Mayaku, Gókan to Damaru [Teil I] von abgemeldet (Die Vergangenheit ist unwiderruflich) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- 05. Januar 2010 Leicht flackerte das seichte Kerzenlicht neben ihr. Das Licht in ihrem Büro war ausgeschaltet. Die dämmrige Dunkelheit wirkte beruhigend auf sie. Mit einem traurigen Lächeln saß sie am Tisch. Ihre nussbraunen Augen müde auf einige Akten gerichtet. Genau vor ihr lag eine gelbe Akte. Gelb stand dafür, dass jemand Drogen nahm. In schwarzen Zügen war auf dieser die Nummer 298 abgebildet. Während sie in ihrer linken Hand die Kaffeetasse hielt, aus der noch in weißen Schwaden Dampf emporstieg, blätterte sie mit ihrer freien Hand die Unterlagen auf. Auf der ersten Seite war von den Patienten ein selbst ausgefüllter Steckbrief abgedruckt – die meisten Angaben waren leer, wie zum Beispiel Familienverhältnisse, bei einigen fing es schon mit dem Namen an. Den Kindern oder Jugendlichen überließ man die Wahl, was sie von sich preisgeben wollten. Für sie war eigentlich nur die Antwort auf die letzte Frage wichtig: Was willst du zu deiner jetzigen Situation äußern? Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und betrachtete das Foto, welches rechts oben an die Ecke angeheftet war. Ein rosahaariges Mädchen mit einem Kind auf den Arm. Die Antwort auf die letzte Frage war diese: Ich musste Drogen nehmen, um Geld zu verdienen Und ich musste Geld verdienen, um meine Drogen zu bezahlen... und für mein Kind Sakura Haruno, 15 Jahre Traurig seufzend schloss sie die Akte wieder, legte sie zur Seite und nahm sich die nächste. Blau, die Farbe für selbst verletzendes Verhalten. Nummer 297 stand mit schwarzer Schrift geschrieben. Sie öffnete sie und als Erstes fiel ihr Blick auf das Foto. Ein blauhaariges, schüchtern wirkendes Mädchen, mit lavendelfarbenen Augen. Auch hier war sie auf die Antwort zur letzten Frage interessiert. Ich brauchte den Schmerz, um zur Ruhe zu kommen Dass mit mir etwas nicht stimmte, habe ich die ganze Zeit verdrängt Hinata Hyuga, 15 Jahre Wieder wurde die Akte geschlossen, zur Seite gelegt und die Nächste genommen. Dies machte sie bei allen Heftern auf ihrem Tisch. Grün – Essstörungen. Patientennummer 295. Ein Junge mit braunem, langem Haar und blassen Augen. Man hatte mir gesagt, ich sei fett Also wollte ich das ändern Neji Hyuga, 17 Jahre Geschlossen, zur Seite und nächste: Orange – Kindesmisshandlung. Patientennummer 260. Schwarzhaariger Junge mit auffälligem Punkerlook. Im Vordergrund erkannte man sofort die Springerstiefel und den finsteren Blick. Eh Alter? Hack’s? Ich mach den Scheiß hier net! Rock Lee, 17 Jahre Ein Schmunzeln huschte über ihre Lippen. Geschlossen, zur Seite und nächste: Wieder orange. Patientennummer 241. Rothaariger Junge, mit Kopfhörern in den Ohren. Wär’ ich Rapper, müsste man meine Musik zensieren Einfach, weil es die Wahrheit ist Gaara Sabakuno, 15 Jahre Geschlossen, zur Seite und nächste: Rot - Vergewaltigung. Einer der schlimmsten, psychischen und physischen Gewaltakte, die man einem Menschen antun konnte. Patientennummer 240. Blondhaariges Mädchen, eines der ältesten hier. Die Angst, schwanger zu werden, war groß Aber größer war die Angst vor ihm Temari Sabakuno, 18 Jahre Träge schloss sie die Akte, legte sie mit zu den anderen. Sie nahm noch einen letzten Schluck aus ihrer Tasse, stellte sie wieder auf den Tisch und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Während sie sich von ihren Sitzplatz erhob, nahm sie sich den Stapel Unterlagen und wollte diesen wieder in den Schrank räumen, als einer der Hefter herausrutschte. Mit einem dumpfen Aufprall fiel dieser zu Boden und klappte auf. Sie beugte sich darüber, hielt inne und sah sich das Foto an. Schwarzhaariger, kleiner Junge. Der Hefter war schwarz. Die Farbe stand für Waisenkinder. Die Nummer 124... Die Augen schließen und nie wieder aufmachen… Sasuke Uchiha, 12 Jahre - heute 15 Müde schloss sie die Akte wieder, schob sie zwischen die anderen und erhob sich. Mit langsamen Schritten, wobei ihre Stöckelschuhe fast lautlos auf den Boden klackerten, verließ sie das Zimmer wieder. Ein leichter Windzug blies die Kerze aus und hüllte den Raum in komplette Dunkelheit. In dieselbe Finsternis, in der all die Herzen dieser Kinder eingetaucht waren... Kapitel 1: Das graue, in Vergessenheit geratene Mauerblümchen [Teil 1] ---------------------------------------------------------------------- Ich war so zerfressen von meinen Schuldgefühlen, so niedergedrückt von den Erwartungen meines Vaters, dass ich keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte… Das graue, in Vergessenheit geratene Mauerblümchen [Teil 1] 27. März 1999 “Die Blutung will nicht aufhören!” “Machen Sie etwas, ansonsten verlieren wir sie beide!” “Versucht wenigstens das Baby zu retten!” Zusammen gekauert saß sie auf dem harten, unbequemen, quietschgelben Stuhl und hatte ihre Arme um die Beine geschlungen. Ihren Kopf hatte sie auf die Knie gestützt, während sie mit zusammengekniffenen Augen ihre aufkommenden Tränen herunter zu schlucken versuchte. Zärtlich streichelte das lange, blaue Ponyhaar ihre blasse Stirn und wippte auf, immer wenn ihre Schultern erzittern, da sie ein erneutes Schluchzen unterdrückte. Angst kroch dem jungen, zerbrechlichen, fünfjährigen Körper den Rücken empor. Angst, ihre Mutter vielleicht nie mehr zu sehen. Angst, vielleicht noch ihr kommendes Geschwisterchen nie kennen zu lernen. Erneut bebte der kleine Körper auf. Die lauten Stimmen der Ärzte und Krankenschwestern drangen bis zu ihr nach draußen in den Wartegang vor. Sie hörte die Sätze, verstand jedoch nicht den Sinn jedes Wortes. Aber die Leute in dem Raum - wo zur Zeit ihre Mutter lag - klangen verzweifelt und voller Hektik. Sie brüllten sich gegenseitig an und klagten den jeweils anderen an, dass dieser Schuld wäre, wenn sie beide verlieren würden. Dann war Stille... Nur die auf- und abgehenden Schritte ihres Vaters waren zu hören, welcher nervös über den Gang lief. Zitternd krallte sie ihre dünnen, kleinen Finger in den weißen Stoff ihres Kleidchens. Sie presste ihren Kopf mehr auf ihre Knie. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie konnte diese nicht mehr zurückhalten. Vor allem nicht, als vor ihren Augen die jüngste Erinnerung an ihre Mutter erschien. All das Blut. Der verbeulte Wagen. Die panischen Rufe der Menschen um sie herum. Ihre regungslose Mutter. Sie zuckte zusammen, als ein lauter Schrei aus dem Raum zu hören war. Der Schrei eines Babys. Knarrend ging eine Tür auf. Die Stimme eines Arztes ertönte und rief jemanden zu sich. Neben sich hörte sie die schweren Schritte ihres Vaters. Sie hallten laut in ihren Ohren wider. Kamen mit ihrem schnell schlagenden Herz in Einklang, bis beides eine monotone Melodie ergab. Erneut ertönte der Schrei eines Babys. Der Lebensschrei ihres Geschwisterchens. Und trotzdem... Nur weil sie mit ihrer Mutter unbedingt bei dem schönen Wetter in den Park wollte. Nur weil sie diese so gedrängt hatte, obwohl sie wusste, dass es ihrer Mutter nicht gut ging. Der nächste Satz fraß sich tief in ihren kleinen, naiven, fünfjährigen Verstand. Nistete sich dort ein und bescherte ihr Schuldgefühle. Der Glanz in ihren Augen stumpfte ab. Denn den Sinn der nächsten Worte hatte ihr vor einigen Tagen bei dem Tod ihres Kaninchen ihre Mutter erklärt. “Ihre Frau ist verstorben. Wir konnten leider nichts mehr für sie tun...” Ihre Mutter war tot... und sie war schuld daran. ~*~*~ 27. März 2007 Neben ihr ertönte das schrille Klingeln ihres Weckers. Müde schob sie ihre blasse Hand unter der Zudecke hervor und drückte den Störenfried aus. Sie blieb noch einige Sekunden in ihrem Bett liegen. In ihrem Kopf herrschte für einen kurzen Moment absolute Leere. Allein, weil sie diese Nacht nicht wirklich ein Auge zu bekommen hatte. Aber es dauerte nicht lange, bis die Gedanken wie ein Sturm tosender Wellen auf ihr einbrachen. Gestern konnte sie noch versuchen, das heutige Datum zu verdrängen. Konnte noch mehr oder weniger mit einem Lächeln die Leute ansehen. Aber auch da fiel es ihr schon schwer. Und heute? Heute würde sie es sicherlich nicht schaffen lächelnd durch das Haus zu gehen. 27. März… Dieser Tag hatte sie vor Jahren tief geprägt. Er hatte sich tief in ihr Herz gefressen und dort seine schmerzlichen Wurzeln ausgeschlagen. Noch heute holten sie die Bilder von vor acht Jahren ein. Zitternd krallte sie ihre Hand in ihre Zudecke und zog diese noch mehr über ihren Kopf. Ihr Körper erbebte, als sie ihre lavendelfarbenden Iriden schloss und erneut das regungslose Bild ihrer Mutter vor ihren Augen sah. Auch wenn das Gesicht in all den Jahren in ihren Erinnerungen verblasst war, so wusste sie immer noch, welche Person dort zu sehen war und auch warum. Ihr blaues Haar verdeckte die Sicht auf ihre geröteten Wangen. Tränen kamen in ihr auf und brannten unvergossen hinter den verschlossenen Lidern. Wieder wurde ihr Körper durch ein unterdrücktes Schluchzen geschüttelt. Ruhelos rasten ihre Gedanken durcheinander. Nur ein einziger Satz schrie sie immer wieder an: ‘Du bist Schuld, dass deine Mutter gestorben ist!’ Auch wenn ihr genug Menschen erzählt hatten, dass sie keine Schuld an diesem verhängnisvollen Unfall trug, so hatte sich dieser Gedanke wie Gift in das kleine, fünfjährige Herz gefressen. Und jetzt war sie dreizehn und weiterhin beherrschte dieser Gedanke sie. Immer wieder erbebte ihr Körper. Krampfhaft krallte sie ihre Finger in den Stoff ihrer Decke, so dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie vergrub ihr Gesicht tiefer in ihrem Bettlaken, spürte die harten Sprungfedern auf ihrer Haut, je mehr sie sich gegen die Matratze drückte. Heiße, salzige Tränen kullerten über ihre Wangen, sickerten lautlos in das weiße Laken und hinterließen dort dunkle, nasse Flecken. Niemand sah die unscheinbare Flüssigkeit. Niemand nahm Kenntnis von den glitzernden Perlen, die immer weiter die Wangen hinab liefen. Niemand nahm sie wahr. Niemand erkannte den Schmerz, der immer wieder die zierlichen Schultern des jungen Mädchens erzittern ließ. Niemand... Und wieder fühlte sie sich so unendlich allein gelassen. Einsam und verlassen... wie an dem Tag, als ihre Mutter von ihr ging. ~*~*~ Mit langsamen Schritten ging sie aus ihrem Zimmer und verschloss die Tür hinter sich. Tonlos seufzte sie auf und rieb sich noch einmal schnell über ihre geröteten Augen. Wischte somit ihre Tränenspuren fort. Ihr blaues, nackenlanges Haar war ein wenig zerzaust. Sie war ein wenig in Verzug. Und dies war nicht gut, da ihr Vater strengstens auf Pünktlichkeit achtete. Mit schnellen Schritten ging sie den leeren Gang entlang, bog einmal ab und stand nach kurzer Zeit vor einer weißen Holztür. Ihr Herz schlug schnell hinter ihrer Brust. Sie war mindestens fünf Minuten zu spät. Sicherlich war ihr Vater nicht darüber erfreut. Hart schluckte sie den aufkommenden Kloß in ihrem Hals herunter. Zitternd legte sie ihre Hand auf ihre Brust, versuchte damit ihr rasendes Herz zu beruhigen. Dann klopfte sie mit Verzögerung an. Es herrschte Stille. Man konnte die Sekundenzeiger der Turmuhr im Flur ticken hören. Sie zählte in Gedanken mit. 1... 2... 3... 4... 5... “Herein!” Die herrische Stimme ihres Vaters ertönte. Sie klang nicht gerade sanft, sondern schroff und ein wenig zornig. Wieder zögerte sie, ehe sie zitternd ihre Hand auf die Klinke legte. Knarrend drückte sie diese herunter und öffnete die Tür zum Speisesaal. Sie hatte Angst vor dem Kommenden. Ihr Vater war streng. Sehr sogar. Sicherlich würde er sie wieder für ihr zu spät kommen bestrafen. Ihr Blick war gen Boden gerichtet, damit sie nicht in die wütenden Augen ihres Vaters schauen musste. Wie jedes Mal, wenn sie zu spät kam. Auch dieses Mal fühlte sie wieder, wie die wütende Aura ihres Vaters im Raum präsent war. Sie spürte die prüfenden Augen aller Anwesenden auf sich. “Hinata...” Eine ruhige Stimme. Zu ruhig für ihren Geschmack, aber sie kannte diese Tonlage. Sie hob ihren Kopf an und sah nur einen kurzen Moment in die zornigen Augen ihres Gegenübers, ehe sie den Blick wieder abwandte. “Du bist zu spät. Du weißt, was dies heißt. Bitte verlasse wieder den Raum.” Sie nickte zu der Aussage. Ihre Strafe für ihr Zuspätkommen. Sie durfte am Frühstück nicht mehr teilnehmen. Mit langsamen Schritten ging sie zurück und schloss hinter sich die Tür. Kurz lehnte sie sich gegen diese und biss sich auf ihre Unterlippe. Ihre Augen hatte sie fest zusammengekniffen, um nicht wieder zu weinen. Bestürzt rannte sie wieder in ihr Zimmer, um sich für die Schule fertig zu machen. Lautlos schloss sie die Tür hinter sich, damit ihr Vater sie nicht wieder tadelte, weil sie diese zugeknallt hatte. Niemand hatte Notiz davon genommen, dass sie an diesem Morgen blasser war als sonst. Niemand hatte bemerkt, dass ihre Augen sehr gerötet waren. Niemand hatte erkannt, dass sie geweint hatte und dass es ihr nicht besonders gut ging. Niemand hatte sich Sorgen gemacht und nachgefragt, was los sei. Aber alle hatten sie gemustert. Alle hatten sie mit ihren Blicken gescannt. Wie jedes Mal. Doch niemand erkannte es. Oder interessierte es niemanden? Mit zittrigen Fingern schloss sie den langärmligen, schwarzen Blazer ihrer Schuluniform. Wieder brannten Tränen in ihren Augen, perlten von ihren Winkeln ab und rannen über ihre leicht geröteten Wangen. Allein, weil ihr Vater sie wieder einmal bestraft hatte, da sie zu spät kam. Dabei waren es nur knappe fünf Minuten gewesen. Außerdem war sie nicht jedes Mal unpünktlich. Ihre kleinere Schwester wurde nie so behandelt, dabei kam sie viel öfter zu spät als sie. Aber ihr Vater ließ dies immer wieder durchgehen. Nur weil ihre kleine Schwester jünger war als sie. Hinata selber wurde früher auch nicht anders behandelt als heute. In dem Alter, in dem Hanabi jetzt war, wurde sie schon für ihr Zuspätkommen bestraft. Sie fand es ungerecht. Und verstand nicht, warum ihre Schwester besser behandelt wurde als sie. Nur weil sie bessere, schulische Leistungen erbrachte als sie mit acht? Sicherlich war dies der Grund. Gerne würde sie nachfragen, aber sie hatte Angst vor der Reaktion ihres Vaters. Vielleicht würde er sie nur wieder ausschimpfen und maßregeln. Sie sollte sich nun beeilen, wenn sie sich wieder verspätete, würde sie nur noch mehr bestraft werden. Schnell wischte sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht und zog ein Taschentuch aus ihrer Schultasche. Sie putze sich noch hastig ihre Nase und schniefte leise. Sie musste zur Schule. Wo sie auch von niemandem beachtet werden würde... ~*~*~ Hinata saß auf ihrem Platz. Die Hände hatte sie auf ihren Schoß gebettet und wartete, bis die Schulstunde wieder begann. Leider hatte vor nicht weniger als eine Minute erst das Pausenklingeln ertönt. Ihre lavendelfarbenden Augen blickten sich neugierig im Raum um. Meistens blödelten die Jungs aus ihrer Klasse herum und verzapften lustige Streiche mit anderen Mädchen aus dem Raum. Zum Glück wurde sie davon verschont, einfach weil sie nicht so sehr auffiel. Die Jungs ignorierten sie oft oder schenkten ihr keine Beachtung. Wie auch die Mädchen aus ihrer Klasse. Sie fand es schade, aber insgeheim war sie froh, dass sie somit ihre Ruhe hatte. Sie hatte genug Ärger zu Hause und wollte damit dem Stress in der Schule aus dem Weg gehen. Sie senkte ihren Blick auf ihre Tischplatte, als sie bemerkte, dass eines der wenigen Mädchen in der Klasse sie anstarrte, so als wäre sie ein Tier im Zoo. Dabei wollte sie nicht so viel Aufmerksamkeit wie die Giraffen, die sie so gerne im Zoo betrachtete. Ihr Blick war weiter auf die Tischplatte gerichtet, musterte dort die Maserung in diesem. Hier und da waren mit Scheren oder Zirkeln einige Namen oder Symbole eingeritzt und mit Tinte aus dem Füllhalter ausgemalt worden. Sie verstand nicht, warum man so etwas machte. Wieso musste man in das Eigentum anderer ritzen oder es kaputt machen? Würde sie dies bei Hanabis Schreibtisch machen, sie würde sicherlich wieder großen Ärger bekommen. “Was hast du da gemacht?!” Überrascht hob sie ihren Blick, als sie auf ihre Klassenkameraden sah. Zwei Mädchen, welche neben ihr an der Schulbank saßen, unterhielten sich lautstark über etwas. Eine Blondhaarige, deren Haar gelockt über die Schultern fiel und eine Brünetthaarige mit kurzem, glattem Haar. Ihr fielen nicht sofort die Namen ein, da sie nicht sonderlich viel mit ihnen gesprochen hatte. Normalerweise schickte es sich nicht, den Gesprächen anderer zu lauschen, aber irgendwie war in Hinata für diesem kurzen Moment die Neugier erwacht, die in jedem Kind in diesem Alter noch herrschte. In ihren blassen Augen glitzerte es geheimnisvoll, wie schon lange nicht mehr. Unauffällig stützte sie sich mit ihrem linken Ellenbogen auf ihrer Bank ab und bettete ihren Kopf in die offene Handfläche. Sie konzentrierte sich, damit sie hören konnte, was ihre Nachbarn erzählten. “Ich hab mich hier geschnitten.” “Du dich selber?” “Ja klar!” Neugierig lunzte die Blauhaarige über ihre Handfläche, um einen Blick auf den Arm des Mädchens erhaschen zu können. Sie erkannte einen dichten Verband, über diesem das blondhaarige Mädchen besorgt strich. Sie blickte in das Gesicht der Braunhaarigen, auf dem ein stolzes Lächeln zu sehen war. War sie etwa stolz darüber, dass sie sich selber weh getan hatte? Hinata verstand das nicht. Hatte es denn nicht doll geschmerzt, als sie sich selber verletzt hatte? Warum war sie so darüber froh? Vielleicht, weil sie es selbst gemacht hatte? Aber war es etwa was Gutes, wenn man sich selber verletzte? Sie war verwirrt über dieses Verhalten und diese Handlung. Sie runzelte ihre Stirn und wandte kurz den Blick ab, da die beiden anderen Mädchen zu ihr herüber sahen. Hoffentlich hatten sie nicht bemerkt, dass sie zugehört hatte. Aber dem war anscheinend nicht so. Nach kurzer Zeit wandten sich die beiden von ihr ab und widmeten sich wieder ihrem Gespräch, dem die Hyuga aufmerksam lauschte. “Warum?” “Ich hatte Streit mit meinem Vater. Aber jetzt ist wieder alles gut.” Skeptisch hob sie nun die Augenbrauen hoch. Wenn man sich selber verletzte, konnte man Streit aus dem Weg gehen? Das wusste sie noch gar nicht. Sie hatte auch noch nie davon gehört, dass dadurch wieder alles gut werden würde. Aber sie hatte auch oft Streit zu Hause. Auch mit ihrem Vater. Sie löste ihre Haltung und legte wieder beide Arme auf die Tischplatte. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie zögerlich über ihren schwarzen Blazer, strich die Konturen ihres Armes ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas helfen sollte, wenn man sich selber verletzte. Selbst wenn sie sich selber weh tun würde, würde ihr Vater dann nicht wieder sauer auf sie sein und sie ausschimpfen? Vielleicht sogar wieder bestrafen? Bei diesen Gedanken legte sie ihre Hand auf ihren Bauch, welcher leise mit Grummeln begann. Ihr war schon richtig schlecht vor Hunger. Aber erst nach der nächsten Schulstunde würde sie etwas zur Frühstückspause in der Kantine holen können. “Hat das nicht weh getan?” “Nö, kein bisschen.” Wieder schwang Stolz in der Stimme des braunhaarigen Mädchens mit. Wieder war Hinata verwirrt. Es tat nicht weh? Dies konnte sie sich nicht vorstellen. Allein schon, wenn sie sich eines ihrer blassen Knie aufscharrte, schmerzte und brannte es schlimm. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es nicht weh tat, wenn man sich selber verletzte oder den Arm aufschnitt. Wieder fiel ihr Blick auf ihre Schulbank, musterte erneut die Bilder und Schriftzeichen, die in das Holz geritzt waren. Der Tisch hatte auch keine Schmerzen, wenn man ihn mit Scheren oder Zirkeln ritzte und mit Tinte beschmierte. Aber ein Tisch war nur ein Stück Holz auf vier Beinen. War es vielleicht mit dem Arm genauso? Fühlte man nichts, wenn man sich selber verletzte? Vielleicht wurde er ja irgendwie taub, wie bei einer Betäubung beim Zahnarzt, wo man nicht mehr spürte, dass der Arzt den Zahn zog. Vielleicht... Zögerlich fuhr sie mit den Fingerkuppen über das Holz, fühlte unter diesen die Einkerbungen in der Bank. Vielleicht hatte der Tisch auch Schmerzen, wenn man in ihn Sachen hineinritzte. Nur konnte dieser nicht schreien oder weinen. Oder sich wehren. Aber ein Tisch hatte auch keinen Streit mit einem in der Familie. Ein wenig skeptisch zog Hinata ihre Augenbrauen zusammen. Ihre Fantasie malte nur dumme Ideen in ihrem Kopf aus. Sie sollte sich nicht so viele dumme Gedanken darüber machen. Am Besten, sie vergaß schnell wieder, was sie gehört hatte. Vielleicht hatte diese Braunhaarige recht und es schmerzte wirklich nicht. Vielleicht aber hatte sie auch unrecht. Das wusste Hinata nun nicht. Und ausprobieren wollte sie es auch nicht. Dafür hatte sie zu viel Angst vor den Konsequenzen mit ihrem Vater. Es dauerte nicht lange, da ertönte das Pausenvorklingeln und alle bewegten sich nur träge an ihre Plätze. Wieder legte sie ihre Hände auf ihren leeren Bauch, welcher wieder hungrig aufgrummelte. Nur noch die Stunde und dann könnte sie endlich etwas essen. ~*~*~ Mit schnellen Schritten rannte sie durch die belebten Straßen. Die rosane Kapuze ihres Anoraks hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen, sodass sie noch gerade so den Weg vor sich erkennen konnte. Sie trat in mehrere Pfützen, welche sich bei dem plötzlich eingebrochenen Regenschauer in Massen auf den Wegen gebildet hatten. Sie spritzte damit mehrere Menschen an und hatte nicht einmal mehr die Zeit, sich für dieses unmögliche Verhalten zu entschuldigen. Denn sie war wieder einmal in Verzug. Dieses Mal war der Grund ihr Klassenlehrer, der sie wegen etwas Wichtigem hatte sprechen müssen. Dabei war sie gestern noch eindringlichst von ihrem Vater belehrt worden, dass sie heute ja pünktlich nach Hause kommen sollte. Und jetzt war sie schon eine halbe Stunde in Verzug. Dies würde Ärger geben. Und an die Vier in der Mathearbeit, die ihr Vater zu sehen bekommen würde und auch noch unterschreiben musste, daran wollte sie noch nicht denken. Ihre Beine schmerzten durch die ständige Belastung und den schnellen Rennen, aber sie durfte nicht mehr Zeit verlieren. Ihr Atmen glich einem Keuchen, während Schweiß und Regenwasser über ihre Schläfen und Wangen liefen. Angst kroch ihr den Rücken empor, als sie an die Strafe dachte, die ihr Vater ihr dieses Mal erteilen würde. Sie schluckte hart, biss sich auf die Unterlippe und senkte leicht den Blick. Warum wieder sie? Und gerade heute war so ein Tag, an dem ihr Vater schnell und meistens reizbar war. 27. März… Hastig versuchte sie ihren Schlüssel in das Haustürschloss zu stecken. Auf Grund ihrer Angst rutschte sie immer wieder unruhig am Metal vorbei und zerkratzte damit etwas das Schloss. Klingeln wollte sie nicht. Sicherlich würde ihr Vater sie sofort an der Wohnungstür herunterputzen. Nach einigen verstrichenen Minuten schaffte sie es ihren Schlüssel ins Schloss zu versenken. Sie öffnete die Tür, schlug diese hinter sich geräuschvoll zu und rannte die Stufen des Sechser-Apartments nach oben. Vor ihrer Wohnungstür blieb sie stehen, keuchte angestrengt und musste sich einen kurzen Moment gegen die Wand lehnen. Sie hatte Angst... Angst, diese Wohnung zu betreten. Zitternd suchte sie ihren Wohnungsschlüssel in ihrem Bund und hielt diesen vor das Schloss. Von Innen hörte sie die wütende Stimme ihres Vaters. Sie zögerte, lauschte der Stimme des Mannes, hatte Angst. Langsam und träge schob sie ihren Schlüssel ins Schloss und öffnete auch hier die Tür. Geräuschlos, in der Hoffnung, ihr Vater würde nicht mitbekommen, dass sie schon zu Hause war, schloss sie hinter sich die Türe. Lautlos schlüpfte sie aus ihren Schuhen. Sie roch den Geruch von Duftstäbchen und Kerzenwachs. 27. März… Gerade an diesem Tag pflegte ihr Vater auf Pünktlichkeit, wenn es um die Altarschmückung im Wohnzimmer ging. Gerade an dem Tag war die ganze Familie zusammen und trauerte um den Tod ihres Familiemitgliedes. Und heute... Heute war Hinata zu spät. Sicherlich war das Ritual schon vollendet. Das Gebet schon vorbei. Dabei wollte sie sich noch für so vieles still und heimlich bei ihrer Mutter entschuldigen und ihr sagen, dass sie diese immer noch lieb hatte, auch wenn sie nicht mehr da war. Zögerlich ging sie den leeren Flur entlang. Der Geruch der angezündeten Duftstäbchen wurde immer stärker, je näher sie dem Wohnzimmer kam. Und ebenfalls ihre Angst... Zitternd legte sie ihre Tasche gegen die Wand, schritt langsam ins Zimmer. Ihren Kopf gesenkt, die Augen reumütig geschlossen, betrat sie den Raum, in dem ihr Vater mit gefalteten Händen zum Gebet dort stand. Die Wörter von dem Gemurmel des Mannes verstand sie nicht, aber sie hörte an der Stimme, dass dieser aufgebracht war. Das dieser sich über etwas beschwerte und aufregte. Erst zum Ende hin wurde die Stimme sanfter, sprach liebevoll mit der Toten und dann herrschte Stille im Raum. Sie schluckte hart. Jetzt kam sicher ihre Strafe... “Du bist spät...” “Ich weiß, To-san.” Ihre Stimme zitterte vor Angst. Sie hatte Mühe ihre Wörter über die Lippen zu bekommen. Eine gefährliche Aura schwappte zu ihr rüber, raubte ihr für einen kurzen Moment den Atem und den Verstand. Sie getraute sich nicht ihre Augen zu öffnen, so groß war die Panik, in die vor Wut verzerrten Augen zu sehen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihre Schultern bebten und die nächsten Wörter stachen wieder tief in ihr verletzliches Herz. “Du bist unzuverlässig, faul und deine Unpünktlichkeit wird dir irgendwann mal zu Schaden kommen. Warum kannst du nicht wie deine kleine Schwester Hanabi sein?” Weil ihre kleine Schwester Hanabi nicht wie sie in vielen Nächten aufschreckte, nur weil sie den Tod ihrer Mutter vor Augen hatte. Weil ihre kleine Schwester Hanabi sowieso mehr durfte als sie selber. Weil ihre kleine Schwester Hanabi die Prinzessin ihres Vaters war. Weil ihre kleine Schwester Hanabi besser war als sie... Warum verglich er sie immer wieder mit ihr? Hinata hatte eine andere Vergangenheit als die jüngste Tochter. Sie war halt nicht so gut, wie ihre Schwester, verstand eben nicht gleich alles auf Anhieb. Dennoch bemühte sie sich genauso sehr wie Hanabi. Aber die Eigenschaft, dass sie sich genau anstrengte, um ihre Ziele zu erreichen, aber dafür nur ein wenig mehr Zeit brauchte, die übersah ihr Vater wieder einmal. Wut keimte in ihr auf. Hanabi hier, Hanabi dort. Warum war er nicht einmal auf sie stolz? Ihre Fäuste zitterten, während sie sich auf die Unterlippe biss, um Ruhe zu bewahren und um die Wörter, die auf ihrer Zunge lagen herunterzuschlucken. Sie focht innerlich einen Kampf mit ihrer Wut und der Angst auf ihren Vater. “Warum kannst du nicht so sein wie Hanabi?” Die Angst verlor... “Warum vergleichst du mich immer wieder mit ihr?!”, schrie sie heraus und erzitterte am ganzen Körper. Ihre eigene Stimme klang unheilvoll laut in ihren Ohren. Sie wusste gar nicht, dass sie so laut werden konnte. “Warum willst du, dass ich genauso bin wie sie!?” Sie schrie weiter, während in ihrem Hinterkopf immer wieder ängstlich die Stimme rief, dass es nun genug war. Aber sie konnte nicht aufhören. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht, während ihr Körper vor Zorn und Furcht erbebte. “Warum willst du-“ Ein lautes Klatschen erfüllte den Raum und Stille zog ein. Erschrocken keuchte Hinata auf und legte ihre Hand auf ihre vor Schmerz pochende Wange. Für einen kurzen Moment war sie wie erstarrt. Ihr Vater hatte sie geschlagen. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Zwar war dieser immer Mal wieder wütend geworden und hatte sie angeschrieen. Nie, aber wirklich niemals hatte er ihr eine Ohrfeige verpasst oder sie anders geschlagen. ”Wie redest du mit deinem Vater?! Was denkst du, wer du bist, dass du mich mit solch einer Lautstärke anschreien kannst?!”, wurde es ihr entgegen geschrien. Sie zuckte zusammen. Nun war sie zu weit gegangen. So wütend war ihr Vater noch nie gewesen. “Was für ein ungezogenes Mädchen! So habe ich dich niemals erzogen, dass du so aufmüpfig gegenüber deinem Vaters wirst!”, schrie er sie weiter an und sie sah schon, wie bald eine zweite Ohrfeige auf sie zukommen würde. Aber irgendwie reagierte ihre Zunge schneller als ihr Verstand. “Du hast dich doch nie um mich gekümmert!” “Das war die Arbeit deiner Mutter!” “Die ist nur nicht mehr da!” Die nächsten Worte bekam sie mit einer weiteren Ohrfeige mitten ins Gesicht gepfeffert. Sie taumelte zurück, als die Wucht des Schlages sie traf. Aber nicht der Schlag war es, der ihr kleines Herz zum Bluten brachte, sondern die Worte, die sich schon seit Jahren tief in ihrem Inneren verwurzelt hatten und jetzt anscheinend zu wachsen begangen... “Du bist daran Schuld, dass es so ist.” Stille zog ein. Keiner sagte mehr ein Wort. Auch wenn die Worte über den Lippen des Vaters aus Zorn ausgesprochen waren und nicht der Wahrheit entsprachen, hatten sie sich tief in sie gegraben. Ihr kam es vor, als würde die Luft dünner werden, bis sie fast keine mehr bekam. Unvergossene Tränen brannten in ihren Augen. Ihre Wange fühlte sich taub an. Ihre Unterlippe zitterte und Blut rann aus ihrem Mundwinkel, da sie sich vor Schreck wegen des Schlages auf die Zunge gebissen hatte. Hastig wischte sie dieses mit dem Handrücken ab, betrachtete es kurz auf ihrer blassen Haut. Blut... Es stach aus dem Weiß ihrer Hand heraus. Erschrocken riss sie die Augen auf, torkelte nach hinten und schaffte es sich an dem Rahmen der Tür festzukrallen, um nicht umzustürzen. “Gehe bitte in dein Zimmer. Ich möchte dich heute nicht mehr sehen.” Ruhig kamen die Worte über die Lippen des Vaters. Als wäre nie etwas passiert. Als wären die letzten Worte nie gesagt worden. Hinata wusste nicht, was sie machen sollte. Hektisch stellte sie sich wieder aufrecht hin und blickte zu Boden. Ihre Strafe... Aber für was? Dafür, dass sie zu spät kam oder… “Verstanden, To-san.” ...dafür, dass sie daran Schuld war? ~*~*~ Zusammengesunken saß sie in ihrem Zimmer auf ihrem Schreibtischstuhl. Heiße, salzige Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie konnte und wollte sie nicht mehr zurückhalten. Dafür hatte sie einfach nicht mehr die Kraft. Ein Schluchzen unterdrückend biss sie sich auf die Unterlippe, damit kein Geräusch zu hören war. Ihre Augen waren stur und stumpf auf ihr Schulheft gerichtet. Hier und da erkannte man einige Wasserflecken von ihren Tränen. Das Papier war an diesen Stellen aufgeweicht und leicht gewellt. Zum Hausaufgaben machen hatte sie gar keine Konzentration mehr. Genauso wenig die Motivation. Für was machte sie dies hier überhaupt? Ihr Vater würde doch so oder so nicht auf sie stolz sein. Es war sinnlos... Dennoch wollte sie auch keinen Ärger deswegen von ihm bekommen. Die nächste Strafe wäre einfach zu viel für sie. Zitternd umklammerte sie den Stift in ihren zierlichen Fingern, versuchte die Matheaufgaben zu lösen, aber der Gedanke an ihren Vater und den ganzen Strafen von diesem lenkte sie wieder ab. Warum hasste er sie so? Ihre Augen richteten sich auf. Ihr Blick schweifte über ihren Schreibtisch und blieb an einem Foto stehen. Das einzige hier in diesem Zimmer. Auf dem Bild war sie und ihre Mutter mit einem schwangeren Bauch zu sehen. Wieder wurden ihre Schultern durch ein unterdrücktes Schluchzen geschüttelt. Zitternd griff sie nach dem Bild, fuhr mit ihren Fingern über das kalte Glas des Rahmens, in dem dieses eingesperrt war. Eine Wut überkam sie. Eine Wut auf ihre Mutter, die sie hier allein gelassen hatte. Zornig packte sie das Bild und warf es mit einem lauten Klirren zu Boden. Keuchend stand sie auf und betrachtete ihr Werk. Und plötzlich übermannte sie eine unendliche Trauer. Sie wollte das gar nicht. Ihre Mutter konnte nichts dafür, dass sie nicht mehr da war. Sicherlich wollte diese nicht schon so früh sterben. Sicherlich hätte diese gerne noch Hanabi kennen gelernt. Gerne noch mit Hinata herumgealbert. Aber es war vergänglich. Dem Tod konnte man nicht entkommen. Sobald er einen in seinen Krallen hatte, war es schier unmöglich. Dies hatte sie schon vor langer Zeit erkannt. Und sie war daran Schuld, dass der Tod die Krallen nach ihrer Mutter ausstrecken konnte. Zitternd und leise schluchzend beugte sie sich über das zerschellte Glas des Bilderrahmen, welches am Boden verstreut war. Sie griff nach einer der größeren Scherben und schnitt sich daran. Erschrocken zuckte sie zurück und steckte sich den blutenden Finger in den Mund, um die rote Flüssigkeit abzulecken. Es schmerzte nicht sehr, brannte nur leicht. Überlegend runzelte sie ihre Stirn. Plötzlich fiel ihr wieder das Gespräch ihrer beiden Klassenkameradinnen ein: “Ich hab mich hier geschnitten.” “Du dich selber?” “Ja klar!” “Warum?” “Ich hatte Streit mit meinen Vater. Aber jetzt ist wieder alles gut.” “Hat das nicht weh getan?” “Nö, kein bisschen.” Zitternd griff sie nach einer der größeren Glasscherben und hielt diese nach oben. Sie glitzerten im Licht der hereinscheinenden Sonne. Wie wunderschön dies aussah. So wunderschön, dass es wiederum so vergänglich und zerbrechlich schien. Ihre Hände zitterten vor Angst wegen des Unbekannten. Zögerlich hielt sie die Scherbe an ihren Arm. Wartete... Schwieg... Sie hatte Angst… Aber vielleicht würde dadurch alles besser werden. Schließlich hatte ihre Klassenkameradin keinen Streit mehr mit ihrem Vater gehabt. Außerdem meinte diese auch, dass es nicht schmerzen würde. Jetzt war nur noch die Frage, wo sie ansetzen sollte. Ziellos irrte ihre bebende Hand über ihren linken Arm. Sie hatte noch ihren Blazer an, wäre besser diesen auszuziehen. Hastig ließ sie die Scherbe fallen und zog ihren Blazer aus, genauso wie ihr weißes Hemd, was sie darunter trug. Oben ohne saß sie nun vor dem Haufen Scherben und dem Bild zwischendrin. Wieder fielen ihre glanzlosen Augen auf das Gesicht ihrer Mutter. Wahllos griff sie wieder eine der Scherben und legte sie aufgeregt an ihren Arm. Wieder den Blick auf ihre Mutter gerichtet, liefen ihr wieder Tränen über die Wangen. Dabei war der Fluss für einen kurzen Moment verebbt gewesen. Ruhelos wirkte ihr Körper und ihre Schultern erzitterten zum erneuten Male. Sie biss sich auf ihre Lippen. “Gomen nasai, Ka-san...” Sie wisperte diese Worte und legte die Scherbe an ihre blasse Haut. Mit der scharfen Seite fuhr sie sich von der linken Schulter über den Oberarm herab, vor dem Ellenbogen hielt sie an. Die Scherbe fiel zu Boden. Blut sickerte aus der Wunde und lief langsam über die blasse Haut... Sie spürte keinen Schmerz. Es tat nicht weh. Ein Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Eine Erleichterung machte sich in ihr breit. Leider wusste sie nicht, dass durch die in diesem Moment in ihrem Körper ausgeschütteten Endorphine, so genannte Glückshormone, den Schmerz unterdrückten. Einige Blutflecken tropften auf das am Boden liegende Bild. Genau unter die Augen ihrer Mutter und liefen dort weiter hinab. Es sah aus, als weinte ihre Mutter blutige Tränen... Aber Hinata bemerkte dies nicht. Sie hatte sich selber verletzt. Scham stieg in ihr auf. Und Angst auf die Folgen. Was würde passieren, wenn ihr Vater davon wüsste? Wenn er davon erfahren würde? Würde er sie vielleicht wieder bestrafen? Oder würde er sie anders behandeln? Der Streit zwischen ihrer Mitschülerin und dem Vater war dadurch ja auch wieder geschlichtet worden. Aber ihr Vater war anders. Sicher würde er wieder sauer sein. Zitternd legte sie ihre Hand auf den blutigen Schnitt. Die Wunde pochte leicht und brannte ein wenig. Aber sie spürte es nicht wirklich. Warum machte sie sich eigentlich noch so viele Gedanken darüber, was ihr Vater davon hielt? Schließlich hatte er zu allem, was sie machte, etwas auszusetzen. Sie schloss ihre Augen und weitere Tränen liefen ihr über die Wange. Es war doch egal... Sie war doch eh jedem egal... Den anderen würde es auch egal sein, wenn sie sich nun geritzt hatte. So wie alles andere ihnen egal war. Sie schluchzte leise, krallte ihre Nägel tiefer ins Fleisch. Jetzt schmerzte es, aber nicht so sehr wie ihr Herz. Sie war allen sowieso egal. Welche Erkenntnis dies doch war. Am liebsten hätte sie diese nicht gehabt. Erneut schluchzte sie, während das Blut durch ihre Finger zähflüssig durchsickerte. Nun war alles egal. Hätte sie gewusst, dass dieser erste Schnitt ihr Leben noch mehr zerstörte, dieses noch mehr bestimmte und sie abhängig machte, dann hätte sie diesen niemals gesetzt… Kapitel 2: Das graue, in Vergessenheit geratene Mauerblümchen [Teil 2] ---------------------------------------------------------------------- Ich hatte es so sehr gehasst, hatte es so sehr verabscheut und dennoch... Ich war schon so tief in den Schlund gefallen, dass ich keinen anderen Ausweg mehr gesehen habe… Das graue, in Vergessenheit geratene Mauerblümchen [Teil 2] 03. November 2009 Die Hände schüchtern auf ihre Brust gelegt, lief die vierzehnjährige Hinata durch die langen Schulgänge. Die Augen Richtung Boden gesenkt und mit ihren Gedanken weit woanders, rempelte sie aus Versehen jemanden an. Ängstlich zuckte sie zusammen, als sie bemerkte, dass sie jemanden berührt hatte. Sie getraute sich nicht, nach oben zu sehen, um zu wissen, mit wem sie wirklich zusammengestoßen war. Aber eine Entschuldigung war von Nöten. Sie hoffte, dass sie sich damit aus der Situation retten konnte. “Go... gomen... na... nasai...” “Na, du Emo-Kind?” Grob wurde sie am Oberarm angepackt und von dem größeren Schüler gegen die Wand gedrückt. Sie kniff die Augen zusammen, als sich ein brennender Schmerz in ihrem Oberarm ausbreitete. Sie wurde fester gegen die Wand gedrückt. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen und ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sie den stinkenden Atem nach Zigarettenrauch in ihre Nase bekam. Sie fand dies widerlich. Der ältere Schüler presste sie mehr gegen die Wand, welche sich kalt in ihren Rücken bohrte. Ihr Atem stockte. Angst lähmte ihren Körper und kroch ihr in jede Faser. Das Gesicht vor ihr war zu einer düsteren Fratze verzerrt. Hohn und Überlegenheit spiegelten sich in den Augen des Jungen wider. Und zwischen diesen beiden Emotionen schimmerte der leichte Glanz, dass ihr Gegenüber wusste, was sich unter dem Stoff ihrer Anziehsachen befand. Sie wehrte sich, zerrte an ihrem Arm herum, um sich zu befreien. Panik mischte sich zu ihrer Angst, erbrachte damit eine neue Mischung an Emotionen und gab ihr die Kraft und Möglichkeit sich endlich von diesem Jungen zu befreien. Zumindestens versuchte sie dies... “Was ist denn los, Hyuga-chan? Wehr dich nicht so.” Hinata erschauderte, als die raue Stimme ihr ins Ohr flüsterte. Gefährlich. - Bedrohlich. - Und viel zu nah. Sie zerrte weiter mit ihrem Arm, als sie plötzlich noch am zweiten ergriffen wurde. Sie keuchte auf vor Schmerz. Ihre lavendelfarbenden Augen weit aufgerissen, da das Gesicht des Älteren nah an ihrem war. Tief sahen sie sich in die Augen, welche sie kurz darauf zusammenkniff. Ihr Gegenüber sollte nicht so tief in sie hineinsehen. Nicht, dass er in ihren Augen erkannte, was sie wirklich machte. Ihr Blut rauschte in den Ohren, ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust. Gedämpft nahm sie ihre Umgebung wie hinter einem Schleier war, während in ihrem Kopf alle Gedanken durcheinander rasten. Und plötzlich, in diesem ganzen durcheinander von Stimmen, Gefühlen und Gedanken, hörte sie ein lautes Klatschen. Sie fiel. Der Druck an ihrem Armen ließ nach, bis sie ihn nicht mehr spürte. Unsanft kam sie auf dem Boden auf und blieb dort sitzen, den Kopf nach unten gerichtet. Erst war eine kurze Stille, bis es ihr das Herz zusammenschnürte. Schallendes Gelächter war auf dem Schulgang zu hören. Mit belustigtes Kichern von einigen Mädchen und dem Hohn von den Jungs wurde sie bestraft. Und zwischen dem vielen Lachen und murmelnden Stimmen hörte sie ein verächtliches Schnauben von ihrem Peiniger. Anscheinend hatte es ihm nicht gepasst, dass sie sich gewehrt hatte. Dabei hatte sie nichts gemacht, außer ihn angerempelt und das unbeabsichtigt. Sie hatte sich sogar entschuldigt. Aber nicht nur das war der Grund, sondern hauptsächlich, dass sie dunkle Sachen trug. Weil sie Schwarz trug, war sie sofort unter die Kategorie Emo gefallen. Dabei war sie gar keiner... Aber so war es schon immer. Die Menschen waren zu oberflächlich, dass sie nur nach dem äußeren Erscheinungsbild gingen. “Was ist hier los?” Die Stimme eines Lehrers schallte über den Gang, womit sich sofort einige Schüler wieder in ihr Klassenzimmer begaben oder versuchten unauffällig weiterzugehen. Auch der Junge, der sie geschlagen und weggeschubst hatte war verschwunden. Er war einer der ersten, der sich verzogen hatte. Vielleicht aus Feigheit vor dem Lehrer? Aber er war nicht feige genug, um sie zu schlagen. Mit zittrigen Knien zerrte sich Hinata an der Wand hoch. Ihre Wange pochte unangenehm und brannte. Ihre Augen hatte sie gegen Boden gerichtet, während um sie herum das schulische Treiben weiter ging. Grob biss sie sich auf die Unterlippe, um ihre aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Ihre bebenden Hände rutschten in ihre Jackentasche, streiften dort ihre Geldbörse. Kurz hielt sie inne, erschauderte. Ein tiefes Verlangen in ihr kam auf. Ein Drang dieses kleine, silbrige Ding in ihrem Portemonnaie jetzt sofort zu zücken und es zu benutzen. Sie biss sich fester auf die Lippe, dass diese fast zu Bluten begann. Sie sollte es nicht, aber sie brauchte es. So dringend. Mit hastigen Schritten lief sie in Richtung der Schultoiletten, betrat diese und suchte mit nervösen Augen eine leere Kabine. Mit schwitzigen Händen ergriff sie die Türklinke und schloss die Tür hinter sich ab, um sich mit dem Rücken gegen diese zu lehnen. Ihre Finger zitterten beim Aufknöpfen ihres schwarzen, langärmligen Blazers, um diesen über ihre Schultern auszuziehen. Leise keuchte sie auf, als sie ungeschickt an eine der neueren Wunden herangekommen war. Ihre Hände hielten inne, den Blick gegen Boden gerichtet. Der Drang in ihrem Inneren wurde stärker. Genauso wie das Beben ihres Körpers. Ihr Herz raste vor Aufregung und dem Verlangen nach Erlösung. Es pochte schwer hinter ihrer Brust, während ihr Körper ruhelos und wie aufgelöst wirkte. Ihre Muskeln spannten sich an und durch jede Faser ihres Körpers schoss das Adrenalin. Schnell riss sie sich die schwarze Stülpe von ihrem linken Arm herunter, welche ihr bis fast über die Finger reichte. Danach sah sie es wieder... All die Narben, die sie sich zugefügt hatte. Sie kannte den Anblick schon, es war nichts Neues, auch wenn tagtäglich neue Wunden dazu kamen. Grob biss sie sich auf die Unterlippe, suchte in der Jackentasche ihres Blazers nach ihrem Portemonnaie, um ihr wichtiges Werkzeug außerhalb ihres Zimmers zur Hand zu nehmen. Eine kleine Nadel... Für einen Moment betrachtete sie diese in ihrer blassen Hand. Silbrig glänzte sie im Schein der Toilettenleuchte. Kein einziger Rostfleck oder Blutfleck war auf dieser zu sehen, dabei wurde sie jeden Tag mehrmals verwendet. In fast jeder Pause... Sie setzte an einer der frischen und verkrusteten Narben an und stach hinein, um mit einem Ruck die Nadel nach unten zu zerren. Einfach, damit sich die Wunde wieder öffnete. Es schmerzte kaum und bei dem Anblick ihres eigenem Blutes beruhigte sich ihr Körper. Er entspannte sich und kam zur Ruhe. Genauso wie ihr schnell pochendes Herz. Auch das Zittern ihrer Hände ließ nach, bis es ganz verebbte. Weiter schossen Endorphine durch ihren Körper und überschwemmten die Schmerzen mit einem Glücksgefühl. Erleichtert seufzend zog sie sich ihre wieder über den Arm, ließ damit das heraussickernde Blut einfach von dem schwarzen Baumwollstoff aufsaugen. Langsam zog sie ihren Blazer wieder an und steckte ihre Geldbörse wieder in ihre Jackentasche. Die Nadel hatte sie fest umklammert. Diese musste sie noch mit heißem Wasser reinigen. Schnell betätigte sie die Toilettenspülung. Einfach als Tarnung, dass sie angeblich nur auf dem Klo war. Sie öffnete die Tür wieder und schritt zu den Waschbecken hin, als wäre nie etwas gewesen. Als wäre alles in Ordnung. Nur ihren Kopf hatte sie gesenkt. Wie jedes Mal. Dabei war überhaupt nichts in Ordnung… Die Angst war groß, dass jemand in ihren Augen sah, was sie wirklich gemacht hatte. Aber nicht nur aus Angst senkte sie ihren Blick, sondern auch aus Scham. Sie kam sich so erbärmlich vor. Hasste es, dass sie täglich und in fast jeder Pause panisch und aufgewühlt zur Toilette rannte, nur um einige fast verheilte Wunden aufzureißen. Aber trotzdem kam sie davon einfach nicht mehr los. Je mehr sie versuchte sich dagegen zu wehren, desto tiefer rutschte sie in diesen Schlund hinein. Je mehr sie sich einredete, dass sie einfach nur miserabel war, dass sie zu solchen Mitteln griff, desto mehr Schmerzen fügte sie sich zu. Sie bemerkte nicht einmal, wie süchtig sie schon danach war... Am Waschbecken wusch sie sich mit heißem Wasser und Seife ihre Hände. Nur, um die Nadel zu reinigen, welche sie später unauffällig wieder in ihrer Geldbörse verschwinden lassen würde. Wie jedes Mal… ~*~*~ Mit langsamen Schritten und gesenktem Kopf ging sie durch die belebten Straßen der Stadt. Ihre Hände hatte sie krampfhaft in ihren Jackentaschen vergraben und dort zu Fäusten geballt. Plötzlich rempelte sie unerwartet und unbeabsichtigt einen der Passanten an. Erschrocken hielt sie die Luft an. Wie, als hätte Hinata eine ätzende Flüssigkeit getroffen, kribbelte es auf ihren Armen und Beinen. Schmerz breitete sich in ihrem Körper aus und die Narben fingen schlimm mit Brennen an. Panik kroch ihr den Nacken hoch. Auch wenn alles nur ein Hirngespinst ihrer Angst war, so befürchtete sie fast, dass dieser Mann unter dem Stoff ihrer Jacken und Stülpen die einzelnen Narben gefühlt hatte. Ihre Hände verkrampften sich noch mehr, während auch die Panik ihre Beine ergriff. Mit schnellen Schritten, dabei ihre Schultasche fest an sich gedrückt und umklammert, rannte sie nach Hause. Weg von den Blicken der Leute, die ihr neugierig und verständnislos hinterher blickten. Weg von dem Trubel und den Massen auf den Straßen. Und weg von den Menschen, die sie berühren konnten und erkannten, was sie wirklich machte. Sich ritzen… Nervös nestelte sie an der Haustür an ihrem Schlüsselbund herum, um den richtigen Schlüssel zu finden. Es dauerte einige Sekunden, um den Schlüssel im Loch zu versenken und die Tür zu öffnen. Laut knallte sie diese hinter sich zu, preschte die Treppen nach oben, übersprang dabei einige Stufen, nur um am Ende erschöpft und aufgewühlt vor der Wohnungstür zu stehen. Keuchend hielt sie an und verharrte in ihrer Stellung. Es dauerte Minuten, bis sich ihr rasender Atem und ihr pochendes Herz beruhigt hatten. Erst jetzt schaffte sie es ihren Wohnungsschlüssel ins Schloss zu stecken, um die Tür zu öffnen. Lautlos trat sie ein, schloss die Tür und lauschte einen Moment, um zu hören, ob ihr Vater zu Hause war. Aber es war ruhig. Ruhigen Schrittes ging sie den langen Flur entlang. Beängstigend laut hallten ihre Schritte von den kahlen, bilderlosen Wänden wider. Früher hingen hier viele Fotos. Fotos von der Familie, vor allem viele mit ihrer Mutter drauf. Aber ihr Vater hatte eines nach dem anderen in den letzten Monaten abgenommen. Warum wusste sie nicht und es war ihr auch egal. “Hinata?” Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie die Stimme ihres Vaters hörte. Ihr Körper verkrampfte sich für einen kurzen Moment und sie legte ihre Hände zitternd auf ihre sich schnell hebende und senkende Brust. Sie spürte unter den Fingerspitzen ihr Herz rasen. Als wollte es ausbrechen und endlich frei sein. Wie sie selber. “Hai, To-san?” “Wo ist deine Schwester Hanabi?” Leicht senkten sich ihre Lider. Einmal aus Erleichterung, da es nur um Hanabi ging und einmal aus Enttäuschung, da es sich eben nur wieder alles um diese drehte. Sie kaute kurz auf ihrer Unterlippe herum, ehe sie antwortete. “Mit ihren Freunden im Schwimmbad. Ihre eine Freundin hat heute Geburtstag. Hanabi hatte es gestern Morgen am Frühstücktisch erwähnt”, brachte sie mit fester Stimme hervor. Sie schob ihr blaues Ponyhaar hinter das Ohr und bemerkte, wie ihr Vater zu dieser Aussage nur nickte. Anscheinend fiel es ihm wieder ein. “Ich bin in meinen Zimmer, meine Aufgaben machen.” Nach diesen Worten zog sie sich wieder zurück. In ihrem Zimmer angekommen, legte sie ihre Tasche auf den Boden und seufzte erleichtert auf. Sie war endlich wieder in ihrem Zimmer. In ihren vier Wänden, wo niemand außer sie sein konnte. Langsamen Schrittes ging sie zu ihrem Kleiderschrank und öffnete diesen. Träge zog sie sich ihren Blazer über die Schultern und hängte diesen sauber auf einem Kleiderhaken auf, um ihn am nächsten Tag ungeknittert wieder zu verwenden. Dasselbe machte sie mir ihrem Hemd und ihrem Rock. Danach suchte sie sich neue Anziehsachen. Wahllos griffen ihre Hände in den Kleiderschrank, als sie plötzlich einen etwas merkwürdigen Stoff zwischen die Finger bekam. Skeptisch die Stirn verrunzelt, holte sie diesen heraus. Ein trauriger Ausdruck bildete sich auf ihrem Gesicht, während sich ein Schatten über ihre Augen legte. In ihren Händen hielt sie einen dunkelblauen Badeanzug mit einer rosafarbenen Lotusblume auf der Vorderseite. Diesen hatte sie sich letzten Sommer gekauft und nie getragen. Es war einfach unmöglich mit all diesen Narben in irgendein Schwimmbad oder an den Strand zu gehen. Sie würde niemals mehr das Gefühl erleben, von seichten Wellen des Meeres umströmt zu werden. Sie würde niemals mehr den Spaß haben, sich im Schwimmbad mit anderen auszutoben. Sie hatte es diesen Sommer zu spüren bekommen. Die Hitze war manchmal unerträglich. Aber Röcke, T-Shirts oder einen Badeanzug... Dies waren Dinge, die sie nicht mehr tragen konnte. Dafür hatte sie viele schwarze, dicke Strumpfhosen, welche sie unter ihren Röcke trug. Dicke, schwarze Baumwollstulpen, die sie sich über die Arme zog. Und langärmlige, dunkle T-Shirts. Sie hatte sich schon früh von ihren kurzen Röcken und ihren Kleidern verabschiedet. Eine der vielen Konsequenzen, die sie jetzt zu verantworten hatte... Wütend warf sie den Badeanzug wieder in den Schrank und holte sich eines der langärmligen T-Shirts und eine Jeans heraus. Sie schmiss beides auf ihr Bett, versuchte den Gedanken zu verdrängen, was sie alles schon verloren hatte. Aber die Wut keimte weiter in ihr. Eine Wut auf sich selber, weil sie sich hinreißen lassen und den ersten Schnitt gemacht hatte. Sie knirschte mit den Zähnen, während sich in ihrem Inneren die Wut zu einer tosenden Welle aufbaute. Eine Wut, deren sie freien Lauf lassen musste. Sie ging zu ihrem Bett und setzte sich vor dieses. Es dauerte nicht lange, als sie eine Schachtel heraus geholt hatte. Mit zittrigen Fingern - vor Wut und Aufregung - öffnete sie den Karton. Im herein flutenden Sonnenlicht schimmerte die Rasierklinge silbrig auf. Ihre Augen waren auf diese fixiert. Ihre Finger bewegten sich von allein zu dieser hin. Glatt fühlte sich das Metall zwischen ihren Fingerkuppen an. Glatt, kalt und... vertraut. Sie setzte an, machte den ersten Schnitt an ihrem linken Oberarm. Aber es reichte nicht. Die Wut regierte weiterhin in ihrem Körper. Trieb sie zu ihren Taten weiter an. Die Frage “Warum hatte sie damit nur begonnen?” ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hasste sich dafür, dass sie damit angefangen hatte. Sie fand sich selber so erbärmlich, dass sie damit nicht einfach aufhören konnte. Es kotzte sie an, dass sie so süchtig nach diesem Gefühl des Schmerzes war, dass alle anderen Argumente von eben wie unwichtig erschienen. Die nächsten Schnitte verteilte sie sich an Armen und Beinen. Es dauerte eine Zeit, ehe sie aufgelöst und mit tränengenässten Wangen den letzten Schnitt gesetzt hatte. Eine Wärme durchströmte ihren Körper, brachte damit ihr wütendes und aufgewühlte Herz wieder zur Ruhe. Ihre Arme und Beine schmerzten, brannten und pochten angenehm. Ein vertrautes Gefühl. Für einen kurzen Moment blieb sie so sitzen, betrachtete stumm ihr Werk. Ihre Tränen verebbten. Lautlos legte sie die Klinge wieder in die Schachtel zurück und holte dort einzelne Kompressen und Mullbinden heraus. Aber nicht nur Verbandsmaterial hatte sie in ihrem Karton. Mit einem Desinfektionsspray reinigte sie die Wunden, ehe sie an die einzelnen Schnitte Kompressen hinauf presste. Auch das Alleineverbinden mit den Verbänden stellte sich nicht einmal mehr als Problem da. Sie hatte es schon oft gemacht. So oft, dass sie ihren Körper auswendig kannte. Sie wusste an welche Stelle sie sich nicht ritzen durfte, da es Lebensgefährlich werden konnte. Sie wusste wie tief sie schneiden kann, auch wenn die Schnitte von Zeit zu Zeit immer tiefer wurden. Zu Beginn hatte sie nur kleine Schnitte auf den Arm gemacht, aber mit der Zeit war die Haut aufgebraucht und sie hatte sich weiter ausgebreitet. Der andere Arm... Beine... Bauch... Brustkorbbereich... Auf all diesen Körperteilen hatte sie schon Narben. Narben die früher schnell verheilten, aber jetzt Monate brauchten, bis sie gänzlich geschlossen waren. Und es brauchte Jahre, bis sie auf der zerbrechlichen Haut verblassten. Sie hatte gelernt ihre Wunden selber zu versorgen. Was ihren Körper betraf, war sie ein Experte, während sie diesen Schnitt für Schnitt immer mehr zerstörte... Die letzte Wunde war verbunden. “Hinata?” Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Vaters im Flur hörte. Schnell und lautlos packte sie ihre Sachen zusammen und schob den Karton wieder unter das Bett. “Hai, To-san?” “Gehe bitte für heute Abend einkaufen.” “Hai!” Bei dieser Gelegenheit konnte sie ihr erspartes Taschengeld wieder in der Apotheke ausgeben, um neues Verbandsmaterial zu besorgen. Träge erhob sie sich. Ihre Beine knickten leicht ein, als ein brennender Schmerz durch diese fuhr, aber sie schaffte es sich aufzustellen. Musste sie auch. Schnell zog sie sich an, stülpte sich ihre schwarzen Stülpen über die schmerzenden Arme und schlüpfte in ihre Jacke. Ehe sie es noch vergaß, suchte sie schnell in ihrem Blazer noch ihr Portemonnaie heraus und steckte es in ihre Jackentasche. Prüfend schweifte ihr Blick durch das Zimmer, ehe sie dieses verließ. Nicht ahnend, dass einige sichtbare Blutstreifen auf dem Boden zu sehen waren... ~*~*~ Aufgeregt stand sie an der langen Schlange zur Kasse in der Apotheke. Ihr Herz raste vor Angst hinter ihrer Brust. Die Befürchtung, dass es jemand vor oder hinter ihr hören konnte war groß. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper, als sie den Blick eines anderen auf sich spürte. Sofort senkte sie den Kopf, hielt krampfhaft ihren Korb in beiden Händen fest, damit dieser vor nervösem Zittern nicht aus ihren schwitzigen Händen rutschte. Ihre Beine fühlten sich weich an, sie befürchtete schon, dass sie hier gleich zusammensackte. Wie jedes Mal, wenn sie hier an dieser Kasse stand. Auch wenn dem meistens nicht so war, spürte sie Blicke auf sich ruhen. Blicke, die sie scannten. Blicke, die zu ihr durch drangen und vielleicht ihr Inneres sahen. Blicke, die prüfend über ihre Arme glitten. Blicke, die sich sicherlich fragten, für was sie das alles in ihrem Korb brauchte. Mit gesenkten Augenlidern schaute sie in ihren Korb. Klammerpflaster, Desinfektionsmittel, Antibiotika, Creme, Mullbinden, Narbenpflaster, Rasierklingen... Es sah übertrieben aus, aber sie brauchte das alles. Ansonsten wäre die Chance groß, dass sie ihre Narben nicht mehr verstecken konnte. Was würde sie machen, wenn jemand etwas heraus bekam, nur weil sie ihre Wunden nicht richtig versorgt hatte? Sie wusste es nicht... Sicherlich vor Scham im Erdboden versinken. Und wenn es ihr Vater wäre, der es heraus fand, dann würde sie sicher vor Angst sterben. Die Schlange vor ihr rückte einen Schritt weiter. Sie ging mit der Masse mit, welche sich um sie drängte. Ungeduldig starrte sie auf den Boden, hoffte sehr, dass dieser sich auftat und sie verschlang. Aber da konnte sie lange warten. Dies würde niemals passieren. Sie löste eine ihrer Hände und rieb sich mit dieser über den Arm. Als hätte sie das Gefühl, dass sie Flöhe bissen. Immer fester und schneller. Ein leichtes Brennen entstand auf der Haut, welches sie für einen kurzen Moment zur Ruhe brachte. Kurz hob sie ihren Blick an, ließ diesen über die Körbe der anderen Menschen schweifen. In der Hoffnung jemand würde in der Reihe stehen, der sie vielleicht bemerkt hatte. Jemand, der dieselben Dinge einkaufte wie sie. Jemand, der sie vielleicht ein wenig verstand... Aber so würde es niemals sein. Dies würde niemals passieren. Das wusste sie schon so lange. Es fiel ihr jedes Mal wieder ein, wenn sie hier, voller Ungeduld und Angst, an dieser Kasse stand und all diese Dinge einkaufte, die sie jetzt in ihrem Korb hatte. Sie senkte ein wenig ihre Augenlider, während eine tiefe Traurigkeit ihr kleines Herz umfing. Wieder rückte die Schlange ein Stück vor und sie in der Masse mit, ohne die Hoffnung, dass es jemand bemerken würde. Ohne die Hoffnung, dass jemand sie darauf ansprach. Ohne die Hoffnung, dass sie jemand verstand. Erneut bemerkte sie es. Sie war wieder allein und verlassen. Wie jedes Mal… ~*~*~ Die Neonlichter strahlten unheilvoll auf sie hinab. In einzelnen Ecken rannten Ratten und Mäuse an ihr vorbei. Man hörte das Maunzen eines Katers in der Ferne und weiter weg die leisen Geräusche von der Hauptstraße. Der kalte Novemberwind wehte polternd über einige verbeulte Mülltonnen hinweg. Es roch unangenehm und ein weiter Schatten breitete sich auf den Steinwänden der alten Häuser aus. Es war spät und Hinata wollte eigentlich nicht wieder so spät zu Hause sein, weswegen sie einen kleinen Umweg genommen hatte. Aber anscheinend war sie eine falsche Seitenstraße abgebogen, denn diese Gegend hier kam ihr unbekannt vor. Ein wenig ängstlich zitternd drückte sie ihre Tasche mit ihren Einkäufen dicht an sich heran. Zum Halt, um nicht von dieser Dunkelheit verschluckt zu werden, welche, trotz mit geheimnisvollen Neonlichtern ausgestattet, über sie hereinstürzte. Sie schluckte hart und wollte nur so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ohne es selber zu bemerken beschleunigten sich ihre Schritte. Plötzlich raschelte etwas neben ihr. Erschrocken quiekte sie und vor ihr erstreckten sich zwei langgezogene Schatten. Den Kopf weiter gesenkt, schielte sie unter ihrem Pony hervor. Zwei dunkle Gestalten standen vor ihr, welche mit trägen und schweren Schritten immer näher kamen. Durch das seichte Neonlicht der Wandbeleuchtung konnte sie die Gesichtsausdrücke vorerst nur schemenhaft erkennen. Hinata erschauderte, als sie in die Gesichter der beiden Personen sah. Der eine mit einem lüsternen Lächeln und der andere sich über die Lippen leckend. Sie erzitterte bei diesem Anblick, auch wenn sie nicht recht verstand, was diese beiden Männer von ihr wollten. “Na hallo, junge Dame.” Für einen kurzen Moment war sie verwirrt. Meinte der Mann etwa sie? Sie hatte Angst sich umzusehen, um zu schauen, ob noch wer hinter ihr stand. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als die beiden Männer auf sie zu traten. Am liebsten hätte sie geschrien. Aber ihre Kehle war wie zu geschnürt. Es kam kein Ton über ihre Lippen, genauso wenig wollten sich ihre Beine bewegen. Einer der Männer berührte sie leicht am Arm, was ihr einen unangenehmen Schauer und eine Schmerzenswelle bescherte. In ihrem Bauch drehte sich alles. Ihr war schlecht. Sie wollte nur so schnell wie möglich weg. “Wie viel kostet du?”, fragte wiederum der andere. Was wollten diese beiden Männer von ihr? Für was sollte sie Geld verlangen? Dafür, dass sie ihren Körper berührten? Plötzlich traf sie die Erkenntnis. Auch wenn sie sich selber für diese Art von Thema nie richtig begeistern konnte, so hatte sie schon oft von den Jungs in ihrer Klasse solche Sachen gehört. Die Männer hielten sie anscheinend für eine Nutte. Jemand, der für Geld anderer die Beine breit machte und seinen Körper preisgab... Zu mindestens drückten es so immer wieder ihre Klassenkameraden aus. Wieder erschauderte sie. Dies war das Letzte, was sie in diesem Moment wollte. Für jemanden ihren Körper verkaufen. Mit Mühe schaffte sie es einen Schritt nach hinten auszuweichen. Am liebsten wäre sie sofort kehrt um und weggerannt, aber ihre Füße wollten sich nicht bewegen. Sie versuchte zu schreien, aber ihre Kehle war wie ausgetrocknet, sodass wieder kein Ton über ihre bebenden Lippen kam. Erneut wurde sie am Arm berührt. Erneut drängte er sich ihr auf. Erneut blickte sie in die wollüstigen Gesichter der Männer. Erneut drehte es sich in ihrem Magen alles um. Diese Typen sollten sie nicht so... lüstern anstarren. Sie war nicht eins dieser Weiber, die sich verkauften. Und sie wollte es auch nie werden. Am liebsten hätte sie genau dies ihren Gegenübern ins Gesicht geschrien. Aber sie blieb stumm und schwieg, während ihre Unterlippe leicht auf zitterte. In ihrem Inneren brach solch eine Unruhe aus, welche sie nur erlebte, bevor sie sich die Klinge an die Haut setzte. Eine Mischung aus Wut und Angst... Der Drang, nach Erlösung von diesen Emotionen, in ihrem Inneren wuchs, sodass ihre Hände schon unaufhörlich zu zittern begannen. “Bist wohl schüchtern, mh? Das gefällt mir.” Die Hände des Mannes rutschten auf ihre Oberschenkel. Sie zog vor Schmerz und Angst scharf die Luft ein. Er sollte sie nicht berühren. Er sollte sich von ihr entfernen und sie in Ruhe lassen. Wie gerne würde sie ihm das sagen und ihn gleichzeitig wegstoßen. Aber zwecklos. All ihre Kraft war wie mit einem Sog aus ihrem Körper entwichen. Ihre Schultern bebten, während die Hand immer weiter nach oben wanderte. Panisch kniff sie ihre Augen zusammen. “Wollt ihr wirklich dieses kleine, schüchterne Mäuschen haben? Wie wäre es mit einer wilden Bestie wie mir? Ich würde für euch sogar einen Sonderrabatt geben. Ihr beide zusammen im Preis von einem. Wie wäre das?” Eine zärtliche, weiche Stimme, wie die bei einer singenden Nachtigall, drang in ihre Ohren. Erschrocken riss Hinata ihre Augen auf und blickte an den Männern vorbei. In einer dunklen Ecke stolzierte jemand mit der Eleganz eines Schwanes auf sie zu. Das kurze, durch die Dunkelheit rotbraun schimmernde Haar wippte freudig und federleicht bei jedem Schritt auf und ab. Ein Mädchen kam auf sie zu. Ein Mädchen mit der Schönheit einer Kirschblüte. Auch die Haare waren nicht rotbraun, sondern glänzten rosafarben im hellen Licht der Neonleuchte. Keck schauten sie zwei türkisfarbene Augen, die wie die Weiten des tosenden Meeres waren, an. Das Mädchen war nur knapp bekleidet. Die eng anliegende Kleidung betonte besonders ihre Kurven, auch wenn es oben herum ein wenig flach wirkte. Und sie war anscheinend nicht viel älter als die Hyuga selber. Hinata war fasziniert von der selbstsicheren Ausstrahlung der Augen und dem eleganten Gang, sodass sie für einen kurzen Moment die beiden Männer außer Acht ließ. Diese drehten sich zu dem Neuankömmling herum, beachten die Blauhaarige schon nicht mehr. Der richtige Augenblick, um zu verschwinden, dachte sie. Ängstlich machte sie einen Schritt zurück, betrachtete noch einmal das Mädchen vor den Männern, welche sich gerade liebreizend an diese schmiegte. Kurz stockte sie. Ein einzelnes Handzeichen brachte sie dazu, sich herumzudrehen und mit panischen Schritten die Gasse wieder zu verlassen. Ein Handzeichen, dass so viel bedeutete wie “Nun verschwinde schon.” Ihren Blick hatte sie gegen Boden gerichtet, die Tasche fest mit ihren Händen umklammert, um sie nicht zu verlieren. Hinata war froh, total erleichtert und irgendwie dankbar. Dieses Mädchen hatte ihr aus der Situation geholfen. Sie hatte sich nicht einmal dafür bedankt... Wie unhöflich. Aber der Auftritt dieser Rosahaarigen war in ihren Augen wie eine faszinierende Show gewesen. Wie selbstsicher diese türkisen Augen gestrahlt hatten. Dann dieser elegante Gang, wie bei einem stolzierenden Schwan. Und dann diese Schönheit... Wie lange man wohl brauchte, um sich so hübsch zu machen? Ein wenig war sie neidisch auf dieses Mädchen. Sie würde gerne auch diese selbstsichere Art beherrschen. Diesen sicheren Gang drauf haben. Aber so war sie nun mal nicht. Vielleicht würde sie ewig dieses Mauerblümchen bleiben und stumm durch die Gegend tippeln. Wie deprimierend... Ihre Schritte verlangsamten sich wieder, als sie wieder bei der Hauptstraße ankam. Laut dröhnte der Straßenverkehr in ihren Ohren. Sie blieb auf dem Gehweg stehen, verschnaufte dort einen kurzen Moment, damit ihre müden und schmerzenden Beine für einen kleinen Augenblick sich ausruhen konnten. Ihr Blick schweifte durch die Gegend. Hier war wenigstens alles bekannt. Erleichtert aufseufzend blieb sie noch weiter stehen, um ihre Sinne zu sammeln. Ihre Gedanken kamen auch wieder zur Ruhe, ebenso wie ihr ängstliches, schnellschlagendes Herz in ihrer Brust. Diese letzte Situation war wirklich sehr... verrückt gewesen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie setzte ihre Schritte weiter fort, um nach Hause zu kommen. Ohne zu merken, dass dieser Drang nach Erlösung in ihrem Inneren Schritt für Schritt immer mehr abflaute. ~*~*~ Lautlos schloss sie die Tür hinter sich und hielt kurz inne. Sie hörte Stimmen im Wohnzimmer. Eine war ihr Vater, die andere war selbst ihr unbekannt. Sie schluckte hart und drückte ihre Tasche näher an sich. Angst beflügelte ihre Füße, zwang sie dazu den leeren Gang bloß schnell hinter sich zu lassen. Am Wohnzimmer hielt sie inne. Lauschen schickte sich nicht, aber ihre Neugier war wieder einmal stärker, als alles andere. Die Tasche weiterhin zitternd an sich gedrückt, stellte sie sich näher an die Tür. “Ich habe mir das Zimmer Ihrer Tochter angesehen. Unter ihrem Bett war eine Kiste mit Rasierklingen und Verbandsmaterial. Auch die Sachen im Schrank deuten darauf hin, dass sie sich selbst verletzt.” Hinata biss sich auf die Unterlippe, um ein überraschtes Keuchen zu unterdrücken. Jemand war in ihrem Zimmer? Ein Fremder hatte einfach so ihre Sachen durchsucht? Was fiel diesem Mann ein? Ihr Körper erbebte, während Wut und Trauer in ihr hochkamen. In ihren Augen brannten unvergossene Tränen, welche sie mühselig herunterschluckte. Wie unfair… Warum machte man dies mit ihr? Dabei hatte sie sich so viel Mühe gegeben alles zu verheimlichen und zu verstecken. Dabei musste sie so viel durchmachen, damit nichts heraus kam. Sollte das denn alles umsonst gewesen sein? Dieser Schmerz, diese Verzweiflung und diese Angst? Die erste Träne rollte über ihre Wange, als sich auch nun Angst und Scham mit unter ihre Emotionen mischte. Eine ungesunde Mischung. Sie wusste nicht, was sie jetzt machen sollte. Sie hatte Wut auf ihren Vater, aber Angst ihm gegenüberzutreten. Sie war traurig darüber, dass er sie so hintergangen hatte, und schämte sich, dass er es jetzt wusste. Weitere Tränen liebkosten ihre Wangen, streichelten sie sanft und versuchten sie zu trösten. Aber zwecklos. Sie konnte ihren Tränenfluss nicht unterdrücken. Ein ersticktes Schluchzen kam ihr über die Lippen. Ihre Hände zitterten und wurden schwitzig. Der Träger der Tasche in ihren Händen schnitt sich in ihre Haut und wurde immer schwerer. Plötzlich ließ sie die Tasche fallen, wollte so schnell wie möglich sich in ihr Zimmer einsperren. Aber ihre Beine bewegten sich nicht. Sie blieb weiter wie angewurzelt an der Stelle stehen. Die Wohnzimmertür wurde aufgerissen. Sie getraute sich nicht aufzusehen. Jemand packte sie grob am Oberarm, zerrte sie in den Raum. Schmerz durchflutete ihren Körper, als die Angst ihre Nackenhaare aufrecht stellen ließ. “Junges Fräulein, wo warst-“ ”Mister Hyuga, beruhigen Sie sich doch. Ihre Tochter ist doch ganz durcheinander. Wenn Sie sie jetzt anschreien, wird es sicherlich nicht besser.” Hinata kniff ihre Augen zusammen und zerrte sich aus dem Griff. Es schmerzte, was ihr ein Keuchen über die Lippen brachte. Sie verharrte weiter an Ort und Stelle, starrte gegen Boden und spürte die Blicke der Anwesenden im Raum auf sich ruhen. Sie fühlte sich unwohl und beobachtet. Wie gerne würde sie jetzt im Erdboden versinken und von diesem verschluckt werden? Erschrocken zuckte sie zusammen, als sich eine Hand sanft auf ihre Schultern legte. Ihre Augen waren immer noch durch die vergossenen Tränen glasig. Auch der Tränenfluss hatte sich noch nicht gelegt. Schüchtern blickte sie wie ein scheues Reh und sah in warme, geborgene und schwarze Augen eines anderen Mannes. “Ah. Du musst Hinata sein. Ich bin Umino, Iruka. Schön dich kennenzulernen.” Die Stimme war warm und sanft. Anders, als sie es erwartet hätte. Sie nickte leicht, schluchzte kurz auf und zuckte wieder zusammen. Wieder stieg Angst in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu, als die großen Finger von dem Braunhaarigen über ihre Arme strichen und auf den Unterarmen zur Ruhe kamen. Sie vergaß für den Zeitpunkt Luft zu holen. Zärtlich wurde über die Arme gestreichelt, sodass sie kaum Schmerzen verspürte. Eine Wärme ging von den berührten Stellen aus. Wie in warmes Wasser gelegt und seichten Wellen gewogen fühlte sich ihr Körper an. Irgendwie hatte diese Geste etwas Beruhigendes an sich. Ihr Inneres wurde damit von Minute zu Minute immer ruhiger, bis sich all ihre aufgewühlten Emotionen soweit beruhigt hatten, dass nur noch stumme Tränen über ihre Wangen liefen. “Keine Angst, ich bin hier, um dir zu helfen“, flüsterte Iruka leise und sanft. Er blickte sie nicht an, sondern streichelte weiter über die Unterarme. Sie biss sich auf die Unterlippe und entriss einen ihrer Arme aus dem Griff des Mannes. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen. Immer und immer wieder. Aber ihre Tränen wollten nicht verebben. Sie wurden immer mehr, bis sie diese nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ein Schluchzen kam ihr über die Lippen. Die Tränen perlten wie Diamanten von ihrem Kinn ab und sickerten in den Stoff ihrer Jacke. Er wollte ihr Hilfe anbieten. Sie würde Hilfe bekommen für ihr so kaputtes Leben. Ihr würde geholfen werden. In ihren Ohren klang es fast wie nach einen Rettungsseil, nach dem sie zitternd die Arme ausstreckte und zupackte. Ihr würde geholfen werden… „Du warst sicherlich oft sehr einsam und hast dich unverstanden gefühlt, oder?” Leicht nickte sie zu dieser Aussage, während ihr schon wieder die Tränen in die Augen schossen. So sehr hatte sie sich nach diesen Wörtern gesehnt. Auch wenn sie es sich nicht selber bewusst war. Tief in ihrem Inneren wollte sie immer diese Worte hören. Denn sie hatte sich immer einsam gefühlt... und unverstanden. Wie sehr hatte sie sich nach wem gesehnt, der ihr einmal aus der Seele sprach? Der ihre Ängste und Sorgen aussprach, was sie sich niemals selbst getraut hätte? Sehr... So sehr, dass sie jetzt bei den Worten des Braunhaarigen nicht mehr aufhören konnte zu Weinen. Sie wischte sich weiter über die Augen, versuchte aufzuhören zu schluchzen, aber es half nichts. Die Tränen wollten nicht aufhören. Und die lieben Gesten von Iruka hörten ebenfalls nicht auf. Sie trugen nur dazu bei, dass sie mehr weinte. All ihr Schmerz lag in dem salzigen Wasser verborgen. “Du hast sehr gelitten. Es hat sicherlich sehr wehgetan, stimmst?” Sie nickte nur, zu mehr war sie nicht fähig. Alle Scheu von sich abwerfend, warf sie sich in die Arme des Mannes und schluchzte herzzerreißend und laut. Es war ihr in diesem Moment egal, was man von ihr dachte. Es war ihr egal, dass sie von einem Fremden in die Arme genommen wurde. Sie wollte nur mehr von dieser angenehmen Wärme spüren. Während der Schmerz weniger wurde, ihr Herz immer freier, kroch ihr ein warmes Gefühl den Rücken empor. Geborgenheit... Verständnis... Trost... Iruka streichelte ihr beruhigend über den Rücken. Er war die Person, die sie immer gebraucht hatte. Jemand, der ihr helfen wollte. Jemand, der sie mal in den Arm nahm. Jemand, der sie tröstete. Bei ihrer Familie hätte sie diese Dinge nie erhalten, außer vielleicht von ihrer Mutter, wenn diese noch da gewesen wäre. “Mister Hyuga! Ich werde Ihre Tochter mitnehmen, sofern Sie nichts dagegen haben.” “Nein. Ich willige ein. Ich habe sowieso als Vater... versagt.” Das letzte Wort brachte ihr Vater nur mit Mühe über die Lippen. Noch nie hatte er zugegeben, dass er Fehler gemacht hatte. Dass er irgendwie oder irgendwann versagt hätte. “Nehmen Sie Hinata bitte mit zum Atarashii Seimei. Dort ist sie weitaus besser aufgehoben und man kümmert sich auch dort um sie.” “Gut, dann werden wir gleich die Formulare ausfüllen.” Hinata hörte nicht mehr ganz zu. Ihre Lider waren schwer und träge. Am liebsten hätte sie geschlafen und sich von dieser Wärme einlullen lassen. Ihr Vater redete weiter. Wollte er sie loswerden? Er redete von einem Ort, wo es ihr weitaus besser erging als hier. Besser als zu Hause. Wie gerne würde sie dort sein? Vielleicht gab man ihr damit nun eine zweite Chance alles zu vergessen? Es zu verdrängen oder zu verarbeiten? Atarashii Seimei... Neues Leben... Sie wünschte es sich so sehr. Ihr Leben einfach neu beginnen... ohne den Schmerz in dem schimmernden Metall der Rasierklinge… Kapitel 3: Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 1] ------------------------------------------------- Ich bin ungewollt. Meine Mutter hasst mich dafür, dass ich ihr Leben kaputtmache. Mir ist alles egal. Mein Leben. Meine Existenz. Alles. Egal. Egal. Egal. Und trotzdem komm ich nicht von den Wunsch los, einfach nur geliebt zu werden… Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 1] 28. März 2008 Freitag. Der letzte Tag der Woche. Heute war ihr Geburtstag. Sie würde schon vierzehn werden. Ein Alter, auf das sich viele in ihrer Klasse freuten. Nur sie nicht. Was auch daran lag, dass sie nicht in richtiger Geburtstagsstimmung war. Dies war sie eigentlich nie. Schließlich feierte sie nie Geburtstag. Das war nur ein Tag, an dem sie geboren und das Leben ihrer Mutter zerstört und erschwert hatte. Sie bekam an diesem Tag am ganzen Leibe zu erfahren, wie unerwünscht sie war. Sie stand im Bad und bürstete sich das rosafarbene Haar. Gedämpft durch die Zimmertür hörte sie die wütende Schreie ihre Mutter. Hörte wie Glas zersplitterte. Wie andere Dinge zu Boden geworfen wurden. Hörte, dass das Geld vorne und hinten wieder einmal nicht reichte. Und hörte, dass sie wieder daran schuld war... Sie selbst hatte sich im Bad eingeschlossen, um vorerst in Sicherheit zu sein. Wer weiß, wie lange... Sie wollte die Stimme ihrer Mutter ausblenden, aber schaffte es nicht. Die türkisen Iriden starrten glanzlos in das Gesicht eines Mädchens. Die Lippen fest aufeinander gepresst, obwohl man genau erkannte, dass sie am liebsten Schreien würde. Die Augen und die blassen Wangen gerötet vom Weinen. Ein glasiger Glanz schimmerte in den toten Iriden. Ein kleines, blaues Veilchen prangte unter dem linken Auge. Eine Träne bahnte sich seinen Weg über die Haut. Zitternd senkte Sakura die Bürste und streckte ihre Hand aus. Strich über die kalte Wange des Mädchens, folgte der Spur der Träne. Würde sie gerne trösten, aber konnte nicht. Das Einzige, was sie machte, war nur das kalte Glas des Spiegels zu berühren... Ein unterdrücktes Schluchzen ließ ihren dürren Leib erzittern. Brachte ihre Schultern zum Beben. Aber kein Ton kam über die Lippen. Sie schwieg. Wollte nicht weinen und schwach sein. Schließlich brauchte sie all ihre Kraft für nachher. Hastig wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen und schluckte die restlichen unvergossenen Tränen herunter. Schnell bürstete sie sich noch ihr Haar zu Ende, band dieses zu einem Zopf zusammen und verließ das Zimmer wieder. Ihr Weg zog sich hin. Einzelne Strähnen wippten bei jedem Schritt auf und ab. Ihr langer Zopf schwenkte leicht hin und her. Sie wollte genug Zeit schinden, damit sie nicht so schnell in der Küche bei ihrer Mutter war. Aber die Zeit ließ sich nicht anhalten. Der Zeiger lief weiter, genauso wie sie... Zitternd kam sie in die Küche. Angst... Angst kroch ihr den Rücken hinauf. Furcht auf das Kommende. Sie wollte fliehen, aber ihre Beine bewegten sich nicht, so wie sie es wollte. Sie wollte schreien, aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Ein Kloß in ihrem Hals raubte ihr die Luft zum Atmen. Ihr wurde schwindlig. Ihre Hände begannen zu Schwitzen. Ihr Herz schlug schnell und hart in ihrer Brust. Wollte ebenfalls fliehen, war aber gefangen. Wie sie... Gefangen in der Idylle einer angeblich vollkommen normalen Familie... Gefangen durch die Hoffnung, dass sie die Liebe ihrer Mutter irgendwann einmal bekommen würde... Sie versuchte alles vor sich zu verschließen. Versuchte alles hinter einem Schleier wahrzunehmen. So wie immer... Langsam schritt sie auf den Küchentisch zu, schaffte es aber nicht einmal diesen zu erreichen. Sie wurde zu Boden gerissen. