Mayaku, Gókan to Damaru [Teil I] von abgemeldet (Die Vergangenheit ist unwiderruflich) ================================================================================ Kapitel 14: Die Puppenmaske [Teil 4] ------------------------------------ Als Vater mitgenommen wurde, hatte ich wirklich gedacht: “Endlich ist alles vorbei!”. Ich sollte mich erleichtert und erlöst fühlen. Doch je mehr ich meinen Geschwistern in die Augen sah, desto mehr wurde mir klar, dass den größten Fehler nicht unser Vater gemacht hatte. Den größten Fehler in der Familie hatte ich gemacht. Der Fehler, nie für meine Geschwister da gewesen zu sein. Während der Zeit im Atarashii Semei konnte ich nachdenken. Über meine Geschwister. Über Vater. Über mich. Doch egal, wie oft ich versuchte mich Temari und Gaara zu nähern. Welten lagen zwischen uns. Ich war kein Teil mehr von ihnen. Die Schuldgefühle in meinem Herzen waren unglaublich schwer und unerträglich. Sie zerrissen mein Inneres in zwei Stücke. Ich hatte schon viel zu lange gekämpft. Ich konnte einfach nicht mehr. Wie eine Marionette, deren Fäden gerissen waren… Die Puppenmaske [Teil 4] 28. Dezember 2009 “Onee-chan…” Dünn kamen die Worte über seine Lippen. Hatte er doch selbst kaum Schlaf in dieser Nacht gehabt. Und nun saß er wieder hier. Neben ihr auf ihrem Bett. Die Matratze sank ein Stück, als er sich tiefer in das Laken sinken ließ. Leicht streckte er seine rechte Hand nach ihr aus. Zögerte mitten in der Bewegung. Das Fenster in ihrem Zimmer war sperrangelweit offen. Seine Hand zitterte. Vor Kälte und Angst. Angst, ihr zu nahe zu kommen. Angst, seine Schwester zu berühren. Angst, dass sie ihn erneut zurückweisen würde. Angst, dass er erneut eine tiefe Narbe in ihr aufriss… “Onee-chan…” Seine Schwester reagierte nicht. Zitternd saß Temari in ihrem Bett. Die Arme um die Knie geschlungen. Ihre bebenden Finger krallten sich in den Jeansstoff ihrer Hose. Es war noch mitten in der Nacht. Draußen war es noch dunkel. Nur schwach schien der Halbmond ins Zimmer. Müde griff Kankuro zu seiner Armbanduhr und versuchte im schwachen Mondenschein zu erkennen, wie spät es war. Die Uhrzeiger standen auf kurz nach halb drei. Ein tonloses Seufzen verließ seine Lippen. Sachte legte er seine Hand auf ihre Schulter, woraufhin Temari erschrocken zusammenzuckte und sich wimmernd mehr zusammenkauerte. Sofort nahm er die Hand wieder runter. Biss sich auf die Unterlippe und drehte sein Gesicht weg. Leicht kniff er die Augen zusammen. Ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte geahnt, dass sie ihn zurückweisen würde. Er hatte geahnt, dass seine Berührung ihr Angst machen würde. Er hatte es geahnt und dennoch hatte er dem Drang nachgegeben, sie zu berühren. Mit dem Ergebnis, dass er eine ihrer seelischen Narben aufriss… Zitternd stellte er sich auf. Blieb einen Moment neben ihren Bett stehen, ehe er sich umwandte. Mit langsamen Schritten ging er zur Zimmertür, öffnete diese und verharrte einen Moment im Rahmen. Den Blick zu Boden gerichtet. Die Hände weiter zu Fäusten geballt. “Ich hol die Nachtschwester, in Ordnung?” Kankuro wusste, dass er keine Antwort bekommen würde, weswegen er gleich nach seinen Worten das Zimmer verließ. Fast lautlos schloss er die Tür hinter sich. Schwer lehnte sich sein Körper gegen das Holz. Seine Knie zitterten. Er hatte schon die Befürchtung, dass er hier gleich zusammenbrach. Unter den Lasten auf seinen Schultern. Unter diesen unerträglichen Schuldgefühlen. Bebend hob er seine linke Hand an. Vergrub sein Gesicht in dieser. Krallte die Fingernägel in Stirn und Wange. So sehr, dass es schmerzte. So sehr, dass Abdrücke zurückbleiben würden. Er konnte nicht mehr. Er wollte nicht mehr. Er schaffte es nicht mehr. Was war dies für ein Leben, das er da lebte? Voller Lügen? Voller Masken? Voller Schuldgefühle? Was war dies für ein Leben? Am liebsten würde er sterben. Nie wieder die Augen öffnen. Blind, taub und stumm sein. Allem ein Ende setzen. Wie viel musste er noch sehen? Wie viel musste er noch hören? Wie lang musste er noch schweigen? Er war am Ende. Am Ende mit sich selbst. Am Ende mit allem… ‘ Verstehst du mich? Das stumme Schreien? Ich würd’ mich gerne von allem befreien. ‘ ~*~*~*~ Leise Stimmen waren zu hören. Im Hintergrund lief ruhig und fast lautlos die Musik von Wellengeräuschen aus einem CD-Spieler. Schritte waren zu hören. Das Öffnen der Türe, wenn jemanden hereinkam oder hinausging. Das Rascheln von Stoff, wenn sich jemand bewegte. Das Treiben auf dem Gang. Die Stimmen von draußen. Stimmen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Von Mädchen und Jungen. Frauen und Männern. Leicht lehnte er sich gegen den Fensterrahmen. Müde den Kopf gegen das kalte, feuchte Glas gepresst, an dem sich der Morgentau abgesetzt hatte. Die Lider waren ein wenig gesenkt. Ein Schatten legte sich über seine Iriden. Er sah nach draußen. Sah in den verschneiten Dezembermorgen. Leise rieselte der Schnee vom Himmel. Malte kleine Kristallbilder an die Scheibe. Bedeckte die Landschaft draußen mit seinem Weiß. Legte sich auf den kahlen Ästen der Baumkronen ab. Rein und unschuldig sah es aus. Seine Arme hatte er erschöpft vor der Brust verschränkt. In seinem Kopf war alles leer. Leer und leblos. Sinnlos. Wertlos. Er kam sich noch vor, als wäre er auf einem Horrortrip. Dabei war sein letzter vor vier Wochen gewesen. Seine Glieder waren steif. Seine Muskeln verkrampft. Seine Finger zitterten. Kankuro sah mager und blass aus. Auf seiner Unterlippe war eine dünne Blutkruste zu sehen. In den letzten Tage hatte er sich diese immer wieder von Neuem aufgebissen und wundgeleckt. Er war dem Tod entkommen. Mal wieder entkommen… Vor fast vier Wochen hatte er wirklich