tipp also: Nimm Blumensträuße nur an, wenn dein Mann sie dir im positiven Kontext schenkt: zum Jahrestag oder zum Geburtstag oder einfach nur so – nie als Entschuldigung. Sonst denkt er irgendwann, dass er sich alles erlauben kann und es allein mit Rosen wiedergutmacht…“   Sie nimmt Henning, der die ganze Zeit über schweigt, die Rotweinflasche aus der Hand und gibt sie mir, weil ihre Regel offenbar Rotwein nicht betrifft. Dann schnappt sie sich noch kommentarlos das Essen, das ihr Ehemann und Christopher mitgebracht haben – der mich ebenfalls die ganze Zeit schweigend anstarrt.   Ich habe ehrlich gesagt gerade nicht mehr die Kraft, Christophers Blick weiter zu erwidern. Weil ich befürchte, ich könnte schwach werden, und ihm doch die Möglichkeit geben, sich sofort zu erklären. Deswegen schaue ich weg. „So“, bestimmt Kim und richtet ihr Wort an die Anwälte. „Ihr beiden haut jetzt ab nach oben und kommt erst wieder runter, wenn die Arbeit getan ist, verstanden?“   „Ja, Schatz“, kommt es mechanisch von Henning, der sich umgehend in Bewegung setzt. Christopher rührt sich dagegen nicht, den Blick immer noch auf mich gerichtet. „Jetzt komm schon!“, fordert sein Kollege ihn eindringlich auf, und mir wird klar: Henning hat mega Schiss vor Kim…   „Niko…“, versucht Christopher es ein letztes Mal und kommt auf mich zu, aber Kim packt mich recht forsch am Oberarm und zieht mich in die entgegengesetzte Richtung, durch den großen Wohnraum hinüber zur offenen Küche.   „Wir machen uns jetzt schön die Flasche Wein auf, falls du mittlerweile doch Bock auf Alkohol hast, und essen“, bestimmt sie. „Und du Christopher“, ruft sie über ihre Schulter, „hilfst jetzt gefälligst Henning beim Einrichten der Kinderzimmer! Sonst haben wir beide ein Riesenproblem, verstanden?“   Ich drehe mich nicht um, die Augen stur auf die schöne große Kochinsel gerichtet. Ich höre nur, wie Christopher resignierend, und auch ein bisschen erzürnt, seufzt, und dann zusammen mit Henning, irgendetwas leise vor sich hinfluchend, die Treppen hinaufsteigt. Ich entlasse die Luft aus meinen Lungen, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie angehalten habe. „Es ist alles gut, Niko“, richtet Kim ihr Wort wieder an mich, ihre Stimme im Kontrast zu eben wieder ruhig und mild, während sie die Weinflasche entkorkt und ich die Styroporboxen mit verschiedenen Currys aus den Plastiktaschen fische. „Männer müssen manchmal fertiggemacht werden, sonst lernen sie’s nicht.“   „Ja, ich weiß…“   Dass Chris und jüngst eine etwas schwierige Zeit durchgemacht und gerade erst wieder die Harmonie hergestellt haben, die ich eigentlich gerne aufrechterhalten würde, lasse ich unerwähnt – so viel möchte ich Kim dann doch nicht erzählen. Und… Irgendwo hat Kim ja recht, wiederhole ich in meinen Gedanken, und Christopher muss ein bisschen leiden. So wie ich gestern und heute schon wegen ihm gelitten habe.   …es ist mal wieder ein emotionales Auf und Ab in meinem Kopf.   „Ich habe nach einem besonders heftigen Christopher-und-Henning-Besäufnis seine gesamte Panini-Stickersammlung weggeworfen, das war sogar noch während der Studienzeit“, erzählt Kim mir, den Wein in Plastikbecher füllend. „Henning ist ausgerastet. Total ausgeflippt, alles sehr übel. Aber: Ich hatte fast ein ganzes Jahr meine Ruhe, und Christopher und Henning haben in dieser Zeit, wenn überhaupt, dann nur zivilisiert ein bis zwei Bierchen zusammen konsumiert.“   „Wow… Krass“, sage ich, und kann mir bei bestem Willen nicht vorstellen, irgendetwas von Christopher wegzuwerfen; selbst nicht in einem extrem angepissten Zustand. Kim ist… hart.   Sie reicht mir einen der Becher und wir stoßen an, und die Currys schmecken fantastisch. „Christopher braucht das in diesem Zusammenhang auch“, sagt sie nach einer Weile, in der wir schweigend gegessen haben, und den lauten, diffusen Flüchen der Herren zugehört haben, die sich oben offenbar gerade mächtig angezickt haben. „Eine Art Retourkutsche. Konsequenzen“, spezifiziert sie, als ich sie mit hochgezogener Braue ansehe, und ich muss bei dem Wort Konsequenzen fast loslachen – denn normalerweise bin ich derjenige von uns beiden, der irgendwelche Art Konsequenzen zu tragen hat, und bestraft wird… Bei diesem Gedanken wird mir wieder bewusst, wie enttäuscht ich bin, dass die gestrige Session ausgefallen ist, und seufze laut. „Adrian hat das auch mal rigoros durchgezogen, und ist, anstatt mit Chris, mit seinem guten Kumpel übers Wochenende weggefahren, das die beiden eigentlich zusammen verbringen wollten. Und er hat dann auch alle Anrufe von Chris konsequent ignoriert, bis einschließlich Sonntagabend – das hat damals auch Wunder gewirkt“, erzählt Kim.   Das Curry schmeckt plötzlich nicht mehr, und ein weiteres Seufzen entweicht meinem Mund. Wieso stoße ich in letzter Zeit eigentlich immer wieder auf Spuren von Christophers Ex-Freund?   