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihrer Wange aus. Es brannte. Es schmerzte. Es schmerzte so sehr, aber kein einziger Laut kam über ihre Lippen. Fest biss sie sich auf die Unterlippe. Diese blutete, biss sie sich doch so fest darauf, dass die geschundenen Lippen einfach aufrissen. Sie unterdrückte die Tränen. Die Augen zu Boden gerichtet. Sie wollte nicht in das erzürnte Gesicht ihrer Mutter sehen. Hatte Angst, dass dadurch ein Laut über ihre trockenen und rissigen Lippen kam. Dass sie etwas sagte, was ihre Mutter noch mehr in Rage brachte. “Du bist schuld!” Laut schallten die Worte in ihrem Kopf wieder. Wie ein Echo hallten sie wider. Schuld… Sie bekam es jeden Tag zu hören. Aber heute bekam sie all die angestaute Wut ihrer Mutter mit einmal zu spüren. “Ich wollte dich gar nicht! Du hast mir alles kaputt gemacht! Wärst du nicht da, dann hätte er mich damals nicht verlassen!” Ein Tritt traf sie. Der Fuß ihrer Mutter bohrte sich tief in ihren Magen. Brachte dazu, dass es ihr schlecht wurde. Dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. Der Schmerz raste durch ihre Nervenbahnen. Ließ ihren Körper erzittern. Ein weiterer Tritt traf sie. Verpasste ihr einen weiteren Bluterguss am Bauch. Sie würgte, behielt aber mit Mühe alles bei sich. Wieder spürte sie die Wut mit einem weiteren Tritt auf sich herabprasseln. Wut, für die sie nichts konnte... Es tat so weh! - Sie wollte doch nur geliebt werden… “Du bist Schuld, dass das Geld nicht reicht! Ohne dich würde ich auch mit dem Geld klarkommen!” Ein weiterer Tritt raste auf sie nieder. Weitere Wörter wurden ihr ins Gesicht geschrien. Die Frage “Warum, Ka-san?” stellte sie schon lange nicht mehr. Sie verstand ihre Mutter nicht. Sie verstand dieses Verhalten nicht. Sie verstand dieses Leben nicht. Welche Tat hatte sie begangen, dass sie so bestraft wurde? Minuten vergingen, kamen ihr wie Stunden vor. Ihre Mutter atmete angestrengt aus und ein. Die Stimme schon heiser vor lauter Schreien. Es war vorbei... Für heute. Ein leichter Tritt traf sie in die Seite, ehe sie gedämpft die leisen Schritte ihrer Mutter wahrnahm, welche sich von ihr entfernten. Still lag sie da. Minuten vergingen. Sie gab keinen Laut von sich. Versuchte erst einmal die ganze Situation zu begreifen. Aber sie würde es nie verstehen. Niemals... Erst ein ersticktes Schluchzen, welches über ihre Lippen drang, durchbrach die Stille. Ein kleines Rinnsal Blut sickerte über ihre Schläfe. Ihr Körper wurde durch eine entsetzliche Schmerzenswelle durchgeschüttelt. Heiße, salzige Tränen liefen über ihre angeschwollenen Wangen. Das linke Auge bekam sie gar nicht mehr geöffnet. Es schmerzte fürchterlich durch die Schwellung. Sie biss sich weiter auf ihrer zerkauten Unterlippe herum. Ein erneutes Schluchzen durchbrach die Ruhe. Niemand hörte es. Niemand nahm es wahr. Niemanden interessierte es. Sie war allein. Allein mit dem Schmerz. Mit ihrem Leben und mit dieser Qual. Zitternd umschlang sie mit ihren Armen ihren Körper, kauerte sich mit einem schmerzvollen Keuchen zusammen. Kugelte sich ganz klein, damit niemand sie sah. Sie würde gerne schreien, konnte aber nicht. Die Angst, dass man sie hörte war zu groß. Schmerz brannte durch ihren Körper. Weinen erstickte ihren Atem. “Ka-san... Hast du mich nicht lieb?” Ein müder Hauch verließ ihre Lippen. Ein trauriges Flüstern, welches nur in alle Winde verteilt wurde. Ihr Blick fiel auf den Kalender in der Küche. Ein erschöpftes Lächeln zierte ihre Züge, was durch die Schmerzen wie eine verzogene Grimasse aussah. 28. März... An diesem Tag war sie geboren worden. Sie wurde deswegen bestraft. Sie wurde deswegen verprügelt. Niemand hatte sie gefragt, ob sie leben wollte. Niemand interessierte es, wie sie leben wollte. Vielleicht war es wirklich so... Vielleicht war sie wirklich daran Schuld. An allem... “Happy Birthday...” ~*~*~ Sie stand wieder im Bad. Kühlte ihr Gesicht mit einem kalten Lappen. Schule konnte sie vergessen. So wie ihr Gesicht geschwollen war, konnte sie nicht gehen. Man würde ihr sicherlich nicht die Ausrede abnehmen, dass sie die Treppen gestürzt oder über den Läufer im Flur gestolpert war. Unter anderem war ihr Veilchen unter dem linken Auge so dunkel, dass selbst eine dicke Schicht Make-Up es kaum verdecken konnte. Zitternd nahm sie den Lappen vom Gesicht. Ihre Wangen und Augen waren gerötet. Sie schloss ihre bebenden Lider. Schmerz durchflutete ihren Körper. Ließ diesen kurz verkrampfen. Sie biss sich auf ihre aufgerissene Unterlippe. Schmeckte den metallischen Geschmack von Blut auf dieser. Unvergossene Tränen brannten in ihren Augen. Versuchten hervorzuquellen. Wollten ihr damit zeigen, wie schwach sie in diesem Moment war. Und teilweise wollten diese sie auch trösten. Ihr offenbaren, dass sie die einzigen Freunde waren, die sie wirklich hatte. Tränen waren immer da, wenn sie sich verlassen fühlte... Aber sie wollte nicht weinen. Sie wollte nicht schwach sein. Doch ihre Kraft reichte einfach nicht mehr... Wie oft sollte sie noch fallen? Wie oft sollte sie denn noch aufstehen können? Ein Seufzen glitt ihr über die Lippen. Ein pochender Schmerz war noch in ihrem Gesicht zu spüren. Sie legte erneut den Lappen auf die Wange. Zitternd öffnete sie ihre Lider wieder. Starrte stumpf auf den Spiegel und ihr eigenes Spiegelbild an. Blass wie die weiße Wand. Dürr wie ein Skelett. Kaputt vom kurzen Leben. Das war sie... Träge durchwühlte Sakura die Schränke nach einigen Medikamenten. Irgendwo hier musste ihre Mutter doch die starken Schmerztabletten haben. Nach einigen Wühlen hatte sie endlich eine Schachtel mit Medikamenten gefunden, zumindestens stand in großen, bunten Schriftzeichen das Wort ‘Paracetamol’ darauf geschrieben. Leicht schüttelte sie die Schachtel. Der Inhalt klapperte leise, ehe eine der weißen Tabletten herausfiel. Die letzte in der Verpackung. Skeptisch beäugte sie das Medikament. Es sah ein wenig dunkler aus als sonst. Oder lag es am Badezimmerlicht? Egal... Sie brauchte es jetzt so sehr. Leicht zuckte sie mit den Schultern, zog aber leise die Luft durch die Lunge, als ihr ein ziehender Schmerz durch das Schulterblatt fuhr. Schnell warf sie sich die Tabletten ein, trank hastig ein bereitgestelltes Glas Leitungswasser hinterher. Mühsam würgte sie alles herunter. Ihr Hals kratzte nach dem Schlucken der kleinen Dinger. Zuerst passierte nichts. Was bei vielen Schmerzmitteln so war, dass die Wirkung erst einige Minuten später einsetzte. Keuchend stützte sie sich am Waschbecken ab, stellte laut scheppernd das Glas auf das weiße, rissige Porzellan ab. Sie leckte sich leicht über die Lippen. Die Medikamente hatten einen recht komischen Nachgeschmack auf ihrer Zunge. Sakura blieb noch einen Moment im Bad stehen, versuchte den aufkommenden Schwindel zu bekämpfen. Ihr war auf einmal so schlecht. Hastig beugte sie sich über die Toilette, würgte, aber nichts kam heraus. Sie taumelte einen Moment, ehe sie keuchend auf die Knie sank. Erschöpft seufzend lehnte sie sich gegen die kühle Badewanne und schloss ihre müden Augen. Schmerzvoll kauerte sie sich zusammen. Machte sich klein, damit man sie nicht sah. Sie wollte in diesem Moment nur kurz ausruhen. Kurz ausruhen, solange ihre Mutter nicht da war. Sie wollte nur kurz ihre Ruhe. Ruhe... Frieden... Allein sein... Und Liebe… ~*~*~ Erschrocken riss sie ihre Augen auf, als das Klingeln der Tür sie weckte. Irritiert blickte sie sich um. Zog hastig ihre Beine an und versuchte sich aufzusetzen. Wo war sie? Angst stieg in ihrem Inneren auf. Panik krallte sich an ihren Nacken fest und ließ dort ihre Härchen aufrecht stehen. Was war passiert? Ihre Hände begannen zu schwitzen und zittern. Sie wollte Schreien. Furcht umklammerte ihre Kehle, drückte zu und raubte ihr den Atem. Die Augen weit aufgerissen, starrte sie auf die vergilbte Tapete der Badezimmerwand. Für einen Moment drehte sich alles bei ihr. Was machte sie hier? Es dauerte seine Zeit, bis die Erinnerung kam, wo sie hier nun saß und warum. Das Badezimmer... Sie keuchte leise auf. Ein unbekanntes, aber recht angenehmes Kribbeln war in ihrem Körper zu spüren. Leicht legte sie ihre zittrigen Hände an die Wangen. Sie waren warm. Fast kochendheiß. Ihre Finger wanderten weiter zur Brust herab. Leicht drückte sie dagegen. Versuchte damit ihr schnell schlagendes Herz zur Ruhe zu bringen. Aber es half nichts. Es raste weiter. Wie ein Presslufthammer, der sich durch ihre Rippen bohren wollte. Und dazu kam, dass sie ein wenig hektisch atmete. Sie leckte sich über die Lippen. Erkannte, erst jetzt, dass ihr Mund ziemlich ausgetrocknet war. Erneut klingelte es an der Tür. Träge zerrte sie sich am Badewannenrand nach oben. Schwankte einen kurzen Moment. Ihre Beine waren eingeschlafen. Sie kribbelten unangenehm und fühlten sich ein wenig taub an. Waren fast richtig steif. Auch jetzt erst bemerkte sie, dass ihre Sicht ein wenig verschwommen war. Sie verstand nicht warum. Noch nie hatte sie nach der Einnahme von Schmerzmitteln solche Auswirkungen gehabt. Wieder klingelte jemand ungeduldig und drückte dieses Mal den Knopf länger als vorher. Irritiert hob sie eine Augenbraue hoch, ehe sie das Zimmer verließ. Schwer waren ihre Schritte, schließlich fühlten sich ihre Beine noch taub und steif an. Die Tatsache, dass ihr Körper Schritt für Schritt nicht mehr so schmerzte, bekam sie nicht wirklich mit. Ihre Konzentration war auf die Tür und die nervige Klingel gerichtet. Skeptisch schritt Sakura zur Wohnungstür, spähte durch den Spion. Sie erkannte einen Typen mit Glatze. An der Unterlippe zwei Piercings. Eine kleine silberne Kugel prangte an der linken Augenbraue. Jetzt war sie noch mehr verwirrt. Was wollte dieser Typ hier? Erneut riss sie das Türklingeln aus den Gedanken, ließ sie zusammenzucken. Zum Klingeln gesellte sich das penetrante Klopfen an der Tür dazu. “Eh, Schlampe! Mach auf! Ich hab schließlich für jetzt gebucht!” Überrascht riss sie die Augen weit auf. Ein trostloses Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Zögerlich öffnete sie die Tür, sah unsicher ihrem Gegenüber ins Gesicht. Die goldenen Augen des Mannes funkelten sie sauer an, ehe sich ein überraschter Ausdruck auf seine Züge legte. Sie wusste, was für ein Typ er war. Schließlich standen jeden Tag mindestens vier Männer vor ihrer Tür. Nur träge öffnete sie die Tür weiter auf, musterte den Freier. Abgenutzte Lederjacke. Zerfetztes, verdrecktes Hemd. Eine zerschlissene Jeans. Sah aus wie jemand, der sich mit den Klamotten wichtig machen wollte. Als sei er der Boss von allem. So etwas hasste sie. Sie mochte keine Leute, die sich damit so in den Mittelpunkt drängen wollten. Außerdem kam ihr dieser Kerl bekannt vor. Sie glaubte, dass sie ihn erst letzte Woche aus der Wohnung gehen gesehen hatte. “Meine Mam ist nicht da, kommt aber sicher gleich...” Sie zog die Stirn kraus. Warum sagte sie so etwas? Normalerweise tauschte sie keine dummen Floskeln aufgrund des Verschwindens ihrer Mutter aus. Sie ließ die Freier herein und zog sich zurück. Leicht zuckte sie mit den Schultern. Egal... Es war ihr egal. Sie senkte ihre Lider ein wenig. Man sah kaum noch, wie leicht geweitet ihre Augenpupillen waren. Sofort legte sich ein lüsternes Lächeln auf die Lippen des Mannes. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Normalerweise ließ sie die Freier ihrer Mutter immer in die Wohnung und diese warteten im Schlafzimmer auf diese. Aber bei diesem Mann regte sich etwas in ihrem Inneren. Etwas, das schrie: “Schließ die Tür und verschwinde!” Erschrocken riss sie die Augen auf. Sakura war schon drauf und dran die Türe wieder zu schließen. Zitternd drückte sie gegen das Holz, aber der Versuch wurde schnell zerschlagen. Die Glatze stellte sofort einen Fuß zwischen Wand und Tür. Auf dem Gesicht immer noch dieses überhebliche Grinsen, was ihr einen weiteren kalten Schauer bescherte. “Keine Angst, junges Fräulein. Ich will wirklich nur auf deine Mutter warten. Bist du so lieb und würdest mich reinlassen? Sicherlich willst du keinen Ärger mit deiner Mutter haben, oder?” Sie nickte zögerlich. Würde sie diesen Mann nicht in die Wohnung lassen, war es sicher, dass sie wieder Prügel bekommen würde. Das wollte sie nicht. Sie wollte ein gutes Mädchen sein. Eins, was ihre Mutter lieb haben konnte. Ihre Hände zitterten. Hastig ließ sie den Freier in die Wohnung, schloss die Wohnungstür und stürmte fast panisch in die Küche. Hier war sie sicher. Weit weg von dem Mann, der soeben im Schlafzimmer ihrer Mutter warten würde... Keuchend stützte sie sich auf der Küchenspüle ab. Ihre Augen starrten zur Küchenuhr. Sie war fast eine Dreiviertelstunde im Bad weggetreten gewesen. Ein plötzlicher Schwindel riss sie fast auf die Knie. Krampfhaft klammerte sie sich in das abgeplatzte Holz der Arbeitsplatte neben der Spüle. Zitternd fuhr ihre Hand zu ihrer Brust, wo ihr Herz immer noch wie ein flatternder Schmetterling seine Schläge vollzog. In ihrem Körper stieg weiter Hitze auf. Sie wusste schon längst nicht mehr wohin mit dieser Wärme. “Hast du Probleme? Soll ich dir helfen?” Eine verruchte Stimme flüsterte ihr ins Ohr. Erschrocken riss sie ihre türkisen Iriden auf und drehte den Kopf zur Seite, um über die Schulter sehen zu können. Hinter ihr stand der Mann, welcher sich lässig über die Lippen leckte. Sie wich kurz nach vorne aus. Sie wollte ihn wegstoßen. Aber ihr Körper fühlte sich so steif an. Sie wollte schreien. Aber ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, drückte ihre Kehle zu. Was wollte der Typ? Plötzlich rückte er näher heran. Ihre Gesichtszüge versteinerten sich. Somit versuchte sie keine Gefühle über dieses auszusenden. Wenn sie Angst zeigte, fühlte sich der andere sicher überlegen. Das wollte sie nicht riskieren. Plötzlich legte sich ein starker Arm um ihre Taille. Zog sie damit näher an den größeren Körper heran. Sie roch den widerlichen Schweißgeruch des Mannes. Er war beißend und trieb ihr fast Tränen in die Augen. Das Becken mit dem noch erschlafften Glied rieb sich gegen ihren Hintern. Leicht wurde ihr ins Ohr gebissen. Es erschauderte sie. Ein warmes Gefühl durchflutete ihren Körper. Sie keuchte kurz erschrocken auf, als diese Emotionen über sie herein brachen, wie eine Sintflut. Sie konnte es kaum beschreiben. Was war das? Sie fühlte sich in diesem Moment... glücklich. Richtig glücklich und geborgen. Wärme durchströmte ihren Körper. Sie fühlte sich irgendwie... geliebt an. Sie fühlte sich, als könnte sie alles schaffen. Es war ihr in diesem Moment egal, warum dies alles so war. Für sie zählte in diesem Zeitpunkt nur das Ergebnis, dass sie glücklich war. Ein seltenes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ein warmes, seliges Lächeln. Die Hände der Glatze streichelten über ihre Haut. Neckte sie. Spielte mit ihr. Sie keuchte leise. Fühlte sich bei den Gefühlen wohl. Fühlte sich zum ersten Mal im Leben wohl. Gewollt. - Geborgen. - Geliebt. Sie grinste leicht. Starrte mit trüben Glanz in den türkisen Iriden den Typen an. Das hämische Grinsen wich immer noch nicht von den rauen Lippen des Mannes. Es war ihr egal. Ihr Kopf fühlte sich leer an. Frei von allen möglichen Gefühlen und Gedanken. Als würde sie schweben. Als würde sie einfach so durch das Leben schwingen. Sie fühlte, dass sie lebte... Plötzlich löste sich der Mann von ihr. Und mit ihm die Wärme und Geborgenheit. Der kurze Moment des Glückes verpuffte wie eine Seifenblase. Starr schaute sie den sich entfernten Schritten hinterher. Der Typ verschwand nicht weit. Er setzte sich lässig auf einen der Stühle in der Küche. Ein wenig verwirrt neigte Sakura den Kopf zur Seite. Ihre Augen strahlten Neugierde und Naivität aus. Auch wenn sie keine Emotionen zeigen wollte. Den Glanz in ihren Augen hatte sie nicht mehr im Griff. Der Mann lachte rau, legte 6.500 Yen [1] auf den Küchentisch, ehe er seine Hose aufknöpfte und sich breitbeinig auf den Stuhl setzte. Lüstern leckte er sich noch einmal über die Unterlippe. “Na junges Fräulein? Willst du dir mal ein wenig Taschengeld mehr verdienen? Blas mir einen und das Geld hier gehört dir.” Geld? Oh ja! Das brauchte sie dringend. Vielleicht konnte sie sich damit den schicken Rock kaufen, den sie letztens im Second Hand Laden an der Straßenecke gesehen hatte. Sakura wusste nicht was es war. Die Berauschtheit durch diese ganzen Emotionen oder der Drang dieses Geld zu besitzen. Egal... Es war doch eigentlich egal. Sie wollte nur dieses verdammte Geld! Ihre Gedanken kreisten um diesen schicken Jeansrock im Second Hand Laden. Sie fühlte jetzt noch den rauen Stoff zwischen ihren Fingerspitzen. Sah jetzt noch dieses leicht ausgebleichte, dunkle Blau der Jeans. Sie spürte jetzt noch, wie gut und passend er auf ihrer schlanken Taille lag. Wie sie sich damit im Kreis gedreht hatte. Gelacht hatte, weil er passte. Nur war da das Problem, dass sie ihn sich nicht leisten konnte... Aber das konnte sie nun ändern. Zögerlich nickend trat sie zu ihm, kniete sich davor. Sie hatte es noch nie gemacht. Wusste noch nicht einmal, wie das männliche Genital aussah. Aber es war egal. So was von Egal... Ihr Kopf war wie leergefegt. Frei von jeglichen Gedanken. Frei von jeglichen Emotionen. Nur der Drang, dieses Geld zu besitzen, nahm von ihr Besitz. Lullte sie in eine Besitzgier ein. Legte seinen Mantel von Geiz über sie. Sie brauchte das Geld. Sie wollte das Geld. Sie würde das Geld auch bekommen. Eine große Hand klatschte gegen ihre noch blaue, leicht geschwollene Wange. Sie spürte keinen Schmerz. Spürte nicht einmal das weiche Fleisch in ihren Händen. Sie spürte nicht einmal das liebliche Streicheln an ihrer Wange. “Schönes Mädchen. Es ist Sünde solch ein reizendes Gesicht zu verunstalten.” Das Schmeicheln des Mannes wurde durch ein lautes Keuchen unterbrochen, als sie leicht über den Schaft leckte. Nur gedämpft hörte sie die Geräusche in ihrer Umgebung. Egal... Sie verhielt sich ein wenig ungeschickt. Verschluckte sich und bekam beinahe keine Luft, als sie es ganz in den Mund nahm. Egal... Es war ihr egal. Sie wollte nur das Geld. Es war ihr egal, was der andere wollte. “Aaah~~~ Prima machst du das.” Sie nickte leicht. Der Mann krallte sich in ihrem rosafarbenden Haar fest. Riss einige Strähnen aus den Zopf. Locker fielen diese in ihre Stirn, kitzelten dort die Haut. Neckten sie leicht. Egal... Sie kicherte gedämpft. Machte ihre Tätigkeit weiter. Ohne zu wissen, was sie genau tat. Ohne zu merken, wie sie es tat. Egal... Ihre Gedanken waren in diesem Moment nur auf ein was fixiert. Auf das Geld und den Jeansrock, den sie sich damit kaufen würde... ~*~*~ Träge schlug sie ihre Augen auf und starrte an ihre Zimmerdecke. Die Sicht war noch ein wenig durch den Schlaf verschwommen. Sie blinzelte kurz. Musste sich erst einmal sammeln. Wo war sie? Sie kniff ihre Augen zusammen. Ein lautes Pochen war zu hören. Widerhallte in ihren Ohren. Widerhallte in ihrem Kopf. Es klang nach Gewalt. “Miststück! Mach sofort auf!” Erneut öffnete sie müde ihre Augen. Zuckte kurz zusammen. Starrte zur Tür, woher die Geräusche kamen. Sie brauchte Zeit. Zeit zum Verstehen. Zeit zum Begreifen. Wer war das an ihrer Tür? Warum war sie in ihrem Zimmer? Wie kam sie hierher? Was machte sie hier? Sie wusste es nicht mehr... Nicht, wie sie hierher gekommen war. Nicht, was sie hier machte. Und auch nicht, warum sie hier war. In ihrem Kopf herrschte Leere. Absolute Leere... Wieder schloss sie die Augen. Versuchte sich zu erinnern. Aber es brachte ihr nur Kopfschmerzen. Schmerzen, die sie nicht auch noch haben wollte. Ihr Gesicht fühlte sich jetzt noch ein wenig taub und geschwollen an. Sakura selbst war müde und erschöpft. Ausgelaugt und kaputt vom Leben. Sie wusste nur noch, dass sie diesen Typen ihrer Mutter in die Wohnung gelassen hatte. Er war ihr unheimlich, weswegen sie in die Küche verschwunden war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es jetzt schon sechseinhalb Stunden her war. Das war das Letzte, an was sie sich erinnerte. Aber es war ihr egal. Ihr war alles egal. Es würde sich sowieso nichts ändern. Nichts... Sie seufzte leise. Bemerkte nicht, wie heiße, salzige Tränen von ihren Wangen abperlten und im Stoff ihres T-Shirts versanken. Sie war allein... Wieder ließ das laute Pochen an der Tür sie zusammenzucken. Ließ ihren Körper schmerzen spüren. Sie wollte das nicht. Sie wollte die Stimme ihrer Mutter nicht hören... “Mistkind! Du hast meine letzte Ecstasy geschluckt! Und den Kunden hast du auch vergrault! Wenn ich dich in die Finger bekomme...” Nach dieser Drohung hörte das Pochen und die lauten Rufe auf. Sie hörte aber schon längst nicht mehr zu. Ecstasy... Kam ihr bekannt vor. Vielleicht irgendwann mal gehört oder gelesen. Sie hatte es vergessen. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Egal... Sie wusste nur, dass sie sich eine der Paracetamol Tabletten eingeschoben hatte. Müde schob sie ihre Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Die eine Hand zitternd ins Bettlaken gekrallt, wischte sie sich über die geschlossenen Lider. Wischte die erst jetzt bemerkten Tränen weg. Müde... Warum war sie so müde? Sie hatte sicherlich fast über sechs Stunden geschlafen. Ihr Blick fiel auf ihren kleinen Nachtschrank. Fiel auf den kleinen Haufen Geldscheine. Überrascht weitete sie ihre Augen. Starrte das Geld an. Und in diesem Moment schob sich das Bild des Jeansrockes durch ihre Gedanken. Sie lächelte. Sie freute sich. So sehr, dass es ihr fast wieder Tränen in die Augen trieb. Hastig sprang sie auf, bemerkte in ihrem Enthusiasmus für diesen Augenblick die Schmerzen nicht. Sie taumelte kurz. Keuchte erschrocken auf, ein leichter Schwindel sie fast in die Knie zwang. Sie musste sich kurz sammeln, ehe sie sich schnell umzog, dass Geld einsteckte und das Haus verließ. Sakura musste sich beeilen. Sobald ihre Mutter wieder zu Hause war, würde sie nicht mehr aus der Wohnung kommen können... Sie rannte die Treppen herunter. Schaffte es manchmal nur knapp um die Kurve zu rennen, ohne die darauf kommenden Treppen herunter zu stürzen. Der Second Hand Laden war fast hier um die Ecke. Sie lief jeden Tag nach der Schule dort vorbei. Hoffentlich war der Jeansrock noch zu kaufen. Sie wollte ihn so sehr. Auch wenn er recht ausgebleicht aussah, so hatte er seinen Reiz nicht verloren. Außerdem passte er ihr so gut. Unten angekommen bemerkte sie erst, dass es regnete. Doch das bisschen Regen hielt sie nicht von diesem Rock ab. Mit schnellen Schritten rannte sie über den Gehweg. Rempelte ab und zu einige Leute an. Aber zum Entschuldigen hatte sie gar keine Zeit. Ihre Lunge schmerzte. Strengte beim Rennen ein wenig an und raubte ihr fast den Atem. Aber sie wurde nicht langsamer. Sie behielt weiter dieses hohe Tempo bei. Wollte endlich so schnell wie möglich an dem Laden sein. Und es dauerte nicht mehr lange. Keuchend hielt sie an. Drückte ihre Hand auf ihre sich schnell hebende und senkende Brust. Beruhigte ein wenig ihren rasenden Herzschlag. Sie war da. Schnell warf sie einen Blick durch das verdreckte Schaufensterglas. Er lag noch da. Fast wie unberührt und darauf wartend, dass sie ihn kaufte. Sie jauchzte leise auf, betrat sofort den Laden. Mit einem leisen Klingeln über der Tür wurde ihre Ankunft angekündigt. Sie achtete gar nicht mehr auf die Leute im Laden, es waren sowieso recht wenige. Zielstrebig lief sie auf den Rock zu und nahm ihn in die Hände. Sie spürte den rauen Stoff zwischen den Fingerspitzen. Spürte Wärme in sich aufsteigen. Es fühlte sich wie Balsam auf ihrer Seele an. Schnell überprüfte sie den Preis. 2.500 Yen [2]. Unverändert. Ihr Blick wanderte weiter zu einer der zwei Umkleidekabinen. Sie wollte ihn noch einmal anprobieren. Einfach um sicher zu gehen, dass er wirklich noch passte. Hastig verschwand sie in die Kabine und zog sich ihre Schuhe und Hose aus. Sie stockte kurz, ehe sich ihr Blick leicht trübte. Dabei sah sie das alles doch täglich... Auf ihren dürren, blassen Beinen waren überall blaue Flecken oder dunklere Blutergüsse. Sie schloss die Augen. Wand sie von ihrem Anblick ab. Der Rock. Sie sollte sich auf den Rock konzentrieren. Aber irgendwie klappte es nicht. Ihre Gedanken waren so durcheinander. Ihr fiel das Konzentrieren einfach so schwer. Der Jeansrock... Schnell stülpte sie mit ihren Beinen durch die obere Öffnung. Versuchte zwanghaft keinen Blick auf ihre geschundenen Beine zu werfen. Der Rock passte. War vielleicht ein wenig lockerer als beim letzten Mal. Aber er passte. Sakura schaute wieder zum Kabinenspiegel und senkte ihre Lider ein wenig. Der Rock passte. Er gefiel ihr gut. Sehr sogar. Eigentlich wollte sie damit ihren Schwarm beeindrucken. Der aus der zehnten Klasse. Er war drei Jahre älter und schon mal sitzen geblieben. Viele hatten Respekt vor ihm. Das gefiel ihr. Sie hatte schon lange ihr junges Herz an ihn verloren. War in ihn verliebt. Doch bisher waren aber alle Annäherungsversuche gescheitert. Und dieser würde es ebenfalls... Sie zog den Rock wieder aus. Schlüpfte in ihre Hose und Schuhe. Legte den Jeansrock zurück an seinen genommenen Platz. Sogar das Geld hätte sie dieses Mal gehabt. Aber sie könnte ihn niemals tragen... Jeder würde es sehen. Jeder würde es sofort wissen. Jeder würde sofort erkennen, in welchen Familienverhältnissen sie lebte... Sie ließ die Schultern hängen. Betrat den strömenden Regen, der gut zu ihrer Stimmung passte. Es wäre wirklich ein tolles Geburtstagsgeschenk gewesen. Das Schönste in der ganzen Zeit. Aber jeder würde es sehen. Die blauen Flecken und dunklen Blutergüsse. Wie hässlich sie eigentlich wirklich unter ihrer Kleidung aussah. Jeder würde wissen, was ihr wirklich passierte. Dass sie zu Hause verprügelt wurde. Dass sie keine Liebe bekam. Würde auch jeder sofort erkennen, wie kaputt ihr Leben eigentlich war? Vielleicht… ~*~*~ 06. Oktober 2008 Ein helles Kichern kam über die Lippen der Vierzehnjährigen. Die kalten Fingerspitzen ihres festen Freundes strichen neugierig und frech über ihre Seiten. Kitzelten und neckten ihre Haut. Wieder berührten sich ihre Lippen. Küssten und liebten sich innig. Ein leises, ungewolltes Keuchen kam über ihre Lippen, klang fremd und ungewohnt in ihren Ohren. Schamesröte legte sich auf ihre Wangen. Verlegen löste sie den Kuss, sah zu Boden, um nicht in den intensiven Blick ihres Gegenübers zu schauen. “Sakura...” Warmer Atem streifte ihr Ohr, ließ ihre Nackenhärchen sich aufstellen. Ein ungewohnter Schauer lief über ihren Rücken, ließ sie sich unwohl in ihrer Haut fühlen. Sie war dafür noch nicht bereit, aber sie wollte ihren Freund nicht schon wieder zurückweisen. Dafür hatte sie zu sehr Angst, dass dieser sie ganz verließ. Neckisch strich ihr eine Zunge über das Ohrläppchen, zwang sie damit ihre Augen zu zukneifen. Es fühlte sich komisch an. Ungewohnt. Irgendwie eklig. Sie wollte das nicht. “Lass das!” Fest klang ihre Stimme, dabei erzitterte sie vor Angst in ihrem Inneren. Die Berührungen hörten auf. Die feuchte Zunge zog sich zurück. Anscheinend war es vorbei. Welch ein Glück für sie. Sie drückte ihren Gegenüber weg. “Sakura... Hast du etwa Angst?” Schelmisch, verhöhnend drangen diese Worte zu ihr durch. Ja verdammt! Sie hatte Angst! War es ein Verbrechen? Schließlich wusste sie nicht, ob es sehr wehtun würde. Ob sie sehr bluten würde. Sie hatte schon so viele Geschichten darüber gehört und gelesen. Schließlich war es ihr erstes Mal... Ja, sie fürchtete sich davor! Aber niemals würde sie es aussprechen. Dafür war sie zu stolz. “Nein, aber wenn uns meine Mutter hört...” “Die ist sicherlich wieder mit einem ihrer Liebhabern beschäftigt.” Unsanft wurde sie auf das Bett geschubst. Ihr rosafarbenes Haar fiel ihr strähnenweise ins Gesicht, verdeckte damit ihre türkisen Augen. Versteckte damit den schimmernden Glanz in diesen. Unvergossene Tränen brannten in ihren Augen. Panik kroch ihr den Rücken hoch, nahm sie in ihre Krallen und ließ sie erzittern. Hilflosigkeit. - Angst. - Verzweiflung. Was sollte sie machen? Zwei starke Hände umschlossen ihre Handgelenke, zerrten diese über ihren Kopf. Sie hielten sie dort gefangen, taten ihr weh. “Ah, lass los!” Sie schrie. - Wütete. - Trat um sich. - Aber keine Chance. Entweder zeigten ihre Worte keine Wirkung, oder ihre Tritte verliefen ins Leere. Der Griff wurde fester, brachte sie dazu, schmerzhaft zu schreien. Niemand hörte es. Niemand störte sich daran. Niemand half ihr. Sie war allein... Nach einiger Zeit des Schreiens und Wütens konnte sie nicht mehr. Ängstlich zitternd und stumm lag sie unter ihrem Freund, der weitaus stärker und älter war als sie. Freund... Konnte sie ihn überhaupt so nennen? Er liebte sie nicht einmal, dass wusste sie. Dies war ihr bewusst, aber dennoch hatte sie ihr Herz und ihre erste große Liebe an ihn verloren. Einfach so, ohne es verhindern zu können. Auch wenn sie nicht zurückgeliebt wurde, war sie mit dem Gedanken glücklich, dass sie mit ihm zusammen war. Bis jetzt... Salzige Tränen liefen über ihre Wangen, benetzten ihre Haut. Ihre Handgelenke schmerzten fürchterlich, brannten und fühlten sich ein wenig taub an. Ihr rosafarbenes Haar fiel ihr ins Gesicht, verdeckte damit ihre vor Schreien geröteten Wangen. Verbarg ihre Tränen überlaufenden Augen. “Na endlich. Wurde auch Zeit, dass du Ruhe gibst, Schlampe.” Wieder wurde ihr ein Kuss aufgedrängt. Grob. - Hart. - Ohne Gefühl. Es gefiel ihr nicht. Nicht so wie sonst immer. Genauso wie alles andere, was ihr Gegenüber mit ihr machte. Dabei liebte sie ihn so sehr... Nur widerwillig erwiderte sie den Kuss. Nur widerwillig gab sie sich ihm hin. Ihr Körper verspannte sich, als er seine Hand auf ihre Innenschenkel legte, sich dort in ihre Haut krallte. Er würde sie nicht mehr gehen lassen, dies wusste sie. Dieses Mal würde sie nicht entkommen. Bei dieser Erkenntnis verspannten sich ihre Muskeln noch mehr. “Entspann dich und genieß es...” Sie schaffte es nicht. Sie konnte es nicht. Sie wollte es nicht. Die ganze Zeit lag sie da. Verkrampft. - Kraftlos. - Wehrlos. - Verängstigt. Ihr Freund hatte die Oberhand. Spielte sein Spiel. Steuerte alles mit unsichtbaren Fäden. Es schmerzte fürchterlich, als würde es sie innerlich zerreißen. Es widerte sie an. Es gefiel ihr nicht. Es war schrecklich. Sie hatte Angst. Sie fühlte sich an, als würde sie sterben. Sie konnte nicht loslassen, sonst wäre sie wieder alleine. Sie konnte nicht aufhören zu lieben, sonst würde er sie verlassen. Und das ging die ganze nächste Stunde lang so. Ohne zu wissen, welche Folgen dieses triebsüchtige Spiel mit sich brachte... Dabei wollte sie doch nur von jemanden geliebt werden, war es denn so viel verlangt? _______________________________________ [1] 52,00 € [2] 20,00 € Kapitel 4: Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 2] ------------------------------------------------- Sie war ungewollt. Ich war ungewollt. Meine Welt um mich war Grau. Das Gefühl zu Leben, ohne etwas wert zu sein, schnürrte mir die Kehle zu... Raubte mir die Luft zum Atmen... Etwas zu verstecken, was nicht sein sollte, war hart. Kämpfen. Verlieren. Aufstehen. Täglich. Das war mein Alltag… Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 2] 24. Januar 2009 Keuchend beugte sie sich über die Toilette, erbrach sich zum wiederholten Male an diesem Morgen. Seit einigen Wochen musste sie sich jeden Morgen übergeben. Manchmal auch tagsüber. Ihr ging es schrecklich. Ihr war nur noch schlecht. Außerdem hatte sie seit einiger Zeit schlimme Unterleibsschmerzen... Und ihre Periode fiel seit November auch schon aus. Sie wusste nicht was los war. Verstand nicht, was mit ihrem Körper los war. Sie wusste nur, dass es ihr miserabel ging. Schnell spülte sie, versuchte den Drang sich erneut zu übergeben zu unterdrücken. Ausgelaugt stützte sie sich auf das Waschbecken. Ihre Beine zitterten vor Erschöpfung. Ihre Hände waren schwitzig. Müde drehte sie den Wasserhahn auf, schöpfte ein wenig Wasser in ihre Hände, um ihren Mund auszuspülen. “Na Miststück? Wieder gekotzt? Man könnte glatt denken, du bist schwanger.” Sie hielt inne. Sakura blickte zur Seite. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Im Türrahmen vom Badezimmer stand ihre Mutter, die Arme vor der Brust verschränkt mit einer Zigarette im Mund. Das Haar der Frau war zerzaust in ihren provisorischen Zopf gebunden. Den Morgenmantel nur schnell über die Schultern gelegt und knapp zusammen gebunden. Ihre Mutter kam näher auf sie zu, blieb direkt vor ihr stehen, nur um ihr den widerlichen Zigarettenrauch ins Gesicht zu blasen. Wieder stieg in ihr Übelkeit auf. Ihr Magen drehte sich und sie würgte, aber außer Speichel kam nichts mehr heraus. Es war merkwürdig. Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, wenn sie den Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen bekommen hatte. Aber seit einigen Wochen musste sie bei diesem Geruch kotzen. Sie verstand es nicht. Grob wurde sie von ihrer Mutter zur Seite geschoben. Ihre Augen wanderten den Schritten hinterher. Ein trüber Glanz vernebelte ihre türkisen Iriden, als sie sah, zu welchem Werkzeug ihre Mutter griff. Eine Spritze. Durchsichtig und zerbrechlich. Dieses Gerät diente nur zu einem Zweck. Um sich Heroin damit zu spritzen... Sie ließ den Kopf hängen, starrte das weiße Porzellan des Waschbeckens an. Noch einmal ging sie die Bemerkung ihrer Mutter durch. Drehte diese mehrmals hin und her. Suchte Anhaltspunkte, die sagen, dass sie es wirklich war. Zitternd legte sie ihre Hände auf den Bauch, der sich verkrampft zusammen zog. Konnte es sein? War sie tatsächlich schwanger? ~*~*~ Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, während vom Himmel weitere weiße Flocken herunter rieselten. Seufzend bewegte sie sich zurück. Ihre Hände fest gegen ihren Bauch gepresst. Ihr war immer noch schlecht, weswegen sie heute eher von der Schule gegangen war. Ihre Gedanken kreisten immer noch über das Gesagte ihrer Mutter. Schwanger… Sie konnte es sich nicht vorstellen. Wann sollte dies passiert sein? Ihre Lider senkten sich leicht. Ihre Schritte verlangsamten sich, ehe sie ganz zum Stillstand kamen. Sie senkte ihren Kopf, starrte zu Boden, als sich die türkisen Augen vor Schreck weiteten. Erschrocken keuchte sie auf. Ihr erstes Mal… Anders konnte sie es sich nicht vorstellen. Grob biss sie sich auf ihre Unterlippe, kaute auf dieser herum, bis diese fast mit Bluten anfing. Aber sie konnte es sich nicht vorstellen. Es klang so... unglaubwürdig. Gerade bei ihrem ersten Mal. Obwohl... Sie hatte sich ihr erstes Mal auch romantischer vorgestellt, aber dem war nicht so. Kurz schüttelte sie ihren Kopf, kaute weiter nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Das war unmöglich. Sie brauchte irgendeinen Beweis. Irgendetwas, was ihr versicherte, dass sie wirklich schwanger war. Allein von Übelkeit, Magen- und Unterleibsschmerzen, ebenso von Regelblutungsausfall konnte sie es nicht festmachen. Diese Symptome waren ihr zu ungenau. Sollte sie vielleicht einmal zu einen Frauenarzt gehen? Aber was war, wenn dieser herausfand, dass sie schwanger war? Sicherlich würde er sofort ihre Mutter informieren. Nein, dieser unterstand der Schweigepflicht, wenn sie es sich wünschte. Trotzdem... Das konnte sie nicht riskieren. So wie sie ihre Mutter kannte, würde diese sie sicherlich aus dem Haus werfen, wenn sie davon mitbekommen sollte. Träge bewegte sie sich weiter nach Hause. Schritt für Schritt setzte sie nach vorne. Langsam, sie hatte Zeit. Denn sie wollte gar nicht ankommen. Nicht so schnell. Zu Hause würde nur ihr ‘Freund’ auf sie warten... Ein erschöpftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ihre Augen stumpf vor Trauer. Sie ging weiter, versuchte den Gedanken an ihren Freund zur Seite zu schieben. Versuchte ihn zu verdrängen... Gedankenverloren rannte sie gegen ein Schild und warf dieses aus Versehen um. Scheppernd fiel dieses zu Boden, zog die Aufmerksamkeit der Leute auf sie. Hastig stellte sie das Schild wieder auf, strich den Schnee von diesem und starrte es einen Moment an. Zögerlich strich sie über die leicht vergilbte Folie, zog die Konturen der einzelnen Buchstaben nach. Werbung über Schwangerschaftstest. Ironie? Schicksal? Sie kicherte leise, drehte sich zu dem Gebäude um, der diese kleinen Geräte vertrieb und ihr Lachen erstarb. Apotheke. Wenn sie wirklich schwanger war - und das bezweifelte sie sehr - dann müsste so ein Schwangerschaftstest ihr das doch verraten können. Sie schluckte hart, straffte ihre Schultern und betrat mit einem leisen Klingeln von der Tür die Apotheke. Angenehme, warme Luft wehte ihr entgegen, wärmte ihre kalten Wangen auf und trieb ihr damit eine leichte Röte auf diese. Schnell klopfte sie den Schnee von den Schuhen ab. Drin herrschte Ruhe, nur vereinzelt hörte sie das leise Klirren von Glas, als eine der Verkäuferinnen einige Flaschen ins Regal stellte. Ihr Blick schweifte weiter durch die Apotheke. Wollte sie doch allein sein, wenn sie ihre Bitte an die Verkäuferin richtete. Ohne gaffende Blicke Älterer. Ohne die neugierigen Gesichtsausdrücke anderer Menschen. Doch die Apotheke war wie ausgestorben. Fast... Ihre Augen blieben an einem Mädchen hängen. Schmächtig. Klein. Das dunkelblaue Haar lief in kleinen Wellen über die schmalen Schultern und den Rücken. Zitternd hielt diese in ihren zierlichen Händen einen Korb. Was sie alles wohl kaufte? Ein wenig war Sakura schon neugierig, wollte aber das andere Mädchen nicht belästigen. Diese sah aus, als würde sie sofort die Flucht ergreifen, wenn man sie nur leicht an der Schulter berühren würde. Ob sie einen Freund hatte? Sicher nicht, so wie sie aussah. Irgendwie war es schon ein wenig erbärmlich. Dieses Mädchen würde vielleicht für eine Ewigkeit das graue Mauerblümchen bleiben, was niemanden ansprach oder ansah. Verborgen in der Menge und allein. Wie traurig... Leicht schüttelte sie den Gedanken wieder ab. Dieses Mädchen störte sie nicht. So wie es auch aussah, war sie voll und ganz mit ihren Einkauf beschäftigt. Die Andere würde nicht einmal am Rande mitbekommen, was Sakura von der Verkäuferin wollte. Dennoch... Mit einem mulmigen Gefühl trat sie weiter hinein, bis sie fast vor dem Verkaufstresen stand. “Ähm, hallo?” Sie zuckte zusammen, als eine der Glasflaschen klirrend zu Boden fiel und dort zerschellte. Erschrocken wand sich die Verkäuferin zu ihr herum und blickte sie überrascht an. “Oh, willkommen. Wie kann ich dir helfen?” Sakura kaute auf der Unterlippe herum. Ihre Augen wanderten ruhelos durch das Zimmer. “Ich...” Sie stockte und holte noch einmal tief Luft. Es konnte doch nicht so schwer sein, einen einfachen Satz zu sagen. Sie wollte schließlich nur einen Schwangerschaftstest. Mehr nicht. Kurz sammelte sie sich noch einmal, bemerkte wieder dieses unwohle Gefühl in ihrem Bauch, weswegen sie ihre Hände unbemerkt auf diesen presste. Der neugierige Blick der Verkäuferin machte es auch nicht gerade besser. Hitze stieg in ihr auf, ließ ihre Wangen noch mehr erröten. Ihre Hände begannen mit Schwitzen, zitterten leicht. Sie kam sich so beobachtet vor. Als würde ihr Gegenüber in sie blicken können. Vielleicht sah sie etwas, was sie selber noch nicht wusste... Hastig schüttelte sie den Kopf. Irrsinnig. Was sollte man da schon sehen können? Außer einer unerwiderten Liebe und einem Leben in Armut gab es da nicht viel... Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, sie sah die Frau freundlich an, ehe sie noch einmal zu ihrer Bitte ansetzte. “Ich bräuchte einen Schwangerschaftstest.” Der überraschte Blick der Frau irritierte sie ein wenig. War ihre Bitte so verwirrend? Kurz blickte sie an sich herunter und erkannte sofort das Problem. Sie war in dem Körper einer Dreizehn- bis Vierzehnjährigen und wollte einen Schwangerschaftstest. Würde da nicht jeder Verkäufer ein wenig skeptisch reagieren? Sie seufzte und setzte eines ihrer lieblichsten Lächeln auf, brachte damit die Frau noch mehr in Verwirrung. “Der Test ist nicht für mich, sondern für meine große Schwester. Wir denken beide, dass sie schwanger ist, nur haben wir keinen Beweis. Außerdem getraut sie sich nicht, sich einen zu kaufen. Deswegen übernehme ich das.” Lüge… Aber sie käme anderes nicht mehr heraus. Alles würde nur noch geschwindelt sein. Hier vertuschen. Dort verstecken. Menschen belügen. Auch wenn sie es jetzt noch nicht ahnte, aber ihr Leben würde danach nur noch aus Lügen bestehen. Ihr Leben würde eine Lüge werden... “Ach so. Das ist aber lieb von dir. Na warte, mal sehen, was wir da haben.” Mit einem Schlag war die Überraschung aus dem Gesicht ihres Gegenübers verschwunden. Zum Glück. Sie hätte ansonsten keine anderen Ausreden mehr sofort parat gehabt. Schnell war ein Test ausgesucht und auch bezahlt worden. Sakura hatte ein aufgelegtes Lächeln auf den Lippen, als sie sich von der Verkäuferin verabschiedete. “Ich hoffe sehr, deiner Schwester ist das Glück hold.” Sie nickte nur, winkte der Frau kurz zu. Das mulmige Gefühl im Bauch flaute ab. Genauso wie ihre Nervosität. Schnell verschwand sie wieder mit einem leisen Klingeln von der Tür aus raus in den fallenden Schnee. Und mit der Lüge auf ihren Lippen. Eine Lüge von vielen anderen. Von diesem Moment an, war ihr ganzes Leben nur noch gelogen... Und sie selber wusste es noch nicht. ~ *~*~ Leicht streifte sie sich ihre Schuhe von den Füßen und öffnete ihre Jacke, um diese über die Schultern zu streifen. Kurz hielt sie inne, als sie ein helles Kichern aus einem der Räume hörte. Skeptisch hob sie ihre Augenbraue hoch und sah den Gang entlang. Ihre Zimmertüre öffnete sich. Heraus trat ein junges Mädchen, nicht viel älter als sie selber. Überrascht weitete Sakura ihre Augen. Das hätte sie nicht erwartet... Da machte sich eine kleine Schlampe an ihren Freund heran! Wut und Trauer überschwemmten ihre Emotionen. Aber ebenso Enttäuschung... Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihre Schultern bebten leicht, während ihre Augen stumpf vor Trauer wurden. Wieder hörte sie das helle Kichern, welches ihre Wut noch mehr aufschaukelte. Mit schnellen Schritten lief sie auf die beiden zu und schubste das Mädchen zur Seite. Das diese schmerzhaft zu Boden fiel, interessierte sie in diesem Moment nicht. Tief holte sie Luft, versuchte ihre aufkommenden Tränen zu unterdrücken, versuchte all ihre Wut in ihre Stimme zu legen. “Was fällt dir ein, dich an meinen Freund heranzumachen?!” Ihr wurde ein überraschter Gesichtsausdruck entgegen gebracht, ehe dieser sich in ein freches Grinsen wandelte. Sakura knirschte mit den Zähnen. Sie wollte sich soeben auf ihr Gegenüber stürzen, als sich ein starker Arm um ihre Brust schlang. Ein warmer Atem streifte ihre Wange, beruhigte nur minimal ihr aufgewühltes Inneres. “Wir arbeiten morgen an dem Projekt weiter, in Ordnung? Ich habe gerade Wichtigeres zu tun.” Nach diesen Worten küsste ihr Freund sie leicht auf die Schläfe. Die angespannten Fingerknöchel lockerten sich ein bisschen. Ihr Inneres kam noch ein wenig mehr zur Ruhe. Aber noch nicht so sehr, als das all ihre Wut verraucht wäre. Sakura verengte ihre Augen. Das Mädchen auf dem Boden nickte leicht und richtete sich wieder auf. Jeder Schritt von ihr wurde ganz genau von der Rosahaarigen beobachtet. Beide lieferten sich noch einmal ein Blickduell, ehe die andere die Wohnung verließ. Leise schnaubend wand sie sich zu ihrem Freund um, drückte sofort ihre Lippen auf seine. Ein kurzer Kuss entstand, war lieblos und kalt. Sie löste sich wieder. Kalte Hände strichen unter ihren Pullover, zerrten leicht an diesem. Sie hob ihre Arme hoch, ließ sich das Kleidungsstück unbeteiligt über den Kopf ziehen. Zusammen mit ihrem T-Shirt. Sie wusste was kam. - Sie wusste, was ihr Gegenüber wollte. - Sie wusste es, aber dennoch wollte sie es nicht. Aber wehren war zwecklos. Würde sie ihm nicht das geben, was er wollte, dann würde er sie allein lassen. Das wollte sie nicht. Sie wollte nicht mehr allein sein. Ein Seufzen kam über ihre Lippen. Kühle Finger strichen über ihre Haut, krallten sich gierig an ihre Brüste. Träge öffnete sie selbst ihren BH, ließ sich diesen ebenfalls ausziehen. Sofort wurden ihre Brustwarzen stimuliert. Sie wurden geneckt, gestreichelt und verwöhnt. Ein Knie stellte sich zwischen ihre Beine, rieb durch den Stoff der Jeans gegen ihre Vulva. Sie keuchte auf. Eine Lustwelle durchströmte ihren Körper. Sie wollte das nicht, aber ihr Körper reagierte sensibel auf diese Berührungen. Reagierte auf die Worte ihres Gegenüber. Die Liebkosungen an ihrer Brust ließen nach. Sie wurde an der Taille gepackt und zum Bett dirigiert. Es dauerte auch nicht lange, ehe man sie auf dieses stieß. Ihr Körper erbebte. Lust und Angst wallten in diesem auf. Die Wut von vor einigen Minuten war wie weggeschwemmt. Eine Hand machte sich an ihrer Jeans zu schaffen, öffnete sie und strich sie über ihre Hüften. Leicht hob sie ihr Becken, damit er sie leichter ausziehen konnte. Sie kannte doch die ganze Prozedur. Würde sie sich jetzt wehren, dann waren Schläge wieder sicher. Es wäre nicht das erste Mal... Dabei war ihr Freund zu Beginn ganz anders: Liebevoll. Zärtlich. Sanft. Aber von Mal zu Mal wurde er brutaler. Grober. Gemeiner. Wieder seufzte sie auf, schloss ihre Augen. Verschloss sie vor der ganzen Welt. Verschloss sie vor der Wahrheit. Ruhig lag sie unter ihm. Ihr Inneres aufgewühlt und ruhelos. Sie wollte nur geliebt werden und wenn sie nicht das gab, was man von ihr verlangte, dann würde man sie wegwerfen. Wie Müll… Ihr Leben kam ihr so schäbig vor. Ihre Liebe blieb weiter unerwidert, vorgetäuscht und gelogen. Alles war geschwindelt. Eine Lüge, die ihr Herz beruhigte, aber es gleichzeitig in zwei Teile riss. Ihr Leben war eine ganze Lüge, aber dennoch kam sie von dieser nicht los. Sie schwamm in den Wogen der Gefühle mit, welche sie immer weiter hochschaukelten, nur um sie mit einem Satz zum Absturz zu bringen. Sie würde tief fallen. So tief, dass sie am Boden zerschellen würde. Wie Porzellan. Und sie würde schneller fallen, als wie sie es gedacht hatte… ~*~*~ Ekliger Zigarettenrauch trieb ihr die Tränen in die Augen. Stumpf starrte sie zur Decke. Ihr Freund saß neben ihr, die Zigarette im Mund und blies den Rauch durch das Zimmer. Eine unangenehme Ruhe herrschte im Raum. Die Matratze wackelte, als ihr Freund sich erhob, um sich anzuziehen. Der Rauch brannte in ihren Augen, brachte sie dazu, dass es ihr schlecht wurde. Mühevoll kämpfte sie den Ekel herunter. Ihre türkisen Iriden weiter auf die Decke gerichtet. “Es ist vorbei.” Kalt. Emotionslos, kamen die Worte von dem anderen. Qualvoll brannten sie sich in ihre Ohren, hallten dort wider, bis sie in jede einzelne Faser des Körpers gelangten. Es dauerte nicht lange, bis ihr Herz so sehr von Kälte umfasst wurde, dass es ihr schmerzte. Vorbei… Ein kleines Wort, das so vieles kaputt machen konnte. Etwas in ihr splitterte. Zerfiel. Zerplatzte wie eine Seifenblase. Es war die Hoffnung, dass alles hätte doch besser werden können... Träge rollte sie sich zur Seite, schloss ihre Augen. Unvergossene Tränen brannten hinter ihren Lidern. Ihr Körper schmerzte. Ihr Herz schrie. Und dennoch... Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Eine Last von den Schultern. Doch offenbarte damit ein tiefes Loch in diesem, welches mit Bluten begann. Eine tiefe Wunde war in dieses gerissen und blutete schmerzhaft. Sie hatte es geahnt. Sie hatte es fast gewusst, dass es nicht lange dauern würde und er würde sie allein lassen. Aber diese Erkenntnis schmerzte viel mehr, als sie es sich vorstellen konnte. Sie kniff ihre Augen zusammen. Unterdrückte ihre Tränen. Unterdrückte ihr Schluchzen. Sie wollte stark bleiben, wollte ihm nicht zeigen, dass sie schwach war. Aber es tat so weh. So unglaublich weh… “Dann verpiss dich...” Dünn war ihre Stimme, klang gebrochen und kaum hörbar. Wie ein Flüstern, was im Wind verging. Ihre Zimmertüre fiel geräuschvoll in ihr Schloss. Die gesagten Worte hallten laut in ihren Ohren wider. Wie ein Echo, das auf Replay gestellt war. Sie vergrub ihr Gesicht in ihre Hände. Verdeckte damit ihre geröteten Wangen. Verdeckte damit ihre nassen Augen, ihre feuchten Wimpern. Grob biss sie sich auf die Unterlippe, versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. Wollte nicht, dass jemand sie so zerbrechlich wirkend sah. Sie wollte stark sein. Wollte allen zeigen, dass sie es schaffen konnte. Wollte sich nicht unterkriegen lassen. Aber sie war auch nur ein Kind... Ein Kind, dass doch nur geliebt werden wollte. Die ersten Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre Schultern erbebten, als das erste Schluchzen über ihre Lippen kam. Sie weinte. Weinte sich all den Schmerz von der Seele, während sie immer tiefer fiel. Sie fiel. Minuten, Stunden lang. Sie wusste es nicht. Die Zeit rannte an ihr vorbei, während sie nur steif im Bett lag und weinte. Solange bis auch die letzte Träne vollständig versiegt war. Dennoch blutete ihr Herz. Die Wunde war tief, wollte jetzt noch nicht heilen. Und wer wusste schon, wie lange es dauern würde, bis diese Verletzung verheilte. Und wie lange eine Narbe bleiben würde… ~*~ *~ Nach einigen Stunden schaffte sie es sich aufzusetzen. Sie war zwischenzeitlich eingeschlafen. Ein unruhiger Schlaf, verbunden mit schlimmen Erinnerungen an ihre Beziehung. Ein müdes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Erneute Tränen kämpften sie bei den Gedanken an ihren ‘Ex’ in ihrem Inneren hoch. Aber sie wollte nicht mehr weinen. Davon würde es nicht besser werden. Somit würde sie niemals die Brücke zu all diesen Erinnerungen kappen können. Sich davon lösen können. Träge schob sie ihre Beine zur Bettkante vor, tastete auf diesem nach ihrem Slip, um ihn sich drüber zu ziehen. Ihre Glieder fühlten sich taub an. Steif, sodass sie Mühe hatte sich zu bewegen. Die Knie zitterten, verbrauchten viel Kraft, um ihren geschundenen Körper aufrecht erhalten zu können. Er hatte sie heute hart ran genommen. So sehr, dass sie Mühe hatte, auf ihren Beinen stehen zu können. Sodass sie viel Kraft verbrauchte, damit ihre Füße sie tragen konnten. Es dauerte eine Zeit, ehe sie es schaffte sich ein rotes Shirt über den Kopf zu ziehen. Jede Bewegung schmerzte. Erinnerte sie daran, warum sie jetzt in dieser miserablen Verfassung war. Eine kleine Träne rollte über ihre Wange, liebkoste diese, versuchte sie zu trösten, ehe sie vom Kinn abperlte und im Stoff des T-Shirts versickerte und dort einen dunklen, nassen Fleck hinterließ. Träge trugen ihre Füße sie aus ihrem Zimmer. Die Hände auf den schmerzenden Bauch gepresst. Ihr Blick ging stumpf durch den Flur. Von Nahem hörte sie das lustvolle Stöhnen ihrer Mutter aus dem Schlafzimmer, wie sie wieder mit einem ihren Freier ihren Spaß hatte. Sakura verzog ihr Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. Sie konnte es sich nicht vorstellen für Geld ihren Körper einfach so zu verkaufen. Das war doch... ekelhaft. Aber ihre Mutter brauchte das Geld. Sie brauchte es, damit beide leben konnten. Seit ihr Vater beide einfach so verlassen hatte und er mit seiner neuen Freundin durchgebrannt war, reichte das Geld einfach nicht mehr. Deswegen brauchte ihre Mutter die Drogen, damit sie das Geld so verdienen konnte. Sakura stellte sich ein Leben als Hure grausam vor. So etwas wollte und könnte sie niemals machen. Hastig schüttelte sie ihren Kopf, verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Weg ins Badezimmer, als ihre glanzlosen, trüben Augen auf ihre Jacke fielen. Genau genommen auf diese Tasche, wo sie den Schwangerschaftstest noch hatte. Zitternd vor Kälte und Schmerzen lief sie zu ihrer Jacke und holte den Test heraus. Schwer lag er in ihrer Hand. Fühlte sich an, als wollte er sich in ihre Handfläche brennen. Ein erschöpftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Was für einen Unterschied würde es noch geben, wenn sie diesen Test machen würde und tatsächlich schwanger wäre? Gar keinen mehr. Alles war sinnlos geworden... Mit dem Test in der Hand bewegte sie sich ins Badezimmer und benutzte diesen wie es auf der Anleitung beschrieben war. ... Zehn Minuten. Zehn qualvolle Minuten waren vergangen. Die ganze Zeit über saß sie auf dem zugeklappten Klodeckel. Ihre Beine waren zu müde, um sie weiter hätten tragen können. Ihre Augen hatte sie starr in den Spiegel gerichtet, blickte dort in ein noch verheultes Gesicht. Schaute dort in vor Weinen gerötete Augen. Ihre Wangen waren immer noch von einem leichten Rosaschimmer bedeckt, während der Rest ihres Gesichtes weiß wie eine Kalkwand aussah. Ihr Inneres war zwar für diese kurze Zeit des Schweigen beruhigt gewesen, aber dies änderte sich schleunig wieder. Zitternd streckte sie ihre Hand aus. Angst kroch ihr den Rücken empor, ließ sich ihre Nackenhärchen aufrecht stellen. Sie wollte nicht schwanger sein, hoffte sehr, dass sie es auch nicht war. Was sollte sie außerdem mit solch einem kleinen Wurm? Sie war selber noch ein Kind und fühlte sich doch jetzt schon mit ihrem Leben total überfordert. Sie schluckte hart, starrte auf die Rückseite des Testes, ehe sie diesen zaghaft umdrehte. Sekunden verstrichen. Sie starrte auf den Schriftzug des Schwangerschaftstest. Eine Träne löste sich, rollte über ihre Wange. Klirrend fiel der Test aus ihren Händen. Weißes Plastik platzte von diesem, verteilte sich auf dem Fliesenboden. Eine weitere Träne rann über ihr Gesicht. Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Ihr war wieder schlecht. Hastig beugte sie sich über das Waschbecken und würgte, aber nichts kam heraus. Nur Speichel gemischt mit ein wenig Magensäure. Sie schloss die Augen, rutschte vom Toilettendeckel herunter, ehe sie kniend am Boden zum Stillstand kam. Ein Schluchzen kam über ihre Lippen, trieb ihr weitere Tränen in die Augen, welche sanft über die Haut strichen. Schwanger… Sie war schwanger! In diesem Moment wusste sie wirklich nicht, ob sie sich freuen oder hassen sollte. Schwanger… Immer noch klang dieses Wort so unreal in ihren Ohren. Aber der Test hatte es bewiesen. Sie war es. Dabei wollte sie doch gar nicht. Sie war erst vierzehn! Was sollte sie machen? Es ihrer Mutter sagen? Nein... Sie würde sie sofort herauswerfen. Es akzeptieren? Aber sie hatte doch noch ihr ganzes Leben vor sich. Sie wollte nicht jetzt schon Mutter werden! Träge öffnete sie die Augen, alles war verschwommen. Sie schwankte leicht nach vorne, sackte in sich zusammen. Sie wollte das alles nicht. Aber was sollte sie denn sonst machen? Verdammt noch einmal, sie wusste es nicht! Verzweifelt kauerte sie sich zusammen, presste ihre schwitzigen Hände gegen ihren Bauch. In ihrem Inneren wuchs eine Brut heran. Nun für neun Monate lang. Ein Kind, wovon sie nicht einmal wusste, wie sie damit umgehen sollte. Ein Wesen, was sie gar nicht wollte... Ein trostloses Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ein warmes Gefühl kam in ihr auf. Warm und unbekannt. Aber angenehm. Sie fühlte sich zu dem ungeborenen Kind verbunden. Nicht, weil sie die Mutter werden würde, sondern weil beide ungewollt waren... ~*~*~ 03. März 2009 Heiß schien die Sonne auf sie herab. Sie stand auf dem Schulhof, schwitzte extrem, da sie sehr dick eingekleidet war. Sie schämte sich dafür, dass sie so sehr schwitzte. Schämte sich, dass sie ein wenig roch. Auch da sie in der Pubertät war, verschlimmerte sich die Sache mit dem Schwitzen noch ein wenig. Kaum das Parfüm ihrer Mutter half da noch. Vom Waschen wollte sie erst gar nicht anfangen. Sie musste wirklich bei diesen Temperaturen und ihren vielen Pullovern aller Stunde duschen gehen. Zwecklos. Da musste sie nun durch. Sie würde sowieso nicht mehr lange in der Schule sein. “Eh Sakura! Lust ins Schwimmbad zu gehen? Sind schließlich fast 25 Grad heute!” Sakura sah auf ihre Freundin, welche von Weiten mit dem Arm wedelnd auf sie zu kam. Die Schritte der klackernden Absatzschuhe wurden immer lauter, bis sie ganz verstummten. Ihre stumpfen Augen sahen müde ihren Gegenüber an. Schwimmen? Sie würde gerne, konnte aber nicht. Wie so vieles nicht mehr... Schnell senkte sie den Blick, kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie bemerkte, wie sich ihre Wangen erhitzten, so dass ein leichter Rosaschimmer auf ihrer blassen Haut entstand. Verkrampft legten sich ihre Finger auf ihren Bauch. Leicht schüttelte sie den Kopf, ließ ihr rosafarbendes Haar in ihr Gesicht fallen. Versteckte damit den Schimmer auf den Wangen, der sie vielleicht verraten würde, dass sie log. Aber sie konnte es nicht anders. Sie musste lügen, weil sie es immer tat. Sie belog jeden. Täuschte Freunde. Spielte die Unwissende. Dabei wusste sie doch, warum sie das alles machte. Aber das durfte niemand wissen. Sie musste lügen, ansonsten wäre der jetzige Kampf, ihr Geheimnis zu bewahren, umsonst und verloren gewesen. “Geht nicht, meine Mam braucht mich.” “Deine Mam! Deine Mam! Ich höre nichts anderes außer ‘Meine Mam...’! Hallo! Ich bin deine Freundin! Deine Mam würde dich nicht gleich köpfen, nur weil du mal was mit mir machst!” Sakura biss sich auf die Zunge, unterdrückte das Kommentar ‘Wenn du nur wüsstest’ so gut wie sie konnte. Ihre Finger krallten sich tiefer in den Stoff ihrer vielen Pullover, die sie trug, um ihren schwangeren Bauch zu kaschieren. Ihre Handflächen begannen schon zu schwitzen. Die Feuchtigkeit wurde vom Stoff der Kleidung aufgesaugt. Ihre Freundin schnaubte sauer aus. “Also wirklich. Du kriechst deiner Mutter nur noch in den Arsch. Das ist sowas von dumm...” “Als wüsstest du irgendwas!” Sauer fuhr sie mit dem Kopf hoch, in den Augenwinkeln kleine Perlen, die im Sonnenlicht wie Diamanten glitzerten. Was wusste ihre Freundin denn schon? Nichts... Wie denn auch? Schließlich sagte Sakura nie etwas über ihre Probleme. Erzählte niemandem etwas. Behielt alles für sich. Vor allem ihre Schwangerschaft verschwieg sie jedem. Hastig wand sie sich um. Ihr war schlecht, zwar war dies nicht mehr jeden Tag, aber heute war es wieder einmal schlimm. “Ich geh heim. Mir ist schlecht.” Aber sie verließ die Schule nicht nur, weil ihr schlecht war. Sondern weil sie Sport hatte. Sport bedeutete, dass sie sich mit anderen Mädchen im Raum umziehen musste. Umziehen bedeutete, dass sie jeder nackt sehen konnte. In letzter Zeit fühlte sie sich so hilflos, wenn sie nackt war. Verletzbar und angreifbar. Aber nicht nur wegen ihrer Nacktheit hatte sie Angst, sondern das jeder ihre Schwangerschaftstreifen auf Bauch und Hüfte sehen konnte. Sicherlich würden da Fragen aufkommen, auf die sie nicht antworten konnte und wollte. Erneut schnaubte ihre Freundin sauer aus, wandte sich ebenfalls um und schritt zum Schulgebäude. “Schwänzt du wieder Sport?! Dir glaubt doch sowieso keiner mehr, dass dir schlecht ist!” Dabei war es doch die Wahrheit... Einer Lüge schenkte man eher glauben, als der Wahrheit. Welch Ironie. Ein trostloses Lächeln legte sich auf ihre Lippen, was durch ihre langen Haare verdeckt wurde. Ein seichter Wind kam auf, wirbelte ihr Haar durcheinander und hoch in die Luft. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange. Ihre Finger vergruben sich tiefer in den Stoff. Die Fingernägel tief in den Bauch gedrückt. Sie befand sich Anfang fünften Monat und spürte innerlich ein leichtes Kribbeln. Ein Hauch von Leben, was weiter in ihr heranwuchs. Was sich bewegte und ihr jeden Tag von Neuem zeigte, dass alles nicht nur ein schlechter Traum war. Es war Realität, dass ihr Leben von Tag zu Tag immer mehr durch Lügen kaputt ging. Nicht einmal mehr ihre einzige Freundin glaubte ihr noch. Vertraute ihr oder schenkte ihr Trost. Sie kam sich einsam vor. Unverstanden. Allein gelassen von der ganzen Welt. Nur das kleine Leben in ihr, war für sie da. Sie klammerte sich an dieses Kind. Klammerte sich an die Wärme, dass es ausstrahlte und ihre Eiswüste der Gefühle zum Schmelzen brachte. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass alles irgendwann einmal ein Ende hatte. Vielleicht für immer... ~*~*~*~ 28. Juni 2009 Eine klitschnasse Hose lag neben ihr in der Ecke auf dem verdreckten Boden. Die Fruchtblase war geplatzt. Sie hatte nur gemerkt, wie plötzlich etwas Warmes, Flüssiges an ihren Beinen herab lief, dadurch ihre ganze Kleidung durchnässt wurde und sich schon die erste Wehe durch ihren Körper zog. Zum Glück war sie allein zu Hause und schwänzte mal wieder - sowie die letzten vier Wochen - die Schule. Wie sie in den Keller gelangt war, wusste sie schon längst nicht mehr. Vielleicht war es Instinkt gewesen, da sie alle Vorbereitungen in diesem getroffen hatte. Wieder verkrampfte sich ihr Körper. Ein schmerzhaftes Zittern durchfuhr diesen. Seit Stunden lag sie nun schon im Keller, zwischen staubigen Kisten und Regalen. Von Wehen heimgesucht, die ihr ihren Körper wie einen Klumpen Fleisch verkommen ließen, welcher nur noch durch Schmerzen zusammenhielt. Ihre Hände hatte sie krampfhaft auf den Boden gedrückt. Die Beine breitbeinig über zwei Kisten gelegt, in der Hoffnung, dass dadurch alles leichter werden würde. Schmerzhaft kniff sie ihre Augen zusammen, versuchte die Informationen, welche sie vor einigen Wochen aus dem Internet herausgesucht hatte, wieder ins Gedächtnis zu rufen. War überhaupt der Muttermund weit genug geöffnet? Sie hatte gelesen, dass er von acht bis zehn Zentimeter geöffnet sein müsste, damit sie in die Austreibungsphase gelangen konnte. Sie musste versuchen sich zu entspannen, damit die Öffnung des Muttermundes schneller von Statten ging. Aber sie wusste nicht, wie die Atemtechniken gingen, in denen sie sich entspannen konnte. Sie hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, sich tiefer mit diesen Techniken zu befassen und sie zu trainieren. Schmerzvoll keuchte sie auf. Es tat so weh... Sie konnte nicht mehr! In solchen Momenten wünschte sie sich so sehnlich, sie hätte dieses Kind niemals zugelassen oder es liebend gerne verloren. Kein Schrei kam über ihre Lippen, biss sie sich doch so fest auf diese, dass kaum ein Ton über sie kam. Die Angst, dass jemand sie hörte und heraus bekam, was sie hier unten trieb, war so groß, dass sie ihr Kind lieber in einen stinkischen Keller zur Welt brachte, als in einem Krankenhaus. Wieder spannte sich ihr Körper an. Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in ihrem Mund aus. Ein dünnes, rotes Rinnsal lief über ihr Kinn, perlte von diesem ab und tropfte auf ihr schwarzes, verschwitztes T-Shirt. Sie hatte das Gefühl, dass sie pressen musste. Die Wehen kamen jetzt fast schon alle zwei Minuten. Waren mal stärker und flauten mal wieder ab. Bei einer erneuten Wehe presste sie wieder, hatte sie fast das Gefühl, als würde das Kind immer schwerer auf ihrem Darm liegen. Wieder drückte sie, bemerkte, wie der Druck zwischen ihren Beinen immer stärker wurde. Sicher war es bald soweit... Sie hoffte es sehr. Eine erneute Schmerzenwelle übermannte ihren Körper. Ließ sie weitere Tränen vergießen. Ließ sie erneut pressen. Sie riss ihre blutigen Lippen auf, schrie aus Leibeskräften, als eine erneute unermessliche Welle voller Pein ihren zierlichen Körper erzittern ließ. Plötzlich verringerte sich der Druck. Erneut drückte sie. Anscheinend war der Kopf jetzt draußen, nun musste sich das Kind noch einmal drehen, damit die Schultern durch passten. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als all der Druck von ihrem Körper abfiel. Keuchend sackte sie in sich zusammen, öffnete träge ihre Augen. Schwummrig sah sie zur Kellerdecke. Hatte dieser Kampf viel Kraft von ihr verlangt. Nur träge und mühsam schaffte sie es sich aufzusetzen. Ihr Blick fiel auf die dicke, weiche Decke unter ihr. Auf dieser lag in Blut und einigen Fetzten der Fruchtblase gebadet die Qual, welche sie schon seit neun Monaten mit sich herum trug. Eine bittersüße Qual… Ein Schrei entkam dem Kind, damit die Lungen in Takt kamen. Ein Schrei voller Leben. Zitternd griff sie nach diesem, wickelte es in eines der dicken, sauberen Wolltücher auf dem Boden. Müde vor Erschöpfung strich sie dem Kind das Blut aus dem Gesicht, betrachtete es genauer. Es sah so klein und so zerbrechlich aus. Als würde es bei einem falschen Handgriff zerbersten. Einige Tränen liefen Sakura über die Wangen. Sie schämte sich. Sie schämte sich so sehr. Das war doch alles erbärmlich. Sie war fünfzehn und hatte schon ein Kind. Was sollten die Leute von ihr denken? Wie sollte sie außerdem mit diesem kleinen Wurm umgehen? Sie wusste noch nicht einmal, was sie machen sollte. Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit durchschüttelten ihren Körper. Brachten ihre Schultern zum Beben. Sie keuchte auf. Die Wangen noch vor Anstrengung gerötet. Und zwischen all diesen Emotionen mischte sich nur gering ein leichtes Gefühl von Erleichterung und Glück dazwischen. Sachte, da sie dem Kind nicht wehtun wollte, drückte sie dieses gegen ihre sich noch schnell hebende und senkende Brust. Fühlte sich jede ‘Mutter’ nach der Geburt so? So kaputt vom Leben und zerfressen von Gefühlen? “Ich wollte dich doch gar nicht...”, nuschelte sie heiser und schluchzte leise auf. Sie wollte diese Brut doch gar nicht. Aber nun war es zu spät. Nun hatte sie dieses zierliche Geschöpf in ihren Armen. Spürte dessen Wärme und den leichten Atem an ihrem Hals. Minuten saß sie so da, lehnte sich erschöpft gegen ein stabiles Regal. Die Nachgeburt hatte sie auch hinter sich. Sie hoffte sehr, dass die Plazenta - der Mutterkuchen, der dem Kind in der Gebärmutter den Schutz bot - sich gänzlich gelöst hatte. Das Risiko an einer Infektion zu erkranken war groß, wenn nicht alles mit der Ausstoßung der Nachgeburt draußen war. Müde waren ihre Augen auf die noch pulsierende Nabelschnur gerichtet, welche nach einigen Minuten gänzlich zum Stillstand kam. Das Kind leicht an sich gedrückt, beugte sie sich nach einer Schere, welche sie vor Tagen hier unten verstaut hatte. Genauso wie eine dicke Wolldecke, Klammern und viele Handtücher. Sie schnitt die Nabelschnur durch, wusste nicht einmal, ob sie das Richtige machte. Im Fernseher waren für so etwas Ärzte und Hebammen da. Leute, die sich damit auskannten. Sie konnte in diesem Moment nur das machen, was sie gesehen hatte. Oder die Informationen praktisch umsetzen, die sie im Internet gelesen hatte. Als die Schnur durchtrennt war, klemmte sie den Rest mit einer Klammer ab. Bald würde dieses Stück Haut absterben und abfallen. Sterben und fallen... Wie oft hatte sie sich das gewünscht? Sie war oft gefallen... Manchmal so tief, dass sie dachte, dass sie manchmal erst sterben musste, damit sie wieder aufstehen konnte. Erneut schluchzte sie, kaute auf ihrer Unterlippe herum, welche leicht brannte und betrachtete das Geschöpf in ihren Armen. Ein kleines Mädchen. Sie war gesund und hatte einen sehr leichten, dunklen Haaransatz. Vielleicht würden sich die Haare im Laufe der Zeit noch verfärben. Die Augen geschlossen und ruhig atmend. Als würde es sich bei seiner Mutter sofort wohlfühlen. Ein müdes Lächeln legte sich auf Sakura’s Lippen. Sie wusste schon einen Namen für dieses Kind. Sarane - Träne des Leids. Wie viele Tränen hatte sie in all der Zeit schon vergossen, seitdem sie schwanger war? Viele... So viele, dass man es nicht mehr zählen konnte. Und es werden viele weitere folgen... ~*~*~ “Was willst du?!” Fauchend kamen die Worte über die Lippen ihrer Mutter. Sakura zuckte erschrocken zusammen. Den Blick gegen Boden gerichtet. Ihr Kind in den Armen fing sofort mit Weinen an. Sachte drückte sie das Kind gegen ihre Brust. Krallte sich an das kleine Leben, um nicht gänzlich den Halt zu verlieren. Versuchte es damit ein wenig zu beruhigen. Wollte ihm damit zeigen, dass es nicht allein war. Es half ein wenig. Aber nicht lange. “Pack deine Sachen und verpiss dich!” Klirrend fiel Glas zu Boden. Oder war es in ihrem Inneren? Sie wusste es nicht. Aber es schmerzte. So fürchterlich, als sei etwas in ihr zersplittert. Zerbrochen an den kalten Worten ihrer Mutter. Ein Klatschen erfüllte die Stille des Raumes. Ihre Wange brannte. War das Blut auf ihrer Haut? Oder eine der vielen vergossenen Tränen, welche über ihr Kinn lief. Nein... Es war Blut. Sie hatte sich vor Schreck auf den Schlag auf die Unterlippe gebissen und diese erneut aufgerissen. Zum Weinen fehlte ihr einfach die Kraft. Sie blickte auf. Die türkisen Iriden stumpf vor Trauer. Zum ersten Mal nach langer Zeit und nach einem Schlag blickte sie zu ihrer Mutter auf. Blickte ihr direkt in die Augen. Zeigte ihr, wie kaputt und verletzt sie war. Wie sehr sie Hilfe und Liebe von ihrer Mutter brauchte und wollte. Aber die gewünschte Reaktion blieb aus… “Sieh mich nicht so an und verpiss dich! Ich habe nicht das Geld euch beide durchzufüttern!” Sie biss sich auf die Unterlippe. Unterdrückte das Schluchzen und schluckte ihre Tränen herunter. Ein Kloß schnürte ihr die Kehle ab. Sie keuchte leise auf. Sie hatte es geahnt. Eigentlich schon fast gewusst. Aber warum? Was sollte sie jetzt machen? Sie wusste es doch nicht! Schließlich war sie selbst auch noch ein Kind... Verzweifelt schrie sie die nächsten Wörter ihrer Mutter ins Gesicht. “Was soll ich denn sonst machen, schließlich bin ich noch ein Kind!” “Was soll ich denn sagen?! In deinem Alter musste ich auf den Strich gehen, damit ich dich dummes Mistkind durchfüttern konnte! Sei froh, dass ich dich solange hier ausgehalten habe!” Damit war die Diskussion zu Ende. Mit einem Krachen fiel die Tür ins Schloss. Hinterließ vor dieser eine aufgelöste Sakura, die nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte. Zitternd drückte sie ihr Kind mit dem einen Arm gegen ihren Körper. Wollte es beruhigen. Dabei musste sie selbst erst einmal zur Ruhe kommen. Verzweifelt schlug sie gegen die geschlossene Wohnungstüre. “Bitte, Ka-san...” Erstickt kamen diese Worte über ihre Lippen. Schnappte nach Luft. Heiße Tränen benetzten ihre Wangen. Schluchzer raubten ihr den Atem. Aber keine Reaktion. Die Tür blieb verschlossen. Erschöpft sank sie vor dem Holz auf die Knie. Weinte bitterlich. Blieb unerhört. Merkte nicht einmal einer der Leute hier in dem schäbigen Häuserblock, dass sie am Ende ihrer Kräfte war? Bemerkte nicht einer der Mieter in diesem Block, dass ihre Familie kaputt war? Sah niemand, dass sie kaputt vom Leben war? Zerfressen von Gefühlen? Anscheinend nicht... Sie war allein. Kaputt. Ausgezerrt. Am Ende mit ihren Kräften. Wie ein Blütenblatt fiel sie zu Boden. Blieb liegen. Wie unzählige Male davor. Sie würde einfach weiter mit der trostlosen Masse der Menschheit mitgezerrt werden und mehr an Farbe verlieren... Die Welt war und blieb Grau für das Leben dieser blühenden Kirschblüte. Kapitel 5: Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 3] ------------------------------------------------- Wie lange kann ein Mensch kämpfen? Wie lange hält der Körper, bis er ganz zerfällt? Wie lange lebt die Seele, ehe sie stirbt? Fragen über Fragen. Wenn ich nüchtern war, dann überschlugen sich meine Gedanken, doch auf Droge... da war alles anders. Die ganze Welt war anders. Selbst die Kerle, die für Geld einen Kinderkörper fickten. Ich war anders. Und solange ich anders war, war ich nicht gleich wie die Anderen… Die Schönheit der Kirschblüte [Teil 3] 03. November 2009 Es reichte nicht. Egal, wie oft sie es noch nachzählte. Wieder reichte es nicht! Wie viele Stunden musste sie denn noch länger arbeiten? Egal, wie lange sie arbeitete. Egal, wie viele schmierige Kerle sie an ihren Körper ließ, diesen immer mehr dadurch kaputt machte. Egal, wie viel Drogen sie nahm, damit sie nicht gänzlich dem Wahnsinn verfiel. Das Geld reichte einfach nicht! Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr. Aber sie musste! Sie zwang sich immer mehr dazu. Damit sie überleben konnte... Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Wütend fegte sie eine Tasse vom Tisch, welche scheppernd am Boden zerschellte. Ihr Atem war ein angestrengtes Keuchen. Übelkeit stieg in ihr auf. Hektisch schlug sie sich die Hand vor den Mund, eilte zum Mülleimer, würgte und übergab sich in diesen. Ihre Beine zitterten vor Erschöpfung. Sie knickte in sich zusammen, krallte sich an das schon abgeplatzte Plastik des Eimers. Versuchte Halt an diesem kleinen, wertlosen Stück Müll zu finden. Aber bekam keinen. Knackend brach nur ein weiteres Stück Kunststoff ab. Sie rutschte weg, kam schweratmend auf dem Boden zum Liegen. Kälte umfing ihren Körper, brachte diesen zum Erzittern. Die Kälte des Bodens kroch in ihr Inneres. Sie hatte keine Kraft mehr. Wie oft war sie schon zu Boden gefallen? Wie oft würde sie es noch schaffen wieder aufzustehen? Wann würde es endlich für alles ein Ende geben? Sie blieb liegen, versuchte den Schwindel zu bekämpfen, der ihre Orientierung zunichte machen wollte. Ihr war immer noch schlecht, während ein nerviges, penetrantes Pochen in ihrem Kopf ihr all die Konzentration nahm. Im Hintergrund hörte sie das laute Weinen ihrer kleinen Tochter, wie hinter einem Schleier. Es nervte sie. Sakura kniff die Augen zusammen, presste ihre Hände an ihre Ohren, sodass sie nur noch ein Rauschen hörte. Sie wollte die Geräusche alle ausblenden. Wollte, dass ihr Körper zur Ruhe kam. Ihre Atmung ging hektisch, versuchte sie mit aller noch aufbringbaren Konzentration diese zur Normalität zu bringen. Sie lauschte dem Atmen. Sie lauschte dem Rauschen ihres Blutes. Und zwischen den Melodien der Wellen hörte sie ihren eigenen Herzschlag. Laut, monoton und in einem schnellen Takt. Es schlug weiter. Als wäre nie etwas gewesen. Sie war immer noch nicht tot, dabei dachte sie, dass diese Dosis von gestern Abend ihr endgültig den Rest gegeben hatte. Sie lebte. Ein grausames Leben in Armut und mit Drogen... Zitternd löste sie ihre Hände von den Ohren. Mühsam und mit Schmerzen in den Gliedern, drehte sie sich auf den Rücken, steckte die Arme von sich. In ihren Augen brannten unvergossene Tränen, als sie die türkisen Iriden geöffnet hatte. Das grelle Weiß der Decke stach ihr schmerzhaft in den Augen. Die erste salzige Träne perlte wie ein heller Diamant von ihren Wimpern und rann über die Wange. Gefolgt von weiteren. Sie hasste ihr Leben. Sie hasste ihr Leben so sehr. Sie hasste die Drogen, welche sie nahm. Sie hasste die Arbeit auf dem Strich, die sie machte, um an Geld zu kommen. Und sie hasste sich selber. So sehr, dass sie sich manchmal wünschte, dass jede Dosis Heroin, die sie sich spritzte, die Letzte war. Sie hoffte so sehr, dass sie am nächsten Morgen nicht mit Kopf- und Gliederschmerzen, mit Übelkeit und Stimmungsschwankungen aufwachte. Sondern einfach nur liegen blieb. Einfach schlief und nie mehr ihre Augen öffnete... Warum hatte sie nicht schon längst ihren letzten Stich gesetzt? Sich eine Überdosis verabreicht? Bei diesen Gedanken hörte sie wieder das Weinen ihrer viermonatigen Tochter. Sarane... Es lag an ihrem Kind. Ihre kleine Tochter, welche sie immer wieder auf die Beine brachte. Immer wenn Sakura dachte, dass sie nicht mehr konnte, dass alles ein Ende hatte, dann brauchte sie nur in das kleine, blasse Gesicht des Mädchen sehen und schon keimte neue Kraft in ihr. Ihre Tochter zwang sie am Leben zu bleiben, ansonsten hätte sie vielleicht schon längst den letzten Schritt gemacht. Immer wenn sie dachte, sie musste sterben, sie konnte nicht mehr, sah sie das kleine, zerbrechliche Gesicht vor ihrem inneren Auge. Sehr oft wünschte sie sich, dass es dem nicht so wäre... “Ich hasse dich! Ich wollte dich doch gar nicht!” Ein herzzerreißendes Schluchzen kam über ihre Lippen. Ihr Körper wurde von Trauer überrannt und durchschüttelt. Eine Leere fraß sich in ihren Magen, ließ diesen sich schmerzhaft zusammenziehen. Kälte umschloss ihr Herz. Zerdrückte dieses. Aber immer noch war es nicht entzwei. Es schlug weiter. Tapfer und mit aller Kraft, die es noch hatte und aufbringen konnte. Es kämpfte. Sakura kämpfte. Jeden Tag, nur um das nackte Überleben. Sie kämpfte. Sie verlor. Aber sie schaffte es immer wieder sich aufzurichten. Hastig wischte sie sich die Tränen von den Wangen, schniefte einmal laut auf. Wie lange würde sie noch die Kraft haben? Wie lange würde sie noch kämpfen können? Wie oft würde sie es schaffen noch aufstehen zu können? Würde sie irgendwann aufgeben? Dann wäre alles umsonst gewesen. Sie musste weiterkämpfen. Kämpfen. - Aufstehen. - Überleben. - Stark sein. Es war so schwer... Schließlich war sie doch auch nur ein Kind. Manchmal wünschte sie sich ein anderes Leben. Ohne all diese Qual. Manchmal wünschte sie sich, einfach nur Kind sein zu können. Aber unmöglich. Dieser Wunsch würde immer nur ein kleiner Teil ihrer Sehnsucht bleiben. Ein Traum. - Naives Wunschdenken. - Sie war und blieb ein Kind. Ein Kind, dass erwachsen werden und sein musste. Ein Kind, dass für die Liebe des eigenen Kindes die Hölle durchwanderte. Ein Kind, dass sich verzweifelt an die Hoffnung und die geborgene Wärme und Liebe der eigenen Tochter krallte... ~*~*~ Ihre Augen stumpf vor Trauer, stand sie an dem großen Pappkarton, in dem ihre kleine Tochter lag. Eingekuschelt in vielen Kissen und einigen Kuscheltieren, die sie beim Einkaufen oder wenn sie in der Stadt war, manchmal von einigen Leuten geschenkt bekam. Für ein Kinderbett reichte das Geld einfach nicht. Zitternd rückte sie eines der Tierchen zurecht, hoffte damit ihre ruhig schlafende Tochter nicht zu wecken. Beneidete das Kind, dass es jetzt ruhig schlafen konnte, während sie sich für ihre ‘Arbeit’ vorbereiten musste. Für einen Moment betrachtete sie das entspannte Gesicht des Mädchens. Es beruhigte ein wenig ihr Inneres. Zeigte ihr damit noch einmal, warum sie so hart kämpfte. Vor allem für was. Aber diese Ruhe dauerte nicht lange an. Sie seufzte müde, bevor sich eines der seltenen und warmen Lächeln auf ihre Lippen legte, während Tränen über ihre Wangen liefen. Tränen der Angst, Trauer und des Leides. Sie wand sich ab, biss sich auf die Unterlippe. Unterdrückte ein Schluchzen. Die Hand fest gegen ihre linke Brust gepresst. Träge schlug ihr Herz. Zeigte ihr, dass sie noch lebte. Stark bleiben. Sie musste stark bleiben. Für ihre Tochter und für sich selber. Auch wenn es schwer war. Langsamen Schrittes ging sie ins Badezimmer, zog unterwegs ihre Trainingsklamotten aus, die sie immer in der Wohnung trug. Einfach, damit sie sich wenigstens ein wenig freier fühlte, auch wenn es nur sehr gering war. Vor dem Spiegel blieb sie stehen, betrachtete die dunkelroten, fast blauen Abdrücke auf ihren Oberarmen. Zitternd strich sie über diese, spürte einen pochenden Schmerz bei der Berührung und erinnerte sich unweigerlich daran, wie diese Verletzungen entstanden waren. Nicht daran denken, versuchte sie sich einzureden. Schnell wandte sie den Blick vom Spiegel ab und zog sich gänzlich aus. Nackt stand sie auf den kalten Fliesen, bemerkte schnell, wie sich ihr Körper ein wenig abkühlte. Den Blick in die Badewanne gerichtet. Ein Schatten legte sich über ihre Iriden. Ekel umfasste ihr kleines Herz. Ekel auf das, was sie sah und tun würde. Glänzend lag das Besteck - durch die leicht flackernde Glühbirne an der Decke - in der Wanne. Grinste sie von dort aus höhnisch an. Verspottete sie, da es so viel Macht über sie besaß. Da es sie kontrollierte. Ihr Leben bestimmte und es Stich für Stich immer mehr kaputt machte. Zitternd griff sie nach der Spritze, umschloss diese mit ihrer zerbrechlichen Hand. Umschloss das kalte Glas dieser. Drückte zu. Krallte sich daran. Wie gerne würde sie das Glas in ihren Fingern zum Zerspringen bringen? Es zerdrücken? Ihm den Rest geben? Aber sie brauchte es. Sie brauchte es so sehr, dass sie nicht anders konnte. Ansonsten würde sie endgültig zerbrechen und dem Wahnsinn verfallen. Zögerlich legte sie die Spritze zurück und setzte sich auf den Wannenrand. Den Blick gegen Boden gerichtet, zögerte sie die Zeit hinaus, welche sie nicht hatte. Sie durfte keine Zeit verlieren. Zeit war Geld und ihres war knapp. Ihre linke Hand zitterte, als sie sich all ihre Utensilien nahm und mit denen in den Wohn- und Schlafraum ging. Sie gab sich immer nackt den Schuss. Sie fühlte sich freier. Fühlte weniger Lasten auf und an ihrem Körper. Nur die Lasten in ihrem Inneren verschwanden mit der Nacktheit nicht. Zitternd steckte sie die zweiteilige Herdplatte an die Steckdose. Einen richtigen Herd besaß sie nicht, aber dieses zweiteilige Ding machte seine Arbeit. Sie prüfte noch einmal ihr Besteck, ob es wirklich auch gründlich sauber war. Ihre Nadeln, Spritzen, Zigarettenfilter. Schnell betrachtete sie ihren linken Arm. Fuhr zittrig mit den Fingerspitzen über die Innenseite der Ellenbeuge. Spürte den Einstich ihrer letzten Injektion. Schnell betrachtete sie ihren anderen Arm. Fuhr auch dort über die selbe Stelle wie auf dem Linken. Hier war die Einstichstelle schon ein wenig verheilt. Ihre Lider senkten sich. Sie musste ihren Schuss genau und gezielt ansetzen. Die Bilder auf dem Strich von den Mädchen, die an HIV, Pilzen oder Hepatitis zugrunde gegangen waren, gingen ihr heute immer noch nicht aus dem Kopf. Sie nahm sich die Flasche mit dem Desinfektionsspray und sprühte ein wenig auf die rechte Elle. Damit wollte sie die Entstehung von Abszessen - eitrigen Entzündungen unter der Haut - verhindern. Ansonsten könnte es passieren, dass sie an einer Blutvergiftung starb. Das wollte sie auf keinen Fall. Gründlich reinigte sie ihre spätere Einstichstelle. In der Zeit stellte sie die eine Herdplatte an. Zitternd legte sie den Metalllöffel auf die Herdplatte. Ließ diesen sich erwärmen. Später würde sie diesen mit dem gelösten Heroin mit einem trockenen Tuch in die Hand nehmen. Schließlich würde der Löffel nach dem Erhitzen kochendheiß sein. Sie füllte ein wenig stilles Mineralwasser hinein. Gab auch das weiße Pulver dazu. Bemerkte, dass ihr Stoff sich dem Ende neigte. Sie brauchte dringend neuen. Damit das Heroin später zu einer flüssigen Lösung wurde, musste sie einige Spritzer Zitronensäure dazugeben. Ein müdes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sakura selbst hatte sich in der Anfangszeit auf den Strich nur von Ecstasy über Wasser halten können. Sie kam erst vor knapp drei Monaten auf Heroin zu sprechen. Sie erinnerte sich an ihren ersten Einstich. Damals hatte den ersten Stich eine ‘Freundin’ auf dem Strich für sie gemacht. Heute war diese ‘Freundin’ schon seit einigen Wochen an HIV gestorben. Aber sie trauerte ihr nicht nach. Wusste sie nicht einmal mehr, wie das Gesicht dieses Mädchens aussah. Sie hatte es einfach vergessen. Oder verdrängt, dass konnte sie jetzt nicht beurteilen. Es war auch egal. Die Lösung begann zu sieden. Zögerlich nahm sie den Löffel mit einem Tuch von der Herdplatte und stellte diese aus. Den Metalllöffel legte sie auf dem Tisch ab. Zur Sicherheit drückte sie einen Zigarettenfilter an die Öffnung der Pumpe, ehe sie die aufgekochte Mixtur in diese aufzog. Das Glas der Spritze erwärmte sich. Es fühlte sich angenehm in ihrer kalten Hand an. So warm und geborgen. Und vertraut. Sie hasste es! Sie steckte die Nadel an die Pumpe. Betrachtete alles noch einmal genau. Suchte ihre desinfizierte Einstichstelle, säuberte diese noch einmal gründlich. Zitternd setzte sie die Spritze an. Verharrte in der Stellung. Sie wusste, dass dieser Stoff sie alles vergessen lassen würde. Dass er sie aus ihrem wirklichen Leben riss und in das einer anderen steckte. Das als Hure auf dem Strich. Es würde ihre Arbeit erträglicher machen. Ihren Körper schmerzfreier. Sie wusste, dass damit die Freier nur ihren Körper fickten und nicht ihre Seele. Ihre Seele würde rein bleiben, während der Körper beschmutzt wurde. Aber genauso wusste sie, dass diese Drogen alles in ihr kaputt machen würden. Noch mehr, als sie es schon ohne hin war... Sakura stieß laut die Luft aus ihren Lungen, ehe sie die Nadel in die Einstichstelle drückte. Die Stelle schimmerte schon leicht blau. Der Fleck würde vielleicht ewig bleiben. Genauso wie am linken Arm. Langsam und mit Ruhe. Sie wollte keine Schmerzen. Sie wollte nicht, dass irgendeine Vene platzte oder riss. Sie drückte den Stoff in ihre Blutbahn. Blieb noch einen Moment so sitzen, damit wirklich auch der letzte Rest aus der Spritze in ihrem Körper war. Bebend zog sie die Nadel aus der Haut und drückte ein sauberes Stofftaschentuch auf die blutende Stelle. Sie betrachtete noch einmal ihr Besteck. Schmutzig. Unrein. Sie konnte es nicht noch einmal verwenden. Zitternd warf sie das Zeug in den Mülleimer. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe die Wirkung einsetzte. Ein berauschendes Gefühl durchströmte ihren Körper. Ließ diesen sich schwerelos und leicht anfühlen. Ein vertrautes Gefühl, wie bei jeder Dosis, welche sie sich spritzte. So vertraut, dass sie manchmal die Angst verspürte, dass sie die Kontrolle verlor und sich eine Überdosis spritzte. Auch wenn sie es sich schon sehr oft gewünscht hatte... Zitternd stand sie auf, taumelte leicht, kam aber zum festen Stand. Gewohnheit. Instinkt. Sie wusste es schon lange nicht mehr. Aber es war egal. Nicht mehr lange und der Rausch würde alle ihre Sinne vernebeln. Würde ihren Kopf frei machen von Sorgen, Gedanken und Gefühlen. Sie war am Ende ein Schatten ihrer selbst. Ein leerer Körper, geführt an dünnen Drahtseilen in den Händen eines Mannes. Der sie steuerte. Mit ihr machte, was er wollte. Sie würde sich nicht einmal mehr wehren. Das wäre sinnlos. Es wäre kontraproduktiv für ihre Arbeit. Sie brauchte das Geld. Zeit verstrich. Sie verschwand noch einmal im Badezimmer. Zwängte sich in hautenge Klamotten, die ihre flache Brust ein wenig betonen sollte. Schnell war noch ein wenig Schminke angelegt. Die Lippen betont. Die Augen hervorgehoben. Ein liebliches Lächeln auf den Lippen. Eine kleine Hängetasche auf der Schulter. Das rosane Haar leicht gelockt auf den Schultern liegend. Bereit für den Kampf der Straße. Bereit all ihren Stolz zu schlucken. Sie hatte sich für diesen Weg entschieden. Sie würde diesen Weg gehen. Sie verließ das Badezimmer, schritt noch einmal an das ‘Bett’ ihrer Tochter. “Sei ein liebes Mädchen, ja?” Leicht beugte sie sich über das Kind, gab diesem einen seichten Kuss auf die Stirn. Tankte damit selber neue Kraft. Zeigte sich damit selber, warum sie diese ganze Qual auf sich nahm. Sie brauchte etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Sie hätte etwas, wofür sie kämpfte. Sie musste stark sein. Für ihre Tochter... für sich. Schnell wandte sie sich ab, schritt aus der Wohnung in Richtung Rotlichtviertel. Es dauerte nicht lange, ehe sie mit den grauen Massen der Menschheit auf der Straße verschmolz. Sie selber zu einer der grauen Mäuse wurde, wie viele vor ihr. Sie selber ein Schatten wurde, wie viele vor ihr. Sie kämpfte einen Kampf, den sie nur verlieren würde, wenn sie sich selber verlor... ~*~*~ “Was?! 17.600 Yen [1]?! Nur für ein Gramm Heroin?! Du spinnst doch! Vorgestern war es noch nicht so viel!” Sauer umklammerte Sakura den Träger ihrer kleinen Handtasche. Ihr Ticker hatte sie doch nicht mehr alle! Der Preis von Heroin war fast um die Hälfte gestiegen! Ihre Puppillen waren leicht geweitet und ihre Aussprache klang ein wenig undeutlich. Aber ihre Wut konnte man ihr sichtlich ansehen. Die türkisen Augen zu Schlitzen verengt. Die Stirn kraus in Falten gelegt. 17.600 Yen... Wo sollte sie dieses Geld herbekommen? Normalerweise bezahlte sie nur 12.400 Yen [2]. Plötzlich wurde sie grob am Oberarm gepackt und gegen die verschimmelte, nasse Wand des Zimmers gedrückt. Sie musste aufpassen, dass ihre Kleidung nicht dreckig wurde. Das würde sicherlich einige Kunden verschrecken, wenn sie keine saubere Kleidung trug. Der Griff wurde fester. Das merkte sie nur daran, da die Haut mehr zusammengedrückt wurde. Sie fühlte keinen Schmerz. Ihr Körper war wie taub. Ihre Seele wie tot. Sie seufzte erschöpft, blickte in die dunklen Augen ihres Tickers. Ein süffisantes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ihre Hand legte sich auf die Brust des Mannes. Die Augen zu Boden gerichtet und unschuldig dreinschauend schabte sie leise mit ihren Absatzschuhen. Ihre Finger malten Kreise auf der Brust ihres Gegenübers. Umkreisten die Stellen an den Brustwarzen und strichen zärtlich um diese. Zwickten leicht hinein, nur um erneut ziellos darüber zu streicheln. “Wie wär’s? 12.400 Yen für ein Gramm und du bekommst einen kostlosen Fick mit Blow-Job. Mh?” Sie strich weitere Kreise auf der Brust. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihren Körper anbot, damit sie die Schulden für die Drogen bei ihrem Ticker bezahlen konnte. Schließlich besorgte der Typ ihr den Stoff und auch einige Kunden. Der Griff lockerte sich. Sie ließ kurz ihre Schultern kreisen, damit ihre Arme wieder Entspannung bekamen. Ihr Gegenüber lachte rau auf. “Du elendige, kleine Schlampe. Aber abgemacht. Du weißt ja, wie ich es mag.” Sakura nickte gehorsam. Ihr Ticker bewegte sich von ihr weg und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Die Beine breitbeinig, saß er dort und starrte sie aus lüsternen Augen an. Es war nichts Neues für sie. Sie wurde von allen mit solchen Augen angesehen. Das war Standard auf dem Babystrich. Oder Drogenstrich, wie man es nun nennen wollte. Es war ihr egal, wie man sie ansah. Hauptsache, die Bezahlung stimmte. Ziellos strich sie über den engen Stoff ihrer Kleidung. Ein gespieltes Stöhnen verließ ihre Lippen, als sie einen ihrer Nippel stimulierte. Sie wusste, was ihr Gegenüber wollte. Erst sollte sie sich selber heißmachen, bis sie fast kam. Dann würde sie ihm einen blasen müssen. Mit der Hitze, die durch ihrer Erregung in ihren Körper herrschte. Und am Ende würde er sie von hinten ficken. Grob und hart. Sie wollte das manchmal nicht, aber sie musste. Sie brauchte die Drogen. Sie brauchte sie, um nicht endgültig wahnsinnig zu werden. Zwar war ihr Kopf durch den Stoff vernebelt, aber sie nahm noch einiges aus ihrer Umgebung wahr. Nur konnte sie sich nie auf das konzentrieren, was man gerade mit ihr anstellte. Sie war dann mit den Gedanken meist weit woanders. Abgedriftet in ihre Welt. In ihre Vorstellungen. Und sie spürte kaum, bis fast keine Schmerzen. Das war das Gute an der Sache. Ansonsten wäre sie sicherlich schon längst verrückt geworden. Rittlings setzte sie sich auf seinen Schoß und rieb sich an dem Jeansstoff der abgenutzten Hose. Sie brauchte die Drogen. Sie brauchte das Geld. Immer wieder trieb sie dieser Gedanke an. Sie brauchte das Geld für ihre kleine Tochter, welche jetzt zu Hause lieb schlief und nicht wusste, was ihre Mutter in diesen Stunden machte. Was sie in diesen Stunden durchstehen musste... ~*~*~ Seufzend stieg sie aus dem Auto aus und zupfte sich ihren kurzen Rock zurecht. Schnell gab sie dem Freier einen leichten Kuss auf die Wange und verabschiedete sich mit einem lieblichen Lächeln von ihm. “Du warst unglaublich. Ich habe mich wie bei meinem ersten Mal gefühlt. Du kannst gerne mal wieder kommen.” Leise hauchte sie ihm die Wörter entgegen. Natürlich war alles gelogen. Es war nichts anderes, als wie bei jedem anderen Typen gewesen. Nichts Besonderes, was sie unbedingt in Erinnerung behalten würde. Morgen hätte sie sicherlich wieder das Gesicht und den Namen vergessen, welchen sie so lustvoll stöhnen sollte. Und in Wirklichkeit wollte Sakura das alles nicht, aber diesen Satz sagte sie zu fast jeden Mann. Es war wie ein Standard, um ihre Arbeit abzurunden. Genauso wie der Satz: “Mach mit mir, was du willst. Ich bin eine richtige wilde Bestie!” Der Motor heulte auf und der Wagen fuhr wieder fort. Erschöpft seufzend strich sie sich ihr rosafarbene Haar aus dem Gesicht. Sie war müde. Ihr war kalt. Ihre Glieder fühlten sich Schritt für Schritt immer schwerer an. Der Rausch der Droge verflog immer mehr. Bald müsste sie sich Nachschub versetzen. Am besten jetzt sofort, ehe die ersten schlimmen Nachwirkungen eintrafen. Danach könnte sie wieder einige Stunden arbeiten. Zitternd drückte sie sich ihre Tasche an den Körper, damit ihr diese niemand klauen konnte. Man wusste nie, welcher Idiot sie anpacken würde, um ihr die Tasche zu entwenden. Schließlich waren dort ihre Drogen und ihr hartverdientes Geld drin. Ein kalter Wind wehte auf. Wirbelte ihr Haar durcheinander. Sie strich immer wieder fahrig einige Strähnen aus dem Gesicht. Die Neonlichter der Reklametafeln strahlten unheilvoll auf sie herab. Der kühle Novemberwind heulte durch die leeren Gassen. Riss hier und da einige kleinere Blechdosen oder Glasflaschen um, die klirrend oder scheppernd zu Boden fielen. Einige Papierfetzen von Flyern oder Zeitungen wurden in die Luft gehoben. Ein weiter Schatten breitete sich auf den Steinwänden der alten Häuserblöcke aus. Vermischte sich mit ihrem eigenen. Es roch widerlich nach Urin und anderen Fäkalien. Aber sie war es gewohnt.... Sakura ging jeden Tag diese Strecke entlang. Es war wie eine Abkürzung, um schnell bei sich zu Hause anzukommen. Und dennoch verspürte sie immer wieder dieses unangenehme Gefühl in ihrem Inneren. Angst... Angst vor dem Unbekannten. Die Wege waren vertraut. Die Wände und Gassen bekannt. Und dennoch fühlte sie sich jedes Mal an, als würde sie durch unbekanntes Territorium wandern. Zwanghaft versuchte sie sich da immer auf etwas anderes zu fixieren. Meistens auf ihre Tochter. Was sie wohl gerade machte? Sicherlich lieb schlafen und leise sein, wie es ihre Mutter gebeten hatte. Sarane war wirklich ein liebes Mädchen. Hätte sie früher auch so lieb sein müssen, damit ihre Mutter sie vielleicht mal in den Arm nahm? Sicherlich... Ehe Sakura in der Vergangenheit versinken konnte, rissen sie einige dunkle Stimmen aus ihren dunklen Gedanken. “Bist wohl schüchtern, mh? Das gefällt mir.” Skeptisch zog sie die Augenbrauen zusammen. Zwei Typen und ein Mädchen, das sie in diesen Gassen noch nie gesehen hatte. Die Kleine sah auch nicht aus, als wäre sie vom Strich. Sie spürte so etwas sofort. Alle Huren und Schlampen hatten eine gewisse Ausstrahlung. Das gewisse Etwas. Dass sie die Macht über den Mann hatten, ihn einfach widerstandslos um den Finger wickeln zu können. Mindestens die Mädchen und wenigen Jungs, welche sie kannte. Aber diesem Mädchen fehlte es strickt und einfach an Mut, an Selbstbewusstsein, um überhaupt solch einen Beruf auszuführen. Sie kam näher auf die drei Gestalten zu. Sie stolzierte mit der Eleganz und dem Stolz eines Schwanes auf sie zu. “Wollt ihr wirklich dieses kleine, schüchterne Mäuschen haben? Wie wäre es mit einer wilden Bestie wie mir? Ich würde für euch sogar einen Sonderrabatt geben. Ihr beide zusammen im Preis von einem. Wie wäre das?” Ja, Mauerblümchen. Das war dieses Mädchen wirklich. Obwohl... Sakura betrachtete sie genauer. das Haar in einem dunklen, blauen Ton mit einigen hellen Schimmern drin. Sie erkannte es nur schwer, aber dennoch bemerkte sie, wie einige Haarspitzen leicht zitterten. Das Mädchen musste entsetzliche Angst verspüren. Sie schaute in die lavendelfarbenden Augen, welche sich sofort von ihrem Blick abwandten. Schüchtern. Das war das Erste, was ihr dazu einfiel. Plötzlich weitete sich ihre Augen. Sie kannte dieses Mädchen! Zumindestens vom Sehen her. Nur wollte sich ihr Verstand nicht genau erinnern, wann und wo sie diese gesehen hatte. Aber diese schüchtere Haltung hatte sich schon einmal gesehen. Lange war es her. War sie da nicht noch mit ihrem ‘Freund’ zusammen gewesen? Sie glaubte es, aber sicher war sie sich nicht. Ein Kribbeln breitete sich auf ihren Armen aus. Eine Gänsehaut überzog diese. Ein leichter Rosaschimmer legte sich auf ihre Wangen. Das hatte sie noch nie erlebt oder verspürt. Geschweige denn gedacht. Sie konnte ihren Gegenüber nur mit diesem Satz beschreiben: Dieses Mädchen war wie eine Orchidee in der weiten Wüste. Eine kleine Knospe, die zu einer prachtvollen Blüte heranwachsen würde. Leicht wandte sie die Augen ab, schritt aber immer noch erhobenen Hauptes und mit selbstsicherem Auftreten auf die beiden Männer zu. Ihren Blick aber immer weiter auf die Blauhaarige gerichtet. Sie musste verschwinden. Sie gehörte nicht hierher. Sakura drückte sich dem einen Mann entgegen und schmiegte sich gespielt liebreizend gegen diesen. Ihr Knie rieb sie an dessen Schritt. Geilte in damit auf. Somit war die Chance größer, dass man ihr mehr Beachtung schenkte. Dass sie ihn um den Finger wickeln konnte. Der Gedanke daran, dass sie eigentlich schnell Heim wollte, um sich neuen Stoff zu injizieren, war längst vergessen. Ihre Gedanken drehten nur noch darum, wie sie dieses Mädchen von hier losbekam. Es gehörte einfach nicht hierher. Mit in dieses Geschäft voller Demütigung, Schmerz, Schmutz, dem Geld und die schädlichen Drogen. Sie war doch noch so unschuldig. So unbefleckt. Sie hatte noch die Reinheit einer weißen Blüte und die Scheu eines Rehes. Mit einem Handzeichen deutete sie dem Mädchen an, dass sie nun endlich verschwinden konnte. Wohlig seufzte sie auf, als der zweite Typ sie grob an die Oberweite anpackte. “Angebot wird angenommen. Wir zwei zum Preis von 7.500 Yen [3].” Sie nickte nur. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Ihr Körper erzitterte kurz. Sie spürte ein Brennen in ihrem Inneren. Bemerkte, wie der beruhigende Rausch der Drogen nachließ. Wie ihr Kopf schwerer und voller von Gedanken und Gefühlen wurde. Sie brauchte neuen Stoff, konnte aber jetzt auch nicht die beiden Typen einfach so abwimmeln. Schließlich brauchte sie auch das Geld. Aber clean ficken lassen konnte sie sich auch nicht. Es würde sie wahnsinnig machen. Sie wollte somit nicht noch mehr ihre Seele kaputt machen. Anscheinend musste sie sich schnell auf einer der widerlichen und verdreckten, öffentlichen Toiletten einen Stich setzen. Ihr blieb nichts anderes übrig. Das war eben das Leben auf der Straße... Dreckig. Schmutzig. Schmerzhaft. Und voller Lügen... ~*~*~ Keuchend kam Sakura zu Hause an. Krampfhaft hielt sie sich ihren rechten Arm fest. Bei ihrem letzten Stich hatte sie sich eine ihrer Arterien zerstochen, da sie sich beeilen musste. Es schmerzte fürchterlich, auch wenn schon seit dem letzten Mal injizieren zwei Stunden vergangen waren. Ihr Körper schmerzte. Ihr war schwindlig. Ihr war schlecht. Sie öffnete die Haustür. Das Klimpern der Schlüssel hallte laut in ihren Ohren wider. Sie wollte das nicht hören. Es erinnerte sie zu sehr an das Rasseln von Ketten. Stahlketten, die sich immer enger um ihren Körper schnürten. Sie nahmen ihr die Luft zum Atmen. Sie nahmen ihr den Raum zum Leben. Sie wollte nicht gefangen sein. Fühlte sie sich da doch immer wieder so wehr- und hilflos. So gefangen vom Leben. Sakura betrat die stickigen Hausflure mit den vielen Graffiti an der Wand. Sie starrte die Zeichnungen und Schiftzeichen genauer an. Parolen gegen Ausländer. Vereinzelte Handynummern von verzweifelten Mädchen, die so sehr nach ihrer großen Liebe suchten. Ihre stand nicht dabei. Wusste sie doch, dass es die große Liebe niemals gab. Erfahrung. Sie würde ewig allein bleiben mit ihrem Kind. Allein die Ereignisse auf der Straße als Hure erleben. Niemanden, mit dem sie ihre Erlebnisse oder Erfahrung austauschen oder teilen konnte. Ihre Sicht verschwamm. Die Bilder und Schriftzüge vor ihren Augen waren nur noch bunte Gebilde, die für sie keinen Sinn ergaben. Für einen Moment drehte sich alles vor ihr. Ihr war noch schlechter. So schlecht... Hektisch schlug sie die Hand vor den Mund. Aber es half nichts. Sie würgte. Erbrach sich mitten auf den Stufen, welche sie nur schwankend und mit viel Mühe erklimmen konnte. Gelb und zähflüssig im Licht der kleinen Glühbirne an der Wand über dem Lichtschalter und den Klingelknöpfen. Egal... Ob nun der betrunkene Nachbar vor seine Haustür pisste oder sie sich hier mitten auf den Treppen erbrach, machte in ihren Augen keinen Unterschied. Später würde sie es einfach aufwischen. Zum Glück hatte sie sich nicht auf den Fußabtretern einer der Mieter im Haus übergeben. Es wäre eine schwierige Sache gewesen, den Gestank wieder aus den Teppich zu waschen. Aber dennoch war es ihr irgendwie peinlich... Sie kam sich in solchen Momenten richtig erbärmlich vor. Schwankend lief sie die Stufen weiter. Sie musste sich am Geländer festkrallen, um nicht ihren Halt zu verlieren. Sie fühlte sich miserabel an. Brauchte dringend ihren nächsten Schuss, ehe sich die Schmerzen verschlimmerten. Ehe sich ihr Körper verkrampfte. Ehe alle Probleme, Gedanken und Gefühle über sie hereinbrachen. Wieder klimperte ihr Schlüssel, erklang unheimlich laut in ihren Ohren. Zitternd streckte sie das Metall gegen das Türschloss. Wollte soeben den Schlüssel in diesen versenken, als sie ein Rascheln von Papier zusammenzucken ließ. Erschrocken wandte sie sich um. An die Wand gelehnt stand ein Mann. Mittleres Alter, aber schon graues Haar. Oder war es eher ein silbriger Ton? Sie konnte es nicht ganz erkennen. Wieder raschelte eine Seite von dem Schmöker, die ihr Gegenüber las. Sie sagte nichts dazu. Konnte ihr doch auch egal sein, warum dieser Typ hier mitten im Gang sein Buch las und nicht zu Hause im warmen Zimmer. Sie versuchte wieder den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Zitterte aber so sehr, dass sie alles immer mehr zerkratzte. Sie fluchte. Ihr war egal, dass der Typ das Ausmaß ihres vulgären Wortschatzes im vollen Maße mithören konnte. Sie bemerkte, wie sie immer mehr aggressiver wurde. Wie immer mehr Schmerzen über sie herein brachen. Ihren Körper lähmten. Wie der Rausch der Drogen fast gänzlich verflog. Sie wollte gerade den Schlüssel in eine Ecke schmeißen und sich verkrampft auf den Boden fallen lassen, als sie es endlich schaffte das Schloss zu treffen und aufzuschließen. “Wilde Kirschblüte? Oder doch lieber Sakura Haruno?” Erschrocken zuckte sie zusammen, als man sie bei ihrem Spitznamen auf dem Strich ansprach. Sie wandte ihren Blick zu den Typen. Das Rascheln einer weiteren Buchseite ertönte. Was sollte sie machen? Einfach die Türe schließen und den Mann ignorieren? Wer war dieser überhaupt, dass er ihren Namen und ihre Adresse kannte?! Panik stieg in ihr auf und umklammerte ihren Nacken. Ließ ihre Härchen aufrecht stehen. Eine Gänsehaut überzog ihre schweren, schmerzhaften Arme. Ihre Schultern bebten. Sie wollte schreien. Aber kein Ton würde über ihre trockenen Lippen kommen. Höchstens ein heißeres Krächzen. Ihr war wieder schlecht. Sicherlich musste sie sich noch einmal übergeben. Was war, wenn der Typ von irgendwo herkam und sie kontrollierte? Wenn es ein Polizist war? Schließlich hatte sie fast noch ein Gramm Heroin in ihrer Tasche. Oder ihr vielleicht noch Sarane wegnahm? Das konnte sie nicht zulassen. Sie wollte in ihre Wohnung huschen, als die dunkle Stimme sie noch einmal aufhielt. “18.000 Yen [4] und du lässt mich in deine Wohnung und wir reden in Ruhe über alles. Du kannst dir gerne auch noch vorher etwas einwerfen oder injizieren.” Der Mann sah nicht von seinem Buch auf, las einfach gemütlich weiter. Sie konnte seine Lippen nicht erkennen, da diese von einem dunklen Schal verdeckt waren. Über dem rechten Auge zog sich eine breite, lange Narbe. Mehr wollte sie auch nicht sehen. Es reichte ihr vollkommen. 18.000 Yen. Das war eine Menge Geld. Damit würde sie sicherlich weit kommen. Zumindest für ein Gramm Heroin reichte das Geld. Wenn der Preis nicht wieder stieg. Skepsis stieg in ihr auf. Wer bezahlte solch eine Stange, nur um zu reden? Sie zuckte mit den Schultern. Sie bekam eine Stange Geld, ohne dafür die Beine breit zu machen. Besser konnte sie es nicht haben und das Geld brauchte sie. Zitternd neigte sie den Kopf zur Seite. Deutete damit an, dass der Mann eintreten sollte. Sie selbst trat ebenfalls ein. Lief langsam durch den Flur. Eine Gewohnheit von zu Hause noch. Immer wenn sie Heim kam, war sie durch den Flur geschlichen. Die Angst, ihre Mutter konnte sie hören und sie wieder schlagen war groß. Die Furcht bestimmte immer wieder den Laut und das Tempo ihrer Schritte. Je größer, desto leiser und schneller war sie. Es war immer wie in einem Horrortrip. Dabei wohnte sie gar nicht mehr zu Hause. Ihre Mutter war auch nicht hier. Aber dennoch verschwand dieses Angst nicht. Ihre Füße trugen sie automatisch in den kleinen Wohn- und Schlafraum. Ihr Besucher hatte sich auf ihrer schäbigen Matratze, welche als Bett diente, niedergelassen und schmökerte weiter in dem Buch. Wirklich merkwürdig. Schließlich wollte er mit ihr reden und sie nicht mit ihm. Sie ging an das ‘Bett’ ihrer Tochter. Strich der Schlafenden zärtlich über das Köpfchen. Ihre Hand zitterte. Begann schon mit Schwitzen. Sie brauchte dringend ihren nächsten Schuss. “Ist das dein Kind?” Erschrocken zuckte sie zusammen. Wieder raschelte Papier auf. Sie antwortete nicht. Schwieg. War manchmal besser so, bei solchen Fragen. Sie hatte gelernt bei Fragen zu ihrer Familie einfach zu schweigen. Stille durchschnitt die dicke Luft im Raum. “Willst du dir nicht noch irgendwas einwerfen oder injizieren?” Sakura schüttelte den Kopf. Sie brauchte einen klaren Kopf. Sie musste bei klarem Verstand bleiben. Drogen würden ihre Konzentration kaputt machen. Würden sie einlullen und unachtsam werden lassen. Außerdem war ihr Besteck noch verschmutzt. Sie müsste es erst reinigen und das würde Zeit verbrauchen. Dann doch lieber die Nachwirkungen der Drogen, als an irgendeiner Krankheit zu sterben. Wieder raschelte Papier. Erneute Stille. Wieder warten. Es nervte sie. Es zerrte an ihrer Geduld. An ihrer Kraft. “Ich fass mich kurz...” Die Stimme des Mannes klang ernst. Und sehr dunkel und rau. Das fiel ihr erst jetzt auf. Aber war es doch egal. Sie wollte nur wissen, was er mit ihr zu besprechen hatte. “Mein Name ist Hatake Kakashi. Ein guter Freund hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich ein sehr junges Mädchen wie du auf dem Babystrich einen Namen erkauft.” Sie zuckte mit den Schultern. Na und. Da war sie halt eine der jüngsten Huren hier auf dem Strich. War ihr doch egal. Sie brauchte nur das Geld. Es interessierte sie einen Dreck, ob sie sich nun damit einen Namen oder Rang erkaufte oder nicht. Solange Geld und Drogen da waren, war alles in Ordnung und Unwichtiges egal. Eine Welle voller Schmerz ließ ihren Körper verkrampfen. Sie sackte zu Boden. Umklammerte ihren Bauch. Ihr war wieder so schlecht. “Willst du nicht lieber—“ ”Halt deine verdammte Fresse und komm zum Punkt!” Überrascht riss sie die Augen auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie war immer wieder so aggressiv nach einer verflogenen Dosis Heroin. Sie schrie. Wütete. Oder schlug Sachen kaputt. Früher hatte ihre Mutter immer alle Aggressionen an ihr ausgelassen. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte Sarane einfach kein Haar krümmen. Wenn der Kleinen etwas passierte, hätte ihr Leben keinen Sinn mehr. Sie hätte keinen Grund mehr zum Weiterkämpfen... Aber sie wollte leben und das für ihre Tochter. Ihr Körper erbebte. Sie hauchte eine tonloses “Gomen” und wandte den Blick ab. Auf das Gesicht ihrer Tochter. Versuchte damit zur Ruhe zu kommen. Versuchte damit alle negativen Gedanken abzuschütteln. “Du wohnst hier mit deiner Tochter allein. Gehst auf den Strich und nimmst Drogen, um über die Runden zu kommen. Dein Leben ist erbärmlich und grauenvoll. Stimmt’s?” Sie schwieg. Was sollte sie ansonsten auch dazu sagen? Es war die Wahrheit. Sie selbst hatte alles so doch auch gesehen. Es war ihr Leben. Ihr Alltag, der zur Routine wurde. Jeden Tag hatte sie sich dieses Leben immer wieder vor gehalten. Hatte gesagt: “Ha, schau welches schreckliche Schicksal dir widerfährt. Kami muss dich wirklich sehr hassen...” Aber aus dem Munde eines anderen klang es so, als wäre ihr ganzes Leben eine Lüge gewesen. Eine Lüge, die sie sich selber gesponnen hatte. Ein Leben, was sie sich selber kaputt gemacht hatte. Waren es Vorwürfe, welche sie da heraushörte? Sie erkannte es nicht. Was hätte sie denn sonst machen sollen? Sie wusste es doch nicht! Man hatte sie einfach so mit diesem Balg in die kalte Welt gestoßen... “Als wenn du was wüsstest...” Leise kamen die Worte über ihre Lippen. Kaum hörbar. Sie wollte auch nicht, dass es der Andere verstand. “Warum bist du nicht zu jemanden gegangen, der dir hilft? Es gibt viele Anstalten wo jungen Müttern geholfen werden, die selber noch Kinder sind.” Wieder raschelte Papier auf. Stille herrschte wieder im Raum. Unruhe machte sich in ihr breit. Was sollte sie darauf antworten? Es stimmte doch. Sie hätte sich doch Hilfe suchen können. Es gab überall welche. Aber sie hatte alles für sich behalten, weil... “Du hast dich geschämt. Du kamst dir erbärmlich vor. Hattest Angst vor den Reaktionen der Erwachsenen und den Kindern in deiner Umgebung. Angst, dass sie mit dir schimpfen. Dir dein Kind wegnehmen. Oder dich auslachen. Du wusstest nicht, was du genau machen solltest. Wie du mit deiner Lage umgehen solltest. Was eigentlich in Wirklichkeit passiert war. Plötzlich warst du schwanger und wusstest nicht mehr wohin mit diesen Gefühlen und dieser unbekannten Situation. Du kamst dir einsam und verlassen vor. Machst dir Vorwürfe, dass du niemandem etwas gesagt hast. Und am Ende hast du keinen Ausweg mehr gesehen, außer auf dem Babystrich anschaffen zu gehen.” Der Mann klappte das Buch zu. Sakura hörte es nur an dem lauten, dumpfen Geräusch was entstand, wenn man Bücher zuklappte. “Ich liege richtig, oder? Keine Sorge. Viele Mädchen in deinem Alter machen diese Fehler. Du bist da nicht allein.” Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Sie biss sich auf die bebende Unterlippe. Kaute auf dieser herum. Kniff ihre Augen zusammen. Senkte den Kopf zu Boden. Unvergossene Tränen brannten hinter ihren geschlossenen Lidern. Sie wollte doch nicht mehr Weinen. Sie wollte doch nicht mehr schwach sein. Aber diese Worte wirkten wie Balsam auf ihrer kaputten Seele. Sie war nicht allein... Vielen Mädchen erging es ähnlich wie ihr. So unzählige viele... Tränen liefen über ihre Wangen. Sie schluchzte auf. Weinte. Hatte keine Kraft mehr. Hektisch schlug sie ihre Hände vor das Gesicht. Vergrub es in diesen. Wollte nicht, dass man sie weinen sah. Ihr Bettzeug raschelte. Sicherlich erhob Kakashi sich gerade eben von ihrem Bett. Schritte kamen auf sie zu. Aber sie hörte es kaum. Sie nahm nur das Rauschen ihres Blutes in den Ohren war. Das schnelle Schlagen ihres Herzens. “Sakura, ich bin hier, um dir zu helfen. Ich will dich in Atarashii Seimei mitnehmen. Da kannst du einen Entzug machen. Du bekommst dort auch eine Wohnung MIT deinem Kind. Wir werden dir dort helfen, auch mit dem Kleinen. Wir wollen versuchen deine kaputte Seele wieder zu heilen. Aber nur, wenn du wirklich mitkommen willst. Es liegt alles an dir.” “Ich will das alles nicht! Als wenn du etwas wüsstest!” Erstickt kamen diese Worte zwischen mehreren Hicksern über die Lippen. Sie schluchzte herzzerreißend auf. Sie rieb sich immer wieder über die geschlossenen Lider. Versuchte die Tränen zu stoppen, aber sie schaffte es nicht. Sarane neben ihr grummelte leise auf, schlief aber brav weiter. Wut wallte in ihr auf. Wut auf sich. Auf Andere. Auf alles! Als wenn der Andere, was sie alles erlebt hatte! Dennoch ließen die nächsten Worte ihre Wut abflauen... “Ich kann es nicht nachvollziehen, da hast du Recht. Ich kann dich nur damit trösten und dir sagen, dass ich viele Kinder gesehen, die ein ähnliches Schicksal wie du erlebt haben. Es liegt an dir, ob du von den Drogen und der Prostitution wegkommen willst oder ob du dein Leben weiter lebst wie bisher. Es ist deine Entscheidung, ob du die Chance nutzt oder es sein lässt. Ich bin auf jeden Fall hier, um dich mitzunehmen. Um dir zu helfen ein neues und anderes Leben zu erhalten. Einen neuen Anfang. Doch die Entscheidung liegt bei dir.” Atarashii Seimei... Das klang wie das Leben, was sie sich gewünscht hatte. Wie ein Neustart. Ein Neubeginn mit ihrer Tochter. Wie eine Wiedergeburt. Sie wollte es so sehr. Aber hatte Bedenken. Es klang alles fast so, als ob sie krank wäre. Dabei nahm sie doch nur Drogen und ging auf den Strich. Sie wusste zwar, dass sie süchtig war. Aber sie wollte es nicht akzeptieren. Sie konnte es nicht. Sie wusste es war falsch, aber sie wollte es nicht einsehen. Und dennoch... Es klang alles so verführerisch. So verlockend, sodass sie nach diesen kleinen Grashalm griff. Sie sich an ihm klammerte und die Chance nutzen wollte. “N-nimm mich mit...” Ein neues Leben... Ohne Schläge. Ohne Schmerzen. Ohne Drogen. Ohne Geldprobleme. Ohne, dass sie ihren Körper oder ihre Seele ficken lassen musste. Und mit Liebe... _____________________________________________ [1] 140,80 € [2] 99,20 € [3] 60,00 € [4] 144,00 € Kapitel 6: Aus Liebe gepeitscht [Teil 1] ---------------------------------------- Das Leben ist wie eine Schneekugel. Wenn man das Glas schüttelt, dann fällt eine wunderschöne Schneepracht auf die Wiese. Man sieht die Schönheit der Landschaft. Doch wenn man die Kugel fallen lässt, zerbricht sie. In tausend Teile. Einfach so. Und niemand kann was dagegen unternehmen. Meine Mutter stirbt. Meine Schneekugel zerbricht in diesem Moment in tausend Splitter… Aus Liebe gepeitscht [Teil 1] 05. Juli 2008 “Kankuro!” Die laute Stimme seiner blondhaarigen, siebzehnjährigen Schwester schallte durch die große Fünfraumwohnung. Sein siebzehnjähriger Bruder duckte sich, als ein Pantoffel durch den Flur flog. Neben sich vernahm er das helle Lachen seiner Mutter. Er selber kniete ein wenig abseits auf dem Sofa und sah dem Schauspiel von der Lehne aus zu. Die Beine überkreuzt und leicht hin und her wackelnd. Ein starrer Ausdruck war in seinen vierzehnjährigen, türkisen Augen gezeichnet. Auf den rosigen Lippen aber war ein amüsiertes Lächeln zu erkennen. Sein Vater saß am Tisch und las wieder einmal die Tageszeitung. Ob dieser wieder diese ernste Miene auf den Lippen hatte oder nicht, erkannte Gaara nicht. Schließlich lag sein Augenmerk voll und ganz auf der Szene vor sich. Welche sich fast jeden Morgen ereignete. “Du Idiot! Rück sofort meinen violetten Kajalstift heraus!” “Vergiss es!” Es herrschte Alltag im Hause Sabakuno. Er verstand sowieso nicht, warum beide sich jeden Morgen um diesen Stift stritten. Temari benutzte ihn nicht einmal und Kankuro schmierte sich damit nur irgendwelche Muster ins Gesicht. Er selber war mit seinem schwarzen Kajal vollkommen zufrieden. Und froh, dass er sich mit niemanden darum streiten musste. Träge strich er sich einige rote, verwirrte Haarsträhnen aus der Stirn. Fuhr dabei über sein rotes Tattoo, was er sich dieses Jahr zum Geburtstag machen lassen durfte. Auch wenn erst sein Vater ein wenig dagegen war, so konnte doch seine Mutter diesen überreden. Unter anderem war es ja auch nur ein kleines Tattoo. Kankuro und Temari besaßen auch welche. Sein Bruder eine schwarze, blutüberströmte Rose, die von einem Trible umschlungen war, am rechten Arm und Temari Engelsflügel auf dem Rücken. Dagegen war sein kleines Schriftzeichen auf der Stirn mit der Bedeutung “Liebe” ein Witz. Aber ihm gefiel es. Es war einfach und schlicht und wenn man ihm nicht gerade direkt ins Gesicht sah, dann bemerkte man es kaum. Meistens lag es auch daran, dass sein rotes Haar es ein wenig versteckte. Gaara selbst war sowieso niemand, der mit seinem Tattoo herumprotzte, wie manch anderer aus der Familie. Auch wenn ab und an kleine Streitereien zwischen den Geschwistern waren, so hatten sie doch alles, was sie brauchten und wollten. Ihr Leben war wie das in einer Schneekugel. Schön und ansehnlich. Lebenswert. Seine Finger glitten zum Regal. Nahmen von dort die gerade eben entdeckte Schneekugel, die ihm ein Klassenkamerad vor Weihnachten geschenkt hatte. Kalt fühlte sich das Glas an seinen Fingern an. Soeben wollte er die Schneekugel leicht schütteln, sich an der Schneepracht in dieser erfreuen, als der wütende Schrei seiner Schwester seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen am Boden lenkte. Er wollte gerade auflachen, da seine beiden Geschwister wie zwei ineinander verkeilte Würmer auf dem Boden rangelten, als plötzlich etwas klirrend zu Boden fiel. Unheimlich laut hallte es in seinen Ohren wider. Deutete daraufhin, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Erschrocken zuckte er zusammen und wand sich zu seiner Mutter um. Seine Augen weiteten sich, als er das Bild vor sich sah. Seine freudigen Gesichtszüge entgleisten ihm. Die zittrige Hand gegen die Brust gedrückt und nach Luft ringend, saß seine Mutter vor ihm. Auch sein Vater reagierte sofort, riss beim Aufstehen den Stuhl mit sich und stürzte zu ihr. Für einen Moment herrschte Schweigen im Raum, nur das angestrengte Atmen war zu hören. Ein ersticktes Keuchen. Er wusste, was los war. Schließlich hatten sie die letzten Wochen ununterbrochen darüber geredet. Aber dennoch... Es war für ihn immer noch so unglaubwürdig. Aber es war die gnadenlose Realität. Seine Mutter vor ihm war am Ersticken. Schuld daran war eine Krankheit, die heute immer noch nicht bei allen geheilt werden konnte. Krebs... Gaara wusste nicht, was er machen, denken, geschweige denn fühlen sollte. Seine Augen brannten. Tränen kämpften sich in ihm hoch, während Hilflosigkeit seine Schultern umklammerte. Sie fest zusammen drückte, nur um damit zu verhindern, dass er sich bewegen konnte. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Sein Mund fühlte sich trocken an. Die Stimmen um sich herum nahm er nur wie hinter einem Schleier wahr, während die Sicht vor seinen Augen verschwamm. Er reagierte auch nicht, als seine Schwester ihn anschrie. Schrie sie überhaupt? Er hörte zwar ihre Worte, aber für ihn ergaben diese keinen Sinn. Überschlugen diese sich doch fast. Ihre Stimme war wie in weite Ferne gerückt. Nur schwer wahrnehmbar. Das rege, aufgeregte Treiben um ihn herum ging weiter. Nur er saß weiter da. Unfähig etwas zu machen. Geschockt, vielleicht auch ein wenig überrascht. Er wusste es nicht. Er bemerkte nur, wie träge und müde sich sein Körper anfühlte. Wie seine Finger zitterten. Seine Schultern bebten. Sein Kopf wie leergefegt war. Nur ein Gedanke regierte in diesem: Seine Mutter würde sterben... Schwer lag das kalte Glas in den Händen des Vierzehnjährigen. Glitt aus diesen. Die schöne Schneekugel fiel. Tief. Schnell. Nur um am Ende in tausend Teile zu zerspringen. Um sich quer über den Boden zu verteilen. Wasser schwappte über den abgenutzten Parkettboden. Wurde vom Teppich aufgesaugt. Hinterließ auf diesen dunkle Flecken. Die Kugel war zerbrochen. Nur um am Schluss in einem Haufen Scherben zu enden... ~*~*~ 07. September 2008 “Hey, Gaara!” Eben Gerufener wandte sich um. Erblickte hinter sich seinen Klassenkamerad und nickte diesem nur leicht zur Begrüßung zu. Es herrschte große Pause. Die Schüler versammelten sich gruppenweise auf dem Schulhof. Massen drängten sich an ihm vorbei. Schoben ihn zur Seite. Schubsten ihn leicht, nur um nach Draußen an die frische, noch recht warme, sommerliche Luft zu kommen. Er selbst stand noch im Schulgang. Genoss die kühle Luft im Gebäude. Er mochte die Hitze nicht sonderlich, weswegen er genug Zeit schindete, um die angenehme Kühle im Schulgebäude zu genießen. Sein Klassenkamerad klopfte ihm leicht auf die Schulter und grinste ihn breit an. Er erwiderte das Grinsen nicht. Hatte er noch nie gemacht. Auf seinen Zügen war selten ein Lächeln oder Schmunzeln zu sehen gewesen. Manchmal sah er aus, als wäre er eine Puppe. Ohne Regung. Ohne Gefühl. Und dies würde sich vielleicht auch nie ändern. Sachte wurde seine Schulter gedrückt. Irritiert musterte er den Jungen neben sich. “Vielleicht klingt das blöd oder so... aber weißt du... hier geht diese Sache herum... weiß ja nicht ob du es schon gehört hast, oder so...” Die Finger auf seiner Schulter zitterten leicht. Gaara war noch ein wenig verwirrter. Zeigte es aber nach außen hin nicht. Was sollte hier in der Schule seine Runde machen? Irgendein Gerücht? Anscheinend hatte es etwas mit ihm zu tun. Sonst wäre sein Nebenmann nicht so sehr nervös. Er seufzte geschlagen auf, ehe er die bebende Hand von seiner Schulter schob. So viel Körperkontakt war ihm dann doch ein wenig zu viel. Vor allem, wenn dies so lange war. “Ich weiß nicht, auf was du hinaus willst.” Dunkel klang seine Stimme. Ein wenig kratzig, da er mitten im Stimmbruch war. Der Andere druckste herum, schabte mit dem Fuß über den Boden und starrte interessiert diesen an. “Na ja... stimmt es, dass deine Mom tot ist?” Hastig flossen diese Worte über die Lippen des Anderen. Ein wenig war Gaara nun überrascht. Woher wussten die anderen von diesem Vorfall? Leicht zuckte er mit den Schultern und löste sich von dem Anderen. War doch egal, daran konnte er seine Situation auch nicht mehr ändern. Selbst wenn er wusste, wieso seine Klassenkameraden davon wussten... Was würde es ihm bringen? Nichts... “Passiert. So ist das Leben.” Gleichgültig klang seine Stimme. Gleichgültig war seine Haltung. Träge seine Schritte. Dennoch... Die Lippen fest aufeinander gepresst. Den Mund zu einem dünnen Strich verzogen. Seine Lider sanken ein wenig. Die Augen stumpf vor Trauer. Ein Schatten bildete sich über diesen. Es schmerzte fürchterlich, daran erinnert zu werden. Denn vergessen konnte er es nicht. Schließlich war es seine Mutter, die gestorben war. Seine Mutter, die ihn vierzehn Jahre lang im Leben begleitet hatte. Um diese Sache zu verarbeiten, dafür hatte er noch nicht die Zeit gehabt. Zwei Monate reichten nicht, um vierzehn Jahre zu verarbeiten. Dennoch hoffte er sehr, dass Zeit die Wunden heilte. Dass er irgendwann über ihren Tod hinweg kommen konnte. Ohne das fröhliche Lächeln seiner Mutter zu vergessen... Leicht wandte er sich von seinen Klassenkameraden ab. Lief einige Schritte Richtung Ausgang. Den Anderen hinter sich lassend. Seine Schritte klangen dumpf auf dem grauen, mit Laminat ausgelegten Boden. Der Gang leerte sich. Nur noch wenige Schüler liefen langsam und schwatzend an ihm vorbei. Träge wühlte Gaara in der Jackentasche seines schwarzen Blazers der Schuluniform nach seinem MP3-Player. Leicht lag dieser auf seiner Handfläche. Wurde noch einmal kurz betrachtet. Dieses dunkle Weinrot, was an einigen Stellen mit einem schwarzen Edding übermalt war. Gaara fing an die Kopfhörer auseinander zu fitzen. Egal, wie sauber er diese über seinen Player wickelte. Am Ende waren sie wieder von Neuem durcheinander. Während er mit der einen Hand anfing den Player zu starten, steckte er sich schon mal die Hörer in die Ohren. Das Gedrängel auf dem Gang hatte nachgelassen, weswegen er nun gemächlich seine Schritte in Richtung Schulhof führen konnte. Als das erste Lied anspielte, verließ er gerade die dunklen Gemäuer der Schule. Leicht kniff er seine Augen zusammen. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Die blasse Hand ein wenig über seine Augen geschirmt, um diese vor dem grellen Licht zu schützen. Die Strahlen wärmten seine blassen Wangen. Sicherlich würde es nicht lange dauern, ehe sich ein leichter, rötlicher Schimmer vor Wärme auf diesen ausbreitete. Langsam lief er los. Stieg die wenigen Treppen in Richtung Schulhof hinab. Der rote Sand knirschte unter seinen Schuhen, als er die ersten Schritte auf den Boden setzte. Sein Weg führte ihn in die Richtung einer Baumgruppe. Zum Schatten. Sein Weg wurde von Blicken verfolgt. Viele von seinen Klassenkameraden. Er fühlte sich ein wenig unwohl, so beobachtet zu werden. Eine Gänsehaut bildete sich auf seinen Oberarmen. Seine Nackenhärchen stellten sich auf. Aber er störte sich nicht weiter daran. Sollten die anderen doch glotzen, bis ihnen die Augen herausfielen. Seufzend ließ er sich auf einer Bank im Schatten nieder. Dieser kleine Fleck lag weit abgelegen vom Schulhof, sodass man von hier aus alles im Überblick hatte. Die lachenden Schüler, die mit anderen herumalberten. Die quiekenden Mädchengruppen, wenn ihr ‘Schwarm’ nah an ihnen vorbei ging. Und die, die einfach nur so herum hingen und sich irgendwelche Geschichten erzählten. Er saß oft hier. Um allein zu sein. Gerne würde er sich seiner Trauer hingeben. Sich hier her setzen, die Knie an den Körper gezogen und seinen Gedanken freien Lauf lassen. Eine wehleidige Miene aufsetzen. Sich trösten lassen. Aber das konnte er nicht. Niemand sollte ihm zu nahe kommen. Sollte ihn berühren. Sich um ihn Sorgen. Er wollte allein bleiben. Mit seinem Schmerz. Mit seiner Trauer. Auch wenn er sich oft wen wünschte, der ihn verstand. Der sich um ihn kümmerte. Doch Wunsch und Realität lagen so weit auseinander... Die Finger seiner linken Hand spielten an dem Lautstärkeregler seines Players. Meterweit neben ihm vernahm man noch den Rhythmus und die Melodie seiner gehörten Musik. Aber es war ihm egal. Solange er seine Ruhe hatte und ihn niemand störte. Seine rechte Hand klopfte leicht auf der Banklehne den Beat seines Lieblingslied ‘Distress and Coma’ seiner Lieblingsband ‘the GazettE’ mit. In Gedanken sang er den Text, während er leicht mit dem Kopf mit wippte. Until your distress sleeps Fill me up with your dreams Until your distress sleeps Hello dear my bride nani o miteiru no? yuka ni chitta chou mo hiroeru sono me de wasuretai no ha shiro suki ta kutsuu shinjiteru to ii kikasu kizu wa kienai [Bis deine Qual schläft... Füll mich mit deinen Träumen. Bis deine Qual schläft... Hallo, meine liebe Braut, auf was schaust du? Du kannst den Schmetterling nicht aufheben, der grausam auf die Erde stürzt. Die reine, weiße Qual ist das, was du vergessen willst. “Glaube“, sagst du zu dir selbst. Die Wunden heilen nicht.] Sein rotes Ponyhaar wippte leicht auf und ab, als er plötzlich inne hielt. Eine kalte Hand strich über seinen ebenen Nacken und fuhr die kleinen Nackenwirbel leicht nach. Er spürte einen fremden Atem an seinem Hals. Ein unangenehmer Schauer lief ihm über den Rücken. Ließ eine Gänsehaut auf seinen Armen entstehen. Erschrocken zuckte er zusammen, als die Musik aus seinen Ohren verschwand. Sofort riss er seine Augen weit auf und wandte sich nach hinten um. Aber was er sah, ließ ihn nicht gerade sehr freudig stimmen. Hinter ihm stand ein Junge. Zerschlissene Jeans, ein schwarzes T-Shirt unter dem dieser ein Netzshirt trug. An so etwas wie Schulordnung hielt sich dieser Junge anscheinend nicht. Schließlich war hier an dieser Schule Schuluniformpflicht. Die Arme in Bandagen gehüllt und mit schwarzen Armbändern geschmückt. Gaara war sich nicht sicher, ob das solche sogenannten Nietenarmbänder waren. Aber eigentlich war es auch egal. Um den Hals trug sein Gegenüber ebenfalls solch ein Band. Sein Blick wanderte weiter nach oben. Die Augen waren mit schwarzen Kajal untermalt. Während der Andere dem Beat der Musik lauschte, wippte dieser im Rhythmus dabei den Kopf. Das schwarze Haar, welches zu einem Topfschnitt frisiert wurde, schaukelte sachte mit. Reflektierte die wenigen Sonnenstrahlen ein bisschen, welche durch die Baumkronen schimmerten. Dieser Junge sah so entspannt aus. So friedlich. Es kam ihm fast so vor, als wäre diese ganze äußere Erscheinung nur Maskerade. Schein und Trug, um etwas tief im Inneren zu schützen. Der Rothaarige wusste so recht nicht, was er sagen sollte. War in diesem Moment überrascht, aber auch ein wenig erbost, dass man ihn in seiner Ruhe so dreist störte. Der Andere öffnete seine Augen einen Spalt breit. Das tiefe, dunkle schwarz der Iriden sah ihn kurz intensiv an. Tiefes Schwarz traf auf hellen Türkis. Versanken einen kurzen Moment in den Augen des jeweiligen anderen. Plötzlich schwang sich der Junge elegant über die Banklehne, nur um im nächsten Moment neben ihm zu sitzen. Erschrocken zuckte Gaara zusammen. Hatte mit solch einer Bewegung und Reaktion nicht gerechnet. Seinen Blick hatte er schnell auf seinen MP3-Player gerichtet. Das blaue Display strahlte ihm entgegen. Zeigte an, welches Lied soeben lief. Mit einer einzelnen Fingerbewegung hatte er den Player ausgeschaltet. Kurz herrschte Stille zwischen beiden. Der Schwarzhaarige zog träge die Kopfhörer aus den Ohren, ließ diese nach unten baumeln. Die schwarzen Iriden blickten ein wenig naiv drein, ehe sich in dem nächsten Moment ein finsterer Ausdruck in die Augen legte. Gaara selber sah auch nicht gerade milder gestimmt aus. Ein kurzes Blickduell war zwischen beiden, ehe sein Gegenüber plötzlich mit Lachen anfing. Einfach so aus heiteren Himmel. Er verstand nicht warum. Verwirrung spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Plötzlich schlug man ihm mit voller Wucht gegen die Schulter, sodass er schon die Befürchtung hatte, dass er jeden Moment von der Bank rutschte. “Ey Alter, ‘the GazettE’ is echt ne geile Band. Du gefälls’ mir. Übrigens, cooles Tattoo.” Mit diesen Worten stand der Andere wieder auf. Das Holz der Bank knarrte leise. Schnell waren die bandagierten Hände tief in die Taschen der zerschlissenen Jeans gesteckt. Die Schritte schlugen den Weg in Richtung Schulgebäude ein. Gaara blieb sitzen. Fühlte sich in diesem Moment ein wenig verarscht. Seine rechte Schulter brannte ein bisschen, durch den ‘freundschaftlichen’ Schlag auf diese. Es war aber irgendwie ein angenehmes Brennen. Ein Seufzen glitt über seine Lippen. Die Wangen waren durch die Wärme leicht gerötet. Fühlten sich ein wenig hitzig an. Leicht senkte er den Kopf, damit niemand erkannte, dass er wirklich etwas rötlich im Gesicht aussah. Auf seiner blassen Haut sah dies nicht sonderlich gut aus. Seine Finger strichen über die Stirn. Schoben einige Haarsträhnen zur Seite. Zogen leicht die Linien seines Tattoos nach. Ein minimales, stolzes Lächeln lag auf den Lippen des Vierzehnjährigen. Jemand fand sein Tattoo cool. Die meisten in seinem Umfeld meinten, dass es albern aussah. Oder dass es ein sinnloses Tattoo war. Ohne wirklichen Hintergrund. Viele hatten ihn auch gefragt, ob er sich mit diesem kleinen Schriftzeichen auf der Stirn nicht ein wenig kindisch vorkam. Er hatte sie alle ignoriert. Hatte sich nicht weiter um dessen Meinungen bemüht. Jeder hatte seine andere Sichtweise zum Thema Tattoo. Genauso wie zu seinem Musikgeschmack. Während viele westliche Musik hörten, oder Englische, liebte er seine Musik in seiner Heimatsprache. ‘the GazettE’ hatte es ihm angetan. Nicht nur wegen ihrer lauten Musik und ihren schnellen Rhythmen. Sondern eher wegen diesen tiefgehenderen Texten. Aber viele in seinem Alter verstanden es nicht. Irgendwie freute er sich, dass er wen gefunden hatte, der seinen Geschmack zur Musik teilte. Entspannt schloss er seine Augen. Den MP3-Player auf seinem Schoss liegend. Eine leichte Brise wehte über den Schulhof. Bog das grüne Gras ein wenig zur Seite. Ein vertrocknetes Laubblatt löste sich von seinem Ast und glitt zu Boden. Der Wind streichelte sanft sein rotes Haar. Liebkoste seine Stirn und Wangen. Von der Ferne hörte er die Schulglocke läuten. Hörte das Kichern und Lachen der Mädchen und Jungen. “Gaara, komm!” Die Stimme seines Klassenkameraden wurde vom Wind zu ihm getragen. Nur träge stand er auf. Ließ noch einmal die sanfte Brise mit seinen Haaren spielen. Langsam öffnete er seine Augen und blickte zum Himmel. Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, als er eine Hand über die Augen schirmte, damit er nicht direkt in die Sonne schaute. Heute war wirklich ein schöner Tag. Richtig zum Entspannen. Zum Vergessen. Und plötzlich... Eine dunkle, schwarze Wolke zog auf. Verdeckte damit die warme Sonne. Es sah nach Regen aus. Bald würde der Himmel weinen. Und was er noch nicht wusste war... Dass er selber heute noch unzählige, blutige Tränen vergießen würde... ~*~*~ Träge schloss er die Tür hinter sich zu. Die angenehme Kühle der Wohnung strich über seine Haut. Verdrängte die Röte auf seinen erhitzten Wangen. Langsam streifte er sich seine Schuhe von den Füßen. Schnell schlüpfte er aus seinem schwarzen Blazer und hing diesen an den Kleiderhaken. Die Schultasche hatte er eng an sich gedrückt, als er den langen Flur entlang ging. Dumpf klangen seine Schritte auf dem kühlen Parkettboden. Sie hallten von den kahlen Wänden wider, die einst einmal gefüllt waren mit Fotos von der Familie. Doch nun hing hier kein Einziges mehr. Er blieb stehen. Betrachtete eine kahle Stelle genauer. An diesem Ort war die Wand weißer. Was daran lag, dass hier einst seit langer Zeit eines der Bilder hing. Zitternd streckte er seine Hand aus. Strich behutsam mit den Fingern über den leeren Fleck. Erinnerte sich unwillkürlich daran, welches Foto hier einmal hing. Ein Bild von der ganzen Familie. Und wenn er sich noch recht entsinnen konnte, wurde dieses vor fast fünf Jahren aufgenommen. Ein Seufzen verließ seine Lippen, als er an diese Zeit zurückdachte. Da war noch alles so leicht und unbeschwert gewesen. Da war alles noch in Ordnung gewesen. Aber heute... Heute kam es ihm manchmal vor, als wäre sein ganzes Leben kaputt. Zerbrochen seit diesem Tag, als seine Mutter ging. Als wäre etwas zerbrochen. So wie damals die Schneekugel an diesem Tag. Wie ihre Schneekugelfamilie... Aber Glas ließ sich nicht mehr zusammensetzen... Er setzte sich wieder in Bewegung. Seine Füße trugen ihn in Richtung Wohnzimmer. Vorbei an dem Zimmer seiner Schwester. Kurz hielt er inne. Lauschte einen kurzen Moment. Er hörte ein Schluchzen. So herzzerreißend, dass es ihm das Herz zusammenschnürte. Weinte Temari etwa? Aber warum? Er legte seine Hand auf die Türklinke. Wollte diese eben runterdrücken, um das Zimmer betreten zu können, als ihn die Stimme seines Vaters davon abhielt. “Gaara...” Die Stimme klang tief und rau. Sofort löste er die Hand von der Klinke und schritt zum Wohnzimmer. Seine Schritte wurden langsamer, bis sie gänzlich verstummten. Im Rahmen der Tür blieb er stehen. Unbehagen breitete sich in ihm aus. Irgendwas stimmte nicht, dass merkte er sofort. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Er schluckte hart. Während seine Hände zu Schwitzen und Zittern begangen. Es war dunkel. Die Gardinen waren zugezogen und das Licht erloschen. Sein Vater saß in sich gesunken auf dem Sofa. Die Luft war warm und stickig. Fühlte sich unangenehm auf seiner Haut an. Im Schatten sah er die Vielzahl an Flaschen. Umgestoßene. Stehende. Leere. Volle. Der Geruch von Alkohol war im Raum präsent. Ließ in ihm den Ekel ansteigen. Hektisch schlug er sich die Hand vor den Mund. Hatte schon die Befürchtung, dass er Würgen musste. Aber nichts dergleichen war. Er ahnte schon seit Längerem, dass sein Vater mit Trinken begonnen hatte. Dass dieser damit versuchte seine Zweifel zu ertränken. Dass dieser damit versuchte über den Verlust ihrer Mutter hinweg zu kommen. Die Trauer damit wegschwemmen wollte. Natürlich waren ihm schon seit längeren die vielen leeren Bier- und Schnapsflaschen im Wohnzimmer aufgefallen. Die letzten Wochen war er seinem Vater auch aus dem Weg gegangen. Vielleicht mehr unbewusst, als bewusst. Er war seinen Blicken ausgewichen. Die Blicke voller Hass und Zorn. Der liebevolle, aber dennoch strenge Ausdruck war gänzlich aus dem Gesicht seines Vaters verschwunden. “Gaara...” “Hai... To-san?” Fest klang seine Stimme. Obwohl er sich ein wenig unwohl fühlte. Ob sein Vater ihn wieder so wütend und zornig ansehen würde? Klirrend fiel eine Flasche um. Erschrocken zuckte er zusammen. Überrascht wich er zurück. Sein Vater richtete sich abrupt auf. Wandte sich zu ihm um. Starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen zornig an. Gaara wusste nicht, was dies für ein Gefühl war. Auf einmal verspürte er den Drang, dass er fliehen musste. Doch er blieb stehen. Sein Gegenüber war sein Vater. Er brauchte keine Angst haben. Er war sich sicher, dass dieser seinem Kind nichts antun würde. Er vertraute ihm da. Sicher… Doch Vertrauen konnte schnell missbraucht werden… Dies musste Gaara noch erfahren… Der Träger seiner Schultasche schnitt sich tief in seine Schulter. Rutschte von dieser, um dumpf zu Boden zu fallen. Sie ging auf und ihr Inhalt verteilte sich über den Boden. Doch auch wenn das sein Vater war. Irgendwas in ihm schrie ihn an zu laufen. Wegzurennen. Aber seine Beine fühlten sich mit einem Mal so schwach an. So sehr, dass sie Mühe hatten, die schwere Last zu tragen. Er verstand nicht. Was war mit seinem Vater los? Warum benahm er sich so unmöglich? So unberechenbar? Leicht zog er ein wenig trotzig die Augen zusammen. Diese Situation gefiel ihm nicht. Wenn seinem Gegenüber etwas nicht passte, dann sollte dieser es auch sagen. So wie früher. Dann sollte dieser es auch aussprechen. So wie immer! Seinen Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. Wenn er etwas nicht leiden konnte, dann war es diese Unwissenheit. „Was ist los, To-san? Was soll das werden?!” Sein Vater kam näher. Mit erhobener Hand. Plötzlich, aus einem Impuls heraus, wich er einen Schritt zurück. Krallte sich an dem Türrahmen fest. Sein Gegenüber kam näher auf ihn zu. Er sah in dessen Augen. Sah in diesen den Wahn. Den Zorn auf irgendetwas. Auf irgendwen. Und es dauerte nicht mehr lange… Ein schallendes Klatschen erfüllte die Stille im Raum. Sein Kopf wurde zur Seite geschlagen. Erschrocken keuchte Gaara auf. Biss sich vor Schreck auf die Zunge, welche leicht mit bluten begann. Er schmeckte den metallischen Geschmack im Mund. Zitternd legte er seine Hand auf die brennende Wange. Ein pochender Schmerz explodierte in dieser. Seine Unterlippe zitterte. Fest biss er die Zähne zusammen. Unglaublich… Sein Vater hatte ihn noch nie geschlagen. Nicht einmal eine Ohrfeige oder dergleichen. Sein Kopf war in diesem Moment wie leergefegt. Es dauerte einige Sekunden, ehe er die Situation begriff. Seine Augen verzogen sich zu engen Schlitzen. Dem Unglauben folgte Wut. Warum schlug sein Vater ihn? Er hatte doch nichts Schlimmes gemacht, dass er dafür Schläge verdiente. Sein Vater holte zum nächsten Schlag aus. Aus einem Reflex heraus fing er die auf ihn zukommende Hand ab. Fest krallte er seine Finger in das Handgelenk. Wut und Trotz schimmerte in seinen türkisen Iriden. Und zwischen diesen beiden Emotionen wallten Unglaube und Unverständnis in seinem Herzen. „Was soll das To-san? Warum schlägst du mich einfach?! Was hab ich bitte schön getan?!“ „IHR SEID SCHULD!“ Sein Vater riss sich aus seinem Griff. Durch den plötzlichen Schwung und diesen ganzen Zorn stolperte Gaara über seine Füße. Er fiel. Stürzte zu Boden und blieb überrascht auf diesem sitzen. Den Blick zu seinen Füßen gerichtet. Sein Körper zitterte vor Überraschung und Schock. Er sah auf die Beine seines Gegenübers. Hob nur zögerlich den Kopf, um in dessen Gesicht zu sehen. Starr schauten die Augen des Mannes auf ihn herab. Die Wut und der Zorn waren wie weggewischt. Doch dieser jetzige Gesichtsausdruck erinnerte ihn nicht mehr daran, dass dieser Mann vor ihm sein Vater war, den er so sehr liebte. Eher an ein Raubtier, dass seine Beute reißen wollte. Der Andere kniete sich vor ihn. Streckte die Hände nach ihm aus. Hastig schlug er nach diesen. Gaara versuchte nach hinten auszuweichen. Seine Hände streiften die kahle Wand. Er presste sich gegen diese. Wollte in ihr verschwinden. Lehnte sich zur Seite, um unter den Armen seines Gegenübers durchschlüpfen zu können. Doch ein Schlag in seinen Magen ließ ihn wieder erstarren. Sein Magen verkrampfte sich. Gaara würgte, doch nichts kam. Keuchend sank er in sich zusammen. Kniff seine Augen vor Schmerzen zusammen. Und plötzlich schlangen sich die großen, breiten Finger seines Vaters um seinen Hals. “Ihr seid schuld...” Ihm wurden diese Worte gegen die Lippen geflüstert. Eine Alkoholfahne kam ihm entgegen. Ließ seinen Magen sich verkrampfen und ihm schlecht werden. Ihm war so schlecht. Er wollte würgen, konnte aber nicht. Gaara kniff die Augen zusammen, als sich der Druck verstärkte. Tränen sammelten sich in seinen Augen. Brannten hinter den geschlossenen Lidern. Er wollte schreien, aber bekam kaum Luft. Panik stieg in ihm auf. Sofort krallte er sich an die Handgelenke des Mannes. Grub seine Fingernägel in dessen Haut. Der Druck wurde stärker. Die Panik stieg weiter an. Er riss seinen Mund auf. Versuchte nach Luft zu schnappen. Er zappelte mit den Beinen. Versuchte seinen Gegenüber zu treten. Versuchte sich zu befreien. Er musste es, sonst würde er keine Luft mehr bekommen. Er würde ersticken. Genauso wie seine Mutter... Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, als er es endlich schaffte seinem Vater einen Tritt ins Gesicht verpassen zu können. Der Griff lockerte sich sofort. Sein Gegenüber taumelte nach hinten. Erschrocken griff Gaara sich gegen den Hals. Hustete auf. Schnappte nach Luft. Hektisch nahm er diese zu sich. Es brannte in seinem Hals. In seinen Lungen. Heiße, salzige Tränen liefen über seine, roten, vor Anstrengung erhitzten Wangen. Sein Körper zitterte unkontrolliert. Er rutschte zur Seite. Wollte sich auf seinen linken Arm abstützen, aber dieser knickte wieder ein. Seine Arme waren zu schwach, um seinen erschöpften Körper aufrecht erhalten zu können. Er sackte zur Seite. “Ihr seid Schuld, dass ich alles verloren habe! Meine Frau! Meine Arbeit! Es ist eure Schuld!” Stoff raschelte auf. Metall klimperte. Leder peitschte zu Boden. Direkt neben seinen Händen. Er fühlte den Luftzug an seinen Fingern vorbeiziehen. Erschrocken riss er den Kopf hoch. Die Augen weit aufgerissen. Glasig und gerötet durch die Tränen. Weitere liefen noch seine Wangen entlang. Die eine Hand immer noch zitternd gegen seinen Hals gedrückt. Sein Herz schlug heftig gegen seine Rippen. Schmerzte so sehr, dass er sich danach sehnte, dass es aufhörte so schnell zu schlagen. Aber nichts dergleichen passierte. Seine Schultern bebten. Warum? Was hatte er gemacht, dass man ihn so bestrafte? Wieso machte sein Vater dies mit ihm? Was hatte er getan? Er verstand es nicht... “Warum, To-san?” Keuchend, leise und erstickt kamen die Worte, als der erste Hieb ihn traf. Wegen der Wucht des Schlages biss er sich auf seine Unterlippe. Ein kleines Rinnsal Blut lief über seinen Mundwinkel, das blasse Kinn hinab, nur um von diesem abzuperlen. Der Stoff seines weißen Hemdes sog die rote Flüssigkeit sofort in sich auf. Tränkte sich mit dieser und hinterließ einen hässlichen Fleck auf dem reinen Weiß. Er wimmerte leise. Der nächste Hieb traf ihn. Hinterließ ein entsetzliches Brennen auf seinen Armen, welche er schützend vor sein Gesicht gehoben hatte. Die Haut riss ein. Schmerzte fürchterlich. Ein Schrei entkam seinen Lippen. Die Gürtelschnalle bohrte sich in seinen Arm. Hinterließ dort einen grässlichen Abdruck. Erneut wimmerte er. Schluchzte. Schrie wieder. Rote Abdrücke entstanden auf seinen blassen Armen. Hinterließen hässliche Muster auf seiner weißen Schneehaut. Hinterließen grässliche Striemen auf seinem Körper. Und in seinem Kopf immer wieder dieses kleine Wort: Warum? Weitere Tränen liebkosten seine Wangen. Streichelten über die erhitzte Haut. Er schrie. Wimmerte. Weinte. Schluchzte. Wusste einfach nicht, was er machen sollte. Warum machte sein Vater das mit ihm? Wieso verletzte er ihn so sehr? Was hatte er ihm getan? Er war sich einfach keiner Schuld bewusst. Die Schläge verebbten. Er hörte das laute, angestrengte Keuchen seines Vaters. Oder war es sein Eigenes? Er konnte es nicht unterscheiden. Die Augen erschöpft geschlossen. Plötzlich legte sich eine grobe, starke Hand auf seinen Mund und zwang ihn dazu, die Augen zu öffnen. Eine zweite Hand packte seinen Oberarm, riss unsanft an diesem, damit er aufstand. Seine Knie zitterten. Konnten diese doch den müden, schmerzenden Körper kaum aufrecht erhalten. Seine Augen und seine Haut brannten furchtbar. An einigen Stellen lief ihm warmes Blut über den geschundenen Körper. Sein Körper bebte vor Schmerz und Schock. Der Druck an seinem Arm und seinem Mund wurde fester. Er schluckte hart. Versuchte den Kloß in seinem Hals herunterzuwürgen. Aber es half nichts. Ängstlich waren seinen Augen weit aufgerissen. “Erzähl es niemanden! Du willst doch ein lieber Junge sein, mh? Wenn doch, dann wird Daddy euch alle ins Heim schicken...” Alkoholgeruch wehte ihm entgegen. Hektisch schüttelte er den Kopf. Hatte noch nicht einmal wirklich realisiert und verarbeitet, was passiert war. Verstand die Worte seines Vaters noch nicht wirklich. Der Druck auf seinem Gesicht wurde stärker. So sehr, dass es schmerzte. Der Blick auf ihn eindringlicher. „Du wirst niemandem etwas sagen, verstanden?!