noch gedacht, er würde sterben. Eiskalt an den Folgen seiner Dummheit. Seiner Blindheit. Seiner Torheit. Als man ihm die Chance gegeben hatte, einen kalten Entzug zu machen, um von den Drogen und dem Alkohol wieder herunterzukommen, hätte er nicht gedacht, dass er einmal zur Hölle ging und lebend wieder zurückkam. Diese Wochen hatte er auf einer gesonderten Station verbracht. Abseits von allen. Weg von seinen Geschwistern. Es war wirklich der Horror gewesen. Für seinen Körper, sowie für seinen Geist. Zwischen Krämpfen, Fieberanfällen oder Schüttelfrost, Übelkeit und Durchfall. Halluzinationen, Schlafstörungen und Aggressionen. Er hatte Schmerzen gehabt. So unendliche Schmerzen. Schmerzen, die heute noch seinen Körper zerrissen. Seinen Körper und seine Seele… Doch trotz der Tatsache, dass er einen Entzug gemacht hatte, war alles wie immer. Selbst noch Wochen danach. Seine Schuldgefühle waren immer noch da. Tief in ihm vergraben. Im Herzen verankert. Er war dem Tod entkommen. Dem Alkohol. Den Drogen. Seinem Vater. Dem Schweigen. Dem Schauspiel zu Hause. Seinem alten Leben. Doch geändert hatte dies alles nichts. Nichts hatte sich geändert. Er war immer noch müde. Müde vom Leben. Müde vom Zuschauen. Müde von sich selbst. Er hatte oftmals wirklich das Gefühl, dass er sterben würde. Und oftmals hatte er es sich gewünscht, dass er wirklich tot war… ‘ “Ich will sterben…“, sagt die Hoffnung. “Du bist schon tot”, sagt die Vernunft. ‘ Träge lehnte er sich mehr gegen den Fensterrahmen. Sein Becken drückte sich dabei an die Heizung. Warm war es hier. Warm und angenehm. Die Heizkörper waren angestellt. Eine positive Atmosphäre lag in der Luft. Dennoch… Leicht hob er den Kopf an. Langsam und träge. Er war so unglaublich müde vom Leben. Zitternd öffnete er seine Augen ganz, ehe er sich umschaute. Es saßen nicht viele hier im Gemeinschaftsraum. Einige waren zur Morgenschule gegangen. Wenige waren in den Essenräumen. Viele verbrachten den Vormittag allein in ihren Zimmern. Sein Blick blieb an einer gelb gestrichenen Wand hängen. Gezeichnete Bilder klebten an dieser. Bilder von noch jüngeren Kindern, die hier in diesem Heim, in dieser Heilanstalt, Zuflucht und Hilfe gefunden hatten. Kankuro wusste nicht mehr genau, aber er hatte gehört, dass der jüngste Patient in diesem Haus fast sieben Jahre alt sein sollte. Sieben Jahre und schon so kaputt vom Leben… Lautlos seufzte er, ehe sein Blick an der Sitzecke hängen blieb. Ein mattes Lächeln umspielte seine Lippen, das aber sofort wieder verblasste. Auf einem der Sitzkissen saß Gaara. Die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf müde auf die angezogenen Knie gebettet. In den Ohren steckte dessen linker Kopfhörer. Von der Entfernung konnte Kankuro kaum erkennen, wohin das schwarze Kabel des rechten Hörers hinführte. Doch er war sich fast sicher, dass dieser andere Junge ihn erneut im Ohr stecken hatte. Leicht schweifte sein Blick zu der zweiten Person auf den Sitzkissen. Neben Gaara saß noch ein weiterer Junge. Das schwarze Haar war zu einer Topffrisur geschnitten. Die Ohren mit Ringen und Piercings übersäht. Um den Hals hing ein Nietenband. Die Arme waren in Bandagen gehüllt. Der Körper in schwarzer Kleidung verhüllt. Träge lehnte dieser neben seinem Bruder in den Sitzkissen. Hatte die Augen geschlossen. In der rechten Augenbraue war ebenfalls ein kleines Piercing. Müde stemmte er sich vom Fensterbrett ab. Mit langsamen Schritten lief er über den warmen Laminatboden. Jeder Schritt seiner nackten Füßen verursachte ein dumpfes Geräusch. Schritt für Schritt. Zentimeter für Zentimeter. Fast lautlos blieb er mitten im Raum stehen. Starrte auf die grau gesprenkelten Punkte des Laminates. Wusste nicht wirklich, wohin mit sich. Was sollte er machen? Wohin sollte er? Wo war sein Platz? Auch wenn er hier schon einige Wochen nach seinem Entzug verbracht hatte, so hatte es Kankuro noch nicht geschafft einen eigenen Platz zu finden. Er fühlte sich einsam. - Er fühlte sich leer. Er fühlte sich hilflos. - Er fühlte sich überflüssig. Er fühlte sich wie tot… ‘ Lebe ich, weil ich atme? Weil ich laufe? Doch ich fühl mich tot, wenn ich verschnaufe. ‘ Mit trägen Schritten lief er weiter. Den Kopf zu Boden gesenkt. Die Arme regungslos an den Seiten hängend. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sein Gang steif. Seine Schritte unsicher. Ziellos wanderte er einen Moment noch durch das Zimmer. Hob zitternd seinen rechten Arm und strich mit den Fingerspitzen über Tische, über Stuhllehnen. Über Schränke und Wände, ehe er sich hastig umwandte. Sein braunes Haar wirbelte dabei nach hinten. Einzelne Strähnen tanzten im Wind. Sein Gang wurde fester. Die Schritte sicherer. Sein Ziel war die kleine Sitzecke, wo sein Bruder saß. Zusammengekauert und so zerbrechlich. Zitternd streckte er seine Hand aus. Wollte durch das rote Haar streichen. Wollte über die blasse Stirn und Wange streicheln. Über das eingefallene Gesicht. Die geschundenen Hände. Den zierlichen Leib. Er hielt inne. Verharrte in dieser Position. Seine Fingerspitzen berührten schon fast die roten Haarsträhnen. Doch hatte er ein Recht dazu? Nachdem er nie für seine Geschwister da gewesen war? Hatte er das Recht dazu, seinen Bruder in den Arm zu nehmen? Ihn zu trösten? Jetzt, nachdem alles vorbei war? Jetzt, nachdem Gaara so kaputt war? Jetzt, wo es schon zu spät war? Hatte er noch das Recht, als sein Bruder zu handeln? So zu handeln, wie er es vor Monaten hätte machen sollen? Seine schwarzen Iriden stierten ausdruckslos auf den roten Schopf. Hart schluckte er, als er Gaara so sah. So zusammengesunken und fertig mit allem. Und er war schuld daran… Er war gottverdammt schuld daran! Tief fraßen