Im Übrigen könnte ich mir auch nicht vorstellen, Christopher auf diese Weise zu behandeln nach einem Streit…   So, als hätte Kim meine Gedanken gelesen, entschuldigt sie sich plötzlich bei mir. „O Gott, ich bin so unsensibel“, meint sie nämlich plötzlich und sieht mir dabei etwas erschrocken in die Augen. „Ich rede immer wieder von Christophers Ex, das ist so unhöflich“, lautet ihre Selbstschelte. „Tut mir leid, Niko, aber… Ich hoffe, ähm, naja, das mit Adrian ist ja auch echt lange her, und ich hoffe, du siehst das nicht so eng. Sorry. Adrian hat… Er war einfach nur so lange mit Chris zusammen, und hat die meisten Eskapaden von den beiden Volltrotteln halt miterlebt, und diese Erinnerungen kommen jetzt gerade wieder alle hoch…“   „Alles okay“, lüge ich und nehme einen weiteren Schluck Wein.   „Ich halte jetzt einfach mal meine Klappe. Erzähl du lieber was. Wie bist du überhaupt mit Christopher zusammengekommen?“   Kim redet wirklich nicht mehr über Adrian, oder andere Ex-Freunde oder Affären von Chris. Ich erzähle ihr von unserer Begegnung im Park, und andere Dinge über meine Beziehung zu Christopher, die frei von BDSM-Elementen sind. Zum Beispiel, dass wir erst vor Kurzem zusammengezogen sind. Kim fragt mich nach meinem Studium aus, erzählt ein bisschen von ihren Unizeiten und packt noch ein paar Geschichten aus der Anfangszeit von ihr und Henning aus, und ich frage sie nach dem Heiratsantrag – der ganz unromantisch auf dem Sofa auch noch ohne Ring geäußert wurde – und sie berichtet ein wenig von der Hochzeit, bei der sie schon schwanger war und deswegen nicht wirklich feiern konnte. Wir plaudern über die Stadt, Filme, alles – und irgendwann sind unsere Weingläser leer, und wir steigen um auf Wasser.   Weil wir im Gegensatz zu Christopher und Henning vernünftig sind.   Nach einigen Stunden kommen die Männer, komplett erschöpft, unten an. „Seid ihr mit allem fertiggeworden?“, hakt Kim mit eiserner Stimme nach und Henning nickt eifrig.   Ich kralle mich am Blatt der Kücheninsel fest, an der wir auf Barhockern sitzen, als mein Freund mich ins Visier nimmt und ganz langsam auf mich zukommt, meinen Blick sucht. Ich bin irgendwie nervös. Auch, weil ich keine Ahnung habe, was der Powerfrau Kim jetzt wieder vorschwebt, und ob sie sich schon wieder vor Christopher aufbauen wird. „Niko und ich haben euch gnädigerweise etwas von den Currys übriggelassen, falls ihr es essen wollt“, äußert Kim irgendwie abfällig.   „Danke, Schatz“, kommt es gar gehorsam von Henning.   Christopher sagt nichts, steht jetzt direkt neben mir. Ich starre den Reißverschluss seines Hoodies an und kämpfe in meinem Innern gegen so viele Emotionen. Urplötzlich greift er nach meiner Hand, und ehe ich reagieren kann, führt er sie zu seinem Mund und haucht mir einen Kuss auf meinen Handrücken. Unsere Blicke treffen sich, und daraufhin zieht es sich ein bisschen in meiner Brust zusammen. Mein Freund schaut mich jetzt nicht mit Rehkitz-, sondern mit bettelnden Hundeaugen an. „Tut mir leid…“, raunt er, während sein Daumen zärtlich über meine Finger fährt, und er mir dann einen zweiten Kuss auf meine Knöchel haucht.   Christopher denkt offenbar nicht ansatzweise daran, meine Hand wieder loszulassen, und ein Teil von mir begrüßt das. Ein anderer will ihn wegstoßen und zur Sau machen. Aber mir bleiben alle bösartigen Bemerkungen irgendwie im Halse stecken – wahrscheinlich auch, weil ich weiß, dass das hier einfach nicht der richtige Ort dafür ist.   „Natürlich“, zischt Kim plötzlich zu meiner rechten, ihr Blick auf Christopher und mich gerichtet. „Christopher lässt mal wieder den Charmeur raushängen. Niko – fall bloß nicht drauf rein. Lass dich nicht so schnell um den Finger wickeln…!“, warnt sie mich und funkelt meinen Freund daraufhin gar ein wenig giftig an. Henning isst schweigend das Lammgericht, und Christopher… Christopher wird sauer.   „Kim, bei allem Respekt…“, wiederholt er seine vorhin geäußerten Worte und klingt dabei, als hätte er die allergrößte Mühe, die Lautstärke seiner Stimme so weit unten zu halten, „ich weiß, dass ich eure Pläne mittorpediert habe, und das tut mir leid. Ich verstehe, dass du gestresst bist vom Umzug und der ganzen Situation rund um die Fusion – das sind wir alle – aber nimm dir deswegen bitte jetzt nicht heraus, dich in die Beziehung von Niko und mir zu mischen“, sagt er im scharfen Ton.   Kim schnaubt, und ich möchte einfach nur noch hier weg, weil jetzt so eine heftige Spannung in der Luft liegt, dass mir fast schlecht wird. So wie gestern von Christophers Fahne. „Lass und nach Hause, du kannst dir ja was vom Curry einfach mitnehmen“, entscheide ich deshalb schnell, entziehe Christopher meine Hand und rutsche vom Hocker.   Henning nickt mir zum Abschied still zu, und er tut mir fast ein bisschen leid, denn Kim – das wissen wir alle – ist noch längst nicht fertig mit ihm. Mich drückt die Brünette. „Niko, vielen, vielen lieben Dank für deine Hilfe. Ich werde mich auf jeden Fall revanchieren. Und denk dran“, wispert sie dann noch konspirativ in mein Ohr, „lass ihn zappeln.“   …nur leider weiß ich nicht, ob ich das wirklich noch möchte.   „Christopher, nimm es mir nicht übel, aber ich hoffe, ich sehe dich jetzt erstmal eine ganze Weile lang nicht wieder“, richtet Kim ihr kühles Wort dann an meinen Freund, umarmt ihn aber trotzdem zum Abschied.   „…das hoffe ich auch“, entgegnet Christopher und lächelt bitterkalt.   Und dann gehen wir. Ich runzele die Stirn, als Christopher mich zum Taxi führt, dass er eben per App bestellt hat. „Mein Wagen steht noch an der Kanzlei…“, erklärt er dann leise, und ohne mir dabei in die Augen zu sehen.   „Ah ja…“, murmele ich und steige ein.   Wir reden nicht während der Fahrt. Auch die Rückbank eines Taxis ist nicht der richtige Ort dafür. Aber Christophers besorgter, zerknirschter Blick, setzt mir ehrlich gesagt echt zu. Lass ihn zappeln, hallt Kims harte Stimme durch mein mentales Zentrum. Aber… Dafür bin ich nach all dem, was wir letztens durchgemacht haben, wohl einfach nicht der richtige Typ. Insbesondere, weil die letzten Tage so voller Harmonie gewesen sind. Und ich absolut keine Lust mehr auf Stress habe.   Ich strecke meine Hand aus und ergreife Christophers, verschränke unsere Finger miteinander. Sein Druck ist fest, dankbar. Dankbarkeit lese ich auch in seinen Augen, als ich kurz in sie blicke und meinem Freund ein leichtes Lächeln schenke, um ihm mitzuteilen: Egal, was gleich noch für ein unangenehmes Gespräch auf uns zukommt – das wird schon irgendwie.   Die ganze Fahrt über fährt streichelt er mich mit seinem Daumen. Es ist eine kleine, und doch sehr intime Geste. Sprechen tun wir allerdings erst, als die Haustür hinter uns ins Schloss gefallen ist. „Niko… Es tut mir unfassbar leid“, legt mein Freund umgehend los, als ich noch nicht einmal aus den Schuhen geschlüpft bin. „Ich bin ein Arschloch, ich weiß.“ Ich runzele die Stirn und lege meine Jacke ab.   „Können wir uns bitte erst einmal setzen?“, frage ich ihn und gehe hinüber ins Wohnzimmer. Doch dort herrscht immer noch Chaos. Natürlich: Die Jungs hatten ja gar keine Zeit, aufzuräumen. Sind wahrscheinlich fix unter die Dusche gesprungen und dann zu uns geeilt. Ich seufze tief, und Christopher ist unmittelbar zur Stelle.   „Ich mache sofort hier sauber, Niko!“, verspricht er. „Wie wäre es damit: Ich lasse dir eben ein Schaumbad ein, du relaxt, und ich beseitige hier alle Spuren des gestrigen Abends. Und dann setzen wir uns zusammen, und du darfst mich so sehr fertigmachen, wie du nur willst… Hm?“ Er spricht ein wenig hektisch, panisch gar. Und das ist fast sogar ein bisschen süß.   „Ich will dich gar nicht fertigmachen“, gebe ich zu und schaue ihm dabei in die Augen. „Ich würde gerne nur verstehen, was da gestern passiert ist…“   Christopher nickt, etwas peinlich berührt, schaut den Boden an. „Und ich werde versuchen, es dir so gut wie möglich zu erklären.“   Ich lasse meine Augen über das halb eingesaute Wohnzimmer wandern, dass wirklich eher nach Teenie- oder Studentenparty aussieht als nach einer Zusammenkunft von zwei Anwälten mitten in ihren 30ern. Christophers hässliche Macho-Lache erklingt in meinem Kopf und versetzt mir wieder so einen leichten Stich in die Brust, und mir brennt etwas auf dem Herzen, das ich schon vor meinem vermeintlich relaxenden Schaumbad loswerden muss. Die Worte fließen von sich selbst aus meinem Mund: „Du warst gestern ziemlich widerlich, Christopher.“ Er schweigt, schaut den Boden an, kaut auf seiner Unterlippe herum, die Arme etwas verkrampft vor seiner Brust verschränkt. „Ich habe dich kaum wiedererkannt“, sage ich, „und das hat mir Angst gemacht.“   Seine glasigen Augen bewegen sich und er schaut mich wieder an, wirkt wie geschlagen. Verletzlich und irgendwie auch zerbrechlich. „…tut mir leid…“, wiederholt er, die Stimme unstetig und schwach.   Ich schaue den Wohnzimmertisch an, lasse meinen Blick über all diese Flaschen wandern, und muss schon wieder den Kopf schütteln – weil ich wirklich nicht begreifen kann, wie Chris gestern so viel in sich reinschütten konnte. Ausgerechnet Christopher. „Ich lasse mir selbst das Bad ein. Du räumst hier direkt auf“, richte ich wieder das Wort an ihn, und klinge dabei fast ein wenig wie Kim. Obschon Christopher es ja selbst gewesen ist, der diese Aktivitäten vorgeschlagen hat.   Schon das Geräusch des in die Wanne fließenden Wassers hat eine sehr beruhigende Wirkung auf mich, und als es sich dann um meinen Körper schlingt, so wundervoll warm und der Schaum knisternd, drifte ich kurzzeitig sogar weg, und wandere durch eine wunderschöne Traumwelt. Das Bad tut mir so gut, dass ich es sogar verlängere, und einen Teil des kalten Wassers ablasse, um es mit frischem und heißem zu ersetzen.   Ich kann nicht genau sagen, wie viel Zeit vergangen ist, als die Tür plötzlich aufgeht und Christopher das Bad betritt, ein Glas meines jüngst im Supermarkt entdeckten Maracujasaftes in seiner Hand, welches er mir mit einem sanften Lächeln reicht und sich dann einfach auf dem Boden vor der Wanne niederlässt, auf dem kleinen blauen Badteppich, die Arme auf dem Wannenrand drapiert. Seine rechte Hand wandert ins Wasser, ohne mich zu berühren, und er fährt vorsichtig mit seinen Fingern durch die warme Flüssigkeit, durch die Schaumspuren, als würde er irgendetwas nachzeichnen. Und ich denke mir, dass wir auch einfach hier sprechen können anstatt auf dem Sofa, weil das Wasser mich irgendwie erdet und so sicherlich eine ruhige Konversation ermöglichen wird.   „Das mit Adrian gestern“, setzt Christopher nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille an, „das war wirklich ein dummes Versehen. Ich war überzeugt davon, dass ich dir schreiben würde. Ich war so sicher, dass ich deinen Chat aufhatte.“ Ich sage nichts dazu, obschon ich natürlich weiß, dass er die Wahrheit sagt, und so ein Chatversehen im betrunkenen Kopf schon mal passieren kann – auch wenn es natürlich richtig bitter ist, dass es eben dieser Ex war, der die Nachricht erhalten hat. Es ist ja auch nicht so, als hätte Christopher Adrian etwas im Sinne von ‚ich vermisse dich und möchte dich wiederhaben‘ geschrieben hat. Mein Freund hatte eindeutig mich und unsere Session gemeint… Christophers Blick wandert nun wieder hoch zu meinen Augen. „Das tut mir wirklich leid, Niko.“   „Weißt du“, sage ich dann spiele ein bisschen mit dem nunmehr halbleeren Saftglas herum, „das mit Adrian, so sehr es mich auch aufregt, war nicht einmal das Schlimmste für mich gestern Abend.“   „…was war denn das Schlimmste?“, hakt mein Freund kaum hörbar nach und schluckt im Kontrast dazu laut.   „Das habe ich dir im Grunde genommen schon gesagt: Dass du so anders warst. Irgendwie ekelhaft.“ Christophers Lippen formen einen dünnen Strich und er nickt bedächtig mit dem Kopf. „Ich meine, nicht nur, dass du es nicht geschafft hast, mich auf dem Laufenden zu halten und ich mir extreme Sorgen um dich gemacht habe – deine ganze Art war einfach so… Bah. Du warst grässlich, mit dieser fiesen Lache, und wie ihr euch mit Henning lustig über irgendwelche Leute gemacht habt und euch gegenseitig beschimpft habt. Ich meine: Paul und ich machen das ja auch manchmal als Scherz. Aber… Die Schiene, die ihr gestern gefahren habt, das war schon echt ne andere Liga. Zumindest das, was ich davon so dann und wann mitbekommen habe. So mega-ratzevoll wie gestern warst du wirklich noch nie…“   Mein Freund fährt sich mit beiden Händen durchs Gesicht und seufzt. „Scheiße…“, murmelt er, „ich kann mich kaum mehr an etwas erinnern“, gibt er zu und blickt mich durch die kleinen Räume zwischen seinen Fingern an, ehe die Hände sein Gesicht wieder komplett verlassen. „Ich meine… Ich weiß, dass wir hierher sind, und dass du uns die Tür aufgemacht hast. Aber danach… Fuck. Das ist alles total durcheinander…“   Ich bin eigentlich nur ein bisschen entsetzt, weil ich mir so etwas eigentlich schon denken konnte, und liefere Christopher die fehlenden Teilchen seines Gedächtnisses in Form einer Erzählung. Insbesondere die Episode in unserem Bett, als Herr Lang halb-bewusstlos offenkundig über mich herfallen wollte, pinselt ihm einen rötlichen Schimmer auf seine Wangen. „…O Gott…“, nuschelt er, sein Gesicht wieder in seinen Händen vergabend. „Fuck, das tut mir leid, Niko…“   „Ja, sagtest du bereits“, meine ich und klinge dabei trockener als geplant.   Christopher schaut mir wieder in die Augen. Er ist mittlerweile so ein richtiges Haufen Elend, wie er da so auf dem Badezimmerboden hockt und mit seinem Oberkörper an der Wanne lehnt. „Das mit Henning… Wenn ich mit ihm weggehe… Verliere ich irgendwie immer den Verstand, die Kontrolle“, sagt er dann vorsichtig.   „Sagte Kim auch… Woran liegt das?“   Mein Freund seufzt tief. „Ich habe keinen blassen Schimmer!“ Wir schweigen eine Weile und dann setzt Christoper zu einer Erklärung an. „Das gestern… Henning und David wollten wirklich nur einen Drink mit mir trinken und nochmal eben über ein paar Dinge sprechen, weil nicht jeder mit seinem jetzigen Arbeitsplatz zufrieden ist, und es intern ein paar Spannungen gibt, an denen wir arbeiten müssen und bei denen sie insbesondere mich um Hilfe gebeten haben. Aber dann wurden aus einem Getränk zwei, und David ist auch endlich ein bisschen aufgetaut, und dann wurden aus Business-Gesprächen plötzlich Private. Und dann ist David von seiner Frau abgeholt worden und wir zwei Idioten wollten noch einen allerletzten Drink nehmen… aber wie das dann so ist: unser Gespräch – über die Zeiten von früher, als wir noch jung und knackig waren – lief so gut, und wir haben so lustige Erinnerungen ausgekramt, dass wir das Ganze noch nicht beenden wollten, als die Gläser leer waren, und dann musste halt noch ein weiteres Getränk her, damit wir noch weiterreden konnten…“   „Achja, und dann noch ein Drink, und noch ein Drink… und noch ein Drink?