“ Eindringlich wurde auf ihn eingeredet. Was sollte er machen? Sollte er jetzt nicken? Nein! Er musste nicken, weswegen er dies zögerlich tat. Wenn er es verneinen würde, dann würde sein Gegenüber sicherlich wieder von vorne beginnen. Würde dieser sicherlich wieder mit dem Gürtel zuschlagen. Diesem Mann würde er alles zutrauen. Er hatte Angst. Nicht vor seinem Vater, sondern vor dem Gürtel. So furchtbare Angst vor einer weiteren Prügelattacke. Er würde schweigen. Nichts sagen. Er wollte am Ende nicht schuld sein, wenn alle wegen ihm ins Heim kamen. Denn in diesem Moment konnte er seinen Vater nicht mehr einschätzen. In diesem Augenblick war dieser unberechenbarer denn je. Würde er seine Drohung wahr machen? In seinen Augen fand er nicht mehr den Vater, den er früher hatte. In seinen Augen sah er nur ein Tier, dass tollwütig über ihn herfiel, um ihn zu zerreißen… Der Griff um seinen Mund wurde gelöst. Mit einem Ruck warf man ihn zu Boden. Dumpf kam er auf diesem auf. Schlug sich dabei den Kopf an der Wand an. Ein Rinnsal Blut lief seine Schläfe entlang und bahnte sich einen Weg über seine erhitzte Wange. Verlief unter seinen Augen weiter und vermischte sich mit dem Salz auf seiner Haut. Es sah aus, als würde er blutige Tränen weinen. Er verlor den Halt. Brach auf seine Knie. Die Augen geschlossen. Die Geräusche um ihn herum waren wie hinter einem dichten Schleier. Sein Kopf war wie leergefegt. Alle Fragen wie gelöscht. Sein Vater entfernte sich. Er hörte die Schritte nur dumpf in seinen Ohren. Sie widerhallten leise dort, ehe sie ganz verstummten. Hastig wischte er sich mit den blutigen Handrücken über das Gesicht. Verschmierte den roten Saft damit mehr. Seine Unterlippe zitterte. Weitere Tränen liefen über seine Wangen. Wollten nicht aufhören zu fließen. Immer wieder versuchte er sie wegzuwischen. Doch nichts half. „Arschloch…“ Ein Wispern kam über seine Lippen. Hart ballte er seine schmerzenden Hände zu Fäusten. Schlug mit diesen auf den Boden. Die eben noch regierende Angst machte Wut Platz. Wut auf seinen Vater. Dieses Arschloch, das ihn ohne Grund einfach niedergeschlagen hatte. Der ihm diese entsetzlichen Schmerzen zugefügt hatte. Dabei war es nicht einmal seine Schuld, dass ihre Mutter von ihnen gegangen war. Schließlich war sie durch eine Krankheit gestorben. Und nicht durch ihre eigenen Kinder… Um das verrecken Willen würde er niemandem etwas sagen. Er wollte nicht schuld daran haben, wenn das letzte bisschen Familie was war, durch ihn zerbrach. Doch niemals würde er sich diese Launen seines Vaters gefallen lassen. Niemals würde er es soweit kommen lassen, dass dieser ihn brach. Ihn soweit brachte, dass er sich widerstandlos fügte. Leise schluchzte er auf. Weinte weiter, während er wie besessen auf den Teppichboden einschlug. Sein Kopf pochte schmerzhaft. Die salzigen Tränen vermischten sich mit dem verschmierten Blut im Gesicht. Fuhren ihre roten Bahnen über dieses und perlten vom Kinn ab. Als würde er blutige Tränen weinen… Ein Kampf würde beginnen. Ein Kampf zwischen seinem Vater und ihm. Ein Kampf, aus dem nur der stärkere als Sieger hervorgehen würde. Ein Kampf, der weitere blutige Tränen kosten würde... ____________________________________________ © Songtext “Distress and Coma" by the GazettE Kapitel 7: Aus Liebe gepeitscht [Teil 2] ---------------------------------------- Meinen Vater… Ich sollte ihn hassen. So sehr, dass er selbst daran zu Grunde ging. So sehr, dass er denselben Schmerz fühlte, wie ich. Doch ich konnte nicht. Das Einzige, was ich konnte, war, Mitleid für ihn zu empfinden. Mitleid für diesen Mann, der seinen Sinn im Leben mit dem Tod seiner Frau und unserer Mutter verloren hatte. Mitleid für den Menschen, der es nicht schaffte, das zu lieben, was ihm übrig geblieben war… Aus Liebe gepeitscht [Teil 2] 28.November 2008 Es war stickig in den überfüllten Gängen der Schule. Es war laut und hektisch. Von allen Seiten vernahm man das Lachen von fröhlichen Jungs, die auf dem Weg nach Hause waren. Das Kichern von jungen Mädchen, die sich noch schnell für den Nachmittag verabredeten. Oder einige, die noch schnell zur letzten Schulstunde hetzten, um nicht zu spät zu kommen. Wiederrum andere gingen genüsslich über den Flur. Es herrschte pure Harmonie in der Luft. Glückseligkeit. Und er zwischendrin. Gebrochen und zersplittert wie Glas. Träge waren seine Schritte. Jeder bewegte Muskel schmerzte. Jeder bewegte Knochen ließ eine Welle voller Pein über ihn hinwegrollen. Er war müde. Kaputt von der Schule. Kaputt vom Lernen. Kaputt vom Leben. Doch er musste weiter. Schritt für Schritt. Es gab kein Entkommen. Denn die Zeit blieb nicht stehen. Sie legte gnadenlos ihre Arme um seinen Körper und drückte erbarmungslos zu. Versuchte ihn weiter in die Knie zu zwingen. Ihn zu brechen. Jeden Tag von Neuem. Die Zeit bestimmte, wann Schluss war. Die Zeit regierte über ihn. Die Zeit quälte ihn. Wie es auch sein eigener Vater tat… Unsanft wurde Gaara an der Schulter angerempelt. Einer seiner Klassenkameraden hetzte an ihm vorbei, ohne auf ihn zu achten. Die letzte Stunde lag bevor: Sport. Er liebte Sport. Sehr sogar! Ob nun Fahrrad fahren, skaten, joggen oder Ball spielen. Allein die Bewegung an der frischen Luft oder unter Freunden war für ihn das Wichtigste am Sport treiben. Wie Balsam, um von dem gestressten Schulalltag wegzukommen. Aber am meisten mochte er den Schulsport. Spaß mit Klassenkameraden. Ein wenig herumblödeln und albern sein. Einfach ein Kind sein, ohne dass es jemanden störte. Ohne dass jemand etwas sagte. Ihr Sportlehrer hatte auch nichts dagegen, solange im Unterricht rücksichtsvoll gegenüber den anderen geblieben wurde. Und natürlich trotzdem noch die vorgeschriebenen Aufgaben sauber geübt worden. Seine Schritte wurden langsamer. Der Schulgang immer leerer. Nur noch vereinzelte Schüler waren unterwegs, welche leise quatschend zusammen das Gebäude verließen. Ja, Gaara mochte den Schulsport, aber er würde nicht hingehen. Wie die vielen Wochen davor auch nicht. Er konnte nicht und hatte – seiner Meinung nach – auch berechtigte Gründe. Seine Schritte stoppten. Zitternd legte er seine Hände auf seine Oberarme. Rieb langsam und leicht über diese. Spürte den Schmerz auf der Haut. Spürte den Schmerz in seinem Inneren. Dieser war so fürchterlich. Brannte wie Feuer. Riss sich tief in sein Herz. Bohrte sich tief in seine Seele. In seine Nerven. In seine Gedanken und Gefühle. Er fühlte unter seinen Fingern den Stoff seines schwarzen Blazers. Die Fingernägel krallten sich haltsuchend in diesen. Gaara selbst war sein einziger Halt. In dem Moment, wo die Gedanken über ihn einbrachen. Die Fragen nach dem ‚Warum, To-San?‘ ihm keine Ruhe mehr ließen. In dem Augenblick, wo die Angst vor dem Nachhausegehen so unerträglich war, dass ihm fast die Luft zum Atmen wegblieb. Ja, in solchen Situationen war er selbst sein einziger Halt. Erneut rieb er über seine schmerzenden Arme. Schluckte den Kloß im Hals herunter, welcher ihm den Atem rauben wollte. Schluckte den Schmerz herunter, der ihn lähmte. So gut es eben ging. Zu Beginn hatte er noch den Schulsport besucht. War auch mit Freuden hingegangen. Es hing alles halt davon ab, wie sehr sein Vater ihn zugerichtet hatte. Wie dessen Wut und Frust waren. Zu Beginn war dies auch nur möglich, da er am Anfang öfters nur Ohrfeigen einstecken musste. Ohrfeigen, die keine verdächtigen Zeichen hinterließen. Ohrfeigen, die nicht von häuslicher Gewalt zeugten. Ohrfeigen, die nur er ‘sehen‘ und fühlen konnte. Deren Schmerz nur er allein spüren konnte. Doch die Übergriffe wurden häufiger. Die Schläge schmerzhafter und blutiger. Narben, blaue Flecken, Schürfwunden, wundgeschlagene Haut. Das war heute alles sein Alltag geworden. Gaara wusste, was er unter den Ärmeln des schwarzen Blazers und dem weißen Hemd sehen würde. Er wusste, was unter diesen verborgen lag. Versteckt und in sich verschlossen. Er wusste es, da er es jeden Tag zu Gesicht bekam. Jeden Tag von Neuem wurde es immer mehr. So viel, dass er es schon nicht mehr mitzählen konnte und wollte… Blutergüsse, fast verheilte Flecken. Blau, grün, rot oder violett gefärbte Haut. Eingeschlagene Narben, welche fast verheilt waren oder auf denen sich eine dunkelrote Kruste gebildet hatte. Und so wie er es sah, so konnten es die anderen sehen. Er fühlte sich nackt zwischen ihnen. Nackt, wie ein unbeschriebenes Blatt, auf dem doch so viel stand. So viel von seinem Leben. So viel von seiner Familie. So viel von sich selbst. Doch alles war nicht von ihm geschrieben. Sondern von jemand Anderem. Wie verschlüsselte Wörter wurde es ihm in seine Haut geschlagen. Jede Narbe war ein Wort, ein Satz, um zu vermitteln, dass nichts in Ordnung war. Gar nichts... Doch er fühlte sich nicht nur nackt, sondern auch so verletzbar. Angreifbar und schwach. Doch wollte er es niemandem zeigen. Niemand sollte sehen, dass er gebrochen war. - Niemand sollte bemerkten, dass er vielleicht zerbrechen würde. Das war einer der Gründe, warum er Sport schwänzte. Der Zweite war einfach: Bei jeder Bewegung schmerzte ihm der Körper fürchterlich. So sehr, dass er sich schon damit quälte, ruhig im Unterricht sitzen zu bleiben und sich auf den Stoff der Stunde zu konzentrieren. Jeder Schritt. Jede Bewegung. Jedes Muskelzucken. Sein Körper bestand aus einem einzigen Klumpen Fleisch, der nur durch Schmerzen noch zusammenhielt. Kind sein… Das wollte er doch nur. Einfach ein Kind sein und die Zeit genießen. Spaß haben. Mit anderen Klassenkameraden im Sportunterricht herumalbern. Doch er war schon lange nicht mehr Kind, seit sich sein Vater wie ein Tyrann benahm. Ihn anschrie und zusammenschlug, wenn mal etwas nicht stimmte. Zitternd löste er seine Hände von seinen Armen. Hörte auf sich die Haut weiter wund zu reiben. Er bewegte seinen Körper weiter in Richtung Ausgang. Auf nach Hause. Der Schulflur war nun gänzlich leer. Gaara war der Einzige, dessen Schritte an den kahlen Wänden widerhallten. Dumpf klangen sie auf dem grauen, abgenutzten und mit Laminat ausgelegten Boden. Er war allein. Allein mit dem Schmerz in seinem Leib als Begleiter. Diese Situation erinnerte ihn sehr an zu Hause… Wie oft hatte er sich in seinem Zimmer zurückgezogen und hemmungslos geweint? Versucht all diesen Schmerz von seiner Seele zu schreien? Sehr oft. So viele Male, dass er es nicht mehr aufzählen konnte. Gaara hatte oft versucht sich einzureden, dass alles nur ein Traum war. Doch es war kein Traum. Immer wenn er erschöpft aus seinem Schlaf erwachte, spürte er es: Die Schmerzen. - Das feuchte Kissen, getränkt mit seinen vergossenen Tränen. Er hörte die Stimme seines Vaters, wie dieser wieder schrie. Wie dieser wieder schimpfte. Nein, dies war kein Traum. Das war die pure Realität. Und er lebte mitten drin. Drehte sich im Kreis mit seiner Verzweiflung. Mit seinem Schmerz. Mit seiner Angst und der Einsamkeit. Mit dem Gefühl “ungeliebt zu sein“… Träge ging er seinen Weg weiter. Ließ sich Zeit. Eigentlich hatte er noch eine Unterrichtsstunde. Eigentlich wäre er noch nicht zu Hause. Eigentlich… Seine Schritte stoppten erneut, als er durch die Glastür im Vorderausgang hinausging. Die Sonne schien warm vom Himmel herab. Angenehm warm für diese Jahreszeit. Erschlagen hob er seinen Kopf. Schloss seine müden Lider. Das Licht blendete ihn. So sehr, dass es schon fast wieder in seinen empfindlichen Augen brannte. Vereinzelte Vögel zwitscherten auf den immer kahler werdenden Ästen der Bäume. Der Wind rauschte an ihm vorbei. Spielte mit einzelnen roten Haarsträhnen. Hob diese sanft und ließ sie ebenso wieder fallen. Eine Böe blies unter den Stoff seines weißen Hemdes und neckte mit seiner Kälte die nackte Haut von ihm. Zärtlich strich ein kühler Hauch an seiner Wange vorbei. Warum war der Wind sanfter zu ihm, als sein eigener Vater? Er verstand es nicht und würde es vielleicht auch nie. Vielleicht war er da noch mit seinem vierzehnjährigen Verstand zu jung, um es zu begreifen... Unverständlich… Dieses Leben war einfach nur unverständlich für ihn. Dabei war es sein Eigenes… Langsam lief er weiter. Die Augen weiter geschlossen, um noch ein wenig mehr zur Ruhe zu kommen. Immer nah an der hohen Mauer der Schule entlang. Eine fast unüberwindbare Mauer, die die Schule der Mittelstufe von der der neben an liegenden Oberstufe trennte. Mit ihren fast drei Metern Höhe war es kaum möglich, diese zu überwinden. Leise seufzend lehnte er sich gegen das kühle Gestein und verschnaufte einen Moment. Die Augen entspannt geschlossen und die kalte Luft tief einatmend. Der Schatten der Mauer spendete ihm ebenfalls ein wenig Kälte und verbarg ihn fast vollends in der Dunkelheit. Verborgen und kaum zu sehen. Plötzlich waren schnelle Schritte auf dem roten Sand im Schulhof zu hören. Direkt auf ihn zu. Erschrocken zuckte Gaara zusammen und öffnete seine Lider. Seinen Blick trüb vor sich gerichtet. Die fremden Schritte wurden schneller und lauter. Seine Augen folgten den Beinen, die in einer zerschlissenen Jeans steckten. Die schwarzen Chucks rasten über den Sand, als wären sie auf der Flucht. Kurz war er ein wenig verwirrt aber auch fasziniert zugleich. Vor allem, dass der andere bei dieser Geschwindigkeit kein bisschen ins Straucheln kam. Und plötzlich fiel ihm wieder ein, woher er diese Klamotten kannte. Hastig blickte er auf. Starrte im Schatten verborgen auf das leicht gebräunte Gesicht des Sprinters. Es war dieser Schüler, der wenig von der Schulordnung und deren Uniform hielt. Auf einmal erklang das dumpfe Geräusch, als würde man gegen Gestein treten. Dieser tiefe, hohle Klang ohne Widerhall. Sofort blickte er nach oben. Ein wenig geblendet von dem Licht kniff er die Augen ein Stückchen zusammen, um die schwarze Silhouette des anderen erkennen zu können. Wie dieser die Mauer mit einer Eleganz einer Katze und wenigen Schritten empor lief. Der Wind rauschte durch die kahlen Äste und riss einige Blätter von den Zweigen. Tanzend glitten diese um den Körper des anderen, ehe sie schwer am Boden zum Liegen kamen. Das schwarze Haar des Schülers wirbelte wild durcheinander. Alles ging so schnell, dass Gaara Mühe hatte, die Bewegungen mit den Augen verfolgen zu können. Es dauerte auch nicht lange, da stützte sich der schwarzhaarige Schüler mit beiden Händen an der Kante der Steinmauer ab. Die kleinen, silbernen Armreifen schlugen dabei leicht an einander und erzeugten ein kaum hörbares, helles Geräusch. Nur einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Tiefes, geheimnisvolles Schwarz gegen das tote, glanzlose Türkis. Ein Flickflack rückwärts und schon war dieser komische Junge auf der anderen Seite der Mauer verschwunden. Sicherlich mitten auf dem Hof der Oberstufe. Kurz blinzelte Gaara überrascht. Die Hand leicht auf seiner Brust liegend, um sein schnelles Herz zu beruhigen. Ein wenig war er schon erschrocken, da der andere Junge überraschend mit solch einem Tempo auf ihn zugerast kam. Tief atmete er ein und wieder aus. Seine Hände zitterten ein wenig. Fest hatten sie sich in den weißen Stoff seines Schulhemdes gekrallt. Unfähig sich von diesem zu lösen. Einen Moment stand er noch so da. Das eben Erlebte noch ein wenig auf sich wirken lassend. Der Wind rauschte weiter mit leisem Geheul um ihn herum. Doch er hörte und bemerkte es nicht. Sein Kopf war in diesem Moment wie leergefegt. Unfähig etwas zu fühlen, zu hören oder zu sehen. Doch plötzlich brachen alle Geräusche, Gedanken und Gefühle wieder zu ihm durch. Seine Umgebung nahm er wieder mit den Augen eines vierzehnjährigen Kindes wahr. Der Moment seiner geistigen Abwesenheit war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Leicht blinzelte er. Schüttelte dabei den Kopf. Schnell durchwühlte er seine Jackentasche und zog seinen MP3-Player heraus. Das Gehäuse war an der linken Seite ein wenig abgeplatzt. Traurig fuhr er darüber. Erinnerte sich nur ungern daran, warum dies so war. Schnell schaltete er ihn an und wollte die depressiven Gedanken und Erinnerungen aus dem Kopf verbannen. Hastig knotete er seine Kopfhörer auseinander. Gedämpft und leise hörte er schon die ersten Töne aus den Kopfhörern heraus. So laut war seine Musik, die er jeden Tag hörte. Doch in vielen Momenten nicht laut genug, um damit die Stimme und Schreie seines Vaters zu übertönen… Träge steckte er sich die Hörer in die Ohren und suchte sein Lieblingslied heraus. Zurzeit war es immer noch ‘Distress and Coma’ von ‘the GazettE’. Als dieses gefunden war, seufzte er erschöpft aus. Versuchte sich ausgiebig nur auf das Lied zu konzentrieren. Summte dabei leise mit, während schon der Refrain angespielt wurde… Odoru odoru nemurasete to odoru. Yamanu namida... Koe wo koroshi yowaku furu te ni kuchibiru wo otosu. Hello dear my bride... Ashimoto wo yaku. Miminari ni mou chikadzuku hitsuyou nado… Muishiki ni haita iki ga hada wo sou… Kamoku yurasu yabia ni emi wo... Wasuretai no wa shiro sugita kutsuu… Shinjiteru to iikikatsu… Kizu ha kienai… … "Oyasumi…" [Tanze, tanze, schlafe und tanze. Die Tränen hören nicht auf… Töte deine Stimme, mit diesen Händen, die schwach zittern… Reinige deine Lippe. Hallo, meine liebe Braut… Deine Füße brennen. Das Summen in deinen Ohren wird zur Notwendigkeit… Dein Atemzug der Unbewusstheit rennt deine Haut entlang… Dein Lächeln reflektiert in der Klinge, die sich leise schüttelt… Die reine, weiße Qual ist das, was du vergessen willst… “Glaube“, sagst du zu dir selbst. Die Wunden heilen nicht. … “Gute Nacht…“] Müde setzte er seine Schritte weiter. Das letzte Erlebnis dabei verdrängend. Mit jedem Schritt wuchs dieses unangenehme Gefühl in seinem Inneren. Ihm wurde flau im Magen. Regelrecht schlecht. Seine Hände zitterten, welche er tief in seinen Hosentaschen vergraben hatte. Seine Augenlider sanken ein wenig. Mit jedem Schritt wuchs die Angst auf sein zu Hause immer mehr. Die Angst vor dem Unwissenden, was an diesem Tag noch passieren würde. Und die Angst vor dem Vater… ~*~*~ Die dritte Etage des Häuserblockes hatte er schon erreicht. Die Hälfte, um genau zu sein. Seine Schritte waren langsam. Nur mit Mühe schaffte er es, die einzelnen Stufen zu erklimmen. So schwer fiel es ihm. So ungern wollte er zu Hause ankommen. Je näher er seinem Ziel kam, desto schlechter wurde es ihm. Mit jeder Stufe, die er höher stieg, desto mehr wuchs die Angst in seinem Inneren. Die Angst, was heute alles passieren würde. Würde sein Vater ihn wieder schlagen? Würde er ihn wieder anschreien? Was würde dieses Mal der Grund sein? Würde er diesen Grund heute vielleicht verstehen? Einsehen, dass er wirklich Schuld war? Oder würde sein Vater wieder auf ihn einschlagen, weil er mal wieder der Sündenbock war? Mitten auf den Stufen hielt er an. Seine Augen brannten vor unvergossenen Tränen. Seine Augenlider flatterten leicht. In dem Versuch, damit die Tränen wegzublinzeln. Seine Schultern bebten schmerzvoll auf. Leicht biss er sich auf seine Unterlippe. Kaute auf dieser herum und schloss seine Augenlider gänzlich. Seine rechte Hand krallte sich am Geländer fest, während die Linke tief im Stoff seines Hemdes vergraben war. So tief und fest, dass seine Fingerknöcheln weiß hervortraten. Sein Herz schlug träge in seiner Brust. Es tat so unermesslich weh. Gestern – daran konnte Gaara sich noch gut erinnern – hatte sein Vater ihn zusammengeschlagen, weil dieser erneut eine Arbeitsstelle verloren hatte. Nach zwei Tagen hatte man diesen wieder gekündigt, wegen Unzurechnungsfähigkeit, die Maschinen zu bedienen, und mäßigen Konsums von Alkohol am Arbeitsplatz. Er bekam die ganze Wut und den ganzen Frust über diesen Verlust am ganzen Leibe zu spüren. Bei dieser Sache war auch sein MP3-Player gegen die Wand geworfen worden. Zum Glück war nur ein wenig das Plastikgehäuse abgeplatzt gewesen. Dabei war es nicht einmal Gaaras Schuld. Dabei war nicht einmal er der Anlass für diese Kündigung gewesen. Nicht einmal er der Grund für diese entsetzliche Wut und den Frust seines Vaters gewesen. Er war doch unschuldig… oder? Er wusste es selbst bald nicht mehr. Wenn er in seinem Bett lag, auf sein Kissen einschlug und hemmungslos weinte. In diesen Momenten schrie er es immer wieder. Immer wieder schrie er es sich von der Seele. Er war doch nicht schuld! Jedes Mal von Neuem schrie er es. Niemand konnte es hören. Niemand würde es hören. Niemand würde seine Schreie bemerken. Niemand seine Verzweiflung. Alles, was er schrie. Was zitternd über seine Lippen kam, wurde von seinem Kissen aufgefangen. Abgedämpft, sodass nur er es hörte und wusste. Er selbst war sein einziger stummer Zeuge seiner selbst. Seines Kummers und seiner Schmerzen. Er schluckte alles. Die Angst und der Schmerz waren seine Begleiter. Doch von Tag zu Tag fragte er es sich immer wieder mehr: War er wirklich unschuldig? Aber diese Frage blieb immer unbeantwortet… Zitternd lockerte er seine Finger, die sich verkrampft an ihren jetzigen Halt krallten. Tief atmete er ein und aus. Schluckte die Tränen herunter, die sich nach oben kämpfen wollten. Er setzte seine --Schritte weiter. Stufe für Stufe stieg er weiter empor. Weiter seiner Angst entgegen. Immer langsamer wurden seine Schritte. Immer träger erklomm er die Stufen. Jede einzelne war ein Willkommensgruß von zu Hause. Jede einzelne verhöhnte ihn. Lachte ihn aus. Jede Stufe, die er betrat, zog er sich immer mehr in sich zurück. Jede Stufe… Schritt für Schritt lief er weiter. Nur er und der Schmerz als sein Begleiter… Es hatte schon fast eine Ewigkeit gebraucht hier herauf zu kommen. Die sechste und letzte Etage zu erreichen. Seine Hände steckte er tief in seine Jackentaschen. Krallte sich mit der Linken an seinen MP3-Player. So fest. So verzweifelt. Als wäre es sein letzter Halt. Als wäre dieser seine letzte Kraft, ehe er in die vier Wände der Hölle gehen würde. Zögerlich verstellte er die Knöpfe am Lautstärkenregler. Doch nichts tat sich. Er hatte schon die lauteste Lautstärke an, die einstellbar war. Egal, wie sehr er es sich wünschte. Lauter ging nicht mehr. Sicherlich würde er ihn wieder hören. Die Stimme, die einst so ruhig und besonnen war. Die Stimme, die ihn einst gelobt hatte. Die einst die seines Vaters gewesen war. Er schluckte hart. Suchte in seiner Schultasche nach seinem Schlüssel. Träge schob er seine Bücher zur Seite. Seine Hand zitterte so sehr, dass er kaum den Stoff seines Schlüsselbändchens zu greifen bekam. Die türkisen Augen ängstlich aufgerissen. Was würde heute kommen? Er hoffte sehr, dass er heute nicht wieder geschlagen werden würde. Dass er nicht wieder eine Ohrfeige bekam. Nicht wieder angeschrien wurde. Hoffnung starb zuletzt, doch seine eigene zerfiel in dem Moment, als er das kalte Metall des Schlüssels zwischen seinen Fingern spürte. Dieses fest in seine Handfläche drückte. Ein roter Abdruck zeichnete sich auf der Haut ab. Kaum zu spüren. Kaum schmerzhaft. Bebend versuchte er diesen in das Schloss zu stecken. Versuchte es, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Ohne ein Geräusch zu machen. Versuchte es, ohne dass er am Schloss herumkratzte. Vielleicht schaffte er es, lautlos in sein Zimmer zu gelangen. Schaffte es, sich an seinem Vater vorbei zu schleichen und in seinen vier Wänden sicher zu sein. Vielleicht… Lautlos öffnete er die Wohnungstüre und schloss diese mit der gleichen Lautstärke wieder. Den Blick zu Boden gerichtet. Die Schlüssel leise zurück in die Tasche verstaut. Beeilen. Er musste sich beeilen und dabei kein Geräusch verursachen. Niemand sollte ihn hören. Niemand sollte ihn bemerkten. Niemand sollte wissen, dass er schon zu Hause war. Niemand sollte ihn jetzt sehen. Vor allem nicht sein Vater… Sein eben gehörtes Lied klang aus und eine längere Pause entstand, ehe das Neue abgespielt werden würde. „In Ordnung, ich werde mit meinem Sohn noch einmal darüber reden.“ Erschrocken zuckte Gaara zusammen. Erstarrte in seiner Bewegung. Er hörte die Stimme seines Vaters. Leise und ruhig klang diese. Dieser telefonierte gerade eben. Die perfekte Chance um schnell in sein Zimmer zu huschen. Doch seine Beine bewegten sich nicht. Sein Körper war wie taub. Gelähmt und unfähig sich zu bewegen. Das Herz schlug hart hinter seiner Brust. Raste und wollte sich nicht wieder beruhigen. Die Knie zitterten und die Schultern bebten. Seine Hände schwitzten. Die Linke krallte sich an den Träger seiner Tasche. Der Stoff schnitt sich schon fast schmerzhaft in die Haut. Weiß traten die Fingerknöchel hervor. Sein Atem wurde hektischer. Dabei hatte er eher das Gefühl, er würde gleich keine Luft mehr bekommen. Sofort schnellte die rechte Hand hoch zu seinem Hals. Klammerte sich dort fest. So fest, dass er sich fast selbst die Luft wegdrückte. Mit einer unvorstellbaren Macht hatte ihn die Angst in den Krallen und ließ nicht mehr locker. Um ihn herum war alles still. Er hörte nichts weiter außer seinen Atem. Hörte nichts weiter als die Stimme, die aus der Küche kam. Sein Vater legte auf. Er hörte das Klicken des Telefons, wenn man dieses zurück auf die Gabel legte. Und plötzlich… Das Neue Lied erklang, übertönte die Stimmen um ihn herum. Benebelte seine Gedanken. Benebelte seine Sinne. Er lockerte seine Hände und lief. So schnell er konnte. Doch weit kam er nicht. Eine starke Hand packte ihn am Oberarm. Drückte erbarmungslos zu. Zerquetschte seine Haut unter dem Stoff seiner Anziehsachen. Er riss seine Augen weit auf. Gefangen… Er war wieder gefangen. Wild zappelte er herum. Versuchte seinen Arm wegzuzerren. Versuchte sich zu befreien. Nicht wieder. Er wollte nicht wieder geschlagen werden. Er wollte nicht wieder diese Schmerzen spüren. Körperlich sowohl aber auch seelisch. Im Gerangel rutschten seine Kopfhörer aus den Ohren. Sackten zu Boden und schleiften beiden jeden Schritt über den Teppich. Der Träger seiner Schultasche rutschte von der Schulter. Die Tasche selbst fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, öffnete sich dabei. Der Inhalt fiel heraus. Verteilte sich über den Boden. Doch dafür hatte Gaara gar keine Beachtung. Mit seiner freien Hand versuchte er die seines Vaters wegzudrücken. Doch dieser krallte sich tief in die Haut. Krallte sich tiefer in Gaara. Zerrte diesen in Richtung Küche. Er japste leise nach Luft. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Aus der anfänglichen Angst entwickelte sich schon fast Panik. Sein Körper zitterte. Die Küche… Er wollte nicht in die Küche. Nicht mit seinem Vater. In der Küche zeigte dieser niemals Erbarmen. In der Küche griff dieser oftmals zum Gürtel. Gaara wusste nie warum. Er hatte nur eine Vermutung: In der Küche waren Fliesen. Diese ließen sich leichter von Blut reinigen, als auf dem Teppich im Flur oder Wohnzimmer. Nicht die Küche… Bitte, nicht die Küche… Erneut wollte er seinen Arm aus dem Griff ziehen. Wollte sich befreien. Er kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. „Lass los! Du tust mir weh, To-San…“ Keuchend kamen diese Worte über seine Lippen. Seine Unterlippe zitterte. Tränen sammelten sich in seinen Augen. Brannten hinter den geschlossenen Lidern. Sein Vater sollte loslassen. Sein Vater sollte ihn gehen lassen. Ihn nicht so berühren. Abrupt wurde er herumgewirbelt. Sein rotes, kurzes Haar wallte leicht nach oben und sank sanft wieder. Ein Klatschen erfüllte den Raum. Aufgrund des plötzlichen Schlages riss er erschrocken die Augen auf. Er taumelte nach hinten. Doch weiterhin fest in den Klauen seines Vaters. Die rechte Wange fühlte sich taub an, ehe der Schmerz in dieser explodierte. Ein zweiter Schlag traf ihn auf der linken Seite. Sein Kopf wirbelte nach rechts, bevor dieser nach unten sackte. Der dritte Schlag folgte dem zweiten und sofort kam auch der vierte. Warum? Warum machte er dies? Er verstand nicht. Was war dieses Mal falsch? „Warum, To-san?“ „Was fällt dir eigentlich ein?!“ Mit einem Ruck wurde er zu Boden geschleudert. Sein Kopf traf dabei das Tischbein. Dumpf fiel er auf die Fliesen. Sein Hinterkopf pochte unangenehm. Ein schmerzvolles Stöhnen kam über seine Lippen, ehe er seine Zähne krampfhaft zusammenbiss. Keuchend blieb er einen Moment liegen. Seine Wangen brannten wie Feuer. Er spürte noch die flache Hand seines Vaters auf der Haut. Als hätte diese sich darein gebrannt. Schwankend stemmte er sich auf seinen Unterarmen nach oben. Den Blick zu Boden gerichtet blieb er auf diesem knien. Warum? Warum?! Dieses kleine Wort fraß sich immer tiefer in seine Gedanken. Es fraß sich immer tiefer in sein Inneres. In sein Herz. So sehr, dass es schmerzte. So sehr, dass es ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Ein Tritt riss ihn wieder zu Boden. Riss ihn wieder in die Realität zurück. Nach dem ersten folgte sogleich der nächste. Und mit jedem Tritt spürte er immer mehr die Wut auf sich einprasseln. Diesen Hass ihm gegenüber. Ein Tritt mitten in seinen Magen ließ ihn würgen. Doch versuchte er mit Mühe den Brechreiz herunterzuschlucken. „Dein Direktor hat vorhin angerufen… Und was musste ich mir da anhören?! Du schwänzt den Sportunterricht?! Was fällt dir eigentlich ein, mich damit so zu blamieren?!“ Gaara erstarrte. Krallte seine Finger haltsuchend in die Fugen der Fliesen. So sehr, dass sie sich schon fast verkrampften. Dass sie schon schmerzten. Da hatte er seinen Grund. Den Anlass für die Wut. Die Tritte und Schläge bekam er nur, weil er Sport schwänzte. Weil er das Ansehen der Sabakunos damit in den Schmutz zog. Hart biss er sich auf seine Unterlippe. Ein weiterer Tritt traf ihn. Weiterer Schmerz pulsierte durch seinen Körper. Die Gefühle brachen über ihn ein. Die Angst vor seinem Vater. Die Furcht vor den Schlägen. Vor der Unwissenheit. Was würde als Nächstes kommen? Er wollte es eigentlich nicht wissen. Schließlich ahnte er es schon, dass es nichts Erfreuliches werden würde. Trauer überkam ihn. Darüber, dass sein Vater ihn anscheinend nicht sehr liebte. Ihn behandelte, als wäre er ein Gegenstand. Als wäre er etwas, das man achtlos wegwerfen konnte. Was es nicht wert war zu leben. Und zwischen diesen zwei Emotionen schlich sie diese eine dazwischen. Wut… Unermessliche Wut auf seinen Vater. Gaara beschmutzte mit seinem Schulschwänzen den Namen der Sabakunos? Was war dann mit seinem Vater? Der Mann, der angetrunken auf Arbeit ging? Der mit Alkohol in der Mittagspause seinen Körper erfrischte? Der besoffen heimkam und sein Kind misshandelte? Leise knirschte er mit den Zähnen. Kniff die Augen fest zusammen. So sehr, dass er schon weiße Punkte in dem dunklen Schwarz sah. Er ballte die Hände zu Fäusten. Bohrte seine Fingernägel tief ins Fleisch, sodass rote Abdrücke zurückblieben. Wessen Schuld war es, dass er dem Sportunterricht fernblieb? Dass er sich kaum noch mit Freunden traf, außer in der Schule? Dass er kaum raus ging und auf Skaterbahnen herumtobte? Kein Basketball oder Fußball mehr spielte? War er denn schuld, dass sein Körper übersät mit roten Linien und blauen Flecken war? War es denn seine Schuld, dass sein Leben nicht mehr das eines vierzehnjährigen Jungen war? Nein… Dafür war sein Vater ganz allein verantwortlich! Dieser allein! Der nächste Tritt kam, doch Gaara fing diesen mit den Händen ab. Zitternd krallte er sich in das Fußgelenk. Versuchte damit seinen Vater davon abzuhalten, ihn erneut zu treffen. Wollte damit erreichen, dass dieser in seiner Rage kurz stoppte. Dass dieser vielleicht noch einsah, dass er gerade dabei war seinem Sohn unerträgliche Schmerzen zuzufügen. Körperlich, sowie seelisch. Doch am meisten wollte er damit die Strafe hinauszögern. Das Unheil, was ihn immer wieder einholen würde. Egal, wie sehr er sich gegen seinen Vater auflehnen mochte. Egal, wie sehr er sich ihm widersetzte. Am Ende würde er es sein, der am Boden liegen blieb. Am Ende würde er es sein, der bluten und leiden würde. Am Ende würde er es sein, dessen Hoffnung wieder ein Stückchen mehr starb. Am Ende würde er es sein, der wieder zerbrochen war… „Ich bin nicht schuld…“ Seine Zunge fühlte sich schwer an. Ein dünner Hauch kam über seine Lippen. Zitternd biss er sich auf diese und richtete seinen Blick auf. Starrte mit totem Glanz in die glasigen Tiefen seines Gegenübers. Sein Griff wurde fester. Seine Nägel krallten sich tief in die Haut. Die Finger zitterten. Sein Körper bebte. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Seine Umgebung verschwamm hinter einem dichten Schleier aus bunten Farben. Das Einzige, was er wahrnahm, waren die dunkeln Augen seines Vaters. Die Augen, die einst voller Liebe und Wärme gestrahlt hatten… Wo war dieser Glanz? Wo war all diese Liebe hin? Anscheinend war dieses an dem Tag, wo seine Mutter von ihnen gegangen war, mit gestorben… Alles rückte wie in weite Ferne. Die Geräusche der tickenden Küchenuhr. Sein rasender Herzschlag. Seine Erinnerungen. Seine Furcht. Ja, selbst sein eigenes, hektisches Atmen. Die Brust hob und sank sich schnell. Er hatte Angst, dass er vielleicht noch ersticken würde, wenn diese Worte weiter in seinem Hals stecken blieben. Seine Wut schaukelte sich weiter nach oben. Je tiefer er in die Augen seines Vaters sah. Je intensiver er in dessen Gesicht blickte. Dieses geschockte Gesicht. Dieser Triumph in diesem Moment über den anderen. Sein eigener Blick voller Zorn. Seine Angst verzog sich. Für diesen einen Moment lockerten sich ihre Krallen um seinen Hals. Trotzdem war da immer noch dieses Gefühl. Dieser Kloß im Hals, der ihm das Atmen erschwerte. Der ihn aufhalten wollte, weitere Wörter zu sagen. Doch der Kloß war nicht groß genug, um ihn aufzuhalten. Er bewegte seine Lippen. Wollte – nein, musste jetzt etwas sagen. Ohne auf die Folgen zu achten. Für ihn zählte nur das Jetzt. Für ihn war in diesem Zeitpunkt wichtig, dass er sich gegen diese Vorwürfe seines Vaters zur Wehr setzte. Die Wut war stärker. Stärker als die Angst in diesem Moment. Und genauso stark wie seine Wut war, so groß würde die Konsequenz für sein Verhalten sein... „Warum immer ich?! Warum To-san?! Du bist es doch, der mich schlägt! Du bist es doch, der mich dazu bringt Sport zu schwänzen! Es ist doch deine Schuld, dass ich mit niemand mehr etwas unternehmen kann! Du bist doch---“ „Was erlaubst du dir eigentlich?!“ Gaara erstarrte bei der lauten Stimme. Verschluckte sich an seinen Worten und hustete leise auf. Erschrocken ließ er den Knöchel los. Was danach geschah, war viel zu schnell. Kaum dass er losgelassen hatte, hörte er schon die Gürtelschnalle seines Vaters, wie dieser sie öffnete. Und kaum als er dieses metallische Geräusch vernommen hatte, schlug das Leder hart auf seine Schulter. Ein Knall erfüllte die Stille im Raum. Gefolgt von weiteren. Instinktiv hob er schützend die Arme vor das Gesicht. Wimmerte leise, als sich ein brennender Schmerz durch seinen Arm zog. Das ekelhafte Geräusch schallte in seinen Ohren, wenn Leder auf nackte Haut traf. Auf die nackte Haut seiner blassen Hände. „Gomen… Gomen… Gomen…“ Doch egal, wie oft er sich entschuldigte. Sein Vater hörte nicht auf. Er schlug weiter auf ihn ein. Als würde er diesen nicht hören. Als wollte er diesen nicht hören. Als wollte er diesen nicht wahrnehmen. Gaara kniff die Augen zusammen. Unterdrückte einen Schrei. Schluckte seine Tränen. Versuchte sich abzulenken. Doch der Schmerz war stärker. Stärker als die Wut von ihm. Die Wut tauschte wieder ihren Platz mit der Angst. Gierig legte diese ihre Krallen um seinen Hals. Gierte danach zudrücken zu können. Ergötzte sich an seinem Leid. Der Raum war mit seinem Wimmern gefüllt. Die Augen fest zusammen gekniffen, sodass er nur Dunkelheit sah. Die Luft war stickig und der Geruch von Blut und Schweiß mischte sich unter. In Gedanken zählte er die Minuten mit, wie lange dieses Mal diese Strafe ging. Eine… zwei… drei… „Ich habe dich nie so erzogen, dass du so ungehorsam bist! Ich bin so enttäuscht von dir!“ Laut schallte die Stimme seines Vaters in seinen Ohren. Vermischt mit dem schnellen Rauschen seines eigenen Blutes. Er wimmerte leise. Ein weiterer Schlag traf seine linke Hand, ehe ein leises Knacken den Raum erfüllte. Seine Arme fühlten sich taub an. Sein Körper erbebte weiter. Warm und feucht lief das Blut über die blasse Haut. Vereinzelte Tränen quellten hervor. Rollten sachte über seine brennenden Wangen, um beim nächsten Schlag vom Kinn abzuperlen. „Wenn du auch nur irgendwem was erzählst, schick ich euch alle ins Heim! Das weißt du doch, oder?!“ Und er mit seinen leeren Gedanken zwischendrin. Weiter die Minuten zählend. Die Stimme seines Vaters rauschte an ihm vorbei. Er wusste doch, was dieser immer wieder sagen würde. Er wusste es doch. Aber bald konnte er es nicht mehr erhören. Hatte sein Vater Angst, dass er es vergessen würde? Dass er nicht daran dachte, dass sie alle ins Heim sollten? Wenn er nur irgendwem ein Sterbenswörtchen über die Übergriffe seines Vater sagen würde? Sie alle… Er wusste es. Er wusste es doch die ganze Zeit. Konnte es nicht vergessen, da man es ihm in seinen Leib geschlagen hatte. In die blasse Haut. Doch er wollte nicht ins Heim. Wollte nicht am Ende allein dastehen. Mit nichts in den Händen. Er wollte nicht von Temari und Kankuro getrennt werden. Er wollte diese Familie nicht kaputt machen. Schließlich war sie das Einzige, was sie alle noch besaßen. Was sie alle noch verband. Eine Familie – ein Bündnis, auch wenn es kaputt war. Und nur deswegen erduldete er weiter die Tyrannei seines Vaters. Dessen Schläge. Dessen Wut. In Gedanken die Minuten seiner Qual zählend. Und jede weitere Minute die er zählte, war eine weitere Minute, in der seine schützende Glaskugel um ihn herum immer mehr zerbrach. Jede weitere Minute zog weitere Risse durch sein Glas. So viel. So lange, bis er vielleicht irgendwann innerlich das Klirren wahrnahm, dass seinen letzten Schutz zerbrach. Dass er zerbrochen war. Sein eigener Wille… ~*~*~ Keuchend blieb Gaara liegen. Die Kälte der Fliesen drang durch seine Kleidung. Kühlte damit ein wenig seine brennende Haut. Die dunklen, dumpfen Schritte seines Vaters, als dieser die Küche verließ, hallten noch lange in seinem Kopf wider. Vermischt mit seinem schnell pochenden Herzen. Verschwommen mit dem Ticken der Küchenuhr. Sein linkes Handgelenk fühlte sich ungewohnt taub an. Er konnte es auch nicht wirklich bewegen. Sein Körper zitterte, als ein unermesslicher Schmerz durch diesen pulsierte. Träge hob er seinen rechten Arm und stemmte sich schwerfällig auf die Knie. Erschöpft seufzend setzte er sich auf. Starrte mit leerem Ausdruck in den Augen auf die blutbefleckten Fliesen. Starrte auf seine blassen Hände, welche blutüberströmt waren. Unter dem schwarzen Blazer würde es auch nicht besser aussehen. Der Stoff klebte unangenehm an seiner geschundenen Haut. Rieb sich gegen diese und ließ ein fürchterliches Brennen dadurch entstehen. Sein Kopf war wie leergefegt. Nur der Schmerz signalisierte ihm, dass er noch lebte. Seine zitternde Hand zeigte ihm, dass er es ‘überlebt‘ hatte. Doch so ‘unecht‘ und voller Pein sich sein Körper anfühlte, konnte er es kaum glauben, dass er noch lebte. Mit jedem Atemzug, den er machte, fühlte er sich weiter sterben. Mit jeder Muskelbewegung kam es ihm eher so vor, als würde er mitten im Sterben liegen. Er keuchte leise auf, kniff die Augen dabei zusammen. Die Gedanken brachen alle über ihn ein. Wie eine Welle, die seinen geschundenen Geist weiter in die Knie zwingen wollte. Die ihn weiter brechen wollte. Die vielen Fragen. So viele Fragen, doch einfach keine Antwort. Keine Antwort. Nie eine erhalten. Nie eine bekommen. Wie lange hatte sein Vater auf ihn eingeschlagen? Wie viele Narben wurden ihm dieses Mal in den Leib geschlagen? Wie blutverschmiert würden dieses Mal Arme, Beine, Rücken und Brust sein? Wie rot würde das klare Wasser dieses Mal nach dem Reinigen der Wunden im Waschbecken schimmern? Wie viel Verband würde er dieses Mal verbrauchen, um halbwegs die tiefen Verletzungen verarzten zu können? Wie viel? Wieso? Warum, To-san… Lebte er, weil er atmete? Weil er lief? Doch oft fühlte er sich wie tot, wenn er mal Pause von allem machte. Doch fühlte sich so Leben an? Als wäre man tot? War dies ein Leben mit den tausend unbeantworteten Fragen? Fühlte sich so Liebe, Glück an? Zerfressen von Schmerz und ertrunken in sehnsüchtigen Gefühlen? Verzweifelt auf der Suche nach Liebe? Nach Akzeptanz? Nach Geborgenheit? Bebend stellte er sich auf seine Beine. Taumelte zur Seite und lehnte sich kaputt an den Küchentisch. Den linken Arm zitternd umschlungen. Die Finger zu bewegen versuchend. Doch zwecklos. Gebrochen. Als kleiner Junge hatte er sich einmal dieselbe Hand gebrochen. Damals konnte er sie auch nicht bewegen. Dieses Gefühl war jetzt ähnlich. Doch heute war Freitag. Die Ärzte hatten schon geschlossen. Er könnte erst Montag versuchen zu einem zu gehen. Temari würde er sagen, dass er sich unwohl fühlte. Und dann würde Gaara am Montag irgendwie die Treppen herunterstolpern. Würde das reichen, damit man sich die Hand ‘brach‘? Oder über seine Tasche fallen und dann gegen die Wand? Es war schwer zugefügten Verletzungen eine glaubwürdige Ausrede zu verleihen. Vor allem wenn es solche waren, die man nicht einfach von einem kleinen Sturz oder einem Stolpern erhalten konnte. Seine Sicht klärte sich. Ein Zeichen dafür, dass er jetzt versuchen konnte einige Schritte zu gehen. Seine Knie zitterten. Seine Füße fühlten sich schwer an. Er trug sogar noch seine Schuhe. Bei der ganzen Angst und Hektik am Eingang hatte er gänzlich vergessen diese auszuziehen. Müde streifte er sich diese ab und ließ sie achtlos in der Küche liegen. Sein erster Weg würde ihn wieder ins Bad führen. Sich dort einschließen und Wunden reinigen. Verletzungen verarzten. Wie jedes Mal… Dumpf klangen seine Schritte auf dem Teppichboden im Flur. Hallten leise von den kahlen, bilderlosen Wänden wider. Seine Kopfhörer schleiften unbemerkt hinter ihm her. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Schweiß lief ihm über die Schläfe und die Wange herab, um am Kinn abzuperlen. Den Blick zu Boden gerichtet, taumelte er weiter den Weg zum Badezimmer an. In Gedanken weit woanders. Hatte er noch Hausaufgaben zu erledigen? Nachdem er alles verarztet und den Fliesenboden in der Küche gereinigt hatte, würde er noch einmal in seine Schulbücher sehen. Um sicher zu gehen. Noch einmal eine schlechte Note wegen vergessener Hausaufgaben und die darauffolgende Strafe seines Vaters wollte er nicht erneut erleben… Seine Schritte verstummten. Der Körper spannte sich an. Er stand nun vor dem Wohnzimmer. In diesem hörte er seinen Vater. Wimmern und Weinen. Immer wieder hörte er diesen dasselbe sagen. Tag aus. Tag ein. Immer, wenn er nach einer Prügelei am Wohnzimmer vorbei ging. Immer, wenn sein Vater sich zurück zog. Ins Wohnzimmer. In seine Höhle. Oft dachte Gaara, dass dort sein Vater die Wunden leckte. Wunden, die sich so tief in dessen Herz gefressen hatten. „Oh, Karura… Gomen nasai… Gomen nasai… Für alles, was ich unseren Kindern antue… Ich will das doch nicht… Ich möchte doch damit aufhören. Aber es ist so schwer… Doch ich will es weiter versuchen… Oh, Karura…“ Zitternd legte Gaara seine Hand auf seine Brust. Krallte sich tief in seinen Blazer. Tränen sammelten sich in seinen Augen. Wollten hervorquellen. Es zerriss ihn immer wieder diese Worte zu hören. Es zerriss ihn innerlich so sehr. Dabei müsste er diesen Mann hassen. Ihn dafür hassen, dass er nicht mehr Kind war. Nicht mehr Kind sein durfte. Dass er fast jeden Tag Qual erleiden musste. Dass er sich so tot fühlte. Ja, er war wütend auf seinen Vater. Doch Wut war nicht gleich Hass. Wut verrauchte, Hass aber nicht. Hass verschwand erst, wenn man die andere Person lieben lernte. Er hatte seinen Vater lieb. Schließlich war er dessen Sohn. Aber er fühlte Mitleid. Mitleid für diesen Menschen, der alles mit dem Tod seiner Frau und ihrer Mutter verloren hatte. Die Liebe und den Sinn des Lebens. Der Mensch, der sich damit selbst verloren hatte… Stumm seufzend schloss er seine bebenden Augenlider. Lehnte seine Stirn gegen die weiße Tapete an der Wand. Krallte seine rechte Hand tief in den Stoff des Blazers. Kniff die Augen fester zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Er hatte Mitleid mit seinem Vater. Derjenige, der außer seinen Kindern niemanden mehr hatte. Derjenige, welcher es nicht schaffte, seine Kinder so zu lieben wie früher. Der Schmerz, die Trauer und der Gram über den Tod von dessen großer Liebe waren größer als die Möglichkeit, das zu lieben, was noch übrig war. Und er war wütend auf diesen Vater. Derjenige, der ihn schlug. Derjenige, der sein Leben kaputt machte. Derjenige, der seine Existenz mit Füßen trat. Derjenige, der es nicht schaffte vom Alkohol wegzukommen. Der sich immer weiter im Rausch treiben ließ und immer tiefer in diesem versank. Immer tiefer fiel. Tränen quollen hervor. Er schluckte ein Schluchzen herunter. Schluckte einen verzweifelten Schrei herunter. Wie ein dicker Kloß saß dieser in seiner Kehle fest. Er verstand es nicht. Seinen Vater und sich ebenfalls nicht. Seine Gefühle waren im Zwiespalt. Er müsste diesen Mann hassen. Für allen Schmerz. Doch er fühlte Mitleid für ihn. Hatte ihn doch auch lieb. Schließlich war er sein Vater. Sein Vater, den er als einziges Elternteil noch besaß. Er musste ihn lieb haben. Wen außer seinen Kindern hatte sein Vater denn noch? Niemanden… Zerfressen von Einsamkeit und ungeliebt sein… Das waren beide… Stumm schrie er auf. Einen Schrei, den niemand hörte. Und während sein Herz so verzweifelt schrie, bekam er nur eine einzige Frage wie einen dünnen Hauch über seine Lippen… „Warum, To-san?“ _______________________________________ © Songtext "Distress and Coma" by the GazettE Kapitel 8: Aus Liebe gepeitscht [Teil 3] ---------------------------------------- Selten gibt es Tage, an denen ‘Vater’ ruhig ist. Meistens schläft er dann den ganzen Tag über seinen Rausch aus. Eine kurze Verschnaufpause für mich. Doch wenn ‘Vater’ wütend ist und dabei getrunken oder wieder diesen ‚Shit‘ geraucht hat, dann ist er unberechenbar. Seit über einem Jahr wird es von Monat zu Monat immer schlimmer. Zwischen seinen kräftigen Händen zerbricht alles. Wirklich alles! Holzmöbel, Porzellangeschirr, Glasscheiben, Keramikfliesen, Knochen... Und zwischen all diesem Schutt zerbrach mein Wille - mich gegen ihn zu widersetzen - wie Glas. Er kann und schafft das, schließlich ist er ein Monster. Doch meinen Willen, zu überleben, wird er nicht brechen können… Aus Liebe gepeitscht [Teil 3] 28. Oktober 2009 Sakende... koe ga kareru made hikari sasu ano basho made todoke. Shisen wa tsubusarenani hitotsu miezu, nani hitotsu kanjinai. Tesaguri makase no aimai na keshiki fuan ni taekirezu. [Ich schreie... bis meine Stimme versagt und das Licht diesen Ort erreichen würde. Mir wird schwarz vor Augen, ich kann nichts sehen und nichts fühlen. Ich taste nach dem mehrdeutigen Bild vor meinen Augen und kann aus Angst nicht aufhören.] ‚Ray‘ von ‚the GazettE‘ lief so eben. Gedämpft hörte Gaara die Musik aus den Kopfhörern seines MP3-Players, welcher unangetastet neben seinem Kopf lag. Er selbst ruhte auf seinem Bauch. Spürte unter dem Stoff seines schwarzen T-Shirts die einzelnen Sprungfedern der Matratze. Das Gesicht hatte er tief im Kissen vergraben. So sehr, dass er fast keine Luft bekam. Die Finger tief in den Kopfkissenbezug gekrallt. So verkrampft und so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sein Körper bebte vor pochendem Schmerz. Heiß lief das Blut über seine Arme. Über den Rücken. Im Moment war es ihm egal, dass er die weißen Bettbezüge mit seinem eigenen Blut rot färbte. Es war ihm so egal. Denn im Augenblick hing er mit seinen Sinnen und Gedanken noch bei den letzten, für ihn qualvollen Minuten. Immer noch herrschte das Gefühl des Gürtels auf seiner Haut. Die Schnalle, wie sie sich tief in seinen Rücken bohrte. Tief in die Haut, um neue Narben reinzureißen. Um neue Wunden zuzufügen. Er wusste schon lange nicht mehr, wie viele Narben er hatte. In diesem einen Jahr hatte er aufgehört zu zählen. Aufgehört sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Er war der Prügelknabe für dieses Monstrum geworden, das sich ‘Vater’ schimpfte. Er war der Haussklave, dem alle Aufgaben in die Hände gelegt wurden. Die er in bestimmten Zeitabschnitten erledigen musste. Oft war es unmöglich… Doch er wollte noch nicht aufgeben. Wollte das Bisschen Würde, das Bisschen Ehre, welches er noch besaß, verteidigen. Wollte darum kämpfen, das Bisschen Leben zu halten. Das Bisschen Leben, das noch seins war… Doch wie lange würde er es noch aushalten können? Wie lange würde dieser Kampf gehen? Dieses Schweigen? Diese Unterdrückung? Oft dachte er daran, dass er allem ein Ende setzen wollte. Einfach aufhören zu kämpfen. Aufhören zu leben. Aber dann schlich sich dieser eine Gedanke dazwischen. Dieser Gedanke, dass es vielleicht genau das war, was sein Vater wollte. Dieser Mann hatte zwar seinen Willen gebrochen, sodass er sich den Strafen und „Spielchen“ dieses Verrückten fügte. Aber den Willen zum Überleben... Diesen hatte und würde dieses Monster niemals brechen! Zurzeit war der Wille, zu leben, in seinem Herzen noch größer, als der Wunsch, zu sterben. In der Hoffnung, dass der Mut und der Wunsch zum Überleben größer waren als die Macht seines Vaters… Hart schlug er mit geballter Faust in sein Kopfkissen. Immer wieder. So oft und so lange. Seine Fingernägel bohrten sich tief in die Haut. Hinterließen rote Kerben in dieser. Seine Arme brannten bei jeder Bewegung immer mehr. Das Blut sickerte weiter aus der aufgerissenen Haut. Die Zeit zum Verarzten und Versorgen der Wunden hatte er nicht. Sein ‘Vater’ hatte ihn sofort in sein Zimmer gestoßen. Hier war er gefangen. Zwischen den vier Wänden, die er vor Jahren mal ‚Seins‘ nennen durfte. Doch jetzt war es sein Verlies, wo er die Zeit absitzen musste. Wo er abgeschieden vom Rest der Familie lebte. Somit war er weg. Weg von seinem ’Vater’. Weg von diesem Monstrum. Aus dessen Augen. Solange, bis das Monstrum wieder kam. Sich ihn holte und erneut quälte. Aber so lange musste er hier warten. Warten. Mit der Angst und der Unwissenheit leben, was als Nächstes kommen würde. Verschlossen hinter verriegelter Tür… Dennoch… Oft sagte er sich, dass er sich damit glücklich schätzen konnte. Er war oft glücklich, wenn er mehrere Stunden am Stück hier eingesperrt zwar. Zwar mit Hunger und Durst, aber weg von diesem Monster. Weg von seinem Vater, der seine angebliche Liebe mit Hieben und Schlägen ausdrückte. Hier war er allein. Und solange es so blieb, so fühlte er sich ein wenig sicher. Sicher und in dieser Dunkelheit seines Zimmers geborgen. Aber nicht nur Sicherheit begrüßte ihn in seinem dunklen Zimmer. Er bekam hier auch die Zeit zum Erholen. Um neue Kraft zu schöpfen. Zum Nachdenken. Die Dunkelheit beruhigte seine Gedanken. Er mochte sie ein wenig. Schließlich wusste Gaara doch, dass er da sicher und geborgen war. Denn in der Dunkelheit sah man vergossene Tränen nicht. Sah man das Schimmern in den Augen nicht. Diesen toten Glanz. Er konnte stumm weinen, ohne dass es jemand bemerken konnte. Er konnte Gefühl zeigen, ohne dass es jemand sah. Diese Tatsache zeigte ihm, dass er noch Gefühle hatte. Dass er noch lebte… Aber er wusste ebenfalls, dass in der Dunkelheit die meiste Gefahr lauerte. Gefahren, die nicht sofort erkannt und gesehen werden konnten… Doch wann hatte es begonnen? Gaara erinnerte sich nur vage daran. Vor einem Jahr – es musste knappe drei Monate nach Mutters Tod gewesen sein, genau da musste es begonnen haben. Aber er war sich nicht sicher. Es konnte ebenso ein Monat eher oder später gewesen sein. Dennoch wusste er noch genau, warum alles so geendet hatte. Es war an einem dieser wenigen Tagen. Diese Tage, wo er den Strafen seines Vaters entkommen war. Den Krallen dieses Monstrums. Er wusste noch genau, dass er an diesem Nachmittag dem Gürtel und den Schlägen ausgewichen war. Noch genau vor Augen konnte er das überraschte und verblüffte Gesicht dieses Monstrums erkennen. Dieser hatte ebenso wenig damit gerechnet, wie Gaara selbst. Was war das an diesem Tag für eine Genugtuung und ein Erfolg gewesen? Ein großer Sieg, den er überhaupt erreichen konnte. An diesem Tag hatte er gespürt, dass sein Vater ihn nicht gänzlich brechen konnte. Dass er mit Glück und Geschick immer eine Lücke finden konnte, um sich zur Wehr zu setzen. Er war stolz darauf. Stolz auf diese Erkenntnis, die er an diesem Tag damit erlangt hatte. Beide standen sich nur eine kurze Zeit stumm gegenüber. Und kurz darauf war er gleich in sein Zimmer geflüchtet. Hatte sich mit aller Kraft gegen die Tür gestemmt. Wollte nicht, dass dieses Monstrum in sein Zimmer kam. Es war damals ein Kampf gewesen. So hart. So schwer zu gewinnen. Dennoch wollte er ihn nicht verlieren. Am Ende war er als Sieger hervorgegangen. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Im Moment darauf hatte sein Vater begonnen, ihn in seinem eigenen Zimmer einzusperren. Jeden Tag von Neuem. Nur in der Nacht war es ihm erlaubt, das Zimmer frei zu verlassen. Nachts, wenn alle schliefen. Nachts und wenn er am Morgen zur Schule gehen musste… An die Bilder aus dieser Zeit konnte er sich nur vage erinnern. Warum er diese Strafe erhalten hatte und was der Auslöser für seinen Mut und seine Gegenwehr gewesen war… Er hatte es gänzlich verdrängt oder vergessen. Das Einzige waren die Gefühle, die übrig geblieben waren. Die er tief in sich verschlossen hatte. Dieser Stolz. Dieses Glücksgefühl. Und die panische Angst. Der Kraftaufwand gegen die Tür. Das laute Pochen am Holz. Das starke Rütteln an der Türklinke. Er spürte es heute noch. Wenn er sich fest mit dem Rücken gegen die Tür presste. Voller Angst und mit aller Kraft, wie er es an diesem einen Nachmittag gemacht hatte. Er hatte noch dasselbe Gefühl, wenn er zitternd mit den Fingerspitzen über die Maserung fuhr. Seinen Kopf fest gegen das Holz drückte. Genau dieselbe Angst wie früher. Wie ein Déjà-vu. Die Erinnerungen verdrängend, zog er zitternd die Luft ein. Seine Unterlippe bebte. Seine Zähne schlugen hart aufeinander. Eine Gänsehaut überzog seine Arme. Ließ seine Nackenhärchen aufrecht stehen. Er fror. So entsetzlich, dabei glühte sein Gesicht, als würde es unter Flammen stehen. Als würde es brennen. Sicherlich waren seine Wangen auf dem blassen Gesicht stark gerötet. Fest kniff er die Augen weiter zusammen. So stark, dass weiße Punkte in der Dunkelheit aufflammten. So fest, dass er Kopfschmerzen bekam. Erneut holte er tief Luft. Verschluckte sich fast bei dieser Menge, ehe er schrie. So laut, wie er konnte. So stark, wie er konnte. So verzweifelt und schmerzvoll, wie er konnte. Das Kissen dämpfte alles ab. Niemand hörte ihn. - Niemand bemerkte ihn. Der Schrei verstummte. Leicht hob er das Gesicht an, um zu Atem zu kommen. Kälte schlug ihm entgegen. In seinem Zimmer war es eiskalt. Die Wärme durch das Kissen entwich schnell. Er japste nach Luft. Bewegte fast lautlos seine Lippen, sodass er nur ein Wispern über diese bekam… ‚ Da sonst die ‚heile Welt‘ zerbricht, so hört man stumme Schreie nicht… ‘ Doch dieses „Warum?“ ließ ihm keine Ruhe. Warum immer er? Was hatte er falsch gemacht, dass sein Vater ihn so sehr hasste? Ihn verabscheute? Ihn nicht mehr lieb hatte? Dabei war Gaara ein lieber Junge gewesen. Wenn Vater und Mutter keine Zeit für ihn hatten, dann hatte er selten gebettelt oder genervt. Er hatte es oft hingenommen, lieb genickt und hatte sich alleine beschäftigt. Damit seine Eltern auch mal Ruhe für sich haben konnten. War dies damals so falsch gewesen? Sein Verhalten? Oft fragte er sich, ob er früher hätte egoistischer sein sollen. Sich mehr in der Familie eingliedern sollen. Wie es wäre, wenn er sich nicht immer still und heimlich in seinem Zimmer verkrochen hätte. Oder draußen allein herumgetollt wäre. Wäre alles vielleicht anders, wenn er mehr mit Vater und Mutter geredet hätte? Ihnen mehr erzählt hätte, wie Schule und Freizeit waren? Wäre vielleicht…? Doch er konnte es nicht mehr ändern. Die Vergangenheit war unwiderruflich. Vergangen und oft vergessen wie sie war… Dennoch… So viele Fragen, welche ihn seit Jahren schon quälten. Doch nie… Nie bekam er eine Antwort auf eine einzelne Frage! Blieb unwissend und diese Tatsache machte ihn schier wahnsinnig. Diese Unwissenheit, was als Nächstes kommen und passieren mochte. Warum dies alles passierte. Oft fragte er sich immer noch, warum sein Vater ihn so misshandelte. Ihm somit die gewünschte Liebe entgegenbrachte. Aber insgeheim sagte er auch zu sich selbst, dass er den Grund nicht wissen wollte. Den Grund, warum sein Vater ihn wieder zusammenschlug. Es hatte ja doch sowieso keinen Sinn. Was würde es ändern, wenn er die Gründe wusste? Gaara würde sich nur schlechter fühlen, als es ihm schon so jetzt war. Er hasste es. So sehr. Da er sich sicher war: In irgendeinem kleinen Winkel seines naiven Kinder-Ichs, stellte sich dieses immer wieder die eine Frage. „Warum?“ Am meisten hasste er es, dass er dieses kleine „Warum?“ nicht aus seinen Gedanken verbannen konnte. Dieses „Warum?“ was sich schon so tief in seinen jugendlichen Verstand gefressen hatte. So tief, dass es in seinem Herzen schmerzhafte Wurzeln geschlagen hatte. Seine Ketten um dieses schloss und somit schon ein Teil seiner selbst geworden war. Ein Teil seiner selbst, dass sein Leben ein Stückchen mitbestimmte… Stumm bewegte er seine Lippen… ‚ Bitte, Kami, so rette mich Damit ‘Vater’ mich nicht zerbricht ‘ Wenn es Kami gab, warum half er ihm nicht? Warum ließ er ihn dieses Leid ertragen? Warum ließ er ihn so allein? Egal, wie oft er betete. Wie oft er flehte. Niemand half ihm. Wo war Kami, wenn man ihn brauchte? Er hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu beten. Aufgehört zu glauben. Zu hoffen, dass Kami ihn erhören würde. Ihm helfen würde. Anscheinend hasste Kami ihn so sehr, weswegen er das alles verdiente. Sonst hätte Kami auch nicht zugelassen, dass Mutter von ihnen ging… Das Bild seiner lieben Mutter schoss vor sein inneres Auge. Das Gesicht schon verblasst. Es schmerzte ihn, dass er ihr Gesicht in Gedanken nicht mehr zusammenbekam. Dass er kein Foto mehr von ihr hatte. Es schmerzte sehr. Er wusste nicht einmal mehr, wie sie aussah. Alle Bilder von ihr wurden in seinem Herzen verdrängt. Gelöscht durch den Mann, der sich ‘Vater‘ schimpfte. Vergrault durch dessen Schläge. In seinem Herzen war kein Platz mehr für seine geliebte Mutter. Nein, dort regierten nur noch die Angst und dieser Hass auf dieses Monster. Und der Wunsch zu überleben… Er schluchzte laut auf. Holte erneut tief Luft und presste wieder das Gesicht in sein Kissen. Schrie erneut in den Stoff dieses. Schlug mit den Fäusten weiter darauf ein. Heiße, salzige Tränen rannen über seine Wangen. Liebkosten ihn und versuchten ihn zu trösten. Doch sie schafften es nicht. Stille Tränen brannten auf den heißen Wangen. Rissen weitere tiefe Narben ins Gesicht. „Ich bin… nicht schuld…?“ Ein dünner Hauch kam über seine Lippen. Er war doch nicht schuld, oder? Er versuchte doch alles, um für seinen Vater der Sohn zu sein, den dieser ihn wünschte. Er gab sich doch erdenkliche Mühe, dass er alles diesem Mann zu Recht machen konnte. Doch all seine Mühe wurde mit Füßen getreten. All seine Arbeit mit dem Gürtel kaputt gepeitscht. Alle seine erledigten Aufgaben mit Hungern und Schlägen belohnt. Dabei wollte er doch nur von seinem Vater geliebt, geachtet und geschätzt werden. War dies etwa ein Verbrechen? War es zu viel verlangt? Dennoch sagte er nichts. Schwieg über sein Leid und blieb stumm. Musste stumm bleiben. Er jammerte nicht. Er schrie nicht, wenn Vater ihn schlug. Sein Mund war zugenäht. Die Zunge taub, durch die Hand dieses Monsters. Zitternd bewegten seine Lippen sich erneut. ‚ Warum?! Warum?! Warum?! Warum?! Ich jammre nicht und bleibe stumm, doch ‘Vater’ bringt mich langsam um... ‘ Keuchend hörte Gaara auf zu schreien. Stoppte damit, weiter auf das Kissen einzuschlagen. Sein Körper zitterte vor Anstrengung und Schmerz. Er unterdrückte jedes Geräusch. Immer wieder. Erneut wurden seine Schultern durch ein unterdrücktes Schluchzen geschüttelt. Er war erschöpft. Zu müde, um weiter zu schreien. Zu müde, um weiter auf das Kissen einzuschlagen. Weitere stumme Tränen rannen über seine Wangen. Träge hob er sein Gesicht an. Genoss für einen Moment die Kälte auf seinen hitzigen Wangen. Holte tief Luft und hielt sie für einen kurzen Moment an. Schnaufend ließ er diese wieder aus seinen Lungen heraus. Fix und fertig ließ er den Kopf wieder sanft auf das Kissen sinken. Ein pochender Schmerz war in diesem zu spüren. Herrührend davon, dass er wie besessen geschrien, verzweifelt geweint und das Kissen geschlagen hatte. Seine Augenlider öffnete er zitternd. Die türkisen Iriden ausdruckslos zum Fenster gerichtet. Dunkelheit empfing ihn. Die dunkelblauen Gardinen waren geschlossen. Und draußen die Sonne schon längst untergegangen. Gaara wusste nicht einmal, wie lange er hier schon lag. Wie viele Stunden es waren. Wie lange er wütend und verzweifelt auf das Kopfkissen eingeschlagen hatte. Egal… Jetzt lauschte er der Stille. Aus den Kopfhörern seines MP3-Players kam schon lange keine Musik mehr. Die Batterie war leer. Stille übernahm das Zimmer. Nur sein eigenes, angestrengtes Atmen war zu hören. Leise noch das Rauschen des Windes, welcher erbarmungslos gegen sein Fenster klopfte. „Warum nicht?! Willst doch Daddy’s Mädchen sein, oder?! Hast du Daddy nicht mehr lieb?!“ Gaara erstarrte. Ein unangenehmer Schauer lief ihm über den Rücken. Die Augen weit aufgerissen, als er die Stimme dieses Mannes hörte. Die Stimme dieses Monstrums. Erneut krallte sich die Angst in seinen Nacken. Packte zu und drückte ihm die Luft aus der Kehle. Sein Hals fühlte sich trocken an. Ein Kloß in diesem raubte ihm die Luft zum Atmen. Dabei hatte er nicht einmal Angst vor seinem Vater. Der ihn niederschlug. Ihn demütigte. Diesem Monstrum, das er so sehr hasste. Sondern vor dessen Stimme. Dessen Worten, denen er gehorchen musste. Früher hatte er Mitleid für diesen Mann empfunden. Mitleid dafür, dass dieser seinen Sinn im Leben verloren hatte. Doch aus diesem Mitleid war schnell Hass geworden. Aus dieser kindlichen Wut Angst… Vor allem hatte er aber entsetzliche Angst, dass dieser Mensch - der sich ‘Vater’ schimpfte - eines Tages zu weit gehen würde. Soweit, dass er ihn tötete. Er fürchtete sich vor dem Tod. Denn sonst wäre sein ganzer Kampf ums nackte Überleben umsonst gewesen… Erneut bewegten sich seine Lippen. Ein dünner Hauch kam über diese. ‚ Wäre so gerne noch ein Kind, doch bin schon lange nicht mehr Kind, seit ‘Vater‘ sich scheiße benimmt, mich einfach schlägt, wenn was nicht stimmt…‘ Ein lautes Pochen an der Tür riss ihn aus seiner Starre. Ein leises Kratzen zeigte ihm, dass sein Vater versuchte die Türe zu öffnen. Dieser es aber nicht auf Anhieb schaffte. Gaara konnte es sich bildlich vorstellen, wie dessen Hände verrückt zitterten. Wie blutunterlaufen die dunklen Augen in diesem Moment waren. Erst nach gefühlten Ewigkeiten zeigte ihm das Klicken an, dass die Tür wieder offen war. Seine Schultern erzitterten. Leicht biss er sich auf seine Unterlippe. Kaute auf dieser herum, bis er trockene, dünne Haut wieder aufgerissen hatte. Was würde dieses Mal auf ihn zukommen? Was musste er dieses Mal machen? Wie wollte sein Vater ihn dieses Mal in die Knie zwingen? Welche Strafe würde er diese Mal erhalten? Hungern? Oder wieder Schläge? Würde dieses Monster ihn wieder mit dem Gürtel auspeitschen? Ihm die Schulter auskugeln? Oder einen seiner Arme brechen? „Mach den Abwasch in der Küche und putz sie! In 20 Minuten bist du damit fertig! Sonst setzt es was!“ Diese Worte hatten sich tief in Gaara gebrannt. 20 Minuten für den ganzen Abwasch. Es war bei diesem angesammelten Berg unmöglich, es zu schaffen. Dazu noch die Küche putzen und wischen? Unmöglich, dieses Zeitlimit einzuhalten. Doch er musste. Er musste sich reinhängen. Die Angst vor der darauffolgenden Strafe war einfach zu groß. Träge stemmte er sich auf seinen Ellenbogen nach oben. Seine Arme zitterten so sehr, dass er Angst hatte, er würde sofort wieder in sich zusammensacken. Seine Knochen knackten, als er seinen tauben Körper wieder bewegte. So lange hatte er in ein und derselben Stellung verharrt. Erschöpft richtete er seine türkisen Iriden vor sich auf das Bett. Ausdruckslos und tot starrten sie auf das nasse Kopfkissen. Vereinzelte rote Striemen zogen sich darüber. Von seinen blutenden Armen und Händen. Unschöne Abdrücke auf dem so reinen Weiß. Spätestens heute Abend würde das Blut getrocknet sein. Und aus den roten Flecken würden hässliche, braune werden. Ein Anblick, den er schon gewöhnt war. Das rote Haar hing ihn matt und zerzaust im Gesicht. Legte dadurch einen Schatten über seine müden Augen. Zitternd drehte er seine Handinnenflächen zu sich. Betrachtete sich seine Wunden an den Händen. Sie waren feuerrot. Feucht und brannten fürchterlich. Doch er sagte nichts dazu. Weinte nicht darüber. Feuerrote Hände hatte er oft, vor allem wenn dieses Monstrums ihn zwang, mit kochendem Wasser das Geschirr abzuwaschen. Doch heute hatte er sie, weil er mit bloßen Fingern auf die Herdplatte fassen sollte. Kleine Brandblasen hatten sich schon an einigen Stellen gebildet. Ein hoffnungsloses Lächeln lag auf seinen Lippen. Würde es jemals enden? Diese Strafen? Diese Gewalt? Diese Demütigung? Diese Schmerzen? Diese Angst? Wie lange konnte er es noch ertragen? Wie lange würde er es noch ertragen müssen? Wie lange… Oft dachte er daran aufzugeben. Oft dachte er daran, alles hinzuwerfen. Wie oft würde er noch fallen? Wie oft noch aufstehen können? Würde die Kraft reichen, um einen weiteren Tag zu überleben? Dünn kamen die nächsten Worte über seine Lippen. ‚ Hör‘ doch, wie laut ER wieder schreit, wär‘ gern taub, von allem befreit…‘ So verzweifelt. So am Ende mit den Kräften. Doch er musste kämpften. Wollte überleben, um diesem Mann zu zeigen, dass er ihn niemals soweit brechen konnte. Dass dieser es niemals schaffen würde, dass Gaara sterben wollte. Er hing am Leben. So lange, wie es von Nöten war. So lange, wie es seine Kraft erlaubte. Er hoffte auf den Tag, von dem an irgendwann alles sein Ende nahm. Er hoffte auf den Tag, an dem er sagen konnte „Ich habe überlebt…“. Er hoffte auf den Tag, an dem er schreien konnte „Ich lebe!“. Er hoffte auf den Tag, an dem er der ganzen Welt verkünden könnte „ICH BIN FREI!“ Er hoffte… Hoffnung starb zuletzt und seine sollte nicht umsonst gewesen sein… ~*~*~ Mit zittrigen Schritten lief er zur Küche. Seine Wange pochte unangenehm, doch nahm er den Schmerz der Ohrfeige kaum wahr, die er im Flur eben bekommen hatte. Dafür war der Schmerz in seinem Inneren zu groß. Diese Demütigung. Dieser Hass auf ihn. Dieses Gefühl von Wertlosigkeit. Vom Ungeliebtsein. In der Küche angekommen stützte er sich mit aller Kraft gegen das Spülbecken. Schnappte sich mit schmerzvollem Keuchen die Spülmittelflasche. Seine Hände brannten, als er das Plastik der Flasche ergriff. Verzweifelt klammerte er sich an diese heran. Schnell gab er ein wenig in das leere, metallische Spülbecken und ließ parallel dazu lauwarmes Wasser einlaufen. Angenehm warm, auch wenn er wusste, dass seine Hände sicherlich durch das Berühren von dem Geschirr brennen würden… Keuchend stand er nun am Spülbecken in der Küche und wusch das Geschirr ab. Jetzt, nachdem die ganze Hektik mit dem Herkommen in die Küche und dem Spülwasser vorbei war. Jetzt, wo sein Körper ein wenig wieder zur Ruhe gekommen war. Ja, jetzt bemerkte er die entsetzlichen Schmerzen in seinem Körper deutlicher. Sein Rücken brannte. Unangenehm fühlte er das getrocknete Blut auf seiner Haut. Bemerkte wie durchnässt mit Schweiß und Blut der Stoff seines schwarzen T-Shirts war. Wie es schwer an seinem Körper hing. An ihm klebte. Ein Zittern durchfuhr seinen Leib. Fest biss er die Zähne zusammen, damit kein Wimmern, kein Schrei über seine Lippen kam. Er krümmte sich leicht. So sehr schmerzte sein Körper. Er wusste wirklich nicht, wie er sich stellen sollte, um diese Pein in seinem Leib ein wenig abzudämpfen. Seine Finger krallten sich tief in die Arbeitsplatte. Die Hände brannten fürchterlich. Doch er musste durch. Erneut tauchte er seine geschundenen Hände ins Becken. Seine türkisen Iriden starrten leer auf den Schaum in der Spüle. Wie mechanisch wusch er das Geschirr ab. Die Hände zitternd in das lauwarme Wasser getunkt. Zwischen den bebenden Fingern einen roten Porzellan Teller. Stumm fuhr er mit dem Lappen über die glatte Oberfläche. Das Ticken der Küchenuhr, vermischt mit dem platschenden Laut - wenn er den Lappen wieder ins Wasser tunkte – waren die einzigen Geräusche, welche die Küche erfüllten. In Gedanken versunken. Er musste das Limit schaffen. Er musste. Auch wenn es fast unmöglich war, da schon allein fünf Minuten vergangen waren, ehe er es überhaupt geschafft hatte in die Küche zu kommen. „Nein… nicht…“ Erschrocken riss Gaara seine Augen auf. Ließ vor Schreck den Teller aus der Hand fallen. Nicht wieder... Warum konnte Vater Temari nicht in Frieden lassen? Seine Finger von ihr lassen? Wieso musste dieses Monstrum sie so berühren? Warum? Anscheinend reichte es dem Vater nicht, dass er seinen Sohn kaputt machte. Seine einzige Tochter wurde ebenfalls Opfer seiner krankhaften Spielchen… Welches Tier in seinem ‘Vater’ fristete dort sein Dasein, dass dieser seine Kinder so kaputt machte? Sie Einen nach dem anderen zerbrach? So lange, bis sie fast willenlos waren? War es der Alkohol? Die unzähligen Flaschen, die er am Tag trank? Literweise vor dem Fernseher? War es dieser ‚Shit‘, welchen dieser rauchte? Diese Joints, wie Kankuro es bezeichnete? Er hatte von seinem Bruder gehört, dass dieses Zeug verrückt machte und den Verstand des Menschen zerstörte. Oder diese Medikamente? Der Drang, Haufen Tabletten zu schlucken? Welche Sucht war es, die in der ganzen Zeit aus diesem strengen, doch liebevollen Vater ein Monster erschaffen hatte? Warum, To-san… Klirrend fiel der Teller zu Boden und zerschellte dort in einem Haufen Scherben. Die roten Splitter verteilten sich über den Fliesenboden. Das Klirren des Porzellans zog seine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschirr. Müde betrachtete er das Missgeschick. Ein trostloses Lächeln legte sich auf seine Lippen. Tränen kämpften sich in ihn hoch. Brannten in seinen Augen, als er sich dieses Bild genauer ansah. Er schluckte sie herunter. Durfte nicht weinen. Doch es schmerzte ihn so sehr, da es ihn an etwas erinnerte. Das Rot der Scherben stach aus dem Weiß der Fliesen hervor. So rot wie das Blut auf seiner wundgeschlagenen, blassen Haut… Träge kniete er sich vor den kaputten Teller und sammelte die einzelnen, größeren Scherben zusammen. Bei einer schnitt er sich. Zuckte nicht einmal zusammen, sondern sammelte weiter die Scherben ein. Er bemerkte den stechenden Schmerz nicht einmal. Dieser kleine Stich in seinem Finger war einfach nicht präsent. Er wusste, dass er sich verletzt hatte. Er sah, dass ein wenig Blut heraussickerte. Doch er spürte den Schmerz nicht. Der kleine Schnitt war nicht annähernd so schmerzhaft wie die erdrückenden Gefühle in seinen Inneren. Nicht einmal annähernd schmerzvoll wie die in seine Haut geschlagenen Narben. Er spürte es nicht einmal, dass er sich geschnitten hatte. Dieser Schmerz war nichts… Genauso, wie er sich oftmals fühlte. Er war nichts… Das Blut lief seine Bahn über die blasse Haut. Perlte vom Fingernagel ab und tropfte zu Boden. Vermischt mit den roten Scherben. Unauffällig, als wäre dieser kleine Tropfen Blut nicht vorhanden. Als wäre er nichts wert. So wie er… „To-san…“ Kurz hielt er inne. Hielt die Luft an, als er Temaris Stimme vernahm. Als er ihr Wimmern hörte. Ihr verzweifeltes Flehen. Beide waren nur drei Meter voneinander entfernt. Die Küchen- und Kinderzimmertür waren offen. Somit konnte man bei der Stille in der Wohnung fast jedes Geräusch wahrnehmen. So verzweifelt wie seine Schwester eben war, so war auch er es. Verzweifelt, weil er nichts unternehmen konnte. Was sollte er auch mit seinen fünfzehn Jahren unternehmen können? Was sollte er versuchen? Er selbst hatte alle Hände voll zu tun, um mit seinem eigenen Leben fertig zu werden. Um mit seinem eigenen Leid klarzukommen. Um selbst zu überleben… Er musste blind sein. Das Elend der anderen nicht mehr sehen. Er musste taub sein. Das Leid anderer nicht zu hören. Er musste stumm sein. Die Qual anderer nicht beim Namen nennen. Er musste, um seinen ‘Vater’ zu überleben. Dieses Monstrum… „Stell dich nicht so an! Willst du Daddys Mädchen sein oder nicht?!“ Leise war die Stimme seines ‘Vaters'. Doch in seinen Ohren so laut, als würde dieser neben ihm stehen. Sein Herz raste in seiner Brust. So laut, so schnell. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Immer lauter. Immer schneller. Eine Gänsehaut zog sich über seinen Körper. Wie immer, wenn er die Stimme dieses Mannes hörte. Wie immer, wenn er die Laute von ihm vernahm. Wie immer… Zitternd legte er seine eine Hand auf seine Brust. Krallte sich tief in den schwarzen Stoff seines Oberteiles. Versuchte sein Herz zur Ruhe zu bekommen. Seinen Geist. Ein Schweißtropfen lief über seine Schläfe und seine Wange entlang. Hastig wischte er sich mit dem freien Handrücken über die Stirn. Eiskalter Schweiß benetzte seine Haut. Die Angst hatte seine Krallen um ihn gelegt. Wollte zudrücken. Ihn lähmen. Aber er musste weiterarbeiten! Hastig schmiss er die Scherben in den Müll und stellte sich wieder an die Spüle. Trat dabei mit seinen nackten Füßen in kleine Splitter, die er später wegkehren wollte. Sie schnitten in seine Haut. Sein Körper fühlte sich oft wie taub an. So spürte er es nicht. Seine Gedanken waren wieder auf das abzuwaschende Geschirr gerichtet. Seine Hände brannten wie Feuer. Schmerzten noch von der Strafe mit der Herdplatte. Doch er musste durch. Biss die Zähne fest zusammen. Ihm blieb gar keine Zeit zum Klagen. Keine Zeit, um sich Gedanken darüber zu machen, wie sein Leben war. Seine Zeit war begrenzt. War bestimmt. Zeit zum Jammern und Nachdenken hatte er nur, wenn er wieder in seinem Zimmer eingesperrt war. Ebenso die Zeit zum Ausruhen… Zitternd bewegten sich seine Lippen erneut. ‚ Kleiner Junge, ruh‘ dich gut aus, morgen kommst du vielleicht hier raus… ‘ Doch die Zeit neigte sich schneller dem Ende zu, als er mit Arbeiten fertig werden würde… ~*~*~ Gaara wischte soeben den Boden. Die 20 Minuten waren längst um. Bestimmt schon seit einer halben Stunde. In Gedanken versunken bemerkte er den Mann hinter sich nicht. Plötzlich legte sich eine kräftige Hand auf seinen Mund. Erschrocken ließ Gaara den Mopp fallen. Krallte sich mit seinen zittrigen Fingern haltsuchend an den Arm, welcher ihn eisern umklammert hielt. Rammte seine Nägel tief ins Fleisch. Leicht strampelte er, um sich aus dem Griff zu befreien. Doch zwecklos. Unnachgiebig wurde er von seinem Vater festgehalten. „Ab ins Bad und keine Widerworte!“ Erschrocken hielt er die Luft an. Ein heißer Atem wurde ihm gegen das Ohr gehaucht. Er roch den starken Geruch von Bier und Schnaps. Den ekligen Geruch von Zigaretten. Die schmierige Hand presste sich fester gegen seinen Mund. Am liebsten würde er kotzen. Alles aus sich herausholen. Mitten vor die Füße dieses Monsters. Doch er hatte Angst schon alleine den Mund zu öffnen. Hatte Angst überhaupt zu atmen. Eingeschüchtert nickte er. Sofort lockerte sich der Griff um ihn. Tief atmete er ein und wieder aus. Ein Stoß in seinen Rücken forderte ihn zum Weitergehen auf. Er taumelte nach vorne. Wankte weiter in Richtung Badezimmer. Ihm war schlecht. Er war müde. Er wollte einfach für heute nur noch seine Ruhe. Alles drehte sich um ihn. Wie in weite Ferne gerückt, hörte er das Wimmern seiner Schwester. Das Ticken der Küchenuhr. Sein eigenes schnell schlagendes Herz. Träge fühlten sich seine Beine an. Unsicher seine Schritte. Instinktiv setzte er einen Schritt vor den anderen. Schleppte seinen Körper in Richtung Badezimmer. Widersetzte sich nicht weiter. Die Kälte der Badezimmerfliesen drang durch seine Füße. Er begann vor Kälte zu zittern. Den Blick trübe auf die leere Badewanne gerichtet. Verständnislos beobachtete er dieses Monster aus den Augenwinkeln heraus. Keine Emotion spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Doch die Angst in seinem Inneren loderte auf. Heiße Flammen leckten an seinem Verstand. Bisher war dieses Monstrum noch nie mit ihm im Badezimmer gewesen. Nicht mit dem Gürtel oder sonst irgendetwas. Was sollte dieses Mal auf ihn zukommen? Würde es schmerzhaft werden? Schlimmer als die anderen Schläge? Sein Vater ließ eiskaltes Wasser ein. Gaara verstand nicht. Was sollte das werden? Was hatte dieses Monstrum heute sich für eine Bestrafung ausgedacht? Womit wollte er ihn dieses Mal quälen? Doch lange musste er nicht darauf warten. Mit weiteren Stößen wurde er Richtung Badewanne geschubst. „Ausziehen und reinlegen! Sofort!