sich diese Gefühle in sein Herz, sodass sich schon Ketten um dieses schlangen. Harte, eiserne Ketten. Ketten, die nur der Tod lösen könnte… Wäre er nur mehr für seine Geschwister dagewesen. Was für ein Bruder war er? Ein Bruder, der stumm zugesehen hatte. Ein Bruder, der regungslos am Rand gestanden hatte. Ein Bruder, der kaum zu Hause gewesen war, wenn Vater unberechenbar wurde. Ein Bruder, der nur an sich allein gedacht hatte. Ein Bruder, der die ganze Familie zerrissen hatte. Ein Bruder, der nie für die anderen da gewesen war… Ja, dies war er. Ein Bruder, der es nicht verdient hatte, ihr Bruder zu sein… ‘ Schuld haben nur die, die es sich selbst eingestehen… ‘ Die Sehnsucht in seinem Inneren war groß. Doch rührte er sich nicht. Wie gerne würde er seinen Bruder berühren? Ihm einmal durch das Haar streichen? Ihn an seine Brust drücken? Sein Gesicht in dessen Halsbeuge vergraben? Damit alles vergessen, was zwischen ihnen stand? Er streckte seine Hand weiter aus. Spürte unter den Fingerspitzen schon vereinzelte Strähnen, welche seine Haut neckisch kitzelten. Nur ein bisschen. Nicht mehr viel und seine Hand würde seinen Bruder berühren… “Kankuro, kommst du? Iruka-san wartet.” Erschrocken zuckte er zusammen. Seine Hand immer noch zitternd über das rote Haar haltend. Was sollte er machen? Schnell wenigstens einmal darüberstreichen? Oder es sein lassen? Er wusste es nicht. Was würde passieren, wenn er einmal durch dieses rote Haar fahren würde? Würde Gaara es dulden? Oder würde dieser sich wegdrehen? Leicht biss er sich auf seine raue, aufgeplatzte Unterlippe. Kaute nervös auf dieser herum. Was wäre… Was würde… Starr blieb er immer noch an derselben Stelle stehen. Flehte regelrecht danach, dass sein kleiner Bruder den Kopf hob. Ihn anhob und damit zeigte, dass er ein Recht dazu hatte. Ein Recht dazu, durch das rote Haar zu streichen. Ein Recht dazu… Erschrocken zuckte er zusammen. Zögerlich nahm er die Hand zurück. Ballte sie zu einer Faust und legte sie auf seine Brust. Für einen kurzen Moment schloss er seine Augen. Er hatte kein Recht dazu. Nein, er selbst hatte es nicht… Nicht, nachdem er so vieles kaputt gehen lassen hatte. Nicht, nachdem er nie für seine Geschwister da gewesen war. Nicht, nachdem er sie alleine ihre Wege gehen lassen hatte. Nicht, nachdem er sie so im Stich gelassen hatte. Es war seine Strafe. Seine Strafe, die er sich selbst aufgebürdet hatte. Seine eigene Strafe, die er sich selbst erteilt hatte und ertragen würde. Er hatte kein Recht mehr dazu… Müde öffnete er seine Lider. Schaute noch einmal auf seinen Bruder, welcher sich nicht einen Zentimeter bewegt hatte. Träge wandte er sich ab. Lief mit langsamen Schritten durch das Zimmer. Der Boden fühlte sich kalt unter seinen nackten Füßen an. Kalt und unangenehm. An der Tür begrüßte ihn eine ältere Dame. Dieselbe Frau, die ihn eben gerufen hatte. Hastig schlüpfte er in seine warmen Pantoffeln. Hob seinen Kopf und sah in das lächelnde Gesicht der Älteren. Dieses Lächeln hatte er nicht verdient. Nicht er, der so zerfressen von seinen Lasten und Schuldgefühlen war. Nicht er, der seine eigenen Geschwister allein in eine seelische Leere treiben lassen hatte… Kurz drehte er sich noch einmal herum. Schaute auf die zusammengesunkene Gestalt seines Bruders, die immer noch keine Regung zeigte. Welche immer noch starr an ihrem Platz saß. Wie eine seiner alten Marionetten. Wie eine Puppe. Sofort wandte er den Blick ab. Biss sich erneut und fester auf seine Unterlippe, sodass diese wieder mit Bluten begann. Er schmeckte den metallischen Geschmack auf seinen Lippen. Auf seiner Zunge. Doch es war egal. Alles war egal. Er konnte nicht mehr. Wollte nicht mehr. Schaffte nicht mehr. Mit müden Schritten verließ er das Zimmer. Lief langsam die trostlosen, fast leeren Gang entlang. Die Tür fiel hinter ihm schwer ins Schloss. Heute für ihn zum letzten Mal. Und für die vielen möglichen Male danach ebenfalls… ‘ Ich lebe, ich bin stark… - denkt ihr! - Doch komm mir vor, wie ein eingesperrtes Tier… ‘ ~*~*~*~ Kurz hob Gaara seinen Kopf an. Rote Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn und verdeckten die Sicht auf seine türkisen Iriden. Ausdruckslos schaute er seinem Bruder nach, welcher eben den Gemeinschaftsraum verlassen hatte. Ein lautloses Seufzen verließ seine Lippen. Sein Blick fiel auf seine Knie. Ruhig lagen seine Fäuste auf diesen. Zitternd öffnete er die linke Hand. Schaute auf das schwarze Display seines MP3-Players. Träge drückte er einen der Knöpfe. Im grellen Blau erstrahlte das Display. Zeigte damit das im Moment laufende Lied an. Erneut eines von the GazettE. Abwesend spielte er mit dem Lautstärkeregler herum. Drehte dadurch die Lautstärker auf das maximale Volumen hoch. Erschrocken zuckte er zusammen, als von einem ruhigen Rhythmus zu einem extrem lauten gewechselt wurde. Laut war das Schlagzeug zu hören. Parallel dazu die E-Gitarre des Gitarristen. The invisible wall… Kodoku zouo shitto fuan, kyomu ni saita muhyoujou naniyorimo omoi, sanjou oou fujouri ni omoeta warau aozora. In the maze without an end… Ayamachi ni obore. In the maze without an end… Why do you still breathe? Sorrow made you, in the bottom of the dark side. Sorrow made you… Tsugunai tsuzuke and die…. [Der blaue Himmel, der absurd erschien, verbirgt ein schreckliches Spektakel. In dem Labyrinth ohne Ende... In unseren Fehlern ertrinkend. In dem Labyrinth ohne Ende... Warum atmest du noch? Trauer hat dich geschaffen, am Grunde des dunklen Meeres. Trauer hat dich geschaffen… Mach es wieder gut und stirb…] ‘ Trauer hat dich erschaffen… ’ - So unendliche Trauer. So unendlicher Schmerz. Verkrampft ballte er seine linke Hand wieder zur Faust. Das