“   Christopher nickt. „Ja…“, gibt er voller Reue zu. „Ich kann dir nicht einmal sagen, wer von uns beiden der Schuldige ist, und ob es überhaupt einen Hauptschuldigen gibt. Ich war mir eigentlich auch sicher, dass das mit Henning vorbei ist, und dass wir halt nicht mehr in der Lage sind, zusammen irgendwo zu versacken… Fakt ist aber: ich lag falsch. Und gestern habe ich mich plötzlich wieder wie ein Teenager gefühlt – und das war ein verdammt geiles Gefühl. Die Kanzlei war ganz weit weg, und mit ihr der ganze Arbeitsstress, und auch unsere Probleme der vergangenen Zeit waren wie weggefegt, und es ging einfach nur noch ums Partymachen, über andere Kommilitonen lästern, über die Familie herziehen, über Bücher und Filme schnacken. Wie früher halt. Nur haben Henning und ich tatsächlich immer noch unser Problem: Wenn wir mittendrin sind, kennen wir kein Halt mehr, und… treiben uns gegenseitig irgendwie an, noch mehr zu trinken. Ich weiß nicht… Wie zwei dumme Alphamännchen, so hat Kim das mal ganz treffend formuliert… Ich weiß einfach nicht, warum ich so bin, wie ich bin, wenn ich mit Henning saufe…“ Etwas in Christophers Gesicht verändert sich plötzlich und er sieht mich gar erschrocken an. „Ich wollte mit dem Ganzen eben übrigens nicht sagen, dass der Arbeitsstress oder unser Beziehungsstress dazu geführt haben, okay? Ich versuche nicht, die Schuld jemand anderem in die Schuhe zu schieben und erst recht nicht dir! Ich sage nur, dass das sicherlich einer der Aspekte war, warum ich gestern einfach… einfach so Bock auf nen Trinkabend hatte und nicht mehr aufhören konnte, neben dem ganz normalen Henning-Aspekt…“   „..wie viel hattest du denn schon intus, als ihr hier aufgetaucht seid?“ Es überrascht mich natürlich nicht, dass die Dinge zwischen uns auch Chris immer noch zusetzen, aber irgendwie fühle ich mich doch ein wenig schuldig deswegen, obschon ich es seinen Worten zufolge nicht tun soll.   Christopher denkt nach. „Wir haben mit drei Bier angefangen, dann sind wir schon in dem Pub auf Whiskey umgestiegen, pur natürlich, zwischendurch gab’s aber auch noch mal einen Martini. Oder zwei. Oder doch drei…? Und ich erinnere mich an ein paar Long Island Ice Tea, weil ich da an dich denken musste, und dir dann wohl auch versucht habe, zu schreiben…“   „Jesus… Ein paar?“, wiederhole ich pfeifend und gehe meine Party-Erinnerungen durch und komme zum Schluss, dass Christopher, seitdem ich mit ihm zusammen bin, noch nicht einmal ansatzweise so viel gesoffen hat wie gestern – und hier bei uns ging es dann ja noch weiter...   „Ja…“   „Und nach so viel Alkohol zusammen mit Henning… mutierst du also zu seinem Arschloch“, stelle ich dann nüchtern fest.   „…offenbar…“, meint Christopher leise und fährt mit seinem Finger im Wasser durch eine größere Schaumansammlung. Erst jetzt fällt mir so richtig auf, wie müde er ausschaut. Erschöpft. Zerstört. Wir schweigen eine Weile lang.   „Ich bin ehrlich gesagt ein wenig erstaunt, dass du nicht kotzen musstest… Respekt“, versuche ich, die etwas angespannte Stimmung mit einem neckenden Kommentar aufzulockern.   Christopher grinst kalt. „…ich habe mich heute Morgen ungefähr drei Mal übergeben, als du schon weg warst…“, gibt er dann zu, und als sich unsere Augen treffen, muss ich sogar kurz auflachen.   „Geschieht dir recht“, ziehe ich ihn auf und Christopher nickt einfach nur. „Umso erstaunlicher, dass du die Kraft hattest, Möbel zusammenzubauen, und jetzt immer noch wach bist und in der Lage, mit mir zu reden…“   „…ich habe vorhin Koffeintabletten genommen“, gesteht er leicht grinsend. „Mit Red Bull…“   Daraufhin muss ich einfach lachen.   „Niko…“, richtet mein Freund dann bedächtig das Wort an mich. „Das Ganze… Du…“, er muss schlucken und mir wird klar, wie schwer es ihm gerade fällt, seine Gedanken zu äußern. „Du siehst das Ganze jetzt aber hoffentlich nicht als… weiteren Riss… in meinem herrischen Auftreten oder so an…?“   Ich denke kurz darüber nach, und als ich wieder in Christophers Gesicht blicke, seine Züge ängstlich und besorgt, macht mein Herz einen kleinen Sprung in meiner Brust, und ich weiß, dass ich ihn später auf dem Sofa zu Tode knuddeln werde. Hier in der Wanne lege ich aber einfach nur eine Hand auf seinen Unterarm und drücke einmal fest zu. „Nicht wirklich“, antworte ich ihm dann im sanften Ton, und ich lüge nicht. „Klar: Ich fand dich gestern echt widerlich und ich bin entsetzt, dass irgendwo in deinem Innern so eine Seite schlummert. Aber das Ganze ist irgendwie anders.“ Jetzt bin ich es, der nach den richtigen Worten suchen muss. „Ich meine… Es kam zwar überraschend mit Henning, aber du hattest mir ja in der Tat schon irgendwann mal erzählt, dass du dir mit eben diesem Kommilitonen die extremen Kanten, wenn man so will, gegeben hast – du hast mir das also nicht verschwiegen, wie du es mit der Putzfrau und den Putzsklaven getan hast.“ Christopher blickt bei diesen Erwähnungen irgendwie beschämt meine leicht aus dem Wasser ragenden Knie an, und ich fahre fort. „Und dass du unordentlich bist, ist einfach so ein fester Bestandteil deines Wesens. Der ekelhafte Chris von gestern, ist es nicht – eben, weil er quasi nur durch die Kombination Henning und literweise Alkohol… erwacht. Macht das Sinn, was ich sage?“   Christopher lächelt ganz leicht. „Ich… Ich denke schon.