“ Gaara reagierte sofort, auch wenn er ein wenig skeptisch gestimmt war. In Ordnung… Mit kaltem Wasser konnte er leben. Besser, als würde er in kochendheißen Wasser verbrennen. Zitternd vor Müdigkeit zog er sich seine Anziehsachen aus. Bei dem T-Shirt hatte er einige Probleme, da dieses unangenehm an seinem Körper klebte. Mit einen schmerzvollen Keuchen schaffte er es dieses über den Kopf zu ziehen. Schwer fiel es zu Boden. Sein ganzer blasser Rücken war blutrot gefärbt. An einigen Schnitten riss die dünne, schon verheilte Kruste wieder auf. Kleine Tropfen an Blut sickerten heraus. Liefen in schmalen Bahnen über den geschundenen Leib. Sachte kletterte er über den Rand der Wanne. Seinen Körper durchfuhr ein Zittern. Kälte drang durch seinen dürren Leib hindurch. Träge legte er sich rücklings in die Badewanne. Das Wasser wusch das getrocknet Blut von seiner Haut. Verfärbte damit die Wasseroberfläche in ein seichtes Rosa. Er keuchte leise. Legte sich so tief in das Wasser, dass sein Kopf noch herausragte. Zitternd schloss er ein wenig seine Augenlider. Die Kälte umfing sofort seinen kaputten Körper. Lullte seinen müden Geist ein. Diese Temperatur machte ihn träge. Wogte ihn in ihren Wellen. Seine Lider wurden schwerer. Nur für einen Moment wollte er die Augen ganz schließen. Er wollte schlafen. Nur für einen Moment an nichts denken. Nichts sehen. Nichts hören. Vergessen. Und einfach nur fliehen. In seine Traumwelt… Doch plötzlich drückte sich eine Hand auf sein Gesicht. Erschrocken riss er die Augen auf. Starrte mit panischem Ausdruck in diesen das Monster an. ‚Willkommen in der Hölle‘, sprachen die dunklen Iriden vor ihm. Der Wahn flammte in diesen Augen. Noch ehe er etwas unternehmen konnte, wurde sein Gesicht unter das Wasser gedrückt. Er schluckte eine Unmenge an Wasser. Große Luftblasen stiegen empor. Gaara realisierte nicht gleich, was wirklich geschah. Erst als die Luftblasen kleiner und weniger worden. Erst als sein Körper immer schwächer wurde. Da reagierte er. Panik umfasste ihn. Hastig streckte er seine Arme aus. Wollte damit seinen Vater zur Seite stoßen. Doch seine Finger erreichten nicht einmal die Schultern dieses Monstrums. Seine Arme wurden schwerer. Seine Glieder steifer. Seine Augenlider senkten sich. Die stärkere Hand drückte weiter erbarmungslos zu. Mit den Fingern krallte er sich an das Handgelenk dieses Monstrums. Rammte mit aller aufbringbarer Kraft seine Fingernägel in dieses. In der Hoffnung, freigelassen zu werden. Zum ersten Mal in seinen Leben wollte er schreien. Um Hilfe schreien. Laut, damit es jeder hörte. So laut, damit ihn jeder hörte. Doch kein Ton kam über die Lippen. Er brachte nur ein ersticktes Gurgeln zusammen. Er kämpfte einen verzweifelten Kampf. Gegen seinen Vater und gegen die Bewusstlosigkeit. Ihm schoss nur ein Gedanke durch den Kopf: Er würde sterben… ER WÜRDE STERBEN! Plötzlich lockerte sich die Hand, bis sie ganz verschwand. Jemand riss Gaara an der Schulter nach oben. Ein lautes Husten durchschüttelte seinen Körper, als er einen Schwall Wasser ausspuckte. Sofort strömte Luft in seine schmerzenden Lungen. Brannte in seinem Hals. Er japste nach dem wichtigen Sauerstoff. Zog ihn gierig ein, als wäre es das Letzte, was er in diesem Leben machen würde. Weiter Wasser ausspuckend öffnete er seine Augen einen Spalt. Seine Sicht war verschwommen. Sein rotes Ponyhaar klebte ihm an der Stirn. Kleine Wasserbahnen liefen über sein Gesicht. Erschwerten ihm damit noch mehr das Sehen. Er besaß nicht einmal mehr die Kraft, um aufrecht sitzen zu können. Leicht schwankte er zur Seite. Zwei warme, starke Arme fingen ihn auf. Geschrei war im Badezimmer zu hören. Es war sein Vater. Doch die Stimme kam ihm wie in weite Ferne gerückt vor. Immer weiter weg. Dieses Monster wurde von zwei Männern mit Gewalt aus dem Zimmer gezogen. Benommen taumelte Gaara leicht zur Seite. Jemand schlug ihm sachte gegen die Wange. Wollte damit anscheinend bezwecken, dass er nicht wieder einschlief. Dabei war er so müde. So kaputt von dem Kampf. Er war dem Tod entkommen. Diese Erkenntnis trieb ihm Tränen in die Augen. Er hatte überlebt… Er hatte überlebt! Unermessliche Freude stieg in ihm auf. Und gleichzeitig diese endlose Angst, dass er hätte sterben können. Heiß liefen ihm die Tränen über die Wangen. Er schlug sein Gesicht in seine Hände und schluchzte herzzerreißend auf. Jemand griff ihm unter die Arme, half ihm damit aus der Wanne. Man setzte ihn auf den kalten Fliesen ab. Sofort wurde er in mehrere Handtücher gewickelt. Sein Körper fühlte sich noch steif an. Jemand zog ihn an dessen Brust. Anscheinend Temari, welche ebenfalls herzzerreißend weinte. Bei dieser angenehmen Wärme zerriss es ihm fast das Herz vor Freude. Er fühlte sich seit so langer Zeit wieder einmal geborgen und sicher. Doch die Angst, dass es nur für einen Moment anhielt, war ebenso groß. Dass dies alles nur ein Traum war und er gleich wieder in seinem Bett oder am Boden in der Küche aufwachen würde. Doch für einen Traum fühlten sich die Schmerzen und diese Tränen zu echt an… Er schluchzte wieder laut auf. Sein geschundener Körper und sein kaputter Geist wollten gar nicht mehr zur Ruhe kommen. Die ganzen unterdrückten Gefühle zerrissen seine Gedanken. Wut. - Angst. - Hass. - Liebe. - Trauer. - Freude… Sachte lehnte er sich Temari entgegen. Stille Tränen liefen noch über seine Wangen. Seine Atmung war noch hektisch. Jemand anderes legte seine Hand auf seine Schulter. Müde blickte er auf. Erkannte verschwommen das Gesicht seines Bruders. Dieser streichelte sachte über seine kalte Wange. Über seine kalte Stirn, ehe er einen Kuss auf diese setzte. Sanft lehnte sein Bruder die Stirn gegen seine eigene. „Gaara, alles wird gut. Alles wird wieder gut… Wir können hier weg. To-san kann uns dann nichts antun.“ Er nickte nur matt. War zu schwach, um etwas zu antworten. War zu müde, um seine Augen weiter offenzuhalten. Träge schlossen sich diese. Seine Geschwister waren weiter um ihn. Gaben ihm in diesem Moment Halt und Geborgenheit. Er wollte es ausnutzen. Wollte es genießen. Wollte in diesem Moment das an sich reißen, was er all die letzten Monate nicht erhalten hatte. Liebe. – Geborgenheit. – Wärme. – Sicherheit. „Gaara, hörst du? Wir können von vorne anfangen. Ein neues Leben beginnen im Atarashii Semei. Iruka-san nimmt uns dann gleich mit…“ Atarashii Semei. - Neues Leben. Er würde gerne von vorne beginnen. Alles noch einmal versuchen richtig zu machen. So zu leben, wie er es gerne möchte. Ohne mit der Angst zu leben, dass alle seine Mühen mit Schlägen bestraft wurden. Ohne mit der Angst zu leben, dass er den heutigen Tag nicht überleben würde. Ohne die Angst vor seinem Vater… Zitternd bewegten sich seine Lippen. Doch kein Ton entkam ihnen. ‚ Da sonst die ‚heile Welt‘ zerbricht, so hört man stumme Schreie nicht… Sei nicht taub und schließ die Lider, sonst hallt der Schrei im Wind wider…‘ _______________________________________________________________ © Songtext "Ray" by the GazettE © Gedichtverse von Gaara by Tsunakai Kapitel 9: Vom Winde verweht und von niemanden gehört [Teil 1] -------------------------------------------------------------- Als unsere Mutter von uns ging, habe ich gedacht, dass ich die Einzige bin, die ihn ein wenig verstehen kann. Den Schmerz von Verlust und Einsamkeit. Er liebte Mutter seit über zwanzig Jahren und mich begleitete sie schon siebzehn Jahre lang. Doch in der Zeit von Trauer und Verzweiflung musste ich schnell lernen, dass Liebe, Hilfsbereitschaft und Vertrauen schnell missbraucht werden können… Vom Winde verweht und von niemandem gehört [Teil 1] 05. Juli 2008 Der Geruch von Desinfektionsmittel brannte in ihrer Nase. Temari hatte das Gefühl, als könnte sie das Blut riechen, dass vorborgen hinter den verschlossen Türen der Operationsräumen mal vergossen worden war. Selbst den Tod, der sicherlich in vielen dieser Räume seine Opfer genommen hatte. Dabei war es nur Einbildung. Ein Trugbild ihres müden Geistes. Eine Ablenkung auf das, was ihre ganze Familie erwartete. Auf die Nachricht, in welchem Zustand ihre Mutter war. Sicherlich… Der nahende Tod verwirrte den Geist. Er ließ alles Geschehene und Kommende unreal und unwirklich erscheinen. Erschöpft saß sie auf einem dieser unbequemen Wartestühle aus Plastik. Ihrer war in einem grellen, gelben Farbton gehalten. Die Füße hatte sie auf der Stuhlkante ruhen. Ihre Schuhe ausgezogen unter dem Stuhl liegen. Der Kopf war müde und träge auf den Knien gebettet. Ihre Arme eng um diese geschlungen. Laut hallten die Schritte der anderen Personen auf dem Gang in ihren Ohren wider. Laut und monoton. Stumpf und wie in weite Ferne gerückt. Kaum wahrnehmbar, dennoch hörte sie diese. Unheimlich zwischen dem Rauschen ihres Blutes und dem Schlagen ihres Herzens. Dem Klackern und Klappern von Schlüsseln und Metallwägen. Jedes Wort pochte in ihrem Kopf. Dabei wollte sie nichts hören. Nichts wahrnehmen in ihrer noch ach so heilen Welt. Tief vergrub sie ihr Gesicht in den Stoff ihres Rockes. Presste ihre Stirn gegen ihre Beine. Ihre geröteten Wangen glühten. Ihr fast unaufhaltbarer Tränenfluss war verebbt. Ihre Augen brannten vom vielen Weinen. Vom vielen Bangen waren ihren Hände schon eiskalt. Zitternd krallte sie ihre Finger tiefer in den Stoff. Wollte sie damit ein bisschen wärmen. Sie vergrub sich selbst tiefer in sich. In ihr Herz, welches so fürchterlich schmerzte. So sehr blutete. Sie wollte und konnte es nicht glauben. Das konnte nicht möglich sein. Unmöglich… Doch sie wusste es. Sie hatte es wissen müssen. Schließlich entkam niemand dem Krebs. Niemand. Nicht einmal ihre Mutter. Egal, wie stark und doch sanftmütig diese Frau war. Selbst sie entkam dem Tod nicht. Temari konnte nichts dagegen unternehmen. Rein gar nichts. Und diese Gewissheit zerfraß sie. Was hatte ihre Mutter nicht alles für sie gemacht, damit sie ihre Ziele erreichen und verfolgen konnte? Was hatte ihre Mutter oft nächtelang für Sorgen ertragen müssen? Für Kummer? Ihre Mutter hatte für sie so viel gemacht. Und Temari? Sollte sie wirklich nur hier sitzen und nichts machen können? Nichts für ihre Mutter? Für diese Frau, die sie so sehr liebte? Eine der wichtigsten Personen im Leben… Siebzehn Jahre war sie durch das Leben begleitet worden. Es schmerzte sie so sehr, dass sie jetzt nur tatenlos zusehen konnte… Knarrend wurde eine Tür geöffnet. Erschrocken zuckte Temari zusammen. Erschöpft hob sie ihren Blick. Blonde Strähnen fielen ihr in die Stirn. Verdeckten die geröteten Augen. Ihre tränennassen Wangen. Ihr helles Haar hing zersaust in ihren vier Zöpfen. Der schwarze Kajal unter ihren Augen war verschmiert und lief in dunklen Bahnen über ihre Wangen. Ihr Kopf fühlte sich schwer an. Pochte unangenehm. Bei jedem Schlag, den ihr schmerzendes Herz machte. Sie hatte Kopfschmerzen. Selbst allein diese einzige Bewegung fühlte sich wie eine Qual an. Auf einer Trage wurde mit leise quietschendem Rollen Gaara über den Gang geschoben. Er schlief tief und fest. Anscheinend hatte man ihm ein Beruhigungsmittel gespritzt. Ihr Bruder hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Der Jüngere war schreiend und herzzerreißend schluchzend zu Boden gesunken. Nicht einmal die beruhigenden Worte von Kankuro hatten ihn zur Ruhe kommen lassen. Für ihn war es vielleicht noch unvorstellbarer als für sie. Für seinen vierzehnjährigen, jugendlichen Verstand war es vielleicht noch unrealer als für sie. So unreal, dass der Tod so nah war. Doch sie beiden litten denselben Schmerz. Ein und derselbe Verlust. Nur dieser eine Unterschied hing zwischen ihnen: Sie schaffte es noch, die Last etwas länger zu tragen als ihr Bruder. Doch wenn diese Warterei und diese Unwissenheit über den Zustand ihrer Mutter noch länger ging, dann würde sie vielleicht genauso durchdrehen wie ihr Bruder vor einigen Minuten... Erneut ging knarrend eine Tür auf. Sofort wandte sie ihren Blick zur dieser. Einer der Ärzte kam heraus. Sie verstand dessen Gesichtsausdruck nicht. Sie konnte ihn nicht deuten. Dies machte ihr Angst. Was würde kommen? Was würde passieren? Was war passiert? Wie ging es ihrer geliebten Mutter? Doch egal wie viele Fragen in ihr aufkamen, sie hatte Angst. Angst vor der Wahrheit. Sie wollte es nicht hören. Die Wahrheit konnte oft so grausam sein. Dann wollte sie lieber mit einer Lüge leben. Oft lügen Menschen, um den Leuten um sich herum oder sich selbst einen Gefallen zu machen. Bitte… Bitte, der Arzt sollte sagen, ihre Mutter lebte noch. Selbst wenn es eine Lüge wäre. In diesen Moment ihres kaputten, müden Geistes wünschte sie sich nichts Sehnlicheres. Mit langsamen Schritten lief der Arzt zu ihrem Vater. So langsam und träge, dass ihre Ungeduld auf eine positive Antwort in ihrem Inneren wie Drahtseile gespannt war. So sehr, dass es schon fast erneut in ihrem Inneren schmerzte. So sehr, dass sich vor Pein erneut Tränen in ihren Augen sammelten. Der Gesichtsausdruck des Arztes immer noch undefinierbar. Hastig wand sie den Blick ab. Presste wieder ihren Kopf auf ihre Knie. Die Hände auf ihre Ohren geschlagen. Sie wollte es nicht hören. Nein! Nein! Nein! Sie wollte es nicht hören… “Es tut mir leid, doch wir konnten nichts mehr für Ihre Frau machen. Wir können Sie nur damit trösten, dass sie anscheinend schmerzfrei entschlafen ist.” Erschrocken riss Temari ihre Augen weit auf. Sie wollte es nicht hören. Aber jedes Wort hatte sich tief in sie gebrannt. So tief und schmerzhaft, dass es hässliche Male auf ihrem jungen Herzen hinterlassen hatte. Hässliche, tiefe Male, die in den nächsten Jahren niemals verschwinden würden… ~*~*~ 13. August 2008 Stumm stand Temari an der Arbeitsplatte und bereitete das Mittagessen vor. Tränen waren in ihren Augen, doch sie wollte nicht weinen. Nicht jetzt, wo ihre Gedanken voller schöner und glücklicher Erinnerungen mit ihrer Mutter waren. Qualvolle Erinnerungen an die Zeit, als sie zusammen gekocht oder gebacken hatten. Erinnerungen voller Wärme und Geborgenheit. Voller Spaß und der weichen, samten Stimme ihrer Mutter. Dem heiteren und hellen Lachen. Den sanften Fingern auf ihrer Haut, wenn einzelne Handgriffe geübt oder geführt worden waren… Nein, sie wollte nicht weinen. Sie verbot es sich zu weinen. Schließlich war sie die Älteste. Diejenige, die ein Vorbild für ihre Brüder sein sollte. Und diese weinten nie. Zumindest hatte Temari weder Kankuro noch Gaara seit der Beerdigung vor Monaten nicht einmal Tränen aus Trauer und Schmerz vergießen gesehen… Ein unterdrücktes Schluchzen durchschüttelte ihren ausgezerrten Körper. Grob biss sie sich auf ihre Unterlippe. Schluckte ein weiteres Schluchzen herunter. Ihre Augen brannten vor unvergossenen Tränen. Eine kleine, heiße, salzige Träne löste sich und rollte über ihre Wange. Hastig wischte sie diese weg. Doch eine weitere rann über ihr Gesicht. Über ihre geröteten und erhitzten Wangen. Ihr Kopf glühte, da sie versuchte ihre Tränen zu schlucken. Jede einzelne. Doch es half nichts. Je länger sie hier stand und sich zwang nicht zu weinen, desto mehr musste sie schluchzen und schniefen. Desto mehr salziges Wasser sammelte sich in ihren Augen, bis es überlief. Der Fluss war kaum aufzuhalten. Hektisch legte sie das Messer zur Seite, mit dem sie vor kurzem noch die Möhren geschält hatte, und wischte sich immer wieder über die Augen. Aber es half nichts. Es war sinnlos. Diese aufgestaute Trauer… Sie wusste nicht wohin damit! Niemand sagte ihr, was sie machen sollte. Niemand konnte ihr helfen mit ihrem Leid. Niemand war stark genug, dass sie sich an dessen Schulter lehnen konnte. Niemandem wollte sie zur Last fallen. Temari konnte es nicht verleugnen. Sie hatte Freunde, die ihr Halt und Kraft in der Zeit gaben, wo alle zusammen waren. Doch zu Hause, wenn die Stille und diese Erinnerungen fast unerträglich waren, war sie allein. Nie besuchte sie jemanden oder wurde von jemandem nach Haus eingeladen. Waren das wirkliche Freunde? Die sich nicht genug Zeit für sie nahmen, obwohl sie wussten, wie schlecht es ihr ging? Aber sie selbst war daran Schuld. Schließlich wollte sie niemandem mit ihrem Kummer und ihren Sorgen auf die Nerven gehen. Sie selbst war in diesen Stunden ihr eigner Halt… Zusammengesunken stand sie vor der Arbeitsfläche. Ihre Schultern hatte sie angezogen. Den Kopf zu Boden gesenkt. Den Blick stumpf und die Augen weit aufgerissen auf die weißen Küchenfliesen gerichtet, ehe sie träge geschlossen wurden. Weitere Tränen rannen über ihre heißen Wangen. Liebkosten sie und trösteten sie. Aber erreichten sie nicht. Ihr rettendes Boot war auf hohen Wellen. Sicher und unerreichbar. Doch bald sollte dieses vom tosenden Wind heruntergerissen werden… Die Haustür fiel ins Schloss. Erschrocken zuckte Temari zusammen. Hastig wischte sie sich über die geschlossenen Augenlider. Matt öffnete sie diese und ihre glanzlosen, türkisen Iriden kamen wieder zum Vorschein. Doch sie blickte nicht auf. Dumpfe Schritte waren auf dem Flur zu hören. “Hey, Onee-chan!” Überrascht hob sie nun doch ihren Blick an. Ihr jüngerer Bruder sie aus den Augenwinkeln heraus im Türrahmen beobachtend. Ein leichtes Grinsen auf dessen Lippen. Die brauen Haare zersaust nach allen Richtungen und das Ponyhaar nur mit einem weißen Stirnband aus dem Gesicht gehalten. Lässig kam er auf ihr zu und sah neugierig in den noch leeren Wok. Leicht berührten sich ihre Oberarme. Gaben sich gegenseitigen Halt. Ihre eigene Schultern lockerten sich. Ein angenehmes Gefühl wärmte ihr Inneres. Sie war nicht allein… Immer wenn sie einen ihrer Brüder sah, ging es ihr besser. Ob nun Kankuro oder Gaara - sie bekam damit das Gefühl zurück, wenigstens noch etwas Familie zu haben. Das Stückchen Familie, das einen liebte und für einen da war. Und sie sollte glücklich und froh darüber sein. Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Trauer und Angst verzogen sich für diesen Moment in weite Ferne. Zusammen mit den aufwallenden Erinnerungen in eine staubige Kiste. Verborgen im Unterbewusstsein. “Mann, da ist ja noch gar nichts fertig, dabei hab ich doch solch einen Hunger!” Leicht ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Ihre rechte Augenbraue zuckte gefährlich. Ein wenig grob schob sie ihren rechten Ellenbogen in die Seite ihres Bruders. Bohrte diesen tief in dessen Rippen. Ein leises, gequältes Keuchen kam über die Lippen des anderen. Doch das kleine Grinsen verschwand nicht. Und brachte ebenfalls ein breiteres Lächeln auf ihre Züge. “Fresssack! In einer viertel Stunde ist es fertig!” Schnell machte sie die Herdplatte an und stellte den Wok auf dieser ab. Sofort gab sie ein wenig Erdnussöl dazu, damit das Gemüse später nicht anbrannte. Die Schritte des anderen entfernten sich von ihr und liefen mit langsamem Tempo zum Küchenradio. Es dauerte auch nicht lange, bis in der Stille im Raum leise die Stimme eines japanischen Sängers ertönte. Without a face mure wo nashi. Without a face nomikonde. Hora imanimo oshitsubusare kokoro ga harisake sou. Tada atatakai ryoute ni idakarete nemuritai. [Ohne Gesicht, eine keuchende Stimme. Ohne Gesicht, eine entstellte Stimme. Vergewaltige mich, bis du die Gewissheit hast, mich zu besitzen, Vater. Aber sieh, Mutter schaut auf uns runter.] “Eh, ist das nicht the GazettE? Die hört doch Gaara gerne an.” “Das ist Dir en Grey mit Embryo, du Idiot!“ Temari schnalzte leicht mit der Zunge. Sie kannte zwar nur wenige Lieder von der Band, dennoch konnte man noch unterscheiden, ob nun Dir en Grey, Miyavi, Mucc oder gar the GazettE sang. Kurz warf sie ihren Blick auf ihren Bruder, welcher mit gerunzelter Stirn nun vor dem Radio stand und anscheinend nicht wirklich ganz hintersteigen wollte, dass er mit den Bands falsch lag. Sie schüttelte leicht den Kopf. Also wirklich! Über so etwas würde sie sich nicht einmal Gedanken machen. “Sicher?” - “Ja.” - “Wirklich?” - “Ja, verdammt!” Sie schnaufte leise und wandte ihren Kopf nun ganz in dessen Richtung. Der andere stand immer noch nachdenklich am Radio. Die linke Hand unter das Kinn gestützt. Leise seufzend drehte sie sich wieder dem bratenden Gemüse zu. Im Hintergrund hörte sie ein leises Knacken und lautes Rauschen. Kankuro drehte eben an den Radiosendern herum. Leise zischte und spritzte das Öl im Wok, als sie das Gemüse zu gab. Im Raum war es ruhig. Nur das laute Rauschen und Knacken des alten Radios war zu hören. Temari gefiel diese Stimmung im Zimmer. Sie mochte es, wenn es still und leise war, aber dennoch die alltäglichen Geräusche zu hören waren. Es zeigte ihr damit, dass sie Ruhe hatte und bekam. Und gleichzeitig waren es Momente, die ihr zeigten, dass sie nicht allein war… “Und nun eine Meldung: Heute Morgen wurde die als vermisst geltende Schülerin Kurama Yakumo [1] tot im Park von Hibiya [2] gefunden. Es wird von einen Sexualdelikt ausgegangen, noch Weiteres versucht die Polizei herauszufinden. Und nun zum Wetter…” Plötzlich herrschte Stille in der Küche. Nur das leise Zischen im Wok war zu hören. Sie wusste nicht, warum ihr Bruder das Radio sofort ausstellte. Doch es war vielleicht besser so. Besser so… “Traurig, mh? Dabei war sie so ein ruhiges Mädchen…” Erschrocken zuckte Temari zusammen. Überrascht hob sie den Blick vom Wok und sah ihren Bruder von der Seite aus an. Die Arme müde vor der Brust verschränkt. Dessen hängenden Schultern. Erschöpft an die Küchenwand gelehnt. Den trüben Blick in den dunklen Augen. Den Kopf zum Fenster gerichtet. Er sah traurig hinaus, doch weinen tat er nicht. So zerbrechlich… Sie selbst richtete ihre Augen nach draußen. Die Sonne schien warm herunter. Der Himmel war wolkenlos und strahlend blau. Kaum zu glauben, dennoch unfassbar. Heute morgen war einfach ein Mädchen tot aufgefunden worden und trotzdem sah der Tag so aus, als wäre das ganze Glück auf Erden hier versammelt. Sie konnte es nicht glauben. Doch das Leben war so vergänglich. Irgendwann starb jeder einmal. Ob durch Alter, Krankheit oder die Eingriffe eines anderen oder von sich aus. Die nächsten Minuten verstrichen mit Schweigen. Niemand sagte etwas. Auch nicht, als Temari leise das Essen im Wok verrührte. Auch nicht, als ein Tropfen Öl auf ihre Handfläche spritzte und sie sich daran verbrannte. Erst kribbelte es nur leicht unangenehm, doch dann fing es an zu schmerzen. Erschrocken zuckte sie zusammen. Leise zischte sie die Luft ausatmend durch ihre Zähne. Kurz darauf stellte sie die Hitze der Herdplatte kleiner und ging zum Waschbecken. Die getroffene Stellte wurde schon rot und fühlte sich heiß an. Schnell drehte sie das kalte Wasser auf. Laut rauschend kam es aus der Leitung. Klatschte ebenso laut in das metallene Spülbecken. Sie hielt ihre Hand in den Wasserstrahl. Der Schmerz klang langsam ab. Ihre Hand fühlte sich vor Kälte ein wenig taub an. Doch half es ihr. “Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass sie gefehlt hat. Weil sie doch immer so ruhig war… Unglaublich, oder?” Temari sagte darauf nichts. Sie kannte dieses tot aufgefundene Mädchen nicht. Sie wusste nur, dass sie mit Kankuro in einer Klasse war. Doch sollte sie auf seine Aussage eingehen? So etwas Einfaches sagen wie “Passiert halt” oder “Dagegen kann man nichts machen”? Nein… Sie konnte nicht einmal tröstende Worte in diesem Moment finden. Das war komplett unmöglich. Was würde es ihrem Bruder bringen? Dann wollte sie doch lieber schweigend zuhören… Manchmal war Schweigen in solchen Momenten die beste Kommunikationsart von allen. Schnell ging sie wieder zurück zum Wok und machte das Gemüse fertig, bevor es noch anbrannte. Der Reis war fast fertig und der Rest ebenfalls. Im Hintergrund hörte sie das Klappern von Geschirr. Anscheinend stellte der andere so eben schon alles für sie beide auf den Küchentisch. Denn außer ihnen war noch niemand zu Hause. Schnell drehte sie die Herdplatten ganz ab und ließ das Gemüse noch ein wenig vor sich hin braten. Danach prüfte sie im Topf, ob der Reis völlig gar war, ehe sie konzentriert das Wasser abgoss. Sie wollte an nichts mehr denken. Die letzte Nachricht aus den Radio vergessen. Dennoch… Dieser eine Gedanke wollte nicht aus ihrem Kopf. Sie verstand es nicht. Es war für sie unbegreiflich. Dennoch wurde man fast täglich mit solchen Schicksalen konfrontiert. Aber welcher Mann war so krank, dass er sich an einem so jungen Mädchen zu schaffen machte? Doch nicht nur Mädchen waren daran beteiligt… Sie hatte vor einigen Jahren öfters im Fernsehen und Radio von Opfern gehört. Mädchen, sowie auch Jungen. Brutal zusammengeschlagen, missbraucht und dann hilflos im Wäldern oder Parks liegen gelassen. Oft an den Folgen der Verletzungen gestorben. Oder gleich getötet worden. Ein wenig abwesend stellte sie das fertig Essen auf den Tisch und füllte ihre beiden Schüsseln mit Reis auf. Parallel dazu holte ihr Bruder eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und goss es in ihre Gläser. Die Stille fühlte sich jetzt nicht mehr angenehm an. Eher erdrückend. Keiner der beiden wusste so recht, was er sagen sollte. Was hier in diese Stimmung passen würde. Mit leisem Knarren zog sie den Küchenstuhl zurück und setzte sich auf diesen. Ihr Gegenüber machte es ihr gleich. Mechanisch griff sie zu den Essstäbchen und hielt sie mit geschlossenen Augen zwischen ihren zusammengedrückten Handflächen. “Itadakimásu!“ Synchron erklang das Wort von beiden Lippenpaaren, ehe sie mit Essen begannen. Trotzdem bekam sie den Gedanken von vorhin nicht los. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Welche Freude bereitete es einen Mann solch ein zartes, junges Leben einfach so kaputt zu machen? Dabei war das Leben so wertvoll. Dies hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter am meisten zu spüren bekommen. Und trotzdem gab es Menschen, die so etwas taten. Warum? Was machte diesen Menschen Spaß daran? Welchen Kitzel erlebten sie dabei? Sie verstand es nicht. Würde es vielleicht auch nie. Lag es daran, dass sie eine Frau war? Gab es auch Frauen, die solche Sachen machten? Und wie fühlten sich die Opfer in diesen Momenten? Sie konnte es gar nicht nachvollziehen. Wie auch? Schließlich hatte sie es nie in ihrem Leben erlebt. Wie sollte sie es dann verstehen, sogar nachvollziehen können? Gar nicht. Es war gänzlich unmöglich… In einem solchen Moment wünschte sie sich, ihre Mutter wäre noch da. Bisher hatte sie immer eine Antwort auf all ihre Fragen gehabt. Sie hatte mit ihr über alles reden können und Mutter hatte stets für besseres Verständnis geholfen. Oder versuchte offene Fragen zu beantworten. Mutter hatte immer Rat. Kluge, schöne, tote Mutter… Und jetzt musste sie versuchen mit all ihren Fragen und gar Problemen allein klarzukommen. Sie vermisste sie so sehr… Leicht krallte sie sich an ihren Essstäbchen fest. Ihre Finger zitterten ein wenig. Neue Tränen sammelten sich in ihren Augen. Brannten dort fürchterlich. Der Gedanke daran, wie sehr sie ihre Mutter vermisste, schmerzte so sehr in ihrem Inneren, dass es ihr erneute Tränen in die Augen trieb. Doch nie hatte sie diesen Gedanken jemandem offenbart. Noch nie hatte sie diesen Gedanken laut aufgesagt. Schließlich war sie die große, starke Schwester. Sie wollte vor ihren Brüdern keine Tränen zeigen. Sie wollte es nicht! Schließlich war sie temperamentvoll und stark. Doch der Schmerz des Verlustes war stärker und zwang sie oft in die Knie. Dann wünschte sie sich, sie würde nichts mehr fühlen. Nichts mehr denken können. Vor allem in dieser Zeit des Schmerzes. Sie hielt es einfach kaum mehr aus. “Du kochst besser als früher.” “Ich vermisse Ka-san…” Erneut herrschte Stille in der Küche. Eine kleine Träne lief ihr über die Wange und liebkoste diese. Nun hatte sie die Worte ausgesprochen, welche schon seit Wochen so tief in ihr verankert waren. Worte aus ihrem Herzen. Tief darin verschlossen gewesen. Ihre Schultern bebten leicht. Sie legte die Stäbchen beiseite. Plötzlich legten sich zwei warme Hände auf ihre eignen. Streichelten diese sanft und behutsam. Erschrocken hob sie den Blick an. Schaute ihren Bruder mit glasigen Augen entgegen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Holte tief durch die Nase Luft, als sie ihr Gegenüber so sah. In dessen Augen glitzerten eben kleine Tränen. Tränen voller Sehnsucht, Schmerz, Trauer und Verlust. Weiter herrschte Stille im Raum, bis Kankuro diese unterbrach. Dessen nächsten Worte zeigten ihr erneut, dass sie nicht allein war mit ihrem Leid. Mit ihrem Schmerz. Mit ihrer Last… Sie teilten alle etwas. Es machte den Gedanken an den Tod ihrer Mutter erträglich. Dennoch nahm es nicht den Schmerz weg. “Ich auch, glaub mir, ich auch…” Der Schmerz blieb. Tief und fest verankert. Nicht lösbar, wenn er einmal seine Krallen ins Herz geschlagen hatte. Blutende Narben hinterlassend. Mit dem tröstenden Gedanken: Man war nicht allein damit… ~*~*~ Was war dies heute für ein Tag gewesen? Unbegreiflich… Heute Morgen ein Mädchen tot gefunden. Mittags eine schwere Last von der Seele gesagt. Der Nachmittag wunderschön, als wäre es das Paradies auf Erden gewesen. Nun war draußen dunkle Nacht. Die weißen Wände waren in ein helles Blau gehüllt. Der volle Mond schien seicht in den Raum. Malte einige Lichtbilder an die sonst weißen Tapeten. Es war sicher fast Mitternacht. Sie hörte in der Stille des Zimmers die laute Musik von Gaara, der in dem Zimmer neben ihrem schlief. Sie lauschte dieser und ihrem ruhigen Atem. Erschöpft saß Temari in ihrem Bett. Die Beine von sich gestreckt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Einen Holzrahmen hielt sie in der Hand. Das Glas des Bilderrahmens reflektierte ein wenig die schwach scheinende Kerze auf ihrem Nachtschränkchen. Das Foto ihrer strahlenden Mutter war in diesem zu sehen. Hell und voller Leben. Doch das Leben war vergänglich, existierte für einige Zeit auf diesem Foto weiter. Doch auch ein Bild verblasste. Genauso wie die Erinnerungen an einen Menschen. Ein Foto war nichts weiteres, als ein Stück Papier, das nicht litt. Das keinen Schmerz fühlte. Das nicht zweifelte. Das nicht weinte. Das nicht lebte. Es war tot. Es war schon tot und spiegelte nur noch die einst lebende Schönheit wider. Es war so furchtbar schrecklich, dass mal einst so wunderschönes Leben nur noch auf Papier weiterleben konnte… Stumm saß Temari da. Das Bild einfach in den Händen haltend. Tränen flossen keine mehr. Hatte sie längst alle verbraucht. Allein und voller Stille in ihren Zimmer. Keiner hatte sie gesehen. Keiner hatte sie gehört. Nur sie wusste, dass sie stumm geweint hatte. Ohne Laut und ohne Regung. Starr wie eine Puppe. So blass, dass es fast wieder zerbrechlich wirkte. Ihre Haare trug sie offen. Blonde Strähnen hingen in ihrer Stirn. Klebten an ihren Wangen. Streiften ihre Nase. Streiften ihre trockenen und wund gebissenen Lippen. Kitzelten sie. Neckten sie. Doch Temari ging darauf nicht ein. Sie schob sich nicht einmal eine nervige Strähne aus dem Gesicht. Dazu fehlte ihr einfach die Kraft und die Lust. Am liebsten würde sie schlafen. Und irgendwann aufwachen. Aufwachen und merken, dass alles nur ein Traum gewesen war. Dass sich alles nur als eine Fantasie entpuppte. Gesponnen aus ihren eigenen Gedanken. Ausgedacht von ihren so müden Geist. Doch egal, wie oft sie die Augen schloss. Egal, wie oft sie die Augen wieder öffnete. Die gnadenlose Realität riss sie wieder aus ihren Hoffnungen und Träumen zurück. Zerplatzten Hoffnungen und zerbrochen Träumen. Zitternd strichen ihre Finger über das kühle Glas. Sie bemerkte im Halbdunkeln, wie ähnlich sie ihrer Mutter sah. Vor allem, wenn sie die Haare offen trug. Nur mit dem Unterschied, dass diese ein wenig länger waren. Doch schnell ließ sie wieder vom Glas ab. Weiter starrte sie stumm auf das Bild. Als würde ihre Mutter jeden Moment durch das Glas herausspringen können. Sie streicheln, in die Arme nehmen und sagen, dass alles gut war. Doch da konnte sie lange darauf starren… Mit leisem Knarren wurde ihre Zimmertüre geöffnet. Erschrocken zuckte sie zusammen und hob träge ihren Kopf. Glanzlos sahen ihre türkisen Iriden auf den Neuankömmling. Es war ihr Vater. Mit gebeugter Haltung und einer Bierflasche in der Hand. Was wollte er? Warum war er in ihrem Zimmer? Vor allem um diese Uhrzeit? Die Schritte ihres Vaters kamen näher. Sie klangen dumpf und unheimlich in ihren Ohren. Leicht biss sie sich auf ihre Unterlippe. Kaute auf dieser herum. Träge ließ sie ihre rechte Hand sinken. Das Foto in dieser fest umklammert. Das Bild direkt auf den anderen gerichtet. Das strahlende und so lebendige Lächeln ihrer Mutter. Und da geschah es. “Guck es nicht an!” Mit aufgerissenen Augen sah ihr Vater sie an. Dessen Hände zitterten so sehr, dass dieser nicht mal mehr die Möglichkeit hatte, die Flasche zu halten. Klirrend fiel sie zu Boden und zerschellte doch in einen Haufen Scherben. Die Bierreste verteilten sich über den Teppich und wurden von den einzelnen Fransen aufgesaugt. Der ekelhafte Geruch der Flüssigkeit verbreitete sich im Raum aus. Erschrocken wich Temari nach hinten aus. Ihre Finger tasteten sich über das Bett. Krallten sich darauf hin bald in das Laken. Ihr Vater schlug sich die eine Hand vor das Gesicht und sank auf die Knie. Ein Schluchzen verließ seine Lippen. “Geliebte Karura… Komm zurück… komm zurück zu mir…” In letzter Zeit benahm sich ihr Vater merkwürdig. Er trank viel. Ging nicht mehr zur Arbeit. Und zog sich oft ins Wohnzimmer zurück, um dort verzweifelt zu weinen. Denn alles in diesen Haus erinnerte einen an ihre Mutter. An ihre so geliebte Mutter. An ihre so wunderschöne Mutter. Geliebte Mutter. Wunderschöne Mutter. Tote Mutter. Aber sie konnte ihn ein bisschen verstehen. Sie konnte ein wenig diesen Schmerz von Verlust nachvollziehen. Ihr erging es doch auch nicht anders! Müde rutschte sie zur Bettkante vor. Ihre nackten Füße berührten den flauschigen Stoff des Teppichs und versanken leicht in diesem. Zitternd stand sie auf. Aufgrund ihrer langen Regungslosigkeit waren ihre Glieder steif geworden. Einige Gelenke knackten leise auf. Mit bebenden Schritten lief sie auf ihren Vater zu. Kniete sich neben diesen, mit Bedacht sich nicht in eine Glasscherbe zu setzen. Sachte strich sie über seinen Rücken. Wie jedes Mal… Es war zu Gewohnheit geworden. Sie war für ihren Vater da. Sie war seine geliebte Tochter. Seine Beste. Doch Liebe und Vertrauen konnte schnell missbraucht werden… Plötzlich packte ihr Vater sie am Arm an. Riss diesen zur Seite und aus ihren verkrampften Fingern das Foto ihrer Mutter. Mit einem lauten Klirren wurde dieses gegen die Wand geworfen. Unheimlich laut hallte dieses Geräusch in ihren Ohren wider. Ihre Augen weit aufgerissen auf das Bild am Boden gerichtet. Es war das einzige, schöne Foto, das sie von ihrer Mutter besaß. Und nun lag es zerbrochen am Boden. Warum? “Guck es nicht an… guck es nicht an…” Immer wieder murmelte ihr Vater diese Worte vor sich hin. Immer und immer wieder, als wäre es ein Gebet. Sein Griff um ihr Handgelenk wurde fester. Erschrocken zuckte sie zusammen, als Schmerz ihren Arm durchzog. Sie versuchte sich zu befreien. Doch entkam nicht den Fingern ihres Vaters. Ein Wimmern glitt ihr über die Lippen. Ihre Unterlippe bebte, weswegen sie sich darauf biss. Ihr Gegenüber riss mit einem Ruck den Kopf hoch. Starrte sie mit glasigen und Blut unterlaufenden Augen an. Starrte sie wie ein wildes Tier an, was jeden Moment seine Beute reißen wollte. Und hinter ihm das unheilvolle, helle Licht aus dem Flur. Es beschien ihn von hinten, sodass unheimliche, dunkle Schatten in dessen Gesicht zu sehen waren. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ein Schaudern trieb ihr eine Gänsehaut auf die Unterarme. Stellte ihre Härchen auf. Ihre Schultern bebten. Ihr Finger zitterten. Panik umfasste sie. Erneut riss sie an ihrem Arm herum. Erneut versuchte sie sich zu befreien. Verzweifelte legte sie ihre andere Hand auf das Handgelenk ihres Vaters. Versuchte krampfhaft diesen wegzuschieben. Doch sofort wurde ihre freie Hand gepackt. Sofort wurden ihre Finger zwischen dem festen Griff zerquetscht. Erschrocken keuchend zog sie die Luft in ihre Lungen. Nur um sie im nächsten Moment mit einem schmerzvollen Stöhnen wieder auszustoßen. Was danach passierte, geschah viel zu schnell für sie… Mit einem Ruck wurde sie zu Boden gerissen. Grob kam sie auf dem Rücken zum Liegen. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie durch den Stoff ihres T-Shirt die einzelnen Teppichfransen an ihrem Körper kitzeln spüren. Ihren Kopf stieß sie an der Bettkante an. Leise schrie Temari auf. Ihre Handgelenke wurden zusammen geführt und von ihrem Vater mit einer Hand in einer Schraubstockklammerung festgehalten. Die andere Hand legte sich grob auf ihren Mund. Sie schrie gedämpft auf, als ihr Vater seine Knie auf ihre Oberarme stemmte. Sicherlich würde das hässliche, blaue Flecken hinterlassen. Sie wand ihren Kopf zur Seite. Versuchte mit Beißen und Lecken die Hand von ihren Mund zu bekommen. Doch das Einzige, was sie damit erreichte war, dass sie den widerlichen Geschmack von Bier und Schweiß auf ihrer Zunge schmecken konnte. Ekel steig in ihr an. Am liebsten würde sie kotzen. Hier und jetzt. Sofort… Sie trat mit ihren Beinen um sich. Bog ihren Rücken durch, um sich zu befreien. Vor Anstrengung lief ihr Schweiß die Schläfe entlang. Über den Hals und den Rücken. “Du darfst niemanden davon was erzählen, hörst du?! Sonst steck ich euch alle ins Heim! Dann wirst du deine Brüder nie wieder sehen!” Schreiend bekam sie diese Worte mitten ins Gesicht geschleudert. Keuchend kniete der Vater über ihr. Der Mund stumm und ihre Hände fest in seinem Griff. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Sie wusste es einfach nicht! Sollte sie nicken? Sie glaubte es kaum. Warum wollte ihr Vater sie alle ins Heim schicken? Was sollte sie niemanden sagen? Sie schrie erneut gedämpft auf. Doch niemand würde sie hören. Gaara schlief immer mit viel zu lauter Musik ein, damit er nichts um sich herum wahrnehmen konnte. Und Kankuro besaß einen sehr tiefen Schlaf, sodass er morgens oft nicht einmal seinen eigenen Wecker hörte. Es war zwecklos… Verängstigt schloss sie ihre Augen. Ihre Lider bebten unaufhörlich. Mit aller Gewalt ballte sie ihre zittrigen Finger zu Fäusten. Krallte ihre Nägel tief in die Haut. Erneut biss sie verzweifelte zu. Erneut leckte sie über dessen dreckige Handflächen. Erneut trat sie weiter um sich. Erneut warf sie ihren Kopf hin und her. Erneut bog sie ihren Rücken durch. Doch nichts half. Gar nichts… Ihr war schwindlig. Ihr Kopf pochte verrückt. Es schmerzte fürchterlich. Sie war so verzweifelt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie war so eingeengt, dass sie sich wie ein in die Ecke getriebenes Tier vorkam. Was würde passieren? Was machte ihr Vater mit ihr? Sie wollte nichts sehen. Sie wollte nichts denken. Aber dennoch rotierten ihre Gedanken in endlose Leere. Gemischt mit Panik. Sie konnte keinen ordentlichen Gedanken fassen. “Lass mich!“ Doch ihre Worte blieben ungehört. Ihre Gebete und all ihr Hoffen ebenfalls… Plötzlich wurde ihre Hose geöffnet. Sie wehrte sich nun wilder gegen die Griffe und ihren Vater. Doch kam sie nicht an. Ihr Körper war müde und schwer. So unglaublich schwer. Sie war müde und ihr Verstand wie leer gefegt. Nur ein Wort schrie sie immer wieder in ihrem Inneren. AUFHÖREN! Aufhören! Aufhören… Erschrocken riss sie die Augen auf. Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr ihren Unterleib. Es zerriss sie innerlich. Zerriss sie entzwei. Sie verstand nicht. Sie konnte es nicht begreifen. Es war so unfassbar. So schmerzhaft. So eklig. Sie wollte Würgen. Wollte Kotzen. Sie wollte die Augen schließen. Dennoch konnte sie den Blick nicht von ihrem Vater abwenden. Sie konnte es nicht! Sie schaffte es einfach nicht! Sie starrte ihn ängstlich an… Das Einzige, was sie in den nächsten Minuten sah, war der verzweifelte Blick ihres Vaters. Tränenüberlaufen. Sein leises Wimmern und Flehen für ewig in den Ohren widerhallend. “Bitte… bitte, sag es niemandem…” ____________________________________________________________________ © Songtext “Embryo” by Dir en Grey [1] Ein Charakter aus den Naruto-Filler Folgen. Sie war die persönliche Schülerin von Kurenai, um bei ihr in Genjutsu unterrichtet zu werden. [2] Hibiya ist ein Stadtteil von Chiyoda-ku und bekannt für seinen großen Park, den Hibiya-Park. Chiyoda-ku ist einer der 23 Bezirke von Tokio. Kapitel 10: Vom Winde verweht und von niemanden gehört [Teil 2] --------------------------------------------------------------- Kami, im Himmel... Warum hörst du meine Gebete nicht? Warum lässt du mich hier so im Stich? Geht es Mutter denn gut bei dir? Sieht sie von dir oben aus, was hier unten geschieht? Ich wünsche mir, dass er damit aufhört. Dass er endlich die Finger von mir lässt. Ich will nicht mehr jeden Tag diesem Ekel ausgesetzt sein. Er ist nicht mehr mein Vater, sondern ein Monster. Ein Mistkerl. Ich hasse ihn! Kami… Bitte hilf mir… Vom Winde verweht und von niemandem gehört [Teil 2] 28. Oktober 2009 Ihre Hände zitterten so unglaublich. Ihr Körper schmerzte. Die Tränen wollten nicht aufhören. Sie flossen ohne Halt über ihre erhitzten, geröteten Wangen. Die Zähne fest aufeinander gebissen, um nicht zu schreien. Um nicht laut herauszuschreien, was ihr Herz so sehr entzweigerissen hatte. In dieser Nacht zum wiederholten Male. Mit einem lauten Geräusch schlug die Badezimmertür hinter ihr ins Schloss. Hastig drehte sie den Schlüssel zur Seite und verschloss das Zimmer. Den Rücken fest gegen das Holz gepresst. Die Hände verkrampft in die Maserung gekrallt. Ihre Fingerkuppen schabten haltlos über das Holz. Ihr Atem ging hektisch. Ihre Knie bebten. Fühlten sich schwach und kraftlos an. Konnten kaum ihren Körper tragen. Keine Lampe brannte im Zimmer. Nur durch das kleine Fenster über der Toilette schien seicht das Licht der Nacht hinein. Das künstliche Licht der Straßenlaternen. Das schwache Licht des Mondes am Himmel. All diese Lichter fluteten das Zimmer mit einem dunklen Blau. Ließen den Raum unheimlich wirken. Temari taumelte zur Toilette. Die linke Hand fest gegen den Mund gepresst. Ihr war so unglaublich schlecht. Sie wollte kotzen. Sie wollte alles herausholen. Alles, was tief in ihr vergraben war. Erinnerungen. Schmerzen. Ekel. Und ihren ‘Vater’. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Erinnerungen überfluteten ihre Wahrnehmungen. Schmerzen durchfluteten ihren Körper. Schmerzen im Bauch. Schmerzen zwischen ihren Beinen. Schmerzen in ihrem Kopf. Schmerzen in ihrer Brust. Schmerz, tief vergraben in ihrem Herzen. Verankert und in Ketten gelegt. Hastig beugte sie sich über die Schüssel. Würgte. Holte alles heraus. Alles, was in ihrem Magen war. Ihr Essen von heute. Ihren ekelhaften ‘Vater’. Den ganzen Tag. Alles! Keuchend sackte sie vor der Toilette zusammen. Ihre Hände zitterten noch. Krallten sich verkrampft in das Porzellan. So sehr, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. In ihrem Mund der widerliche Geschmack vom Erbrochenen. Ihr Kopf wie leer. Doch im Körper immer noch dieses abscheuliche Gefühl. Sie fühlte diesen erdrückenden Ekel immer noch in sich. Am liebsten würde sie ihn herausschreien. Am liebsten alles aus sich herausreißen. In tausend Stücke zerreißen. Und ihr kaputtes Herz wollte sie dabei gleich mit entsorgen… Langsam robbte sie zur Wanne. Ihre Beine konnten und wollten sie in diesen Moment nicht mehr tragen. Sie schafften es einfach nicht. Zitternd tasteten ihre Hände den kalten Fliesenboden entlang. Versuchten Halt am Badewannenrand zu finden. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie schluchzte leise. Ihre Schultern wurden durchgeschüttelt. Ihre Augen brannten. Der Tränenfluss wollte nicht stoppen. Wollte nicht nachgeben. Ihre Hände bebten. Mit zittrigen Fingern tastete sie nach dem Wasserhahn. Stellte die Regler so ein, dass das Wasser aus dem Duschkopf herauskam anstatt aus dem Hahn. Sie klammerte sich an den Griff. Zerrte an diesem herum. Versuchte ihn nach oben zu ziehen. Doch ihre Hände fühlten sich schwach an. Fanden keinen wirklich Halt an dem Metall. Sie wimmerte leise. Leise und erbärmlich… Plötzlich bewegte sich der kleine Stift am Wasserhahn nach oben. Vor Schreck wäre sie beinahe in die Wanne gestürzt. Sie schluchzte erneut auf. Kniff die Augen zusammen, nur um sie im nächsten Moment wieder aufzureißen. Nur um damit die Erinnerungen vor ihren geschlossen Lidern nicht zu sehen. Diese Bilder, welche sich tief in sie gebrannt hatten. So tief und schmerzvoll. Sie keuchte leise auf. Ihre Finger klammerten sich an den Wasserhahn. Hastig drehte sie das heiße Wasser auf. Erst gluckerte es leise in der Leitung, ehe dampfendes Wasser rauschend in die Wanne lief. Ihre Hände lösten sich verkrampft vom Griff. Legten sich auf das kalte Porzellan der Wanne. Ihre Augen starr auf die weißen Badezimmerfliesen gerichtet. Träge stemmte sie sich auf. Sie trug nur noch ihr viel zu langes T-Shirt und einen BH darunter. Mehr nicht. Ihre restlichen Sachen hatte sie vereinsamt in ihrem Zimmer zurückgelassen. Den Raum, in dem ihr ‘Vater’ sie erneut geliebt hatte. Erneut geschändet. Erneut getötet. Sie starb. Jede Nacht starb sie von Neuem. Sie starb mit dem Gewissen, dass sie am nächsten Tag wieder ‘weiterleben’ würde… Matt kletterte sie in die Wanne. Setzte sich noch angekleidet in diese. Müde lehnte sie gegen die kühlen Fliesen an der Wand. Sank in sich zusammen. Kauerte sich in der Badewanne zusammen. Die Knie an sich gezogen. Die Arme regungslos an den Seiten liegend. Den Kopf in den Nacken gelegt. Die Augen geschlossen. Ihre glühende Stirn lehnte sie an die kühlen Fliesen. Es tat so gut. Diese Kälte war so angenehm und ungezwungen. Kochendes Wasser lief über ihren kalten Körper. Es schmerzte. Aber nicht so sehr, wie in ihrem Inneren. Entspannend prasselte das Wasser über ihren Körper. Wusch das Gefühl von Schmutz von ihr. Wusch den ‘Dreck’ von ihr. Für diesen Augenblick. Für diesen einen Moment war ihr Leben in Ordnung. Für diese paar Sekunden war sie in Ordnung. So, wie man in ihrer Lage in Ordnung sein konnte… Ihr rotes T-Shirt saugte das Wasser auf. Verfärbte sich dunkel. Es klebte unangenehm an ihrem Körper. Fühlte sich schwer auf ihrer Haut an. Kleine Wasserbahnen liefen ihr über die Wangen. Über das Kinn. Den Hals entlang. Das blonde Haar klebte ihr im Gesicht. An ihren Schläfen. Die vier Zöpfe hingen zersaust und ein wenig zerrupft in ihren Haargummis. Einzelne Strähnen hatten sich vor längerer Zeit schon aus ihrer Struktur gelöst. Träge öffnete sie wieder die Augen. Die türkisen Iriden starr vor sich in die Wanne gerichtet. Müde hob sie den Kopf. Müde von den letzten Stunden. Müde von dem ganzen Tag. Müde vom Leben. Ihr Blick ging nach draußen. Von ihrem Punkt aus sah sie den Mond am Himmel scheinen. Sah die dunklen Wolken an diesem. Wie spät war es? War es schon nach Mitternacht? War schon der neue Tag angebrochen? Leise prasselte der Regen gegen das Fenster. Kleine, dicke, wässrige Tropfen. Spiegelten ihre Stimmung wieder. Dieses Elend. Diese Trauer. Und trotzdem… Es war wunderschön. Es sah einfach nur wunderschön aus. Wie das Bild ihrer Mutter in ihrem Zimmer. Wunderschöne Mutter. Wunderschöne, tote Mutter… Warum ließ sie alle hier allein? “Warum?! Warum?! Warum?!” Stumm bewegten sich ihre Lippen. Sie riss ihre Augen auf. Spürte entsetzliche Wut in sich. Wut auf ihren Vater. Auf ihre Mutter, die sie hier allein gelassen hatte. Wut auf ihre Brüder, die anscheinend nichts bemerkten, was mit ihr geschah. Oder wollte sie es vielleicht gar nicht bemerkten? Wut auf Kami, der ihre Gebete nicht erhörte. Der sie hier allein ließ. Allein und einsam mit ihrer Qual. Mit ihrem Leiden. Mit ihrem Leben. Warum erhörte er sie nicht? Warum half er ihr nicht? Warum? Warum?! WARUM?! Doch am meisten war sie wütend auf sich selbst. Auf die Temari, die nicht stark genug war, sich dagegen zu wehren. Auf die Temari, die das alles mit sich machen ließ. Auf die Temari, welche in diesem Moment so verzweifelt in der Wanne saß. So verzweifelt, dass sie nicht mehr weiter wusste. Wie lange würde ein Menschen aufrecht stehen können? Wie viel Kraft konnte ein Mensch aufbringen, bis er zusammenbrach? Wie lange würde ein Menschen überleben können, wenn er fast jede Nacht von Neuem starb? Kami, warum ließ er es zu, dass seine Kinder so litten… Leise schrie sie. Schluchzte erneut auf. Ballte ihre Hände zu Fäusten. Schlug immer wieder gegen den Wannenrand. Gegen die Fliesen an der Wand. Dumpf klangen die Schläge in ihren Ohren. Hallten leise von den Fliesen im Badezimmer wider. Immer und immer wieder. Sie schlug so lange, bis ihre Hände schmerzten. So lange, bis ihre Stimme heiser vor Schreien, Weinen, Schluchzen und Wimmern war. Ein weiterer Schwall Tränen rollte über ihre Wangen. Sie wimmerte nur noch leise. Schlang müde ihre Arme um ihre Beine. Kniff ihre Augen zusammen. Presste ihren Kopf auf ihre Knie. So fest. So stark, dass sie schon weiße Punkte hinter den geschlossenen Lidern aufblitzen sehen konnte. Dass ein pochender Schmerz unter ihrer Schädeldecke pulsierte. Ihre Unterlippe zitterte nur noch. Ihre Zähne klapperten. Ihre Finger krallten sich in ihre Haut. Kratzen über diese. Zerkratzten die Haut. Die aufgerissenen Stellen begannen mit Brennen. Doch es war ihr egal. Das kochende Wasser verbrühte ihre Haut. Ihre Arme waren schon feuerrot. Ihr Hals. Ihre Beine. Doch es war ihr egal. Lieber wollte sie so leiden, als den Schmerz in ihrer Brust spüren. Dieses erdrückende Gefühl vom Nichtswertsein. Dieses erniedrigende Gefühl vom Beschmutztwerden. Vom Vonniemandemgeliebtwerden. Sie zerkratze sich die Beine. Zerkratzte sich die Arme. Versuchte das Gefühl von Schmutz und Dreck loszuwerden. Diese Einbildung, dass man den Dreck an ihrem Körper sah. Den Dreck, den ihr ‘Vater’ auf ihr hinterließ. Auf ihr. In ihr. Doch er verschwand nicht. Er wollte nicht verschwinden. Nicht, wenn sie die Augen öffnetet. Auch nicht, wenn sie diese schloss. Der Dreck war überall. Überall an ihr. Um sie. In ihr. Voller Panik riss sie die Arme hoch. Krallte ihre Finger in ihr blondes Haar. Presste sie auf ihre Ohren. Hörte ihr Blut in den Adern rauschen. Hörte ihr Herz träge hinter der Brust schlagen. Alle andere Geräusche um sie herum waren wie ausgeblendet. Wie hinter einen dichten Nebel nahm sie diese nur wahr. Das Rauschen des Wassers. Ihr angestrengtes Atmen. Die Geräusche von Automotoren, wenn diese an dem Badezimmerfenster vorbeifuhren. Als wäre sie in Watte gepackt. Geschützt vor der verrückten Welt da draußen. Geschützt vor ihrem ‘Vater’. Geschützt vor sich selbst. Schmutz - Dreck - Liebe - Wut - Hass - Angst - Panik - Schmerz - Leben - Sterben - Liegenbleiben - Aufstehen - Geschändetwerden - Weitergehen - Alptraum - Fallen - Einsamkeit - Alleinsein - Geschunden - Verzweiflung - Realität - Ausweglosigkeit - Aufprallen - Ewigschlafen… “Bitte… bitte… ich kann nicht mehr…” ~*~*~ Leise prasselte der Regen vom grauen, wolkenbedeckten Himmel herab. Die Sonne war schon seit Tagen hinter einer dicken Wolkendecke verborgen. Auf den noch so grünen Ästen der Bäume verfärbten sich immer mehr die Blätter. Vor den Fenstern im Klassenzimmer tanzten kleine Wassertropfen. Malten wunderschöne Muster an die Scheiben. An der Tafel stand der Lehrer. Schrieb mit weißer Kreide wichtige Fakten und Zahlen der japanischen Geschichte an. Erzählte immer wieder von Neuem, wie wichtig es war, diese alle zu beherrschen. Sagte immer wieder, dass es Stoff für die nächste Klausur werden würde. Doch sie verstand ihn nicht. Sie hörte ihm nicht zu. In ihren Ohren lauschte sie ihrem rauschenden Blut. Ihrem schlagenden Herzen. Ein schwerer Nebel voller Gedanken drängte sie aus der Wirklichkeit. Ein Nebel voller Erinnerungen drückte sie immer tiefer in eine andere Welt. Eine Welt, die nicht die heile Welt war, wie sie früher gewesen war. Die gab es für sie schon seit Monaten nicht mehr… Ihre so heile Welt war wie ein Kartenhaus zusammengefallen, als man die letzte Karte unten heraus gezogen hatte. Träge hatte Temari ihren Kopf in ihre Handfläche gebettet. Den Ellenbogen auf den Tisch gestemmt. Die türkisen Iriden dumpf und glanzlos nach draußen gerichtet. Ihre Schultern hatte sie angespannt nach oben gezogen. Sie konnte nicht mehr locker lassen. War immer zu so angespannt. War immer zu nervös. Hatte immer zu Angst. Konnte man es in ihren Augen lesen? Konnte jemand ihre ausdruckslosen Augen sehen? Konnte jemand diesen ‘Dreck’ an ihrem Körper sehen, welcher anscheinend nie verschwinden wollte? Konnte man es ihr ansehen? Verriet irgendeine Haltung etwas, was zu Hause fast täglich passierte? Konnte es jemand an ihrer Haltung, gar an ihren Gang erkennen, dass sie mit diesem Mistkerl, der sich Vater schimpfte, ‘Liebe machte’? Das dieses Monster ihr somit zeigte, wie abgrundtief er sie liebte? Konnte jemand sehen, wie kaputt gespielt sie schon war? Konnte es jemand? Leicht biss sie sich auf die Unterlippe. Kaute auf dieser herum. Ihre Finger krallten sich in ihre Wange. Verkrampften sich. Hinterließen auf der hitzigen Haut rote Abdrücke. Ihr Gesicht war leichenblass. Ihr Kopf schmerzte. Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte Angst. So entsetzliche Angst, dass jemand erkannte, was wirklich mit ihr los war. Dass jemand bemerkte, dass sie mit ihrem ‘Vater’ geschlafen hatte. Dass sie mit ihm Sex hatte. Diese Angst begleitete sie den ganzen Tag. Den ganzen Tag über, bis sie zu Hause war. Dann tauschte sie den Platz mit der anderen Angst. Der Angst, dass dieser Mistkerl jeden Moment zu ihr kam und er sie sich nahm. Der Angst, mit der sie nachts einschlief. Mit der Angst, die sie bis in die Alpträume verfolgte. Wie lange würde sie es noch schaffen aufrecht zu gehen? Wie viele Tage würde sie es noch durchstehen können? Wie oft würde sie sich noch widersetzen können? Sie sagte “Nein!”. Laut und deutlich. Sie versuchte ihn wegzustoßen. Doch dieser Mistkerl war stärker. Er war stärker, während ihr Widerstand Tag für Tag schwächer wurde. Immer schwächer… Das Klingeln der Schulglocke riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken zuckte sie zusammen. Eine kleine Träne löste sich vor Schreck aus ihren Augenwinkeln und rollte über ihre Wange hinweg. Den Blick starr und fast regungslos auf ihre Schulbank gerichtet. Hastig blinzelte sie. Blinzelte damit die noch kommenden Tränen weg. Die Geräusche um sie herum erdrückten sie fast. Das Scharren von Stühlen. Die lauten Unterhaltungen untereinander. Das fröhliche Lachen. Das Einpacken der Schultaschen. Wie ein Summen erklang es in ihren Ohren. Und plötzlich war alles wie stumm. Sie blinzelte nur noch einmal. Dann war es vorbei. Dieses Gefühl, als würde sie von der Umgebung erdrückt werden. Ausgeliefert den Blicken der anderen. Plötzlich war sie wieder zurück. Zurück in der Realität. Träge stand sie auf, packte nebenher ihre Schulunterlagen in die Tasche. Die Geräusche um sie herum wurden immer leiser. Sie warf sich ihren Taschenträger über die Schulter. “Sabakuno-san…” Erschrocken zuckte sie zusammen und verkrallte sich in den Träger ihrer Schultasche. Die tiefe Stimme ihres Lehrers bescherte ihr einen unangenehmen Schauer über dem Rücken. Klang diese tiefe Stimme doch ähnlich wie die ihres ‘Vaters’. Träge wandte sie sich ihrem Lehrer zu und hatte dabei den Blick leicht zu Boden gesenkt. “Ja, Sensei?” “Ich würde mich freuen, wenn Sie in der nächsten Stunde wieder ihre Aufmerksamkeit auf den Unterricht lenken würden.” Sie nickte leicht auf die Aussage des Erwachsenen und verbeugte sich entschuldigend. Dabei wusste dieser Mann doch überhaupt nichts. Denn egal, wie sehr sie es auch versuchte, sie schaffte es nicht sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Nicht bei den Gedanken, die ihren Geist beschatteten… “Hey, Temari!” Sie blickte auf. Als wäre nie was gewesen. Als wäre alles in Ordnung. Alles bestens. Als wäre sie nicht vor Kurzem noch vor Angst am liebsten gestorben. Alles war in Ordnung. In diesem Moment. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Sie versuchte den Kloß in ihren Hals herunterzuschlucken. Sie atmete tief ein und aus. Es half ein wenig und sie bekam besser Luft. Keine Angst. Es war nur ein Mädchen. Es war nur die Hand eines Mädchens. Immer und immer wieder redete sie sich das ein. Versuchte damit ihr aufgewühltes Gemüt zu beruhigen. Ihre Hände zitterten, weswegen sie diese gegen ihre Beine drückte. Tief in den Stoff ihres Rockes. Die Nägel tief bis fast in die Haut. “Wir wollen ein wenig durch die Stadt bummeln gehen. Lust, mitzukommen? Das wird dann ein richtiger Mädchennachmittag!” Sie mochte ihre Freundinnen. Sehr sogar! Und seit Ewigkeiten hatte sie schon nichts mehr mit ihnen unternommen. Einmal der Stress wegen Klausuren. Dann kamen fast sechs Wochen lang die Sommerferien dazu. Und jetzt bereitete sie sich schon wieder auf die Abschlussarbeiten im März vor. Ihr Gegenüber strahlte sie freudig an. Sie nickte leicht, ehe sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen spielte. Ein hoffnungsloses, trostloses Lächeln. Als hätte sie keine andere Wahl. Doch besser, als wenn sie zu Hause war. Es war eine Ablenkung für sie. Ein Nachmittag ohne Angst. Ein Nachmittag ohne Schmerzen, die ihre Seele entzwei riss. “Ich bin dabei!” Dieser Nachmittag würde ihrer werden. Ganz allein ihrer. Dieser Mistkerl würde sie heute Nachmittag nicht bekommen. Nicht! Doch dafür würde sie ihm die ganze Nacht ausgeliefert sein… Alle drei verließen das Zimmer. Auf dem Gang war viel los. Überall waren Schüler versammelt. Unter ihren Schritten knarrte das Holz. Eine kleine Meute vor ihnen regte die Aufmerksamkeit von Temari an. Mit neugierigem Gesichtsausdruck versuchten ihre Freundinnen hinter ihr einen Blick auf die Ansammlung zu erhaschen. Was war da los? Mit langsamem Schritten kamen sie näher. Erblickten zwischen einer kleinen Gruppe von Jungs ein junges Mädchen. Sie sah aus, wie eine Schülerin aus der ersten Oberstufe. Klein und noch zierlich. Nicht älter als fünfzehn oder sechzehn. Leise schnalzte Temari mit der Zunge. Warum mussten Jungs immer auf Mädchen herum hacken, die sich nicht wehren konnten? Warum? Warum zwangen Männer Frauen, Dinge zu tun, die sie nicht wollen? Warum zerstörten Männer die Leben so vieler Mädchen? Warum? Mit einen scheppernden Geräusch sauste ihre geballte Faust gegen das Metall des Schließfaches neben ihr. Ihre türkisen Augen funkelten sauer auf. Die Aufmerksamkeit aller Umherstehenden war nun auf sie gerichtet. Ihr Gegenüber blickte sie neugierig an, ehe ein genervter Ausdruck auf dessen Gesicht zu sehen war. “Was willst du?” Ein weiterer Junge hinter ihm, packte ihn ein wenig nervös an dessen schwarzen Blazerärmel. Sie sah an dessen Augen an, dass er Respekt vor ihr hatte. Sie wusste auch warum. Schließlich wäre ihr Gegenüber nicht einer der ersten, denen sie hier eine gebrochene Nase oder gar ein blaues Auge verpasst hätte. Nur weil sie dachten, sie könnten arme, wehrlose Mädchen ärgern oder gar belästigen. “Lass das lieber… das ist Temari-sempai aus der dritten Oberstufe…” Der Glanz in den Augen ihres Gegenübers veränderte sich merklich. Von überheblich, hinüber zu fragend, bis hin zu ängstlich. Eine ganze Palette voller Emotionen bekam sie soeben zu sehen. Es war nichts Neues, dass einige bei ihrem Namen sofort wussten, wer sie war. Vor allem die Schüler aus der ersten und zweiten Oberstufe. Sie war dort bekannt für ihr Temperament. Für ihre Gerechtigkeit für Mädchen, die sich nicht wirklich wehren konnten. “Habt ihr Spaß arme, schwache Mädchen zu ärgern?!” Der Junge ließ noch eine verächtliches Schnauben von sich hören, ehe er abzog und das Feld räumte. Und mit ihm die Gruppe, die sich um das Mädchen gebildet hatte. Seufzend ließ Temari die Schultern sinken. Ihr Blick fiel auf das Mädchen, welches sich stumm nach vorne beugte und sich somit bei ihr bedankte, ehe auch sie in den Massen der weiterziehenden Schüler verschwand. Unbemerkt und grau wie ein Mäuschen. Ihr Blick ruhte weiter auf der Stelle, wo eben diese Schülerin noch gestanden hatte. Plötzlich legte sich wieder eine Hand auf ihre Schulter, weswegen sie erschrocken zusammenzuckte. “Typisch Temari! Verscheust die ganzen Jungs! So wirst du später nie einen bekommen, wenn sie alle Angst vor dir haben!” “Ha! Stimmt! So ist sie halt! Unsere temperamentvolle Temari…” Ja… So war sie. Temperamentvolle Temari. Verlogene Temari. Kaputte Temari. Liebe Temari. Die liebe Temari dieses Mistkerls… ~*~*~ Mit trägen Schritten bewegte sie sich die Treppen in die sechste Etage hoch. Sie wollte nicht nach Hause. Nein! Sie wollte nicht in diese Wohnung. In diese vier Wände, wo der Mistkerl auf sie lauerte. Wo dieser Mistkerl auf sie wartete. Wartete, bis sie heimkam. Wartete, bis sie wieder sein war. Sie wollte nicht. Doch sie wusste nicht wohin. Sie hatte keinen Ort, an dem sie bleiben konnte. Sie hatte keinen Platz, an dem sie hätte hingehen können. Sie konnte nur nach Hause. Nach Hause. In die Krallen dieses Mistkerls. Dabei war sie heute so glücklich gewesen. So voller Glücksgefühle. Doch selbst dieses kleine Glück, was sie heute Nachmittag hatte erleben können. Dieses kleine Gefühl: Ihr Leben wäre normal - ohne Angst und Erinnerungen. Auch dieser Moment wurde von den Erinnerungen an ihren ‘Vater’ verdrängt. Dabei war der Nachmittag so schön gewesen. Sie waren mit trägen Schritten über den nassen Asphaltboden gelaufen. Autos fuhren an ihnen vorbei. Fuhren durch Pfützen und bespritzten sie mit Wasser. Leise hatte sie mit ihrem Freundinnen geredet. Über Schule. Über Jungs. Darüber, was sie nach der Oberschule machen wollten. Es war ein angenehmes und normales Gespräch gewesen. Etwas, das sie schon seit Längerem nicht mehr erlebt hatte. Etwas, das sie schon sehr vermisst hatte. Es war einfach ungezwungen gewesen. Es war so normal. So realistisch und etwas Alltägliches. Etwas, was sie nie sich erträumt hätte, dass sie dies noch einmal erleben würde. Dabei wusste sie, dass es für sie keine Zukunft mehr gab. Ihr Leben war kaputt. So kaputt, dass man es kaum noch Leben nennen konnte. Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt den nächsten Tag überstehen würde. Alle Träume von der Zukunft waren wie Seifenblasen zerplatzt… Sie träumte schon lange nicht mehr. Nur noch Alpträume. Träume, die der Realität nicht fern waren. Aber dieses Erlebnis war eines der ersten, das aus ihren Gedanken verbannt wurde. Denn egal, wie oft sie es sich wünschte. Ihr Leben war und würde nicht mehr normal werden. Nie mehr… Sie hatte fast die letzte Etage erreicht. Doch ihre Schritte stoppten. Mitten auf den Stufen. Ihre Füße waren so schwer. Sie würde keinen weiteren Schritt mehr schaffen. Keinen weiteren! Ihre Knie zitterten. Ihr Körper fühlte sich müde an. Ihre Hände bebten. Ihre Schultern zuckten. Ihr Atem ging hektisch. Würde er sie heute wieder berühren? Hastig schüttelte sie den Kopf. Wollte nicht daran denken. Wollte es nicht wissen. Aber ihre Gedanken waren voll davon. Voll von Erinnerungen, die sie verfolgten. Am Tage sowie in der Nacht. Hastig schlug sie ihre Hände auf die Ohren. Sie hatte Angst. So entsetzliche Angst. Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte es nicht! Wimmern sank sie zu Boden. Presste ihre Hände fester gegen die Ohren. Hörte ihr Blut rauschen. Ihr Herz schlagen. Es klang so lebendig. Es sollte aufhören zu schlagen. Doch dem war nicht so. Sie war am Leben. Sie lebte, dabei starb sie fast jeden Tag. Jeden verfluchten Tag! Zitternd löste sie ihre Hände von den Ohren. Träge richtete sie sich wieder auf. Ihre Beine bewegten sich weiter die Stufen nach oben. Schritt für Schritt. Dabei wollte sie es nicht. Sie wollte nicht nach Hause. Doch ihr Körper reagierte nicht. Ließ sich von ihrer Angst weiter nach oben treiben. Denn egal wie sehr sie sich dagegen wehrte… Sie würde irgendwann nach Hause kommen müssen. Schließlich gab es keinen Ort, wo sie bleiben konnte. Keinen Ort, ohne dass sie von ihrer Situation zu Hause erzählen musste. Keinen Ort, wo sie nicht erzählen musste, dass sie von ihrem ‘Vater’ vergewaltigt wurde. Sie konnte es nicht sagen. Niemanden! Sie wollte nicht von ihren Brüdern getrennt werden. Sie wollte nicht am Ende allein sein, weil alle anderen in Heime untergebracht worden wären. Sie wollte das bisschen Familie, das sie noch besaß, nicht verlieren. Sie wollte das nicht… Außerdem schämte sie sich so sehr. Sie schämte sich dafür, was dieser Mistkerl mit ihr machte. Dafür, dass sie mit ihm schlief. Es war verboten. Das wusste sie. Deswegen durfte es niemand wissen. Niemand… Lieber jetzt nach Hause. Lieber jetzt, als den restlichen Tag mit dieser erdrückenden Angst zu verbringen. Lieber jetzt, als vor Panik zusammenzubrechen. Lieber jetzt, dann hatte sie es für heute hinter sich. Lieber jetzt… Temari schaffte die letzte Stufe. Taumelte die restlichen Schritte zur Wohnungstür. Ihre Füße fühlten sich schwer an. In ihrer Tasche wühlte sie nach ihren Wohnungsschlüssel. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie ihn kaum greifen konnte. Ihre Augen brannten vor unvergossenen Tränen. Die Wangen hitzig und gerötet vor Nervosität und Angst. Ihr war so unglaublich schlecht, dass sie das Gefühl hatte, sich jeden Moment hier vor der Wohnungstür übergeben zu müssen. Mit bebenden Fingern versuchte sie den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Doch eher zerkratzte sie das Metall, als den Schlüssel in die richtige Öffnung zu stecken. Sie schaffte es nur mit Mühe. Lautlos trat sie in den Flur. Schloss ebenso leise die Tür hinter sich. Hastig zog sie ihren Blazer aus und hing ihn an den Haken. Ebenso schlüpfte sie so schnell aus ihren Schuhen und ließ sie so unordentlich gereiht im Gang liegen. Sie war noch vollkommen von ihrer Angst eingenommen, sodass sie ihre Umgebung nicht wirklich realisierte. Plötzlich packte sie jemand am Handgelenk. Temari wurde in die Wohnung gerissen. Widerwillig über den Flur gezerrt, bis vor ihre Zimmertüre. Zwei kräftige Hände packten ihre Oberarme. Sie wimmerte leise vor Schmerz und Angst. Ihre Augen fest zusammengekniffen. Sie wollte nichts sehen. Sie wollte nichts hören. Nichts fühlen. In diesen Moment wäre sie am liebsten taub, blind und stumm. Aber sie entkam nicht. Sie entkam den Griff nicht. Doch sie musste. Musste! Musste! Musste! Sie durfte sich nicht schon wieder von ihm nehmen lassen. Sie durfte ihm nicht wieder die Oberhand lassen. Sie wollte nicht schon aufgeben, ehe sie es nicht versucht hatte. Selbst wenn es aussichtslos erscheint… “Ich will nicht! Lass… lass mich…” Der Griff um ihre Oberarme wurde fester. Sie wimmerte erneut. Schmerz durchflutete ihre Schultern. Mit voller Wucht wurde sie gegen die Wand geschlagen. Ihr Kopf kollidierte mit dem Gestein und pochte unangenehm. Etwas Warmes und Flüssiges lief ihre Schläfe entlang. Sie wusste, was es war. Sie wusste es, selbst wenn sie nicht die Augen öffnete. Selbst wenn sie es nicht sah. Diese großen Hände krallten sich in ihre Oberarme. Sie fest. So fürchterlich schmerzhaft. Würden dort hässliche blaue Flecken und rote Striemen hinterlassen. Sie schrie. Trat um sich. Doch nichts half. Nichts… Bitte… Bitte… Jemand sollte ihr helfen. Sie wusste einfach nicht mehr weiter… „Warum nicht?! Willst doch Daddys Mädchen sein, oder?! Hast du Daddy nicht mehr lieb?!“ Schreiend bekam sie diese Worte ins Gesicht geschleudert. Erschrocken riss Temari ihre Augen auf. Starrte in die blutunterlaufenen und voller Zorn sprühenden Iriden ihres Gegenübers. Der widerliche Geruch von Alkohol wehte ihr entgegen. Ließ den Ekel in ihr ansteigen. Ihr Magen drehte sich um. Doch schluckte sie tapfer alles wieder herunter. Dabei hätte sie gerne alles vor seine Füße gekotzt. Alles! Angst umkrallte ihre Kehle. Packte sie, drückte zu. Raubte ihr die Luft zum Atmen. Sie würde ersticken. Sie brauchte Luft, sonst würde sie ersticken. Tief atmete sie ein und aus. Doch dieses erdrückende Gefühl wollte nicht verschwinden. Es war immer noch da. Ihr Atmen war nur noch ein angestrengtes Keuchen. Mit einem Ruck ging ihre Zimmertür auf. Sie taumelte nach hinten. Krallte sich halt suchend an den Türrahmen. Stolperte über ihre Beine. Sank auf die Knie, als der Griff um ihre Oberarme nachließ. Sofort griff sie mit ihren Händen an ihre Arme. An den Stellen, wo eben noch die ekelhaften Finger dieses Monster sie berührt hatten. Sie wimmerte leise. Ein Schluchzen kam über ihre Lippen. Eine kleine Träne lief ihr über das Gesicht. Schmerzen pochten in ihrem Kopf. Hastig wischte sie sich mit dem Handrücken über ihre Stirn. Über ihre Schläfen, ehe sie auf ihre blasse Faust starrte. Blut. Rot und unübersehbar auf der weißen Haut. Ihr Körper erzitterte. Für einen Moment war sie allein. Allein am Boden ihres Kinderzimmers. Ihre Augen erschrocken geweitet. Ängstlich robbte sie zur Wand. Krallte sich an der weißen Tapete fest. Suchte nach Halt. Suchte nach einem Ausweg. Sie wollte es nicht mehr. Sie konnte nicht mehr. Schluchzend lehnte sie ihre Stirn gegen die Wand. Stemmte sich auf den Knien nach oben, ehe sie wieder in sich zusammensackte. Schritte kamen näher. Die Stimme dieses Mistkerls war zu hören. Sie kniff erneut ihre Augen zusammen. Wollte dieses ganze Elend nicht mehr ersehen. Wollte es nicht mehr ertragen. Sie wollte dem allen ein Ende setzen. Doch wie? Ihre Zimmertür knarrte leise. Das laute Atmen des anderen war zu hören. Ein dünner Hauch kam über ihre Lippen. „Nein… nicht…“ Sie kauerte sich zusammen. Wollte fliehen. Doch wohin? Wohin nur? Fest drückte sie sich gegen die Wand. Wollte in dieser verschwinden. Warum tat sich kein Loch auf und verschlang sie? Warum nicht? Hände umklammerte ihren Arme. Sie wimmerte. Schluchzte. Weinte. So herzzerreißend. Aber dieses Monstrum zeigte kein Erbarmen. Keinen Funken Gnade. Warum nicht? Wo war der Vater, den sie einst geliebt hatte? Wo war der Vater, der stolz auf sie war? Wo war der Vater, mit dem sie über alles reden konnte? Wo? Wo war der gnädige Vater, für den sie so gerne seine Beste sein wollte… „To-san…“ Schluchzend kam dieses Wort über ihre Lippen. Sie versuchte ihre Arme aus den Griff zu zerren. Sie versuchte es so verzweifelt. Schaffte es. Riss sich los. Taumelnd kroch sie über den Teppichboden. Krallte sich am Bettlaken fest. Dieser Mistkerl packte sie an. Umfasst ihre Taille. Griff ihr zwischen die Beine. Sie trat um sich. Sie wollte das nicht. Nein! Nein! Nein! Warum hörte er ihr Flehen nicht? Ihr Schluchzen? Ihr Wimmern? Warum nicht? Warum nicht?! „Stell dich nicht so an! Willst doch Daddys Mädchen sein, oder?!“ Nein! Sie wollte es nicht. Sie wollte es nicht. Nicht so. So wollte sie nicht sein Mädchen sein. Seine Beste. Seine einzige Tochter, auf die er stolz sein sollte. So wollte sie es nicht. Nein! Sie hasste ihn. Sie verabscheute ihn. Sie wollte nicht mehr. Sie konnte nicht mehr. Bitte, er sollte sie in Ruhe lassen. Am liebsten für immer. Mit einem Ruck wurde sie auf das Bett geworfen. Die Matratze senkte sich unter ihrem Gewicht. Das Bettlaken raschelte leise auf. Zitternd setzte sie sich auf. Robbte zur Wand und lehnte sich Halt suchend gegen diese. Wimmern blickte sie auf. Die türkisen Iriden auf ihren Gegenüber gerichtet. Auf diesen Mistkerl. Voller Vorwurf und Hass. Voller Abscheu und Ekel. Eine Hand fasste an ihre Brust. Sie holte Luft. Atmete tief ein. Kurz biss sie die Zähne. War kurz davor, dass sie alles einfach über sich ergehen ließ. Aber sie wollte das nicht! Nein… Sie wollte das nicht. Sie wollte stark sein. Sie wollte an sich glauben. Sie wollte endlich wieder leben. Leben und am Leben bleiben. Solange ums Überleben kämpfen, wie sie konnte. Wenigstens einmal seit den letzten Monaten… Ihr Blick irrte ziellos durch das Zimmer. Blieb an den einzigen Foto im Raum hängen. Verblasst war das Bild. Verblasst und ergraut. Es war das Bild ihrer Mutter. Ihre Mutter… Was würde diese jetzt denken? Wie würde ihre Mutter reagieren, wenn diese wüsste, was dieser Mistkerl mit ihr machte? Diese wurde ihn hassen. Sicherlich… Ein Schluchzen kam über ihre Lippen bei diesen Gedanken. Tränen rannen über ihre heißen, gerötete Wangen. Ihr blondes Haar war zersaust. “Ich hasse dich…” Ein dünner Hauch kam über ihre Lippen. Er verstand sie nicht. Hörte sie nicht. Die Hände streichelten weiter ihren Körper. Ihren Nacken. Ihren Hals. Strichen über das T-Shirt. Krallten sich in ihren Brüste. Sie holte erneut Luft, hielt sie an, bis ihr Gesicht rot wurde. Dann schrie sie alles aus sich heraus. Alles, was sich seit Monaten in sie angesammelt hatte. All die Gefühle, die sich tief in sie verankert hatten. “Ich hasse dich! So sehr! Ich hasse dich! Dich und deine ekelhafte Liebe! Dich und deine ekelhaft Taten! Ich hasse dich! ICH HASSE DICH!” Kalter Schweiß lief ihre Schläfe entlang. Sie schrie. Wimmerte. Schluchzte. Holte tief Luft. Der Kloß in ihren Hals war wie verschwunden. Sie bekam besser Luft. Selbst wenn in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander herrschte. Die Griffe um sie verfestigten sich. So sehr, dass sie wimmernd in sich zusammensackte. Und plötzlich fiel der Druck von ihr ab. Die widerlichen Hände, die vor Kurzem noch ihren Körper berührt hatte. Sie entfernten sich. Ihr Blick ruhte nun auf dem Boden. Solange, bis sie die ersten Ohrfeige spürte. So lange, bis die zweite hinterherkam. Beim dritten Schlag drehte sich ihr Gesicht zur Seite. Vor Schreck biss sie sich auf die Zunge. Ein kleines Rinnsal Blut lief ihr über die Mundwinkel. Tropfte auf das weiße Hemd ihrer Schuluniform. “Ich hasse dich…” Immer und immer wieder murmelte sie diesen Satz vor sich her. Immer und immer wieder, bei jeden Schlag, den ihr Gesicht abbekam. Ihre Wangen brannten vor Schmerz. Ihr linkes Ohr fühlte sich taub an. Den nächsten Schlag bekam Temari mit der Faust zu spüren. Und mit den Schlägen ebenfalls die ganze Wut dieses Mistkerls. Ihr war schwindlig. Ihr Kopf pochte. Ihre Nase blutete. Fühlte sich taub an. Doch ihr Gegenüber war nicht aufzuhalten. Lieber geschlagen werden, als missbraucht und seelisch getötet zu werden… Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als dieser den letzten Schlag machte und sie zur Seite sackte. Sie bemerkte vor Schmerz nicht einmal mehr die Schritte aus ihren Zimmer. Dafür fühlte sie sich zu glücklich an. Viel zu glücklich. Sie war ihm entkommen. Sie war ihm dieses Mal entkommen. Es war so befreiend dies zu wissen. Eine Last fiel ihr in diesem Moment von den Schultern. Eine unglaublich schwere Last. Sie hatte gewonnen - einen Kampf, den sie so oft verloren hatte. Doch für welchen Preis… Schmerz brach über sie ein. Der Schmerz in ihrem Gesicht, das sich taub und angeschwollen anfühlte. Ihr Körper bebte. Ein weiteres ersticktes Schluchzen kam über ihre aufgeplatzten Lippen. Tränen mischten sich mit Schweiß und Blut zusammen. Verliefen in dünnen Bahnen über ihr Gesicht. Ihre Haut war glühend heiß. Hastig schlug sie ihr geschundenes Gesicht in ihre Hände. Schluchzte. Sie schluchzte unaufhaltsam. Sie war ihm entkommen. In diesem Moment fühlte sie sich frei. Frei und unbeschwert… ~*~*~ Fest hatte sie ihre Bettdecke um sich geschlungen. Die Knie an den bebenden Körper gezogen. Die Arme eng um die Beine gelegt. Ihr Kopf war wie leer. Ihre Körper so unglaublich schwer. Das Gefühl von Triumph schon lange wie weggeweht. Wieder regierte die Angst in ihr, dass dieser Mistkerl kommen und sie sich nehmen würde… Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie kauerte sich weiter zusammen. Zog die Decke mehr um sich. Wollte verschwinden. Sich verstecken. Doch das Klopfen ließ nicht nach. Plötzlich erklang die panische Stimme ihres Bruders. “Temari! Temari! Bist du da drin? Temari!” Zitternd bewegte sie ihre Lippen. Wollte nach ihrem Bruder rufen. Wollte sagen, dass sie hier war. Vorerst in Sicherheit. Aber außer einem leisen Krächzen bekam sie kein Wort über die Lippen. Dabei wollte sie so laut rufen wie sie konnte. Träge schob sie ihre müden Beine zur Bettkante vor. Stellte ihre Füße auf den Boden. Zaghaft stand sie auf. Ihr weißes Schulhemd hing zersaust an ihrem Körper. Was nass vor Schweiß. Verdreckt mit Blut. Hastig richtete sie noch ihren Rock, ehe Temari so schnell sie konnte zur Tür taumelte. Das Klopfen an dieser ließ nicht nach. Ebenso wie die Rufe ihres Bruders. Stolpernd kam sie an. Drückte die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Das helle Licht im Flur blendete sie für einen kurzen Moment, weswegen sie die Augen zusammenkniff. Blinzelnd und verschwommen erkannte sie ihr Gegenüber. “K-kankuro…” Die Stimme heiser vom vielen Weinen. Ihr Gegenüber nickte leicht, als er sich dann umwand und in Richtung Badezimmer verschwand. Desorientiert starrte sie ihm nach. Wich aber erschrocken zurück, als zwei weitere Männer an ihr vorbei liefen. Instinktiv zog sie sich weiter ins Zimmer zurück. Auch noch, als beide an ihr vorbei zogen und ebenfalls im Badezimmer verschwanden. „To-san, hör auf!