Plastik des Players drückte sich in seine Handfläche. Er seufzte erneut und schloss seine türkisen Augen wieder. Legte den Kopf in den Nacken. Auf seinen Wangen war vor Wärme ein leichter Rotschimmer zu sehen. Im Hintergrund lief wieder laut der Beat des Schlagzeuges. Begleitet von den Saitenklängen der Gitarre. Er hörte die Stimmen der anderen in diesen Raum. Ihre Schritte. Ihre Bewegungen. Verschwommen und wie hinter einem dichten Nebel… “Warum, Nii-san…” Lautlos bewegten sich seine Lippen. Kein Ton entkam diesen, während er diesen einen Satz sagte. Kankuro… Warum hatte er ihm nicht über den Kopf gestreichelt? Warum hatte er ihm nicht über die Stirn gestrichen? Ihn nicht berührt? Auch wenn er es nicht sehen konnte, da sein Kopf auf seinen Knien geruht hatte… Er hatte es spüren können! Er hatte es gespürt, dass eine Hand nach ihm ausgestreckt war. Ihn berühren wollte. Er hatte es doch gewusst, dass sein älterer Bruder vor ihm gestanden hatte. Das Zittern der Hand hatte die Spitzen seiner roten Haarsträhnen berührt. Doch warum hatte Kankuro ihn dann nicht berührt? Warum nicht? Leicht kniff er die Augen fest zusammen. Sein Kopf schnellte wieder nach vorne. Drückte sich tief und verzweifelt in seine Knie. Jetzt, wo sie wieder ‘leben’ konnten. Jetzt, wo sie wieder ‘Familie’ sein konnten. Jetzt, wo sie ihren ‘Vater’ überlebt hatten. Jetzt, wo sie wieder zusammen waren. Warum fühlte es sich dann so an, als würden sie sich weiter entfernen als davor? Warum fühlte es sich an, als würden Welten zwischen ihnen liegen? Warum fühlte es sich so an, als wären sie keine Familie mehr… Sollte der ganze Kampf umsonst gewesen sein? Seine Schultern bebten leicht. Zitternd biss er sich auf seine Unterlippe. Lauschte weiter der Musik aus seinen Kopfhörern. Doch sie erreichte ihn nicht. Er verstand nicht ein einziges gesungenes Wort. Kein einziges. Dennoch beruhigte ihn die Musik etwas. Ein wenig. Sie war vertraut. Hatte er diese doch immer wieder gehört, wenn er allein war. Allein mit seinem Schmerz. Allein mit seiner Sehnsucht. Allein mit seinen Fragen. Allein… Einige Sekunden vergingen, ehe er erneut den Kopf anhob. Träge öffneten sich die Lider. Sein Blick ging wieder zu der Tür, wo vor kurzem sein Bruder das Zimmer verlassen hatte. Wieder schloss er die Augen. Legte mit einem leisen Seufzen den Kopf in den Nacken. Warum hatte Kankuro ihn nicht berührt? Aus Angst? Angst wovor? Gaara verstand nicht. Er verstand seinen Bruder nicht. Seinen geliebten, großen Bruder… Er hasste ihn nicht, doch verzeihen konnte er ihm ebenso nicht. Nicht, nachdem dieser Temari und ihn so allein gelassen hatte. Allein mit ihren Ängsten, Schmerzen und Lasten. Er hasste ihn nicht, doch verzeihen konnte er ihm ebenso nicht. Noch nicht… Seine Schultern senkten sich, als er sich tiefer in das Sitzkissen sinken ließ. Sein Körper fühlte sich steif an, als er seine Arme von seinen Knien löste. Als er versuchte, seine Beine auszustrecken. Wie lange saß er schon hier? Verkrampft und müde in ein und derselben Haltung? Er wusste es nicht. Hatte schon längst jegliches Zeitgefühl verloren. Es war erschreckend. So unglaublich erschreckend. Seit einiger Zeit lebte er mit dem Gedanken, dass alles vorbei war. Er konnte es noch nicht glauben. Es nicht begreifen. Es nicht fassen. Doch es war vorbei. Sein Vater war fort. Er konnte ihn nicht mehr schlagen. Ihn nicht mehr demütigen. Ihn nicht mehr versuchen zu töten. Er war frei. Frei und schwerelos. Aber dennoch fühlte er sich so nicht an. Denn alles andere war geblieben. Die Ängste. Die Schmerzen. Die Sehnsucht. Die Gefühle in seinem Inneren. Die Lasten. Die Narben auf seinem Körper. Auf seiner Seele. Alles war geblieben… Wie lange würden die Spuren der Zeit ihn zeichnen? Wie viele Monate oder gar Jahre? “Hey, Alter! Dein Bruder ist schon wieder weg, ne?” Erschrocken zuckte er zusammen. Öffnete seine ausdruckslosen Augen wieder und drehte den Kopf müde zur Seite. Verwirrt blinzelte er. Erneut trafen sich die schwarzen Iriden mit seinen Türkisen. Wie damals, als sie sich auf dem Schulhof getroffen hatten. Wie damals, als beide nebeneinander auf der Bank gesessen und sich unterhalten hatten. Wie damals, als dieser Junge neben ihm so schnell und leichtfüßig die Mauer zwischen der Mittel- und der Oberstufe erklommen hatte. Er hatte ihn bei ihrem ersten Auftreffen in Atarashi Semeii sofort erkannt. Der schwarzhaarige Junge ihn aber ebenfalls. Der andere lehnte sich leicht an ihn. Drückte sich sachte gegen seine Schulter, was ihm ein Murren über die Lippen brachte. Das schwarze Haar kitzelte seine Wange. Seine Nasenspitze. Leicht rümpfte er diese. Mit sanftem Druck presste er seine Hände gegen den Kopf des anderen. Wieder ließ er sich tiefer in das Sitzkissen sinken. Zog erneut seine Beine an. Auf seinen Knien legte er seinen MP3-Player ab. Das Display war schon wieder schwarz, weswegen er wieder wahllos einen der Knöpfe drückte. Dabei wollte er nicht einmal wissen, welches Lied gerade lief. Leicht wirbelte er das Kabel seines Kopfhörers um seinen Finger. Ein leichter Zug war am Kabel zu spüren. Und es dauerte schon nicht mehr lange, da lag erneut der Kopf des anderen an seiner Schulter. Und erneut drückte er diesen leicht und voller Geduld zur Seite. Jeden Tag dasselbe Spiel, aber keiner der beiden wurde müde davon. “Hey! Hey! Machste noch mal diesen Beat an?” “Hm…” Flink glitt sein Finger über die einzelnen Playertasten. Es dauerte auch nicht lange, da begann erneut das Lied, was sie eben gehört hatten. Erneut derselbe Rhythmus. Erneut derselbe Text. Erneut derselbe Beat. Erneut dieselbe Melodie. Gaara schloss seine Augen und neigte seinen Kopf zur Seite. Leicht berührte seine Stirn das