“   „Und außerdem bleibe ich bei dem, was ich dir vor einigen Tagen schon gesagt habe: Du bist nicht nur mein Bilderbuchmaster, sondern vor allem mein Freund, und jeder Mensch hat irgendwelche negativen Seiten. Also mach dir keine Sorgen: Ich werde zwar ne Zeit lang deswegen sicherlich schmollen, aber ich falle nicht wieder in so ein Loch und verlange eine härtere Schiene und dann ein Spanking mitten in der Mensa oder so…“ Mein Freund lacht kurz bei diesem Kommentar erleichtert auf, und greift nach meiner auf seinem Arm ruhenden Hand. Er führt sie, wie schon vorhin, zu seinem Mund, und haucht ein paar Küsse darauf.   Ich selbst bin ziemlich erstaunt über meine eigene Herangehensweise, denke mir aber, dass vor allem die letzten Tage mit Chris, allein das ganze Code-Red-Wochenende, mir wirklich geholfen haben, einige Dinge in meinem Kopf neu zu ordnen.   „Niko… Sag mir bitte, wie ich das wiedergutmachen kann…“, holen Christophers Worte mich zurück in die Gegenwart.   „Du könntest damit anfangen, mir zu versprechen, erstmal nicht mehr mit Henning saufen zu gehen“, sage ich und schaue ihm bei dieser etwas hart geäußerten Forderung tief in die Augen. Christopher zögert nicht.   „Natürlich“, kommt es aus ihm geschossen wie aus einer Pistole. „Ich fasse Alkohol jetzt erstmal grundsätzlich für eine lange Zeit gar nicht mehr an. Versprochen. Auch nicht bei informellen Treffen mit Kollegen nach der Arbeit. Nicht einmal ein Bier. Gar nichts. Nada.“   „Okay“, quittiere ich, zufrieden, dass er so schnell eingewilligt hat, und bin verdammt froh, dass ich Kims Worten beziehungsweise Motto nicht Folge geleistet habe, und meinen Freund nicht weiter habe zappeln lassen, sondern dass wir das jetzt alles direkt im Gespräch klären. Wie zwei erwachsene Menschen. Es kann so einfach sein…!   „Ich kann nicht oft genug wiederholen, wie leid mir das alles tut. Vor allem, dass ich einfach so unsere Session über Bord geworfen habe, obwohl ich gewusst habe, wie sehr du dich darauf gefreut hast. Ich habe mich ja auch total drauf gefreut, und ich bereue es total“, spricht Christopher mit eindringlicher Stimme weiter und ich muss dabei lächeln. „Was kann ich noch tun, damit es dir wieder besser geht?“   „Du könntest mir morgen was Schönes kochen…“   „Gebongt. Nachtisch zaubere ich selbstverständlich auch. Was noch?“   „Eine Massage wäre toll…“   „Deal. Was noch?“   „…du könntest mich jetzt küssen…“   Christopher ist offenbar ein wenig erstaunt darüber, dass ich das Kriegsbeil so schnell begraben und seine Nähe spüren möchte. Sein weiches Lächeln zeugt aber auch davon, dass er deswegen unheimlich glücklich ist, und er setzt meinen Vorschlag dann auch sofort in die Tat um, beugt sich vor und presst seine Lippen auf meinen, während seine Hand in meinen Nacken wandert. Es ist ein keuscher kurzer Kuss, und dennoch fühlt er sich fantastisch an.   „Verzeihst du mir?“, haucht er gegen meinen Mund, ehe er diesen wieder mit seinem versiegelt.   „…habe ich schon längst“, entgegne ich leise, als er meine Lippen wieder freigibt.   „…danke…“ Christopher klingt erleichtert. Richtig, richtig erleichtert, dass es mir mittlerweile richtig leidtut, dass ich ihn habe zappeln lassen.   „Ich schulde dir auch noch eine Entschuldigung“, sage ich also, und mein Freund runzelt die Stirn.   „Wofür?“   „Dass ich so blöd war, vorhin auf Kim zu hören, und wir zwei nicht sofort gesprochen haben, als du mit Henning angekommen bist, und dass ich auch nicht ans Telefon gegangen bin. Kim hat sich so hochgefahren und, naja, hat mich damit irgendwie angesteckt. Das war dämlich. Ich bin übrigens auch ein bisschen traurig, dass sie die Blumen weggeschmissen hat. Das war… das war eine Spur zu hart“, erkläre ich ihm und lächele ganz leicht. Doch dieses Lächeln verschwindet sofort wieder von meinem Gesicht, als ich die Härte in Christophers Zügen erblicken kann.   „Kim…!“, knurrt er den Namen von Hennings Ehefrau beinahe und schüttelt genervt den Kopf.   „Sei bitte nicht sauer auf sie, ich habe ja auf sie gehört“, versuche ich die Brünette in Schutz zu nehmen.   „Ja, und ich hoffe, das machst du nie wieder!“, kontert er eine Spur zu hart. Merkt er aber selbst. Seine Gesichtszüge entspannen sich sofort wieder und er blickt mir entschuldigend in die Augen. „Sorry, ich habe gar kein recht, auf dich sauer zu sein und ich bin es auch nicht. Es ist einfach…“ Er seufzt laut und lässt den Kopf etwas resigniert hängen. „Kim ist eine furchtbare Frau“, platzt es dann aus ihm heraus. „Ich weiß, das ist auf den ersten Blick nicht unbedingt erkennbar, aber ich kenne sie ja jetzt auch schon mittlerweile knapp 15 Jahre, und ich sage dir: Sie ist ein fieses Miststück.“   „Äh…“, mache ich und bin total verwirrt. „Ich fand Kim eigentlich total nett. Klar, sie war sauer, aber auch zu recht, sagtest du selbst, und, ähm, ja… wie gesagt, das mit den Blumen fand ich in der Tat etwas zu hart, und das mit dem ‚lass die Männer zappeln‘ nicht unbedingt gut in unserem Fall, aber… Das ist ja jetzt nicht das erste Mal, dass sie euch so erlebt hat, und jetzt waren ja wirklich noch die Kids involviert: Da kann man schon verstehen, dass sie halt extrem frustriert ist… und dann vielleicht halt mal überreagiert.