“ Das war die Stimme von Kankuro. Es dauerte auch nicht lange, ehe sie aus ihrem Zimmer trat. Zwar waren ihre Schritte noch ein wenig taumelnd, aber sie kam voran. Zitternd tastete sie sich an der Wand entlang. Geschrei war zu hören. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Bebend legte sie ihre Hände auf ihre Ohren. Wollte die Stimme ihres ‘Vaters’ nicht hören. Den Blick starr zum Badezimmer gerichtet. Die beiden unbekannten Männer hatten diesen Mistkerl von Vater an den Armen gepackt und versuchten ihn aus dem Zimmer zu zerren. Erschrocken schlug sie die Hände vor ihren Mund. Unfähig, etwas zu sagen oder gar auf das Bild vor ihr zu erwidern. Ihre Gedanken überschlugen sich. Drehten sich nur um Eines: Gaara musste im Badezimmer sein! Voller Angst stolperte sie weiter in Richtung Bad. Doch was ihr Blick erfasste, trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihr jüngster Bruder saß zitternd in der Wanne. Heiße Tränen liefen über dessen Wangen. In den letzten Monaten hatte sie ihn noch nie weinen gesehen oder gehört. Ihr Blick war weiter starr auf ihre Brüder gerichtet. Auf Kankuro, der Gaara soeben unter die Arme griff und aus der Wanne zog. Ihn auf den Boden setzte und in viele Handtücher wickelte. Wie in Trance setzte sie ihre Schritte weiter. Die Arme ausgestreckt. Ihr Körper bebte bei den Anblick ihres jüngsten Bruders. Sofort nahm sie ihn in die Arme. Fest. Sie wollte ihn nicht loslassen. Wollte ihm Halt geben. Dem so zerbrochen und kaputten Jungen in ihren Armen. Dieser Anblick zerriss ihr Herz. Ließ dieses bluten. Sie weinte. Weinte so herzzerreißend. Eine angenehme Wärme durchflutete ihren Körper. Eine Wärme voller Geborgenheit. Wann hatte sie das letzte Mal ihren Bruder so in den Arm genommen? Wann? Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern. Es war alles in ihren Erinnerungen so verschwommen. Verschwommen und wie weggewischt. Doch das jetzige Gefühl war real. Voller Präsens. Und so überwältigend, dass sie es kaum glauben konnte. Das Schluchzen des anderen durchschüttelte auch ihren Körper. So heftig, dass sie selbst nur schwer zur Ruhe kommen konnte. Aber ehrlich gesagt wollte sie es nicht. Sie wollte es nicht. So gut fühlte sich in diesen Moment die Situation an. Voller Geborgenheit. Voller Liebe. So ungezwungen. Und doch gewollt. Sie liebte ihre Brüder. Sie liebte sie so sehr. Der andere lehnte sich sachte und nach Halt suchend gegen sie. Kurz zuckte sie erschrocken zusammen. Ihr Körper versteifte sich, doch es dauerte nur einige Sekunden, ehe sie sich wieder entspannte. Es war nur ihr Bruder. Ihr kleiner, geliebter Bruder. Müde schloss sie ihre Augen. Drückte Gaara fester an sich. Den bebenden Körper, der so kaputt und geschunden aussah. Sie wollte ihm damit mehr Sicherheit und Geborgenheit geben. Zitternd grub sie ihre Finger in sein rotes Haar. Küsste es sachte. Nahm seinen Geruch auf. Geliebter Bruder. Geliebter, kleiner Bruder… „Gaara, alles wird gut. Alles wird wieder gut… Wir können hier weg. To-san kann uns dann nichts antun.“ Sachte streichelte sie ihm über den Rücken. Immer und immer wieder. Doch die Worte des anderen wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Sie konnten weg. Sie konnten weg von ihrem ‘Vater’. Von diesem Mistkerl. Sie konnten verschwinden. Alle drei zusammen. Sie wurden nicht getrennt. Sie blieben zusammen. Zusammen, als eine kaputte Familie, die nicht ohne den anderen weiter wollte und konnte… Immer noch rannen ihr heiße, salzige Tränen über die Wangen. Wollten nicht aufhören. Wollten nicht nachlassen. Spülten ihre Angst und ihren Schmerz für diesen Augenblick fort. Sie war nicht allein. Sie war nicht allein… Sie war zusammen mit ihren Brüdern. Mit ihren geliebten Brüdern… Dieses Gefühl in ihr war so überwältigend, dass sie es kaum in Worte fassen konnte… Sie war befreit. Sie war frei. Sie lebte… Tief vergrub sie ihr Gesicht in das rote Haar. Tränkte es noch zusätzlich mit ihren Tränen. Das Haar war feucht vom Wasser. „Gaara, hörst du? Wir können von vorne anfangen. Ein neues Leben beginnen im Atarashii Semei. Iruka-san nimmt uns dann gleich mit…“ Atarashii Semei. - Neues Leben. Zählte es auch für sie? Für sie alle drei? Konnte auch sie von vorne beginnen? Konnte sie das? Einfach alles versuchen zu vergessen und zu verarbeiten? Schaffte sie das? Half man ihr? Ohne, dass sie gezwungen wurde? Sie wollte kein neues Leben. Sie würde das nie bekommen. Dies wusste sie. Doch sie wollte ihr jetziges Leben anders leben. Sie wollte weiterleben… Ohne ihren Vater. Ohne, dass sie allein in Einsamkeit zerrissen wurde. Ohne dem “Zieh dich aus!” oder dem “Du willst doch meine Beste sein!”. Und ohne Nacht für Nacht in Angst zu leben, dass er “kam”… Kapitel 11: Die Puppenmaske [Teil 1] ------------------------------------ Wenn ich mir mein Leben betrachte, dann kann ich ein was mit guten Gewissen sagen: Wir sind eigentlich eine ganz normale Familie. Die Geschwister streiten sich, Vater und Mutter turteln herum, als wären sie frisch verliebt und wir halten in schlechten Zeiten zusammen. Mutter ist unser Mittelpunkt des Leben, wie es bei jedem Kind der Fall ist. Mutter weiß alles, lehrt alles, hilft allem. Was wären wir ohne sie? Verloren… Wir sind eine normale Familie, doch wenn ich tiefer in unser Familienleben hinein blicke, dann gibt es auch bei uns eine dunkle Seite. Unsere geliebte Mutter ist krank - todkrank. Und wenn sie sterben wurde, dann würde jeder in unserer Familie auf seine Art und Weise sterben… Die Puppenmaske [Teil 1] 05. Juli 2008 Draußen stand die Sonne schon hoch am Himmel. Es war fast sechs Uhr morgens. Leise Geräusche waren in seinen Zimmer zu hören. Das Plätschern von Wasser, wenn er seinen Pinsel erneut auswusch. Sein leises Summen. Gemischt mit den ruhigen Klängen aus seinen CD-Spieler. Kankuro saß konzentriert an seinen Schreibtisch. Ein schwarzes Stirnband hielt ihm sein braunes Ponyhaar aus dem Gesicht. Fing den Schweiß auf, der an seinen Schläfen herunter rinnen wollte. Ruhig und langsam malte er noch mit den letzten Pinselstrichen das Gesicht seiner neuer Marionette. Er bastelte gerne an Puppen herum. In der Grundschule hatte alles mit kleinen Löffelpuppen begonnen, doch in den Jahren hatte er seine Fertigkeiten und Fähigkeiten weiterentwickelt. Jetzt saß er oft mehrere Wochen an einer einzigen Marionette und gestaltete sie nach Wissen und seinen Vorstellungen. Der Bau einer einzelnen Puppe brauchte Zeit und auch Geld für die Utensilien und das Material. Deswegen dauerte es oft Wochen oder gar Monate, bis eine einzelne Marionette gefertigt war. Aber heute würde er seine dritte Puppe in diesen Jahr schaffen. Voller Stolz betrachtete er sein neustes, wunderschönes Werk und grinste über das ganze Gesicht. Dieses Mal hatte er eine Geisha [1] gebastelt. Das Gesicht war in einen blassen Weiß gehalten. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und schwarz umrandet. Die Lippen waren zu einen verführerischen Lächeln verzogen und mit roten, auffälligen Lippenstift übermalt. Auf den bleichen Wangen war ein rosafarbener Touch zu sehen. Sie trug einen schwarzen Kimono. Das Muster von gestickten, roten Lotusblüten zierte das dunkle Gewand. Der Obi um ihren Bauch war in einen satten weinrot gehalten. Hölzerne, rote Schuhe und kleine, weiße Strümpfe waren an ihre Füßchen. In ihren holzigen Fingern hielt das Püppchen einen schlichten, schwarzroten Fächer aus dünnen Papier. Die Marionette war recht klein, nicht einmal größer als dreißig Zentimeter. Und trotzdem ließ sie sich bewegen. Sobald die Farbe getrocknet war, würde er sein neues Prachtstück testen. Er würde sie elegant über den Boden tanzen lassen. Als würde sie leben. Wunderschöne Puppe… Lächle und tanze! Lautlos legte er seinen eben noch benutzten Pinsel zur Seite. Betrachtete für einen Moment sein Werk. Seine Arbeit. Er war stolz auf sich und seine Fertigkeiten. Auf seine neue Puppe, die so viel Geld, Arbeit und Zeit gekostet hatte. Aber es hatte sich gelohnt. In seinen Augen war dieses blasse Püppchen in der Gestalt einer Geisha sein bestes Kunstwerk, was er in den letzten Jahren geschaffen hatte. Träge stand er auf und streckte sie ausgiebig. Er saß sicherlich eine knappe Stunde daran, dass Gesicht der Puppe zu beenden. Langsam sammelte er die einzelnen Farbtuben zusammen, ehe er seine Malutensilien zusammenräumte. Die benutzten Pinsel legte er auf ein Taschentuch. Später würde er diese im Badezimmer reinigen. Leise summte er die Melodie von seiner CD mit. Ging mit ruhigen Schritten zum Fenster und öffnete dieses, um die frische Sommerluft in sein stickiges Zimmer zu lassen. Ein seichter Wind wehte in seinen Raum. Wirbelte sein braunes Haar durcheinander. Er nahm sein Stirnband wieder ab und legte es auf das Fensterbrett. Kurz ruhte seine Hand noch auf den Stück Stoff. Strich sachte über diese darüber. Bewegungslos stand er am Fenster. Genoss die Ruhe in sich. Die Ruhe um sich. Den sanften, frischen Wind auf seiner Haut. Die Augen geschlossen, ließ er diesen einzelnen Moment auf sich wirken. Ließ ihn in sich wirken. Er fühlte sich frei und unbeschwert. Wie eine Marionette ohne ihren Fäden. Er öffnete die Augen wieder. Sein Blick fiel auf seinen Radiowecker. Es war kurz nach sechs Uhr, sicherlich würden die ersten in der Wohnung wach werden. Kurz rieb er sich über seine Augen, als er merkte, wie müde er selbst noch war. Kein Wunder, normalerweise war er ein totaler Morgenmuffel, doch heute war er schon um fünf Uhr aufgestanden. Und dies nur, um sein Kunstwerk noch vor Schulbeginn zu beenden. Für ihn war sein Hobby wie sein Leben. Leise summend lief er durch sein Zimmer, eher er vor seinen Schreibtisch stehen blieb. Er hatte zwei Tische im Zimmer. Den einen benutzte er nur für den Bau seiner Puppen und der andere war für die restlichen alltäglichen Arbeiten. Arbeiten wie Hausaufgaben, Skizzen für neue Marionetten und andere Dingen. Er war soeben auf der Suche nach seinen violetten Kajalstift, schob hier und da einige Blätter zur Seite. Schulbücher worden zu Boden gestoßen, doch er fand ihn nicht. Dieser verflixte Stift war wie verschluckt worden! Ein Murren kam über seine Lippen. Seufzend stellte er sich wieder auf und fuhr mit gespreizten Fingern durch sein braunes Haar. Es war zum Verrücktwerden. Andauernd verschwand sein Kajalstift auf unerklärlicher Art und Weise. Warum er ihn brauchte? Es war ein einfacher Grund: Er mochte Cosplay. Nicht so gewagt in kompletten Kostüm, sondern einfach und schlicht - deswegen schminkte er sich oft das Gesicht mit violettfarbenen Linien. Es war ebenso ein verrücktes Hobby, was nicht wirklich zu einem Jungen in seinen Alter passte. Aber es war ihm egal. Er war so, wie er war… Seufzend und nachdenklich schloss er seine Augen. Wo in diesen jugendlichen Chaos war wohl sein Stift abgeblieben? Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wo er ihn zuletzt hatte. Zur Not würde er sich den seiner Schwester ‘leihen‘ - obwohl eher nehmen besser passen würde. Diesen verwendete Temari sowieso nie. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken. Erschrocken riss er die Augen auf. Sein Blick ging zur Zimmertür, als diese mit leisem Knarren geöffnet wurde. Seine Mutter stand im Türrahmen. Die hellbraunen Haare offen und leicht über die Schultern gekringelt. Ein warmes Lächeln war auf ihren Lippen. In der Hand hielt sie eine Tasse. Bestimmt Tee, denn ihre Mutter trank selten Kaffee, auch nicht an frühen Morgen. Er lächelte zurück. “Ohayou, Ka-San!“ [2] Mit langsamen Schritten kam er ihr entgegen und rieb seine Wangen gegen ihre, ehe er ihr einen leichten Kuss auf diese hauchte. Jeden Morgen begrüßte er sie so. Er liebte seine Mutter. Sehr! Sogar mehr, als seine Marionetten, auch wenn dies nicht schwer war. Sie war alles für ihn. Seine Mutter. Sogar seine Muse. Oft hatte allein der Anblick seiner schönen Mutter gereicht und er hatte sofort Inspiration für ein neues Püppchen. Egal ob sie lächelte, lachte, wütend ihre Kinder ausschimpfte. Jeder Gesichtsausdruck war für ihn wie eine wunderschöne Maske. Selbst wenn seine Mutter weinte, sah dies wunderschön aus. Liebe, zerbrechliche, wunderschöne Mutter… Ohne ihr fühlte er sich verloren. Sachte hauchte sein Gegenüber ihm ebenfalls ein Küsschen auf die Stirn, ehe seine Mutter mit langsamen Schritten und der Tasse in der Hand an ihm vorbei ging. Sie ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl nieder und blickte zu Boden. Kankuro folgte ihr. Im Laufen schnappte er sich seinen zweiten Stuhl von seiner kleinen Werkbank und stellte diesen dicht neben den seiner Mutter. Langsam ließ er sich auf diesen nieder. Sein Gegenüber blickte immer noch in Richtung Boden. Seit einigen Tagen machte dies seine Mutter oft. Heute sah sie auch wieder so blass aus, wie in den letzten Tagen. Nein! Sogar noch blasser. Leicht legte er seine Hand auf ihren Schoss und strich zart über diesen. Den Blick ebenfalls zu Boden gerichtet. Mit einem schnellen Griff nahm er ihr die Tasse aus der Hand und stellte diese auf den Tisch. „Kankuro… bitte…“ Erschrocken zuckte er bei seinen Namen zusammen und hob den Kopf wieder an. Er schaute in ihre violetten Augen. Ihr Blick wirkte so unendlich traurig, aber auch müde vom Leben. Die Hand ruhte weiter auf ihren Schoss, krallte sich ein wenig in den Stoff ihrer Hose. Auf einmal legte sich die warme Hand seiner Mutter auf seine eigene und klammerte sich an ihm fest. „Wenn ich nicht mehr da sein sollte, kümmerst du dich bitte um Temari?“ Leicht nickte er. Kankuro konnte sich denken, warum sie nur den Namen seiner Schwester nannte und nicht dem seines Bruders mit. Leicht biss er sich auf seine Unterlippe und senkte den Blick wieder. Seine Finger zitterten, als er sich tiefer in den Stoff ihrer Hose verkrallte. Gaara war ein ungewolltes Kind. Soviel wie er wusste, war seine Mutter vor Jahren gegen diese Schwangerschaft, da sie mit einer Tochter und einem Sohn zufrieden war. Doch Vater wollte unbedingt noch ein drittes Kind. Am besten noch einen zweiten Sohn. Mutter hatte es ihm zuliebe ausgetragen. Doch als Gaara zu Welt kam, zerbrach etwas in seiner Mutter. Er wusste nicht was, aber irgendetwas hinderte sie daran, dieses Kind in ihren Schoss zu lieben. Doch das war nicht alles, denn kurz nach der Geburt wurde seine Mutter sehr krank, sodass sie kaum noch aus dem Haus gehen konnte. Ihr Immunsystem war sehr geschwächt, weswegen sie oft mit Erkältungen und Grippen zu kämpfen hatte. Sie war eigentlich immer krank und kam kaum noch aus der Wohnung heraus. Viele Arztbesuche. Viele Medikamente, die mit der Zeit ihre Wirkung verloren. Dazu kam es noch, dass man vor einigen Jahren eine schlimme Krankheit bei ihr feststellte: Lungenkrebs. Zwar war es damals vor vier Jahren noch in Anfangstadium, trotzdem zerriss es ihre Mutter immer weiter. Ein ungewolltes Kind, dann ein schwaches Immunsystem, Tonnen von Medikamente und Arztbesuche und jetzt noch Krebs. „Was ist mit Gaara?“ Ob es ihre Mutter nach den vielen Jahren mit Schmerz und Leid schaffte, ihr jüngstes Kind zu lieben? Früher hatte sie Gaara oft mit einem lieblosen Blick angesehen. Zwar hatte sie ihn nie Vorwürfe gemacht oder gar geschlagen, dennoch schaffte sie es nicht, ihn zu lieben. Gaara war für sie nur ein Kind. Ein Kind, herangewachsen in ihren Leib. Ein Kind, was sie nicht lieben konnte, wie ein eigenes Kind. Und trotzdem hatte sie es versucht. Liebe, zerbrechlich, wunderschöne Mutter… Sie hatte es versucht, doch nie geschafft. Wenn seine Mutter so traurig aussah, fragte er sich oft dieselbe Frage: Wie lange würde sie es noch aushalten? „Ihn auch… bitte… ihn auch…“ Sachte strich Kankuro ihr weiter über den Schoss. Den Blick immer noch zu Boden gerichtet. Leicht kaute er auf seiner Unterlippe herum. Seine Mutter krallte sich fester in seine Hand. An seine zittrigen Fingern. Er schaute wieder auf. Sah ihr in die Augen, ehe ein warmes Lächeln sich auf seine Lippen spielte. „Keine Angst, ich werde auf beide aufpassen, Ka-San. Das verspreche ich dir!“ Es würde auf beide aufpassen. Sich um beide kümmern. Für beide da sein. Schließlich waren es seine geliebten Geschwister. Außer seiner Familie hatte er doch sonst kaum jemanden. Niemand wusste, wann seine Mutter vielleicht sterben würde. Er hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass es jeden Tag bald soweit sein könnte. Doch sich daran zu gewöhnen bedeutete nicht, dass er es akzeptieren könnte, wenn es wirklich soweit war… Sein Gegenüber nickte leicht, ehe sich ihre Hände wieder voneinander lösten. Ebenso die Wärme und Geborgenheit die in diesen Moment zwischen ihnen beiden geherrscht hatte. Träge standen sie wieder auf. Schweigen. Sie hatten gesagt, was gesagt werden wollte und musste. Stille lag über den Raum, als dieses von seiner Mutter unterbrochen wurde. Ebenso die gedrückte Stimmung im Raum. „Deine Puppe ist also nun fertig?“ Er nickte leicht und voller Stolz. Seine Mutter mochte seine Marionetten. Einige kleine hingen im Schlafzimmer an der Decke und den Wänden. Langsam schritt er zu seinen Werktisch und stellte sich vor diesen. Er streckte seine Hände aus und umgriff sachte, damit die frische Farbe nicht verwischte, das Gesicht der Marionette. Zart hielt er es zwischen seinen Fingern fest. „Heute Nachmittag wird sie trocken sein und dann werde ich sie für dich tanzen lassen, Ka-San!“ Doch diese Puppe würde niemals tanzen können. Sie würde reglos liegen blieben und nicht einen Arm und ein Bein bewegen. Zu mindestens für die Augen seiner geliebten Mutter. Liebe, zerbrechliche, wunderschöne Mutter… Nie würde sie die Puppe tanzen sehen. ~*~*~ 13. August 2008 Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Mit trägen Schritten trat er tiefer in den Flur. Zog ebenso langsam seine Schuhe aus und streifte sich seine dünne Jacke von den Schultern. Er war froh, dass sein Ferienjob für heute schon vorbei war. Seit den Tod ihrer Mutter hatte Kankuro es sich mit zur Aufgabe gemacht, wenigstens durch einen Ferienjob etwas Geld ins Haus zu bringen. Er arbeitete als Helfer mit auf einem Bau. Je nachdem wann er gebraucht wurde, war er auf der Baustelle anzufinden. Heute wurde er sehr früh gebraucht und war dementsprechend für diesen Tag schon fertig. Aber nicht nur er arbeite. Sein jüngere Bruder Gaara jobbte nebenbei in einen kleinen CD Laden mitten im Zentrum. Jetzt wo sie mit Vater allein waren, mussten sie mehr zusammenhalten. Mussten sie den anderen mehr unterstützen. Seine Glieder schmerzten und fühlten sich steif an, als er über den Gang lief und zur Küche ging. Geduscht hatte er in einer dieser kleinen, engen Kabinen, die es auf den Bau in einen kleinen, ramponierten Wagen gab. Zwar waren die Fliesen dreckig, die Decke voller Schimmel und es kam nur kaltes Wasser aus den Duschkopf, aber dafür roch er nicht mehr extrem nach Schweiß und sah aus, als hätte er in Dreck gesuhlt. Mehr brauchte er da nicht. Hastig richtete er sich noch einmal sein weißes Stirnband, welches ihm seine Ponyhaare aus den Gesicht hielt. Müde kam er in die Küche und blieb in Rahmen stehen. Sein Magen knurrte leise. Der Geruch von Essen wehte ihn entgegen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Aber ebenso überschwemmte der Geruch seine Gedanken und Gefühle. Erinnerte ihn immer daran, wie ihre Mutter früher hier in diesen Raum stand und für die Familie kochte. Er sah sie noch vor sich. Das braune Haar leicht in einen kleinen Zopf gebunden, trotzdem hingen vereinzelte Strähnen in ihrer Stirn. Die weiße, an einigen Stellen verdreckte Küchenschürze um die Hüfte getragen. Mit kleinen Schritten war sie hier über die Fliesen getänzelt. Hatte nebenbei den Kochlöffel geschwungen. Der angenehme, lecker duftende Geruch in der Küche. Und dann dazu das fröhliche, warme Lächeln seiner schönen Mutter auf den Lippen. Seine Mutter hatte nie ihr Lächeln verloren. Sie lebte jeden Tag, als wäre es ihr letzter… Liebe, zerbrechliche, wunderschöne Mutter… Einst hatte sie hier wie die Königin getanzt. In diesen Moment erkannte er ihre Mutter. Wie sie selbst am Herd stand und kochte. Aber dies war unmöglich. Seine Mutter war und blieb tot. Kurz blinzelte er und schüttelte leicht den Kopf. Plötzlich wurde aus seiner Mutter niemand anderes als Temari. Seine geliebte Schwester, die seelenruhig am Herd kochte. Wer hätte es sonst sein können? Schließlich gab es ihre Mutter hier in dieser Wohnung nicht mehr. Sie war tot… Der Tod war unvergänglich. Man konnte nicht mehr das retten oder gar zurückholen, was es nicht mehr gab… Diese Erinnerung und dieser Gedanke schmerzten tief in seinen Inneren. Er hatte sie geliebt. So sehr, dass er nicht einmal wusste, ob er jemals über ihren Verlust hinweg kommen würde. Egal wie sehr er es sich wünschte. Er konnte sie nicht mehr zurückholen. Sie nicht mehr lachen hören. Ihre Stimme würde nur noch in seinen Erinnerungen zurückbleiben. Solange, bis selbst diese in all den Jahren verblasste und verschwand. Tief im Unterbewusstsein vergraben… “Hey, Temari!” Erschrocken hob die Blondhaarige den Blick an. Er sah ihr intensiv in die Augen, ehe sich ein leichtes Grinsen auf seine Lippen spielte. Lässig ging er auf sie zu und schaute neugierig in den nicht gerade gefüllten Wok. In den Moment knurrte leise sein Magen und verlangte nach Essen. Kein Wunder, schließlich hatte er den ganzen Tag noch nichts gegessen. Er beugte sich weiter nach vorne, wie er es auch früher bei seiner Mutter gemacht hatte. Dabei hatte er nicht einmal Probleme damit. Schließlich war seine Schwester knappe zehn Zentimeter kleiner als er. Sachte berührten sich ihre Schultern und Oberarme. Stützten damit den jeweiligen anderen. Ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit und Wärme durchströmte seinen Körper. Aber es war anders, als das Gefühl bei seiner Mutter. Und trotzdem war er nicht allein. Immer wenn er seine Schwester am Herd stehen sah, erkannte er ihre Mutter in ihr. Diese trug sogar die Haaren ebenfalls beim Kochen, wie es einst ihre Mutter tat. Doch er war nicht traurig. Klar, er vermisste seine Mutter. Schließlich hatte sie ihn fast siebzehn Jahre lang begleitet. Selbst jetzt noch dachte er viel an sie und fühlte, dass sie bei ihm war. Ebenfalls tief in ihm das Versprechen, was er ihr gegen hatte. Es hatte sich tief in ihn verankert. So tief. So fest. Hatte dort in seinen Inneren Wurzeln geschlagen. Ketten geschlungen und wollte ihn nicht mehr loslassen. Aber er konnte sich nicht davon beeinflussen lassen. Seine Mutter war ihn heute noch wichtig, doch neben ihr hatte er noch seine geliebten Geschwister. Ein Stück Familie, was ihn liebte. Was ihn Geborgenheit und Wärme gab. Ein Stückchen Familie, was er liebte und was er um jeden Preis beschützen und unterstützen wollte. Ein Versprechen konnten leere Worte werden - die Realität kam oft unverhofft und gnadenlos… Das Grinsen auf seinen Lippen verebbte etwas, ehe nur noch ein leichtes Lächeln darauf zu sehen war. Die Erinnerungen an seine Mutter verblassten in diesen Moment. Verschwammen zu einen bunten Gemisch aus Farben. Seine Konzentration und sein Augenmerk lag nun gänzlich auf Temari und dem leeren Wok vor beiden. Erneut knurrte sein hungriger Magen auf, weswegen er sich eine Hand auf seinen Bauch hielt. Nun ja, er war halt nun mal ein kleiner Vielfraß. “Man, da ist ja noch gar nichts fertig, dabei hab ich doch solch einen Hunger.” Sein Blick ruhte nun auf die Hände seiner Schwester, welche sich eben zu Fäusten ballten. Ein schiefes Grinsen zierte nun seine Lippen, als er sich denken konnte, was als nächstes passieren würde. Im kommenden Augenblick hatte er ihren Ellenbogen in seiner Seite. Tief bohrten sich die Spitze in seine Rippen. Ein leises, gequältes Keuchen entfloh ihm, als sich ein drückender Schmerz in seiner Seite meldete. Aber das Grinsen verschwand nicht und wurde noch breiter, als er das seiner Schwester sah. “Fresssack! In einer viertel Stunde ist es fertig!” Sofort richtete er sich wieder auf und lief mit langsamen Schritten an seiner Schwester vorbei. Seine Schritte klangen dumpf auf den weißen Fliesenboden. Lautlos pfeifend, indem er nur die Luft durch seine gespitzten Lippen ausblies, tänzelte er durch den Raum. Direkt zum alten Küchenradio. Für einen Moment herrschte noch Stille und Schweigen im Zimmer. Seine Hand streckte er nach dem Gerät aus und drückte den Powerknopf an. In der ehemaligen Ruhe ertönte nun die leise Stimme eines japanischen Sängers. My Sweet Mother hohoende atatakai nemuri wo saigo ni Deadly Sweet Mother hohoende yoru no naka itami wo nigirishime [Meine süße Mutter, lächelnd. Du lächelst so intensiv, es scheint fast so, als ob gleich dein Herz zerspringt. Tote, süße Mutter, voller Hass. Die Tränen, die über meine Wangen strömen, trocknen aus, wie auch die Jahreszeit verdorrt.] Kurz runzelte Kankuro die Stirn. Die Band hatte er schon einmal gehört. Er war sicher, dass es entweder Dir en Grey, the GazettE oder Mucc war. Eigentlich war er sich fast sicher, dass es Gaara seine Lieblingsband war. Aber eben nur fast… “Ey, ist das nicht the GazettE? Die hört doch Gaara gerne an.” “Das ist Dir en Grey mit Embryo, du Idiot!“ Als er das Schnalzen von Temari’s Zunge hörte, wand er sich leicht zu ihr um. Seine Schwester stand immer noch am Herd und briet das Gemüse im Wok. Bis auf der Stimme von Kyo, dem Sänger von Dir en Grey und dem leisen Zischen im Wok war es wieder still in der Küche. Erneut die Stirn in Falten gelegt dachte er wirklich darüber nach, warum er die vielen japanischen Bands dennoch durcheinander gebracht hatte. Nun ja, ähnlich klangen sie, da wollte er sich mit niemandem streiten. Und trotzdem wollte er nicht einsehen, dass dieses Lied von der Band Dir en Grey gesungen wurde. “Sicher?” - “Ja.” - “Wirklich?” - “Ja, verdammt!” Selbst als seine Schwester schon wenig überfordert schnaufte, konnte er sich nicht vorstellen, warum er falsch lag. Nachdenklich legte er seine linke Hand unter sein Kinn. Doch selbst ihm war es irgendwann zu dumm, sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Dann lag er halt daneben. Deswegen würde die Welt nicht gleich untergehen. Leicht schüttelte er den Kopf. Erneut streckte er seine Hand nach den Küchenradio aus, ehe er an den Sendern herum spielte. Leises Knacken und Rauschen war zu hören. Das Gerät war nicht mehr das Neuste und hatte schon einige Jahre hinter sich gebracht. Aber zum Musikhören reichte es alle Male aus. Im Hintergrund hörte er das Zischen des Öles im Wok. Er mochte die Stimmung im Raum. Still und leise. Es war halt beruhigend. Dabei mochte er es gerne wenn es wild, laut und katastrophal zu ging. Aber jeder brauchte einen Moment, wo man entspannen und den Körper zur Ruhe kommen lassen konnte. Mit dem Gewissen, dass man in diesen Augenblick, in dieser beruhigenden Stille, nicht allein war… “Und nun eine Meldung: Heute Morgen wurde die als vermisst geltende Schülerin Kurama, Yakumo [3] tot im Park von Hibiya [4] gefunden. Es wird von einen Sexualdelikt ausgegangen, noch weiteres versucht die Polizei heraus zu finden. Und nun zum Wetter…” Erschrocken hielt Kankuro die Luft an, ehe er mehr aus Reflex heraus das Radio ausschaltete. Sein Herz raste hinter seiner Brust. Seine Finger zitterten ein wenig, als er den Namen dieses Mädchen hörte. Seine Arme sanken nach unten. Hingen wie steif an seinen Seiten. Seine Knie bebten. Nur träge bewegte er sich zum Küchenfenster. Sah hinaus. Die Sonne schien warm am Himmel. Dieser war wolkenlos und strahlend blau. Man konnte es nicht begreifen. Ein Mädchen wurde tot und missbraucht aufgefunden und der Tag war so voller Wärme, als würde das ganze Glück hier auf Erden versammelt sein. Warum war das Leben so ungerecht? Matt fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch seine Haare. Krallte sich in seine braune Mähne. Müde strich er mit seinen Fingern über die Scheibe. Das Glas war kalt unter seiner Haut. Eiskalt, sodass seine Finger stärker zitterten. Dabei war es Sommer. Seine Schultern bebten etwas, bevor er leicht seine Arme vor die Brust verschränkte. Sein Körper fühlte sich schwer an. Erschöpft lehnte er sich gegen die Küchenwand. Auf einmal fühlte sich sein Geist müde an. Träge senkten sich seine Augenlider etwas. Ein trauriger Glanz schimmerte in seinen dunklen Iriden. Doch keine Träne lief über seine Wange. Er wirkte in diesen Moment einfach nur kaputt. So zerbrechlich… “Traurig, mh? Dabei war sie so ein ruhiges Mädchen…” Er kannte sie, da beide zusammen in einer Klasse waren. Aber außer ihm hatte sie nicht wirklich jemand bemerkt. Yakumo saß immer allein da und malte Bilder. Mit Bleistift, Füllhalter, Kugelschreiber oder Filzstiften. In jeder Pause hatte sie gezeichnet. Unzählig viele Bilder. Meistens hatte er ihr dabei zugesehen und mochte ihre Zeichnungen. Viele Landschaftsbilder mit unzähligen Details. Tiere, Blumen, einzelne Klassenkameraden. Die Blätter waren immer voll davon. Oft hatten sie sich dabei unterhalten, auch wenn sie wenig redete und Kankuro selbst das Gespräch am Laufen hielt. Aber dies machte ihm nichts aus. Es war in Ordnung, so wie es gewesen war. Er mochte sie sehr, da sie beide Kunst liebten. Er liebte seine Marionetten und sie ihre Bilder. Man konnte meinen, dass beide durch die Kunst zu Freunden geworden waren. Auch wenn sie fast nur über ihre Hobbys redeten. Es war eigentlich gut so, wie es war… Leicht weiteten sich seine Augen. Jetzt fiel es ihm auch wieder ein. Yakumo hatte sich immer mehr zurückgezogen und selbst nicht einmal mehr in den Pausen gezeichnet. Und damit hatten beide sich mehr unbewusst von einander entfernt. Und damit passierte es, dass Kankuro sie einfach in den letzten Schulwochen schlichtweg übersehen hatte. Yakumo verschwand tief in den Gewimmel in der Klasse und verschmolz als unscheinbares, graues Mäuschen mit dem Gemäuer der Schule. Bis sie gar nicht mehr zur Schule kam. Irgendwie schmerzte es in seinen Inneren. Dabei war sie so ein ruhiges, nettes Mädchen gewesen, was gut zeichnen konnte… “Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass sie gefehlt hat. Weil sie doch immer so ruhig war… Unglaublich, oder?” Schweigen herrschte wieder in der Küche, nur das leise Zischen im Wok war zu hören. Ruhig stand er an die Wand gelehnt und betrachtete draußen den wunderschönen Tag. Er biss sich auf die Unterlippe. Kaute auf dieser herum. Seine Kehle fühlte sich auf einmal so trocken und geschunden an. Als hätte er Nägel geschluckt. Zitternd legte er seine rechte Hand an seinen Hals. Packte diesen an und drückte zu. Es kam ihn vor, als würde er keine Luft mehr bekommen. Er wusste nicht, was er denken sollte. In seinen Inneren zerfriss ihn die Erkenntnis, dass er eine gute Freundin verloren hatte. Eine der wenigen Leuten, die seine Leidenschaft für Kunst teilten. Doch was machen? Er wusste es nicht… In diesen Augenblick fühlte er sich ebenso verzweifelt und kaputt an… Wie an dem Tag, als ihre Mutter starb… Ein erdrückendes Gefühl, was ihm die Luft aus den Lungen drückte. Warum nahm der Tod alles und jedem? Warum? Langsam löste er sich von der Wand und ging zum Geschirrschrank, um Schüsseln und Gläser zu holen. Seine Finger zitterten noch ein wenig, doch versuchte er mit einem festen Griff das Porzellan zu greifen, um es nicht fallen zu lassen. Klirren stießen die einzelnen, kleinen Reisschüsseln zusammen, als er sie auf den Tisch stellte. Ebenfalls wie die Gläser. Kurz hielt er inne, als er das Geschirr auf den Tisch stellte. Er verharrte in seiner Haltung. Seine Augenlider senkten sich. Einige Sekunden blieb er so stehen. Seine Gedanken wie leer gefegt. Er selbst wie in weite Ferne gerückt. Nur langsam bewegte er sich zum Kühlschrank und öffnete diesen. Eine kühle Brise wehte ihm entgegen. Er holte zwei Flaschen Wasser heraus und schloss die Tür wieder. Plötzlich rasten wieder alle Gedanken über ihn. Verwirrt blinzelte er. Wusste nicht wirklich, was eben war. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, dass er wie in Watte gepackt war. Er sah nichts. Er hörte nichts. Er dachte an nichts. Und jetzt kamen alle Gedanken wieder zurück. Er bekam den Kopf nicht frei. Warum gingen alle wichtigen Menschen von ihm? Vor fast einen Monat starb ihre Mutter und jetzt Yakumo. Warum? Er verstand nicht. Die eine ging wegen Krebs und die andere aufgrund eines Mordes. Es gab so viele Möglichkeiten zu sterben. Warum ließ Kami sie dann durch so einen grausamen Tod von der Welt gehen? Warum voller Schmerz und Leid? Warum mussten sie so früh gehen? Warum konnte er nichts dagegen unternehmen? Er fand und bekam keine Antwort… Liebe, zerbrechliche, wunderschöne Mutter… Wo war sie, wenn man sie brauchte? Temari war gerade dabei die Reisschüsseln zu füllen, als er mit den Flaschen zurück kam und in ihre Gläsern das Wasser eingoss. Wieder entstand Schweigen. Trotzdem war diese Ruhe nicht mehr so erfrischend und beruhigend wie vorher. Kankuro kam sie eher drückend vor. Niemand wusste, wie er wirklich in dieser Situation richtig handeln sollte. Seine linke Hand griff nach der Stuhllehne. Knarrend zog er den Stuhl zurück und ließ sich auf diesen nieder. Sank ein wenig auf diesen zusammen. Seine Schwester machte es ihm gleich. Wie in Trance griffen sie zu den Essstäbchen und hielten sie zwischen ihren zusammengepressten Handflächen. Träge schloss er seine Augen und senkte den Kopf ein wenig. “Itadakimásu!“ Gleichzeitig kam dieses Worte über beider Lippen, bevor sie mit dem Essen anfingen. Dennoch schweiften seine Gedanken sofort wieder zurück zu Yakumo und seiner toten Mutter. Er verstand es einfach nicht, warum Menschen so jung und ungewollt sterben mussten. Es war einfach nicht fair. Schließlich war das Leben wertvoll. Wertvoller als Gold, da es nur einmal gab. Jedes Leben war ein Unikat - es gab es nur einmal. Eine zweite Chance bekam man nicht. Er sehnte sich nach seiner Mutter. Nach seiner klugen, schönen Mutter. Seine Mutter, die immer Rat zu Problemen wusste. Seine Mutter, die ihn unterstützte und an seiner Seite war. Seine geliebte Mutter… Doch nun war sie tot und er musste versuchen all seine Fragen und gar Probleme allein zu lösen… Zitternd krampften sich seine Finger um die Essstäbchen, sodass er Mühe hatte, diese festzuhalten. Bei den Gedanken an seine Mutter fühlte sich sein Kopf so schwer an. Erinnerungen überhäuften ihn und raubten ihm damit den Atem. Er hielt im Essen inne. Senkte den Blick. Er wollte keine Tränen zeigen. Er wollte nicht weinen. Er hatte es versprochen. Er hatte versprochen auf seine beiden Geschwister acht zu geben. Sich um sie zu kümmern. Und da war in seinen Augen Trauer fehl am Platz! Aber auch er war nur ein Junge, der sich herzhaft nach seiner Mutter sehnte, dass es ihm fast das Herz zersprang. Der Gedanke an seine Mutter und ihren toten Körper trieb ihm die Tränen in die Augen. Dieser Verlust riss ihn oft die Beine weg. Schmetterte ihn zu Boden. Aber er stand auf. Immer und immer wieder. Egal wie oft er fiel. Er musste wieder aufstehen. Schließlich war er nicht allein mit diesen Schmerz. Aber warum musste sie so früh gehen? Liebe, zerbrechlich, wunderschöne Mutter… Verstand sie nicht, was sie ihren Kinder da antat? Erneut setzte er mit Essen an. Er zerkaute das gebratene Gemüse und ließ es sich auf der Zunge zergehen. Seine Schwester wurde von Tag zu Tag immer besser. Und ebenso immer ihrer Mutter ähnlicher… “Du kochst besser, als früher.” “Ich vermisse Ka-San…” Wieder legte sich Schweigen über den Raum. Die Worte seines Gegenübers trieben ihn Tränen in die Augen. Er war nicht allein mit diesen Gedanken. Er war damit nicht allein. Sie alle betraf es. Sie alle waren verletzt. Sie waren wie ein verletztes Rudel, deren Alphatier gestorben war. Doch niemand war allein… Lautlos legte er seine Stäbchen zu Seite und bettete zitternd seine Hände auf die seiner Schwester. Sachte streichelte er ihre. Als Temari überrascht den Kopf hob trafen sich ihre Blicke. Er sah in ihre glasigen Augen. Er sah ihre Tränen über die Wangen laufen. Er bemerkte, wie sie sich auf die Unterlippe biss und tief durch die Nase atmete. In seinen eigenen Blick schimmerte kleine Tränen. Tränen voller Sehnsucht, Schmerz, Trauer und Verlust. Er strich weiter über die Haut seiner Schwester. Schweigen regierte in der Küche. Er war nicht allein. Sie trugen ihn zusammen aus. Diesen Schmerz. Diese Last. Sie teilten es. Der Gedanke machte es erträglicher. Den Tod ihrer Mutter. Trotzdem nahm er nicht die Sehnsucht nach dem verlorenen Familienmitglied weg… “Ich auch, glaub mir, ich auch…” Die Sehnsucht und der Schmerz bleiben. Tief und fest im Herzen verwurzelt. Doch zwischen den Schmerz und der Last war dieser kleine, hoffnungsvolle Gedanke: Man war nicht allein damit… Liebe, zerbrechliche, wunderschöne Mutter… Sah sie nicht, wie sehr ihre Kinder unter den Schmerz litten? ~*~*~ Leise hörte Kankuro im Hintergrund das Album Nil von the GazettE. Ruhig summte er die Melodie mit. Ein Seufzend verließ seine Lippen, als er sich müde nach hinten lehnte. Schwummrig schien das schwache Licht der Deckenlampe in seinem Zimmer. Langsam legte er den Bleistift zur Seite und starrte an die Zimmerdecke. So eben arbeitete er an einer Skizze für eine neue Marionette, doch irgendwie wollte ihm nichts einfallen. Er wollte unbedingt etwas besonderes machen. Etwas, was nicht nur ihm, sondern auch anderen erfreute. Er wollte kleine Puppen kreieren, die auch seinen Geschwistern gefielen. Als kleines Geschenk eben. Erneut seufzte er und richtete sich auf. Gähnend streckte er sich und suchte im Raum nach seinen Digitalwecker. Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Müde fuhr er sich durch die Haare, als er erschrocken zusammen zuckte. Er hörte ein Klirren aus dem Nebenzimmer. Glas oder Porzellan - irgendetwas wurde herunter geworfen und war zerbrochen. Und kurz darauf hörte er leise, fast lautlos ein tiefes, dunkles Schluchzen. Es klang nach ihren Vater. Einen Moment hielt Kankuro inne. Seine Hände sanken und blieben reglos an den Seiten hängen. Seit einigen Wochen benahm sich ihr Vater seltsam. Er roch oft nach Alkohol. Zur Arbeit ging er auch nicht mehr. Die meiste Zeit verbrachte dieser im Wohnzimmer. Oft hörte er aus diesen Zimmer ein lautes Schluchzen und Weinen. Kein Wunder, schließlich erinnerte alles hier in dieser Wohnung an ihre tote Mutter. Doch er verstand seinen Vater ein wenig, schließlich erging es allen hier so. Niemand musste diese Last allein tragen… Liebe, zerbrechliche, wunderschöne Mutter… Nur Schmerz und Tränen hatte sie hinterlassen. Seine Schritte führten ihn zur Zimmertür, doch dort blieb er stehen. Seine linke Hand streckte sich zur Türklinke aus, aber sank gleich wieder. Was sollte er schon machen können? Am besten konnte bisher Temari ihren Vater trösten und besänftigen. Sie war in diesen Moment am besten dafür da, ihren kaputten Vater zu helfen. Erneut zerschellte etwas klirrend. Wieder zuckte er zusammen. Streckte seine Hand zur Türklinke. Doch was nun? Er konnte doch jetzt sowieso nichts helfen. Am besten, er überließ seinen Vater jetzt Temari. Würde er sich jetzt einmischen, dann würde er sicherlich die Situation verschlimmern. Unter anderem war es seit einiger Zeit nichts Neues, dass Dinge an den Wänden zerschellten. In solchen Momenten war es das Beste, wenn ihr Vater nicht weiter gereizt wurde. Und Temari hatte es bisher immer geschafft, dass dieser sich beruhigte. Die Hand hing immer noch in der Luft, verharrte regungslos dort. Nur träge sank diese nach unten, ehe sie das kalte Plastik des Lichtschalter streifte. Das schwache Licht im Zimmer erlosch. Langsam tastete er sich durch sein Zimmer, um zur Stereoanlage zu kommen. Blass schimmerte das blaue Licht der Anzeige in Raum. Hastig drehte er die Musik ein wenig lauter, sodass er nichts mehr hörte, außer der Musik in seinem Jugendzimmer. Doch blieb er noch einen Moment vor dieser stehen. Die Musik dröhnte leicht in seinen Ohren. Er hörte nichts anderes mehr. Seine Gedanken von eben waren verschwunden, dennoch herrschte in seinen Inneren eine Unruhe. Müde legte er seine Hand auf seine Brust und wusste nicht, ob er nicht vielleicht doch noch einmal bei Temari vorbei sehen sollte. Doch schnell verwarf er den Gedanken. Hastig machte er sich Bettfertig und legte sich schlafen. Hätte er gewusst, was wirklich im Zimmer seiner Schwester vor sich ging, wäre Kankuro sicherlich noch einmal zu ihr gegangen. Er verschloss seine Augen vor der Tatsache, dass nicht mehr alles in Ordnung war. Er hoffte darauf, dass alles so war, wie immer. Er glaubte daran, dass es so war, wie immer… Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es nicht mehr so war. Nicht mehr, seit dem Tod ihrer Mutter. Nicht mehr, seit dem ihr Vater mit Trinken begonnen hatte. Er hatte Angst… Angst, dass ihre so schon zerbrochene Familie noch mehr kaputt ging. Er versuchte sich mit den Gedanken zu beruhigen, dass alles in Ordnung war. Dieses Wissen verdrängte seine Angst. Verdrängte die negativen Gedanken und brachte seinen Geist zur Ruhe. Realität und Wunschdenken vermischten immer mehr. Er hoffte es war alles in Ordnung. Es musste alles in Ordnung sein. Es war alles in Ordnung… Liebe, zerbrechliche, wunderschöne Mutter… _________________________________________________________________________________ © Songtext “Embryo” by Dir en Grey [1] Geishas sind oft japanische Prostituierte. Sie sind weiß geschminkt, haben einen Fächer in der Hand und posieren mit Vorliebe lächelnd vor einem Zweig mit Kirschblüten. Die Bedeutung des Begriffs Geisha: Person, die von ihrer Kunst lebt. Mit dem Begriff "Kunst" ist keineswegs ein besonderes Geschick beim Liebesspiel gemeint, sondern er bezieht sich auf die traditionellen japanischen Künste, insbesondere Tanz und das Shamisen - Spiel. [2] “Guten Morgen, Mutter!” [3] Ein Charakter aus den Naruto-Filler Folgen. Sie war die persönliche Schülerin von Kurenai, um bei ihr in Genjutsu unterrichtet zu werden. [4] Hibiya ist ein Stadtteil von Chiyoda-ku und bekannt für seinen großen Park, den Hibiya-Park. Chiyoda-ku ist einer der 23 Bezirke von Tokio. Kapitel 12: Die Puppenmaske [Teil 2] ------------------------------------ Ich lebe viele Leben. Der schweigsame, feige Zuschauer. Der Schuljunge mit der lächelnden Maske. Und der Tänzer voller Partydrogen. Dabei will ich lieber blind sein - das Elend einfach nicht mehr sehen. Ich will taub sein - diese Qualen nicht mehr hören. Ich will vergessen - diese Bilder nicht mehr vor meinen Augen haben. Doch ich muss stumm sein - diese Schmerzen in mich fressen, damit niemand sieht, wie kaputt alles schon ist... Die Puppenmaske [Teil 2] 28. Februar 2009 “Du Mistkind! Wo bist du? Komm raus!” Erschrocken riss Kankuro seine Augen auf. Die Arme hatte er steif an seinen Seiten liegen. Presste diese gegen seinen Körper. Seine Schultern bebten. Sein Leib erzitterte. Ein flaues Gefühl in seinen Magen breitete sich aus. Es war mitten in der Nacht. Kurz nach zwei Uhr. Vor einigen Minuten hatte er noch auf die Anzeige seines Digitalweckers geschaut. Sein Zimmer war stockdunkel. Die schweren Vorhänge zugezogen. Nur ein dünner, schwacher Lichtstrahl vom Flur drang durch einen kleinen Spalt unter der Tür hinein. Er hörte die dumpfen Schritte seines Vaters über den Gang hallen. Er hörte sie laut und deutlich, als dieser gerade von seiner Sauftour aus dem Pub um der Ecke zurück kam. Er hörte, wie dieser nach ihren Jüngsten rief. Wie sich diese widerliche Stimme beim Schreien fast überschlug. Die Worte kaum erkennbar, die über diese dreckigen Lippen kamen. Diese Stimme, der er als kleiner Junge gerne Geschichten zugehört hatte. Die Stimme, der heute einem Monster gehörte. Widerlich und abscheulich. Träge bewegte er seine Hände. Ein Brennen zog sich über seine Unterarme, als er diese anhob. Schmerzten, waren blutverschmiert. Sein Körper fühlte sich steif an. Unfähig sich zu bewegen. Als würde er im Sterben liegen. Als wäre er schon tot. Doch lebte er noch. Atmete. Hörte. Roch. Sah. Sein Herz schlug weiter träge hinter seiner Brust. Fest presste er seine schwitzigen Hände gegen die Ohren. Verkrallte seine bebenden Finger in das braune, zerzauste Haar. Kalter Schweiß benetzte seine Stirn. Er hatte selbst das Gefühl, dass sogar sein eigener Kopf zitterte. Er hörte das Rascheln des Bettlaken und des Bettzeuges, als er sich erschöpft bewegte. Das Knarren des Holzes bei jeder Regung. Laut hörte er sein eigenes Blut rauschen. Seinen rasenden Herzschlag hinter seiner sich hektisch hebenden und senkenden Brust. Sein Atem stockte. Leise keuchte er auf. Wie hinter einer dicken Wand hörte er ihn. Weit entfernt, aber immer noch da. Sie dröhnte in seinem Kopf. So laut und unerträglich. Die Stimme seines Vaters. Sie drang durch seine Finger. Bis tief in seine Ohrmuscheln. So tief und weit, bis in seinen Verstand. Durchschlängelte seinen Körper, bis zu seinen schmerzenden Herz. Vor, bis zu seiner schmerzenden Seele. Ein Schaudern lief über seine Haut. Hinterließ eine Gänsehaut auf dieser. Die Zimmertür seines Bruders wurde geöffnet. Er hörte das so verhasste, doch ebenso vertraute Knarren der Scharniere. Er hörte es, aber etwas dagegen unternehmen konnte er nicht. Er wusste nicht wie. Er wusste nicht was. Er wollte das alles nicht mehr erhören. Das alles nicht mehr vor seinen Inneren Augen sehen. Bilder, die er sich nur in seinem Kopf ausmalte. Bilder, so schrecklich, dass ihm dabei schlecht wurde… Hektisch drehte Kankuro sich zur Seite. Kauerte sich zusammen. Wollte allem damit entfliehen. Es fühlte sich an, als würden unendliche Schmerzen seinen Körper überschwemmen. Aber das einzige was schmerzte, war sein jugendliches, verzweifeltes Herz. Er wollte es nicht mehr mit anhören. Den verhängnisvollen Zimmerschlüssel im Schloss seines kleinen Bruders, wenn dieser weggesperrt wurde. Die laute Dusche und das Würgen aus dem Badezimmer mitten in der Nacht, wenn sich seine Schwester in dieses einschloss. Er wollte er nicht mehr hören… Am liebten wäre er taub, nichts mehr hören und dieses Elend so nie mehr bemerken... Starr blickte er in die Dunkelheit. Solange, bis sich seine dunklen Iriden an diese gewöhnten und er den Blick zu den zugezogenen Vorhängen gerichtet hatte. Seine Augen brannten. Stumme Tränen liefen seine Schläfen entlang. Tropften auf das verwühlte, weiße Bettlaken. Hinterließen auf diesen nasse Flecken. Er wollte ihn nicht mehr ersehen. Diesen kaputt geschlagenen Leib seines jüngeren Bruders. Er wollte es nicht mehr erblicken. Dieses blutverschmierte Bettlaken, wo Gaara die Nacht darin verbracht hatte. Er konnte es sich nicht mehr mit anschauen. Dieser tote Blick in den türkisen Iriden und in den ebenso ausdruckslosen, blassen Gesicht. Er konnte es nicht mehr ertragen. Diese roten und geschwollenen Wangen seiner Schwester. Er konnte es sich nicht mehr ansehen. Die rot verweinten Augen und den ausdrucklosen Glanz in diesen. Er wollte nicht mehr hinschauen. Hinschauen auf die aufgekratzte, blasse Haut. Es wollte es nicht mehr sehen… Am liebsten wäre er blind, damit er dieses Qualen nicht mehr sehen würde… Er schloss seine zitternden Lider. Verkrallte seine Finger tiefer in sein Haar. Presste seine Hände fester gegen die Ohren, sodass er schon Kopfschmerzen bekam. Weitere Tränen liefen über seine Wangen. Ungehört und ungesehen. Er drehte sich zur anderen Seite. Wälzte sich im Laken herum. Vor seinen Inneren Auge sah er Bilder der vergangen Wochen. Der vergangen Zeit. Die Zeit ohne ihre Mutter. Die Zeit, in der alles immer mehr kaputt ging. Es zerbrach - einfach so. Und keiner konnte etwas dagegen machen. Ihre ach so heile Welt gab es nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Doch wollte er diese Bilder nicht mehr sehen. Diese Erinnerungen vergessen. Diese Momente löschen, in denen er seine Geschwister so kaputt und zerrissen vor Augen sah. Er wollte nicht mehr daran erinnert werden, dass er nichts für sie tun konnte. Er wollte nicht vor der Nase geführt bekommen, dass er nur tatenlos hier herum saß und als Zuschauer agierte. Der Zuschauer in der Manege, während die Hauptdarsteller auf der Bühne bald ihren endgültigen, letzten Akt spielten… Er wollte vergessen. Diese Bilder einfach nicht mehr sehen. Sich nicht daran erinnern. Einfach alles tief in sich selbst vergraben. Es in sich fressen und verdrängen. So tief und weit, dass es nie mehr die Chance bekam hervor zu kommen. So tief in sich verschlingen, dass er am liebsten bei all diesen Leid sich übergeben könnte. Es heraus kotzen und im Klo herunterspülen könnte. Für immer gelöscht und heraus aus seinen Körper und seinen Gedanken. Stumme Tränen liefen über seine erhitzte Haut. Seine Hände fühlten sich bei den Druck gegen seine Ohren taub an. Sein Körper wie gelähmt. Seine Muskeln waren so sehr angespannt, dass es schmerzte. Kein Laut kam über seine Lippen. Kein Schluchzen verließ seine Kehle. Wie eine regungslose Puppe lag er da. Die Augen zusammen gekniffen. Der Leib ganz steif. Kein Geräusch von sich gebend. Was konnte er machen? Was sollte er machen? Er wusste es nicht. Er konnte nur zusehen. Durfte nichts sagen. Musste schweigen. Seine Geschwister machten es doch auch. Aus Angst, dass ihre so zerrissene Familie noch mehr zerfiel. Aus Angst, dass sie getrennt worden. Aus Angst, dass letzte bisschen zu verlieren, was einem noch blieb. Was einem noch lieb war. Er wollte nicht Schuld daran sein, dass sie getrennt worden. Deswegen versuchte Kankuro alles zu verdrängen. Alles um sich herum auszublenden. Er blieb stumm, obwohl er am liebsten geschrien hätte. Er musste stumm sein, damit niemand erkannte, wie kaputt er wirklich war. Kaputt und ausgebrannt nur vom bloßen Zusehen… Dabei hatte er es versprochen, dass er auf beide aufpasste. Er hatte es versprochen sie zu unterstützen. Doch schaffte er es nicht. Er war ihnen keine Hilfe. Eher kam er sich vor, als wäre er eine schwere Last. Eine Last, die er Temari und Gaara zusätzlich mit aufbürdete. Nutzlos und nicht zu gebrauchen… Schuldgefühle zerfraßen sein Inneres. Nur um eine unerträgliche Wertlosigkeit in ihm zu hinterlassen. Er kam sich wertlos vor, dass er oft daran dachte, dass er am liebsten sterben würde. Sterben, um dieses Elend hier nicht mehr zu ertragen. Sich erneut zu versuchen die Pulsadern aufzuschneiden. So wie heute Abend. Doch er war gescheitert. So wie die wenigen Versuche davor auch. Und wann er den Mut wieder fand, um wirklich den allerletzten Schritt zu gehen, wusste er nicht. Aber was würde passieren wenn er wirklich starb? Wer war dann für seine Geschwister da? Dieser Gedanke, dass er alle beide allein in die Krallen dieses Monsters ließ, zerriss sein blutendes Herz noch mehr. Riss tiefe Wunden in seine Seele. Er konnte sie nicht allein lassen. Er durfte noch nicht aufgeben. Er musste noch für sie da sein… Allein… Am Rand… Als stummer Zuschauer… Dabei war er doch nur feige. Feige und voller Angst, dass er ebenfalls ein Opfer seines Vaters werden könnte. Er verkroch sich lieber auf Partys oder in seinen Zimmer, anstatt für seine Geschwister da zu sein. Er war feige und schwach, weil er ihnen nicht zur Hilfe kam, sondern sich in seinen Schneckenhaus verkroch. Er verkroch sich tief und mit dem Glauben daran, dass alles noch ‘in Ordnung’ war. Er redetet es sich sogar jeden Tag ein, um diese Qual hier im Haus halbwegs ertragen zu können. Er selbst redete sich sein eigenes Leben, seine eigene Welt schön. Weil es sonst keiner für ihm tat und er so den täglichen Wahnsinn entfliehen konnte… Den täglichen Wahnsinn. Die Schuldgefühle. Dieser erdrückenden Angst. Dieses Gefühl von Wertlosigkeit. Diesen Selbstmordgedanken. Er wünschte sich oft, er wäre ein Aussehnstehender. Jemand der von Außen alles nur erblickte, es betrachten konnte und nicht mitten im Geschehen war. Jemand, der das Leid nicht bemerkte und dementsprechend nichts unternehmen musste. Jemand, der nur die Außenwände dieses Gebäude sah und nicht das, was in den vieren Wänden sich abspielte. Jemand, der dachte: “Alles war in Ordnung”. Doch er sah und wusste, dass es dem nicht so war. Nichts war mehr in Ordnung. Nicht mehr, seit dem Vater sich benahm, als wäre er von einem Dämonen besessen. Nicht, seit dem Temari fast jeden Tag weinte und Gaara blutige Tränen vergoss. Es riss jeden Tag von Neuen seine so mühsam aufgebaute Traumwelt wieder ein. Doch klammerte er sich an das bisschen Hoffnung. An das bisschen Glauben, dass ihre kleine, ‘heile’ Welt noch stand. Was anderes hatte und blieb ihm nicht übrig. Doch dass einzige was eigentlich nur noch existierte, war eine Ruine. An der Stelle wo einst einmal ihre Familie gestanden hatte… ~*~*~ Ein kühler Winterwind wehte über den Bürgersteig. Streichelte seine vor Kälte gerötete Wangen. Wirbelte sein braunes Haar durcheinander. Mit lautem Motorengeheul fuhr ein Auto auf der Straße an ihm vorbei. Ein wenig zitternd zog er den Kragen seiner Jacke mehr zusammen. Scharrte mit seinen Stiefeln über den Boden und betrachtete diesen mit seinen dunklen Iriden. Der Schnee war schon lange durch den Smog in der Luft und dem Dreck der Straße ergraut. Leise Schritte knirschten neben ihm auf. Dunkle Schuhe zogen weitere Spuren und Abdrücke durch die platt getretenen Schneedecke. Hastig riss Kankuro seinen Kopf hoch. Wenigstens um einmal in das blasse Gesicht des anderen sehen zu können. Wenigsten um bescheid zu wissen, dass mit diesem alles ‘in Ordnung‘ war. Doch die türkisen Augen des Rothaarigen blieben ausdruckslos. Ausdruckslos, kalt und tot. “Bis dann, Gaara.” Leicht hob er die Hand zur Verabschiedung, doch sein jüngerer Bruder reagierte gar nicht darauf. Stumm und steif wie eine Puppe lief der Rothaarige der neben der Oberschule anliegenden Mittelschule entgegen. Ein zittriges, aufmunterndes Lächeln war auf seinen Lippen, doch helfen würde es wieder nicht. Sowie jede vergangenen Woche. Sowie jeden kommenden Tag. Sowie jeden verfluchten Moment! Es half einfach nichts und er selbst wusste nicht mehr wirklich weiter. Er wollte es nicht mehr ersehen, aber aus sich herauskommen konnte er auch nicht. Immer noch war er der große Bruder. Der große Bruder, der helfen wollte. Der helfen sollte. Der helfen musste. Der große Bruder, der nicht mehr weiter wusste. Der große Bruder, der feige war. Der Angst hatte. Er war der große Bruder, der schwieg. Der weg sah. Der am liebsten blind wäre oder wenigstens die Augen vor allen verschließen könnte. Taub, um all das Leid zu überhören. Um die stumme Hilfeschreie nicht zu bemerken… Träge senkte sich der Arm wieder. Das Lächeln wie von den Lippen gewischt. Müde setzte er seinen Weg fort. Leise knirschte der Schnee unter seinen Schritten. Kleine Böen tanzten über den Boden und umschmeichelten seine Schuhe. Ein Schatten bildetet sich über seine Augen. Die Schultern leicht eingezogen und den Kopf gesenkt. Wie würde Gaara’s Schultag heute werden? Wie würde sich sein jüngerer Bruder durchschlagen? Würde es vielleicht jemand bemerken? Würde es vielleicht jemand sehen? Der weiße Verband an der linken Hand seines Bruders? Die blauen Blutergüsse auf den Oberarmen? Die Schrammen an den Knien? Würde jemand genau das sehen, was der Braunhaarige selbst sah? Würde es jemand sehen und endlich das sagen, was er selbst nicht sagen konnte und durfte? Würde es jemand… Oder holte der ganz normale Alltag sie eiskalt wieder ein? Mit langsamem Gang lief er in Richtung Schulgebäude. Vor sich betrachtete er die Rückenansicht seiner Schwester. Sie schwatzte soeben mit ihren Freundinnen, lachte leise über die Erzählung ihrer Nachbarin. Das blonde Haar wippte leicht auf und ab. Den Kopf erhoben und mit schwungvollen Schritten betrat sie die Schule. Ein erneuter Schatten legte sich über seine Augen, noch ehe der vorheriges gänzlich abgeklungen war. Seine Körperhaltung sank immer mehr in sich zusammen. So sehr, dass es fast aussah, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Unter der Last, die auf seiner Schultern lag. Unter dem Schweigen und der oft greifenden Chance, all dem Leid einem Ende zu setzen. Doch die Angst vor den Folgen war größer. Größer als die Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit in ihm. Die Folge alles zu verlieren, was sie noch hatten: Ihre Geschwister - der letzte Rest Familie, der ihm blieb. Wann würde endlich derjenige erscheinen, der seine Geschwister aus diesen Leid befreite? Wann würde endlich derjenige kommen, der die Augen öffnete und nicht taub auf die stumme Schreie war? Wann würde endlich derjenige da sein, der ihm all diese Last und all diese Arbeit abnahm… Doch alles schien wie immer. Niemand würde es sehen. Die kaputten Augen seiner Schwester. Selbst wenn diese lachte, so erreichtes es nie ihre türkisen Iriden. Der Ausdruck in diesen Spiegeln war leer. Emotionslos und wie tot. Aber niemand sah es. Niemand bemerkte es. Niemand außer Kankuro selbst, der wusste, was wirklich seine Schwester kaputt machte. Kaputt und einsam… Stickige, warme Luft wehte ihm entgegen, als er das überfüllte Schulgebäude betrat. Trat damit in den erheblichen Kontrast gegenüber der Kälte des Winters. Sofort wurde die idyllische Ruhe von Draußen durch Stimmengewirr, Gelächter und Geschrei zerrissen. ‘Willkommen Alltag’ - er hatte ihn wieder. Die Schritte klangen dumpf, als er über den laminierten Boden lief. Leicht rempelte er einige Schüler an, welche im hastigen Lauf über die Gänge hetzten. Seine Schwester hatte er schon lange aus seinen Augen verloren. Nicht nur heute, sondern schon vor vielen Wochen… Seine verkrampfte Haltung von eben lockerte sich. Mit erhobenen Haupt wanderte er durch den Gang. Ein Seufzen verließ seine Lippen, ehe er mit gespielten Lächeln durch den Schulgang lief. Ein Lächeln, was seine Augen nicht erreichte. Hier und da hob er zum Gruß seine Hand, um einige Freunde oder nur flüchtige Bekannte zu begrüßen. Er kannte viele aus seinen Jahrgang. Viel zu viele… Doch niemand kannte ihn wirklich. Niemand kannte den so zerbrechlichen Jungen hinter seiner Fassade. Niemand kannte ihn ohne sein Lächeln. Niemand kannte ihn ohne seine Maske. Er lächelte jedem eine heile Welt vor. Ein heiles Leben. Behütet und beschützt in den starken Armen des Vaters. Die starke Arme, die jeden Tag den Sohn niederschlugen. Die starken Arme, die immer wieder von neuen den Körper der Tochter berührten, ihn niederdrückte, ihn beschmutzte. Diese starken Arme, geschaffen um ungeheuerliches zu tun. Er lächelte und niemand bemerkte es. Genauso war es bei seinen Geschwister… Sie alle spielten ihre Rolle perfekt. Sie blieben solange als Akteur auf der Bühne, bis der Henker sie nachts wieder holen kam… Temari war immer noch so temperamentvoll wie immer. Niemand sah ihre toten Augen. Bemerkte ihre entsetzliche Angst vor Berührungen. Oder die Angst davor, dass jemand herausfand, dass sie Sex mit ihrem Vater hatte. Niemand bemerkte es. Gaara war weiterhin verschlossen. Niemand sah die vielen Wunden und Verletzungen. Die Narben der Zeit, die in dessen Haut geschlagen waren. Geschlagen und mit den Monaten der Zeit nur leicht verblasst. Nie sah jemand die vergossen, blutigen Tränen. Niemand nahm den Rothaarigen wirklich wahr. Und trotzdem lächelte Kankuro weiter bei all den Elend, der sich zu Hause verschlossen hinter ihren eigenen vier Wänden abspielte. Vielleicht um selbst einen sicheren Halt zu finden? Um sich selbst zu zeigen ‘alles war in Ordnung’? Er lächelte und belog alle um sich herum. Doch am meisten belog er sich selbst, ohne es zu bemerken… Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erschrocken und ein wenig in Gedanken versunken, zuckte er zusammen und neigte seinen Kopf zu Seite, um den Neuankömmling sehen zu können. Sofort wurde er mit einem breiten Grinsen begrüßt, welches mit derselben Breite auf den Lippen erwidert wurde. Hastig schlängelte er sich aus dem Griff und boxte seinem Hintermann freundschaftlich auf die Schulter. “Hey, altes Haus! Was ist los?” “Heut’ Abend, 19.00 Uhr, bei Speedy! Bring ein paar Leute mit!” Der Braunhaarige nickte zu der Aussage und der Einladung. Beide liefen die restlichen Meter zu ihren Klassenzimmer zusammen. Er selbst würde heute Abend dabei sein. Er musste! Sein Nebenmann erzählte wieder ausgiebig, wie viele Mädchen er dieses Mal wohl abschleppen und ins Bett bekommen konnte. Doch Kankuro hörte nur mit einen Ohr zu. Schließlich kannte er diese Leier schon in- und auswendig. Unter anderem interessierte es ihm nicht. Mädchen waren ihm egal. Er hätte nicht einmal Zeit für eine Freundin. Wie auch? Was würde sie sagen, wenn sie erfahren würde, was wirklich hinter seiner fröhlichen Fassade lauerte? Ein feiger Junge, der aus Angst in die Schusslinie seines Vaters zu kommen, seine beiden Geschwister im Stich ließ und diese nach vorne an die Front stieß. Je weniger er innigeren Kontakt zu anderen pflegte, desto eher konnte er über das Elend zu Hause schweigen. Flüchtige Bekannte fragten weniger, als Freunde. Es war feige. Anstatt zu Hause zu versuchen seine Geschwister zu unterstützen, stürzte er sich in jede Party, die er zum Greifen bekam. Anstatt selbst Trost zu spenden, suchte er sich diesen zwischen all diesen vielen Menschen, ohne es dabei zu zeigen oder etwas zu sagen. Kankuro wusste, wenn er zwischen all diesen ganzen Partyverrückten war, dann kam er dem normalen Alltag eines Jugendlichen immer näher. Der Alltag war zum Greifen nah und er packte jede Gelegenheit beim Schopf. Jede Chance, um seiner heilen Traumwelt so nah zu sein, damit er all das Elend zu Hause vergessen konnte. Er war feige. Er würde es vielleicht immer bleiben. Und dieses Gefühl war eklig… Dieses Gefühl ein Verräter zu sein. Dieses Gefühl von Schuld. Von Wertlosigkeit. Aber er wusste: Zwischen all den Massen, der lauten Musik, dem Tanzen und den vielen Alkohol würde dieses ekelhafte Gefühl wie auf einer tobenden Welle einfach davon getragen werden. Er konnte verdrängen, vergessen, einfach nicht mehr daran denken. Mit dieser Party würde er wieder Abstand gewinnen können. Abstand zwischen sich und der kaputten Familie. Abstand zwischen sich und diesen ganzen Elend. Abstand zwischen den kaputten Zuschauer und dem Jungen mit der perfekten Maske… Beide erreichten den Klassenraum und trennten sich wieder, um auf ihre Plätze zu kommen. Hastig schlängelte er sich durch die einzelnen Tischreihen, da es sicherlich bald zum Unterricht klingeln wurde. Schnell grüßte er einige mit Handschlag, andere wiederum mit einem freundlichen Kopfnicken. Seine Schritte flogen über das abgenutzte Holzparkett, als er neben seiner Bank stehen blieb. Seufzend ließ er seine Tasche auf den Tisch fallen und sich selbst auf den Stuhl. Der Schultag hatte noch nicht einmal begonnen und er war ihn jetzt schon überdrüssig. Sein Blick schweifte durch den Raum. Wen könnte man fragen, um auf eine gute Party mitzukommen? Am liebsten hätte er seinen Bruder oder seine Schwester mit genommen. Einfach, damit beide einen Abend aus den Krallen ihres Vaters entkamen. Aber jedes Mal wurde er mit einer Ablehnung weggeschickt. Kurz darauf verschlossen sich seine Geschwister ihm gegenüber immer mehr. Er war sich sicher, dass es dieses Mal ebenso der Fall werden würde. Sein Blick ruhte einen Moment auf der leeren, grünen Wandtafel. Es sollte jemand sein, von dem er unabhängig und der ebenso pflegeleicht war. Doch in seiner Klasse kannte er niemanden der Jungs, der nicht auch so auf die Party gegangen wäre. Nun ja, fast niemand. Sofort schaute er seinen Banknachbarn an. Betrachtete diesen genauer. Das braune Haar war ein wenig zersaust in einen provisorischen Zopf gebunden. Der Kopf war zur Seite geneigt. Die lavendelfarbenen Iriden sahen ein wenig abwesend, aber auch auf etwas warten hinaus. Hyuuga, Neji - der Junge war die perfekte Wahl! Dieser war ruhig und eher Eigenbrötler. Nicht irgendjemand der Dinge hinterfragte, sondern die Tatsachen einfach annahm. Zwar quatschte der Hyuuga öfters von irgendwelchen Sachen, wie ‘Das Schicksal bestimmt alles’ und so weiter, doch Kankuro kam mit ihm klar. Jeder hatte seine Macke und seinen Tick, deswegen unterschieden sie sich doch alles von einander. “Hey, Neji-Kun! Bock heute Abend zu kommen? 19.00 Uhr bei Speedy!” Ein breites Grinsen war auf seinen Lippen zu sehen, welches sogar seine trüben Augen erreichte. Noch nie hatte er den Hyuuga auf einer wirklich spitzenmäßigen Party gesehen. Vielleicht weil ihn niemand einlud? Also wurde es langsam einmal Zeit! Schließlich sollte man versuchen das Leben zu genießen. Sofort bekam er ein abwesendes Nicken als Antwort. Vielleicht war es unbeabsichtigt, denn im nächsten Moment riss der andere seine lavendelfarbenen Iriden weiter auf. Pech, aber Antwort blieb Antwort. Kankuro war da hartnäckig. Sein breites Grinsen wurde noch größer, als sein Gegenüber die Stirn in Falten legte. Beide kannten sich zwar nicht wirklich gut und die wenigen, bekannten Charaktereigenschaften hatte er selbst in den Jahren an seinen Nebenmann gesehen oder bemerkt. Man konnte nicht einmal sagen, sie seinen Freunde, aber trotzdem waren sie schon seit der Mittelstufe immer in derselben Klasse gewesen. Mit einem freudigen Grinsen klopft er den immer noch perplexen Jungen auf die Schulter und demonstrierte damit, dass er es als ein ‘Ja, ich werde kommen’ interpretierte. Danach wand er sich wieder seiner Schulbank und der Tasche zu. Den anderen Jungen in seiner Verwirrung zurücklassend. Heute Abend würde er wieder verdrängen können. Verdrängen und vergessen… ~*~*~ Laut dröhnte die Musik von allen Seiten. Brach über ihn herein wie eine tosende Welle. Schwemmte ihn mit ihrem Rhythmus, mit ihrem Beat weg. In weite Sphären. In weite Ferne. Er kam sich vor, als könnte er das ganze Universum spüren. Die dunklen Iriden waren hinter den verschlossenen Augenlider verborgen. Leicht schwenkte er seine Hüfte zur Seite. Bewegte seinen Körper im Takt des Liedes. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Adrenalin schoss durch seine Adern. Fahrig strichen seine Finger über den femininen Körper vor sich. Berührten ihren Busen, streichelten über ihre fast entblößten Seiten. Anmutig schmiegte sich das Mädchen gegen ihn. Drückte ihren Po gegen sein Becken. Wippte ihre Hüfte im Takt mit. Seine Hände wanderten weiter nach unten. Er griff ihr in den Schritt. Packte mit der andere Hand ihr schwarzes Haar, um den Kopf in den Nacken zu zerren. Dunkle Strähnen kitzelten seine Wange. Strichen über seine Haut. Wild dirigierte er ihr Gesicht zu seinen eigenen. Die schwarzen Augen einen kleinen Spalt geöffnet. Verrucht sah er sie an. Ein Grinsen auf den Zügen. Fordern presste er seine Lippen auf ihrige. Ein tiefes Keuchen entwich ihrer Kehle. Sofort schlüpfte seine Zunge durch den entstanden Spalt und erforschte das neue Gebiet. Rau strich er über die einzelnen Zahnreihen, über den Gaumen, ehe er ihre Zunge leicht antippte, sie zum Kampf herausforderte. Vergessen war das Umfeld. Vergessen war das eigentliche Leben. Vergessen das Elend der Familie. Nur die Musik und die Bewegungen um ihn herum auf der Tanzfläche zählten. Heiß küssten sie sich. Wild, fordernd und verlangend. Wie im Rausch kam er sich vor. Einen Rausch, aus dem er nicht mehr entfliehen wollte. Dann war das Lied vorbei. Wie benebelt löste er sich von den Mädchen. Starrte sie einen Moment an, bevor er ihr über die Lippen leckte und sich abwandte, um die enge Tanzfläche zu verlassen. Der Rausch, den er in der Musik erlebt hatte, war vorbei. In dem Moment wo der letzte Takt geschlagen hatte. Seine Knie fühlten sich weich an, als er den Weg zum Büffet einschlug. Seine Schritte klangen dumpf auf den Teppichboden. Waren schwerfällig. Lachend begrüßte er einen seiner Freunde, welcher sich eben eine Dose Bier genehmigte. Ein wenig schwankend lehnte Kankuro sich gegen die Wand, ließ sich an dieser herunter rutschen, ehe er die Dose eines anderen entgegennahm. Er trank einige kräftige Schlücke. Ein breites Grinsen zierte seine Lippen. Ein Grinsen, was er schon den ganzen Abend auf seinen Zügen trug. Mit einem leisen Knirschen zerdrückte er den Behälter in seiner Hand und warf ihn in eine Ecke des Raumes. Träge wühlte er in seiner Hosentasche nach seiner Zigarettenschachtel, um sich eine zu gönnen. Doch schnell muss er einsehen, dass er seine anscheinend beim Tanzen im Zimmer verloren hatte. “Na, deine wieder verloren?” Leicht nickte er, bevor ihm sein Nebenmann eine anbot, die er dankend annahm. Auch Feuer wurde ihm sofort gereicht. Langsam steckt er sich den Filter in den Mund, ehe er das andere Ende anzündete. Kurz zog er an dem Klimmstängel, damit es angefacht wurde. Noch immer spürte er die Vibrationen der Musik in seinem Leib. Immer noch den Körper dieses Mädchens, welches sich anreizend an ihm geschmiegt hatte. Genussvoll schloss er seine Augen und ließ die Geräusche der Umgebung auf sich wirken. Legte den Kopf in den Nacken und genehmigte sich einen Zug seiner Zigarette. Herrlich. Das Leben war einfach nur herrlich. Ohne Probleme. Ohne Ängste. Ohne Sorgen. Was wollte er da mehr? Er konnte vergessen. Er konnte verdrängen. In diesen Augenblick zählte nur der Moment. Alkohol. Drogen. Zigaretten. Musik. Mädchen. Mehr brauchte man nicht, um zu vergessen. Mehr brauchte man nicht, um nicht mehr am wirklichen Leben teilzuhaben. Mehr brauchte man nicht, um daran zu denken, dass zu Hause Schwester und Bruder saßen. Allein, mit ihrem Vater, der sie zerstörte. Er schüttelte die Asche ab, bevor er weitere Züge nahm. Sein Körper kam nicht zur Ruhe. War voller Energie. Voller Adrenalin, was er loswerden musste. Was er loswerden wollte. Ungeduldig tippte er mit der Fußspitze auf den Boden. War nur in Bewegung. Der letzte Zug, ehe er die Zigarette im Teppich ausdrückte. Damit einen hässlichen, schwarzen Brandfleck hinterließ. Ein weiterer Fleck auf diesen abgewetzten Teil. “Die Pillen wirken echte Wunder, nicht? Wir sollten Speedy da echt dankbar sein, dass er sie so billig vertickt.” Leicht nickte er. Eine Party ohne Drogen hatte Kankuro noch nie erlebt. Zu erst wollte er bei lauter Musik und wilden Tänzen alles vergessen. Er wollte alles verdrängen, was zu Hause geschah. Aber es war unmöglich. Er musste pausenlos daran denken. Er musste! Das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle zerrissen ihn innerlich so sehr, dass er am liebsten schreien würde. Doch kein Ton kam über seine Lippen. Das Lächeln wie festgewachsen auf seinen Zügen. Doch es bröckelte. Es zerbrach immer mehr, je länger er tanzte. Je müder er wurde. Und je mehr die Müdigkeit gewann, desto mehr dachte er daran, wann er den Weg nach Hause einschlagen wurde. Zu Hause. Die Hölle auf Erden. Auch wenn er anfangs skeptisch war, hatte er sich in seinen Frust, in seiner Verzweiflung, seiner Angst und in seinem Rausch bei jeder Party immer mehr hineingesteigert. War dem Trott seines Umfeldes mitgegangen. Begonnen mit einigen, kleinen Bieren. Der Rausch war beeindruckend. Schnell hatte man den Dreh heraus, welche Menge man brauchte, um an nichts mehr zu denken. Um nichts mehr zu merken. Er konnte tanzen, mit Leuten reden, ohne das jemand merkte, wie falsch seine Maske war. Mit der Zeit aber erkannte der Sabakuno, dass es nicht gut war, sich bis zum Koma zu saufen, damit man nichts mehr von seiner Umgebung mitbekam. Doch lösen davon konnte er sich nicht. Er brauchte diesen Rausch. Dieses Gefühl, dass man alles und jeden schaffen konnte. Im Rausch konnte er alles machen, was er nüchtern nie schaffen würde. Doch Alkohol machte müde. Müdigkeit die ihm auf den Weg nach Hause zwang. Und dann passierte es… Mitten im Gespräch hatte ihm Speedy von diesen ‘Wunderpillen’ erzählt. Schwärmte regelrecht davon. Redete darüber, dass sie überall, auf jeder Party im Umlauf waren. Kankuro hatte sie probiert. War dieser Hoffnung von Vergessen und Verdrängen in die Falle getappt. Und diese Falle war erfolgreich gewesen. Hatte zugeschnappt und ihn mit Erfolg gefangen genommen. Das Ergebnis war glorreich. Sein Körper war voller Energie. Er konnte tanzen, tanzen, tanzen und die ganze Nacht lang wach bleiben, ohne daran zu denken, dass er nach Hause müsste. Nicht nur das. Er nahm sein gesamtes Umfeld anders war. Intensiver. Kurz quatschte Kankuro mit seinem Freund. Unterhielt sich darüber, wie viele Mädchen dieser an diesen Abend schon angebaggert hatte. Mit wie vielen sie schon auf der Tanzfläche ihren Spaß hatten. Doch blieben beide nicht nur bei diesen belanglosen Thema. So hastig wie sein Körper in Bewegung war, so waren es seine Gedanken. Ruhelos und rastlos, springend von einem Moment zum nächsten. Sofort schweiften sie wieder zum kommenden Sportfest der Schule. Welche Disziplinen sie absolvieren wollten und welche Ziele sie sich gesteckt hatten. Der Sabakuno wollte der Basketballmannschaft, als ihrigen Captain zum Sieg verhelfen. Es folgten noch weitere, belanglosere Gesprächsthemen. Als wäre nie etwas gewesen. Als würde es all das Elend zu Hause nie geben. Höchstens in einem Film. In einen Horrorstreifen. Oder einen Traum. Einen Alptraum. Ein schlechter Trip. Ein Flash. Mehr nicht. Das Leben rannte an Kankuro vorbei und er war mittendrin. Im Mittelpunkt und lebte. Und es fühlte sich einfach unglaublich an. Wie leicht und schwerelos kam er sich vor. Wie intensiv er alles um sich herum wahrnahm. Die Lasten auf seinen Schultern, auf seiner Seele nicht mehr zu spürend. Vergraben in die tiefste Ecke seines Bewusstseins. Darauf hoffend, dass sie dort blieben. Vergessen war der heutige Nachmittag zu Hause. Vergessen waren die heutigen Schreie seines Vaters. Vergessen waren die unscheinbaren Tränen seines Bruders. Er hatte es verdrängt. Tief in sein Unterbewusstsein vergraben und damit vergessen. Er lebte im Augenblick. Er lebte für den Moment. Lachend stemmte er sich auf seine Knie ab, um aufzustehen. Leicht schlug er seinen Kumpel gegen die Schulter, ehe er sich am Büffett bediente. “Werd’ mal nach Neji-Kun gucken, nicht dass er schon verschwunden ist, bevor der Abend begonnen hat.” Kankuro bemerkte nicht den Blick seines Freundes, der beim Namen des Hyuuga eine grässliche Grimasse zog. Selbst wenn er es sehen würde, war es ihm egal. Wie alles andere, was heute war. Er lebte diesen Moment. Er lebte, mehr zählte nicht. Hastig belud er einen Teller voll Essen, ehe er diesen lachend durch den Raum balancierte. Erneut wurde er von wen angestoßen, sodass seine Last in den Händen gefährlich mit schwanken begann. Kankuro wandte sich zur Seite, ehe er einen seiner Klassenkameraden erkannte und ihm mit breitem Lächeln und einem Nicken begrüßte. Es war schwer sich einfach so durch die Massen zu bewegen. Eher kam er sich vor, als würde er auf einer großen Welle reiten. Eine Welle die ihn dahin trieb. Weg von allen und jedem. Er trieb in der Masse mit. Im großen Meer der Party. Im Rauschen der Musik. Die Rufe und Stimmen um ihn herum waren wie hinter einen dichten Schleier, als er der grölenden Masse näher kam. Erneut wurde er an der Schulter angestoßen. Kam gefährlich ins Taumeln. Reflexartig ergriff er den Arm der Person. Riss diese damit näher an sich heran. Am Rande nahm er nur die Versuche wahr, die der andere anstellte, um sich aus den Griff zu reißen. Bemerkte nicht die bebenden Schultern. Die geballten Fäuste. Erkannte nicht die Unruhe im Körper des anderen. Diese Emotionen, die dessen Leib zum erzittern brachten. Plötzlich riss sich der andere aus seinen Griff. Überrascht und ein wenig erschrocken blinzelt Kankuro. Es dauerte einige Sekunden, ehe er erkannte, wessen Arm er eben gehalten hatte. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Züge. Unwissen, was er damit im Inneren des anderen auslöste. “Neji-Kun, was ist los? Eigentlich wollt ich fragen, ob du was essen willst. Hab dir was vom Büffet mitgebracht.” Rau klang seine Stimme. Rau und dennoch weich, sodass er den anderen damit zum Stehenbleiben zwingen konnte. Erneut rief er dessen Namen. Melodisch klang er auf seiner Zunge, was ihm erst in diesen Moment auffiel. Am liebsten würde er ihn Tausendmal rufen. Ihn immer wieder sagen. Neji-Kun… Es hatte etwas Beruhigendes an sich. Etwas Normales. Etwas was nicht an zu Hause erinnerte… Erneut blinzelte er, bei den Gedanken daran, dass der Name eines einfachen Jungen solch eine Ruhe in ihm weckte. “Danke, aber ich hab schon etwas gegessen. Ich werde jetzt wieder nach Hause gehen.” Erschrocken und aus den Gedanken gerissen, zuckte Kankuro zusammen. Er wollte eben zur einer Antwort ansetzen, doch da war Neji schon in der Masse der Grölenden und Tanzenden verschwunden. Seufzend fuhr er sich durch sein Nackenhaar, ehe er den Teller einfach an jemanden anderen weiterreichte. “Hier!” Freudig grinste er den perplexen Jungen entgegen, bevor er sich wieder zur Tanzfläche bewegte. Erneut verschwand er in der tanzenden Menge. Bewegte sich im Takt der Musik mit. Sein Inneres vibrierte bei der Lautstärke. Tanzen. Tanzen. Tanzen. Tanzen. Er vergaß alles um sich herum. Es zählte nur noch die Musik. Der Beat. Der Rhythmus. Das Lied. Partydroge Ecstasy. Was harmlos begann, konnte zu einem Tanz mit dem Tod werden. Kapitel 13: Die Puppenmaske [Teil 3] ------------------------------------ Und plötzlich standen sie vor mir. Wenn ich heute so darüber nachdenke, dann glaube ich, dass es einem Wunder glich, dass wir uns überhaupt getroffen hatten. Der Braunhaarige hielt mir seine Hand entgegen, während der grauhaarige Mann sich nahe neben mich stellte. Überrascht schaute ich sie beide an. Das Lächeln auf den Zügen meines Gegenübers werde ich wohl bis heute nicht vergessen… “Kankuro Sabakuno? Mein Name ist Umino Iruka und das neben dir ist Hatake Kakashi. Komm bitte mit uns mit. Wir haben lange nach dir gesucht.” Die Puppenmaske [Teil 3] 28. Oktober 2009 Laut vernahm er die Stimmen außerhalb des kleinen Café, etwas weiter entfernt des Hibiya-Parkes. Träge hatte er den Kopf in seine linke Hand gebettet. Den Blick müde aus den verschmutzten Caféfenster gerichtet. Eine Frau mit Kind an der Hand lief den Betonweg entlang. Ein fröhliches Lachen war auf den jungen Kinderzügen zu sehen, während die Frau freundlich lächelte. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein junges Mädchen und spielte Violine. Vor ihr stand ein kleiner Pappbecher. Sie bettelte nach Geld und bot dafür ihre Musik an. Sicherlich würde sie nicht viel zusammen bekommen, selbst wenn ihr Geigenspiel noch so gut klang. Ihre dargebrachten Leistungen reichten nicht aus. Brachten keinen Nutzen den Menschen, die ihre Musik hörten. Die Menschen liefen an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken. Sie war wie ein graues Mäuschen in dieser großen, bunten Welt. Ungesehen und unbemerkt. Ihre Musik wurde vom Wind erfasst und weggeweht. Ebenso ihre Träume, Wünsche und Sehnsüchte. Leise schnaubte er aus. Es war nicht das erste Mal, dass er jemanden Betteln sah. Doch bisher kannte er nur eine Methode, um auf der Straße wirklich Geld zu machen. Und diese Möglichkeit bot in seinen Augen nur der Strich an. Viele weibliche Junkies, die er in den letzten Wochen und Monaten kennengelernt hatte, finanzierten ihren Stoff, in dem sie ihren Körper an andere weiter verkauften. Die Seele starb, doch der Körper blieb mit Drogen erhalten. Solange, bis auch dieser auseinanderfallen würde. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Verweht in die weite, grausame Welt… Sein Blick schweifte weiter. Er beobachtet wieder einmal die Leute um ihn herum. Fragte sich innerlich, ob sie ebenfalls so ein beschissenes Leben hatten, wie er. Ob sie zu Hause geschlagen oder missbraucht worden. Ob die an ihn vorbeilaufenden, jungen Schüler Drogen nahmen, auf den Strich arbeitete oder sich in Alkohol ertränkten. Bekamen sie den genügend Liebe von ihren Eltern? Lebten diese vielleicht gar nicht mehr, wie seine eigene Mutter? Ein Seufzen verließ seine Lippen. Ein Schatten bildete sich über seine Augen, ehe er diese wieder auf seine beiden Begleiter richtete. Sein Blick ruhte auf den ruhigen Händen von Iruka, welcher langsam seine Tasse an die Lippen ansetzte, um einen Schluck heißen Tee zu trinken. Es war faszinierend, wie ruhig dessen Finger um der braunen Keramiktasse lagen. Seine eigenen zitterten extrem, ohne dass er etwas dagegen übernehmen konnte. Seine Finger verkrampften sich ein wenig, damit das Zittern nicht zu offensichtlich wurde. Weiter beobachtete er seinen Gegenüber beim Teetrinken. Doch plötzlich ließ dieser wieder von dem Getränk ab und musterte Kankuro mit wissenden und weisen Augen. Aber ebenso voller Verständnis und Wärme, dass es ihm bei diesen Gedanken fast Tränen in die Augen trieb. Hastig wandte er sofort den Blick wieder ab und starrte auf eine Topfpflanze am anderen Ende des kleinen Raumes. Nur, um damit nicht in die Augen seines Gegenübers zu schauen. Nur, um nicht dem Gefühl ausgesetzt zu werden, dass Iruka in seinen schwarzen Iriden alles lesen konnte. In solchen Augenblicken fühlte er sich immer wieder nackt und schutzlos. Schwächer, als er es sich so schon vorkam… Er wollte nicht schwach sein, sondern stark und kräftig. Breite Schultern haben, um weitere, schwerer Lasten zu tragen. Doch er war nichts weiter, als jemand, der gebückt durch die Welt ging. Niedergedrückt von den Lasten, die er schon auf den Schultern trug. Er war feige… Sein linkes Bein zitterte. Er fühlte sich wie gefangen und eingesperrt. Der Drang einfach aufzuspringen und wegzulaufen war groß. Doch die Erfolgschancen zu entkommen klein. Sehr klein. Sicherlich würde Kakashi sofort nach seinen Arm greifen, wenn er nur den Ansatz machte, aufspringen zu wollen. Er schluckte hart. Kniff seine Augenlider zusammen. Der Rausch der letzten Drogen verflog immer mehr. Im Moment fühlte er sich miserabel. Am liebsten würde er sich irgendwohin verkriechen. An einen Ort, wo niemand ihn bemerkte. An einen Ort, wo er vergessen konnte. Mit Alkohol, Drogen und Frauen. Es war ihm egal, wo dieser Platz war. Hauptsache er war weg. Am liebsten für immer… Er war in den letzten Jahren so oft geflohen! Dieses eine Mal würde damit keinen Unterschied mehr machen… Er war immer auf der Flucht. Vor seinen Vater. Vor seinen Pflichten. Vor dem Leid seiner Geschwister. Vor seinem Leben. Doch am meisten vor sich selbst. Eisernes Schweigen legte sich über den Tisch. Jeder trank entweder seinen Kaffee oder seinen Tee. Starr saß er hier, schaute stur auf die Tischplatte vor sich. Das Marmor war in einem mehrfarbigen Grau gesprenkelt. Es sah hässlich und eintönig aus. Wie sein eigenes Leben sich oftmals anfühlte… Leicht schweifte er mit seinen Gedanken ab. Schweifte wieder nach Hause. Ging es seinen Geschwister gut? Hatte ihr Vater Gaara wieder verprügelt? Oder vergriff er sich in diesen Moment wieder an Temari? Er wollte es sich nicht ausmalen. Er wollte es nicht wissen. Schließlich konnte er nichts unternehmen. Konnte nicht helfen. Wäre nur ein Klotz am Bein. Er war in den Jahren überflüssig geworden. Wertlos. Nutzlos. Er hasste sich dafür, dass er nicht helfen konnte. Er hasste sich dafür, dass er so nutzlos war. Er hasste sich dafür, dass er so schwach war. Er hasste sich dafür, dass er so feige war. Der feige, schwache, nutzlose Zuschauer. Mehr war er nicht… Wann würde das alles ein Ende haben? Er war seine schwerste Last auf seinen Schultern langsam leid. Die schwerste Last, die sich Leben nannte… Das Absetzen der Tasse schreckte ihn wieder aus seinen Gedanken und zurück in die Gegenwart. Überrascht schaute er auf, als er dem Blick von Kakashi traf. Weise und gefährlich. Als würde dieser allein mit bloßen Blickkontakt in das Tiefste der Seele blicken können. Ein Seufzen entfloh dessen Lippen, die hinter einen dünnen Schal verborgen waren. “Ich verstehe euch Jungspunde nicht. Lernt man in der Schule nicht mehr, dass mit Drogen nicht zu spaßen ist? Warum macht ihr damit also euer Leben so kaputt?” Erschrocken wich Kankuro vor diesen verbalen Angriff zurück. Für den ersten Moment war er regelrecht sprachlos. Ihm fehlten die Worte. Warum er sein Leben kaputt machte? Gab es da noch mehr, was er hätte zerstören können? Mehr Lasten, die er hätte tragen können? Die ihn noch tiefer in die Knie hätte zwingen können? Aber waren nicht gerade sie die Art von Menschen, auf die er so verzweifelt gewartet hatte? Die Menschen, die seine stummen Hilfeschreie hören sollten? Seinen verzweifelten Versuch nach Aufmerksamkeit? Hatte er sich nicht nach solchen Leuten gesehnt? Leute, die seine Lasten abnahmen? Leute, die ihm unter die Arme griffen? Leute, die seinen Geschwister und ihm helfen konnten? Doch alles was er im Moment fühlte war Wut. Unglaubliche Wut, die in ihm hoch wallte. Leicht ballte er die Hände zu Fäusten und lockerte sie im nächsten Moment wieder. Was mischten sich diese Leute in sein Leben ein? Was fiel diesen Männer vor ihm ein? Als wenn sie etwas wüssten! Als wenn sie verstehen würde, wie er sich fühlte! Was er zu Hause durchmachen musste! Sie wussten gar nichts! Überhaupt nichts! Mit einem Satz sprang er auf. Riss seinen Stuhl um, welcher mit einem lauten Scheppern nach hinten umfiel. Laut schlug er mit den Händen auf den Tisch, sodass es leise in den kleinen Café widerhallte. Seine Tasse schwankte gefährlich. Ein kleiner Klacks Kaffee schwappte über den Tassenrand auf seinen Unterteller. Wurde dort sofort von der weißen, reinen Serviette aufgezogen. Seine Finger zitterten, ehe er seine Hände verkrampft zu Fäusten ballte. “Als wenn DU etwas wüsstest!” Wütend schleuderte er seine Worte den anderen entgegen. Mit seinem Arm fegte er die Kaffeetasse vom Tisch, welche Klirrend am Boden zu Bruch ging. Heißer Kaffee verteilte sich über den schmutzen Fliesen und Fugen. Keuchend kam sein Atem über seine Lippen. Zorn spiegelte sich in seinen dunklen Augen wider, als er Kakashi anstarrte. Doch sein Gegenüber zeigte keinerlei Regung. Nicht zu seinen Wutausbruch oder gar der zerbrochenen Tasse, die auf den Boden lag. Der grauhaarige Mann schenkte nicht einmal den vergossenen Kaffee irgendwelche Aufmerksamkeit. Nein, dieser saß weiter dort und trank genüsslich seinen Kaffee! Leise knirschte er mit den Zähnen. Drückte die Hände fester zu Fäusten zusammen, sodass seine Fingerknöcheln weiß hervortraten. Er rammte seine Fingernägel tief in die Haut, sodass es schmerzte. Einigen Sekunden des Schweigens verstrichen. Er glaubte schon daran, dass der andere nichts mehr erwidern würde und wollte soeben verschwinden. Aber soweit kam er nicht mehr, ehe mit dem nächsten Satz seine Wut weiter hochgeschaukelt wurde. “Nein, ich weiß nichts. Deswegen verstehe ich auch nicht, warum du dich so kaputt machst, noch warum du mich hier so respektlos anschreist.” Sein Körper erbebte vor Wut. Seine Augen hatte er weit aufgerissen auf Kakashi gerichtet, welcher erneut einen Schluck von seiner Tasse nahm. Er wusste in diesen Moment nicht was er denken, geschweige denn fühlen sollte. Im Moment wusste er nur, dass er sich hier vollkommen unverstanden fühlte. Und dies machte ihn rasend vor Zorn! Mit einem Satz sprang er halb über den Tisch und ergriff mit bebenden Finger den Hemdkragen von Kakashi. Mit einem Ruck und einer unglaublichen Stärke, von der nicht einmal wusste, dass er diese besaß, zerrte er den Mann näher an sich heran. In seinen Augen funkelte immer noch Wut, während in sein Inneren ein Gefühlschaos tobte. “Arschloch!” Fast schreiend verließ dieses Wort seine Lippen. Leise knirschte er mit den Zähnen. Schweiß lief seine Schläfe entlang, über seine Wange, ehe ein kleiner Tropfen vom Kinn abperlte und in sein Hemd sickerte. Sein Griff verfestigte sich. Einige Millimeter zog er den anderen näher an sich heran. Zornig sah er in das offene, dunkle Auge, was keinerlei Emotionen preisgab. Was seine Wut weiter aufschaukelte. Tief holte er Luft, doch behielt er diese einen Moment an. Warum saß er hier mit diesen Leuten? Leute, die ihn vielleicht gar nicht verstehen würden? Wie auch? Sie könnten ihn nicht einmal verstehen, weil er immer noch schwieg. Weil er immer noch über das Leid zu Hause kein Wort verlor. Wie sollte da jemanden ihn verstehen? Wie sollte ihn jemand verstehen, wenn er sich selbst oft nicht verstand? Doch seit wann war es so? Seit wann verstand er das alles nicht mehr? In diesen Augenblick schoss sein Leben vor seinen inneren Auge wie ein Film ab. Der Tod seiner Mutter. Das Wimmern und Blut seines Bruders. Die Tränen und Schmerzen seiner Schwester. Der Alkoholgestank und die Gewalt seines Vaters. Sein eigenes Versagen und Trostlosigkeit. Tiefe Hoffnungslosigkeit zog auf. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung… Sein Griff lockerte sich etwas. Zwei starke Hände legten sich auf seine. Drücken sachte zu und wollten damit sagen, dass er in diesen Augenblick nicht allein war. Dass jemand bei ihm war, der sich ihn annahm. Der ihn zuhörte. Der sein stilles Flehen bemerkte hatte. Wärme schoss durch seinen Körper. Die Wut von eben war wie verraucht. In diesen Moment trat die Art von Person auf die Bühne, die er die letzten Monate so verzweifelt gesucht hatte. In diesen Moment trat der Akteur des Außenstehenden auf die Bühne und unterstützte die Hauptakteure. Der letzte Akt wurde gespielt… Heiß schossen ihn die Tränen in die Augen. Seine Sicht verschwamm. Seine Unterlippe zitterte, weswegen er sich fest auf diese biss. Sich diese fast zerbiss. Ungewollt verließen die nächsten Worte seine Lippen. Ungewollt brach er das eiserne Schweigen, was seine Geschwister und ihm aufgelegt wurde. Ungewollt brachte er den Stein ins Rollen, der das Leben seiner Geschwister noch einmal komplett ändern sollte. Der sein Leben ändern sollte. “Was… was wisst ihr schon… es sind MEINE Geschwister, die… die zu Haus sitzen und… und missbraucht und misshandelt werden... Ich… Ich…” Ein Schluchzen zerriss seine dünnen Worte. Heiße, salzige Tränen liefen über seine Wangen. Perlten vom Kinn ab und tropften auf die Tischplatte. Ein weiteres Schluchzen durchschüttelte seinen Körper. Sein Griff löste sich aus den Hemd Kakashi’s. Leicht schwankte er. Die Sicht verschwommen, ehe er die Lider ganz zusammenkniff. Fest ballte er seine Hände zu Fäusten. Lockerte sie wieder, nur um sie erneut zu ballen. So unglaublich viele Emotionen bekämpften sich in seinen Herzen. Er fühlte sich wie ein Verräter an, der das Schweigen gebrochen hatte. Doch auf der anderen Seite fiel ihm eine so unglaubliche Last von den Schultern. Ein Stein sackte von seinen Herzen. Ein unglaublich großer und schwerer. Seine Beine zitterten. Konnten die Last des Körpers nicht mehr tragen. Träge sank er zu Boden. Klammerte sich an die Tischplatte fest, um nicht ganz den Boden unter den Füßen zu verlieren. Weitere Tränen rollten über seine Wangen, ehe sich ein starker Arm um seine Schultern legte. Ihn sachte an den warmen Körper eines anderen drückte. Leicht verkrampfte er sich. Wann war er das letzte Mal so in den Arm genommen worden? Vor dem Tod seiner Mutter. Vor dem Tod seiner geliebten, wunderschönen Mutter… Zitternd vergrub er seine Finger in den Hemdkragen von Iruka. Krallte sich nach Halt suchen an diesen fest. Es war so ein erleichterndes Gefühl, wenn man den Halt bei jemanden anderen finden konnte. Ein starker Halt, wo man nicht die Angst haben brauchte, dass dieser im nächsten Moment zusammenbrach. Leicht drückte er sein Gesicht gegen die Schulter des Mannes. Getraute sich nicht auf zusehen. Niemand sollte jetzt sein tränennasses Gesicht sehen. Auch wenn die beiden Erwachsenen sicherlich wussten, dass er weinte. Niemand sollte jetzt diese zerbrechliche und schwache Seite an ihn sehen. Niemand… “Kankuro…” Leicht zuckte er bei dem Ton seines Namens zusammen. Warm und geborgen klang die Stimme. Kein Tadel oder Spott sprach aus dieser. Kein Vorwurf, dass er weinte. Warm und geborgen. Sie gab ihn das Gefühl eben das Richtige gemacht zu haben. Er hatte das Schweigen gebrochen. Er hatte es gebrochen und damit seine Geschwister hintergangen. Dennoch spürte er tief in sich, wirklich das Richtige gemacht zu haben… “Kankuro, weißt du. Kakashi und ich sind von einer Organisation, die sich Atarashii Semei nennt. Wir sind da, um Kindern zu helfen, die mit ihrem Leben nicht mehr zurecht kommen. Kindern, denen geholfen werden muss! Dazu gehören Kinder, die missbraucht und geschlagen werden. Aber auch Kinder, die Drogen nehmen oder keinen wirklich Platz mehr zum Leben haben. Kinder, die unter ihrer Last im Leben krank geworden sind…” Schweigend lauschte er den Worten von Iruka. Schöne Worte, wie in einem Märchen, welches mit einen Happy End endete. Und dennoch war alles real. Zum Greifen nah. Kein Märchen. Kein Traum. Kein Film. Kein Buch. Es war die pure Realität. Er konnte seine Finger in den Hemdkragen des Mannes verkrallen. Er spürte den warmen Atem an seiner Wange vorbei ziehen. Er fühlte die Wärme des anderen Körper unter seinen zittrigen Fingen. Von seinen Lippen kam nur noch ein angestrengtes Keuchen. Weitere, stumme Tränen liefen über seine Wangen. Sein Griff wurde immer fester, während still und leise neue Hoffnung in ihm aufkeimte. Aber ebenso die Angst, dass diese beiden Männer ihm im nächsten Moment abweisen würden. Ihn allein mit seinen Problemen und Sorgen stehen lassen würde. Ihn verraten würden, so wie er seine Geschwister verraten hatte… “Ein guter Freund und Lehrer von dir meinte, dass du seit Wochen nicht mehr in der Schule warst. Wir haben dich gesucht, da zu Hause nie jemand die Türe geöffnet hatte…” Leicht verkrampfte er sich. Ein trostloses Lächeln schlich sich auf seine Züge. Es war kein Wunder, dass sie bei ihm zu Hause keinen Erfolg hatten. Schließlich getraute sich zu Hause niemand mehr aus seinen Zimmer, geschweige denn an die Wohnungstür. Und ihr Vater? Ihr Vater ließ schon seit Jahren niemanden mehr in die Wohnung. Nicht einmal mehr einen der Nachbarn, wenn sie nachschauen wollten, ob alles in Ordnung war. Somit war es kein Wunder, dass Kakashi und Iruka keine Chance hatten, in ihre Wohnung zu gelangen. Unter anderem war Kankuro kaum zu Hause. Nur in der späten Nacht zum Schlafen. Es glich also fast einem Wunder, dass sie sich überhaupt über den Weg gelaufen waren. Ein Wunder, dass Kami ihn geschenkt hatte. Eine Chance, die er ergreifen und festhalten sollte. “Kankuro… hör mir gut zu. Von dem was du mir erzählt hast, steht unsere Entscheidung nun endgültig fest. Wir wollen dich und deine Geschwister mit ins Atarashii Semei mitnehmen. Wir wollen euch da helfen, die Wunden, die man in eure Seelen geschlagen hat, zu versorgen und versuchen zu heilen.” Während weitere Tränen seine Wangen liebkosten, richtet er sich müde auf. Seine Augenlider öffneten sich langsam, ehe er auf den Boden starrte. Ein verzweifeltes Lächeln lag auf seinen Lippen. Mit den Handrücken wischte er die vergossenen Tränen aus seinen Gesicht. Doch erneut schluchzte er auf. Wieder rannen ihn Tränen über die Wangen. Leicht schlug er sein Gesicht in seine Hände und schüttelte den Kopf. Er wusste nicht mehr weiter. Er wusste es nicht. Er wusste es nicht mehr. Und jetzt in diesen Moment kam sie. Die erlösende Hilfe, die er verzweifelt gesucht und gebraucht hatte… “Bitte… bitte helfen sie uns… bitte… bitte…” ~*~*~ Mit schnellen Schritten rannte er die Stufen nach oben. Sein Atem war nur noch ein angestrengtes Keuchen. Seine Beine fühlten sich schwer an. Er hatte Seitenstechen. Dennoch wollte er nicht stehen bleiben. Schaffte es sogar noch den Männern einige Informationen zukommen zu lassen. Informationen über seine Familie, die kaum jemand wusste. Vor einigen Jahren hatte seine Mutter es ihm erzählt gehabt. Bisher hatte er es niemanden gesagt. Fand es nicht als relevant. Doch in diesen Moment verstand er einiges mehr. Verstand ein wenig den Grund, warum ihr Vater so sehr wieder abgerutscht war. Doch auch wenn er den Grund verstand, so konnte er ihren Vater nicht verzeihen, was er mit seinen Kindern gemacht hatte. Dieser Grund rechtfertigt nicht die Taten dieses Monstrums. “Ka-san hatte mir das vor langer Zeit erzählt… To-san ist in einer Winzerei aufgewachsen. Seit seinen Jugendalter war er Alkoholiker. Als er Ka-san kennengelernte, stellte sie ihm vor die Wahl: Der Alkohol oder sie. Er hatte sich für sie entschieden und einen Entzug gemacht. Für sie war dies der größte Liebesbeweis, den er ihr bringen konnte…” Leicht stolperte, ehe er die letzten Stufen nach oben erklommen hatte. Klammerte sich erschrocken am Treppengeländer fest, um nicht den Halt zu verlieren. Hektisch suchte er in seinen Jackentaschen nach seinen Schlüssel. In der Hoffnung, diesen unterwegs nirgendwo verloren zu haben. Zitternd umklammerte er das gefundene Stück Metall und versuchte es in das Schloss zu stecken. Vor Aufregung rutschte er immer wieder ab und zerkratzte damit das Türschloss. “Wissen sie… Temari sieht unserer Ka-san sehr ähnlich. Vor allem wenn sie ihre Haare offen trägt. Und Gaara…” Mit einem Ruck versenkte sich der Schlüssel im Schloss. Erschrocken sackte er nach vorne. Drückte sich mit der einen Hand vom Holz ab, um wieder Abstand zu gewinnen. Sofort drehte er den Schlüssel nach rechts. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. Sachte drückte er gegen das Holz. In der Wohnung herrschte Stille. Es war ihm im ersten Moment zu ruhig. Viel zu ruhig. Angespannt blieb er einen Moment stehen. Die Arme zitternd an den Seiten hängend. Seine Hände zu Fäusten geballt. Leicht kaute er auf seine Unterlippe herum. Zweifel überfielen ihn. So wie schon einige Male davor auch. Machte er jetzt wirklich das Richtige? War es wirklich das Wahre? Im Moment fühlte er in sich wieder den Drang wegzulaufen. Die Augen zu verschließen und nichts mehr zu sehen. Die Ohren zu zuhalten und nichts mehr hören. Ein Zitternd brachte seine Schultern zum Beben. Zögerlich wollte er einen Schritt wieder zurück machen. Weg von dieser Hölle, die sich sein Leben nannte. Weg von seinen Geschwistern, denen er sowieso nicht mehr helfen konnte. Weg von seinen Vater, der ihm so viel Angst einjagte. Allein. - Nutzlos. - Feige. - Schwach. - Wertlos. - Leblos… Erschrocken zuckte er zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Sachte zu drückte. Ihm damit das Gefühl gab, dass er nicht allein war. Dass hinter ihm welche standen, die ihm helfen wollten. Die Temari und Gaara helfen wollten. Er war nicht allein. Hinter ihm war jemand, der ihm den Halt gab, den er in diesen Moment brauchte. Jemand, der für sie alle da war… “Gaara…” Hart schluckte er. Setzte zögerlich einen Schritt in die Wohnung. Dann einen Zweiten. Einen Dritten. Einen Vierten. Zitternd tastet er sich an der Wand entlang. Hatte Angst, dass er ansonsten den Halt verlieren würde. Immer näher kam er der Zimmertür seine Schwester. Er lauschte nach bekannten und so verhassten Geräuschen. Die Geräusche ihres Wimmern. Ihres Weinen. Er lauschte nach der verhassten Stimme seines Vaters. Nach der Stimme dieses Monstrums. “To-san hasst ihn. Er gibt ihm die Schuld, dass Ka-san so krank geworden ist. Er gibt vor allem ihm die Schuld, dass Ka-san gestorben ist und To-san allein gelassen hat…” Angst umfasst ihn, als er an der Tür seiner Schwester stand. Zum ersten Mal seit langer Zeit hörte er nicht ihr Wimmern oder Weinen. Dabei wäre es ein gutes Zeichen gewesen. Doch für ihn war es, als würden alle Alarmglocken läuten. War seine Schwester etwa…? Voller Panik klopfte er gegen die Türe seiner Schwester. Dumpf klangen seine Schläge gegen das Holz. Er getraute sich nicht die Zimmertür zu öffnen, aus Angst dahinter seine Befürchtungen zu sehen. Die Befürchtung, dass seine Schwester sich umgebracht oder gar ihr Vater den letzten Schritt gemacht hatte. Sekunden verstrichen. Doch für ihn kam es vor wie eine Ewigkeit. Energischer klopfte er weiter. War schon kurz vor dem Verzweifeln. Er wollte nach ihr Rufen. Ein leises Krächzen verließ seine Lippen. Ein Kloß in seinem Hals raubte ihm die Stimme und den Atem. Tief holte er Luft, schluckte diese hinunter. Mit pansicher Stimme rief er immer wieder den Namen seiner Schwester. Erst sehr leise und dünn. Doch dann immer lauter und fester. Jede Faser seines Körpers war von Angst erfüllt. “Temari! Temari! Bist du da drin? Temari!” Seine Unterlippe zitterte stark. Seine Hände schmerzten von den Schlägen gegen das Holz. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht, dass seine Schwester tot war. Es war alles seine Schuld wenn dem so wirklich war. Alles seine Schuld. Weitere Sekunden verstrichen. Das Pochen gegen die Tür wurde immer schwächer. Seine Hoffnung schwand immer mehr. Zitternd legte er seine Hand auf die Klinke, wollte diese runterdrücken, als sich die Tür von allein öffnete. Erschrocken schaute er in ihr Gesicht. Schaute ihr in die türkisen, glanzlosen Iriden. Bemerkte den roten Schimmer auf den blassen Wangen. Die zitternde Gestalt vor sich. Auch wenn der Anblick seiner Schwester miserabel war, so fiel ihm ein zweiter Stein von seinem Herzen. Und ein weiterer, als er ihre heisere, dünne Stimme hörte. “K-kankuro…” Zögerlich und mechanisch nickte er. Wollte ihr damit zeigen, dass er es wirklich war. Selbst wenn seine Schwester es gesehen haben musste. Mit Temari war alles in Ordnung. Es war alles in Ordnung. Ein trostloses Lächeln umspielte seine Lippen, ehe er sich hastig ab wandte. Tränen schossen ihn in die Augen. Sofort lief er in Richtung Badezimmer. So viele Geräusche brachen über ihn ein. Die dumpfen Schritte von ihm. Von Kakashi und Iruka. Das Plätschern von Wasser. Die leise, dünne Stimme seines Vaters. Er überbrückte die wenigen Schritte zwischen Temari ihren Zimmer und dem Bad. Doch was er sah, raubte ihm den Atem. Starr blieb er im Rahmen stehen. Krallte sich mit seiner rechten Hand in das Holz des Türrahmen. Tränen liefen über seine erhitzten Wangen. Erschrocken presste er die Hand gegen seinen Mund. Wusste nicht, was er machen sollte. Seine Knie zitterten. Ein unterdrücktes Schluchzen brachte seine Schultern zum Beben. Ein geschluckter Schrei hing in seiner Kehle. Seine Augen waren weit auf das Geschehen vor ihm gerichtet. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Wasser spritzte über den Wannenrand. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, dass er einen Arm seines Bruders sehen konnte. Ein Arm der immer weniger Widerstand leisten konnte. Der immer schwächer wurde. Der immer tiefer ins Wasser sank, um dort auf der Oberfläche zu treiben. Ein Gedanke zerfraß ihn: Gaara würde sterben. Gaara würde sterben! Das Plätschern des Wassers. Der verzweifelte Versuch seines Bruders sich zu befreien… Er wollte es nicht hören und sehen. Er wollte… Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Stieß ihn einen kleinen Schritt nach vorne. Er taumelte. Strauchelte zwei Schritte. Plötzlich löste sich die Starre. Sein Kopf war in diesen Moment wie leergefegt. Er reagierte nur noch aus Instinkt. Mit einem Ruck riss er seine Arme nach vorne und ergriff die Schultern ihres Vaters. Die Zeit lief weiter. Er war mittendrin. In der Realität. Adrenalin schoss durch seine Adern. „To-san, hör auf!“ Fest packte er die Arme ihres Vaters an, welcher sich wild schreiend befreien wollte. Welcher wild um sich schlug. Kankuro hatte Mühe ihn fest zu halten. Ihn zu bändigen. Ein Schlag traf in an der Wange. Kurz darauf pulsierte Schmerz durch dieser. Erschrocken erstarrte er, als ihn eine bittere Erkenntnis traf. Er würde es nicht schaffen. Er würde es nicht schaffen. Er würde… Im nächsten Moment bemerkte er nur noch, wie Kakashi und Iruka eingriffen. Wie die beiden Männer sich ihren Vater annahmen. Sein Griff lockerte sich. Sofort drehte er sich zur Wanne. Packte die schmalen, zerbrechlichen Schultern seines Bruders. Wasser plätscherte auf. Spitzte ihm ins Gesicht. Er bemerkte, wie sein Bruder sofort einen tiefen Atemzug nahm. Wie dieser nach Sauerstoff japste. Zitternd ließ er sich auf den Wannenrand sinken, ansonsten würde er gänzlich den Halt verlieren. Das Adrenalin war wie eine Rauchwolke verpufft. Jetzt erst bemerkte er selbst, wie angestrengt er keuchte. Wie schwer sein Atem war. Und wie er selbst tief ein- und ausgeatmet hatte, als er gesehen hatte, dass Gaara noch lebte. Sein kleiner, geliebter Bruder lebte. Er lebte noch! Ein lautes Husten zerriss die Stille, die über den Raum lag. Sofort beugte er sich über Gaara’s Gesicht. Wasserspuckend verkrampfte sich der andere ein wenig. Öffnete die Augenlider einen Spalt breit. Dünne, kleine Wasserbahnen liefen diesen über das Gesicht. Zitternd strich er seinen Bruder eine Haarsträhne aus der Stirn. Leicht lehnte er Gaara an den Wannenrand. Getraute sich nicht diesen grob anzupacken. Aus Angst der andere könnte unter seinen Fingern wie weißes Porzellan zerbrechen. Doch sein Bruder besaß nicht einmal mehr die Kraft gerade zu sitzen… Sofort streckte er seine Arme nach ihm aus. Umschlag damit sachte dessen Schultern. Gab ihn damit den nötigen Halt. Halt den er in den letzten Monaten nicht geschafft hatte zu geben. Halt, den er eigentlich selbst gebrauchen könnte. Doch Gaara brauchte ihn dringender. Gaara brauchte in diesen Moment ihn! Kankuro, seinen großen Bruder! Weitere Tränen liefen über seine geröteten Wangen. Er wurde gebraucht. Er war in diesen Augenblick nicht mehr der nutzlose Zuschauer. Der Vorhang war gefallen. Der letzte Akt gespielt. Seine Rolle als Zuschauer war nun endgültig vorbei… Sein Bruder taumelte leicht. Schloss die Augen wieder. Drohte bewusstlos zu werden. Sachte schlug er gegen dessen Wange. Wollte damit bezwecken, dass der Jüngere nicht wieder wegdriftete. Im Hintergrund hörte er die Schreie seines Vater. Die Stimmen von Kakashi und Iruka. Doch es interessierte ihn nicht. Es war ihm egal. Im Moment zählte nur dieser Augenblick. Ein Augenblick voller Geborgenheit und Wärme. Zittern schwebten seine Finger über Gaara’s Wange, ohne diese zu berühren. Heiße Tränen rannen seinen Bruder über die Wangen. Vermischten sich dort mit den kalten Wasser auf der Haut. Erschrocken zuckte er zusammen, als der Jüngere sein Gesicht in die Hände schlug. Als das erste Schluchzen über dessen Lippen kam. Träge beugte er sich tiefer dem Wasser entgegen. Packte seinen jüngeren Bruder kräftig unter dessen Arme, zerrte ihn aus den Wasser und über den Wannenrand. Müde sanken beide zu Boden. Sofort löste er einen Arm und angelte mit seiner bebenden Hand nach einigen großen Handtüchern. Weich fühlte sich der Stoff unter seinen kalten Fingerspitzen an. Hastig wickelte er seinen Bruder in mehrer Handtücher. Weitere Tränen liefen über ihre Wangen. Schwer schluckte er ein Schluchzen herunter. Seine Schultern bebten. Träge hob er den Blick an. Sah auf und entdeckte Temari im Türrahmen. Mit schnellen Schritten war sie auf beide zugelaufen. Ließ sich neben Gaara nieder und zog diesen sofort in eine feste Umarmung. Drückte diesen an ihre Brust. Als wollte sie diesen nicht mehr von sich lassen. Er verstand ihre Gefühle. Ihm erging es ebenfalls nichts anders… Sachte lehnte sich sein Bruder an seine Schwester. Seine beide Geschwister schluchzten herzzerreißend auf, sodass er selbst Mühe hatte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Kurz blickte er in die türkisen Iriden seiner Schwester, ehe diese die Augenlider senkte. Zitternd grub diese ihre Finger in das rote Haare. Küsste ihren jüngeren Bruder sanft auf den Kopf. Matt legte er seine Hand auf Gaara’s Schulter. Drückte sachte zu und wollte damit sagen, dass er für ihn da war. Dass er hier war. Dass er nicht alleine war. Zögernd hob sein Bruder den Kopf an. Beide sahen sich einen kurzen Moment in die Augen. Doch Kankuro zerriss es fast bei diesen Blick. Bei diesen glanzlosen und ausdruckslosen Augen. Mit kalten, bebenden Finger strich er dem anderen über die kühle Wange. Über die Stirn, ehe er sich sachte nach vorne beugte. Ehe er einen sanften Kuss auf die Stirn hauchte. Müde lehnte er seine Stirn gegen die des Jüngeren. „Gaara, alles wird gut. Alles wird wieder gut… Wir können hier weg. To-san kann uns dann nichts antun. Gaara, hörst du? Wir können von vorne anfangen. Ein neues Leben beginnen im Atarashii Semei. Iruka-San nimmt uns dann gleich mit…“ Seine Stimme zitterte. Bekam keinen festen Klang. Seine Hände verkrallte er in den Stoff seiner Jeanshose. Müde hob er seinen Kopf und lehnte sich an die Badewanne hinter sich. Sein Blick fiel auf Iruka, welcher mit einem warmen Lächeln im Türrahmen stand. Als wollte er dieses tränenreiche Wiedersehen nicht zerstören. Matt lächelte er zurück. Dankte damit stumm für dieses Verständnis und für die Hilfe. Träge schlossen sich seine Augenlider. Ein erschöpftes Seufzen verließ seine Lippen. Die Tränen wollten nicht aufhören. Flossen unermüdlich über seine Wangen. Atarashii Semei… Neues Leben… Sein Körper erbebte bei diesen Gedanken. Er zitterte so erbärmlich, dass man befürchten musste, Kankuro würde jeden Moment zusammenbrechen. Doch ein Gedanke erfasste Besitz von ihm: Es war vorbei… Das lange Hoffen. Das Sehnen. Das Zweifeln. Die Ängste. Die Lasten. Die Schmerzen. Es war endlich alles vorbei. Es war endlich vorbei… Kapitel 14: Die Puppenmaske [Teil 4] ------------------------------------ Als Vater mitgenommen wurde, hatte ich wirklich gedacht: “Endlich ist alles vorbei!”. Ich sollte mich erleichtert und erlöst fühlen. Doch je mehr ich meinen Geschwistern in die Augen sah, desto mehr wurde mir klar, dass den größten Fehler nicht unser Vater gemacht hatte. Den größten Fehler in der Familie hatte ich gemacht. Der Fehler, nie für meine Geschwister da gewesen zu sein. Während der Zeit im Atarashii Semei konnte ich nachdenken. Über meine Geschwister. Über Vater. Über mich. Doch egal, wie oft ich versuchte mich Temari und Gaara zu nähern. Welten lagen zwischen uns. Ich war kein Teil mehr von ihnen. Die Schuldgefühle in meinem Herzen waren unglaublich schwer und unerträglich. Sie zerrissen mein Inneres in zwei Stücke. Ich hatte schon viel zu lange gekämpft. Ich konnte einfach nicht mehr. Wie eine Marionette, deren Fäden gerissen waren… Die Puppenmaske [Teil 4] 28. Dezember 2009 “Onee-chan…” Dünn kamen die Worte über seine Lippen. Hatte er doch selbst kaum Schlaf in dieser Nacht gehabt. Und nun saß er wieder hier. Neben ihr auf ihrem Bett. Die Matratze sank ein Stück, als er sich tiefer in das Laken sinken ließ. Leicht streckte er seine rechte Hand nach ihr aus. Zögerte mitten in der Bewegung. Das Fenster in ihrem Zimmer war sperrangelweit offen. Seine Hand zitterte. Vor Kälte und Angst. Angst, ihr zu nahe zu kommen. Angst, seine Schwester zu berühren. Angst, dass sie ihn erneut zurückweisen würde. Angst, dass er erneut eine tiefe Narbe in ihr aufriss… “Onee-chan…” Seine Schwester reagierte nicht. Zitternd saß Temari in ihrem Bett. Die Arme um die Knie geschlungen. Ihre bebenden Finger krallten sich in den Jeansstoff ihrer Hose. Es war noch mitten in der Nacht. Draußen war es noch dunkel. Nur schwach schien der Halbmond ins Zimmer. Müde griff Kankuro zu seiner Armbanduhr und versuchte im schwachen Mondenschein zu erkennen, wie spät es war. Die Uhrzeiger standen auf kurz nach halb drei. Ein tonloses Seufzen verließ seine Lippen. Sachte legte er seine Hand auf ihre Schulter, woraufhin Temari erschrocken zusammenzuckte und sich wimmernd mehr zusammenkauerte. Sofort nahm er die Hand wieder runter. Biss sich auf die Unterlippe und drehte sein Gesicht weg. Leicht kniff er die Augen zusammen. Ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte geahnt, dass sie ihn zurückweisen würde. Er hatte geahnt, dass seine Berührung ihr Angst machen würde. Er hatte es geahnt und dennoch hatte er dem Drang nachgegeben, sie zu berühren. Mit dem Ergebnis, dass er eine ihrer seelischen Narben aufriss… Zitternd stellte er sich auf. Blieb einen Moment neben ihren Bett stehen, ehe er sich umwandte. Mit langsamen Schritten ging er zur Zimmertür, öffnete diese und verharrte einen Moment im Rahmen. Den Blick zu Boden gerichtet. Die Hände weiter zu Fäusten geballt. “Ich hol die Nachtschwester, in Ordnung?” Kankuro wusste, dass er keine Antwort bekommen würde, weswegen er gleich nach seinen Worten das Zimmer verließ. Fast lautlos schloss er die Tür hinter sich. Schwer lehnte sich sein Körper gegen das Holz. Seine Knie zitterten. Er hatte schon die Befürchtung, dass er hier gleich zusammenbrach. Unter den Lasten auf seinen Schultern. Unter diesen unerträglichen Schuldgefühlen. Bebend hob er seine linke Hand an. Vergrub sein Gesicht in dieser. Krallte die Fingernägel in Stirn und Wange. So sehr, dass es schmerzte. So sehr, dass Abdrücke zurückbleiben würden. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Er schaffte es nicht mehr. Was war dies für ein Leben, das er da lebte? Voller Lügen? Voller Masken? Voller Schuldgefühle? Was war dies für ein Leben? Am liebsten würde er sterben. Nie wieder die Augen öffnen. Blind, taub und stumm sein. Allem ein Ende setzen. Wie viel musste er noch sehen? Wie viel musste er noch hören? Wie lang musste er noch schweigen? Er war am Ende. Am Ende mit sich selbst. Am Ende mit allem… ‘ Verstehst du mich? Das stumme Schreien? Ich würd’ mich gerne von allem befreien. ‘ ~*~*~*~ Leise Stimmen waren zu hören. Im Hintergrund lief ruhig und fast lautlos die Musik von Wellengeräuschen aus einem CD-Spieler. Schritte waren zu hören. Das Öffnen der Türe, wenn jemanden hereinkam oder hinausging. Das Rascheln von Stoff, wenn sich jemand bewegte. Das Treiben auf dem Gang. Die Stimmen von draußen. Stimmen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Von Mädchen und Jungen. Frauen und Männern. Leicht lehnte er sich gegen den Fensterrahmen. Müde den Kopf gegen das kalte, feuchte Glas gepresst, an dem sich der Morgentau abgesetzt hatte. Die Lider waren ein wenig gesenkt. Ein Schatten legte sich über seine Iriden. Er sah nach draußen. Sah in den verschneiten Dezembermorgen. Leise rieselte der Schnee vom Himmel. Malte kleine Kristallbilder an die Scheibe. Bedeckte die Landschaft draußen mit seinem Weiß. Legte sich auf den kahlen Ästen der Baumkronen ab. Rein und unschuldig sah es aus. Seine Arme hatte er erschöpft vor der Brust verschränkt. In seinem Kopf war alles leer. Leer und leblos. Sinnlos. Wertlos. Er kam sich noch vor, als wäre er auf einem Horrortrip. Dabei war sein letzter vor vier Wochen gewesen. Seine Glieder waren steif. Seine Muskeln verkrampft. Seine Finger zitterten. Kankuro sah mager und blass aus. Auf seiner Unterlippe war eine dünne Blutkruste zu sehen. In den letzten Tage hatte er sich diese immer wieder von Neuem aufgebissen und wundgeleckt. Er war dem Tod entkommen. Mal wieder entkommen… Vor fast vier Wochen hatte er wirklich noch gedacht, er würde sterben. Eiskalt an den Folgen seiner Dummheit. Seiner Blindheit. Seiner Torheit. Als man ihm die Chance gegeben hatte, einen kalten Entzug zu machen, um von den Drogen und dem Alkohol wieder herunterzukommen, hätte er nicht gedacht, dass er einmal zur Hölle ging und lebend wieder zurückkam. Diese Wochen hatte er auf einer gesonderten Station verbracht. Abseits von allen. Weg von seinen Geschwistern. Es war wirklich der Horror gewesen. Für seinen Körper, sowie für seinen Geist. Zwischen Krämpfen, Fieberanfällen oder Schüttelfrost, Übelkeit und Durchfall. Halluzinationen, Schlafstörungen und Aggressionen. Er hatte Schmerzen gehabt. So unendliche Schmerzen. Schmerzen, die heute noch seinen Körper zerrissen. Seinen Körper und seine Seele… Doch trotz der Tatsache, dass er einen Entzug gemacht hatte, war alles wie immer. Selbst noch Wochen danach. Seine Schuldgefühle waren immer noch da. Tief in ihm vergraben. Im Herzen verankert. Er war dem Tod entkommen. Dem Alkohol. Den Drogen. Seinem Vater. Dem Schweigen. Dem Schauspiel zu Hause. Seinem alten Leben. Doch geändert hatte dies alles nichts. Nichts hatte sich geändert. Er war immer noch müde. Müde vom Leben. Müde vom Zuschauen. Müde von sich selbst. Er hatte oftmals wirklich das Gefühl, dass er sterben würde. Und oftmals hatte er es sich gewünscht, dass er wirklich tot war… ‘ “Ich will sterben…“, sagt die Hoffnung. “Du bist schon tot”, sagt die Vernunft. ‘ Träge lehnte er sich mehr gegen den Fensterrahmen. Sein Becken drückte sich dabei an die Heizung. Warm war es hier. Warm und angenehm. Die Heizkörper waren angestellt. Eine positive Atmosphäre lag in der Luft. Dennoch… Leicht hob er den Kopf an. Langsam und träge. Er war so unglaublich müde vom Leben. Zitternd öffnete er seine Augen ganz, ehe er sich umschaute. Es saßen nicht viele hier im Gemeinschaftsraum. Einige waren zur Morgenschule gegangen. Wenige waren in den Essenräumen. Viele verbrachten den Vormittag allein in ihren Zimmern. Sein Blick blieb an einer gelb gestrichenen Wand hängen. Gezeichnete Bilder klebten an dieser. Bilder von noch jüngeren Kindern, die hier in diesem Heim, in dieser Heilanstalt, Zuflucht und Hilfe gefunden hatten. Kankuro wusste nicht mehr genau, aber er hatte gehört, dass der jüngste Patient in diesem Haus fast sieben Jahre alt sein sollte. Sieben Jahre und schon so kaputt vom Leben… Lautlos seufzte er, ehe sein Blick an der Sitzecke hängen blieb. Ein mattes Lächeln umspielte seine Lippen, das aber sofort wieder verblasste. Auf einem der Sitzkissen saß Gaara. Die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf müde auf die angezogenen Knie gebettet. In den Ohren steckte dessen linker Kopfhörer. Von der Entfernung konnte Kankuro kaum erkennen, wohin das schwarze Kabel des rechten Hörers hinführte. Doch er war sich fast sicher, dass dieser andere Junge ihn erneut im Ohr stecken hatte. Leicht schweifte sein Blick zu der zweiten Person auf den Sitzkissen. Neben Gaara saß noch ein weiterer Junge. Das schwarze Haar war zu einer Topffrisur geschnitten. Die Ohren mit Ringen und Piercings übersäht. Um den Hals hing ein Nietenband. Die Arme waren in Bandagen gehüllt. Der Körper in schwarzer Kleidung verhüllt. Träge lehnte dieser neben seinem Bruder in den Sitzkissen. Hatte die Augen geschlossen. In der rechten Augenbraue war ebenfalls ein kleines Piercing. Müde stemmte er sich vom Fensterbrett ab. Mit langsamen Schritten lief er über den warmen Laminatboden. Jeder Schritt seiner nackten Füßen verursachte ein dumpfes Geräusch. Schritt für Schritt. Zentimeter für Zentimeter. Fast lautlos blieb er mitten im Raum stehen. Starrte auf die grau gesprenkelten Punkte des Laminates. Wusste nicht wirklich, wohin mit sich. Was sollte er machen? Wohin sollte er? Wo war sein Platz? Auch wenn er hier schon einige Wochen nach seinem Entzug verbracht hatte, so hatte es Kankuro noch nicht geschafft einen eigenen Platz zu finden. Er fühlte sich einsam. - Er fühlte sich leer. Er fühlte sich hilflos. - Er fühlte sich überflüssig. Er fühlte sich wie tot… ‘ Lebe ich, weil ich atme? Weil ich laufe? Doch ich fühl mich tot, wenn ich verschnaufe. ‘ Mit trägen Schritten lief er weiter. Den Kopf zu Boden gesenkt. Die Arme regungslos an den Seiten hängend. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sein Gang steif. Seine Schritte unsicher. Ziellos wanderte er einen Moment noch durch das Zimmer. Hob zitternd seinen rechten Arm und strich mit den Fingerspitzen über Tische, über Stuhllehnen. Über Schränke und Wände, ehe er sich hastig umwandte. Sein braunes Haar wirbelte dabei nach hinten. Einzelne Strähnen tanzten im Wind. Sein Gang wurde fester. Die Schritte sicherer. Sein Ziel war die kleine Sitzecke, wo sein Bruder saß. Zusammengekauert und so zerbrechlich. Zitternd streckte er seine Hand aus. Wollte durch das rote Haar streichen. Wollte über die blasse Stirn und Wange streicheln. Über das eingefallene Gesicht. Die geschundenen Hände. Den zierlichen Leib. Er hielt inne. Verharrte in dieser Position. Seine Fingerspitzen berührten schon fast die roten Haarsträhnen. Doch hatte er ein Recht dazu? Nachdem er nie für seine Geschwister da gewesen war? Hatte er das Recht dazu, seinen Bruder in den Arm zu nehmen? Ihn zu trösten? Jetzt, nachdem alles vorbei war? Jetzt, nachdem Gaara so kaputt war? Jetzt, wo es schon zu spät war? Hatte er noch das Recht, als sein Bruder zu handeln? So zu handeln, wie er es vor Monaten hätte machen sollen? Seine schwarzen Iriden stierten ausdruckslos auf den roten Schopf. Hart schluckte er, als er Gaara so sah. So zusammengesunken und fertig mit allem. Und er war schuld daran… Er war gottverdammt schuld daran! Tief fraßen sich diese Gefühle in sein Herz, sodass sich schon Ketten um dieses schlangen. Harte, eiserne Ketten. Ketten, die nur der Tod lösen könnte… Wäre er nur mehr für seine Geschwister dagewesen. Was für ein Bruder war er? Ein Bruder, der stumm zugesehen hatte. Ein Bruder, der regungslos am Rand gestanden hatte. Ein Bruder, der kaum zu Hause gewesen war, wenn Vater unberechenbar wurde. Ein Bruder, der nur an sich allein gedacht hatte. Ein Bruder, der die ganze Familie zerrissen hatte. Ein Bruder, der nie für die anderen da gewesen war… Ja, dies war er. Ein Bruder, der es nicht verdient hatte, ihr Bruder zu sein… ‘ Schuld haben nur die, die es sich selbst eingestehen… ‘ Die Sehnsucht in seinem Inneren war groß. Doch rührte er sich nicht. Wie gerne würde er seinen Bruder berühren? Ihm einmal durch das Haar streichen? Ihn an seine Brust drücken? Sein Gesicht in dessen Halsbeuge vergraben? Damit alles vergessen, was zwischen ihnen stand? Er streckte seine Hand weiter aus. Spürte unter den Fingerspitzen schon vereinzelte Strähnen, welche seine Haut neckisch kitzelten. Nur ein bisschen. Nicht mehr viel und seine Hand würde seinen Bruder berühren… “Kankuro, kommst du? Iruka-san wartet.” Erschrocken zuckte er zusammen. Seine Hand immer noch zitternd über das rote Haar haltend. Was sollte er machen? Schnell wenigstens einmal darüberstreichen? Oder es sein lassen? Er wusste es nicht. Was würde passieren, wenn er einmal durch dieses rote Haar fahren würde? Würde Gaara es dulden? Oder würde dieser sich wegdrehen? Leicht biss er sich auf seine raue, aufgeplatzte Unterlippe. Kaute nervös auf dieser herum. Was wäre… Was würde… Starr blieb er immer noch an derselben Stelle stehen. Flehte regelrecht danach, dass sein kleiner Bruder den Kopf hob. Ihn anhob und damit zeigte, dass er ein Recht dazu hatte. Ein Recht dazu, durch das rote Haar zu streichen. Ein Recht dazu… Erschrocken zuckte er zusammen. Zögerlich nahm er die Hand zurück. Ballte sie zu einer Faust und legte sie auf seine Brust. Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen. Er hatte kein Recht dazu. Nein, er selbst hatte es nicht… Nicht, nachdem er so vieles kaputt gehen lassen hatte. Nicht, nachdem er nie für seine Geschwister da gewesen war. Nicht, nachdem er sie alleine ihre Wege gehen lassen hatte. Nicht, nachdem er sie so im Stich gelassen hatte. Es war seine Strafe. Seine Strafe, die er sich selbst aufgebürdet hatte. Seine eigene Strafe, die er sich selbst erteilt hatte und ertragen würde. Er hatte kein Recht mehr dazu… Müde öffnete er seine Lider. Schaute noch einmal auf seinen Bruder, welcher sich nicht einen Zentimeter bewegt hatte. Träge wandte er sich ab. Lief mit langsamen Schritten durch das Zimmer. Der Boden fühlte sich kalt unter seinen nackten Füßen an. Kalt und unangenehm. An der Tür begrüßte ihn eine ältere Dame. Dieselbe Frau, die ihn eben gerufen hatte. Hastig schlüpfte er in seine warmen Pantoffeln. Hob seinen Kopf und sah in das lächelnde Gesicht der Älteren. Dieses Lächeln hatte er nicht verdient. Nicht er, der so zerfressen von seinen Lasten und Schuldgefühlen war. Nicht er, der seine eigenen Geschwister allein in eine seelische Leere treiben lassen hatte… Kurz drehte er sich noch einmal herum. Schaute auf die zusammengesunkene Gestalt seines Bruders, die immer noch keine Regung zeigte. Welche immer noch starr an ihrem Platz saß. Wie eine seiner alten Marionetten. Wie eine Puppe. Sofort wandte er den Blick ab. Biss sich erneut und fester auf seine Unterlippe, sodass diese wieder mit Bluten begann. Er schmeckte den metallischen Geschmack auf seinen Lippen. Auf seiner Zunge. Doch es war egal. Alles war egal. Er konnte nicht mehr. Wollte nicht mehr. Schaffte nicht mehr. Mit müden Schritten verließ er das Zimmer. Lief langsam die trostlosen, fast leeren Gang entlang. Die Tür fiel hinter ihm schwer ins Schloss. Heute für ihn zum letzten Mal. Und für die vielen möglichen Male danach ebenfalls… ‘ Ich lebe, ich bin stark… - denkt ihr! - Doch komm mir vor, wie ein eingesperrtes Tier… ‘ ~*~*~*~ Kurz hob Gaara seinen Kopf an. Rote Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn und verdeckten die Sicht auf seine türkisen Iriden. Ausdruckslos schaute er seinem Bruder nach, welcher eben den Gemeinschaftsraum verlassen hatte. Ein lautloses Seufzen verließ seine Lippen. Sein Blick fiel auf seine Knie. Ruhig lagen seine Fäuste auf diesen. Zitternd öffnete er die linke Hand. Schaute auf das schwarze Display seines MP3-Players. Träge drückte er einen der Knöpfe. Im grellen Blau erstrahlte das Display. Zeigte damit das im Moment laufende Lied an. Erneut eines von the GazettE. Abwesend spielte er mit dem Lautstärkeregler herum. Drehte dadurch die Lautstärker auf das maximale Volumen hoch. Erschrocken zuckte er zusammen, als von einem ruhigen Rhythmus zu einem extrem lauten gewechselt wurde. Laut war das Schlagzeug zu hören. Parallel dazu die E-Gitarre des Gitarristen. The invisible wall… Kodoku zouo shitto fuan, kyomu ni saita muhyoujou naniyorimo omoi, sanjou oou fujouri ni omoeta warau aozora. In the maze without an end… Ayamachi ni obore. In the maze without an end… Why do you still breathe? Sorrow made you, in the bottom of the dark side. Sorrow made you… Tsugunai tsuzuke and die…. [Der blaue Himmel, der absurd erschien, verbirgt ein schreckliches Spektakel. In dem Labyrinth ohne Ende... In unseren Fehlern ertrinkend. In dem Labyrinth ohne Ende... Warum atmest du noch? Trauer hat dich geschaffen, am Grunde des dunklen Meeres. Trauer hat dich geschaffen… Mach es wieder gut und stirb…] ‘ Trauer hat dich erschaffen… ’ - So unendliche Trauer. So unendlicher Schmerz. Verkrampft ballte er seine linke Hand wieder zur Faust. Das Plastik des Players drückte sich in seine Handfläche. Er seufzte erneut und schloss seine türkisen Augen wieder. Legte den Kopf in den Nacken. Auf seinen Wangen war vor Wärme ein leichter Rotschimmer zu sehen. Im Hintergrund lief wieder laut der Beat des Schlagzeuges. Begleitet von den Saitenklängen der Gitarre. Er hörte die Stimmen der anderen in diesen Raum. Ihre Schritte. Ihre Bewegungen. Verschwommen und wie hinter einem dichten Nebel… “Warum, Nii-san…” Lautlos bewegten sich seine Lippen. Kein Ton entkam diesen, während er diesen einen Satz sagte. Kankuro… Warum hatte er ihm nicht über den Kopf gestreichelt? Warum hatte er ihm nicht über die Stirn gestrichen? Ihn nicht berührt? Auch wenn er es nicht sehen konnte, da sein Kopf auf seinen Knien geruht hatte… Er hatte es spüren können! Er hatte es gespürt, dass eine Hand nach ihm ausgestreckt war. Ihn berühren wollte. Er hatte es doch gewusst, dass sein älterer Bruder vor ihm gestanden hatte. Das Zittern der Hand hatte die Spitzen seiner roten Haarsträhnen berührt. Doch warum hatte Kankuro ihn dann nicht berührt? Warum nicht? Leicht kniff er die Augen fest zusammen. Sein Kopf schnellte wieder nach vorne. Drückte sich tief und verzweifelt in seine Knie. Jetzt, wo sie wieder ‘leben’ konnten. Jetzt, wo sie wieder ‘Familie’ sein konnten. Jetzt, wo sie ihren ‘Vater’ überlebt hatten. Jetzt, wo sie wieder zusammen waren. Warum fühlte es sich dann so an, als würden sie sich weiter entfernen als davor? Warum fühlte es sich an, als würden Welten zwischen ihnen liegen? Warum fühlte es sich so an, als wären sie keine Familie mehr… Sollte der ganze Kampf umsonst gewesen sein? Seine Schultern bebten leicht. Zitternd biss er sich auf seine Unterlippe. Lauschte weiter der Musik aus seinen Kopfhörern. Doch sie erreichte ihn nicht. Er verstand nicht ein einziges gesungenes Wort. Kein einziges. Dennoch beruhigte ihn die Musik etwas. Ein wenig. Sie war vertraut. Hatte er diese doch immer wieder gehört, wenn er allein war. Allein mit seinem Schmerz. Allein mit seiner Sehnsucht. Allein mit seinen Fragen. Allein… Einige Sekunden vergingen, ehe er erneut den Kopf anhob. Träge öffneten sich die Lider. Sein Blick ging wieder zu der Tür, wo vor kurzem sein Bruder das Zimmer verlassen hatte. Wieder schloss er die Augen. Legte mit einem leisen Seufzen den Kopf in den Nacken. Warum hatte Kankuro ihn nicht berührt? Aus Angst? Angst wovor? Gaara verstand nicht. Er verstand seinen Bruder nicht. Seinen geliebten, großen Bruder… Er hasste ihn nicht, doch verzeihen konnte er ihm ebenso nicht. Nicht, nachdem dieser Temari und ihn so allein gelassen hatte. Allein mit ihren Ängsten, Schmerzen und Lasten. Er hasste ihn nicht, doch verzeihen konnte er ihm ebenso nicht. Noch nicht… Seine Schultern senkten sich, als er sich tiefer in das Sitzkissen sinken ließ. Sein Körper fühlte sich steif an, als er seine Arme von seinen Knien löste. Als er versuchte, seine Beine auszustrecken. Wie lange saß er schon hier? Verkrampft und müde in ein und derselben Haltung? Er wusste es nicht. Hatte schon längst jegliches Zeitgefühl verloren. Es war erschreckend. So unglaublich erschreckend. Seit einiger Zeit lebte er mit dem Gedanken, dass alles vorbei war. Er konnte es noch nicht glauben. Es nicht begreifen. Es nicht fassen. Doch es war vorbei. Sein Vater war fort. Er konnte ihn nicht mehr schlagen. Ihn nicht mehr demütigen. Ihn nicht mehr versuchen zu töten. Er war frei. Frei und schwerelos. Aber dennoch fühlte er sich so nicht an. Denn alles andere war geblieben. Die Ängste. Die Schmerzen. Die Sehnsucht. Die Gefühle in seinem Inneren. Die Lasten. Die Narben auf seinem Körper. Auf seiner Seele. Alles war geblieben… Wie lange würden die Spuren der Zeit ihn zeichnen? Wie viele Monate oder gar Jahre? “Hey, Alter! Dein Bruder ist schon wieder weg, ne?” Erschrocken zuckte er zusammen. Öffnete seine ausdruckslosen Augen wieder und drehte den Kopf müde zur Seite. Verwirrt blinzelte er. Erneut trafen sich die schwarzen Iriden mit seinen Türkisen. Wie damals, als sie sich auf dem Schulhof getroffen hatten. Wie damals, als beide nebeneinander auf der Bank gesessen und sich unterhalten hatten. Wie damals, als dieser Junge neben ihm so schnell und leichtfüßig die Mauer zwischen der Mittel- und der Oberstufe erklommen hatte. Er hatte ihn bei ihrem ersten Auftreffen in Atarashi Semeii sofort erkannt. Der schwarzhaarige Junge ihn aber ebenfalls. Der andere lehnte sich leicht an ihn. Drückte sich sachte gegen seine Schulter, was ihm ein Murren über die Lippen brachte. Das schwarze Haar kitzelte seine Wange. Seine Nasenspitze. Leicht rümpfte er diese. Mit sanftem Druck presste er seine Hände gegen den Kopf des anderen. Wieder ließ er sich tiefer in das Sitzkissen sinken. Zog erneut seine Beine an. Auf seinen Knien legte er seinen MP3-Player ab. Das Display war schon wieder schwarz, weswegen er wieder wahllos einen der Knöpfe drückte. Dabei wollte er nicht einmal wissen, welches Lied gerade lief. Leicht wirbelte er das Kabel seines Kopfhörers um seinen Finger. Ein leichter Zug war am Kabel zu spüren. Und es dauerte schon nicht mehr lange, da lag erneut der Kopf des anderen an seiner Schulter. Und erneut drückte er diesen leicht und voller Geduld zur Seite. Jeden Tag dasselbe Spiel, aber keiner der beiden wurde müde davon. “Hey! Hey! Machste noch mal diesen Beat an?” “Hm…” Flink glitt sein Finger über die einzelnen Playertasten. Es dauerte auch nicht lange, da begann erneut das Lied, was sie eben gehört hatten. Erneut derselbe Rhythmus. Erneut derselbe Text. Erneut derselbe Beat. Erneut dieselbe Melodie. Gaara schloss seine Augen und neigte seinen Kopf zur Seite. Leicht berührte seine Stirn das schwarze Haar seines Nebenmannes. Sein eigenes, rotes Haar kitzelte sanft die Stirn des anderen. Es war beruhigend zu wissen, dass jemand neben ihm saß. Jemand, der ihn nicht verletzen wollte. Ihm reichte es schon, wenn er wen zum Musikhören hatte. Mehr wollte und brauchte er in diesem Moment nicht. Einfach nur das Gefühl, nicht allein zu sein. Selbst wenn der andere oftmals ein wenig über die Stränge schlug oder laut war. Doch hier im Atarashii Semei waren sie alle gleich. Kaputt, müde und ausgebrannt vom Leben… Laut hallte die Musik in seinem Ohr wider. Riss ihn wieder in ihren Wellen mit. Riss ihn wieder in tiefe Ruhe. In tiefe Geborgenheit. Wie jedes Mal… ~*~*~*~ 29. Dezember 2009 Einzelne Wolken verdeckten den Himmel. Schwach schien der Mond in ihr Zimmer. Tauchte dieses in ein dunkles Blau. Der Wind bewegte einige Äste vor dem Fenster. Malte durch das Licht von draußen unheimliche Schatten an die Wände und Decke. Der Digitalwecker auf dem Nachtschrank zeigte drei Uhr morgens an. Es war unglaublich kalt im Raum. Die Heizung war ausgeschaltet. Seine Decke vor Stunden von seinen Schultern gefallen. Sein Körper steif von der Regungslosigkeit der letzten Stunden. Steif vor Kälte. Träge hatte er den Kopf an die kalte, kahle Wand hinter sich gelehnt. Sein Blick ging nach draußen. Draußen aus dem vergitterten, verschmutzten Fenster. Er betrachtete den Schnee. Er betrachtete den Himmel. Er betrachtete die kahlen Äste der Bäume auf der anderen Seite des Glases. Auf der anderen Seite des Gitters. Doch er sah nichts. Er betrachtete zwar die Landschaft draußen, die Schönheit der Nacht. Doch er sah nichts. Seine Sicht war verschwommen. Seine Augen fast wie blind. Er konnte und wollte nichts mehr sehen… Zitternd saß er hier auf seinem Bett. Die Finger tief in den Stoff seiner schwarzen Jogginghose verkrallt. Müde wandte er seinen ausdruckslosen Blick wieder vom Fenster ab und richtete ihn zu Boden. Betrachtete nun das dunkle Laminat. Schwach schien Licht unter der Türritze hindurch. Draußen vom Gang hörte er die dumpfen Schritte der Nachtschwester, welche zur Kontrolle über die Gänge lief. Draußen hinter dem vergitterten Fenster nahm er das Rauschen des Windes wahr. Er lauschte dem Atem seiner Geschwister. Seine Geschwister, die so ruhig schliefen. Ruhig gestellt mit Schlaftabletten und Beruhigungsmittel. Doch er hörte nichts. Alles wie in Watte verpackt. Seine Ohren fast wie taub. Er konnte und wollte nichts mehr hören… Leicht lockerte er seinen Griff aus dem Hosenstoff. Legte seine Hände mit gespreizten Finger auf die Oberschenkel. Seine Unterlippe zitterte, doch biss er sich dieses Mal nicht darauf. Niemand würde es sehen. Nicht in diesem Moment. Nicht in diesem Augenblick, wo er sich so unendlich allein fühlte. So unendlich einsam. Obwohl seine Geschwister bei ihm waren. Obwohl sie ihm so nah waren. So kam es ihm immer wieder vor, als würden Welten sie trennen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dabei gab es so vieles, was er ihnen erzählen wollte. Was er ihnen sagen wollte. Was er sie fragen wollte. Doch er schwieg. Sein Mund fast wie stumm… Er konnte und wollte nichts mehr sagen… Sein Blick glitt zum Bett seiner Schwester. Er betrachtete ihren Rücken, der ihm zugewandt war. Die schmalen Schultern und den blassen Hals, der seicht vom Mondlicht angestrahlt wurde. Träge stemmte er seine Hände in die Laken. Drückte seinen müden Körper nach oben. Seine Gelenke knackten aufgrund der langen Regungslosigkeit. Erschöpft schob er seine Beine zur Bettkante. Stellte die nackten Füße auf das kalte Laminat. Starr blieb er sitzen. Stierte zu Boden. Seine Augen hatten sich schon lange an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt. Ein wenig steif stand er auf. Taumelte einen kurzen Moment, bevor er einen sicheren Stand bekam. Mit langsamen Schritten lief er zu dem Bett seiner Schwester. Blieb regungslos vor diesem stehen. Die Decke war von Temaris Schultern gerutscht. Entblößte damit ihren Nacken. Enthüllte damit ihr T-Shirt, welches ihren Oberkörper verdeckte. Zitternd streckte er seine Hände aus. Ergriff den Stoff der Bettdecke. Einen Moment verharrte er in dieser Stellung, ehe er langsam die Zudecke wieder über sie legte. Seine Hand schwebte über ihre Wange. Strich über diese, ohne dass seine Fingerspitzen die Haut berührten. Erschrocken zuckte er zurück. Drückte seine Hand gegen seine Brust, ehe er diese dort zu Faust ballte. Verzweifelt kniff er seine Augen zusammen. Fest biss er sich auf seine Unterlippe, kaute auf dieser herum, um einen verzweifelten Schrei zu unterdrücken. Seine Beine zitterten. Seine Knie fühlten sich weich an. Konnten kaum die Last seines Körpers tragen. Er sackte ein wenig zusammen. Schüttelte leicht den Kopf. Nein… Er durfte es nicht. Es war seine eigene Strafe. Er hatte kein Recht mehr dazu. Kein Recht, seine Geschwister zu berühren. Es war sinnlos. Es würde alles kaputt machen, was er vorhatte. Es würde alles verhindern, was er machen wollte… Er konnte und wollte nicht mehr… Mit einem leisen Geräusch wurde die Zimmertür geöffnet. Erschrocken riss er seine Augen auf und zuckte zusammen. Abrupt wandte er sich herum. Im Rahmen stand die heutige, noch sehr junge Nachtschwester, seicht beschienen vom Lichtschein aus dem Gang. Das Licht blendete ihn, weswegen er seine Augen leicht zusammenkniff und sich die Hand vor das Gesicht hielt. “Kankuro? Kannst du nicht schlafen?” Ekelhaft freundlich klang ihre Stimme. Leicht nickte er zu ihrer Frage, ehe er ein schwach gehauchtes “Ja…” über die Lippen bekam. Schritte näherten sich ihm. Er hörte, wie ihre Absätze auf dem Boden aufsetzten. Bei jedem Schritt. Plötzlich legte sich eine warme Hand auf seine Wange. Strich zärtlich über seine Haut. Dies hatte er nicht verdient. Nicht er… Er seufzte lautlos auf und schob ein wenig ihre Hand zur Seite. Doch das freundliche Lächeln verschwand nicht. “Möchtest du gerne einen Tee? Dann koche ich dir einen vorne im Schwesterzimmer. Du kannst dich auch gerne mit nach vorne setzen.” Erneut nickte er. Schaute der Frau nach, die schon daran war, dass Zimmer zu verlassen. Er selbst stand noch im Raum. Die Arme regungslos an den Seiten hängen. Den Blick zu Boden gerichtet. Träge hob er diesen wieder an. Schaute nun auf das Bett seines Bruders. Langsamen Schrittes lief er zu diesem. Beugte sich leicht darüber. Nur schemenhaft erkannte er das junge Antlitz Gaaras. Hörte leise die laute Musik aus den Kopfhörern. Hart ballte er seine Hände zu Fäusten. Rammte tief die Nägel in die Haut. Er hatte kein Recht dazu. Nicht mehr… Nein… Nicht mehr… Mit einem Ruck richtet er sich wieder auf und verließ den Raum. Zum letzten Mal… ~*~*~*~ Warm war es im Raum. Die Heizung lief auf Hochtouren. Zusammengesunken saß er hier auf dem harten Holzstuhl. Die Arme müde auf der Tischplatte ruhend. In seinen Händen hielt er eine warme Tasse Tee. Leicht verfestigte er den Griff um diese. Den Blick auf die Nachtschwester gerichtet, welche eben alles vorbereitete, um jeden Moment mit der Inventur für den Medikamentenschrank zu beginnen. Wieder senkte er den Kopf und schloss seine Augen. “Und? Wieder alles gut?” Kurz zuckte er mit den Schultern. Wusste nicht, was er wirklich antworten sollte. War wirklich wieder alles in Ordnung? Eigentlich nichts. Nichts war in Ordnung. Alles war wie immer. Leer. Qualvoll. Schmerzhaft. Einsam. Sinnlos. Wertlos. Alles war wie immer… Trotzdem nickte er leicht. Ein trostloses Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Ein müdes Seufzen entfloh seiner Kehle. Langsam hob er die Tasse wieder an die Lippen und nahm erneut einen Schluck des warmen Getränkes. Heiß rann es seine Kehle hinab. Wärmte seinen Körper von innen heraus auf. Doch sein Herz war immer noch gefroren. Schmerzte verborgen hinter seiner Brust. Von niemandem gesehen. Von niemandem gehört. Von niemandem bemerkt… Leise klapperte ein Schlüsselbund, als die Nachtschwester den kleinen Medikamentenschrank öffnete. Schachteln wurden hin und her geschoben und Striche auf eine Liste gemacht. Er beobachtete die Frau, so wie er es früher auf der Straße immer gemacht hatte. So wie er früher immer die Leute auf den Bürgersteigen beobachtet hatte. Es hatte sich nichts geändert. Alles war wie immer. Nur war sein Körper ohne Gift vollgepumpt. Dieser war leer. Genau wie sein Herz… Sein Blick haftete nun an den Medikamenten im Schrank. Von der Entfernung aus konnte er kaum die Schriftzeichen auf den einzelnen Verpackungen lesen. Leicht kniff er die Augen zusammen, konzentrierte sich mehr, um eine bessere Sicht zu erhalten. Er konnte es ein wenig erkennen. Ein ganz klein wenig… Starr blieb er auf seinem Platz sitzen. Leicht schluckte er, als er den Schriftzug auf einer der Schachteln las. Schlaftabletten… Was würde passieren, wenn er an diese Tabletten herankäme? Wie wäre es, wenn man die Augen schloss? Vielleicht für immer? Einfach einschlafen und an nichts mehr denken? Nichts mehr fühlen. Nichts mehr sehen. Nichts mehr hören. Nichts mehr sagen. Ewiges Schweigen… Es wäre nicht das erste Mal, dass er mit den Gedanken ans Sterben gespielt hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er nach einer Möglichkeit zum Sterben gesucht hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er es versuchen würde. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass er daran scheitern würde… Ein lautes Scheppern und Klirren auf dem Gang ließ ihn zusammenfahren. Sofort wandte sich die Nachtschwester um, damit sie nachsehen konnte, aus welchem Zimmer der Krach herkam. Vergessen war die Inventur, ebenso wie die Medikamente, welche hätten gezählt werden sollen. Mit schnellen Schritten und dem begleitenden Klang ihrer Absatzschuhe war sie sofort aus dem Zimmer. Sein Blick ruhte weiter auf den Schlaftabletten. Sollte er…? Diese Tabletten waren die Lösung für all seine Probleme. Die Lösung für all seine Sorgen. Die Lösung für all sein Leid. Seinen Kummer. Seine Schuldgefühle… Er wusste, er konnte nicht. Nein, es war vielleicht kein Können, sondern eher ein Wollen. Schon seit vielen Tagen wusste er, dass er nicht mehr kämpfen wollte. Seit Monaten wusste er, dass er sterben wollte. Er floh vorm Leben. So wie er schon tausende Male davor geflohen war. Er war nicht stark genug, um zu leben. Doch schwach genug, um zu sterben… Zitternd stellte er seine Tasse auf den Tisch. Stemmte seine Handflächen auf die Platte. Seine Knie fühlten sich weich an, als er sich aufrichtete. Den Blick zu Boden gesenkt. Seine Kehle war trocken. Ein Kloß im Hals erschwerte ihm das Atmen. Immer wieder schluckte er hart. Wollte diesen Kloß herunterschlucken. Doch nichts half. Egal, wie oft er schluckte. Der Kloß verschwand nicht. Sollte er wirklich? Wenn nicht jetzt, wann dann? Würde er denn überhaupt noch einmal diese Chance erhalten? Schluckend wandte er sich dem Medikamentenschrank zu. Seine Schritte waren schwer. Klangen dumpf auf den weißen Fliesen des Schwesternzimmers. Er blieb vor diesem stehen. Fühlte sich an, als würde er jeden Moment unter diesem Druck zusammenbrechen. Ihm war schlecht. Ihm war schwindlig. Er hatte das Gefühl, als würde er sich jeden Augenblick übergeben. Mitten auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. Er schluckte hart. Würgte die Übelkeit herunter. Mit einem Ruck riss er seinen Arm noch vorne. Seine Finger umfassen unsicher eine der Schlafmittelverpackungen. Seine Hände zitterten erbärmlich und unaufhörlich. Es sollte aufhören. Alles sollte aufhören. Leicht kniff er die Augen zusammen, als er die Verpackung ungeschickt in die Tasche seiner schwarzen Jogginghose stopfte. Mit unsicheren Schritten taumelte er zurück zu seinem Sitzplatz. Müde ließ er sich auf den Stuhl sinken. Unangenehm drückte die Verpackung in seiner Tasche gegen sein Bein. Drückte sich tief in die Haut. Doch es war ihm egal. Ebenso, dass er soeben eine ganze Packung Medikamente gestohlen hatte. Es war egal… Es war nicht das erste Mal. Wie viele Male hatte er mitten auf den Straßen den Leuten das Geld oder die Drogen aus den Taschen gezogen? Viel zu oft. So oft, dass er schon längst den Überblick über alles verloren hatte. So oft, dass er es schon nicht mehr zählen konnte. Das Leben auf der Straße verlief oftmals nicht anders. Und er hatte viele Stunden, Tage und Wochen auf der Straße zugebracht… Ohne Liebe und Geborgenheit. Mitten auf der Straße. Ohne einen Ort, den man ‘Zuhause’ nennen konnte. ‘ Oftmals schätzt man Dinge erst, wenn man sie nicht mehr besitzt. ‘ Leicht legte er den Kopf in den Nacken. Leise lauschte er, als er die Schritte der Nachtschwester näher kommen hörte. Das Klackern der Absätze, wenn diese auf dem Boden aufschlugen. Gespielt neugierig drehte er den Kopf zu Seite, als die junge Frau wieder im Türrahmen stand. Mit einem verlegenden Lächeln auf den Lippen. Mit trägen Schritten lief sie wieder auf den Medikamentenschrank zu, um ihre Zählung fortzusetzen. “Verzeih, aber es gab einen kleinen Notfall.” Er nickte leicht, bevor seine Finger sich wieder um die warme Teetasse legten. Sie hatten aufgehört zu zitterten. Sie lagen ruhig an dem Porzellan. Träge hob er die Tasse an seine Lippen. Trank genüsslich die letzten Schlücke aus dieser, ehe er sie wieder auf dem Tisch abstellte. Seinen Blick hatte er starr vor sich gerichtet. Die linke Hand wanderte zu seiner Hosentasche. Legte sich von außen auf den Stoff, unter dem die Schachtel Tabletten verborgen war. Leicht drückte er fester gegen diese. Presste sie tiefer in seinen Oberschenkel. Sofort ließ er wieder von seiner Tasche und legte die Finger an die Tischkante. Er würde allem ein Ende setzen… ‘ Wenn der Geist nicht mehr kämpfen kann, kann es der Körper ebenfalls nicht. ‘ Träge stand er auf. Mit einem leisen Knarren schob er den Stuhl nach hinten. Seine Hände hatte er auf die Tischplatte gestemmt. Den Kopf zu Boden gesenkt, bemerkte er nicht einmal den Blick der Nachtschwester, der auf ihm ruhte. Müde hob er den Blick. Ein verlogenes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Erneut trug er seine Maske. Sein täuschendes Lächeln. Sein Lächeln, was ihm monatelang beim Überleben geholfen hatte. Heute würde er es zum letzten Mal tragen. Zum letzten Mal… “Ich werde wieder ins Bett gehen. Könnte ich da noch bitte ein Glas und eine Flasche Wasser bekommen?” “Ja, gerne.” ~*~*~*~ Müde saß er hier auf einem kleinen Sessel, welchen er dicht an das Fenster geschoben hatte. Neben ihm das noch volle Wasserglas. Verstreut am Boden vereinzelte Schlaftabletten. Eine fast leere Verpackung lag vor seinen Füßen. Sein Leib eingehüllt in seine Zudecke. Die Beine an den Körper herangezogen. Die Arme um die Knie geschlungen. Das Kinn auf diese gebettet. Seine schwarzen Iriden schauten nach draußen in den dunklen Morgen. Erneut hatte es mit Schneien begonnen. Kleine Schneekristalle bildeten sich an der kalten Scheibe. Träge lehnte er den Kopf gegen das kühle Glas. Seine Lider schlossen sich. Den Atem für einen Moment anhaltend… Umaku dekinu kokyu mo itsuka wasuretai, sou negaeru tsuyosa mo hikanabi sou de. [Ich bin unfähig zu atmen, ich will es eines Tages vergessen.] Leise atmete er wieder aus. Er war ruhig. Sehr ruhig. Ungewöhnlich ruhig. Es kam selten vor, dass sein Kopf frei war von Gedanken. Von Gefühlen. Von Schmerzen. Es war, als würde er jeden Moment mit allem abschließen. Mit allem, was ihn ausmachte. Mit allem, was ihm wichtig war. Mit allem, was ihn kaputt machte. Ihn kaputt gemacht hatte. Sein Kopf war leer. Sein Herz leicht. Die Last auf den Schultern wie verschwunden. Die Schuldgefühle gelöscht. Seine Gedanken ruhten… Karada ni karamaserareta Restraint. Even the mind seems to sleep. [Selbstbeherrschung umrankt meinen Körper. Selbst meine Gedanken scheinen zu schlafen.] Für einen kurzen Moment sah er das Bild von Gaara vor seinen Augen. Das mürrische Gesicht von ihm. Dessen naiver Blick, als dieser noch jünger war. Die schwarz ummalten Augen. Die türkisen Iriden. Er sah das rote Haar, welches immer zerzaust nach allen Richtungen abstand. Das kleine, rote Tattoo mit dem Schriftzeichen ‘Liebe’ an dessen Stirn. Er sah dieses kleine und doch so seltene Lächeln vor sich. Es hatte sich tief in seine Seele gebrannt. Dieses Lächeln, das so selten war. Das kaum die Züge des Jüngstens geziert hatte. Er hatte es geliebt. Von ganzen Herzen. Dieses kleine Lächeln, das oftmals für ihn bestimmt war. Es war ihm wichtig. Das Wichtigste mit in seinem Leben. Er würde es nie mehr sehen. Seine Augen würden blind sein… Anata ni utsuru watashi no me ga, anata wo miushinau hi ga kite mo. [Auch wenn ein Tag kommt, an dem meine Augen, welche in dir widergespiegelt sind, deinen Anblick verlieren.] Nun schlich sich das Bild seiner Schwester vor sein inneres Auge. Ihre laute, oftmals herrscherische Stimme. Ihre blonden Haare, die immer zu vier Zöpfen zusammengebunden waren. Ihre ebenfalls türkisen Iriden, die etwas dunkler waren, als die seines Bruders. Ein trostloses Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er an ihre Kochkünste dachte. Daran dachte, dass er ihre ersten Versuche oftmals mehr heruntergewürgt als gegessen hatte. Doch ihr zuliebe hatte er immer alles gegessen. Ihr zuliebe hatte er immer mit einem Lächeln auf den Lippen gesagt, dass sie von Mal zu Mal immer besser wurde. Selbst wenn es nicht immer der vollsten Wahrheit entsprach. Dennoch… Dass ihm danach geschenkte Lächeln war ihm alles wert gewesen. Selbst wenn er sogar das schlechte Essen von ihr essen musste. Er würde es nie mehr essen. Sein Körper würde tot sein… Hoho ni fureta netsu wa totemo natsukashiku yasashii. Mourou no hazama de mita kage danshoku no yume. [Die Wärme war so vertraut zärtlich, welche meine Seele berührte. Der Schatten, den ich in einer vernebelten Schlucht sah, ein Traum in warmen Tönen.] Ein tonloses Schluchzen entrann seiner Kehle. Er biss sich auf seine Unterlippe. Seine Schultern wurden durchgeschüttelt, als er ein weiteres Schluchzen herunterschluckte. Seine Arme zitterten. Seine Finger verkrallten sich in seiner schwarze Hose. Tief rammte er seine Nägel in seine Waden. Bebend öffnete er seine Augenlider wieder. Starrte mit ausdruckslosem Blick raus in die dunkle Nacht. Heiße, salzige Tränen rannen unbemerkt über seine Wangen. Liebkosten seine Haut. Nicht ein Schrei der Verzweiflung kam über seine Lippen. Schweigend blieb er hier sitzen. Alle noch zu sagenden Wörter blieben ungesagt. Er würde es nie mehr sagen. Sein Mund würde stumm sein… Kotoba mo wasure sou. Namida wa nagarete doko e iku no? [Es scheint so, als ob ich auch die Wörter vergesse. Meine Tränen fließen. Wohin verschwinden sie?] In diesem Moment hatte er das Gefühl, als würden seine Geschwister hinter ihm stehen. Als würde er den Arm seiner Schwester auf seinen Schultern spüren. Als würde er die zierliche Hand seines Bruders auf seiner eigenen fühlen. Wie diese zärtlich über seine strich. Langsam lockerte er seine Finger. Löste seine Nägel aus seiner Wade. Ein trauriges Lächeln zierte seine Lippen, als er den Kopf in den Nacken legte. Erneut schloss er die Augen wieder. Erneut sah er die Gesichter seiner Geschwister in seinen Gedanken. Gerne würde er noch einmal seine Geschwister in den Armen halten. Sie an sich drücken. Oder von ihnen in den Arm genommen werden. Er würde sie nie mehr halten können. Seine Muskeln würden zerrissen sein… Watashi no name wo yonde, kudakeru kurai daute. Kore ijou ushinau no wa kowai. [Rufe meinen Namen, umarme mich, bis ich zerbreche. Ich habe Angst davor, mehr als das zu verlieren.] Er setzte sich etwas gerader hin. Öffnete seine Augen wieder. Mit zitternden Händen griff er zum Fensterbrett. Schnappte sich von diesem die kleine Marionette, welche dort lag. Betrachtete sich in seinen Händen, eine Kopie seiner selbst. Genauso wie seine Geschwister. Doch seine Puppe war kaputt. Ihre Fäden waren ineinander verknotet und ließen sich nicht mehr lösen. Nur noch, wenn man ihre Fäden durchschneiden würde. Doch dann würde sie nicht mehr laufen können. Sich nicht mehr bewegen können. Sie wäre dann wie tot… - Genauso wie er… Leicht verfestigte er den Griff um die Puppe, als er seine zweite Hand ausstreckte. Mitten in der Bewegung verharrte er. Angst umklammerte seine Schultern. Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Raubte ihm den Atem. Er würde sterben. Er würde sterben, wenn er jetzt diese ganzen Tabletten in diesem Glas schluckte. Er würde sterben. Doch würde es qualvoll sein? Würde er Schmerzen haben? Was wäre, wenn er überlebte? Was würde dann passieren? Was wäre dann mit seinen Geschwistern… Seine Lider senkten sich ein wenig, als ihn die Erkenntnis traf. Zwischen ihnen lagen Welten. Unglaubliche Schluchten, welche sie auseinander gerissen hatten. Er war nicht mehr ihr Bruder. Schon lange nicht mehr. Sie brauchten ihn nicht. Nicht ihn, der ihnen nie geholfen hatte. Nicht ihn, der sie so qualvoll bluten lassen hatte. Nicht ihn, der sie in ihren Tränen und ihren Schmerzen allein gelassen hatte… Er war nutzlos. Er war wertlos. Sein Leben war sinnlos… Er streckte seine Hand weiter aus. Ergriff zitternd das Glas Wasser. Setzte es ebenso zitternd an seine Lippen. Er fühlte das kalte Nass an diesen. Träge schloss er seine Augen. Schaute der Dunkelheit hinter den verschlossen Lidern entgegen. Der Griff um die Puppe löste sich, als er den ersten Schluck nahm. Und mit diesem weitere… Unbemerkt fiel die Marionette zu Boden. Genauso wie er unbemerkt sterben würde. Unbemerkt zerschellte die Puppe am Boden. Genauso wie er zerschellen würde. Unbemerkt bröckelte die Maske der Puppe. Genauso wie seine zerbröckeln würde. Die linke Hälfte des grinsenden Maskengesichtes fiel ab. Enthüllte damit die Hälfte eines traurigen Gesichtes, was unter der Maske ruhte. Das wahre Gesicht der Puppe, verdeckt durch ein freundliches Lächeln. Verdeckt durch Lügen. Verdeckt durch Schmerz und Lasten. Ihr letzter Vorhang war gefallen. Genauso wie seiner gefallen war… Subete wo nakushita asa. [Der Morgen, an dem ich alles verlor.] Seine Seele begann mit Schlafen. Ihren längsten Schlaf… ~*~*~*~ Versteckt hinter einer Maske erkennt niemand den wahren Kern eines Menschen. Nicht jedes Leben hat und bekommt ein Happy End. Manch einer schafft es aus seiner Hölle auszubrechen, doch viele schaffen den Weg ins Leben nicht mehr zurück. Sie finden nicht die Chance, um sich zu befreien. Ihnen fehlt der Wille zum Weiterleben. Ihnen fehlt die Kraft, damit ihr zerrissener Geist heilen kann. Ihnen fehlt jemand an der Seite, der sie retten kann. Der sie unterstützt und der für sie da ist. Viele sterben - versteckt unter den vielen Masken, die die Menschen tragen, um selbst zu überleben… ______________________________________________________ © Songtext ‘The invisible wall’ by the GazettE © Songtext ‘Chizuru’ by the GazettE © Zitate by Tsunakai Kapitel 15: Vom Schicksal ernährt [Teil 1] ------------------------------------------ Schicksal… War es Schicksal, dass mein Umfeld mich hasste? War es Schicksal, dass ich allein da stand, zwischen all den Tausenden um mich herum? Dabei wollte ich nur von jemandem geliebt werden… War dies zu viel verlangt? Doch Liebe und Anerkennung konnte man nur erhalten, wenn man dünn und schlank war. Darum hatte ich mein Leben in die Hand genommen, um mich von meinem so verhassten Schicksal zu lösen… Vom Schicksal ernährt [Teil 1] 22. Dezember 2008 Er wusste damals wirklich nicht, warum er eigentlich ‘ihn’ erwählt hatte. Doch bis heute war er glücklich mit der Beziehung, die damals aus Trotz gegenüber seinem Onkel entstanden war. Der Onkel, der seine eigene Tochter niedermachte. Sie bestrafte. Der Onkel, der ihm selbst das Leben zur Hölle machte. Der ihm täglich vorhielt, wie teuer er sei und wie glücklich er sich schätzen könne, dass sein Onkel ihn damals nach dem Tod seines Vaters aufgenommen habe. Ehrlich gesagt, wäre Neji lieber im Heim gelandet, als jeden Tag zu hören, dass er nicht in diese Familie gehörte und nur eine ‘Geldverschwendung’ war. Dass er unerwünscht war. Ungewollt. Dass er nur eine Verpflichtung war, die sein Onkel vor dem Tod seines Vaters angenommen hatte. Er war nicht in der Familie, weil er geliebt wurde, sondern als Ergebnis einer Verpflichtung... Eine Verpflichtung, die er nicht einmal gewollt hatte. Jetzt saß er hier auf dem Schulhof und wartete. Während er wartete, schob er sich seinen Schokoladenriegel weiter in dem Mund. Zerkaute diesen und schmeckte die süße Schokolade auf seiner Zunge. Er bemerkte wie das Karamell im Kern des Riegels seine Zähne leicht verklebte. Aber es war ihm egal, dass seine Zähne verklebt waren. Der Genuss der Schokolade in seinem Mund machte dies alles wett. Oft wünschte er sich, dass Leben wäre immer so leicht unbeschwert. So ohne Verpflichtungen und Regeln. Ohne Zwang und Erniedrigung. So wie es beim Schokoladeessen war… Er schluckte den letzten Bissen herunter, als sein fester Freund sich ihm gegenüber aufstellte. Sie sahen sich in die Augen. Seine lavendelfarbenen Iriden versanken in denen seines Gegenübers. Eine Beziehung, die vor über einem Jahr aus Trotz und Auflehnung gegenüber der Familie entstand, war heute für ihn zu einer tiefen Zuneigung und Liebe geworden. Zumindest für ihn. Er war mit ‘ihm’ zusammen. Dem beliebtesten Jungen des Jahrganges. Damals hatten sich beide in der Mittelschule kennengelernt. Heute gingen beide in der daneben liegenden Oberschule in dieselbe Klasse. Erstes Jahr Oberstufe. Dennoch fühlte er sich bei ihm so wunderbar leicht und gebraucht. Er war jemand Besonderes. Er war glücklich und hatte das Glück, dass er mit ihm zusammen war. Der Junge, dem so viele verfallen waren. Und er war mit diesem attraktiven und beliebten Jungen zusammen. Alles andere rückte dadurch in weite Ferne. Selbst sein Onkel, der zu Hause nicht einmal ein nettes Wort für ihn übrig hatte… Doch nicht lange sollte dieses Höhe- und Glücksgefühl andauern. Sollte ausgetauscht werden durch Trauer und Einsamkeit... “Ich will nicht erst darum herumreden... Ich mach Schluss.” Überrascht hob er seine Augenbrauen an. Blickte den anderen mit skeptischem Augen entgegen und legte die Stirn in Falten. Er hatte den Sinn der Wörter noch nicht verstanden. Erfasst schon, aber nicht verstanden. Es dauerte einige Sekunden, ehe aus dem skeptischen Gesichtsausdruck ein überraschter wurde. Schluss... Doch er fragte nicht warum. Machte er nie… Nur verstand er nicht. Was hatte er falsch gemacht? Er wusste es nicht. Hatte er überhaupt etwas falsch gemacht? Er verstand nicht. Lag es an ihm? Er wollte es nicht hinterfragen. Es wäre untypisch für ihn gewesen. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Aus dem überraschten Gesichtsausdruck wurde ein emotionsloses Antlitz seiner selbst. Von Gefühlen verraten. Von Gefühlen verletzt. Dann lieber kein Gefühl zeigen, als noch mehr enttäuscht zu werden. Besser nichts zeigen, als noch mehr Schmerz zu erfahren… Ein genervtes Seufzen kam von seinem Gegenüber. Dabei hatte noch nicht einmal etwas gesagt oder gar gemacht. Lag es vielleicht daran, dass er es einfach so hinnahm? Dies wäre verständlich. Er zuckte immer nur mit den Schultern und die Sache wäre damit geklärt oder einfach nur unter den Tisch gekehrt. Es einfach so belassen und behauptet, es wäre Schicksal gewesen. Dabei lief er nur weg. Er war feige sein Leben oft selbst in die Hand zu nehmen. Er nahm es hin, wie es kam. Schicksal… Er starrte den anderen an. Schaute an ihm vorbei. Wollte nicht in dessen Augen versinken. Er blickte kurz zu Boden. Sah das grüne Gras zu seinen Füßen an. Zertrat es noch weiter unter seinen Schuhen. Ihn nicht ansehen. Ihn nicht sehen lassen, wie gebrochen er in diesem Moment doch war. Wie sein Gegenüber ihn zerbrochen hatte. Mit einem einzigen Satz... “Mann, ich kann dir sagen warum. Sieh dich doch mal an. Du bist fett geworden mit der Zeit. Das ganze Fett schwabbelt doch nur so an dir herum. Selbst der Sex ist grässlich bei diesem Körper.” Neji wusste nicht, was er antworten sollte. Er wusste es wirklich nicht. Was sollte man auch bei solch einer Antwort sagen? So ein Standardsatz wie: “Ist in Ordnung, wir können ja noch Freunde bleiben, nicht wahr?“ oder “Ist nicht so schlimm…”? Sicherlich nicht! Er konnte niemals mit wem befreundet sein, mit dem er zusammen war. Wenn die Beziehung nicht funktioniert hatte, wie sollte es da mit der Freundschaft aussehen? Es würde ihn immer nur schmerzhaft daran erinnern, durch was ihre Beziehung kaputt gegangen war. Das wollte er nicht. Verdammt! Was sollte er machen? Irgendwie schmerzte es fürchterlich, solche Worte gesagt zu bekommen. Lag es daran, dass er tief in seinen Inneren so etwas wie Liebe für den anderen empfand? War dies der Grund, warum er sich so verletzt fühlte? So gebrochen? Auch wenn er immer auf emotionslos und kalt machte... Er besaß doch auch Gefühle! Doch diese wurden eben mit Füßen getreten... Leicht ließ er den Kopf sinken. Seine Lider schlossen sich gänzlich. Verbargen den traurigen Glanz in den lavendelfarbenen Iriden. Seine Hände steckte er tief in die Hosentaschen. Neji wandte sich einfach um, den Blick weiter zu Boden gerichtet und setzte er seinen Weg in Richtung Schulgebäude fort. Das verächtliche Schnauben und spöttische Lächeln auf den Lippen des anderen bemerkte er nicht einmal. Sein Herz schmerzte. Die Worte des anderen hinterließen in seinem Inneren eine tiefe Narbe. Eine Narbe, welche noch nicht mit Bluten begann. Doch später... Später würde diese es. Nur wusste er es noch nicht... Man hatte nur mit ihm gespielt. Ihm gar nicht für wirklich wahrgenommen. Dabei war ein Jahr eine lange Zeit. Eine Zeit, in der man schnell Zuneigung und Liebe aufbauen konnte. Und dennoch… Der andere hatte nur mit ihm gespielt. Hatte mit ihm geschlafen. So getan, als würde er ihn lieben. Aber nur bis das Spiel langweilig wurde. Bis das Spielzeug ‘kaputt’ war. Wie dumm war er eigentlich? Warum glaubte er solch einem naiven Spiel? Warum glaubte er seinen naiven Gefühlen? Zitternd holte er seine Hände aus seinen Taschen und drückte sie auf seinen Bauch. Ihn war schlecht. So unsagbar schlecht. Am liebsten würde er sich jetzt übergeben. Alle Gefühle aus sich herauskotzen. Diesen Schmerz in seiner Brust herausreißen. Herausholen und in tausend Fetzen zerfleddern. Eine Beziehung begonnen aus Trotz und beendet mit Schmerz. Ein leichter Wind wehte auf. Hob seinen zusammengebundenen Zopf ein wenig an. Wirbelte sein braunes Ponyhaar durcheinander. Streichelte mit diesem über seine erhitzten Wangen. Seine Augen brannten vor unvergossenen Tränen. Er schloss seine Lider erneut. Sein Haar verdeckte die Sicht auf sein Gesicht. Verdeckte die Sicht auf die kleine unscheinbare Träne, welche höhnend und erbärmlich über seine Wange lief. Niemand sah sie. Diese kleine, unscheinbare Träne. Niemand bemerkte es. Diesen unendlichen Schmerz in seinem Inneren. Und niemand sollte sie ausnutzen. Seine jetzige Schwäche… Kein Wort kam über seine Lippen. Stumm nahm er es hin. Sein so verhasstes Schicksal… ~*~*~ 28. Februar 2009 “Ey, schaut mal was Schwabbel da macht!” “Ist der fetter geworden?” “Klar, schau doch, wie breit sein Arsch ist!” “Schau da nicht so drauf, sonst wirst du noch blind...” Ein dunkles Lachen kam über die Lippen seiner beiden Mitschüler. Neji zuckte leicht zusammen, doch diese Regung wurde von niemandem bemerkt. Sein linker Ellenbogen war auf seine Schulbank gestützt. Den Kopf hatte er in die offene Handfläche gebettet. Seine Finger zitterten, krallten sich fast in seine Wange. Sein Ponyhaar hing ihm zerzaust im Gesicht, verdeckte seine vor Scham und Demütigung geröteten und erhitzten Wangen. Nichts anmerken lassen. Sie dürfen nicht erkennen, dass es ihn verletzte. Seine Augen hatte er starr nach Draußen gerichtet. Sie blickten müde und lustlos auf den Schulhof. Es regnete draußen, passend zu seiner getrübten Stimmung. Die beiden anderen Schüler rissen erneut dumme Sprüche und zogen weiter über ihn her. Anscheinend hatten sie ihre Freude daran, ihn zu demütigen und zu verhöhnen. Doch er schwieg dazu. Es würde doch nichts daran ändern, wenn er etwas erwiderte. Er verhielt sich so, als würde er die beiden Jungs nicht hören. Als würden ihre Sprüche ihn kalt lassen. Er wollte auf Durchzug schalten. Wollte sie ignorieren. Aber er schaffte es nicht! Jedes Wort! Jede Silbe! Jeder Buchstabe fraß sich in ihn! So tief... So schmerzhaft... So qualvoll... So sehr, dass er in sich stark den Drang verspürte, aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Aber damit hätte er doch nur gezeigt, dass ihn ihre Hänseleien verletzten. Dass er sich durch diese Sprüche provozieren ließ. Dass er ihre dummen Reden ernst nahm. Dass er einsah, dass er fett war... Die alle redeten doch nur dummen Mist! Er war nicht dick oder fett. Er war halt nicht so mager, so wie die weiblichen Models auf den Laufstegen. Oder wie die neue Freundin seines Ex-Freundes. Sie war doch nur ein dürres Gerippe. Zum Ficken gut, aber hatte nichts auf den Knochen. Und er... Na und, es machte ihm nichts aus! Überhaupt nichts! Auch nicht, dass er ein paar Kilogramm mehr auf den Hüften hatte, als andere in seinem Alter. Trotzdem schmerzten diese Hänseleien und die dummen Sprüche seiner Mitschüler. Sprüche von den anderen aus seinem Jahrgang. Dennoch fühlte er sich so wohl, wie er war. Oder? Seine freie Hand hatte er zitternd gegen seinen Bauch gepresst. Er spürte den rauen Stoff seines weißen Hemdes auf seiner Haut. Auf seinem Bauch. Seine Finger krallten sich tiefer in den Stoff seines Hemdes. Zitterten stärker und krallten sich so tief hinein, dass es schon schmerzte. Sicherlich würde er danach die Abdrücke seiner Fingernägel sehen können. So tief! So schmerzhaft! Doch sie suchten etwas. Seine zittrigen Finger suchten nach Halt. Aber sie bekamen keinen. Nicht bei ihm selbst... So wie er dachte, so fühlte er nicht. Aber Neji wusste schon lange nicht mehr, ob dies stimmte. Ob er sich wohl in seinen Körper fühlte. In letzter Zeit fragte er sich immer häufiger, ob er vielleicht abnehmen sollte. Nörgelte an seinen Körper herum. Betrachtete jeden Millimeter Fett kritisch. Doch er schaffte es nicht. Immer wenn er sagte: “Heute esse ich weniger...”, dann funktionierte es nicht. Der Wille war noch zu schwach. Er war nicht stark genug dazu. Nichts half. Selbst nicht einmal das gute Zureden, dass er es schaffen konnte. Allein würde er es nicht schaffen. Nicht so wie bisher... Doch jetzt, wo er so darüber nachdachte, dass er bisher nur versagt hatte, erklang in seinem Inneren eine Stimme. So klein und doch so mächtig. Eine Stimme, die sagte: “Es ist doch egal. Bleib, wie du bist.” Diese kleine Stimme brach seinen Willen. Brachte ihn dazu, dass er so bleiben wollte, wie er war . Behinderte ihn daran, dass er weniger aß und dass er abnahm. Sie verwirrte ihn. Immer wenn er fiel, wenn er aufgeben wollte, gab ihm diese kleine Stimme recht. Sagte ihm, dass er aufgeben sollte und dass er sich fallen lassen sollte. Die ganze Mühe und Kraft, die er darin investierte. Es war so oft umsonst. Er zweifelte an seinen Bemühungen. An seinen Worten. An seinen Gedanken. Wollte er abnehmen? Von sich aus? Oder wegen der anderen? War das vielleicht der Grund? Dass es nicht sein eigener Wunsch war abzunehmen? Oder lag es wirklich daran, dass er nicht wusste wie? Dass er nicht wusste, welche Methode am schnellsten und effizientesten wirkte? Er wusste es nicht. Es war so oft zum Verrücktwerden. Vielleicht sollte er es einfach so akzeptieren? Nahm es hin, so wie es kommen würde. Schicksal… Doch eins wollte Neji nicht. Er wollte ihnen nicht dieses Glück gönnen. Diesen Triumph über ihn. Dieses Wissen, dass sie ihn gedemütigt hatten. Ihn verletzt hatten. Niemand sollte es wissen. Niemand! Aber wie lange würde er dies noch aushalten können? Wie lange würde er noch alles schlucken können? Es schmerzte so fürchterlich. Es zerfraß ihn von Innen und nagte an seinem Selbstwertgefühl. Es machte ihn so kaputt. Doch er wollte es nicht sehen... Leicht senkten sich seine Lider. Der Glanz aus seinen lavendelfarbenen Iriden war vor längerer Zeit erloschen. Wie lange ging diese Pause noch? Warum hörten die anderen nicht auf? Er verstand es nicht. Was hatte er ihnen getan? Eigentlich nichts.... Meistens hatte er die anderen ignoriert. Hatte sie links liegen gelassen und nur mit ihnen geredet, wenn es von Nöten war. Schließlich war es erst sein erstes Schuljahr hier an dieser Schule. Das erste Jahr an der Oberstufe. Nur wenige von seinen ehemaligen Freunden aus der Mittelschule waren hierher gewechselt. Die meisten sind an private Schulen gegangen oder haben nach neun Jahren Schulpflicht mit ihrer Ausbildung begonnen. Neji wollte noch nicht arbeiten, aber für eine Privatschule wollte sein Onkel nicht bezahlen. Schließlich verursachte er schon so genug Kosten... Ein trostloses Lächeln war auf seinen Lippen, ehe er müde seufzte. Schicksal... Es musste wirklich Schicksal sein, dass er so gestraft wurde. Waise ohne Eltern, verlassen vom Freund, gehasst von der Familie und gemobbt von den eigenen Mitschülern. Was sollte noch auf ihn zukommen? Er wollte es nicht wissen. Er wollte es nicht erfahren. Nicht, dass er noch mehr zerbrechen würde... “Ey, Schwabbel! Was ist denn los, mh? Dich etwa überfressen, oder was, he?” Erneut lachten diese beiden Idioten auf. Er kniff die Augen zusammen. Seine Finger krallten sich tiefer in seine Wange. In seine Haut. Sicher würde danach ein unschöner, roter Abdruck an dieser Stelle sein, den niemand bemerken würde. Der niemanden interessieren würde. Genauso wie bei seinen Gefühlen... Der Drang aufzustehen und zu verschwinden wurde stärker. Doch wollte er nicht nachgeben. Wollte die anderen nicht gewinnen lassen. Seine Hände begannen mit Schwitzen. Seine freie Hand hatte er weiter gegen seinen Bauch gepresst. Ihm war schlecht. So unglaublich schlecht. Doch er musste schlucken. Schlucken, aber nichts verdauen. Nichts sagen. Die Anspielungen der anderen herunterwürgen. Nichts herausholen. Sie weiterreden lassen. Nichts anmerken lassen. Durchhalten. Alles für sich behalten. Schweigen. Ihn würde sowieso keiner ernstnehmen. Schließlich war er doch nur der “Schwabbel”, der alles über sich ergehen ließ. Der alles mit sich machen ließ. Weil er dumm war und niemandem zeigen wollte, dass er sich verletzt fühlte. Weil er niemandem einen weiteren Grund geben wollte, dass man ihn hänselte. Weil niemand wissen sollte, dass er schwach war und nicht den Willen hatte, sich zu ändern. Nicht mehr die Kraft besaß, sich so zu akzeptieren, wie er war... Weil er feige war und sein Leben nicht allein schaffte. Nicht, ohne von anderen Menschen bestimmt und gesteuert zu werden. Schicksal… “Hey, Neji-kun! Bock, heute Abend zu kommen? 19.00 Uhr bei Speedy!” Der Angesprochene nickte nur. Hatte noch nicht realisiert, auf was er sich eingelassen hatte. Erschrocken riss er seine Lider auf und starrte seinem breitgrinsenden Mitschüler an. Leicht legte er die Stirn in Falten. Sabakuno, Kankuro. Er kannte ihn schon seit der Mittelstufe. Beide waren schon immer zusammen in einer Klasse. Freudig grinsend wurde ihm auf die Schulter geklopft. Damit war die Einladung akzeptiert. Ein wenig missmutig wandte er seinen Kopf ab und zuckte mit den Schultern. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Und wer wusste schon, vielleicht wurde es ja lustig. Obwohl er sich sicher war, dass dem nicht so werden würde... Wann begann endlich der Unterricht? Wenn die Pause vorbei war, dann hatte er für einen kurzen Moment Ruhe. Dann würde ihn vorerst niemand mehr schikanieren können. Dann konnte er seine Gedanken auf andere Dinge lenken. Schule. Lernen. Hausaufgaben. Gleich würde die Pause beendet sein. Er hörte die Schulklingel. In wenigen Minuten würde die Stunde beginnen. Die Massen strömten ins Zimmer. Setzten sich auf ihre Plätze. Ab und an riss noch jemand einige dumme Sprüche. Zog über ihn her. Doch bald würde es vorbei sein. Doch wann und wie? Bald... ~*~*~ Endlich war der Unterricht vorbei. Er war fast zu Hause. Erschöpft seufzte er auf. Ein kalter Wind wehte ihm den Schnee entgegen. Kühlte seine Wangen ab. Die Schneekristalle auf seiner Haut schmolzen sofort und hinterließen feuchte Spuren auf seinem Gesicht. Er fröstelte leicht. Ein Schauer lief ihn über den Rücken und bescherte ihm eine Gänsehaut. Träge wühlte er in seiner Tasche und holte den Haustürschlüssel heraus. Seine Hände zitterten sehr. Er hatte Mühe bei der Kälte das Schloss zu erwischen. Aber er schaffte es. Müde und lustlos betrat er den Hausflur. Stieg die vielen Stufen nach oben. Bei jedem Schritt begleitete ihn der Gedanke: Was sollte er machen? Was wollte er selber? Vor der Tür suchte er nach seinem Wohnungsschlüssel. Er hörte aus der Wohnung die Stimme seines Onkels. Er schrie. Schimpfte wieder mit Hinata. Das machte sein Onkel immer. Jeden Tag. Seine Cousine konnte es diesem Tyrannen anscheinend nie Recht machen und nahm alles schweigend zur Kenntnis. Noch nie hatte er das junge Mädchen widersprechen gehört. Noch nie hatte er Hinata gesehen, wie sie sich gegen ihren Vater auflehnen wollte. Wie sie diesem trotzen wollte. Dagegen war er das Gegenteil von seiner Cousine. Er lehnte sich oft gegen ihn auf. Er widersprach oft oder gab Kontra. Schließlich war sein Onkel nicht sein Vater. Er nicht dessen Sohn. Sondern nur eine Verpflichtung, die hier geduldet wurde. Die hier Unterschlupf und Essen bekam. Die hier ein eigenes Zimmer hatte. Mehr nicht... Es schmerzte, wenn er so dachte. Doch es war die Wahrheit. Grausame Realität, die sich nicht ändern ließ. Die er nicht ändern konnte... Schicksal... Lautlos schloss er die Wohnungstür auf und trat genauso leise ein. Neji lauschte. Zog dabei sich seine Schuhe aus und die Tür hinter sich zu. Die Stimme seines Onkels wurde lauter. Diese dunkle, raue Stimme, welche er überall erkennen würde. Ebenso hörte er Hinata. Die helle, leise Stimme, welche niemals etwas widersprach. Hinata wurde erneut bestraft. Er wusste nicht, was der Grund dieses Mal war. Aber sicherlich war es irgendwas mit der Schule. Die älteste Tochter war nicht so gut in der Schule wie Hanabi. Aber Hanabi war sowieso die Prinzessin in dieser Familie. Zwar brachte sie Leistungen nach Hause, doch dafür wurde sie fast doppelt so viel belohnt, wie ihr eigentlich zustand. Dieses Mädchen wurde verwöhnt, bekam alles, durfte alles. Dabei war sie eine kleine, rotzfreche Göre. Das hatte auch Neji bemerkt. Er fand dieses Verhalten ungerecht. Allein an der Erziehung bei beiden Töchtern hatte sein Onkel in seinen Augen versagt. Doch Einmischen half nichts. Schließlich gehörte er nicht zur engeren Familie. War eine Randfigur, die nur zusehen durfte... Mit leisen Schritten lief er in Richtung Küche zum Kühlschrank. Er hatte Hunger. Hatte er öfters, wenn er frustriert oder deprimiert war. Zumindest dachte er so. Dass es schon Gewohnheit geworden war, dies bemerkte er nicht einmal. Er erkannte es nicht, dass es schon eine Sucht war, wenn er die vielen freien Minuten zu Hause mit Essen verbrachte, bis ihm schlecht wurde. Dafür waren seine Augen blind. Er sah es nicht... Leise summend schaute er in den Kühlschrank. Inspizierte die darin aufbewahrten Speisen und verpackten Resten von Vortag. Das Curry mit Reis lächelte ihm verführerisch entgegen. Kurz zögernd nahm er die Schüssel mit dem Reis und stellte sie auf den Tisch. Schnell holte er noch seine Stäbchen aus der Schublade und setzte sich an den Tisch, um zu essen. Es war ihm egal, dass sein Essen noch kalt war. Er würde es auch so essen können. Schritte kamen näher. Er hörte sie nicht. Ein dunkles Brummen war zu hören. Es interessierte ihn nicht. Hinter ihm spürte er noch die wütende Aura seines Onkels. Er stand in der Küche. Sicherlich hatte er wieder diesen strafenden Blick im Gesicht. Diesen abschätzigen Glanz in den Iriden. Wie sehr er ihn doch hasste! Vor allem, wenn der andere ihn so ansah. Wut wallte in ihm auf. “Isst du schon wieder? Du verschwendest deine Zeit und das Geld nur mit Essen.” “Ich wüsste nicht, was es dich angeht...” “Ich verpflege dich hier und lasse dich hier wohnen. Sei mir lieber dankbar.” Er versuchte, ruhig zu blieben. Er versuchte es wirklich! Doch seine Hände ballten sich zu Fäusten. Sein Onkel bemerkte nicht einmal, wie er ihn mit diesen Worten verletzte. Er bemerkte nicht mal sein eigenes Verhalten. Seinen eigenen Charakter. Jeden Tag... Jeden gottverdammten Tag bekam er diese Worte gesagt! Bekam er gezeigt, dass er ungeliebt, unbrauchbar war. Eine gottverdammte Verpflichtung! Er wollte das alles nicht mehr hören. Wollte dieses Gefühl von Ungeliebtsein nicht mehr spüren. Sein Onkel war genauso blind wie alle in dieser Familie. Wie er selbst. Neji wusste es schon so lange. Es kotzte ihn an! Aber jetzt hatte er den Beweis... Hier sah niemand den anderen. Niemand das Leid des anderen. Diese Familie war blind. Blind für die Qual der restlichen Familienmitglieder. Fast lautlos schob er den Stuhl nach hinten. Auf seinem Antlitz spiegelte sich ein emotionsloser Ausdruck wider. Neji legte die Stäbchen zur Seite. Sein Appetit war soeben vergangen. Ihm war wieder schlecht. Doch er würgte dieses Gefühl herunter. Dieses Gefühl von Enttäuschung und Einsamkeit. Wut wallte in seinen Inneren auf. Loderte zu einem tosenden Feuer an. Zu einem heißen Inferno. Doch er sagte nichts. Versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen. Dennoch wallte Zorn in ihm. Schließlich war er auch nur ein Mensch. Ein Mensch und keine emotionslose Maschine, auch wenn er oft selbst so herüber kam. Er war ein Mensch, der fühlte und verletzt werden konnte. Seine Fäuste zitterten. Seine Unterlippe bebte, weswegen er leicht auf diese biss. Seine Sicht verschwamm. Er konnte einfach nicht mehr. Diese Worte und diese Last auf seinen Schultern wollten ihn erdrücken. Ihn niederdrücken. Ihn mehr zerbrechen. Er konnte nicht mehr! Schaffte es nicht mehr zu schlucken. Alles kam heraus. All diese Gefühle, die er in sich hineingefressen hatte. All diese Wut. Auf die anderen. Auf seinen Onkel. Aber vor allem auf sich selber, da er das alles mit sich machen ließ... Mit einem Ruck drehte er sich zu seinen Onkel herum. Die lavendelfarbenen Iriden zu Schlitzen verengt. Ein spöttisches Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Ruhig kamen die nächsten Worte. Ruhig und beherrscht, dabei platzte er fast vor Wut! “Dankbar? Wofür? Dafür, dass du mein Leben schwer machst? Dafür, dass du mir jeden Tag zeigst, wie ungewollt ich hier bin? Dafür, dass ich mir jeden Tag anhören muss, dass ich nur eine Verpflichtung bin? Soll ich dir deswegen dankbar sein?!” Seine Stimme wurde ein wenig lauter. Das Wort ‘Verpflichtung’ spie er mit Abscheu heraus. Mit so viel Hass, wie er in seine Stimme legen konnte. Er war nur eine Verpflichtung. Ein Gegenstand. Er spürte ein Stechen in der Brust. Spürte das Gefühl von Ungeliebtsein intensiver als je zuvor. Schlimmer als zuvor. Vielleicht, weil er es selber einsah? Dass er endlich einsah, wie hoffnungslos es eigentlich war? Dass er sich selber als Gegenstand sah? Seine Schultern bebten. Die Sicht vor seinen Augen verschwamm. Diese Erkenntnis schmerzte. Sie schmerzte so fürchterlich. Neji hatte sich das alles doch auch nicht ausgesucht! Dennoch... Er war ungewollt. Eine Verpflichtung. Mehr nicht... Wertlos... “Wenn du das so siehst, dann stimmt das auch.” Nach diesem Worten stürmte er aus der Küche. Ließ seinen Onkel hinter sich. Ließ diesen Mann hinter sich, der alles in seinem Leben schwerer und schlimmer gemacht hatte. Ließ den Mann hinter sich, welcher es so weit gebracht hatte, dass Neji sich selbst als eine Verpflichtung und als wertlos ansah. Dieser Mann, der sein Leben noch mehr kaputt gemacht hatte. Er hasste seinen Onkel. Hasste ihn dafür, dass dieser seinen eigenen Neffen hasste. Dass dieser seinen eigenen Neffen mit so viel Abscheu und gar Desinteresse gegenübertrat. Er hasste seinen Onkel dafür, dass sein Vater der Verpflichtung nachkommen musste, das Leben für diesen Mann zu opfern. Schließlich waren sie nichts Weiteres als eine Randfigur. Ein Teil der Zweigfamilie, die es als Aufgabe bekam, die Hauptfamilie zu schützen… Im Flur blieb er stehen. Sein Körper bebte vor Wut und Trauer. Er wusste nicht mehr, wohin mit allem. Wohin mit dem Hass? Wohin mit der Verzweiflung? Mit der Trauer? Die Last auf den Schultern konnte er nicht mehr ertragen. Zitternd legte er seine Arme um seinen Körper. Seine Finger krallten sich in seine Schultern. Tief in seine Haut. Verletzten ihn. Doch er fand keinen Halt. Träge lehnte er sich gegen die Wand im Flur. Rutschte an dieser herunter. Antworte ihm doch wer… Was musste sein sechszehnjähriges Leben noch erleben? Was musste er noch aushalten? Er wusste es nicht. Doch es sollte noch viel sein. So viel, dass er über alles die Kontrolle verlieren würde... ~*~*~ Mit angewinkelten Beinen saß er auf den Balkon. Seine Arme hatte er um seine Knie geschlungen. Die lavendelfarbenen Iriden starrten müde auf einen Punkt vor sich. Warum hatte er sich noch einmal überreden lassen, an dieser Party teilzunehmen? Ach ja, Sabakuno-san hatte ihn gefragt. Sein Mitschüler meinte, dass es genau das Richtige für ihn wäre. Dachte dieser. Auf dieser Party liefen nur oberflächliche Weiber und totale Idioten herum, die wirklich darauf hofften einen Treffer bei einem der dürren Mädchen zu landen. Er war hier vollkommen überflüssig. Total unwichtig. Mit keinem hier hatte er gesprochen. Nur ab und an kam Kankuro vorbei und hatte ihn gefragt, ob bei ihm alles in Ordnung war. Oder ob er Spaß hatte. Oh ja, den hatte er! Allein auf den Balkon. Die Sterne beobachtend. Den kalten Schnee auf seiner Haut fühlend. Keiner bemerkte, wie miserabel er sich in Wirklichkeit fühlte. Es sollte auch keiner bemerken. Er versteckte es. Hinter einer eisernen Maske aus Emotionslosigkeit. Hinter ausdruckslosen Augen, die seit einiger Zeit ihren Glanz verloren hatte... Eine kleine Flocke segelte vom Himmel, setzte sich keck auf seine Nasenspitze und schmolz dort. Hinterließ eine feuchte Spur auf seiner Haut. Er rümpfte seine Nase kurz. Ein seichter Wind wehte auf. Spielte mit seinem Haar, hob es sanft an und ließ es wieder fallen, damit diese Briese das Spiel von vorne beginnen konnte. Neji seufzte müde und strich sich sein Ponyhaar hinter das Ohr. Dabei wandte er den Blick nicht vom dunklen Nachthimmel ab. Von hier aus konnte er das Gekreische der Mädchen hören. Das Gegröle der Jungen und die dröhnende Musik, die aus den Bassboxen kam. Er bekam davon Kopfschmerzen und Ohrensausen. Er verstand nicht, wie manche Leute das jeden Freitag aushalten konnten. Er konnte es nicht. Träge löste er seine Arme von seinen Knien und streckte die Beine von sich. Wegen der späten Uhrzeit müde, reckte er sich und stellte seine Beine ein wenig zitternd vom Stuhl herunter. Einem Moment blieb er noch so sitzen. Ließ den Wind mit seinem Haar spielen. Die Kälte auf seinen erhitzen Wangen trieb ihm einen Rotschimmer auf diese. Es vergingen Sekunden. Plötzlich schob jemand die Balkontüre auf. Der Lärm von Innen drang lauter zu ihm hervor. Stickige, warme Luft kam ihm entgegen. Mit dieser Luft ebenso der widerliche Geruch von Zigaretten und Alkohol. Neji sah nicht auf. Warum auch? Es war ihm egal, wer auf den Balkon kam. “Ey, Schwabbel! Wer hat dich denn eingeladen? Hoffentlich bricht der Stuhl unter dir nicht weg!” Ein dunkles Lachen war zu hören. Die Wörter kamen lallend über die Lippen dieses Vollidioten. Neji zuckte leicht zusammen. Seine Finger krallten sich in den rauen Stoff seiner Jeanshose. Dennoch blieb er ruhig. Trotzdem… Den ganzen Abend über hatte er seine Ruhe gehabt. Niemanden gehabt, der ihn schikanierte. Es war wirklich erholsam gewesen. Aber ebenfalls auch einsam. Gerne hätte er wen zum Reden gehabt, auch wenn er selbst geschwiegen hätte. Doch auf solch eine Gesellschaft wie eben, darauf konnte er getrost verzichten. Müde stand er auf. Schob den anderen zur Seite und drückte sich an ihm vorbei. Er drängte sich durch die tanzenden Massen. Spürte die verwunderten, aber auch herablassenden Blicke auf sich. Gehässige Gesichtsausdrücke, die gierig nach [ihm lechzten]. Er versuchte(,) ruhig zu bleiben, dennoch… Bald würde alles über ihn einbrechen. Es würde das passieren, was er nicht wollte. Was ihm Schmerzen bereiten würde… Langsam quetschte er sich durch die herumstehenden Leute. Von einigen Seiten hörte er die dummen Sprüche. Einige hatten ihn erst eben bemerkt, da er selbst die ganze Zeit auf den Balkon verbracht hatte. Und jetzt brach alles zusammen. Von allen Seiten kamen sie. Wollten nach ihm greifen. Ihn weiter kaputt machen. Neji wollte sie ignorieren. Wollte sie überhören. Doch die Stimmen wurden lauter. Übertönten die dröhnende Musik. Hallten in seinen Ohren wider. Er versuchte ruhig zu bleiben. Doch seine Sicht verschwamm vor seinen Augen. Er wollte das alles nicht hören. Er wollte das alles nicht erleben. Hoffte, dass es nur ein Traum war. Ein elendiger Alptraum, mit ihm als Hauptrolle. Er rempelte wen an. Wurde am Arm gepackt und zurückgezerrt. Er wollte sich wehren. Sich aus dem Griff befreien. Aber zwecklos. Seine Schultern bebten. Er biss sich auf seine Unterlippe und kaute auf dieser herum. Er schluckte diese Unruhe in sich herunter. Schluckte seinen Schmerz. Alles herunter. Er schluckte alles. Würgte es in sich hinein, damit es dort blieb. Er hatte es nicht anders gelernt. Schlucken. Schlucken. Doch nichts verdauen. Es ertragen. Doch nie was sagen. Kein Wunder, dass ihm täglich immer wieder so schlecht war. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Mit aller Gewalt riss er sich aus dem Griff. Taumelte leicht. Er wollte weiterlaufen. Weiter wegrennen. Vor den Sprüchen. Vor den Blicken. Vor den anderen. Vor seinem Leben. Und vor sich selbst... “Neji-kun, was ist los? Eigentlich wollte ich fragen, ob du was essen willst. Hab dir was vom Büffet mitgebracht.” Seine Schritte stoppten. Die raue, aber dennoch weich klingende Stimme des Sabakunos hielt ihn ab. Der Klang seines Namens ließ ihn zusammenzucken. Es war so ungewohnt. Zu Hause war der einzige Ort, wo man ihm beim Vornamen nannte. In der Schule war er für die Lehrer Hyuga-san und für die Schüler nur der Schwabbel. Der Schwabbel, der nur fett und nichts wert war... Kankuro war der Einzige, der ihn noch bei seinem Namen nannte. Es war so verwirrend. Er war so irritiert. Wie seit einigen Tagen schon... Seine Hände fingen mit Schwitzen an. Ihm war schwindlig. Ihm war schlecht. Er musste raus. Von hier verschwinden. Sofort! Ansonsten würde alles unter ihm einbrechen. “Danke, aber ich hab schon etwas gegessen. Ich werde jetzt wieder nach Hause gehen.” Fest klang seine Stimme. Ruhig und emotionslos, während seine Unterlippe leicht zitterte. Neji wartete nicht einmal mehr auf eine Antwort. Sofort setzte er seinen Weg weiter. Drängte sich an den restlichen Schülern und Jugendlichen vorbei. Erst der kühle Schnee und der kalte Wind brachten ihn zum Stehen. Ließen seine Schritte verstummen. Den Kopf zum Boden gerichtet. Seine Lider weit aufgerissen, ehe er sie träge schloss. Sein Körper zitterte immer noch. Das Beben wurde stärker. Die Sprüche und Hänseleien hallten immer noch in seinem Kopf wider. Wie ein Echo, das auf Repeat stand. Die gehässigen Fratzen. Die herablassenden Blicke. Er sah sie alle! Doch plötzlich schob sich ein freundliches Gesicht dazwischen. Eine raue, aber angenehme Stimme. Das freundliche Lächeln von Kankuro... Ein trostloses Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Eine unscheinbare Träne rollte seine Wange. Versuchte ihn zu trösten, doch hastig wischte er sich diese von seiner Wange. Kankuro war zurzeit der Einzige, der nett zu ihm war. Der ihn nicht neckte oder verschaukelte. Plötzlich kam ihm die Erkenntnis. Hoffentlich hatte der andere nicht bemerkt, dass er gelogen hatte. Neji hatte nämlich seit heute Mittag in der Mensa nichts mehr gegessen. Den ganzen Nachmittag und Abend über nichts. Bis tief in die Nacht. Er wusste nur, dass er massenweise Wasser getrunken hatte. Dass er keinen Hunger oder überhaupt Appetit verspürt hatte. Müde drückte er seine Hände gegen seinen Bauch. Er verspürte keine Bauchschmerzen wie sonst. Sonst hatte er immer um diese Zeit diese Bauchschmerzen. Doch dieses Mal verspürte er sie nicht. Sie waren nicht vorhanden. Lag es daran, dass er nichts gegessen hatte? War das der Grund? Oder lag es daran, dass er so viel getrunken hatte? Sicher. Meistens hatte er diese Schmerzen nach dem Essen und noch länger hinaus. Ein seichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, was schnell wieder verblasste. Seine Finger krallten sich tiefer in seinen Bauch. Krallten sich tiefer in den Stoff seines Pullovers. Er fror. Die Kälte der Nacht drang bis zu seiner Haut vor und hinterließ eine Gänsehaut auf dieser. Trotzdem fühlte er in sich dieses kleine Gefühl voller Glück. Dieser Wille, dass er es schaffen konnte. Dass er abnehmen konnte. Er würde es ausprobieren. Weniger essen, als bisher. Und wenn er Hunger hatte, dann würde er literweise Wasser oder andere Flüssigkeit trinken. Damit einfach das Hungergefühl abtöten. Er würde damit schlanker werden. Einfach nicht mehr, bis fast gar nichts essen. Das war nun seine Devise. Er konnte es schaffen. Heute Abend hatte er es auch geschafft und er fühlte sich gut an. So gut, dass er dieses Gefühl von Triumph und Glück nicht mehr missen wollte. Diesen Stolz... Seine Schritte bewegten sich träge vorwärts. Morgen früh würde er sich wiegen. Morgen würde er damit beginnen, weniger zu essen. Mehr abzunehmen. Sich besser fühlen. Morgen würde er die Ketten um seinem Herzen und sich selbst sprengen. Morgen würde er aus dem Käfig ausbrechen, in dem er sich gefangen fühlte. Morgen würde er beginnen, seinen Körper Kilogramm für Kilogramm zu zerstören... Kapitel 16: Vom Schicksal ernährt [Teil 2] ------------------------------------------ Zu Beginn war es schwer. Mit war oft so schlecht, dass ich am liebsten gekotzt hätte. Ich wusste nicht, was ich wirklich essen durfte oder wie viel. Nachts konnte ich vor Schmerzen und diesem nagenden Hungergefühl nicht schlafen. Doch es wurde von Woche zu Woche immer weniger. Ich wurde von Woche zu Woche immer ein Stückchen leichter. Ohne zu merken, dass mein Leben eigentlich wie Sand durch meine Finger gerieselt war… Vom Schicksal ernährt [Teil 2] 31. Mai 2010 Unruhig drehte Neji sich auf die linke Seite seines Bettes. Die Arme fest um seinen Körper geschlungen. Die Finger tief in seine nackte Haut gekrallt, sodass dort rote Striemen entstanden. Seine blassen, lavendelfarbenen Augen waren auf seinen Digitalwecker im seinem Zimmer gerichtet. Grün schimmerte die Anzeige in der Dunkelheit und zeigte kurz nach zwei Uhr an. Nachdenklich biss er sich auf seine Unterlippe. Kaute auf dieser herum und befeuchtete sie mit der Zunge. Seine Lippe fühlte sich trocken und rissig an. Rau, wenn er mit seiner empfindlichen Zunge darüberleckte. Wann hatte er das letzte Mal etwas getrunken? Er wusste es nicht mehr. Es war schon viel zu lange her. Oder waren es nur ein, zwei Stunden gewesen? In dieser Nacht hatte er erneut jegliches Zeitgefühl verloren. Wie so viele Nächte davor auch… Leicht strich er mit seinen zittrigen Fingern über seine nackte Haut. Die Versuchung, in die Küche zu gehen, war groß. Seine Kehle brannte. Sein Mund fühlte sich trocken an, wenn er mit seiner Zunge über seinen Gaumen und seine Zähne strich. Sein Durst war groß, doch sein Hunger war gigantisch. Aber er konnte nicht! Wollte nicht! Dennoch war der Schmerz von Leere in ihm so fürchterlich. So schlimm, dass er schreien wollte. Aber er bekam nur ein verzweifeltes Wimmern zustande. Wann würden diese Heißhungerattacken ein Ende haben? Wann würde er nachts schlafen können, ohne dass sein Magen schmerzhaft knurrte? Ohne dass er aufwachte und verzweifelt versuchte, nicht in die Küche zu gehen, damit er diesen Hungerdrang bekämpfen konnte? Wann würde es aufhören, dass er nachts von leckerem Essen träumte? Jedes Mal nach dem Aufwachen hatte er immer noch den Geschmack von irgendwelchen Speisen auf der Zunge. Dabei war alles nur ein Traum gewesen. Ein Traum, der so real, aber gleichzeitig verboten war. Bei dem Gedanken an Essen zog sich sein Magen zusammen. Begann dieser erneut mit Knurren. Trotz, dass es schmerzte. Trotz, dass es eigentlich ungesund war. Trotz, dass es ihn krank machte. Ein leichtes Gefühl von Glück durchströmte seinen Körper. Ein mattes Lächeln lag auf seinen Lippen. Wie lange noch? Wie lange würde er noch kämpfen müssen, damit er perfekt war? Er liebte dieses Gefühl. Dieses leichte Gefühl namens Glück. Vermischt mit dem Gefühl von Kontrolle. Kontrolle über seinen Körper. Kontrolle über sich. Auch wenn es schmerzte, doch immer, wenn er seinen Magen knurren hörte, erfüllte es ihn mit Glück. Denn es zeigte ihm, dass er Willen und Stärke beweisen konnte. Den Willen, zu widerstehen. Die Stärke, diese ‚Diät‘ durchzuziehen. Dabei war es so falsch. Aber er wusste es nicht. Verstand es nicht. Würde es nicht einsehen wollen. Es nicht akzeptieren. Alles war bis jetzt perfekt. Alles stimmte, wie es im Moment lief. Es konnte nur noch besser werden. Alles lief bis jetzt so, wie er es wollte. Es lief prima. Zumindest für ihn... Bisher hatten andere immer sein Leben bestimmt. Bisher hatte er sich immer wieder seinem Schicksal gefügt. Bisher hatte er immer alles so hingenommen, wie es gekommen war. Doch jetzt… Er hatte die Kraft. Besaß die Macht. Die Macht, dass er die Kontrolle über seinen Körper hatte. So stark und beflügelnd. Er konnte nicht genug davon bekommen. Von diesem Machtgefühl! Er hielt sein eigenes Leben in seiner Hand. Er hielt es fest und bestimmte selbst seine Wege. Selbst sein Handeln. Es war nicht mehr irgendein Schicksal, welches ihn bestimmte. Es war sein eigenes Schicksal, was er selbst bestimmte! Und dabei zerstörte er sich von Tag zu Tag mehr. Es machte ihn blinder. Wie lange noch? Sicherlich bald… Bald hatte er es geschafft. Bald würde er das Traumgewicht haben, was er sich wünschte. Bald würde er so aussehen, wie er es wollte. Bald würde er so sein, wie ihn sein Exfreund wollte. Bald würde er den Körper haben, nach dem sich die Leute umsehen würden. Bald würde er die Früchte voller Schmerz und Leid ernten können. Bald würde er so schlank sein, dass dieses Mobbing in der Schule aufhörte. Bald... Aber der Schmerz in seinem Inneren war groß und zu überwältigend. Seine Macht und sein Wille schwanden von Minute zu Minute immer mehr. Wie ein dürres Blatt im Wind… Steif drehte er sich auf seinem Rücken. Seine Hände hatte er verkrampft auf seinem schmerzenden Bauch liegen. Seinen Blick starr an die Zimmerdecke gerichtet. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt. Starrten nun ausdruckslos vor sich her. Die Stille im Zimmer wurde durch ein lautes Magenknurren unterbrochen. Leicht kniff er seine Augen zusammen, verkrallte seine Finger tief in die Haut. Seine Nägel verursachten einen stechenden Schmerz an den Stellen, wo seine Fingerspitzen sich tief hineindrückten. Seine linke Hand rückte hoch zu seinem Hals. Leicht drückte er zu. Seine Kehle fühlte sich so unglaublich trocken an. Er brauchte etwas zu trinken. Er brauchte etwas zu essen. Er brauchte es, auch wenn er nicht wollte und sollte. Einem Moment blieb er starr liegen. Seine rechte Hand auf seinem Bauch ruhend, die Linke weiter an seinen Hals verharrend. Und plötzlich… Mit einem Ruck riss er die Zudecke zur Seite. Schob träge seine Beine zur Bettkante und ließ diese einen Moment dort baumeln. Sein Körper zitterte vor Aufregung. Seine Finger waren schwitzig. Bebten und krallten sich tiefer in seine Haut am Bauch. Hinterließen rote Abdrücke auf dem dünner gewordenen Leib. Er lockerte den Griff um seinen Hals und ließ die Hand wieder sinken. Es schmerzte, doch nicht so sehr wie die Leere in seinen Körper. Wie die Leere in seinem Magen. Er wusste, er machte jetzt etwas Falsches. Er wusste, dass alles seine Folgen haben könnte. Doch es war nicht das erste Mal. Neji hatte es schon einige Nächte durch. So oft. Wie unzählige Male zuvor. Aber er wusste auch, dass er es irgendwie nicht ändern konnte. Dass es mit zu seiner ‘Diät’ gehörte. Zu dem Kampf, den er vor einigen Monaten begonnen hatte. Auch wenn er es nicht wollte. Auch wenn es nicht sein Plan war... Zittrig stellte er seinen rechten Fuß auf dem Boden, ehe der andere folgte. Müde erhob er seinen geschwächten Körper. Seine Knie fühlten sich matt an. Hatten Mühe seinen erschöpften Leib aufrechtzuhalten. Die letzten Tage hatte er noch weniger gegessen als die Wochen davor. Und noch weniger als die Monate davor… Er lief lautlos durch das Zimmer. Nur kein Geräusch, keinen Laut von sich geben. Nicht, dass jemand bemerkte, was er hier machte. Nicht, dass es jemand mitbekam, wie er nachts durch die Wohnung schlich. Die Angst, dass jemand erfuhr, was er seit Monaten mit seinem Körper anstellte, war so unglaublich groß. Die Angst, dass jemand sein Abhungern oder seine nächtlichen Fressattacken bemerkte. Niemand sollte etwas davon erfahren. Jetzt noch nicht. Erst wenn alles so war, wie er es sich vorgestellt hatte. Wenn man seinen Erfolg sehen konnte... Doch wusste er nicht, welche fatalen Konsequenzen seine Methode erreichen würde. Dass dieser Gewinn krank war. Dieser Erfolg kaputt machend. Dass er Tag für Tag mehr starb… Ein wenig ängstlich lehnte er sich gegen die Tür. Drückte sein Ohr gegen das raue Holz. Lauschte. Wollte wissen, ob noch wer im Hause wach war. Doch diese Sorge war dumm. Wer würde um zwei Uhr nachts noch wach sein? Außer ihm? Eigentlich niemand. Zitternd drückte er die Türklinke nach unten. Mit leisem Knarren öffnete sich diese. Erschrocken zuckte er bei dem Geräusch zusammen. Es kam ihm vor, als hallte das Knarren von den Wänden wider. Unheimlich und laut… Im Flur herrschte Dunkelheit. Ruhe. Erdrückende Stille. Sie drückte auf seine Schultern. Erneut knurrte sein Magen auf. Verlangte so dringend nach Essen, dass ihm schon schlecht war. So, als würde er sich gleich übergeben müssen. Seine Hände drückte er fester gegen seinen Bauch. Beugte sich nach vorne. Das Laufen fiel ihm schwer. Sein Körper fühlte sich so schwach an, dass selbst das Gehen Mühe bereitete. Mit seiner Schulter lehnte er am Türrahmen. Verschnaufte kurz, ehe er ein wenig taumelnd durch den finsteren Gang lief. So dunkel, wie es in ihm aussah. Aber er sah dies nicht. Sah sein eigenes Leid nicht. War blind. Wie jeder in diesem Haushalt. Zögerlich tastete er sich durch die Küche. Seine Hände zitterten. Ob er doch nur wieder einen Liter Wasser trinken sollte? Es würde gegen seinen Durst und den brennenden Hunger helfen. Wie so oft davor auch schon… Mit trägen Schritten lief er zum Schrank und musste sich ein wenig strecken, um an die Gläser heranzukommen. Mitten in der Bewegung verharrte er, als ein starkes Stechen durch seinen Magen fuhr. Er zuckte zusammen und stellte sich wieder gerade hin. Den Blick auf die Küchenfliesen gerichtet. Dann würde er eben den Liter Wasser direkt aus der Flasche trinken. Er ging zum Kühlschrank. Zittrig klammerten sich seine Hände an den Kühlschrankgriff. Krallten sich an diesem fest wie die eines Ertrinkenden an einem Grashalm. Sein Körper bebte unbewusst vor Freude. Lautlos öffnete er den Schrank. Das helle Licht blendete ihn für einen kurzen Moment. Raubte ihm die Sicht auf das Innere. Er musste oftmals blinzeln, da seine Augen das gleißende Licht nicht gewohnt waren. Es dauerte einen Augenblick, ehe er alles erkannte. Mit bebenden Fingern griff er hinein, erwischte die kalte Wasserflasche. Mit einem Ruck zog er diese heraus, doch es war schon zu spät. Sofort fiel der Teller mit dem Schokoladenkuchen in seinen Blick. Eine Kalorienbombe, die er sich nicht leisten sollte. Wieder knurrte sein Magen. Verlangte nach Essen. Nach diesem so verlockenden Schokoladenkuchen. Eine kleine, vernünftige Stimme in seinem Inneren rief immer wieder, dass dieses eine Mal schon nicht schaden würde. Aber… Er zögerte einen kurzen Moment. In seiner Erinnerung wusste er, dass der Kuchen morgen für Hanabi gedacht war. Er wusste es, doch war der Drang, gerade diesen Kuchen zu essen, gigantisch. So groß, dass ihm die Konsequenzen am darauffolgenden Tag egal waren. Scheißegal. Genauso, wie viel Kalorien diese süße Verlockung hatte. Die Vorfreude auf das Kommende stieg an. Er fühlte sich wie im Rausch. Vergaß für einen Moment seine ‘Diät’. Seinen Zwang, weniger zu essen. Sofort stellte er seine Wasserflasche ungeöffnet in den Kühlschrank. Er griff nach dem Teller. Krallte sich schon fast verzweifelt und krampfhaft an das kalte Porzellan. Zitterte so sehr, dass er Mühe hatte, den Kuchen nicht fallen zu lassen. Mit einem Finger strich er zögerlich ein wenig Schokocreme ab. Starrte diese auf seiner blassen Haut an, als wäre es etwas Verbotenes. Etwas Verlockendes. Etwas, was er nicht einmal ansehen durfte. Eigentlich war es für ihn etwas Verbotenes, da er wusste, dass diese Süßspeise etliche Kalorien mit sich herumschleppte. Doch konnte er im Augenblick nicht widerstehen. Zögerlich steckte er seinen Finger in seinen Mund, ehe er ihn ableckte. Den süßen Geschmack auf seiner Zunge schmeckte und genoss. Jeden Millimeter Haut leckte er ab, um wirklich alles zu erwischen. Doch das reichte nicht, um seinen hungrigen Magen zu besänftigen. Ihn zu befriedigen. Denn dieser wollte mehr. Weitaus mehr… Wie ein wildes Tier, welches sich über seine Beute hermachte, verhielt er sich bei dem Kuchen. Er griff mitten in die Schokolade, packte die Creme und stopfte sie sich in seinen Mund. Er schlang Bissen für Bissen herunter. Kämpfte sich da durch, bis der letzte Krümel vom Kuchenboden vertilgt war. Der letzte Bissen der Schokolade. Er leckte den Rest von seinen Fingern ab. Saugte an diesen, damit er dem süßlichen Geschmack noch einem Moment auf der Zunge schmecken konnte. Damit er das klebrige Zeug von seiner Haut bekam. Mit zufriedengestelltem Magen stellte er den Teller in die Spüle. Er fühlte sich nicht mehr hungrig an, doch satt war er auch nicht. In den nächsten Sekunden fiel sein Blick sofort wieder in den Kühlschrank, nur um noch zwei Vanillepuddings zu erblicken, welche er darauf aufaß… Er wusste nicht, wie lange er schon vor dem Kühlschrank stand. Aber mit einem erschöpften Seufzen lehnte er sich gegen die Arbeitsplatte und streichelte sich beruhigend über seinen rumorenden Bauch. Er war satt. Pappsatt. So vollgestopft, dass er das Gefühl hatte, nichts mehr herunterzubekommen. Seine Hände legten sich auf das kühle Holz der Arbeitsplatte, strichen kurz darüber, ehe er sie wieder auf seinen Bauch bettete, welcher leicht gewölbt war. Seine Finger schwitzten fürchterlich. In seinen Bauch grummelte es schrecklich. Das schlechte Gewissen meldete sich sofort. Sagte ihm, dass es falsch war, was er eben gemacht hatte. Tadelte ihn für seine Schwäche. Tadelte ihn dafür, dass er nicht stark genug war und dem Drang, etwas zu essen, nicht widerstanden hatte. Und zu den Selbstvorwürfen kam die Übelkeit. Ihm war unglaublich schlecht. So sehr, dass er es nicht mehr zurückhalten konnte. Mit einem Moment wurde ihm kalt. Eiskalt. Ein Zittern durchfuhr seinen Körper. Ein Schauer rann über seinen Rücken... Sofort rannte er in Richtung Bad. Schlug hinter sich die Tür zu und schaffte es gerade noch so, den Schlüssel im Schloss herumzudrehen. Unbewusst und mit Routine streifte er mit seiner Hand über den Lichtschalter und tauchte den Raum in Helligkeit. Kurz blinzelte er verschreckt, ehe er hastig zur Toilette stürzte. Er würgte alles wieder hervor. Alles, was er eben heruntergeschlungen hatte. Alles kotzte er wieder heraus. Seine Hände krallten sich an die Toilettenschüssel. Krallten sich an das Porzellan. Sein Hals brannte. Ein widerlicher Geschmack herrschte in seinem Mund. Auf seiner Zunge. Mehrere Male würgte Neji. Würgte und erbrach sich. Solange, bis nichts mehr herauskam außer Magensäure und Speichel. Solange, bis er sich sicher war, dass nichts mehr kam. Dass nichts mehr in ihm war. Dass er nichts mehr hatte, was er hätte erbrechen können. Was er hätte hervorholen können. Alles war draußen. Das Essen. Alles. Sein altes ich. Alles. Er selbst. Sein Körper erbebte unter dieser Anstrengung. Doch war wirklich alles draußen? Er war sich nicht sicher, auch wenn nichts Weiteres als Flüssigkeit herauskam. Seine Finger krallten sich an die Schüssel. Er versuchte noch einmal, zu würgen. Versuchte noch einmal, sich zu übergeben. Aber er konnte nicht. Nichts kam mehr… Was auch? Es gab nichts mehr, was sein müder Leib noch hätte hergeben können… Bebend löste er eine Hand von der Toilettenschüssel und betrachtete diese im schwachen, schummrigen Licht der Deckenlampe. Seine Sicht war verschwommen. Sein Blick glasig. Vereinzelte Tränen liefen noch von der Anstrengung in feuchte Bahnen über seine Wangen. Seine Atmung war hektisch. Wie hypnotisiert betrachtet er seine linke Hand. Er hatte nur flüchtig darüber gelesen, aber würde es wirklich helfen? Einen Moment verharrte er noch regungslos vor der Schüssel. Ihm war immer noch schlecht. Sicherlich war dieses ganze süße Zeug noch nicht vollends aus seinen Magen heraus. Sicherlich… Ein wenig ungeschickt steckte er sich seinen linken Zeige- und Mittelfinger in den Mund und weiter vor zum Gaumen. Ein erdrückendes Gefühl breitete sich in seinem Hals aus. Er hatte einen Moment Angst, weiter vorzurücken. Aber war wirklich alles heraus? Er wollte sicher sein. Er schob seine Finger weiter zum Rachen vor. Es hob ihn leicht, weswegen er die Finger minimal zurückzog. Hart schluckte er, bevor er erneut die Finger tiefer in seinen Mund schob. Er beugte sich weiter über die Toilettenschüssel vor. Im nächsten Moment bemerkte er erneut, wie er mit Würgen begann. Die Finger noch im Mund, riss er diese heraus, als ein erneuter Schwall Flüssigkeit herauskam. Keuchend verharrte er noch einen Moment über die Schüssel gelehnt. Schweiß lief seine Schläfe entlang. Floss über die Wange und perlte am Kinn ab. Sein nackter Oberkörper war mit einem leichten, feuchten Schweißfilm überzogen. Seine Arme zitterten. Seinen Blick hatte e starr in die Toilette gerichtet. Doch nichts kam mehr. Alles war heraus. Wirklich alles… Seine Hände lockerten sich ein wenig. Er fühlte sich schwach an. Ausgelaugt. Doch ihm war dieses Gefühl wichtig. Es fühlte sich für ihn richtig an. Es gefiel ihm. Dieses Gefühl, dass er etwas Richtiges gemacht hatte. Es beherrschte ihn. Es regierte ihn. Es berauschte ihn. Es brachte ihn dazu, dass er immer weniger aß. Dass er immer weniger zu sich nahm. Dass er immer mehr abnahm. Dieser Stolz. Dieses Glückgefühl. Dieses Gefühl von Richtigkeit. Dieses Gefühl von Macht über seinen Körper. Doch dies alles war nur Schein und Trug. Ein Hirngespinst. Neji lebte einzig und allein eine Lüge. Eine Lüge, gesteuert von der Zahl auf der Waage… ~*~*~ Sein Handy klingelte. Sein Wecker war auf sechs Uhr gestellt. Müde tastete er über das raue Bettlaken und versuchte, den Störenfried auszuschalten. Ein erschöpftes Brummen kam über seine Lippen, als er sein Handy auf Schlummern gestellt hatte. Die Sonnenstrahlen kitzelten seine Nase. Seine Haare waren zerzaust, als er sich schwerfällig aufsetzte. Die Nacht war eine Katastrophe gewesen. Viel zu kurz und qualvoll. Ihm war jetzt noch schlecht. Oder schon wieder? Zitternd vergrub er seine Finger der linken Hand in das zerwühlte, weiße Laken. Die andere hatte er auf seinen Bauch gepresst. Die Angst, dass er durch die nächtliche Fressattacke zugenommen hatte, war groß. Wie viele Gramm waren es dieses Mal? Was hatte er nur alles in sich hineingewürgt? Und dies in so kurzer Zeit? Seine Finger krallten sich tief in seine nackte Haut. Spürten dort noch hauchdünn seine Rippen, wenn er fester darauf drückte. Alles musste weg! Alles! Es war krank, aber das interessierte ihn nicht. Es war ihm egal. Er selbst fühlte sich noch nicht dünn genug an. Träge schob er seine Beine aus dem Bett. Sie fühlten sich schlapp an. Müde, sodass sie Mühe hatten, seinen erschöpften Körper überhaupt aufrecht zu halten. Seine Füße spürten sofort den rauen Teppich unter sich. Leicht strich er mit seinen Zehen über den Stoff. Nur müde bewegte er sich vorwärts. Sein Fokus war auf das Badezimmer gerichtet. Seine Gedanken drehten sich nur um die Zahl, welche die Waage anzeigen würde. Hatte er zugenommen? Wenn ja, was dann? Er würde den ganzen Tag über fast bis gar nichts essen. Dann würde das Gewicht wieder so werden, wie er es wollte. Dies war der Preis, den er bezahlen musste. Dies war der Preis, den er zahlte… Nur mühsam bewegte er sich aus dem Zimmer. Schwankte. Ihm war so schwindlig. Und so schlecht. So unglaublich schlecht. Im Badezimmer schloss er die Tür hinter sich ab. Damit niemand hereinplatzen konnte. Damit ihn niemand hier drin überraschen konnte. Kurz rieb er sich noch den wenigen Schlaf aus den Augen. Seine Sicht war noch verschwommen. Er war müde. Müde vom Leben. Sein Körper war müde. Müde von dem vielen Abnehmen. Seine Beine zitterten fürchterlich und schmerzten bei jedem Schritt. Neji schwankte noch einmal, bevor er sich an der Badezimmertüre zu Boden gleiten ließ. Ihm war schlecht vor Hunger. Unter anderem hatte er schon die Befürchtung gehabt, dass seine Beine jeden Moment nachgeben würden. Einfach so zusammenbrechen würden. Wie lange würden sie die Last noch tragen können? Er atmete tief ein und aus. Sein Herz raste so fürchterlich, dass es schon fast hinter seinen Rippen schmerzte. Zitternd legte er seine linke Hand auf die Brust. Wollte es zur Ruhe bringen. Doch es schlug nur umso schneller. Es kostete ihn unglaublich viel Kraft. Nur träge konnte er seinen Körper bewegen. Müde… Er war so unglaublich müde… Er war müde. Sein Körper war müde. Sein Leben war ausgebrannt… Doch er sah es nicht. Bemerkte es nicht. Verstand es nicht. Für ihn fühlte es sich ‘gut’ an. Er war ‘gesund’. Er wurde jede Woche immer ein Stück leichter. Es war sein ‘Leben’. Das Leben, welches ihn Gramm für Gramm mehr in den Tod trieb… Minuten vergingen. Er blieb noch einem Moment sitzen. Den Kopf zu Boden gesenkt. Die Atmung noch ein wenig langsamer. Tief ein. Tief aus. Immer im Gleichtakt und ruhig. Wenn er zu schnell atmete, dann würde diese Übelkeit nicht besser werden. Gleich ging es wieder. Er wusste es. Gleich konnte er wieder aufstehen. Sich auf die Waage stellen und sehen, wie viel er wirklich zugenommen hatte. Dies war nur vorübergehend, da er noch in seiner Anfangszeit war. Sicherlich… Zitternd stand er auf. Zerrte sich an der Türklinke nach oben. Seine Beine fühlten sich noch ein wenig wacklig an, doch das würde gleich vergehen. Sicherlich. Gebannt waren seine Augen auf die Waage gerichtet. Er dürstete jetzt schon nach der Zahl, die das Gerät heute Morgen anzeigen würde. Er war süchtig danach zu erfahren, wo der Zeiger heute stehenbleiben würde. Mehr oder weniger? Er hoffte, dass das Letztere eintraf... Zögerlich stellte er sich auf die Waage. Wartete darauf, dass der Zeiger dieser stehenblieb. Ihn kam es vor wie Stunden, ehe der Zeiger bei 68,8 zum Stillstand kam. 68,8 - hundert Gramm weniger als am Vortag. Also hatte ihm diese Fressattacke und seine Alles-sofort-wieder-herauskotzen-Aktion nicht geschadet. Vielleicht half es ihm sogar beim Abnehmen? Wenn er sein Essen im Notfall sofort wieder hervorbrachte, so konnte sein Körper kein neues Fett ansetzen, oder? Er würde es sich merken. Im Notfall Kotzen gehen. Wenn es sein musste sogar Tag ein, Tag aus. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ein Lächeln voller Stolz. Er nahm jeden Tag ab. Stück für Stück. Ein Glückgefühl durchströmte seinen Körper. Hastig schlüpfte er aus seiner Boxershorts und stellte sich unter die Dusche. Schnell duschte er sich ab. Kalt rann das Wasser über seinen Körper. Ließ diesen erzittern. Seine Zähne klapperten. Schlugen hart aufeinander. Doch davon ließ er sich nicht beirren. Er brauchte diese kalte Dusche. Damit sein Körper nicht unterkühlte, würde dieser selbst versuchen Wärme zu produzieren. Und Wärme bedeutet Energie. Sein Körper würde Energie und damit Kalorien verbrennen. Er würde alles machen, um jedes einzelne Gramm in seinen Körper zu vernichten. Jedes Mal ein Gramm mehr bis zu seinem endgültigen Verderben… Bibbernd drehte er das Wasser ab und schlang sich ein Handtuch um den Körper. Etwas lockerer, damit niemand sah, wie viel er schon abgenommen hatte. Damit niemand seine Erfolge der ‘Diät’ bemerkte. Jetzt noch nicht. Jetzt sollte es noch niemand bemerken. Erst wenn er selbst mit sich zufrieden war. Er wollte die Leute reden hören. Er wollte hören, wie sie über ihn und sein neues Aussehen redeten. Er wollte von ihnen hören, wie weit er es schon gebracht hatte. Die Leute sollten seinen Erfolg rühmen. Heute waren es schon fast fünfzehn Kilogramm. Ende Februar wog er noch knappe 83 Kilogramm. Und heute… Heute wog er schon fast fünfzehn Kilogramm weniger, doch es reichte noch nicht. Es musste noch so viel weg. So viel… Aber er würde es schaffen! Fröstelnd verließ er das Badezimmer. Schloss lautlos die Tür hinter sich. Er hörte Stimmen. Anscheinend waren schon die Ersten wach. Hastig verschwand er wieder in sein Zimmer. Schloss sich in diesem ein. Stellte sich mit dem Rücken zur Tür. Ihm war immer noch so schlecht vor Hunger. Sein Körper immer noch eiskalt. Wie jeden Morgen... Langsam und Schritt für Schritt kämpfte er sich zu seinem Kleiderschrank vor. Öffnete diesen. Im Inneren hatte er einen großen Spiegel befestigt. Auch wenn es eitel klang, seit Beginn seiner ‘Diät’ betrachtete er sich oft im Spiegel. Er sah jeden Tag von Neuem, wie er immer mehr abnahm. Wie schlank er wurde. Doch dass es krank war, das sah er nicht… Wieder betrachtete er sich im Spiegel. Warf sein Handtuch zu Boden, schaute sich genau und kritisch an. Seine Hüften waren wirklich noch zu fett. Und seine Oberschenkel waren noch ziemlich breit. An seinen Schultern konnte er auch noch etwas verlieren. Leicht drehte er sich zur Seite, als er den fast recht flachen Bauch im Spiegel betrachtete. Leicht strichen seine Hände über diesen, ehe er seine Fingernägel in diesen krallte. Der Bauch musste weg. Auf jeden Fall! Plötzlich schlug er mit der Faust neben den Spiegel. Schmerz pulsierte durch seine Hand und sein Gelenk. Er war immer noch nicht mit sich zufrieden. Es musste mehr weg. So viel. Es reichte noch lange nicht. Auch wenn er jetzt schon Erfolge sehen konnte, so durfte er sich auf diesen nicht ausruhen. Sein Ziel war noch so weit weg. So unglaublich weit. Er wurde immer kritischer mit sich, doch… Die dürren Hand- und Fußgelenke bemerkte er nicht. Er konnte diese locker und ohne Probleme schon mit einer Hand umfassen. Dies sah er nicht. Dafür war er blind. Er erkannte nur die Mängel, die er an seinem noch nicht vollständig perfekten Körper auffinden konnte. Schwerfällig hatte er sich sein weißes Hemd übergezogen. Ein wenig zitternd knöpfte er die Knöpfe seines Oberteiles zu. Sofort schlüpfte er in seine Boxershorts und in seine schwarze Hose. Er war innerlich aufgewühlt. Noch total aufgeregt, wie viel er heute auf der Waage wog. Aber auch vor unterdrückten Frust, da sein Ziel noch so weit entfernt war. Wie lange würde er noch brauchen? Wie viele Monate? Leise seufzte er auf und schlug sich einmal leicht gegen seine Wangen. Heute war wieder Schule. Seinen schwarzen Blazer würde er erst nach dem Frühstück anziehen. Während er seine Haare föhnte, zitterten seine Finger. Seine Hände. Sie waren eiskalt. Ebenso wie sein Körper noch von der Dusche. Aber langsam wärmte dieser sich auf. Langsam und mit aller Ruhe. Schnell band er sich seine braunen Haare zu einem Zopf. Vereinzelte Strähnen fielen ihm in seine Stirn. Verdeckten seine lavendelfarbenen, funkelnden Iriden. Doch wie lange würden sie noch glänzen? Wie lange würde noch das Leben in ihnen schimmern? Noch einmal tief durchatmend drehte er sich vor seinem Spiegel, ehe er das Zimmer wieder aufschloss und dieses verließ. Der Gang kam ihm wie ausgestorben vor. Vor einigen Monaten hatten hier noch zahlreiche Familienfotos gehangen. Aber von Zeit zu Zeit verschwanden immer weitere Bilder von dieser Wand… Zögerlich strich er über eine Stelle, wo er sich noch sicher war, dass hier einst ein Familienfoto mit allen zusammen angebracht war. Eine lächelnde Hinata mit ihrem stolzen Vater und einer schwangeren Mutter. Leicht zog er die Stirn kraus. Wenn er es so recht bedachte... Seit er hier im Hause der Hauptfamilie wohnte, hatte er das scheue Mäuschen von Hinata noch nie lächeln gesehen. Meistens hatte diese den Kopf gesenkt, wenn sie sich begegneten. Beide wechselten auch selten ein Wort miteinander. Doch ihm war es egal. Wenn sie nicht reden mochte, er wollte es sowieso nicht. Diese Familie war ihm sowieso egal. Genauso wie er es ihnen war. Doch in seinem Inneren wollte er eigentlich nur akzeptiert und geliebt werden… Neji wandte seinen Blick wieder von der Wand ab und schritt in Richtung Küche. Er hörte die laute Stimme seines Onkels. Ebenso die von Hanabi, welche sich laut bei ihm beschwerte. Hörte er da ein Schluchzen? Er kam in die Küche. Zog damit regelrecht die Aufmerksamkeit der beiden Anwesenden auf sich. Mit skeptischem Blick betrachtete er seine zehnjährige Cousine. Das lange Haar ein wenig zersaust von ihrem Zopf gehalten. Die lavendelfarbenen Augen, die jeder in der Familie besaß, starrten ihn wütend an, ehe sich Hanabi verheult mit dem Pulloverärmel undamenhaft über das Gesicht wischte. “Du bist blöd!” Überrascht hob Neji die Augenbrauen an. Warum fuhr die Kleine ihn so an? Was hatte er ihr bitte schön getan? Ein wenig skeptisch betrachtete er sie. Plötzlich wurde er grob am Oberarm angepackt. Gegen den Küchentisch gedrückt, sodass dieser unter seinem Gewicht ein wenig nach hinten rutschte. Erschrocken kniff er seine Lider zusammen. Der Griff seines Onkels schmerzte furchtbar. Er verstand nicht. Überrascht öffnete er seine lavendelfarbenen Iriden. Sicherlich würden rote Striemen, Abdrücke oder blaue Flecken auf seiner blassen Haut bleiben... Sofort legte sich seine emotionslose Maske auf sein Antlitz. “Was ist los?” “Du hast genau gewusst, dass der Kuchen für Hanabi war!” Jetzt verstand er. Es ging hier allein nur um diesen Kuchen, den er in der Nacht gegessen hatte. Mit all dem Vanillepudding. Wenn er jetzt noch daran dachte, wie viel Kalorien er da mit einem Schlag in sich hineingewürgt hatte, da wurde es ihm noch schlechter. Oh Kami! Er wollte gar nicht wissen, was sein Gegenüber sagen würde, wenn er erzählte, dass er den Kuchen und all die anderen Dinge im nächsten Moment wieder herausgekotzt hatte... Leicht biss er sich auf seine Unterlippe. Getraute sich nicht, ein Wort zu sagen. Er versuchte zur Ruhe zu kommen. Hatte Angst, dass er die Beherrschung verlor. In letzter Zeit hatte er immer wieder Mühe, dass er nicht gleich bei jedem Bisschen an die Decke ging. Meistens wich er den Konfrontationen mit seinem Onkel aus. Verschwand, ohne zu essen, in sein Zimmer - oft mit der Begründung, er habe schon was gegessen. Oftmals war es nur ein trockenes Brötchen, was er sich aus der Küche genommen oder beim Bäcker nebenan gekauft hatte. Er biss sich fester auf seine Unterlippe. Kaute auf dieser herum und riss diese auf, sodass Neji sein eigenes Blut schmeckte. Metallisch und widerlich. Am liebsten würde er jetzt kotzen gehen und alles aus sich herausholen. Sein Innerstes, seine Emotionen, irgendetwas, um dieses eklige Gefühl zu vertreiben. Aber in ihm war nichts mehr, was er herausbrechen könnte. Alles war leer und das Einzige, was er machen konnte, war alles herunterzuschlucken. Er schluckte sein Blut, seine Wut auf seinen Onkel und auf sich herunter. Schließlich war er selbst schuld an der Sache. Er hätte es doch ahnen müssen... Nein, er hatte es sogar gewusst! Dennoch war sein Hunger so gigantisch. Seine Angst vor dem nächsten Tag so winzig. Seine Beherrschung so klein. Sein Wille schwach. Er war selbst schuld daran, dass er nun den Ärger kassieren musste. “Was denkst du, was du dir erlauben kannst?! Das Frühstück kannst du vergessen! Wenn ich daran denke, dass du über Nacht...” Sein Onkel verzog bei diesen Worten das Gesicht. Ekel und Abscheu waren zu lesen. Und Hass. Abgrundtiefer Hass. Neji zitterte. Das wollte und konnte er nicht mehr ersehen. Warum immer er? Was hatte er gemacht? Nichts... Außer der Sache mit dem Kuchen hatte er dieser Familie doch nichts angetan! Gar nichts! Und dieser billige Kuchen war doch auch nur schnell mit billigen Zutaten aus dem Discount gebacken gewesen. Warum dann dieser Hass auf ihm? Warum diese Wut? Er zerrte und zappelte mit seinem Arm. Versuchte sich aus dem Griff zu befreien. Es war schwer und mühsam. Außerdem schmerzte es. Es schmerzte so fürchterlich! Auf seiner Haut, aber vor allem in seinem Inneren… “Lass los, verdammte Scheiße!” „Nicht in diesem Ton, junger Mann! Wirklich! Wäre ich dein Vater, ich hätte dich anders erzogen!” „Bist du aber nicht, also lass los!“ “Nein! Was glaubst du, was du bist?!“ “Eine Verpflichtung, oder?! Mehr bin ich doch nicht für dich! Eine gottverdammte Verpflichtung!” Er schrie. Schrie diese Sätze seinem Gegenüber mitten ins Gesicht. So sehr, dass sein Hals brannte. So sehr, dass ihm für einen kurzen Moment die Luft wegblieb. Verdammt! Er war doch nur eine dumme Verpflichtung! Ein Gegenstand. Mehr nicht... Zumindest hatte es ihm sein Onkel so gelehrt. Hatte es ihm jeden Tag vorgehalten. Es ihm jeden Tag gezeigt. Ihm jeden Tag ins Herz gebohrt. Tief und schmerzhaft... Leise keuchte er, erschöpft. Er zog seinen Arm aus dem Griff. Taumelte nach hinten und fiel. Er prallte unsanft mit seinen Kopf gegen das Tischbein. Ein pochender Schmerz zog durch diesen. Erschrocken keuchte er auf. Ein schmerzvolles Stöhnen kam über seine Lippen. Seinen Blick hatte er zu Boden gerichtet, als sich plötzlich ein Schatten über ihm aufbaute. Ein leichter Tritt in die Seite zwang ihn widerwillig aufzusehen. Voller Zorn waren die Augen seines Gegenübers. Voller Zorn und Abscheu. Und so etwas nannte sich Familie! „Verschwinde! Für heute will ich dich nicht mehr sehen, verstanden?!“ Leise knirschte er mit seinen Zähnen, ehe er seinen Blick wieder abwandte. Seine Finger strichen fahrig über die Fliesen in der Küche, ehe er diese zitternd in den Stoff seiner Hose verkrallte. Leicht nickte er, während er sich weiter auf seine Unterlippe biss. Es war so unglaublich unfair. Seine Schultern bebten leicht. Er hörte die Schritte, welche langsam die Küche verließen. Er hörte sie laut und deutlich in seinen Ohren. Ebenso wie sein eigenes Blut, was durch seine Adern rauschte. Leicht ballte er seine Hände zu Fäusten, ehe er diese hart auf die Fliesen schlug. Verzweifelt und voller Schmerz. Was sollte er noch machen? Er hielt es einfach nicht mehr aus. Er konnte einfach nicht mehr. Warum spielte das Schicksal so ungerecht mit ihm? Dabei wollte er es doch selbst in seine Hand nehmen. Sein eigenes Schicksal. Seine Hände schmerzten schon, doch er hörte nicht auf. Weiter schlug er auf die Küchenfliesen ein. Solange. So sehr. Er wusste einfach nicht mehr weiter… „Verdammt! Verdammt! Verdammt…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)