schwarze Haar seines Nebenmannes. Sein eigenes, rotes Haar kitzelte sanft die Stirn des anderen. Es war beruhigend zu wissen, dass jemand neben ihm saß. Jemand, der ihn nicht verletzen wollte. Ihm reichte es schon, wenn er wen zum Musikhören hatte. Mehr wollte und brauchte er in diesem Moment nicht. Einfach nur das Gefühl, nicht allein zu sein. Selbst wenn der andere oftmals ein wenig über die Stränge schlug oder laut war. Doch hier im Atarashii Semei waren sie alle gleich. Kaputt, müde und ausgebrannt vom Leben… Laut hallte die Musik in seinem Ohr wider. Riss ihn wieder in ihren Wellen mit. Riss ihn wieder in tiefe Ruhe. In tiefe Geborgenheit. Wie jedes Mal… ~*~*~*~ 29. Dezember 2009 Einzelne Wolken verdeckten den Himmel. Schwach schien der Mond in ihr Zimmer. Tauchte dieses in ein dunkles Blau. Der Wind bewegte einige Äste vor dem Fenster. Malte durch das Licht von draußen unheimliche Schatten an die Wände und Decke. Der Digitalwecker auf dem Nachtschrank zeigte drei Uhr morgens an. Es war unglaublich kalt im Raum. Die Heizung war ausgeschaltet. Seine Decke vor Stunden von seinen Schultern gefallen. Sein Körper steif von der Regungslosigkeit der letzten Stunden. Steif vor Kälte. Träge hatte er den Kopf an die kalte, kahle Wand hinter sich gelehnt. Sein Blick ging nach draußen. Draußen aus dem vergitterten, verschmutzten Fenster. Er betrachtete den Schnee. Er betrachtete den Himmel. Er betrachtete die kahlen Äste der Bäume auf der anderen Seite des Glases. Auf der anderen Seite des Gitters. Doch er sah nichts. Er betrachtete zwar die Landschaft draußen, die Schönheit der Nacht. Doch er sah nichts. Seine Sicht war verschwommen. Seine Augen fast wie blind. Er konnte und wollte nichts mehr sehen… Zitternd saß er hier auf seinem Bett. Die Finger tief in den Stoff seiner schwarzen Jogginghose verkrallt. Müde wandte er seinen ausdruckslosen Blick wieder vom Fenster ab und richtete ihn zu Boden. Betrachtete nun das dunkle Laminat. Schwach schien Licht unter der Türritze hindurch. Draußen vom Gang hörte er die dumpfen Schritte der Nachtschwester, welche zur Kontrolle über die Gänge lief. Draußen hinter dem vergitterten Fenster nahm er das Rauschen des Windes wahr. Er lauschte dem Atem seiner Geschwister. Seine Geschwister, die so ruhig schliefen. Ruhig gestellt mit Schlaftabletten und Beruhigungsmittel. Doch er hörte nichts. Alles wie in Watte verpackt. Seine Ohren fast wie taub. Er konnte und wollte nichts mehr hören… Leicht lockerte er seinen Griff aus dem Hosenstoff. Legte seine Hände mit gespreizten Finger auf die Oberschenkel. Seine Unterlippe zitterte, doch biss er sich dieses Mal nicht darauf. Niemand würde es sehen. Nicht in diesem Moment. Nicht in diesem Augenblick, wo er sich so unendlich allein fühlte. So unendlich einsam. Obwohl seine Geschwister bei ihm waren. Obwohl sie ihm so nah waren. So kam es ihm immer wieder vor, als würden Welten sie trennen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dabei gab es so vieles, was er ihnen erzählen wollte. Was er ihnen sagen wollte. Was er sie fragen wollte. Doch er schwieg. Sein Mund fast wie stumm… Er konnte und wollte nichts mehr sagen… Sein Blick glitt zum Bett seiner Schwester. Er betrachtete ihren Rücken, der ihm zugewandt war. Die schmalen Schultern und den blassen Hals, der seicht vom Mondlicht angestrahlt wurde. Träge stemmte er seine Hände in die Laken. Drückte seinen müden Körper nach oben. Seine Gelenke knackten aufgrund der langen Regungslosigkeit. Erschöpft schob er seine Beine zur Bettkante. Stellte die nackten Füße auf das kalte Laminat. Starr blieb er sitzen. Stierte zu Boden. Seine Augen hatten sich schon lange an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt. Ein wenig steif stand er auf. Taumelte einen kurzen Moment, bevor er einen sicheren Stand bekam. Mit langsamen Schritten lief er zu dem Bett seiner Schwester. Blieb regungslos vor diesem stehen. Die Decke war von Temaris Schultern gerutscht. Entblößte damit ihren Nacken. Enthüllte damit ihr T-Shirt, welches ihren Oberkörper verdeckte. Zitternd streckte er seine Hände aus. Ergriff den Stoff der Bettdecke. Einen Moment verharrte er in dieser Stellung, ehe er langsam die Zudecke wieder über sie legte. Seine Hand schwebte über ihre Wange. Strich über diese, ohne dass seine Fingerspitzen die Haut berührten. Erschrocken zuckte er zurück. Drückte seine Hand gegen seine Brust, ehe er diese dort zu Faust ballte. Verzweifelt kniff er seine Augen zusammen. Fest biss er sich auf seine Unterlippe, kaute auf dieser herum, um einen verzweifelten Schrei zu unterdrücken. Seine Beine zitterten. Seine Knie fühlten sich weich an. Konnten kaum die Last seines Körpers tragen. Er sackte ein wenig zusammen. Schüttelte leicht den Kopf. Nein… Er durfte es nicht. Es war seine eigene Strafe. Er hatte kein Recht mehr dazu. Kein Recht, seine Geschwister zu berühren. Es war sinnlos. Es würde alles kaputt machen, was er vorhatte. Es würde alles verhindern, was er machen wollte… Er konnte und wollte nicht mehr… Mit einem leisen Geräusch wurde die Zimmertür geöffnet. Erschrocken riss er seine Augen auf und zuckte zusammen. Abrupt wandte er sich herum. Im Rahmen stand die heutige, noch sehr junge Nachtschwester, seicht beschienen vom Lichtschein aus dem Gang. Das Licht blendete ihn, weswegen er seine Augen leicht zusammenkniff und sich die Hand vor das Gesicht hielt. “Kankuro? Kannst du nicht schlafen?” Ekelhaft freundlich klang ihre Stimme. Leicht nickte er zu ihrer Frage, ehe er ein schwach gehauchtes “Ja…” über die Lippen bekam. Schritte näherten sich ihm. Er hörte, wie ihre Absätze auf dem Boden aufsetzten. Bei jedem Schritt. Plötzlich legte sich eine warme Hand auf seine