“   „Ja, sie hat jedes gute recht, sauer auf Henning und mich zu sein, das stimmt schon. Aber Kim ist jemand, der sich dann an Henning rächt, anstatt Probleme verbal zu lösen, und das nicht nur, wenn er mit mir abstürzt. Und sie rächt sich auf eine richtig üble Art und Weise, die für mich schon ein Trennungsgrund wäre…“   „…meinst du etwa das Wegschmeißen von Panini-Stickern?“   Christopher schnaubt kalt-amüsiert. „Hat sie dir also davon erzählt?“ Ich nicke, und Christopher sagt: „Das war ja noch eine der harmloseren Aktionen…“   „…aha?“   „Ich finde es schon total daneben, dass sie Henning wie ein Kleinkind behandelt und ihn, wenn sie sauer auf ihn ist, zunächst komplett ignoriert; einfach jegliche Form von Gesprächsversuchen abblockt, keine Entschuldigungen annimmt, und das Ganze manchmal so lang durchzieht, bis ihn das völlig zermürbt. Und das Schlimmste dabei ist, dass sie das auch tut, wenn Henning eigentlich gar keinen Mist gebaut hat. Kim lebt ihre Frustrationen an ihm aus, darüber, dass sie ihren Job in der Apotheke aufgegeben hat, um Vollzeitmutter zu werden. Davor… Keine Ahnung. Kim war schon immer frustriert, nicht zufrieden mit sich selbst, und das hat sie schon immer an Henning ausgelebt. Es gab schon Abende, da sind wir mit mehreren Leuten unterwegs gewesen, und Henning hatte seine Liebste tausendfach gefragt, ob das in Ordnung für sie wäre, was sie ständig bejaht hatte – und dann plötzlich klingelt sein Telefon ununterbrochen an dem Abend und sie fragt stündlich, wann er wieder zu Hause sein wird. Henning haut superfrüh ab – und ist dann trotzdem der Arsch und kriegt von Madame tagelang die kalte Schulter gezeigt…“   „…Äh… Wow? Zu mir sagte sie, sie sei keine dieser Ehefrauen, die ihrem Mann den Gang in die Kneipe verbietet…“   „Das hängt halt immer von ihren Launen ab…“, sagt Christopher im bitteren Ton.   Ich bin tatsächlich ein wenig überrascht von dieser Erzählung – und will natürlich mehr wissen „…und, äh, was war jetzt schlimmer als die Panini-Sticker-Aktion?“   „Sie hat mal seine wichtige Hausarbeit komplett vom Rechner gelöscht samt aller Back-ups, damit er das Wochenende vor Abgabe nicht auf die Idee kommt, saufen zu gehen oder sich sonst irgendwie mit Freunden zu amüsieren, sondern das Ding nochmal von A bis Z schreibt. Ich glaube der Auslöser dafür war, dass er irgendein Jubiläum der beiden verpennt und sich mit ein paar Freunden an dem Tag zum Bowlen verabredet hatte.“   Ich schlucke. „Das ist… echt übel.“   „Sie hat auch schon mal sein Lieblings-Playstationspiel verkauft. Und einmal – und das ist richtig brutal – hat sie ein Video von Henning aufgenommen, als er nach einem Abend mit mir vollkommen breit nach Hause gekommen ist, und es, naja, leider nicht mehr bis zur Toilette geschafft hat, um sich… den Abend noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen… und dann halt vollgereihert auf dem Boden saß und irgendwelchen Mist gefaselt hat. Und dieses glorreiche Video hat sie dann seinem Vater geschickt, der ähnlich wie mein alter Herr sehr strikt war, und daraufhin enorm viel Druck auf seinen Sohn ausgeübt hat, damit gedroht hat, ihn zu enterben und all so witzigen Kram. Richtig perfide finde ich auch, dass sie dieses Video dann auch selbst noch als Druckmittel genutzt hat. Sie hat immer wieder damit gedroht, es an gewisse Personen zu schicken, sollte ihr Ehemann, beziehungsweise damals noch Freund oder schon Verlobter – das kriege ich jetzt nicht mehr richtig zusammen – wieder irgendwelchen Mist bauen oder einfach nicht das tun, was sie von ihm verlangt.“   Ich bin baff. „Heilige Scheiße. Ist das wahr?“   „…sonst würde ich es dir nicht erzählen.“   „Wow…“, murmele ich und starre das Wasser an. „Das schockiert mich jetzt irgendwie… Weil…“   „Ja, ich weiß“, unterbricht Christopher mich, „wenn man Kim kennenlernt, ist man eigentlich total begeistert von ihr. War ich auch. Bis sie sich das erste Mal so an Henning gerächt hat und es irgendwann zur Norm wurde, dass er sich bei mir ausgeheult hat, weil Kim ihn mal wieder tagelang ignoriert hat und er nicht einmal wusste, was er schon wieder falsch gemacht haben sollte, weil sie es ihm ja auch nicht gesagt hat.“   „Oh…“   „Kim stellt sich saugern als Opfer da – ist aber viel öfter Täterin, weißt du?“, fasst Christopher seufzend zusammen, und ich versuche, das Ganze zu verarbeiten.   „Warum…“, entfährt es mir dann. „Warum hat er sie dann überhaupt noch geheiratet? Wenn sie so schlimm ist?“   Christopher zuckt mit den Schultern. „Weil er ein Idiot und aus unerklärlichen Gründen in sie verliebt ist. Und wohl auch, weil er sich irgendwann angefangen hat einzureden, er würde sonst keine andere finden, weil nur sie seine ganzen Macken akzeptieren würde und Ähnliches. Henning ist ein toller Typ, mit dem man verdammt gut reden kann, aber er hat verdammt viele Komplexe, weiß der Teufel warum, die er mit seiner manchmal sehr überheblichen Art bekämpft. Das macht ihn zwar auch irgendwie zu einem guten Anwalt, er prescht immer nach vorn und kann gut bluffen, aber im Privaten eckt er damit bei vielen an – und durch seine ganzen Komplexe lässt er sich halt von Kim oft behandeln wie das letzte Stücke Scheiße. Achja: Und er hat sie geschwängert, das ist natürlich auch ein Grund für die Hochzeit.“   Und plötzlich macht die beiläufige Bemerkung über den unromantischen Antrag ohne Ring auf dem Sofa ein bisschen Sinn. „Mann…“, schnaufe ich, und weiß gar nicht, was ich noch anmerken soll.   Mein Freund sucht meinen Blick. „Versprich mir, dass wir uns auch in Zukunft – wenn wir fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre zusammen sind – weiterhin zusammensetzen werden, um über unsere Probleme zu sprechen – und zwar so schnell wie möglich, und dass wir uns nicht in irgendeiner blinden Wut anfangen zu ignorieren und den anderen eben so zappeln lassen, um ihm eins auszuwischen. Ich weiß, dass du manchmal so deine Probleme mit ernsthaften und vielleicht auch sehr unangenehmen Gesprächen hast… aber du merkst ja selbst: sie bringen uns etwas. Oder nicht?“   Ich nicke heftig, auch weil ich ein wenig überwältigt bin, dass mein Freund mir damit quasi in Aussicht stellt, dass er sich vorstellen kann, fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre mit mir zusammen zu sein… „Versprochen.“ …und plötzlich fällt mir ein, was Kim mir über Adrians Lektion nach einem Christopher-Henning-Besäufnis erzählt hat. „…Adrian hat sich auch mal an dir gerächt. Hat Kim erzählt…“, fließt es aus mir heraus, ehe ich diese Bemerkung überdenken kann.   Christopher schweigt und mustert mich mit einem prüfenden Blick, wahrscheinlich, weil er irritiert darüber ist, dass ich seinen Ex schon wieder verbal herauskrame, und dann auch noch in einem solchen recht intimen Moment. Er antwortet dennoch, nachdem ich meine Frage nicht zurückgezogen habe, weil ich nicht unbedingt weiß, wie ich das jetzt noch machen soll. „Ja, er hat unser gemeinsam geplantes Wochenende mit jemand anderem verbracht“, bestätigt er dann Kims Erzählung. „Übrigens hat ihn Kim dazu angestachelt…“, fügt er ruhig hinzu, „und als er dann ein weiteres Mal auf sie gehört hat, und meinte, mich wegen irgendwelcher Scheiße mit einer ähnlichen Ignorier-Taktig zermürben zu wollen, habe ich ihn ordentlich zur Sau gemacht, und er hat es kein weiteres Mal versucht.“   Ich grinse, weil mir der Gedanke, wie Christopher Adrian ordentlich zur Sau macht, ein wenig gefällt…   „Ich werde sowas nicht machen“, wiederhole ich dann noch mein Versprechen und schaue ihm dabei tief in die Augen. Christophers Lippen gleiten in ein sanftes Lächeln.   „Ich weiß“, sagt er dann, „es tut trotzdem gut, das zu hören. Und ich verspreche dir, dass ich dich nie wieder wegen einem Besäufnis mit Henning versetzen werde, und ich werde daran arbeiten, dass diese Eskalationen endlich ihr Ende finden, weil ich ehrlich gesagt nicht möchte, dass du mich in einem Zustand erlebst, in dem du mich eklig findest…“   Ich seufze. „Ich will aber nicht wie Kim sein, und dir Dinge komplett verbieten…“   Christophers Hand berührt meine Wange und streichelt mich ganz sanft dort. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, meint er dann mit warmer Stimme. „Du hast mir nie gesagt, dass ich nicht mehr mit Henning saufen darf. Du hast mich nur gebeten, es erstmal nicht zu tun, und dem komme ich zu gern nach. Dass ich das in Zukunft idealerweise komplett unterbinden möchte, und damit meine ich unsere kompletten Abstürze und kein zivilisiertes Trinken, ist mein persönlicher Wunsch, okay?“   „Okay…“, gebe ich schwach zurück und erwidere sein Lächeln.   „Und jetzt steig aus dem Wasser, das ist ja schon ganz kalt“, fordert mich mein Freund auf. „Außerdem muss ich echt aufs Sofa…“, fügt er etwas amüsiert hinzu, und mir fällt mal wieder auf, wie fertig Christopher eigentlich gerade aussieht.   Und so ziehen wir aufs Sofa um und kuscheln. „Die Session…“, setze ich an und ernte ein kaum hörbares „Hm?“ von Christopher, der die Augen geschlossen und seine Arme um mich geschlungen hat und innerhalb weniger Minuten fast eingeschlafen ist. „…wann holen wir denn Session nach?“, frage ich heiser.   Christopher hebt langsam seinen Kopf, um mir in die Augen blicken zu können. „…morgen. Nachdem ich ausgeschlafen habe“, verspricht er.   …und er hält sein Versprechen, nachdem ich ihn bis circa 16 Uhr ausschlafen lasse. Er gibt mir ein ordentliches Spanking. Bedeckt die Haut meines gefesselten Körpers mit heißem Wachs. Zwingt den Monsterdildo in mich hinein. Schiebt mir seinen Schwanz in den Mund und lässt mich seinen Saft schlucken. Und ist am Ende so gnädig, dass er mir die Keuschheitsvorrichtung abnimmt und es mir erlaubt, mich vor seinen Augen anzufassen und den Druck loszuwerden – aber nur, nachdem ich ihm verspreche, mein Sperma von seinen Stiefeln zu lecken.   …und auch ich halte mein Versprechen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)