Wange. Strich zärtlich über seine Haut. Dies hatte er nicht verdient. Nicht er… Er seufzte lautlos auf und schob ein wenig ihre Hand zur Seite. Doch das freundliche Lächeln verschwand nicht. “Möchtest du gerne einen Tee? Dann koche ich dir einen vorne im Schwesterzimmer. Du kannst dich auch gerne mit nach vorne setzen.” Erneut nickte er. Schaute der Frau nach, die schon daran war, dass Zimmer zu verlassen. Er selbst stand noch im Raum. Die Arme regungslos an den Seiten hängen. Den Blick zu Boden gerichtet. Träge hob er diesen wieder an. Schaute nun auf das Bett seines Bruders. Langsamen Schrittes lief er zu diesem. Beugte sich leicht darüber. Nur schemenhaft erkannte er das junge Antlitz Gaaras. Hörte leise die laute Musik aus den Kopfhörern. Hart ballte er seine Hände zu Fäusten. Rammte tief die Nägel in die Haut. Er hatte kein Recht dazu. Nicht mehr… Nein… Nicht mehr… Mit einem Ruck richtet er sich wieder auf und verließ den Raum. Zum letzten Mal… ~*~*~*~ Warm war es im Raum. Die Heizung lief auf Hochtouren. Zusammengesunken saß er hier auf dem harten Holzstuhl. Die Arme müde auf der Tischplatte ruhend. In seinen Händen hielt er eine warme Tasse Tee. Leicht verfestigte er den Griff um diese. Den Blick auf die Nachtschwester gerichtet, welche eben alles vorbereitete, um jeden Moment mit der Inventur für den Medikamentenschrank zu beginnen. Wieder senkte er den Kopf und schloss seine Augen. “Und? Wieder alles gut?” Kurz zuckte er mit den Schultern. Wusste nicht, was er wirklich antworten sollte. War wirklich wieder alles in Ordnung? Eigentlich nichts. Nichts war in Ordnung. Alles war wie immer. Leer. Qualvoll. Schmerzhaft. Einsam. Sinnlos. Wertlos. Alles war wie immer… Trotzdem nickte er leicht. Ein trostloses Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Ein müdes Seufzen entfloh seiner Kehle. Langsam hob er die Tasse wieder an die Lippen und nahm erneut einen Schluck des warmen Getränkes. Heiß rann es seine Kehle hinab. Wärmte seinen Körper von innen heraus auf. Doch sein Herz war immer noch gefroren. Schmerzte verborgen hinter seiner Brust. Von niemandem gesehen. Von niemandem gehört. Von niemandem bemerkt… Leise klapperte ein Schlüsselbund, als die Nachtschwester den kleinen Medikamentenschrank öffnete. Schachteln wurden hin und her geschoben und Striche auf eine Liste gemacht. Er beobachtete die Frau, so wie er es früher auf der Straße immer gemacht hatte. So wie er früher immer die Leute auf den Bürgersteigen beobachtet hatte. Es hatte sich nichts geändert. Alles war wie immer. Nur war sein Körper ohne Gift vollgepumpt. Dieser war leer. Genau wie sein Herz… Sein Blick haftete nun an den Medikamenten im Schrank. Von der Entfernung aus konnte er kaum die Schriftzeichen auf den einzelnen Verpackungen lesen. Leicht kniff er die Augen zusammen, konzentrierte sich mehr, um eine bessere Sicht zu erhalten. Er konnte es ein wenig erkennen. Ein ganz klein wenig… Starr blieb er auf seinem Platz sitzen. Leicht schluckte er, als er den Schriftzug auf einer der Schachteln las. Schlaftabletten… Was würde passieren, wenn er an diese Tabletten herankäme? Wie wäre es, wenn man die Augen schloss? Vielleicht für immer? Einfach einschlafen und an nichts mehr denken? Nichts mehr fühlen. Nichts mehr sehen. Nichts mehr hören. Nichts mehr sagen. Ewiges Schweigen… Es wäre nicht das erste Mal, dass er mit den Gedanken ans Sterben gespielt hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er nach einer Möglichkeit zum Sterben gesucht hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er es versuchen würde. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass er daran scheitern würde… Ein lautes Scheppern und Klirren auf dem Gang ließ ihn zusammenfahren. Sofort wandte sich die Nachtschwester um, damit sie nachsehen konnte, aus welchem Zimmer der Krach herkam. Vergessen war die Inventur, ebenso wie die Medikamente, welche hätten gezählt werden sollen. Mit schnellen Schritten und dem begleitenden Klang ihrer Absatzschuhe war sie sofort aus dem Zimmer. Sein Blick ruhte weiter auf den Schlaftabletten. Sollte er…? Diese Tabletten waren die Lösung für all seine Probleme. Die Lösung für all seine Sorgen. Die Lösung für all sein Leid. Seinen Kummer. Seine Schuldgefühle… Er wusste, er konnte nicht. Nein, es war vielleicht kein Können, sondern eher ein Wollen. Schon seit vielen Tagen wusste er, dass er nicht mehr kämpfen wollte. Seit Monaten wusste er, dass er sterben wollte. Er floh vorm Leben. So wie er schon tausende Male davor geflohen war. Er war nicht stark genug, um zu leben. Doch schwach genug, um zu sterben… Zitternd stellte er seine Tasse auf den Tisch. Stemmte seine Handflächen auf die Platte. Seine Knie fühlten sich weich an, als er sich aufrichtete. Den Blick zu Boden gesenkt. Seine Kehle war trocken. Ein Kloß im Hals erschwerte ihm das Atmen. Immer wieder schluckte er hart. Wollte diesen Kloß herunterschlucken. Doch nichts half. Egal, wie oft er schluckte. Der Kloß verschwand nicht. Sollte er wirklich? Wenn nicht jetzt, wann dann? Würde er denn überhaupt noch einmal diese Chance erhalten? Schluckend wandte er sich dem Medikamentenschrank zu. Seine Schritte waren schwer. Klangen dumpf auf den weißen Fliesen des Schwesternzimmers. Er blieb vor diesem stehen. Fühlte sich an, als würde er jeden Moment unter diesem Druck zusammenbrechen. Ihm war schlecht. Ihm war schwindlig. Er hatte das Gefühl, als würde er sich jeden Augenblick übergeben. Mitten auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. Er schluckte hart. Würgte die Übelkeit herunter. Mit einem Ruck riss er seinen Arm noch vorne. Seine Finger umfassen unsicher eine der Schlafmittelverpackungen. Seine Hände zitterten erbärmlich und unaufhörlich. Es sollte aufhören. Alles sollte aufhören. Leicht kniff er die Augen zusammen, als er die Verpackung ungeschickt in die Tasche seiner schwarzen Jogginghose stopfte. Mit unsicheren Schritten taumelte er zurück zu seinem Sitzplatz. Müde ließ er sich auf den Stuhl sinken. Unangenehm drückte die Verpackung in seiner Tasche gegen sein Bein. Drückte sich tief in die Haut. Doch es war ihm egal. Ebenso, dass er soeben eine ganze Packung Medikamente gestohlen hatte. Es war egal… Es war nicht das erste Mal. Wie viele Male hatte er mitten auf den Straßen den Leuten das Geld oder die Drogen aus den Taschen gezogen? Viel zu oft. So oft, dass er schon längst den Überblick über alles verloren hatte. So oft, dass er es schon nicht mehr zählen konnte. Das Leben auf der Straße verlief oftmals nicht anders. Und er hatte viele Stunden, Tage und Wochen auf der Straße zugebracht… Ohne Liebe und Geborgenheit. Mitten auf der Straße. Ohne einen Ort, den man ‘Zuhause’ nennen konnte. ‘ Oftmals schätzt man Dinge erst, wenn man sie nicht mehr besitzt. ‘ Leicht legte er den Kopf in den Nacken. Leise lauschte er, als er die Schritte der Nachtschwester näher kommen hörte. Das Klackern der Absätze, wenn diese auf dem Boden aufschlugen. Gespielt neugierig drehte er den Kopf zu Seite, als die junge Frau wieder im Türrahmen stand. Mit einem verlegenden Lächeln auf den Lippen. Mit trägen Schritten lief sie wieder auf den Medikamentenschrank zu, um ihre Zählung fortzusetzen. “Verzeih, aber es gab einen kleinen Notfall.” Er nickte leicht, bevor seine Finger sich wieder um die warme Teetasse legten. Sie hatten aufgehört zu zitterten. Sie lagen ruhig an dem Porzellan. Träge hob er die Tasse an seine Lippen. Trank genüsslich die letzten Schlücke aus dieser, ehe er sie wieder auf dem Tisch abstellte. Seinen Blick hatte er starr vor sich gerichtet. Die linke Hand wanderte zu seiner Hosentasche. Legte sich von außen auf den Stoff, unter dem die Schachtel Tabletten verborgen war. Leicht drückte er fester gegen diese. Presste sie tiefer in seinen Oberschenkel. Sofort ließ er wieder von seiner Tasche und legte die Finger an die Tischkante. Er würde allem ein Ende setzen… ‘ Wenn der Geist nicht mehr kämpfen kann, kann es der Körper ebenfalls nicht. ‘ Träge stand er auf. Mit einem leisen Knarren schob er den Stuhl nach hinten. Seine Hände hatte er auf die Tischplatte gestemmt. Den Kopf zu Boden gesenkt, bemerkte er nicht einmal den Blick der Nachtschwester, der auf ihm ruhte. Müde hob er den Blick. Ein verlogenes Lächeln spielte sich auf seine Lippen. Erneut trug er seine Maske. Sein täuschendes Lächeln. Sein Lächeln, was ihm monatelang beim Überleben geholfen hatte. Heute würde er es zum letzten Mal tragen. Zum letzten Mal… “Ich werde wieder ins Bett gehen. Könnte ich da noch bitte ein Glas und eine Flasche Wasser bekommen?” “Ja, gerne.” ~*~*~*~ Müde saß er hier auf einem kleinen Sessel, welchen er dicht an das Fenster geschoben hatte. Neben ihm das noch volle Wasserglas. Verstreut am Boden vereinzelte Schlaftabletten. Eine fast leere Verpackung lag vor seinen Füßen. Sein Leib eingehüllt in seine Zudecke. Die Beine an den Körper herangezogen. Die Arme um die Knie geschlungen. Das Kinn auf diese gebettet. Seine schwarzen Iriden schauten nach draußen in den dunklen Morgen. Erneut hatte es mit Schneien begonnen. Kleine Schneekristalle bildeten sich an der kalten Scheibe. Träge lehnte er den Kopf gegen das kühle Glas. Seine Lider schlossen sich. Den Atem für einen Moment anhaltend… Umaku dekinu kokyu mo itsuka wasuretai, sou negaeru tsuyosa mo hikanabi sou de. [Ich bin unfähig zu atmen, ich will es eines Tages vergessen.] Leise atmete er wieder aus. Er war ruhig. Sehr ruhig. Ungewöhnlich ruhig. Es kam selten vor, dass sein Kopf frei war von Gedanken. Von Gefühlen. Von Schmerzen. Es war, als würde er jeden Moment mit allem abschließen. Mit allem, was ihn ausmachte. Mit allem, was ihm wichtig war. Mit allem, was ihn kaputt machte. Ihn kaputt gemacht hatte. Sein Kopf war leer. Sein Herz leicht. Die Last auf den Schultern wie verschwunden. Die Schuldgefühle gelöscht. Seine Gedanken ruhten… Karada ni karamaserareta Restraint. Even the mind seems to sleep. [Selbstbeherrschung umrankt meinen Körper. Selbst meine Gedanken scheinen zu schlafen.] Für einen kurzen Moment sah er das Bild von Gaara vor seinen Augen. Das mürrische Gesicht von ihm. Dessen naiver Blick, als dieser noch jünger war. Die schwarz ummalten Augen. Die türkisen Iriden. Er sah das rote Haar, welches immer zerzaust nach allen Richtungen abstand. Das kleine, rote Tattoo mit dem Schriftzeichen ‘Liebe’ an dessen Stirn. Er sah dieses kleine und doch so seltene Lächeln vor sich. Es hatte sich tief in seine Seele gebrannt. Dieses Lächeln, das so selten war. Das kaum die Züge des Jüngstens geziert hatte. Er hatte es geliebt. Von ganzen Herzen. Dieses kleine Lächeln, das oftmals für ihn bestimmt war. Es war ihm wichtig. Das Wichtigste mit in seinem Leben. Er würde es nie mehr sehen. Seine Augen würden blind sein… Anata ni utsuru watashi no me ga, anata wo miushinau hi ga kite mo. [Auch wenn ein Tag kommt, an dem meine Augen, welche in dir widergespiegelt sind, deinen Anblick verlieren.] Nun schlich sich das Bild seiner Schwester vor sein inneres Auge. Ihre laute, oftmals herrscherische Stimme. Ihre blonden Haare, die immer zu vier Zöpfen zusammengebunden waren. Ihre ebenfalls türkisen Iriden, die etwas dunkler waren, als die seines Bruders. Ein trostloses Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er an ihre Kochkünste dachte. Daran dachte, dass er ihre ersten Versuche oftmals mehr heruntergewürgt als gegessen hatte. Doch ihr zuliebe hatte er immer alles gegessen. Ihr zuliebe hatte er immer mit einem Lächeln auf den Lippen gesagt, dass sie von Mal zu Mal immer besser wurde. Selbst wenn es nicht immer der vollsten Wahrheit entsprach. Dennoch… Dass ihm danach geschenkte Lächeln war ihm alles wert gewesen. Selbst wenn er sogar das schlechte Essen von ihr essen musste. Er würde es nie mehr essen. Sein Körper würde tot sein… Hoho ni fureta netsu wa totemo natsukashiku yasashii. Mourou no hazama de mita kage danshoku no yume. [Die Wärme war so vertraut zärtlich, welche meine Seele berührte. Der Schatten, den ich in einer vernebelten Schlucht sah, ein Traum in warmen Tönen.] Ein tonloses Schluchzen entrann seiner Kehle. Er biss sich auf seine Unterlippe. Seine Schultern wurden durchgeschüttelt, als er ein weiteres Schluchzen herunterschluckte. Seine Arme zitterten. Seine Finger verkrallten sich in seiner schwarze Hose. Tief rammte er seine Nägel in seine Waden. Bebend öffnete er seine Augenlider wieder. Starrte mit ausdruckslosem Blick raus in die dunkle Nacht. Heiße, salzige Tränen rannen unbemerkt über seine Wangen. Liebkosten seine Haut. Nicht ein Schrei der Verzweiflung kam über seine Lippen. Schweigend blieb er hier sitzen. Alle noch zu sagenden Wörter blieben ungesagt. Er würde es nie mehr sagen. Sein Mund würde stumm sein… Kotoba mo wasure sou. Namida wa nagarete doko e iku no? [Es scheint so, als ob ich auch die Wörter vergesse. Meine Tränen fließen. Wohin verschwinden sie?] In diesem Moment hatte er das Gefühl, als würden seine Geschwister hinter ihm stehen. Als würde er den Arm seiner Schwester auf seinen Schultern spüren. Als würde er die zierliche Hand seines Bruders auf seiner eigenen fühlen. Wie diese zärtlich über seine strich. Langsam lockerte er seine Finger. Löste seine Nägel aus seiner Wade. Ein trauriges Lächeln zierte seine Lippen, als er den Kopf in den Nacken legte. Erneut schloss er die Augen wieder. Erneut sah er die Gesichter seiner Geschwister in seinen Gedanken. Gerne würde er noch einmal seine Geschwister in den Armen halten. Sie an sich drücken. Oder von ihnen in den Arm genommen werden. Er würde sie nie mehr halten können. Seine Muskeln würden zerrissen sein… Watashi no name wo yonde, kudakeru kurai daute. Kore ijou ushinau no wa kowai. [Rufe meinen Namen, umarme mich, bis ich zerbreche. Ich habe Angst davor, mehr als das zu verlieren.] Er setzte sich etwas gerader hin. Öffnete seine Augen wieder. Mit zitternden Händen griff er zum Fensterbrett. Schnappte sich von diesem die kleine Marionette, welche dort lag. Betrachtete sich in seinen Händen, eine Kopie seiner selbst. Genauso wie seine Geschwister. Doch seine Puppe war kaputt. Ihre Fäden waren ineinander verknotet und ließen sich nicht mehr lösen. Nur noch, wenn man ihre Fäden durchschneiden würde. Doch dann würde sie nicht mehr laufen können. Sich nicht mehr bewegen können. Sie wäre dann wie tot… - Genauso wie er… Leicht verfestigte er den Griff um die Puppe, als er seine zweite Hand ausstreckte. Mitten in der Bewegung verharrte er. Angst umklammerte seine Schultern. Ein Kloß bildete sich in seiner Kehle. Raubte ihm den Atem. Er würde sterben. Er würde sterben, wenn er jetzt diese ganzen Tabletten in diesem Glas schluckte. Er würde sterben. Doch würde es qualvoll sein? Würde er Schmerzen haben? Was wäre, wenn er überlebte? Was würde dann passieren? Was wäre dann mit seinen Geschwistern… Seine Lider senkten sich ein wenig, als ihn die Erkenntnis traf. Zwischen ihnen lagen Welten. Unglaubliche Schluchten, welche sie auseinander gerissen hatten. Er war nicht mehr ihr Bruder. Schon lange nicht mehr. Sie brauchten ihn nicht. Nicht ihn, der ihnen nie geholfen hatte. Nicht ihn, der sie so qualvoll bluten lassen hatte. Nicht ihn, der sie in ihren Tränen und ihren Schmerzen allein gelassen hatte… Er war nutzlos. Er war wertlos. Sein Leben war sinnlos… Er streckte seine Hand weiter aus. Ergriff zitternd das Glas Wasser. Setzte es ebenso zitternd an seine Lippen. Er fühlte das kalte Nass an diesen. Träge schloss er seine Augen. Schaute der Dunkelheit hinter den verschlossen Lidern entgegen. Der Griff um die Puppe löste sich, als er den ersten Schluck nahm. Und mit diesem weitere… Unbemerkt fiel die Marionette zu Boden. Genauso wie er unbemerkt sterben würde. Unbemerkt zerschellte die Puppe am Boden. Genauso wie er zerschellen würde. Unbemerkt bröckelte die Maske der Puppe. Genauso wie seine zerbröckeln würde. Die linke Hälfte des grinsenden Maskengesichtes fiel ab. Enthüllte damit die Hälfte eines traurigen Gesichtes, was unter der Maske ruhte. Das wahre Gesicht der Puppe, verdeckt durch ein freundliches Lächeln. Verdeckt durch Lügen. Verdeckt durch Schmerz und Lasten. Ihr letzter Vorhang war gefallen. Genauso wie seiner gefallen war… Subete wo nakushita asa. [Der Morgen, an dem ich alles verlor.] Seine Seele begann mit Schlafen. Ihren längsten Schlaf… ~*~*~*~ Versteckt hinter einer Maske erkennt niemand den wahren Kern eines Menschen. Nicht jedes Leben hat und bekommt ein Happy End. Manch einer schafft es aus seiner Hölle auszubrechen, doch viele schaffen den Weg ins Leben nicht mehr zurück. Sie finden nicht die Chance, um sich zu befreien. Ihnen fehlt der Wille zum Weiterleben. Ihnen fehlt die Kraft, damit ihr zerrissener Geist heilen kann. Ihnen fehlt jemand an der Seite, der sie retten kann. Der sie unterstützt und der für sie da ist. Viele sterben - versteckt unter den vielen Masken, die die Menschen tragen, um selbst zu überleben… ______________________________________________________ © Songtext ‘The invisible wall’ by the GazettE © Songtext ‘Chizuru’ by the GazettE © Zitate by Tsunakai Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)